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German Pages [503] Year 2021
Kulturphilosophische Studien
Gerald Hartung Heike Koenig Tim-Florian Steinbach (Hg.)
Der Philosoph Georg Simmel
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495824009
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Gerald Hartung, Heike Koenig, Tim-Florian Steinbach (Hg.) Der Philosoph Georg Simmel
VERLAG KARL ALBER
A
https://doi.org/10.5771/9783495824009 .
Kulturphilosophische Studien Band 8
Herausgegeben von Hans-Ulrich Lessing, Kevin Liggieri
Beirat Gerald Hartung, Ernst Wolfgang Orth, Frithjof Rodi, Jörn Rüsen, Gunter Scholtz
https://doi.org/10.5771/9783495824009 .
Gerald Hartung, Heike Koenig, Tim-Florian Steinbach (Hg.)
Der Philosoph Georg Simmel
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495824009 .
Gerald Hartung, Heike Koenig, Tim-Florian Steinbach (eds.) The philosopher Georg Simmel Among the classical representatives of German intellectual history, Georg Simmel is an unclassical thinker who cannot be clearly attributed to any particular discipline. His thinking reaches into many areas of philosophy and the sciences, intellectual culture and the everyday world. This volume aims to (re)discover the philosopher Georg Simmel. The research work focuses on systematic questions that have been largely neglected until now, e. g.: Is there an Archimedean point in Simmel’s thinking? Is Simmel’s analysis of the phenomena of inner and outer life reorganized according to the subject matter?
The editors: Gerald Hartung has been Professor of Philosophy at the Bergische Universität Wuppertal since 2010, focusing on cultural philosophy and aesthetics. Heike Koenig is a research assistant at the Philosophical Seminar of the Bergische Universität Wuppertal at the Chair of Cultural Philosophy and Aesthetics. Tim-Florian Steinbach is a research assistant at the Philosophical Seminar of the Bergische Universität Wuppertal at the Chair of Cultural Philosophy and Aesthetics.
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Gerald Hartung, Heike Koenig, Tim-Florian Steinbach (Hg.) Der Philosoph Georg Simmel Unter den klassischen Vertretern der deutschen Geistesgeschichte ist Georg Simmel der eher unklassische Denker, der keiner Fachdisziplin eindeutig zugerechnet werden kann. Sein Denken reicht in viele Bereiche der Philosophie und der Wissenschaften, der geistigen Kultur und der Alltagswelt hinein. Dieser Band verfolgt das Ziel, den Philosophen Georg Simmel (wieder) zu entdecken. Im Zentrum der Forschungsarbeiten stehen bisher weitgehend vernachlässigte systematische Fragen, z. B.: Gibt es einen archimedischen Punkt im Denken Simmels oder organisiert sich Simmels Analyse der Phänomene des inneren und äußeren Lebens je nach Gegenstandsbereich neu? Die Herausgeber: Gerald Hartung ist seit 2010 Professor für Philosophie an der Bergischen Universität Wuppertal mit den Schwerpunkten Kulturphilosophie und Ästhetik. Heike Koenig ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Philosophischen Seminar der Bergischen Universität Wuppertal am Lehrstuhl für Kulturphilosophie und Ästhetik. Tim-Florian Steinbach ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Philosophischen Seminar der Bergischen Universität Wuppertal am Lehrstuhl für Kulturphilosophie und Ästhetik.
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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2020 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49158-4 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82400-9
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort
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9
I. Einleitung Gerald Hartung: Der Philosoph Georg Simmel – zur Einleitung
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13
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Annika Schlitte: Simmels Philosophiebegriff im Spannungsfeld von Wissenschaft, Kunst und Metaphysik . . . . . . . . .
59
Gregor Fitzi: The Philosophical Meaning of Simmel’s Sociological Work . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
85
Johannes Steizinger: Georg Simmels Bekenntnis zum Relativismus. Historische und systematische Überlegungen . . . . . . .
111
Tim-Florian Steinbach: Die Relativität des Seins. Zur Grundstruktur von Simmels Relativismus . . . . . . .
141
II. Systematische Grundzüge der Philosophie Simmels Denis Thouard: Die philosophische Intention Georg Simmels
III. Aspekte des philosophischen Werkes Ingo Meyer: Simmel und die Subjektphilosophie um 1900 . . . .
171
7 https://doi.org/10.5771/9783495824009 .
Inhaltsverzeichnis
Georg Lohmann: »Moralwissenschaft« gegen Moralphilosophie. Zur Kritik von Simmels Moralwissenschaft . . . . . . . .
219
Austin Harrington: »Fate« in the Thought of Simmel and Maeterlinck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
243
Heike Koenig: Kultur als unendliche Aufgabe – Simmel, Cassirer und die Tragödie der Kultur . . . . . . .
259
Matthieu Amat: Warum braucht Simmel einen Gottesbegriff? Elemente zu einer Relativistischen Theologie . . . . . . .
295
Willi Goetschel: Form und Beziehung: Zur kritischen Funktion der Wechselseitigkeit bei Simmel . . . . . . . . . . . . . . .
329
IV. Wirkungslinien der Philosophie Simmels Nicole C. Karafyllis: Schüler ohne Schule? Über die Simmel-Schüler Herman Schmalenbach und Willy Moog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
349
Olivier Agard: Die erste Simmel-Rezeption in Frankreich 1894–1930 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
395
Antonio Calcagno: Community and Society: Early Phenomenology’s Appropriation of Georg Simmel’s Social Philosophy . . . . . . . . . . . . .
419
Gérard Raulet: Aura und Nervosität
. . . . . . . . . . . . . . 439
V. Ausblick Elizabeth Goodstein: Simmels Zukunft . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
475
. . . . . . . . . . . 501
8 https://doi.org/10.5771/9783495824009 .
Vorwort
Vom 25. bis 27. September 2018 hat an der Bergischen Universität Wuppertal eine Internationale Konferenz anlässlich des 100. Todestages von Georg Simmel unter dem Titel Der Philosoph Georg Simmel stattgefunden. Der Titel der Konferenz verrät die Zielsetzung. Den Veranstaltern ging es darum, die Forschung zu Leben und Werk Georg Simmels auch in der Philosophie zu verankern. Seit den Anfängen der Simmel-Forschung im Jahr 1958 (Michael Landmann) gab es einige Initiativen, denen aber die Durchschlagskraft gefehlt hat. Unserer Einladung sind Fachgelehrte aus dem In- und Ausland gefolgt, so dass die Veranstaltung zu Recht den Zusatz »international« getragen hat. Die Vorträge, aus denen die Beiträge dieses Bandes hervorgegangen sind, verfolgen ein mehrfaches Ziel. Zum einen geht es darum, Simmels philosophische Intention, seine philosophische Methode und die Grundfragen seiner Philosophie herauszuarbeiten. Zum anderen wird das philosophische Werk in seiner Entwicklung, auch durch die eher soziologischen und kulturtheoretischen Schriften hindurch, analysiert. Dabei werden Hauptaspekte des Werkes beleuchtet und durch Rück- und Seitenblicke auf die philosophische Tradition Europas kontextualisiert. Zum Abschluss des Bandes geht es um Wirkungslinien der Philosophie Simmels und ihre Zukunft. Wir würden uns sehr freuen, wenn wir mit diesem Panorama einen Beitrag zur (Neu-)Belebung der Simmel-Forschung im deutschsprachigen Raum, aber auch in einem internationalen Raum geleistet haben, der zu weiteren Initiativen in der Zukunft Anlass gibt. Wir danken den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Konferenz für ihre engagierten Vorträge und Diskussionsbeiträge sowie die Bereitschaft, diese für die Publikation zur Verfügung zu stellen. Wir sind der Bergischen Universität Wuppertal dankbar für ihre großzügige Unterstützung der Veranstaltung, der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und der Dr. Werner Jackstädt Stiftung für einen finanziellen Zuschuss. Darüber hinaus sind wir Herrn Ralf 9 https://doi.org/10.5771/9783495824009 .
Vorwort
Putsch (Firma KNIPEX) dankbar, dass wir mit seiner Unterstützung einen öffentlichen Abendempfang organisieren konnten. Nicht zuletzt danken wir unserem Team für die sehr gute Organisation der Konferenz: Ines Bräuniger, Vanessa Schmitz, Sascha Kühlein und Kevin Ress. Ganz herzlich bedanken möchten wir uns auch bei der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften für einen großzügigen Druckkostenzuschuss. Für die freundliche Aufnahme des Bandes in die Reihe Kulturphilosophische Studien danken wir den Reihenherausgebern Hans-Ulrich Lessing, Kevin Liggieri und Volker Steenblock (†) sowie Lukas Trabert vom Verlag Karl Alber. Wuppertal, im Februar 2020 Gerald Hartung, Heike Koenig, Tim-Florian Steinbach
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I. Einleitung
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Der Philosoph Georg Simmel – zur Einleitung Gerald Hartung
Vor einhundert Jahren ist der Philosoph Georg Simmel in Straßburg gestorben. Vor genau sechzig Jahren, zu Simmels hundertstem Geburtstag wurde von Kurt Gassen und Michael Landmann ein Buch des Dankes herausgegeben, das den Anfang der Erforschung von Leben und Werk Georg Simmels machen sollte. 1 Es handelt sich um ein beeindruckendes Dokument, das einen Sachverhalt deutlich macht: Simmel wurde von seinen Zeitgenossen, die ihn vor allem in Berlin als jungen Gelehrten und dann als Extraordinarius erlebten, als Philosoph wahrgenommen. Auch die erste Generation der Leserinnen und Leser bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, allesamt keine Schüler, wie Simmel es prognostiziert hat, 2 haben ihn als Autor eines philosophischen Werks angesehen. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts hat sich die Situation verändert und es ist der Fachwissenschaft Soziologie – zwischen Bielefeld und Chicago – zu verdanken, dass die Auseinandersetzung mit den Schriften Simmels weitergeführt und nicht zuletzt sein GesamtK. Gassen und M. Landmann (Hg.): Buch des Dankes an Georg Simmel. Briefe, Erinnerungen, Bibliographie. Zu seinem 100. Geburtstag am 1. März 1958. Duncker & Humblot: Berlin 1958. 2 »Ich weiß, daß ich ohne geistigen Erben sterben werde (und es ist gut so). Meine Hinterlassenschaft ist wie eine in barem Gelde, das an viele Erben verteilt wird, und jeder setzt sein Teil in irgendeinen Erwerb um, der seiner Natur entspricht: dem die Provenienz aus jener Hinterlassenschaft nicht anzusehen ist.« (G. Simmel: »Aus dem nachgelassenen Tagebuche«, in: G. Simmel: Gesamtausgabe, hg. von O. Rammstedt. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1989–2015 (im Folgenden GSG), Bd. 20, 261–296, hier 261.) »Simmels Begabung war eine zu persönliche und subtile, dem Beharren auf Lehrgehalten abgeneigt (kaum hatte er den objektiven Geist in sein Recht eingesetzt, wandte er sich wieder dem subjektiven zu), als daß er eine Schule hätte gründen können. Man findet seinen Einfluß, wie sehr auch umgesetzt, bei Schülern und Freunden wie Bloch, Buber, Groethysen, Lukács, Pannwitz, Schmalenbach.« (M. Landmann: »Georg Simmel. Konturen seines Denkens«, in: H. Böhringer und K. Gründer (Hg.): Ästhetik und Soziologie um die Jahrhundertwende: Georg Simmel. Vittorio Klostermann: Frankfurt a. M. 1976, 3–17, hier 9). 1
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Gerald Hartung
werk ediert wurde. 3 Daneben haben andere Sozial- und Kulturwissenschaften ihre Beiträge geleistet. Das ist sehr verdienstvoll und ohne dieses Engagement einzelner Personen würde die Basis fehlen, um erneut über Simmels Beitrag zur Philosophie im 20. Jahrhundert und eventuell zu unserer Gegenwart nachzudenken. Die Ausgangslage beinhaltet jedoch einige Schwierigkeiten, die benannt sein wollen. Klaus Christian Köhnke hat angesichts einer Dominanz der Soziologie und einer merkwürdigen Absenz der Philosophie in der Simmel-Forschung davon gesprochen, dass der Philosoph Georg Simmel trotz diverser Feierlichkeiten ausgerechnet in seinem Fach noch nicht angekommen ist. Hierfür scheinen zwei Voraussetzungen zu fehlen: eine erkennbare systematische Leistung und eine erkennbare historische Wirkung. Doch daran mangelt es Köhnkes Ansicht nach nicht, es braucht nur die Bereitschaft, diese bemerkbar zu machen. 4 Ich möchte diese These nach mehr als zwanzig Jahren wieder aufgreifen und auf ihrer Grundlage eine Aufgabe formulieren: Es ist an der Zeit, an den Philosophen Georg Simmel zu erinnern und sein Werk auch in die Philosophie zurückzuholen. Dabei möchte ich hinzufügen, dass es mir nicht nur um die SimmelForschung im engeren Sinne geht oder gar um die Idee, historische Gerechtigkeit für einen innerhalb in der Fachwissenschaft Philosophie marginalisierten Denker einzufordern. Stattdessen sehe ich es als Herausforderung an, in der Auseinandersetzung mit dem Philosophen Simmel über unser fachwissenschaftliches Selbstverständnis von Philosophie nachzudenken. 5 Vgl. dazu die Arbeiten von O. Rammstedt, beispielsweise die von ihm herausgegebenen Sammelbände Simmel und die frühen Soziologen. Nähe und Distanz zu Durkheim, Tönnies und Weber. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1988 und Georg Simmels Philosophie des Geldes. Aufsätze und Materialien [2003]. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 22016 sowie die bewundernswerte Ausdauerleistung der Publikation der Gesamtausgabe in 24 Bänden, die vor einigen Jahren abgeschlossen wurde. 4 Vgl. K. C. Köhnke: Der junge Simmel in Theoriebeziehungen und sozialen Bewegungen. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1996, 14 sowie K. C. Köhnke: »Simmel ohne Landmann? Nachwort zur Neuausgabe 1987«, in: G. Simmel: Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse [1968], hg. von M. Landmann. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1987 (Neuausgabe), 256–275. 5 Diese These vertritt auch Michael Landmann in seinen verstreuten Aufsätzen zum Leben und Werk Simmels, die bisher nicht überholt sind: »Bausteine zur Biographie«, in: K. Gassen und M. Landmann (Hg.): Buch des Dankes, 11–33; »Georg Simmel. Konturen seines Denkens«, in: H. Böhringer und K. Gründer (Hg.): Ästhetik und Soziologie um die Jahrhundertwende: Georg Simmel. Vittorio Klostermann: Frankfurt a. M. 1976, 3–17; »Einleitung des Herausgebers«, in: G. Simmel: Das individuelle 3
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Der Philosoph Georg Simmel – zur Einleitung
In der Einleitung eines Bandes, der die Ergebnisse einer Konferenz an der Bergischen Universität Wuppertal aus dem Herbst 2018 anlässlich des einhundertsten Todestages von Georg Simmel versammelt und das Ziel hat, einen neuen Impuls der philosophischen Simmel-Forschung zu geben, ist es angemessen, einige Fragen aufzuwerfen und die Antworten auf einen späteren Termin zu verschieben. Vorerst soll es darum gehen, einen Denkweg zu skizzieren und einen Fragehorizont zu eröffnen. Hierfür ist die Situation günstiger als je zuvor. Simmel hat ein umfangreiches Werk hinterlassen, das seit einigen Jahren in einer Gesamtausgabe vorliegt. Wir kennen jetzt die frühen Qualifikationsschriften in der Philosophie, die Studien zur Moralwissenschaft, die Arbeiten an der Grenze von Psychologie und Erkenntnistheorie, die großen Arbeiten zur Philosophie – von der Philosophie des Geldes (1900) über die Hauptprobleme der Philosophie (1910) bis zur Lebensanschauung (1918) – die große Soziologie (1908) und die Monographien Kant und Goethe (1906) und Schopenhauer und Nietzsche (1906) sowie annähernd zahllose Abhandlungen und Reden (nicht zu vergessen die anonyme Schriftstellerei). Das alles macht auf einen ersten und zweiten Blick einen bunten, aber keinen einheitlichen Eindruck. Die ersten Zweifelsfragen liegen nah. Müsste ein Philosoph, der diese Bezeichnung verdient, nicht genau das anbieten: eine systematische Einheitlichkeit eines Werkes? Müsste er nicht als Vertreter der Fachwissenschaft Philosophie um 1900 an einer Logik, Ethik, Ästhetik und Psychologie arbeiten, wie andere Angehörige seiner Generation, beispielsweise Hermann Cohen, Wilhelm Dilthey, Wilhelm Windelband, mit mehr oder weniger Erfolg, aber zumindest mit dem Willen zur systematischen Einheit? Aber ist es überhaupt ein angemessener Zugang zum Werk Simmels, wenn wir es an den Üblichkeiten einer Fachwissenschaft bemessen, die zufälligerweise den Namen Philosophie trägt, den auch einige Schriften Simmels im Titel tragen und die seiner Stellung als Extraordinarius (Berlin) und Ordinarius (Straßburg) zukommt? Von Simmel selbst gibt es eine Reihe persönlicher Zeugnisse, die als Dokumente für eine vorsichtige Einschätzung der Lage herangezogen werden können. Es gibt vor allem Briefzeugnisse, die meine Absicht, den Philosophen Georg Simmel
Gesetz. Philosophische Exkurse [1968], hg. von M. Landmann. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1987 (Neuausgabe), 7–29.
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kenntlich zu machen, stützen können. In institutioneller Hinsicht ist beispielsweise der Brief an Célestin Bouglé vom 13. Dezember 1899 hervorzuheben, in dem Simmel abschlägig auf die Anfrage, einen Bericht zur Lage der sciences sociales in Deutschland zu schreiben, wie folgt antwortet: »Es ist mir überhaupt einigermassen schmerzlich, dass ich im Ausland nur als Soziologe gelte – während ich doch Philosoph bin, in der Philosophie meine Lebensaufgabe sehe u. die Soziologie eigentlich nur als Nebenfach treibe.« 6 Und am 6. August 1913 antwortet er Robert Michels, der ihn zu einem stärkeren Engagement in der Gesellschaft für Soziologie bewegen will, dass er »schon seit Jahren jedes praktische Interesse an der Soziologie verloren habe. Sie ist mir immer nur ein ›Nebenamt‹ gewesen, mein Herz hat stets der Philosophie gehört.« 7 Nun soll es mir nicht darum gehen, die (Nicht-)Zugehörigkeit zu einer Disziplin gegen eine andere Disziplin auszuspielen. Ob Simmel eher Philosoph oder Soziologe in den Augen der Zeitgenossen und aus unserem Blickwinkel ist, ob er sich selbst in diesem oder jenem Brief eher der einen Disziplin zugehörig fühlte, scheint eine nebengeordnete Fragestellung zu sein. Viel interessanter ist es doch zu fragen, ob und in welcher Weise Simmels Interesse an der Soziologie philosophisch motiviert war – und ob und in welcher Weise sein Verständnis von Philosophie soziologische Aspekte einschließt. 8 Und darüber hinaus scheint die Fragestellung weiterzuführen, ob Simmels immer wieder, je nach Forschungsgegenstand und Erkenntnisinteresse, neu einsetzende Theoriebildung sich jenseits disziplinärer Grenzen vollzieht – also, wie Elizabeth Goodstein das nennt: »metadisciplinary« ausgerichtet ist. 9 Für diese Annahme spricht einiges. Für seinen Unwillen, den eigenen forschenden Blick durch Konventionen des Wissenschaftsbetriebs zu disziplinieren, lässt sich ein Bonmot Simmels heranziehen, das wiederum im Kontext einer Weigerung steht, sich als einen
G. Simmel an C. Bouglé: Brief vom 13. Dezember 1899, in: GSG 22, 342–343, hier 342. 7 G. Simmel an R. Michels: Brief vom 6. August 1913, in: GSG 23, 201–202, hier 201. 8 Ein erster Ansatz findet sich bei C. Godin: »Simmel: Lorsque les Sociologues sont Philosophes«, in: C. Godin und I. Weiss (Hg.): Simmel philosophe. Éditions Mimésis: Paris 2016, 43–58. 9 E. Goodstein: Georg Simmel and the Disciplinary Imaginary. Stanford University Press: Stanford CA 2017, 155. 6
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Der Philosoph Georg Simmel – zur Einleitung
disziplinär gebundenen Soziologen zu verstehen. »Meine Natur ist vielmehr pfadfinderisch als anbauend u. mancherlei ganz andere Gebiete locken mich seit lange, meinen Wegen auf ihnen nachzuspüren […].« 10 Nehmen wir das Stichwort vom Pfadfinder Simmel auf. Wenn wir diesen Gedanken ernst nehmen wollen (und ich neige dazu), dann muss es darum gehen, das pfadfinderische, nicht anbauende Element als Ausweis einer Praktik zu verstehen, für die Simmel die Bezeichnung Philosophieren reserviert. Es gibt im Werk Simmels weitere verstreute Hinweise, die diese Überlegung stützen können. So finden wir im Vorwort zur Philosophie des Geldes eine Reflexion Simmels über seine Methode und sein Erkenntnisziel. Simmel führt an, dass die vorliegende Studie lediglich exemplarischen Charakter hat, denn das Geld ist in dem zu behandelnden Problemkreis nur Mittel, Material und Beispiel für die Darstellung von Beziehungen, die zwischen äußeren, realistischen, zufälligen Erscheinungen und den ideellen Potenzen des Daseins, den tiefen Strömungen des Einzellebens und Kollektivlebens bestehen. Und er fügt hinzu: »Der Sinn und Zweck des Ganzen ist nur der: von der Oberfläche des wirtschaftlichen Geschehens eine Richtlinie in die letzten Werte und Bedeutsamkeiten alles Menschlichen zu ziehen.« 11 In der Einleitung zu einem späteren Werk mit dem Titel Rembrandt. Ein kunstphilosophischer Versuch (1916) variiert er diesen Gedanken: »Was mir von je als eine wesentliche Aufgabe der Philosophie erschien: von dem unmittelbar Einzelnen, dem einfach Gegebenen das Senkblei in die Schicht der letzten geistigen Bedeutsamkeiten zu schicken – das soll nun an der Erscheinung Rembrandts versucht werden.« 12 Diese Hinweise sollen an dieser Stelle genügen. Ich werde zu einem späteren Zeitpunkt auf die angeführten Textpassagen zurückkommen und sie auf dem Umweg der Kontextualisierung analysieren. Vorerst haben wir einen ersten Anhaltspunkt, um das zu erfassen, was wir die Methode Simmels nennen könnten.
G. Simmel an G. Jellinek: Brief vom 15. Juli 1898, in: GSG 22, 297–299, hier 299. G. Simmel: Philosophie des Geldes [1900], in: GSG 6, 7–716, hier 12. 12 G. Simmel: Rembrandt. Ein kunstphilosophischer Versuch [1916], in: GSG 15, 305–515, hier 309. 10 11
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Gerald Hartung
I.
Der Philosoph Simmel, seine Methode und sein Stil
In der überschaubaren Forschung zum Philosophen Georg Simmel ist man sich einig, dass der Denkweg sich in drei Phasen unterteilen lässt. Michael Landmann sieht den jungen Simmel unter den Einflüssen von Pragmatismus, Sozialdarwinismus und Spencerismus stehen, zugleich ein Differenzierungsprinzip à la Fechner ausprobierend, und über Kant auf das Problem des Individuellen und über Moritz Lazarus und Heymann Steinthal auf das Problem des Überindividuellen, also des objektiven Geistes, stoßend. 13 Klaus Christian Köhnke hat die Entwicklung des jungen Simmel noch einmal genauer differenzierend in drei Phasen unterteilt, die von den Qualifikationsschriften zu Kant über die Arbeitsphase zur Moralwissenschaft bis zu den Analysen zu den Problemen der Erkenntnis des Sozialen durchläuft. 14 Nach Landmanns Ansicht schließt sich eine zweite Phase an, in der die Projekte einer Kritik der historischen Vernunft, die Fragen nach Genese und Geltung von Wert und Kultur sowie die Untersuchung der Eigenlogik verschiedener Sphären des objektiven Geistes (Geschichte, Gesellschaft, Religion, Kunst) im Vordergrund stehen. Hinzu treten die Monographien zu Kant, Goethe, Schopenhauer und Nietzsche. Außerdem wird die systematische Philosophie am Leitfaden von Hauptproblemen entworfen. In der dritten Phase seines Denkweges steht Simmel, so betont Landmann, unter dem Einfluss Bergsons und wird zum Lebensphilosophen. 15 Das jüngst vorgelegte Simmel-Handbuch (2018) enthält sich einer Deutung und bietet ein umfangreiches Glossarium zu den Grundbegriffen, auch zu eher randständigen Begriffen im Werk Simmels und einige Kurzbeschreibungen der Hauptwerke Simmels. 16 Der Grundgedanke einer lebensphilosophischen Deutung des Simmelschen Werkes ist, dass das Leben – das wir sind und das wir führen – sich begrenzt und erfüllt in selbstgeschaffenen Formen. Die
Vgl. M. Landmann: »Georg Simmel. Konturen seines Denkens«, 3–11. Vgl. K. C. Köhnke: Der junge Simmel, 14. 15 Vgl. M. Landmann: »Georg Simmel. Konturen seines Denkens«, insbes. 4–7. 16 Vgl. die entsprechenden Beiträge in: H.-P. Müller und T. Reitz (Hg.): SimmelHandbuch: Begriffe, Hauptwerke, Aktualität. Suhrkamp: Berlin 2018. Erwähnenswert ist im Hinblick auf eine Deutung der Philosophie Simmels der Beitrag von G. Gebauer: »Hauptprobleme der Philosophie (1910)«, in: H.-P. Müller und T. Reitz (Hg.): Simmel-Handbuch. Suhrkamp: Berlin 2018, 704–716. 13 14
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Der Philosoph Georg Simmel – zur Einleitung
Lebensphilosophie fordert die Ergänzung in einer Kulturphilosophie. Es gibt für uns Menschen kein bloßes Leben, sondern nur ein in selbstgeschaffenen Formen (Sprache, Religion, Kunst, Wissenschaft, Recht usw.) sich objektivierendes Leben. 17 Hier zeigen sich aber auch die Widersprüche, denn Simmel zufolge lassen sich Leben und Form, Individuelles und Allgemeines, subjektive und objektive Kultur nicht wechselseitig ineinander integrieren. Überall stoßen wir auf Widerstände, auf Restbestände, die nicht integrierbar sind. Also Einzelfälle, die nicht unter ein Gesetz fallen, Forderungen, die nicht in einer einheitlichen Sinnerfüllung aufgehen: unauflösbare Antinomien! Dieser Überblick zu den drei Phasen ist in heuristischer Hinsicht hilfreich, aber er lässt uns auch ratlos zurück. Sollen wir Simmels Philosophie über die Phasen hinweg als Kontinuum der Entwicklung eines Grundgedankens oder als Diskontinuum des Ausprobierens und Verwerfens unterschiedlicher Optionen verstehen? Michael Landmann selbst hat einige Jahre später, in seiner »Einleitung des Herausgebers« zum Band Georg Simmel: Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse (1. Aufl. 1968; Neuausgabe 1987), dieses Problem in den Blick genommen. 18 Gegenüber der verbreiteten Meinung, dass Simmel viele Gedanken, aber keinen Grundgedanken habe, reklamiert Landmann zumindest für die Lebensphilosophie, also die dritte Phase, ein einheitliches Prinzip: Es ist das Denken in Polaritäten und das Wirkungsverhältnis zwischen den Polen – beispielsweise des Seins und Werdens, der Subjektivität und Objektivität, sowie der Realität und Idealität, die auf einen antinomischen Aspekt aller Lebenserscheinungen zwingend hinweist: Spannung und Konflikt prägen den Prozess des Lebens; Differenzierung, Steigerung und Streit führen zur Ausbildung von Polaritäten, die sichtbar machen, dass jedes Phänomen des Alltags, auch jeder künstlerische Ausdruck oder jede wissenschaftliche Beobachtung sowohl den Anspruch auf Konkretheit und Einzigartigkeit als auch den der Verallgemeinerbarkeit, als Gesetzmäßigkeit und Sinnhaftigkeit, in sich trägt. Dieses Grundproblem des Lebens, das wir sind und vor dem wir als Aufgabe stehen, entzieht sich einer Schlichtung und Versöhnung. Michael
Vgl. G. Hartung: »Lebensphilosophie«, in: S. Schaede, G. Hartung und T. Kleffmann (Hg.): Leben II. Historisch-Systematische Studien zur Geschichte eines Begriffs. Mohr Siebeck: Tübingen 2012, 309–326. 18 M. Landmann: »Einleitung des Herausgebers«. 17
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Gerald Hartung
Landmann tendiert dazu, hier das (von Simmel nie so benannte) Prinzip einer »Dialektik ohne Versöhnung« zu erkennen. 19 Wenn wir an dieser Stelle bereits ein frühes Zwischenfazit ziehen und die Thesen Landmanns mit den vorausgehenden Überlegungen zur philosophischen Methodik Simmels zusammenführen, dann lässt sich zeigen, dass mehrere Aspekte der Philosophie Simmels – oder besser gesagt: einer Praktik des Denkens, der Simmel selbst den Namen Philosophie gegeben hat – hervortreten: Da ist zum einen der Ausgang von Phänomenen der Alltagswelt, inklusive der wissenschaftlichen Beobachtungen und sogenannten Tatsachen, da ist zum anderen der pfadfinderische Zug seines Denkens, der disziplinäre Zuordnungen unterläuft, weil auch die Phänomene sich diesen nicht beugen, und da ist die Forderung nach einer Tiefenbohrung, die auf einen Grund zurückführt, an dem sich die letzten Werte und Bedeutsamkeiten alles Menschlichen zeigen. Simmels Unterscheidung eines analytischen und synthetischen Verfahrens, die sich an der Kantischen Wortprägung orientiert, lässt sich anhand von zwei Denkbewegungen verdeutlichen, die durchaus komplementär zu verstehen sind. Mit dem Stichwort von der Aufdeckung des Menschlichen im analytischen Verfahren, d. h. als Ergebnis einer Tiefenbohrung, meint Simmel, dass wir an einem letzten Punkt der Analyse einen Widerspruch, einen Widerstreit, eine Antinomie freilegen, für die wir keine Erklärung liefern können. Die Pointe der Analyse liegt darin, dass wir mit dem Ausbleiben einer Erklärung rechnen müssen und stattdessen in konkreten Fällen – beispielsweise beim künstlerischen Ausdruck, beim religiösen Empfinden, beim Erkenntnisvorgang – aufzuzeigen haben, dass ein Brückenschlag über die Kluft unvereinbarer Gegensätze (objektiv) hinweg bei gleichzeitiger, wie Simmel das nennt, »Versagtheit« der Erfüllungsgewähr unseres Versöhnungsstrebens (subjektiv) ist, die Bedingung der Möglichkeit für ein gelingendes Leben in einer modernen, a-religiösen oder metaphysisch-unbehausten Lebenswelt ist. 20 Das andere Stichwort meint die Sinn-Konstitution im synthetischen Verfahren. Hiermit ist gemeint, dass wir den Sinn unseres individuellen Lebens und unseres Kulturlebens nicht vorfinden oder gar aufdecken könnten, sondern dass dieser sich erst konstituiert, abhängig von der Durchführung des analytischen Verfahrens und von 19 20
Ebd., 16. G. Simmel: »Schopenhauer und Nietzsche« [1906], in: GSG 8, 58–68, hier 60.
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Der Philosoph Georg Simmel – zur Einleitung
unserer Fähigkeit mit dem Ausbleiben einer letzten Synthesis, einer Zusammenführung von Sein und Werden, Allgemeinen und Individuellen usw. zurechtzukommen. Simmel verweigert sich konsequent einem letzten Versöhnungsmoment, er widersteht der Hegelschen Versuchung, wie Paul Ricœur das einmal anspielungsreich genannt hat. 21 Was hier als Rekonstruktion eines Grundgedankens der Philosophie Simmels vorgeschlagen wird, ist kein einfacher Gedanke, schon gar nicht ein Grundgedanke, der als Passepartout für jedwede Problemstellung dienen könnte. Es handelt sich vielmehr um eine Verschränkung von Verfahrensweisen, die von Fall zu Fall anders gewichtet werden. Mit Donald Levine könnte man von einer »Theorie in Latenz« sprechen, die nach seiner Ansicht aus dem Zusammenspiel von mehreren Konzepten besteht. 22 Ich möchte diese Überlegungen gar nicht kommentieren oder korrigieren, sondern vielmehr den Vorschlag machen, dass wir bei Simmel weniger die Resultate seines Denkens, sondern die Verfahrensweisen in den Blick nehmen, denen er selbst die Bezeichnung Philosophie oder Philosophieren verliehen hat.
II.
Simmels Selbstzeugnis: Wenn ich Bilanz ziehe …
Bei der Suche in Simmels Werk stößt man auf ein Fragment, das im vierundzwanzigsten Band der Gesamtausgabe der Schriften Simmels aufgenommen wurde, obwohl es nicht in seiner Handschrift überliefert, also nicht autorisiert ist. Das Fragment trägt keinen Titel, sondern beginnt mit den Worten »1916. Wenn ich die Bilanz ziehe …«. Dem editorischen Bericht sind die Gründe zu entnehmen, warum die Herausgeber diesen kurzen Text für authentisch halten. Es ist dennoch Zurückhaltung bei der Interpretation geboten und eine Deutung nur im Kontext mit anderen, autorisierten Aussagen empfohlen. Gleichwohl handelt es sich um ein beeindruckendes Dokument, das als Rechenschaftsbericht Simmels gelesen werden kann. Ich zitiere in voller Länge: Vgl. P. Ricœur: Temps et récit, Bd. 3. Éditions du Seuil: Paris 1985, 281–291. D. N. Levine: »Georg Simmel: toujours à suivre«, in: D. Thouard und B. Zimmermann (Hg.): Simmel, le parti-pris du tiers. CNRS Éditions: Paris 2017, 381–399, hier 389.
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21 https://doi.org/10.5771/9783495824009 .
Gerald Hartung
»1916. Wenn ich die Bilanz ziehe, so habe ich vielleicht folgende originale Grundmotive zu der Geistesentwicklung beigesteuert. Die Transcendenz des Lebens, die Charakterisierung des Lebens, wonach jeder Moment seines kontinuierlichen Anderswerdens nicht ein Theil seiner, sondern das ganze Leben in der Form dieses besonderen Momentes ist, das individuelle Gesetz, der begründende Gedanke der Soziologie, der aus dem Leben entwickelte Wahrheitsbegriff (der nachher ganz roh und schief, aber von meiner versteckten Arbeit unabhängig, als Pragmatismus aufgekommen ist). Dann die mehr funktionellen Motive: in der Geldphilosophie der Versuch, an der Entwicklung eines einzelnen Kulturelementes die ganze äussere und innere Kulturentwicklung abzurollen, die einzelne Linie als Symbol des Gesamtbildes zu begreifen; der Typus von Arbeiten wie über den Henkel, die Ruine, den Bildrahmen, Brücke und Thuer u. a., in denen gezeigt wird, dass unter jeder kleinen Oberflächlichkeit ein Kanal liegt, durch den sie mit den letzten metaphysischen Tiefen verbunden ist; endlich die Studien, in denen eine historische Erscheinung als Realisirung je einer der grossen Menschheitsideen, Menschheitsmöglichkeiten behandelt wird – zuerst rein herausgearbeitet im Michelangelo-Aufsatz, dann im Goethe und im Rembrandt. Diese drei methodischen Motive sind im Grunde eines, entwachsen einer metaphysischen Sehnsucht, die sich in dem gesuchten Verhältniss zwischen Theil und Ganzem, Oberfläche und Tiefe, Realität und Idee gleichmässig ausdrückt. Dazu kommen noch einige kleinere Dinge: das religionsphilosophische Motiv in dem Aufsatz: das Problem der religiösen Lage, das Apriori des historischen Erkennens, der kunstphilosophische Gedanke in dem Rembrandt-Kapitel: ›Was sehen wir am Kunstwerk?‹« 23
Dieser kurze und eindrucksvolle Text macht mehrere Aspekte deutlich. Zum einen scheint Simmel an einer abschließenden und einheitlichen Theoriebildung wenig gelegen zu sein. Die verschiedenen Aspekte des Werkes werden nebeneinandergestellt. Zum anderen weist der Text auf ein Zentrum hin, das in der Persönlichkeit des Philosophierenden gründet. Er erklärt die unterschiedlichen methodischen Motive als Ausdruck einer »metaphysischen Sehnsucht« wohl ihres Urhebers, gleichsam subjektiv, die zugleich in den von ihm gesuchten Verhältnissen – von Teil und Ganzem, Oberfläche und Tiefe, Realität und Idee –, gleichsam objektiv, sich ausdrückt. Es gibt also in jeder Analyse eines Phänomens am Ende eine subjektive und objektive Seite der Antinomie – sie wird gesucht und sie zeigt sich. Und sie zeigt sich »gleichmässig« in den genannten Verhältnissen, hinter denen wir leicht die philosophischen Teildisziplinen der Logik (Teil und
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G. Simmel: »1916. Wenn ich die Bilanz ziehe …«, in: GSG 24, 71.
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Der Philosoph Georg Simmel – zur Einleitung
Ganzes), der Ästhetik (Oberfläche und Tiefe) und der Ethik (Idee und Realität) durchscheinen sehen. Gibt es also doch einen systematischen Zug in Simmels Denken? Vielleicht ist das zu viel behauptet, zumal die Anforderungen an ein System der Philosophie (Hegel) oder systematisches Philosophie (Nicolai Hartmann) oder an analytische Verfahrensstrenge (Russel und Wittgenstein) einigermaßen streng sind. In diesem Sinne wäre es auch Simmel gegenüber unangemessen, sein Werk, um es als genuin philosophisches kenntlich zu machen, mit einer nachträglichen Systematisierungswut zu traktieren. Ich möchte daher vorschlagen, den kurzen Text »1916. Wenn ich die Bilanz ziehe …« zur weiteren Explikation der oben entwickelten Perspektive auf Simmels Philosophie heranzuziehen. Es geht mir darum, weitere Indizien für die Behauptung zu finden, dass es Simmel um die Tätigkeit des Philosophierens im pfadfinderischen Modus des Suchens und Findens anhand der Analyse von Verhältnissen geht, die das tradierte Feld systematischen Philosophierens durchaus repräsentieren, also als Logik, Ästhetik und Ethik ohne systematischer Abgrenzung dieser Bereiche als Systemteile zu verstehen sind.
III. Der Philosoph und seine Philosophie – Versuch einer Systematisierung Von diesen Überlegungen möchte ich weitergehen und eine Arbeitshypothese aufstellen. Damit möchte ich Fragen zu Simmels Werk aufwerfen, die weitere Antwortversuche provozieren sollen, die jenseits meines unvorgreiflichen Versuchs liegen. Auf kurze Sicht kann die Arbeitshypothese auch als roter Faden für die Annäherung an Simmels Philosophie dienen. Ich möchte Georg Simmel als einen Denker vorstellen, der allmählich eine Idee davon entfaltet, was Philosophieren als Denktätigkeit sein könnte. Meine Sichtweise impliziert auch, dass es wenig Erfolg verspricht, den Denkweg Simmels in drei Phasen einzuteilen oder in Zweiteilung von einer vor-metaphysischen, also wohl empirisch-soziologischen Phase und einer dezidiert metaphysischen Spätphase zu sprechen. Ich meine damit folgendes: Wie es oft geschieht, wird einem ein Sachverhalt – beispielsweise, was es heißt zu philosophieren – erst für einen selbst klar, wenn man die Optionen des Scheiterns durchgespielt hat. So auch bei Simmel, der in einer Zeit das akademische 23 https://doi.org/10.5771/9783495824009 .
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Handwerk gelernt hat, in der seine Lehrergeneration den Gedanken an ein System der Philosophie nicht aufgegeben und den Gegensatz von systematischem und unsystematischem Philosophieren betont. 24 Simmel reflektiert diesen Zusammenhang zeitlebens unter dem Stichwort Pessimismus, um die seiner Ansicht nach verfehlten Ansprüche an Philosophie und Wissenschaften in psychologischer und soziologischer Hinsicht aufzudecken und sich von ihnen schrittweise zu emanzipieren. Simmel übernimmt hier eine These Nietzsches, dass Wissenschaft – und dazu gehört auch Philosophie – der Ausdruck einer Lebensführung ist. In all unserem Tun drücken sich Haltungen aus. Die eine Haltung erklärt das Leben resp. das Sein für prinzipiell erklärbar – das meint der Optimismus – während die andere Haltung, der Pessimismus den »Glauben an die Ergründlichkeit der Natur der Dinge« verabschiedet und unseren Blick an die Peripherie des Kreises der Wissenschaft, die unendlich vielen Grenzpunkte, lenkt, an denen der Mensch in das »Unaufhellbare« schaut. 25 Für Simmels Verständnis von Philosophie als Wissenschaft und Philosophieren als Methode und Praktik des Denkens, die im Leben verankert ist, erhält die Frage einer grundlegenden weltanschaulichen Tönung unseres Denkens und Handelns eine zentrale Bedeutung. Besonders deutlich arbeitet Simmel diesen Aspekt in seiner Abhandlung »Zu einer Theorie des Pessimismus« heraus, die zeitgleich mit der Philosophie des Geldes im Jahr 1900 erschienen ist. 26 Es handelt sich um ein Glanzstück unter den vielen Texten Simmels, der das prekäre Verhältnis von Theorie und Praxis – bei Simmel: von Logik und Leben – analysiert. Prinzipiell, sagt Simmel auf den Spuren Darwins und Spencers, sind wir Menschen entsprechend einer natürlichen Zweckmäßigkeit der Lebenserhaltung optimistisch gestimmt. Die Lebenstendenz des Optimismus ist eine Waffe im Kampf ums Dasein. Diesem lebensdienlichen Optimismus korreliert über die längste Zeit Vgl. E. Zeller: »Über Systeme und Systembildung«, in: ders.: Kleine Schriften, Bd. 2, hg. von O. Leuze [1910]. De Gruyter: Berlin/Boston MA 2012 (Nachdruck), 566–585. Dazu G. Hartung: »Zum Verhältnis von Philosophie und Wissenschaften bei Eduard Zeller«, in: ders. (Hg.): Eduard Zeller. Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte im 19. Jahrhundert. De Gruyter: Berlin/New York NY 2010, 153–175. 25 F. Nietzsche: Die Geburt der Tragödie. Griechenthum und Pessimismus. Neue Ausgabe mit dem Versuch einer Selbstkritik [1886], in: ders.: Kritische Studienausgabe, Bd. 1, hg. von G. Colli und M. Montinari. DTV: München; De Gruyter: Berlin/New York NY 2012, 9–156, hier 100. 26 Vgl. G. Simmel: »Zu einer Theorie des Pessimismus« [1900], in: GSG 5, 543–551. 24
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Der Philosoph Georg Simmel – zur Einleitung
kulturgeschichtlicher Entwicklung eine optimistische Weltanschauung im mythischen, religiösen und philosophisch-wissenschaftlichen Denken. Gleichwohl büßt der Optimismus allmählich seinen Kredit ein. Die Säkularisierung ist ein zentraler Motor der Destabilisierung, insofern die Überzeugung, dass der Mensch das Zentrum und der Endzweck der Schöpfung ist, ins Wanken geraten ist. Nur solange davon auszugehen ist, dass die Welt auf die Erfüllung der tiefsten Sehnsüchte des Menschen angelegt ist, kann der Optimismus wirklich sicher und prinzipiell gegründet sein. Die Neuzeit und vor allem die Moderne destruieren schrittweise die Grundlagen einer »Erfüllungsgewähr« subjektiven Strebens, wie Simmel das mit einer glücklichen Formulierung auf den Punkt bringt. 27 Die pessimistische Weltanschauung ist das Ergebnis einer Reihe von Ereignissen, die eine radikale Veränderung unserer »erlebnismässigen Einstellung zu den geistigen Realitäten« evoziert. 28 Simmel führt die Erschütterung des weltanschaulichen Optimismus auf die Kopernikanische Wende in der Kosmologie zurück, die die äußerlich beschriebene, aber innerlich bedeutsame Tatsache impliziert, dass die »Abzweckung des Weltbaus auf den Menschen höchst fraglich« wird. 29 Dann folgen die Physiologie des späten 18. Jahrhunderts, mit der Beobachtung physikalischer und chemischer Ereignisse in den Körpervorgängen, die neuere Psychologie, die das Seelenleben als Mechanismus begreift, die Evolutionsbiologie mit der Einordnung des Menschen in eine Reihe von Organismen, die mechanistische Physik, welche die Gleichheit aller Erscheinungen vor dem Naturgesetz behauptet, und die Anfänge der Kulturwissenschaft (als Sprachund Geschichtswissenschaft), die auf den Schultern Darwins stehend jegliche Teleologie in Natur und Kultur verneint. Das Ergebnis dieser stufenweisen Zerrüttung von Weltgewissheit ist nach Simmels Auffassung die Desintegration von menschlichen Wünschen einerseits – denn die lebensdienliche Seite einer optimistischen Haltung bleibt ja wirksam – und den Bedingungen, unter denen sie realisiert werden, andererseits. Die gleichgültige Gesetzmäßigkeit der Natur erscheint uns Menschen im Zeitalter der
G. Simmel: »Zu einer Theorie des Pessimismus«, 544. K. Mannheim: »Über eine Eigenart kultursoziologischer Erkenntnis« [1922], in: ders.: Strukturen des Denkens, hg. von D. Kettler, V. Meja und N. Stehr. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1980, 33–154, hier 39. 29 G. Simmel: »Zu einer Theorie des Pessimismus«, 544. 27 28
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Aufklärung unter der Dominanz der erklärenden Wissenschaften als sinn-indifferent, denn sie gewährt scheinbar wahllos höchste Seligkeit und tiefstes Leid. Simmel erweist sich hier als ein überzeugter Leser Schopenhauers. 30 Simmel stellt nun die, sein Philosophieren leitende Frage, wie wir mit dieser Situation einer Kluft zwischen einerseits einem praktischen Optimismus der Lebensführung und andererseits einer pessimistischen Haltung gegenüber der sinnkonstituierenden Funktion von Wissenschaft und Philosophie klarkommen. In seinen Vorträgen zu Kant, seinen Monographien über Schopenhauer und Nietzsche wie auch in seinem philosophisch-systematischen Werk Hauptprobleme der Philosophie (1910) transformiert er daher konsequent Erkenntnisprobleme in Lebensprobleme. So geht es ihm nicht allein um die Frage, was und wie wir uns selbst und die Welt erkennen, sondern um die weitergehende, die erste aber nicht obsolet machende Frage, was es für uns heißt, mit einem erkannten logischen Widerspruch zwischen dem Konkreten und Allgemeinen oder einem Widerstreit zwischen realen Bedingungen und idealen Forderungen zu leben. An dieser Stelle markiert Simmel die zentrale Aufgabe seiner Zeit, der vor allem das philosophische Denken verpflichtet ist. Denn seiner Ansicht nach ist die Umbildung unserer Gemütsinteressen, im Sinne einer Anpassung an die neue theoretische, post-Kopernikanische, post-Kantische und post-Darwin’sche Weltansicht von uns noch nicht vollzogen worden. Wir haben beispielsweise noch keine Ahnung davon, wie eine »Natur, aus der alle übermechanischen Zwecke, alle besondere Beziehung zum Menschen, alle innere Wärme und Beseeltheit, alle ›Götter Griechenlands‹ verschwunden sind[,] […] den Bedürfnissen eines Gemütslebens überhaupt genügen soll«. 31 Simmel konstatiert, dass unsere Wissensbestände und Lebensformen sich verflüssigen – hier ist er sehr nah an Diltheys Analysen der 1890er Jahre. Ähnlich wie dieser seit den 1890er Jahren (allerdings nur in unveröffentlichten Abhandlungen dokumentiert) sieht auch Simmel die Mittel der Kantischen Erkenntnistheorie als Ausgangspunkt der Analyse an, aber nicht als zureichend für die Bewältigung der neuen Problemlage. Wir müssen, so heißt es bei Simmel in seinen Kant-Vorlesungen, über Kant (und seine Anhänger) hiVgl. zum breiten Strom der Schopenhauer-Rezeption seit 1850 D. Schubbe und M. Koßler (Hg.): Schopenhauer-Handbuch. Metzler: Stuttgart 2014, 259–397. 31 G. Simmel: »Zu einer Theorie des Pessimismus«, 546. 30
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nausgehen. Es geht um die Einsicht, dass wir als einzelne Individuen nicht nur ein Erkenntnisproblem haben, sondern ein Erkenntnisproblem sind, wodurch sich dieses zu einem Lebensproblem ausweitet. Eine Antwort auf diese Lage kann nur eine Erkenntnistheorie suchen, die in psychologischer, soziologischer und philosophischer Hinsicht erweitert wird. Psychologisch meint: Wie kann eine Einsicht in die subjektiven Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis mit dem Streben nach Allgemeingültigkeit für die Regeln des Denkens verknüpft werden? Das ist die Leitfrage mehrerer Abhandlungen, die auf die »Psychologie des Geldes« (1889) folgen. Soziologisch meint: Wie können aus der Einsicht in die individuellen Bedingungen der Möglichkeit des Handelns überindividuelle Strukturen entstehen? Wie entstehen Werte, fragt Simmel in der Philosophie des Geldes. Wie ist Gesellschaft möglich?, fragt Simmel in seiner großen Soziologie. 32 In anderen Worten: Was erzeugt und trägt den objektiven Geist, der sich in den Formen der Sprache, der Sitte, des Rechts, der Kunst und Religion usw. manifestiert? Philosophisch meint: Wie ist eine Verknüpfung der subjektiven und objektiven, der individuellen und überindividuellen Bedingungen des Denkens und Handelns möglich, wenn sich doch an jedem Erkenntnisgegenstand und im Grund jedes Erkenntnisvorganges ein unaufhebbarer Gegensatz, ein unversöhnlicher Widerspruch, eine bedrängende Antinomie, beispielsweise zwischen dem subjektiven und objektiven, dem individuellen und allgemeinen, dem realen und idealen Aspekt zeigt? Es wäre nun im Blick auf Simmel contre cœur, in diesem Zusammenhang Trennungen, gar disziplinäre Trennungen einzuführen. Wenn hier also von psychologischer, soziologischer oder philosophischer Zugangsweise zum zutiefst Menschlichen die Rede ist, dann meine ich im Sinne der oben eingeführten Arbeitshypothese nur verschiedene Verfahrensweisen, mit deren Hilfe die allzu-menschlichen Verhältnisse in der Analyse unterschiedlich akzentuiert werden. Die Theorie des Pessimismus ist durchaus zentral für Simmels Werk und seine Selbstverortung in der Geistesgeschichte. Simmel erklärt nämlich das Zeitalter des wissenschaftlichen Optimismus für beendet und legt damit den Kontext seines Werkes fest. Wir können 32 Vgl. G. Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung [1908], in: GSG 11, 7–875, hier 42–61.
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weder von Religion, noch von Wissenschaft, noch von Philosophie eine restlose Erklärung der Welt und unserer Stellung in dieser erhoffen. Eine pessimistische Haltung, die von den Angeboten der Theorie und den Optionen der Lebenspraxis nichts mehr erwartet, darf jedoch nur eine Phase des Übergangs sein, denn – das erkennt Simmel mit messerscharfem Blick – der Pessimismus hat einen kleinen Bruder: Am Indifferenzpunkt unserer Gemütslage, wenn das Leiden an der nicht garantierten Erfüllungsgewähr unserer Wünsche und Forderungen an die Welt seine Spannung verliert, wird uns unsere Weltbeziehung gleichgültig. Damit ist der Relativismus unserer Denk- und Lebensformen, unserer Ansichten und Überzeugungen gemeint. 33 Simmel packt das Thema von zwei Seiten an. Auf der einen Seite geht es um den skizzierten Weg in eine pessimistische Grundhaltung, die mit einer Verwandlung eines Erkenntnisproblems in ein Lebensproblem und der Einsicht in dessen Unlösbarkeit einhergeht. Wir Menschen werden aus den aufgedeckten Widersprüchen von Sein und Werden, Subjektivität und Objektivität, Realität und Idealität nicht mehr herauskommen; diese bleiben die Hauptprobleme der Philosophie, deren Aufgabe lediglich kritisch ist, nämlich einseitige Lösungen zu hinterfragen. Auf der anderen Seite jedoch geht es darum zu vermeiden, dass mit der Einsicht in die Unversöhnlichkeit der Gegensätze das Streben nach ihrer Vereinbarkeit im konkreten Fall (Seele, Individuum) und die Sehnsucht nach ihrer Aufhebung in einer idealen Form (Geist, Gesellschaft) nachlässt. Es geht um eine Option, der gegenüber alle anderen Tendenzen der Zeit nachrangig einzustufen sind. Simmel skizziert die theoretische und lebenspraktische Möglichkeit, dass das Differenzwesen Menschen Gefahr läuft, am Indifferenzpunkt seiner Strebungen, Sehnsüchte und Hoffnungen aufzuhören, es selbst zu sein. Was heißt es, unter diesen Voraussetzungen zu philosophieren? Vor allem heißt es, festzuhalten an dem, was einem versagt bleibt und trotz allem metaphysische Sehnsüchte zu artikulieren, beispielsweise die Sehnsucht nach einer restlosen Integration des Individuellen in einer überindividuellen Struktur, obwohl diese nicht erfüllbar ist. Oder sie wird in dieser Welt zu einem Preis erfüllt, den Simmel nicht entrichten will – wie er in der Abhandlung »Socialismus und PessiVgl. M. Schmid: »Relativismus«, in: H.-P. Müller und T. Reitz (Hg.): SimmelHandbuch. Suhrkamp: Berlin 2018, 449–453.
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mismus« (1900) hinzufügt, insofern das überindividuelle Sinnangebot das individuelle Streben einengt oder gar unterdrückt. 34 Wie sehr Simmel von der sich immer deutlicher artikulierenden Einsicht getrieben wird, dass die relativistische Weltsicht uns an einen Indifferenzpunkt der Lebensführung in logischen, ethischen und ästhetischen Fragen führen könnte, zeigt ein Blick in seine großen Werke nach 1910, vor allem in den Rembrandt und die Lebensanschauung. Das sind auch, und nicht zuletzt, große didaktische Werke! Im Gegensatz zu anderen Theoretikern der modernen Kultur, für die der Relativismus der Denk- und Kulturformen vor allem als Symptom eines degenerierten Kulturlebens verbucht wird und, wie beispielsweise Wilhelm Windelband, die Erkenntnis objektiver und ewiger Kulturwerte empfiehlt, 35 spricht Simmel schon am Ende der Philosophie des Geldes von einer notwendigen Einsicht in den relativistischen Charakter des Seins – also ohne jeglichen Ewigkeitsanspruch – und er spricht von unserem allzu menschlichen Bedürfnis, den Dingen und Personen, die uns umgeben, dennoch einen Wert zuzusprechen, obwohl wir doch wissen können, dass diese Dinge und Personen, wir selbst und die Situation, in der wir uns befinden, ganz anders sein könnten. Die Einsicht in die Relativität unseres Wertgesichtspunkt muss seiner Ansicht nach nicht unweigerlich zur Wertindifferenz führen. Der Mensch war, ist und wird sein ein wertfühlendes und wertsetzendes Wesen: Er erfüllt seine Welt mit Bedeutungen. Zu Beginn der Philosophie des Geldes ist damit die andere Ordnung gemeint, die neben oder oberhalb der Naturordnung entsteht: die Welt von Werten, Überzeugungen und Bedeutungen. Simmel liefert eine brillante Analyse der Eigenlogik dieser zweiten Ordnung, in der Formen und Symbole regieren. Er spricht vom Menschen als einem »objektiven Tier« 36 und »indirekten Wesen«, 37 das die Zweckreihen, in denen es Vgl. G. Simmel: »Socialismus und Pessimismus« [1900], in: GSG 5, 552–559. Vgl. G. Hartung: »Ein Philosoph korrigiert sich selbst – Wilhelm Windelbands Abkehr vom Relativismus«, in: P. König und O. Schlaudt (Hg.): Wilhelm Windelband (1848–1915). Königshausen und Neumann: Würzburg 2018, 45–60. 36 G. Simmel: Philosophie des Geldes, 385 f.: »[…] der Mensch sei das tauschende Tier; und das ist freilich nur eine Seite oder Form der ganz allgemeinen Charakteristik, in der das Spezifische des Menschen zu bestehen scheint: der Mensch ist das objektive Tier. Nirgends in der Tierwelt finden wir auch nur Ansätze zu demjenigen, was man Objektivität nennt, der Betrachtung und Behandlung der Dinge, die sich jenseits des subjektiven Fühlens und Wollens stellt.« 37 G. Simmel: »Schopenhauer und Nietzsche«, in: GSG 8, 58: »Alle höhere Kultur 34 35
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sein Leben führt, verlängert, also den Moment der Erfüllung eines Begehrens und Wünschens immer weiter aufschiebt. Dabei kann sich auch eine erstaunliche psychologische Metamorphose, d. h. eine Vertauschung von Mittel und Zweck ereignen. Am Beispiel des Geldes, ursprünglich ein Mittel zu Erreichung von Zwecken, die räumlich und zeitlich distanziert sind, dann aber ein Mittel als Selbstzweck werdend, das ein leeres Versprechen auf Zweckerfüllung mit sich führt, hat Simmel diesen Zusammenhang herausgearbeitet. Intellektualität, Sprache und Recht sind seiner Auffassung nach die Katalysatoren der Kulturentwicklung, an deren Ende eine raffinierte objektive Kultur der Moral und des Rechts, der Wissenschaften und Künste, insbesondere in ihren institutionalisierten Formen steht. Aber Intellektualität, Sprache, Recht und Geld sind auch die Motoren zur Herausbildung einer zunehmend versachlichten und entpersönlichten Kultur, da sie als Mittel und Medien indifferent zu ihren wechselnden Inhalten stehen. In geradezu diagnostischer und didaktischer Hinsicht weist Simmel in der Philosophie des Geldes und in den folgenden Jahren darauf hin, dass der Übergang von der Natur zur Kultur im skizzierten Sinne der Versachlichung und Entpersönlichung sozialer Beziehungen in einer allgemeinen Perspektive, also psychologisch, soziologisch und philosophisch betrachtet werden kann. Er weist zugleich darauf hin, dass es sich hierbei immer auch um einen Prozess der Kultivierung des Selbst handelt, der sich im konkreten Einzelfall ereignet und als solcher gezeigt werden muss. Beide Aspekte müssen nicht zusammenpassen. Zwar bedarf die Selbstkultivierung eines bestimmten Grades der Versachlichung (Stichwort: Distanz zu Personen, Dingen und dem eigenen Selbst), jedoch ab einem bestimmten Grad der Objektivierung der soziokulturellen Strukturen, wenn die Funktionalität der Mittel, beispielsweise das Recht und die Sprache, jedweden substantiellen Anspruch an Personen und Dinge verdampfen lässt, wird die Aufgabe der Selbstkultivierung erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht. Wie soll noch eine Distanzierungsleistung erbracht werden, wenn alle Personen und Dinge in Äquidistanz gerückt sind? Wie das Eigene ausunserer Art beruht paradoxerweise darauf, daß wir, in dem Maße ihres Wachstums, zu unseren Zielen immer längere, immer umständlichere, an Stationen und Begegnungen reichere Wege begehen müssen. Der Mensch ist, und zwar je höher er kultiviert ist, um so mehr das indirekte Wesen.«
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bilden, wenn das Fremde in seinem konstruktiven Anderssein nicht mehr erkannt wird? Wie sich noch im Denken üben, wenn doch alle theoretischen Ansprüche an die Welt als gleich- und ungültig erklärt wurden? Wie sich begrenzen, ein bestimmtes Dasein und Sosein ausbilden, wenn das Sein selbst relativistischen Charakter hat?
IV. Philosophieren nach Simmel? Tatsächlich hat Simmel sich die angeführten Fragen, teils implizite, teils explizite, selbst gestellt. Er hat spätestens seit der Philosophie des Geldes immer wieder neu einsetzend, nicht auf disziplinäre Zuständigkeiten vertrauend und bauend – pfadfinderisch eben – die Möglichkeiten philosophischen Arbeitens unter fehlender subjektiver und objektiver Erfüllungsgarantie unserer Forderungen an das Leben auszuloten versucht. Philosophieren, auch systematisches Philosophieren, zielt nicht auf die Konstruktion eines Systems der Philosophie und Wissenschaften ab. Diese Änderung in den Voraussetzungen, Rahmenbedingungen und der Zielsetzung des Philosophierens wirkt auf die Tätigkeit selbst und ihre methodologischen Implikationen zurück. Allmählich setzt sich bei Simmel die Einsicht durch, dass die Erkenntnisprobleme, mit denen wir uns in Philosophie und Wissenschaften, jedenfalls im Hinblick auf die Hauptprobleme, ein Fundament im Leben, das wir sind und das wir führen, haben. Die Erkenntnisprobleme fallen dem Leben also nicht beiläufig zu, sondern im Erkennen und Erleben von Wirklichkeit und im Stellungnehmen zur Wirklichkeit, zeigen sie sich und werden gleichsam aufgezeigt. Kurzum: das Leben produziert aus sich selbst heraus Widersprüche, die von einem wertfühlenden und -setzenden Wesen Entscheidungen verlangen. Das Denken wird evoziert durch die Relativität und die Gegensätzlichkeit als Strukturmomente des Seins: aus dem Leben wird die Logik erzeugt, die allerdings das Leben mit ihrem Anspruch, die Widersprüche und Gegensätzlichkeiten zu versöhnen, durchweg verfehlt. Im Denken findet so gesehen eine Objektivation des Lebens statt, die sich paradoxerweise in ihrem Scheitern bezeugt. Und damit sind wir bei der Aufgabe der Philosophie und beim Leben des Philosophen angekommen. Weil sich die Widersprüche, Paradoxie und Antinomien nicht im neutralen Irgendwo zeigen, sondern am Ort des Denkens, der immer auch der konkrete Ort eines Individuums ist, das lebt und sein Leben führt, haben wir – Philo31 https://doi.org/10.5771/9783495824009 .
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sophinnen und Philosophen – nach Simmels Ansicht einen besonderen Auftrag: Wir sollen zeigen und aufzeigbar machen, dass die Einsicht in die Relativität des Seins nicht unweigerlich in einen Relativismus der Lebensanschauung münden muss. Das impliziert, dass wir Menschen uns als Differenz- und Grenzwesen erleben und erkennen – und dass gerade in einem Leben in unauflöslichen Widersprüchen, vor allem dem zwischen äußerer Begrenzung und immanenter Grenzenlosigkeit, der eigentlichen Impuls zur Selbstkultivierung und Selbstbestimmung steckt. An diesem Zentralpunkt seines Philosophierens rutschen bei Simmel Diagnose der modernen Kultur und Therapie ineinander. Philosophieren wird – in einem Doppelsinn – zur Lebens-Aufgabe! Für diesen Zusammenhang hat Simmel eine beachtenswerte Formulierung gefunden, als er einmal nebenbei notiert hat: »Unter den vielen Menschen, die an ihrem Werk arbeiten, sind wenige, an denen ihr Werk arbeitet.« 38 Ich plädiere dafür, den Philosophen Georg Simmel in den Kreis dieser Wenigen aufzunehmen.
Literatur Gassen, Kurt und Landmann, Michael (Hg.): Buch des Dankes an Georg Simmel. Briefe, Erinnerungen, Bibliographie. Zu seinem 100. Geburtstag am 1. März 1958. Duncker & Humblot: Berlin 1958. Gebauer, Gunter: »Hauptprobleme der Philosophie (1910)«, in: Hans-Peter Müller und Tilman Reitz (Hg.): Simmel-Handbuch: Begriffe, Hauptwerke, Aktualität. Suhrkamp: Berlin 2018, 704–716. Godin, Christian: »Simmel: Lorsque les Sociologues sont Philosophes«, in: Christian Godin und Isabel Weiss (Hg.): Simmel philosophe. Éditions Mimésis: Paris 2016, 43–58. Goodstein, Elizabeth: Georg Simmel and the Disciplinary Imaginary. Stanford University Press: Stanford CA 2017. Hartung, Gerald: »Lebensphilosophie«, in: Stephan Schaede, Gerald Hartung und Tom Kleffmann (Hg.): Leben II. Historisch-Systematische Studien zur Geschichte eines Begriffs. Mohr Siebeck: Tübingen 2012, 309–326. Hartung, Gerald: »Zum Verhältnis von Philosophie und Wissenschaften bei Eduard Zeller«, in: ders. (Hg.): Eduard Zeller. Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte im 19. Jahrhundert. De Gruyter: Berlin/New York NY 2010, 153–175.
G. Simmel: »Aus dem nachgelassenen Tagebuche«, 281; vgl. hierzu K. C. Köhnke: Der junge Simmel, 353–355.
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32 https://doi.org/10.5771/9783495824009 .
Der Philosoph Georg Simmel – zur Einleitung Hartung, Gerald: »Ein Philosoph korrigiert sich selbst – Wilhelm Windelbands Abkehr vom Relativismus«, in: Peter König und Oliver Schlaudt (Hg.): Wilhelm Windelband (1848–1915). Königshausen und Neumann: Würzburg 2018, 45–60. Köhnke, Klaus Christian: Der junge Simmel in Theoriebeziehungen und sozialen Bewegungen. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1996. Köhnke, Klaus Christian: »Simmel ohne Landmann? Nachwort zur Neuausgabe 1987«, in: Georg Simmel: Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse [1968], hg. von Michael Landmann. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1987 (Neuausgabe), 256–275. Landmann, Michael: »Bausteine zur Biographie«, in: Kurt Gassen und Michael Landmann (Hg.): Buch des Dankes an Georg Simmel. Briefe, Erinnerungen, Bibliographie. Zu seinem 100. Geburtstag am 1. März 1958. Duncker & Humblot: Berlin 1958, 11–33. Landmann, Michael: »Georg Simmel. Konturen seines Denkens«, in: Hannes Böhringer und Karlfried Gründer (Hg.): Ästhetik und Soziologie um die Jahrhundertwende: Georg Simmel. Vittorio Klostermann: Frankfurt a. M. 1976, 3–17. Landmann, Michael: »Einleitung des Herausgebers«, in: Georg Simmel: Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse, hg. von Michael Landmann [1968]. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1987 (Neuausgabe), 7–29. Levine, Donald Nathan: »Georg Simmel: toujours à suivre«, in: Denis Thouard und Bénédicte Zimmermann (Hg.): Simmel, le parti-pris du tiers. CNRS Éditions: Paris 2017, 381–399. Mannheim, Karl: »Über eine Eigenart kultursoziologischer Erkenntnis« [1922], in: ders.: Strukturen des Denkens, hg. von David Kettler, Volker Meja und Nico Stehr. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1980, 33–154. Müller, Hans-Peter und Reitz, Tilman (Hg.): Simmel-Handbuch. Suhrkamp: Berlin 2018. Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie. Griechenthum und Pessimismus. Neue Ausgabe mit dem Versuch einer Selbstkritik [1886], in: ders.: Kritische Studienausgabe, Bd. 1, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. DTV: München; De Gruyter: Berlin/New York NY 2012, 9–156. Rammstedt, Otthein (Hg.): Simmel und die frühen Soziologen. Nähe und Distanz zu Durkheim, Tönnies und Weber. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1988. Rammstedt, Otthein (Hg.): Georg Simmels Philosophie des Geldes. Aufsätze und Materialien [2003]. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 22016. Ricœur, Paul: Temps et récit, Bd. 3. Éditions du Seuil: Paris 1985. Schmid, Michael: »Relativismus«, in: Hans-Peter Müller und Tilman Reitz (Hg.): Simmel-Handbuch. Suhrkamp: Berlin 2018, 449–453. Schubbe, Daniel und Koßler, Matthias (Hg.): Schopenhauer-Handbuch. Metzler: Stuttgart 2014. Simmel, Georg: Gesamtausgabe, hg. von Otthein Rammstedt. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1989–2015 (= GSG). Simmel, Georg: Philosophie des Geldes [1900], in: GSG 6, 7–716. Simmel, Georg: »Socialismus und Pessimismus« [1900], in: GSG 5, 552–559.
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Gerald Hartung Simmel, Georg: »Zu einer Theorie des Pessimismus« [1900], in: GSG 5, 543– 551. Simmel, Georg: »Schopenhauer und Nietzsche« [1906], in: GSG 8, 58–68. Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung [1908], in: GSG 11, 7–875. Simmel, Georg: Rembrandt. Ein kunstphilosophischer Versuch [1916], in: GSG 15, 305–515. Simmel, Georg: Brief an Célestin Bouglé, 13. Dezember 1899, in: GSG 22, 342– 343. Simmel, Georg: Brief an Georg Jellinek, 15. Juli 1898, in: GSG 22, 297–299. Simmel, Georg: Brief an Robert Michels, 6. August 1913, in: GSG 23, 201–202. Simmel, Georg: »1916. Wenn ich die Bilanz ziehe …«, in: GSG 24, 71. Simmel, Georg: »Aus dem nachgelassenen Tagebuche«, in: GSG 20, 261–296. Zeller, Eduard: »Über Systeme und Systembildung«, in: ders.: Kleine Schriften, Bd. 2, hg. von Otto Leuze [1910]. De Gruyter: Berlin/Boston MA 2012 (Nachdruck), 566–585.
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II. Systematische Grundzüge der Philosophie Simmels
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Die philosophische Intention Georg Simmels Denis Thouard
Der Begriff der Intention zählt sicher nicht zu den besten, um die gesamte philosophische Leistung eines so vielseitigen Denkers wie Georg Simmel zu charakterisieren. 1 Vielleicht würde man sein Denken sogar durch die Erkenntnis der unvermeidlichen Umkehrung unserer Absichten in ihr Gegenteil am besten beschreiben. Würde man auch das Böse wollen, so ist es nicht ausgeschlossen, dass wir das Gute doch schaffen. Das hat er von Goethe gelernt. 2 Darüber hinaus scheint noch die folgende, knappe Weisheit Goethes Simmels ganzes Werk zu kommentieren: »Das erste steht uns frei, beim zweiten sind wir Knechte.« 3 Simmel unterscheidet sehr genau zwischen einer Interpretation von Faust, die die ursprüngliche Intention nachvollzieht, und einer, die die Vielheit an Deutungsmöglichkeiten dieses Textes betrachtet. 4 Diese Unterscheidung gilt auch für die Einschätzung seiner philosophischen Leistung. Für die Hilfe bei der Gestaltung des Manuskripts möchte ich hier Tim-Florian Steinbach (Wuppertal) sowie Sara Iglesias (Berlin) herzlich danken. Es handelt sich hier um eine Annäherung an das Thema, die keineswegs in der Lage ist, alle Aspekte gebührend zu betrachten. Wenn man aber den Blick auf die spezifische Art und Weise, wie Simmel mit dem »Philosophischen« umgegangen ist, schärfen kann, so ist dieser Versuch erst einmal gelungen. Für eine summarische und thematische Darstellung von Simmels Auffassung der Philosophie verweise ich auf meinen Artikel »Philosophie«, in: H.-P. Müller und T. Reitz (Hg.): Simmel-Handbuch. Begriffe, Hauptwerke, Aktualität. Suhrkamp: Berlin 2018, 417–423. 2 »Ein Teil von jener Kraft, / Die stets das Böse will und stets das Gute schafft.« (J. W. von Goethe: Faust. Der Tragödie erster Teil [1808], in: Goethes Werke, Bd. 3, hg. von E. Trunz (Hamburger Ausgabe). C. H. Beck: München [1949] 161996, 7–145, hier 47/ 1335 f.) 3 Ebd., 49/ 1411. 4 »Soll ich den Faust dagegen historisch-psychologisch verstehen, das heißt, das entstandene Gebilde aus den seelischen Akten und Entwicklungen verstehen, die es Teil für Teil in Goethes Bewusstsein erwachsen ließen, so ist eine entsprechende Mehrdeutigkeit prinzipiell ausgeschlossen; denn dieser Schöpfungsprozess hat sich schlechthin in einer bestimmten Weise abgespielt, die unsere Erkenntnis ergreifen 1
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Denis Thouard
Dass die gesellschaftlichen und historischen Akteure doch Absichten pflegen und diese zu verwirklichen versuchen, ist ein unablässiger Teil des sozialen Lebens. Um diese Dimension zu ehren, hat Simmel zwischen dem historischen und dem sachlichen Verstehen unterschieden. Am Klarsten vielleicht findet man diese Unterscheidung in dem späten Text »Vom Wesen des historischen Verstehens«, die aber schon sehr früh in seinem Werk präsent ist. »So kann einem und demselben Sachgehalt gegenüber der Aufforderung, ihn historisch zu verstehen, vollkommen genügt werden; der anderen, ihn sachlich, nach allem, was er an Bedeutungen in sich schließt, zu verstehen – kann in vollkommenem Maße niemals genügt werden.« 5 Wollen wir also die philosophische Intention Georg Simmels befragen, so müssen wir beides machen, einerseits fragen, was er intendiert hat, andererseits, was er (tatsächlich) erreicht hat. Da aber der geschichtliche Prozess in seiner Komplexität sich der Kalkulation entzieht und relativ, d. h. bis in das Individuelle hinein unberechenbar ist, wird sich die Intention immer wieder verändern. Situationen, auch die Denksituationen sind kontingent. Betrachten wir die ganze schriftliche Produktion von Simmel, wie es die Gesamtausgabe jetzt ermöglicht, so können wir feststellen, dass die Philosophie vom Anfang bis zum Ende seines Schaffens vertreten ist, nicht aber auf die gleiche Weise. Simmel hat sich wohl als Philosoph verstanden, aber nicht unbedingt als Philosoph im Sinne seiner Zeit, d. h. als einen, der die Geschichte der Philosophie nacherzählt, oder als einen, der Systeme baut. Seine erste Auffassung ist dezidiert antimetaphysisch und konnte sich also szientistisch ausnehmen. Seine spätere Entscheidung für die Soziologie kann auch als eine bewusste Entfernung von der Philosophie im akademischen Sinne, möglicherweise gekoppelt mit dem Wunsch, sich in einem Zwischenbereich von Soziologie und Philosophie niederzulassen. Was er später oder verfehlen mag, die sie aber nicht auf mehrere äquivalente Arten vorstellen kann; eine Mehrheit von historischen, aus dem seelischen Vorgang geschöpften Verständnissen der Faust-Entstehung, die alle ebenso richtig waren, wie eine Mehrheit jener sachlichen Faust-Verständnisse es sein könnte, ist ein Nonsens. Es kann natürlich auch über das historische Verständnis eine Mehrzahl von Hypothesen geben; aber von ihnen ist schließlich die eine wahr und die andere falsch – eine Alternative, der sich das aus dem objektiven Inhalt entwickelte Verständnis nicht stellt, die es vielmehr durch andere Wertkriterien ersetzt.« (G. Simmel: »Vom Wesen des historischen Verstehens« [1918], in: ders.: Gesamtausgabe, hg. von O. Rammstedt. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1989–2015 (im Folgenden GSG), Bd. 16, 151–179, hier 169 f.) 5 G. Simmel: »Vom Wesen des historischen Verstehens«, 170.
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Die philosophische Intention Georg Simmels
positiv als philosophische Kultur oder gar als Metaphysik ausgibt, weist aber immer dieselbe Distanz zur gängigen Philosophie auf. Wie soll man diese Zurückhaltung verstehen? Simmel hat sich entschieden gegen einen Schulbegriff und für einen Weltbegriff der Philosophie eingesetzt, d. h. laut Kant für eine Auffassung der Philosophie, die »das betrifft, was jedermann notwendig interessiert«. 6 Die philosophiegeschichtliche Arbeit über Kants physische Monadologie sowie die ersten Rezensionen gehören zu einer Gattung, die er bald völlig aufgeben wird. Die traditionellen Ansprüche der Philosophie als Metaphysik werden – wie üblich bei den Zeitgenossen (Comte, Dilthey, Spencer, Marx, Nietzsche) – zurückgesetzt. Dagegen tritt eine andere Auffassung in den Vordergrund, die sich als Philosophie ausgibt, aber auf bestimmte Gegenstände bezogen ist. Das Diesseits und das Jenseits objektivierender Fragestellung umschreibt das Gebiet der Philosophie. 7 Man philosophiert dann über das Geld, über die Mode und ähnliche Gegenstände, man kann sich sogar fragen, ob nicht über den Stuhl, den Bürgersteig, den Hut und das Taschentuch philosophiert werden kann. Später aber kommt es abermals zu einem radikaleren philosophischen Anspruch, insofern Simmel wieder die früher verhöhnte Metaphysik zu betreiben scheint. Aufgrund dieser drei deutlich unterscheidbaren Strategien, wird leicht die Kohärenz der Philosophie Simmels infrage gestellt. Statt mich aber mit einer Gliederung seines Schaffens in zwei, drei oder vier Perioden zu begnügen, möchte ich hier vielmehr auf die Kontingenz aufmerksam machen, die seine philosophische Laufbahn begleitet. Das setzt voraus, dass wir die Radikalität seines Weges ins Auge fassen. Die Ablehnung der gängigen philosophischen Formate und Gewohnheiten beruht auf einer Reflexion über die Philosophie, ihre Methode und ihre Sprache, was im Folgenden noch zu beschreiben sein wird. Nur aufgrund dieser Rekonstruktion kann man die verschiedenen Versuche Simmels verstehen, die darauf aus sind, einen anderen Zugang zur Philosophie zu finden – darunter die Aufwertung des Essays als philosophische Gattung –, sowie Simmels anscheinende Rückkehr zur Philosophie in der Gestalt der Metaphysik. Zu fragen bleibt jedoch, zu welcher Art von Metaphysik? »Weltbegriff heißt hier derjenige, der das betrifft, was jedermann notwendig interessiert.« (I. Kant: Kritik der reinen Vernunft [1781/21787], hg. von J. Timmermann. Meiner: Hamburg 1998, A840/B868) 7 Vgl. G. Simmel: Philosophie des Geldes [1900], in: GSG 6, 7–716, hier 10. 6
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Die Frage lautet also nicht direkt, was Simmel für eine Art von Philosophie vorgeschwebt hat, sondern betrifft die Bedingungen des Philosophierens im Kontext der industriellen, monetären und bereits sich vollziehenden kulturellen Globalisierung, wie sie Simmel selbst erlebt und wie er sie auch ernst genommen hat. Es werden folglich zwei Problemkreise untersucht, die die Haltung Simmels zur Philosophie belegen und ihn eminent als Philosoph qualifizieren können: (1.) die Methode und das Verhältnis zur Sprache, (2.) die Einbeziehung der Kontingenz oder, was es heißt, im 19. Jh. weiter zu philosophieren? Aus diesen Perspektiven wird ersichtlich, warum Simmel die Philosophie als Philosophieren vorgezogen hat. 8
I.
Die Sprache der Philosophie
Sprache ist für Simmel keine Selbstverständlichkeit. Er hat sie dennoch vernachlässigt, insofern er keine feststehende Terminologie konstruieren und gebrauchen wollte. Er entwickelte deswegen eine Vorliebe für den Essay. Aber worin gründet diese Ablehnung einer wissenschaftlichen Terminologie? Um Simmels Absicht zu fassen, ist es vielleicht angebracht, nach seinem Verhältnis zur Sprache zu fragen. Sein philosophischer Stil ist weitgehend von diesem Verhältnis bestimmt.
I.1. Die Entscheidung für einen Weltbegriff der Philosophie Was schon ein unbefangener Blick beim Durchblättern der Gesamtausgabe Georg Simmels erfasst, das ist ein rascher Wandel in der Form. Ist die Promotion, erwartungsgemäß, sichtlich in den Bahnen der akademischen Gattung verankert, so zeugen auch seine anderen frühen Schriften von einer relativen Anpassung an die damaligen akademischen Gepflogenheiten. Die ersten Aufsätze sind noch mit Fußnoten versetzt. Die Texte verweisen auf die entsprechenden Quellen und nebenbei bemerkt war auch die Tätigkeit Simmels als RezenDieser Versuch ergänzt meine Reflexion über die Schwierigkeit, Simmel zu lesen (vgl. D. Thouard: »Comment lire Simmel?«, in: Sociologie et sociétés 44 (2012) 2, 19– 41) sowie meine früheren Versuche über die Sprache der Philosophie (vgl. exemplarisch D. Thouard: Geteilte Ideen. Matthes und Seitz: Berlin 2016).
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sent erheblich. Diese Merkmale verschwinden aber früh. Bald schreibt er auf eine freie, geläuterte Weise, die sich ganz den Argumenten widmet und keine Zeit mehr mit Verweisen und Quellen verliert. Es hat eine Umkehrung gegeben, man könnte sogar von einer Palinodie sprechen. In dem Auszug aus der gescheiterten Promotion über Musik und Sprache, die Simmel in der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 1882 unter dem Titel »Psychologische und ethnologische Studien über die Musik« veröffentlicht hat, finden wir Spuren einer völlig anderen Schreibweise. Der Aufsatz – ein Unikum in Simmels Werk – sieht einem Cento ähnlich, er wimmelt von Zitaten, ja ist ein Patchwork aus Zitaten, die aus der ethnographischen Literatur, aber auch aus Reiseberichten, aus der klassischen Literatur und sonstigen Quellen stammen. Diese wenigen Seiten sind ein Turm von Babel der Gelehrsamkeit und zeugen vermutlich von einem immensen Lesepensum, das Simmel für die anvisierte Arbeit geleistet hatte. Alles umsonst. In diesen frühen Schriften findet eine Reflexion über die Sprache statt, die dazu führt, dass diese bei ihm nicht mehr thematisch erscheinen wird. Für die Vertreter der Völkerpsychologie, zumal für Heymann Steinthal, war die Sprache das bildende Organ des Denkens. 9 Das Studium der Sprache eröffnet deswegen die Erkenntnis der verschiedenen Weltansichten und kann folglich der Erkundung der verschiedenen Völker dienen. So die leicht vereinfachte Lehre, die man aus dem Erbe Humboldts entnehmen konnte. Diese Tradition kannte Simmel sehr wohl. Er hat aber diese Art der Sprachkritik abgelehnt, die das Denken in seiner sprachlichen Bedingung betrachtete. Er hat dies abgelehnt, aber nicht um einen wie auch immer gearteten Spiritualismus willen, der die Reinheit des Denkens gegen seine Naturalisierung verwahren sollte. Er hat sie aus philosophischen Gründen verworfen. Das hat Konsequenzen für seinen philosophischen Stil und seine Darstellungsweise sowie für das eigene Philosophieren. Heymann Steinthal und Moritz Lazarus haben wohl die noch sehr unbestimmte Sprechweise Humboldts näher bestimmt und sprechen lieber von Verdichtung (vgl. H. Steinthal: »Zur Sprachphilosophie« [1857], in: ders.: Kleine sprachtheoretische Schriften, hg. von W. Bumann. Georg Olms: Hildesheim, New York NY 1970, 248– 306, hier insbes. 299). Simmel wird den Begriff öfters verwenden. Zu Simmels frühen Schriften vgl. K. C. Köhnke: Der junge Simmel in Theoriebeziehungen und sozialen Bewegungen. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1996, 30–166.
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Die Sprachphilosophie, die noch Bestandteil der Völkerpsychologie war, stellte doch für die Philosophie eine riesige Herausforderung dar. Wenn das Denken von den Formen der Sprache im Voraus geprägt wird, kann schnell die Lust am Philosophieren vergehen. Man fragt sich, wozu denn, wenn die Philosophie nicht mehr in der Lage ist, das Neue zu denken. Für Simmel wird dagegen der Versuch, die eigene Zeit zu denken, ins Zentrum rücken. Insoweit hat er Hegels Ausspruch, dass die Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfasst, ernstgenommen, wie wir später sehen werden. Dies scheint aber bei den Sprachphilosophen und Psychologen nicht so richtig möglich zu sein.
I.2. Sprachkritik und Tragödie der Sprache In den Anfängen der neuzeitlichen Sprachkritik hatte Locke darauf hingewiesen, dass die Sprachen längst fertig waren, als die Wissenschaften entstanden. 10 Die Philosophie kann nicht mehr nachholen, was unbewusst, unter anderen meist praktischen Prioritäten, einmal entstanden ist. Wenn die Sprachen sich auch verändern, so bleiben sie doch für die Erkenntnis wie eine zwingende Struktur, die uns wieder und wieder zu bereits überholten Vorurteilen und Gesichtspunkten führt. Locke erklärte folglich die Fallen der Sprache, die die Einführung einer eigenständigen Behandlung in der Erkenntnistheorie selbst rechtfertigten: »Nicht Philosophen oder Logiker waren es, auch nicht Männer, die sich um Formen und Wesenheiten bemühten, die die allgemeinen Namen geschaffen haben, die bei den verschiedenen Völkern der Menschheit in Gebrauch sind. Vielmehr verdanken diese Ausdrücke größeren oder geringeren Umfangs in allen Sprachen ihre Entstehung und Bedeutung zumeist unwissenden und ungelehrten Leuten. Diese Leute ordneten und benannten die Dinge nach jenen sinnlich wahrnehmbaren Qualitäten, die sie daran beobachteten. Sie verfolgten dabei den Zweck, die Dinge, wenn man sie nicht vor Augen hatte, anderen bezeichnen zu können […].« 11
Vgl. J. Locke: Versuch über den menschlichen Verstand [1690], Bd. 2: Buch III und IV, übers. von C. Winkler. Meiner: Hamburg 2006 (Nachdruck der Ausgabe 41981), 68. 11 Ebd. 10
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Sprache ist ungenau und unzuverlässig. Und man kann ihrer Ungenauigkeit und Unzuverlässigkeit kaum entgehen. Das ist noch der Stand der Reflexion, den Simmel registriert, als er sein erstes namhaftes Werk Über sociale Differencierung (1890) entwirft. Diese sechs Untersuchungen zur Soziologie und Psychologie werden von einer Reflexion »Zur Erkenntnistheorie der Sozialwissenschaften« eingeleitet. Obwohl er hier einen Standpunkt vertritt, den er bald als überholt betrachten wird, lohnt es sich den hier ausgeführten Gedankengang nachzuvollziehen. Abgelehnt wird ein vorausgesetzter Begriff von Gesellschaft mit eigenen Gesetzen. Vielmehr gilt es, diesen pauschalen Begriff in seinen Bestandteilen aufzulösen, was bereits den Begriff des Individuums in den Vordergrund rückt. Aber was ist ein Individuum und wo sind seine Grenzen? Das bleibt unklar. Einerseits existieren »greifbar« nur die Menschen und nicht die »Gesellschaft«, die als solche bereits ein Kollektivausdruck, also eine Abstraktion ist. 12 Andrerseits ist auch »der einzelne Mensch« keine Einheit, das »ich« auch nicht. 13 Die ontologische Frage lassen wir hier dahingestellt. Auf der erkenntnistheoretischen Ebene aber, auf der Simmel sich hier bewegt, wiederholt sich der Einwand Lockes: »Die Formen und Kategorien unseres Denkens und unserer Ausdrücke für das Gedachte haben sich zu Zeiten gebildet, in denen die primitiven Geister von einerseits höchst einfachen, andererseits verworren komplizierten Vorstellungen erfüllt waren, was durch die Einfachheit unkultivierter Lebensinteressen und durch das Vorherrschen der psychologischen Association vor der logischen Abstraktion begreiflich wird.« 14
Diese Beobachtung nimmt aber bei ihm typische Züge an, aus denen man verstehen kann, warum er sich einen anderen Umgang mit der Sprache wünscht: »Die Probleme späterer Zeiten drehen sich um Begriffe und Verhältnisse, von denen die früheren keine Ahnung hatten, zu deren Bewältigung aber nur diejenigen Denk und Sprechformen da sind, die von den letzteren zu ganz anderen Zwecken geprägt sind; diese Formen sind längst erstarrt, wenn es sich darum handelt, einen ganz neuen Inhalt in sie aufzunehmen,
G. Simmel: Über sociale Differenzierung. Sociologische und psychologische Untersuchungen [1890], in: GSG 2, 109–295, hier 126. 13 Ebd., 128. 14 Ebd., 136. 12
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der sich nie vollkommen mit ihnen decken wird und der eigentlich ganz andere, jetzt aber nicht mehr herstellbare Denkbewegungen fordert.« 15
Das ist die alltägliche Tragödie der Sprache, die Simmel mit Nachdruck bemerkt. Wir benutzen eine Sprache, die die Fortschritte unserer Erkenntnis nicht wiedergeben kann, weil sie zu Zeiten gebildet wurde, wo diese nicht formiert waren. Die sprachlichen Formen sind dieselben oder zumindest ähnlich geblieben, aber das Wissen hat sich verfeinert, bereichert und vervielfältigt. Unvermeidlich tauchen zwischen den sprachlichen Formen und den neu zu denkenden Inhalten Konflikte auf. Aber genau in dem ungenügenden Verfahren der Sprache, die das Bewußtsein nachträglich unterläuft, besteht die Lösung. Das erklärt meines Erachtens die grundsätzliche sprachphilosophische Entscheidung Simmels, der sich immer vor irgendeiner Terminologie oder formalisierten Sprache verwahrte. Das mag auch seine Methodik erklären. Das spontane Verfahren der Sprache, um etwas Neues auszudrücken, ist die Analogiebildung. 16 Eben deshalb muss der Philosoph, um nicht in die Falle der schon formierten Sprache zu stürzen, selbst Analogien bilden. Er wird zu einem Analogiekünstler. 17 Der oft missbilligte Hang Simmels zur Analogiebildung beruht auf seiner philosophischen Überzeugung, dass es keinen Sinn macht, nach einer endgültigen Ausdrucksweise bzw. festen Terminologie zu streben. Für das tatsächliche Philosophieren macht eine Begriffsschrift keinen Sinn. Seine Heuristik verbietet es ihm. Eine treffende Würdigung der Analogie in Simmels Denken hat Siegfried Kracauer früh formuliert. Wenn die Welt sich in »unnennbar vielen Beziehungen zueinander« auflöst, so kann man die Doppelstruktur der »Denktätigkeit« herausheben: eine verbindende, die Ebd. Vgl. ebd. 17 Die gute Analogie ist keineswegs beliebig. Sie kann vielmehr eine wesentliche Rolle für das Erlernen der Philosophie haben, sowie für deren erfinderische Praxis. Ich verweise auf Roberto Casatis Apologie der Analogie, der darauf hinweist: »Imperare a fare filosofia passa per l’imparare a vedere in un certo ambito delle figure, die pattern di impostazione o di soluzione di problemi che possiamo sperare di esportare in un altro ambito.« (R. Casati: Prima lezione di filosofia [2011]. Gius. Laterza & Figli S.p.A.: Rom/Bari 2015 (digitale Edition), 124). Casati sieht zwei Tugenden in der Analogie: eine generative Funktion, indem die Analogie uns neue Argumente und Lösungen zu finden hilft und eine cautelative Funktion, indem sie auf ähnliche Schwierigkeiten bei verschiedenen Argumenten verweist (vgl. ebd., 124–128). 15 16
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Beziehungen zwischen »scheinbar Getrenntem« hervorbracht, und eine auflösende, die »uns die Kompliziertheit vieler vermeintlich einfacher Objekte und Probleme bewußt macht«. 18 Der Philosoph zeigt uns, wie sich Beziehungen in den Dingen selbst kristallisiert haben, indem er diese aus ihrer Isoliertheit befreit. Dabei lässt er uns die Welt als eine komplexe Welt verstehen. Er kann aber auch auf wesentliche oder formale Ähnlichkeiten hinweisen. Bestimmte Bezüge oder Beziehungen werden deshalb nicht gemacht, weil die Welt zu komplex ist und aus Netzen von Wechselbeziehungen besteht. Analogien erlauben es einem, Kurzschlüsse zu ziehen und ganz verschiedene Phänomene in Bezug zueinander zu setzen. Die Analogie ist wie der Witz eine Handlung des Urteilsvermögens. Aber bei der Analogie geht es nicht darum, das fehlende Mittelglied einer Argumentation zu finden, sondern formale Strukturen aufzuweisen. Nicht zwei Dinge oder Zustände werden bei der Analogie verglichen, sondern zwei Verhaltensweisen, zwei Prozesse die parallel verlaufen und die eine Strukturähnlichkeit aufweisen. Nicht das Ding selbst, sondern die Art und Weise rückt in den Fokus. Kracauer erläutert dies vielleicht klarer als Simmel selbst: »Verhalten sich zwei Gegenstände a und b analog, so besagt dies, daß a sowohl wie b der gleichen allgemeinen Regel, dem gleichen allgemeinen Gesetz unterliegen. […] [Die Analogie] berücksichtigt [die Beschaffenheit eines Dinges] lediglich insofern, als es eine Funktion erfüllt, einen Typus verkörpert, sich einer Form einfügt: kurzum als Sonderfall eines Allgemeinen, dessen Erkenntnis Vorbedingung der Analogiebildung ist. Der Wert der Analogie gründet sich ausschließlich auf ihre objektive Gültigkeit, da sie lediglich die Vorgänge miteinander vergleicht, die wirklich nach einem und demselben Schema verlaufen.« 19
Kracauer erinnert zurecht an die Objektivität der Analogie, die nicht subjektive Eindrücke verbindet, sondern objektive Prozesse. Die Gesetzmäßigkeit des einen Falls wird mit der des anderen verglichen. Deswegen kann sie falsch sein: sie betrifft ein »Verhalten der Erscheinungen selber«. 20 Als Einsicht in das Gesetz, in die Regel, die Funktion, die Form des Ablaufs, kann man die Analogie mit dem Kantischen Schematismus vergleichen, aber im Gegensatz zu diesem fehlt die Deduktion. Es wird keine Erkenntnis konstruiert. Die Analogie 18 19 20
S. Kracauer: »Georg Simmel«, in: Logos 9 (1920/1921), 307–338, hier 314 f. Ebd., 317. Ebd., 318.
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Denis Thouard
bleibt bei dem Vergleich. Das Wie veranschaulicht die Ungleichheit der Verweise, die es nicht gilt, aufzuheben. Eine skeptische Reserve begleitet die Analogiebildung, die keine metaphysische Einsicht verspricht. Man kann sogar sagen, dass der Rekurs auf Analogien in dem Bewusstsein der Defizienz der Wörter gründet: Die immer weitere Spezialisierung der Wörter zu Begriffen hat zur Folge, dass man bestimmte Beziehungen zwischen Sachverhalten nicht mehr wahrnimmt. Die Isoliertheit und Abstraktheit der Begriffe zerlegen die Welt: »Die Dinge in ihren starren Begriffsgehäusen werden einsinnig, immer bloß eine Seite von ihnen ist uns zugekehrt«. 21 Der Ablehnung einer wie auch immer gearteten philosophischen Terminologie auf der einen Seite entspricht auf der anderen Seite der Gebrauch der Analogie. Die Sprachkritik begründet die Ablehnung einer formalistischen Logik 22 und führt zu dem sachlichen Mittel der Analogie, als passende Methode der philosophischen Reflexion. Die Entfernung von jeder sprachphilosophischen Spekulation hätte folglich, wenn ich richtig sehe, einen eigenen sprachphilosophischen Grund. Philosophie ist eine Tätigkeit, sie befasst sich mit Problemen, nicht mit dem Aufbau eines logischen Weltbilds. Damit hängt auch die Ablehnung des Wahns von der Letztbegründung zusammen, sei es in der Erkenntnistheorie, sei es in der Moral. Jede Wissenschaft beruht auf einer Axiomatik, die sie selbst nicht in der Lage ist, zu rechtfertigen. Jede Beweisführung bleibt ja von der relativen Gültigkeit ihrer Prämissen abhängig. Diese Stellung beruht auf der Einsicht der antinomischen Struktur der philosophischen Erklärung. Diese kann formal stringent sein, trotzdem kann sie die Plausibilität ihres Gegenteils nie ausschließen. Wenn das so ist – und das ist sicher die Lehre, die Simmel aus Kant zieht, ohne mit jeder seiner Lösungen vollkommen einverstanden zu sein –, so bleibt die Philosophie ein problematisches Unternehmen. Damit hat er die Grundmodalität der Philosophie bezeichnet: Sie bietet problematische Urteile. Die Vernunft verfährt dialektisch. Sie kann nicht Definitionen anbieten, sondern meist Beschreibungen, und benutzt Analogien, um versuchsweise Einheit und Gleichheit herzustellen. 23 Ihre Ebd., 316. Diese Kritik der Sprache, die meist dem praktischen Nutzen folgt, findet man auch bei Bergson oder James. 22 Diese Lehre hat Simmel auch oft in seinen Vorlesungen präsentiert! Über diesen Aspekt seiner Tätigkeit gibt es meines Erachtens noch zu wenig Forschung. 23 Vgl. I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B222 f. Dabei ist Simmel sowohl auf Distanz zu den zeitgenössischen Philosophen wie Heinrich Rickert oder Edmund Husserl, 21
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Analogien sind also Regeln mit einer eingeschränkten Gültigkeit. Sie ermöglichen dennoch eine Aussage, d. h. eine philosophisch ausreichend fundierte Aussage über ein Besonderes, das in der Erfahrung angetroffen wird. Ausreichend heißt demnach: für den bestehenden Diskussionskontext vorläufig zureichend. Die Methode Simmels berücksichtigt also die Einsicht in die Relativität aller formalen Erkenntnis, die dialektisch bzw. antinomisch an die Arbeit geht. Die skeptische Kritik (oder das dialektische Verfahren im Sinne Kants), die Erweiterung des Essays (als Anti-Methode, wie Adorno scharfsinnig bemerkt hatte 24) sowie die Wiedererfindung der Meditation in seinen letzten Schriften, sind jeweils eine Antwort auf die anerkannte Krisis der systematischen Philosophie. Aber die Ablehnung eines Systems ist nicht das Einzige, was in dieser Hinsicht ins Gewicht fällt. Indem er das Philosophieren der Philosophie entgegensetzt, findet Simmel in der Analogie ein Verfahren, das neue Beziehungen und Sachverhalte aufnehmen kann. Er wendet sich bewusst von einer Sprachkritik ab, die durch die Freilegung der sinnlichen, metaphorischen Bedingungen der Begriffsbildung zu einer Kritik aller Abstraktion voranschreitet. Solche Versuche hat er sehr wohl gekannt, sei es mit Steinthal, Gustav Gerber (der eine wichtige Quelle für Nietzsche war) oder Nietzsche selbst. 25 Sehr früh und also bestimmend für sein ganzes Philosophieren tritt eine Skepsis gegenüber den gängigen Formen der Philosophie auf, aber auch gegenüber einer radikalen Reduzierung derselben auf ein Sprachspiel. Die lockere Form seiner Schriften gründet sich auf die kritische Überzeugung, dass Philosophie als Tätigkeit noch zu retten ist. Sie ist keineswegs eine Art raffiniertere Mythologie der Sprache oder eine Ruine alter Zeiten. die nach einem Apodiktischen streben, sowie zu den objektivierenden Soziologen, zu denen auch Durkheim gehört, die ausschließlich mit Definitionen, Fakten und Kausalitäten arbeiten wollen. 24 T. W. Adorno: »Der Essay als Form« [1958], in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 11, hg. von Rolf Tiedemann. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1974, 9–33. 25 Steinthal und Lazarus waren seine Professoren, in ihrer Zeitschrift hat er seine ersten Aufsätze publiziert; von Gustav Gerber hat er Die Sprache und das Erkennen (1884) und Die Sprache als Kunst (1884/1885) rezensiert (G. Simmel [Rezension]: Gerber, G.: Die Sprache und das Erkennen, 1884 [1885], in: GSG 1, 187–189 und G. Simmel [Rezension]: Gerber, G.: Die Sprache als Kunst I. 1884–1885 [1885], in: GSG 1, 191 f.); Nietzsche hat er vermutlich früh gelesen, ab 1890 schreibt er über ihn. Fritz Mauthner hat er wahrscheinlich auch wahrgenommen, spätestens zeit seiner Bekanntschaft mit Martin Buber.
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I.3. Dante und die Sprache der Philosophie Einen letzten Hinweis auf die sprachphilosophischen Gründe, die Simmels Verhältnis zur Philosophie bestimmen, können wir aus seiner ersten Publikation aus dem Jahre 1884 entnehmen. Diese war fast ein Büchlein und galt Dantes Psychologie. 26 Im Blick auf Dante hat er die Möglichkeiten der Philosophie reflektiert. Dante hatte sowohl die Mystik als auch die Scholastik abgelehnt und sich für das entschieden, was man einen Weltbegriff der Philosophie nennen kann. Für Simmel war Dantes Reflexion über die Sprache wichtig, so wichtig, dass er sie noch seinem Leser am Anfang der Lebensanschauung (1918) serviert, mit einem Dante Zitat: ormai per te ciba (Jetzt bediene dich). Diese Worte sind als eine Einladung zum eigenständigen Philosophieren zu verstehen. Dieser frühe Aufsatz betont die Rolle der Sprache, die sowohl rationale wie sensuale und damit unserem irdischen Zustand und unserem Nichtwissen angemessen ist. Simmel beruft sich für diese zentrale Erklärung auf das Gastmahl, Dantes Convivio (1490), das die Lehre, den Inhalt der Meditation, als Brot oder Nahrung bezeichnet. Im Gastmahl ist ständig von la mia cena die Rede und die Entscheidung für den Sprachgebrauch geht von der Berufung auf das Volgare aus. Eine neue Sprache muss im Gebrauch geschaffen werden. Aber keine Sprache wird der Veränderung der Situationen und Zeiten sowie der Individualität der Gegenstände gerecht: »Daher sehen wir in den Städten Italiens, wenn wir genau hinschauen wollen, wie in den letzten fünfzig Jahren viele Begriffe ausgelöscht, geboren und verändert wurden; wenn eine kleine Zeit derart verändert, verändert eine größere viel mehr: So sage ich denn, daß, wenn jene, die vor tausend Jahren aus diesem Leben geschieden sind, in ihre Städte zurückkehren würden, sie ihre Stadt von seltsamen Leuten besetzt glauben würden, wegen der mit der ihren nicht übereinstimmenden Sprache.« 27
Der Mensch ist, wie Simmel aus De vulgari eloquentia zitiert, ein »instabilissimum et variabilissimum animal«, deshalb muss die sprachliche Annäherung an den Gegenstand immer wieder neu un-
Simmel hatte als Nebenfach Altitalienisch studiert (vgl. K. C. Köhnke: Der junge Simmel, 40 f.). 27 D. Alighieri: Das Gastmahl [1490], übers. von Thomas Ricklin. Meiner: Hamburg 1996, 27. 26
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ternommen werden. 28 Sei es in der Vita Nova, sei es natürlich in der Göttlichen Komödie, die Herausforderung des Neuen und der angemessenen Bezeichnung des Neuen ist für Dante ganz zentral. In der Vita Nova hilft der Kommentar, den Sinn in seiner Neuigkeit zu fassen. In der Göttlichen Komödie, ist die ganze Struktur des Werks zeitlich. Das ist der Grund, warum das Purgatorium so wichtig ist: Wo die Seelen im Inferno für immer einen bestimmten Ort zugewiesen bekommen, dürfen sie sich im Purgatorium zeitlich entwickeln: »es kommt auf die Besserung des Sünders« 29 an; sie haben folglich eine eigene Individualität. 30 Nimmt man die sehr genaue Auseinandersetzung mit Dante und seiner Sprachproblematik ernst, so kann man weitere Gründe für die radikale Abwendung von dem Schulbegriff der Philosophie beim frühen Simmel erkennen. Philosophie beginnt mit Problemen, die keineswegs im Voraus lösbar sind. Diese ›Hauptprobleme‹ finden sich immer wieder in verschiedenen Gestalten vor uns. Jeder Versuch im Denken ist situiert – so wie es bei Dante war, der zwischen zwei Welten lag, zwischen dem Neuen und dem Alten. Dante lebte, so Simmel, in einer »Übergangsepoche[]«. 31 Aber wir leben alle in Übergangsepochen, ohne es zu merken. Wir sind ja »Übergangswesen«. 32
II.
Philosophieren im Zeichen der Kontingenz
In diesem Teil werde ich mich auf drei Aspekte beschränken: die Situation des Philosophierens, die Diagnose der Zeit und den Anspruch der Philosophie auf Voraussetzungslosigkeit.
G. Simmel: »Dantes Psychologie« [1884], in: GSG 1, 91–177, hier 115. G. Simmel: »Dantes Psychologie«, 158. 30 Vgl. G. Simmel: »Dantes Psychologie«, 157–161 sowie hierzu J. Le Goff: »La naissance du Purgatoire« [1981], in: ders.: Pour un autre Moyen âge. Gallimard: Paris 1999, 771–1231. Le Goff nennt das Purgatorium Le troisième lieu, was den philosophischen Versuchen Simmels sehr gut entspricht. Es liegt nahe zu vermuten, dass Simmel hier eine anschauliche Gestaltung des »objektiven Geistes« vorfindet. Die Kritik an der idealisierten Vorstellung der Ethik Steinthals würde das bestätigen (vgl. G. Simmel [Rezension]: Steinthal, H.: Allgemeine Ethik, 1885 [1886], in: GSG 1, hier 192–210, hier 208 f.). 31 G. Simmel: »Dantes Psychologie«, 93. 32 G. Simmel: Philosophie des Geldes [1900], in: GSG 6, 7–716, hier 137. 28 29
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II.1. Im Zeichen der Krise Sich über die philosophische Intention Georg Simmels Gedanken zu machen, bedeutet auch, die Krise der Philosophie im 19. Jahrhundert zu befragen, um nach möglichen Auswegen zu suchen. Nicht nur die Rede vom Tod Gottes ist seit Hegel, Feuerbach oder Nietzsche verbreitet. Auch das Sterben der Philosophie wird langsam zum Lieblingsthema der Philosophie, von Nietzsche und Heidegger bis hin zu ihren postmodernen Enkeln. 33 Simmel hat die Situation der Philosophie zu seiner Zeit klar erkannt und sie als »Fluch der Kreditlosigkeit« bezeichnet. 34 Man lehrt noch Philosophie und schreibt weiter philosophische Bücher, aber das bedeutet keineswegs, dass die Philosophie noch am Leben ist. Ihr Prestige ist verschwunden, ihr Wert entwertet. Das ist seine Ausgangssituation. Wie kann man trotzdem weiter philosophieren, pauschal gesagt, ›nach Hegel‹ ? Simmel reagiert als Philosoph auf die Krise der Philosophie, die sich mit dem Zusammenbruch des deutschen Idealismus nach Hegels Tod offenbart. Es sind mindestens drei Herausforderungen, denen er sich stellt. Zuerst sind es die Naturwissenschaften, die sich rasch entwickeln und die Rationalität für sich beanspruchen, so dass die Philosophie, wenigstens in der Gestalt der traditionellen Metaphysik, in Misskredit gerät, als überholt und unnötig erscheint, wie etwa der Positivismus von Auguste Comte dies nahelegt. Vor allem aber sind es seit den 1860er Jahren die Biologie und die Evolutionstheorie, die einen völlig neuen Rahmen für die philosophische Reflexion schaffen. Die Stellung des Menschen in der Welt wird entsprechend geschwächt, die Veränderung der Zustände auf unübersichtliche Zeitverläufe verlegt. Zweitens wird das Primat der Vernunft durch Philosophien in Frage gestellt, die die Vernunft eher als Epiphänomen betrachten. Schopenhauer und Nietzsche erschüttern den Glauben an die Rationalität des Menschen, indem sie den Geist als sekundär, den Körper dagegen als primär auffassen.
Vgl. I. Thomas-Fogiel: Référence et autoréférence. Étude sur la mort de la philosophie dans la pensée contemporaine. Vrin: Paris 2005. 34 G. Simmel [Rezension]: Gomperz’ Griechische Denker. 1896 [1895], in: GSG 1, 346–353, hier 346. 33
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Drittens gilt es die Umkehrung ernst zu nehmen, die Marx zwischen dem Bewusstsein und dem Sein des Menschen herbeiführt – zum einen, indem man die Glaubwürdigkeit des Materialismus erneut prüft, zum anderen, indem man in dem Gedanken, dass »das gesellschaftliche Sein des Menschen […] ihr Bewußtsein [das Bewußtsein der Menschen] bestimme«, die Nähe zum Programm der Sozialwissenschaften erkennt. 35 Darwin, Nietzsche und Marx: das sind die drei Herausforderungen, die jegliche Erneuerung des philosophischen Denkens bedingen. Simmel hat sich von Anfang an bewusst mit ihnen auseinandergesetzt. Insoweit ist seine Ausgangsituation nicht weit entfernt von der des zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der die Meisterdenker des Zweifelns (les Maîtres du soupçon) Nietzsche, Marx und Freud waren. Wenn dieser Parallelismus aber zu einem Vergleich mit Foucault, Derrida oder Bourdieu führen kann, so ist Simmels Antwort zu den verschiedenen Herausforderungen der Philosophie jeweils eine andere. Diese Kontextualisierung macht Simmel also gewissermaßen aktuell, nicht im Sinne der poststrukturalistischen Affinität, sondern insofern er die Herausforderungen der Moderne ernst genommen hat. Die Philosophie kann diesen Ausgangspunkt nicht ignorieren.
II.2. Von der Substanz zur Funktion Der zweite Schritt, der die Möglichkeit der Philosophie wiedereröffnet, ist eine Reflexion über die Modalität des Denkens und Urteilens. Die verschiedenen Gebiete der Erkenntnis und der Praxis mögen sich differenzieren und eigene Geltungsordnungen entwickeln, die zu verschiedenen Wissenschaften führen, die Philosophie selbst hat jedoch keinen »Gegenstand«. Die alte Metaphysik als Wissenschaft vom Absoluten hatte die Welt, Gott und die Seele zum Gegenstand, ist aber im Laufe der Entwicklung der Wissenschaften enteignet worden. An der Stelle einer Philosophie des Absoluten oder sogar des Geistes hat Simmel eine Philosophie des Geldes gesetzt. Das ist meines Erachtens ein Zeichen, das Simmel setzt und an die Philosophen seiner Zeit adressiert. Geld ist mehr als ein GegenG. Simmel: Schopenhauer und Nietzsche. Ein Vortragszyklus [1907], in: GSG 10, 167–408, hier 211. Frei nach Marx: Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.
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stand oder ein Symbol. Es ist das rein Quantitative und Relationale, das an die Stelle der Substanz sowie des Absoluten tritt. Das Hegelsche Programm einer Philosophie, die die eigene Zeit zu ihrem Begriff erhebt, wird weitergeführt. Aber diese Zeit ist zu einer Zeit der reinen Beziehungen geworden. Es gilt also, diese zu reflektieren. In anderen Worten: Geld statt Gott. So wie der Gegenstand in Beziehungen aufgelöst wird, so wird die Philosophie grundsätzlich zu einer Tätigkeit, zu einem Philosophieren. Sie kann weder als eine Hermeneutik von Texten gelten, zumal in der Gestalt der Geschichte der Philosophie, noch als System des Absoluten. 36 Deswegen hat sie mit Problemen zu tun, die derart sind, dass sie nie zu einem Ende zu bringen sind. 37 Die Modalität tritt in den Vordergrund, um das Spezifikum der Philosophie zu bezeichnen. Die Philosophie ist, in anderen Worten, eine Tätigkeit, die sich mit dem »als« der Beziehungen beschäftigt.
II.3. Voraussetzungslosigkeit Diagnose der eigenen Zeit, Reflexion über die eigenen Grenzen und Abschaffung der Ideale, das sind also die ersten Merkmale des neuen Begriffs der Philosophie. Dazu kommt ein weiterer Anspruch, der der Voraussetzungslosigkeit. 38 Neben einer Hegelianischen Bestimmung Simmel ist natürlich nicht der Einzige, der diesen Zustand erkennt. Ähnlich sieht die Einschätzung der Situation von Windelband aus: Die Philosophie kümmert sich nicht um Urteile über Gegenstände (das tun die Wissenschaften), sondern um Beurteilung, um Modalität (vgl. W. Windelband: »Was ist Philosophie? (Über Begriff und Geschichte der Philosophie)« [1882], in: ders. Präludien, Bd. 1. Mohr: Tübingen 91924, 1–54). 37 Sebastian Luft hat auch präzise gezeigt, wie die eigene philosophische Geschichtsschreibung Windelbands auf der Einsicht gründet, dass die Probleme die Geschichte des Denkens strukturieren (vgl. S. Luft: »Philosophical Historiography in Marburg Neo-Kantianism: The Example of Cassirer’s Erkenntnisproblem«, in: G. Hartung und V. Pluder (Hg.): From Hegel to Windelband. Historiography of philosophy in the 19th Century. De Gruyter: Berlin 2015, 181–205). 38 Dazu immer noch J. von Kempski: »›Voraussetzungslosigkeit‹. Eine Studie zur Geschichte eines Wortes« [1951], in: ders.: Brechungen. Kritische Versuche zur Philosophie der Gegenwart. Schriften, Bd. 1. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1992, 174–197. Wichtig sind für die Bestimmung des Begriffs die Hegelianer, zumal Bruno Bauer, aber auch Trendelenburg. Das Wort »Voraussetzungslosigkeit« wird allmählich eine wichtige Beschaffenheit der Philosophie bezeichnen, so bei Kuno Fischer oder J. H. von Kirchmann. Es kommt zu dem Angriff Nietzsches in der Genealogie der Moral 36
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der Voraussetzungslosigkeit, laut welcher der Begriff sich immer voraussetzt, 39 einer Bestimmung, die bald ins Vergessen geriet, ist das verbreitete Verständnis dieses Ausspruchs gegen Ende des 19. Jahrhunderts folgendes: Es ist das Merkmal der Philosophie, alles zu prüfen und nichts als gegeben anzuerkennen. Diese Haltung wurde meist dem radikalen Zweifel von Descartes gleichgesetzt, mit welchem man oft den Anfang der neuzeitlichen Philosophie verbindet. Durch die systematische Anzweiflung des Bestehenden setzt die Philosophie in ihrem modernen Anspruch auf Selbstgewissheit, certitudo. Dieser Gestus galt als Merkmal des Philosophierens, das nicht nur als eine kritische Infragestellung der Vorurteile zu verstehen ist, sondern als eine eigentliche Erfahrung. Wenn er das Wesen der Philosophie bestimmt, schreibt Simmel in den Hauptproblemen der Philosophie (1910): »Dieses einzigartige Verhalten der Philosophie ist die Folge oder vielleicht nur der Ausdruck ihrer grundlegenden Bemühung: voraussetzungslos zu denken.« 40 Der philosophische Anspruch auf die Voraussetzungslosigkeit war bereits in der Vorrede der Philosophie des Geldes aufgeführt. 41 In den Hauptproblemen der Philosophie, aber auch in der Form von Essays, betreibt Simmel diese proklamierte Voraussetzungslosigkeit. Seine letzten Aufsätze haben sogar immer mehr den Charakter von Meditationen, wie dies auch die vier metaphysischen Kapitel der Lebensanschauung (1918) vorführen. Es wird über die eigene Situation reflektiert, über die strukturelle Grenzartigkeit des Daseins, aber auch über die Entstehung von verschiedenen Welten. Am eindrucksvollsten ist vielleicht hier die Meditation über den Tod und die Unsterblichkeit. Die Metaphysik kann hier rehabilitiert werden, da sie jetzt der Neubestimmung durch Bergson entspricht, d. h. einer Denkerfahrung. 42 III, § 24: »Es gibt, streng geurteilt, gar keine ›voraussetzungslose‹ Wissenschaft, der Gedanke einer solchen ist unausdenkbar, paralogische: eine Philosophie, ›ein Glaube‹ muß immer erst da sein, damit aus ihm die Wissenschaft eine Richtung, einen Sinn, eine Grenze, eine Methode, ein Recht auf Dasein gewinnt.« (KSA V, 400) 39 »Die ›Voraussetzungslosigkeit‹ der Philosophie im Sinne der Hegelianer bestand darin, daß die Philosophie nicht mit einem Satz oder Grundsatz oder Axiom beginnt, sondern mit einem Postulat, mit einer Forderung, mit einem Entschluß« (J. von Kempski: »›Voraussetzungslosigkeit‹. Eine Studie zur Geschichte eines Wortes«, 184). 40 G. Simmel: Hauptprobleme der Philosophie [1910], in: GSG 14, 7–157, hier 13. 41 Vgl. G. Simmel: Philosophie des Geldes, 9. 42 Simmel hat einen großen Anteil an der Übersetzung von Bergsons L’évolution créatrice von Gertrud Kantorowicz gehabt (vgl. hierzu G. Fitzi: Soziale Erfahrung
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Ich fasse zusammen, was hier nur sehr skizzenhaft dargelegt wurde. In diesen zwei Momenten einer Wiedergewinnung der Philosophie kann man zuerst die kritische Befragung und die positive Erfahrung unterscheiden. Die erste ist – lässt man die erkenntnistheoretischen Schriften zur Geschichte beiseite – vor allem in der Philosophie des Geldes vertreten. Diesseits und jenseits eines Gegenstandsgebiets besteht ein Raum für die philosophische Argumentation. Wissenschaften sind Diskurse, bestehen aus einer Axiomatik, die eine eigene Wertnormierung aufweist, ohne jeweils die Fähigkeit zu haben, innerhalb eines solchen Systems dieses zu legitimieren oder zu begründen. Der Relativismus, den Simmel exemplarisch in dem Buch über das Geld vertritt, besagt nichts anderes als die strukturelle Unmöglichkeit innerhalb einer Wissenschaft eine Begründung abzuliefern: »Die Frage nach dem Grunde des Prinzips, die in dem Bereich des Prinzips selbst nicht einbegriffen sei, wird dem Relativismus nicht verderblich, weil er diesen Grund in das Unendliche hinausschiebt […] – ein Prozess, der seinem Wesen nach keinen Stillstand kennt und dessen Heuristik die Alternative aufhebt: das Absolute zu leugnen oder es anzuerkennen.« 43
In diesem Prozess scheint Simmel kohärent gewesen zu sein, da bereits seine Kritik der ethischen Begriffe gegen jegliche Fundierung kämpfte. 44 Die Voraussetzungslosigkeit der Philosophie dagegen soll ihren utopischen Charakter betonen, da sie nirgends verortet sein kann. Sie nimmt das Ganze in Anspruch, erhebt also den Anspruch, eine Rede über das Ganze zu formulieren. Gleichzeitig aber ist der Philosoph auf die Grenzen angewiesen. Er gehört als Teil zu der Welt, von der er als Ganzes etwas aussagen will. Aus diesem Widerspruch wird aber etwas Fruchtbares. Der Mensch als Grenzwesen rückt nämlich ins Zentrum der Philosophie. Diese wird zur positiven Erfahrung des situierten Denkens, das nicht als ein Rückfall in die zuvor überholte Metaphysik betrachtet werden kann, sondern als ständige Erweite-
und Lebensphilosophie. Georg Simmels Beziehung zu Henri Bergson. UVK: Konstanz 2002). 43 G. Simmel: Philosophie des Geldes, 118. 44 Zu Simmels philosophischer Perspektive verweise ich auf die zutreffende Argumentation im Buch von M. Amat: Le relationnisme philosophique de Georg Simmel. Champion: Paris 2018.
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rung der Philosophie als einer Tätigkeit, wie dies letztlich die Lebensanschauung vorführt.
III. Statt eines Schlusses Simmels Begriff der Philosophie entspricht völlig seiner Analyse der Tragödie der kulturellen Formen. Er versucht, die Philosophie aus ihrer Erstarrung zu retten, und in statu nascendi »von dem inneren Prozeß her«, wie er es in den Hauptproblemen der Philosophie nennt, folglich als »philosophierende« und nicht geformte oder »philosophierte« Philosophie zu betreiben. 45 Eine Intention kann man deswegen minimal erkennen, sofern ihm eine Erneuerung der Philosophie wichtig war. Dieser Wunsch kann man bei den Zeitgenossen wie Bergson, Husserl und etlichen anderen wiederfinden. Bei manchen ging es sogar über den Weg einer Rückkehr zur alten Metaphysik (siehe Heidegger) oder zu dem erneuerten Versuch, die Philosophie zu einer Wissenschaft zu erheben oder sie wissenschaftlich zu betreiben (siehe Wiener Kreis). Dagegen pflegte Simmel einen ausgesprochen demokratischen Weltbegriff der Philosophie, welche nie in einem System oder einer Terminologie enden sollte. Philosophie sollte etwas sein, das jedermann interessiert. Ob dieser Begriff intentional als solcher von Simmel verteidigt wurde oder nicht, sei dahingestellt. Er pflegte wohl einen gewissen ästhetischen Aristokratismus, der seine zeitweise Nähe zum GeorgeKreis erklärt. Aber dabei, sieht man von einer bestimmten Preziosität seines Stils ab, schrieb er weitgehend klar, eben voraussetzungslos, ohne irgendwelche Pedanterie. Er schrieb aber zugleich regelmäßig für die Sonntagsblätter der Zeitungen, war also völlig bewusst, dass das philosophische Publikum nicht nur aus Akademikern bestand. Er hatte ja auch Frauen zu seinen Vorlesungen und Seminaren zugelassen, was damals keine Selbstverständlichkeit war. Konnte man modern sein, ohne zugleich auch die Demokratisierung zu befürworten? 46
G. Simmel: Hauptprobleme, 11. Elizabeth Goodstein hat diese Modernität ins Zentrum ihrer Deutung gesetzt, was die hier vorgeschlagene Lesart unterstützt (vgl. E. Goodstein: Georg Simmel and the Disciplinary Imaginary. Stanford University Press: Stanford CA 2017 sowie ihren Beitrag in dem vorliegenden Band).
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Dieser Zug erklärt möglicherweise, warum er oft von den meisten Fachkollegen unterschätzt wurde. Eine gute Popularphilosophie hat doch ihren Wert. Vergleicht man die Hauptprobleme der Philosophie mit der zeitgenössischen philosophischen Produktion, so muss man anerkennen, dass Simmels Ansprüche in der Gattung der Popularphilosophie durchaus beträchtlich waren. Philosophie war für Simmel der Weg der Bildung überhaupt. Alles konnte von seinen Voraussetzungen, Beziehungen und Folgen her hinterfragt werden. Das sollte das einzige Privileg der Philosophie sein: Die Frechheit, alles andere sowie alle anderen zu hinterfragen. Wollte Simmel seine eigene Philosophie etablieren? Er hat es erkenntnistheoretisch in den Schriften zur Geschichte und zum Geld getan. Eine eigene Philosophie hat er gegen Ende seines Lebens vorbereitet und sie behält eine solche Originalität, dass man sie überhaupt nicht pauschal unter dem Hut der Lebensphilosophie unterbringen kann. Sie enthält Züge und Analysen, die eine Verwandtschaft zur Phänomenologie und zur Existenzphilosophie aufzeigen, die gleichzeitig aber auch die Objektivität verschiedener Kulturbereiche legitimieren und einer neukritischen Kulturphilosophie eher ähneln. Soviel also zur Intention. Was über diese hinausgeht, lässt sich vielleicht in den verschiedenen und widersprüchlichen, oft nicht öffentlich anerkannten Verwendungen von Simmels Philosophie im Laufe des Jahrhunderts erblicken. Dieses Kapitel ist längst noch nicht zu Ende geschrieben.
Literatur Adorno, Theodor W.: »Der Essay als Form« [1958], in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 11, hg. von Rolf Tiedemann. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1974, 9–33. Alighieri, Dante: Das Gastmahl [1490], übers. von Thomas Ricklin. Meiner: Hamburg 1996. Amat, Matthieu: Le relationnisme philosophique de Georg Simmel. Champion: Paris 2018. Casati, Roberto: Prima lezione di filosofia [2011]. Gius. Laterza & Figli S.p.A.: Rom/Bari 2015 (digitale Edition). Fitzi, Gregor: Soziale Erfahrung und Lebensphilosophie. Georg Simmels Beziehung zu Henri Bergson. UVK: Konstanz 2002.
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Die philosophische Intention Georg Simmels Goethe, Johann Wolfgang von: Faust. Der Tragödie erster Teil [1808], in: Goethes Werke, Bd. 3, hg. von Erich Trunz (Hamburger Ausgabe). C. H. Beck: München [1949] 161996, 7–145. Goodstein, Elizabeth: Georg Simmel and the Disciplinary Imaginary. Stanford University Press: Stanford CA 2017. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft [1781/21787], hg. von Jens Timmermann. Meiner: Hamburg 1998. Kempski, Jürgen von: »›Voraussetzungslosigkeit‹. Eine Studie zur Geschichte eines Wortes« [1951], in: ders.: Brechungen. Kritische Versuche zur Philosophie der Gegenwart. Schriften, Bd. 1. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1992, 174– 197. Köhnke, Klaus Christian: Der junge Simmel in Theoriebeziehungen und sozialen Bewegungen. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1996. Kracauer, Siegfried: »Georg Simmel«, in: Logos 9 (1920/1921), 307–338. Le Goff, Jacques: »La naissance du Purgatoire« [1981], in: ders.: Pour un autre Moyen âge. Gallimard: Paris 1999, 771–1231. Locke, John: Versuch über den menschlichen Verstand [1690], Bd. 2: Buch III und IV, übers. von Carl Winkler. Meiner: Hamburg 2006 (Nachdruck der Ausgabe 41981). Luft, Sebastian: »Philosophical Historiography in Marburg Neo-Kantianism: The Example of Cassirer’s Erkenntnisproblem«, in: Gerald Hartung und Valentin Pluder (Hg.): From Hegel to Windelband. Historiography of philosophy in the 19th Century. De Gruyter: Berlin 2015, 181–205. Simmel, Georg: Gesamtausgabe, hg. von Otthein Rammstedt. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1989–2015 (= GSG). Simmel, Georg: »Dantes Psychologie« [1884], in: GSG 1, 91–177. Simmel, Georg [Rezension]: Gerber, G.: Die Sprache als Kunst I. 1884–1885 [1885], in: GSG 1, 191 f. Simmel, Georg [Rezension]: Gerber, G.: Die Sprache und das Erkennen, 1884 [1885], in: GSG 1, 187–189. Simmel, Georg [Rezension]: Steinthal, H.: Allgemeine Ethik, 1885 [1886], in: GSG 1, hier 192–210. Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung. Sociologische und psychologische Untersuchungen [1890], in: GSG 2, 109–295. Simmel, Georg [Rezension]: Gomperz’ Griechische Denker. 1896 [1895], in: GSG 1, 346–353. Simmel, Georg: Philosophie des Geldes [1900], in: GSG 6, 7–716. Simmel, Georg: Schopenhauer und Nietzsche. Ein Vortragszyklus [1907], in: GSG 10, 167–408. Simmel, Georg: Hauptprobleme der Philosophie [1910], in: GSG 14, 7–157. Simmel, Georg: »Vom Wesen des historischen Verstehens« [1918], in: GSG 16, 151–179. Steinthal, Heymann: »Zur Sprachphilosophie« [1857], in: ders.: Kleine sprachtheoretische Schriften, hg. von Waltraud Bumann. Georg Olms: Hildesheim, New York NY 1970, 248–306. Thomas-Fogiel, Isabelle: Référence et autoréférence. Étude sur la mort de la philosophie dans la pensée contemporaine. Vrin: Paris 2005.
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Denis Thouard Thouard, Denis: »Comment lire Simmel?«, in: Sociologie et sociétés 44 (2012) 2, 19–41. Thouard, Denis: Geteilte Ideen. Matthes und Seitz: Berlin 2016. Thouard, Denis: »Philosophie«, in: Hans-Peter Müller und Tilman Reitz (Hg.): Simmel-Handbuch. Begriffe, Hauptwerke, Aktualität. Suhrkamp: Berlin 2018, 417–423. Windelband, Wilhelm: »Was ist Philosophie? (Über Begriff und Geschichte der Philosophie)« [1882], in: ders.: Präludien, Bd. 1. Mohr: Tübingen 41911, 1–54.
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Simmels Philosophiebegriff im Spannungsfeld von Wissenschaft, Kunst und Metaphysik Annika Schlitte
Während der Arbeit an seiner Soziologie schreibt Georg Simmel 1907 Georg Jellinek von seinen Hoffnungen, dieses Buch bald fertigstellen und damit die »soziologische Existenz« seines Lebens beenden zu können: »[I]ch werde seinen Rest ganz der Philosophie widmen, in der ich mir einrede noch einiges zu sagen zu haben u[nd] der mein Herz doch ganz anders als der Soziologie angehört«. 1 Betrachtet man diese Liebeserklärung an die Philosophie nun zusammen mit Simmels Überlegung, dass der Geliebte »immer eine Schöpfung des Liebenden« ist, ein Bild, welches dieser sich von jenem macht, dann lohnt es sich auch hier danach zu fragen, welches Bild Simmel im Laufe seines Schaffens von der Philosophie gezeichnet hat, um zu ermessen, was diese Bindung an die Philosophie für sein Selbstverständnis und den Anspruch seiner Überlegungen eigentlich bedeutet. 2 Dass Simmel ein Bild der Philosophie zeichnet, ist dabei durchaus wörtlich zu verstehen, drückt sich doch sein Verständnis der Rolle der Philosophie im Laufe der Zeit in verschiedenen Sprachbildern aus, die für die einzelnen Etappen seines Denkens prägend sind und die daher die nun folgende Darstellung von Simmels Philosophieverständnis leiten. Simmels Liebesgeschichte mit der Philosophie lässt sich anhand dieser Bilder dann als ein Drama in fünf Akten darstellen, welches im Folgenden schlaglichtartig dargestellt werden soll. Dabei dienen die Bilder, mit denen Simmel die Aufgabe der Philosophie jeweils beschreibt, als strukturierende Überschriften; Wissen-
G. Simmel an G. Jellinek: Brief vom 23. Dezember 1907, in: G. Simmel: Gesamtausgabe, hg. von O. Rammstedt. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1989–2015 (im Folgenden GSG), Bd. 22, 597 f., hier 598; später gibt es ähnliche Bekundungen, z. B. G. Simmel an R. Michels: Brief vom 6. August 1913, in: GSG 23, 201 f., hier 201. 2 G. Simmel: Die Religion [1906], in: GSG 10, 39–119, hier 66. 1
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Annika Schlitte
schaft, Kunst und Metaphysik stecken das Feld ab, innerhalb dessen sich Simmels Philosophiebegriff bewegt. 3
I.
Der Täufer (Die Probleme der Geschichtsphilosophie, 1. Auflage)
Simmels Liebe zur Philosophie beginnt zunächst noch etwas zögerlich, was dem Einfluss des Positivismus zuzuschreiben ist, unter dem er in seinen frühen Schriften noch stand. Auch wenn Simmel in seiner eigenen Soziologie methodisch andere Wege beschreiten sollte, teilt er zu Beginn seines Schaffens mit den Positivisten einen gewissen metaphysikkritischen Impetus, der sich in seinem Philosophieverständnis niederschlägt. Dementsprechend wird die Reichweite der Philosophie in seinem Frühwerk stark eingeschränkt, wobei noch ein psychologistischer Zug dazukommt, der die Geltung philosophischer Theorien zusätzlich relativiert. Simmel formuliert seine Überlegungen zur Aufgabe der Philosophie 1892 in der ersten Auflage seiner Probleme der Geschichtsphilosophie. Philosophie erscheint hier vor allem als defizitäres Vorstadium der Wissenschaft: Sie wirkt propädeutisch, liefert aber selbst keine Erkenntnis und wird irgendwann von den exakten Wissenschaften abgelöst werden. In seiner Theorie der historischen Erkenntnis weist Simmel der Philosophie in Bezug auf die Geschichte eine doppelte Aufgabe zu, die sich an der zweifachen Bedeutung der Geschichte als historia rerum gestarum und als res gestae orientiert. In Bezug auf die wissenschaftliche Darstellung der Geschichte soll die Philosophie als Erkenntnistheorie die impliziten psychologischen und metaphysischen Voraussetzungen der Geschichtsforschung herausarbeiten und kritisch reflektieren – dies ist ihre erste Aufgabe. In Bezug auf die inhaltliche Erkenntnis der Geschichte selbst, welche die zweite Aufgabe bildet, Für diesen Aufsatz greife ich auf Überlegungen zu Simmels Philosophieverständnis zurück, die ich dargelegt habe in A. Schlitte: Die Macht des Geldes und die Symbolik der Kultur. Georg Simmels Philosophie des Geldes. Wilhelm Fink: München 2012, bes. 160–190; vgl. zu dem Thema auch den grundlegenden Aufsatz von H.-J. Dahme: »Das ›Abgrenzungsproblem‹ von Philosophie und Wissenschaft bei Georg Simmel. Zur Genese und Systematik einer Problemstellung«, in: H.-J. Dahme und O. Rammstedt (Hg.): Georg Simmel und die Moderne. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1984, 202– 230.
3
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Simmels Philosophiebegriff
unterscheidet Simmel noch einmal zwei Aufgabenfelder: erstens die »Auffindung der Gesetze der Geschichte« 4 und zweitens »den Versuch, mit den Mitteln der Philosophie die Beziehungen zum Absoluten, den Zweck und den Sinn im geschichtlichen Sein zu erkennen«. 5 Während die Philosophie, insofern sie selbst historische Gesetze auszumachen sucht, innerhalb des Gegenstandsbereichs der Geschichtswissenschaft bleibt, geht sie andererseits über diesen hinaus, sobald sie nach Sinn und Zweck der Geschichte fragt. Insgesamt ergibt sich bei Simmel jedoch eine recht bescheidene Bilanz für sie, wie nun kurz zu zeigen ist: Wenn die Philosophie versucht, historische Gesetze aufzustellen, so erreichen diese nie den Status einer exakten wissenschaftlichen Erkenntnis, sie können lediglich als erste »Aus- und Durchgangspunkte« für eine solche dienen 6. Philosophische Erkenntnis ist dann allenfalls »ein Präliminarstadium, durch das die Entwicklung jedes Erkenntnisgebietes hindurch muss, eine Zwischenstufe« 7 oder auch ein »Übergangsstadium« 8, welches auf Dauer von der exakten Wissenschaft überwunden werden wird. So kann die Philosophie nur eine Richtung weisen und einen vorläufigen Blick auf das werfen, was von den exakten Wissenschaften ausgeführt werden muss: »Die philosophische Reflexion hat die Rolle des Täufers: sie giebt Ahnungen und Umrisse, die ein Anderer erfüllt.« 9 Historische Gesetze, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügen, wird sie nicht aufstellen können. Die Beschränkung der Reichweite der Philosophie, die Simmel hier hinsichtlich der Möglichkeit historischer Gesetze vornimmt, gilt jedoch nicht nur für ihre Aufgabe in Bezug auf die Geschichte, vielmehr scheint sie für Simmel geradezu die Philosophie auszumachen: »Philosophisch aber ist diese Bestrebung [die Suche nach historischen Gesetzen, A. S.], insoweit wir das Wesen des philosophischen Denkens überhaupt darin erkannten, in ersten Allgemeinheiten und vorläufigen Zusammenfassungen die exakte Erkenntnis zu anticipieren und vorzubereiten.« 10
G. Simmel: Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1892), in: GSG 2, 297–421, hier 419. 5 Ebd., 420. 6 Ebd., 372. 7 Ebd., 373. 8 Ebd., 380. 9 Ebd., 370. 10 Ebd., 419 f. 4
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Dies sei gerade in der Vergangenheit eine wichtige Funktion der Philosophie gewesen, als die Entwicklung der empirischen Wissenschaften noch nicht so weit vorangeschritten war, um verlässliche Erkenntnisse zu liefern. Mit dem Fortschreiten der Einzelwissenschaften würde die Philosophie in einem solchen Konzept dann aber zunehmend überflüssig werden. Etwas anders sieht es dort aus, wo die Philosophie nach Sinn und Zweck der Geschichte fragt, wo sie also über den Gegenstandsbereich der historischen Wissenschaft hinausgeht. Hier ist die Philosophie nicht nur Durchgangsstadium, sondern hat »von vornherein ein unangreifbares Gebiet inne«, das aber den eklatanten Nachteil hat, dass es auf diesem Gebiet – der Metaphysik – keine Erkenntnis im eigentlichen Sinne gibt. 11 Die Metaphysik erkennt nicht, 12 antwortet aber auf ein Bedürfnis des Menschen, das Ganze zu erfassen. 13 Simmel leitet dieses Bedürfnis, das die Metaphysik bedient, psychologisch aus dem Spieltrieb her. 14 So wie ein spielendes Kind Gegenstände zweckentfremdet, damit sie seinem augenblicklichen Spielinteresse dienen – ein Stock wird zum Pferd, ein Stück Holz zu einer Puppe erklärt 15 – und diese Gegenstände durch seine Phantasie belebt, so konstruiere die Metaphysik einen Zusammenhang aus den gegebenen historischen Daten, der ihrem Interesse an der Einheit der Welt entgegenkommt, auch wenn diese Deutung dem empirischen Datenmaterial nicht gerecht wird – gerade so, wie ein Stück Holz eben keine Puppe, ein Stock eben kein Pferd ist, aber im Spiel als solches fungiert. Simmel nennt diesen Vorgang, der für das Spiel ebenso wie für die Metaphysik charakteristisch sein soll, »Symbolisierung«. 16 Eine solche spekulative, symbolische Metaphysik hat für Simmel durchaus ihre Berechtigung, aber nur, insofern man sie nicht als positiven Beitrag zur Erkenntnis der Geschichte versteht: »Es handelt sich hier nur um symbolische Deutungen und Bedeutungen der Wirklichkeit, die aber nicht über sich hinaus und in die Wissensvorstellung Ebd., 380. Vgl. ebd., 381, 416. 13 Vgl. ebd., 421. 14 Zum Spielbegriff bei Simmel vgl. A. Schlitte: »Das symbolische Spiel bei Georg Simmel«, in: M. Kowalewicz (Hg.): Spiel. Facetten seiner Ideengeschichte. Mentis: Münster 2013, 55–71. 15 Vgl. G. Simmel: Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1892), 416. 16 Ebd., 417. 11 12
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Simmels Philosophiebegriff
von dieser hinein greifen. Man kann sie nicht als falsch bezeichnen, weil sie nicht Erkenntnisse, sondern Ausgestaltungen von Interessen sind, die, als psychologische Thatsachen, jenseits der Alternative von Wahr und Falsch stehen.« 17
Die metaphysischen Spekulationen lassen sich nach Meinung des frühen Simmel letztlich auf Erfahrung zurückführen, auch wenn die Philosophie dies nicht genügend reflektiere und sich weigere, selbst in den Spiegel zu blicken, den sie den anderen Wissenschaften vorhalte. 18 So kommt Simmel zu dem Verdikt, metaphysische Systeme enthielten »durchgehends ein unklares Durcheinander logisch-rationaler Deduktionen und kruder unverarbeiteter Empirie«. 19 Philosophie ist daher insgesamt nur »eine vorläufige Wissenschaft«, die gerade kein tieferes Verständnis der Dinge erziele als die Einzelwissenschaften, sondern nur eine »gewisse[…] subjektive[…] Qualität des Denkens« aufweise, die als Tiefe ausgelegt würde. 20 Gerade weil die Metaphysik aber einem menschlichen Bedürfnis entspringt, hat sie auch immer Einfluss auf die Geschichtsforschung, und zwar nicht nur, was die Deutung der historischen Ereignisse betrifft, sondern auch in Bezug auf die Auswahl der Quellen, die von Wertgesichtspunkten bestimmt wird. Diese metaphysischen Annahmen gewissermaßen zu »enttarnen« ist eine zentrale Aufgabe der Philosophie, bei der sie dann auch einen legitimen Erkenntnisanspruch verfolgt.
II.
Drunter und Drüber (Die Probleme der Geschichtsphilosophie, 2./3. Auflage; Philosophie des Geldes)
In den späteren Auflagen der Probleme der Geschichtsphilosophie ändert sich Simmels Konzept insofern, als es sich von dem in der ersten Auflage vertretenen psychologischen Apriori der Geschichte entfernt, was auch Auswirkungen auf das Verständnis von Metaphysik hat, die nun ebenfalls nicht mehr nur psychologisch erklärt wird. Was bleibt und auch bis in sein Spätwerk immer wieder auftaucht, ist die zweifache Aufgabe der Philosophie, die er nun einmal 17 18 19 20
Ebd., 421. Vgl. ebd., 370. Ebd. Ebd., 368.
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unterhalb, einmal oberhalb der Einzelwissenschaften ansiedelt, 21 vergleichbar mit dem Fundament eines Hauses und dem Dach: Zum einen soll die Philosophie das Fundament, die Grundlage für die Einzelwissenschaften schaffen, indem sie nach deren impliziten Voraussetzungen fragt und diese explizit macht. Insofern liegt sie gewissermaßen unterhalb der Einzelwissenschaften. Zum anderen soll sie aber auch über die Einzelwissenschaften hinausfragen und da weitermachen, wo diese aufhören, indem sie versucht, deren Erkenntnisse in ein einheitliches Weltbild zu integrieren – das ist die traditionelle Aufgabe der Metaphysik, gewissermaßen also der Überbau, das Dach der Einzelwissenschaften, der auf der Ebene der Wirklichkeitserkenntnis nicht mit diesen konkurriert, weil er anderen Kriterien folgt: »Sie baut ein Weltbild nach Kategorien, die mit denen des empirischen Wissens nichts – oder wenigstens nicht notwendig zu tun haben: ihre metaphysische Deutung der Welt steht jenseits der Wahrheit und des Irrtums, die über die realistisch exakte entscheiden.« 22
Man könne zwar einzelne metaphysische Spekulationen oder auch diese als ganze verwerfen, aber man dürfe dabei an sie nicht die Maßstäbe anlegen, die man aus den exakten Wissenschaften gewonnen hat. Diese beiden Aufgaben der Philosophie sind es auch, aus denen Simmel die Struktur seiner Philosophie des Geldes ableitet – dem Werk, das für die Herausbildung seiner eigenen Kulturphilosophie eine so entscheidende Rolle spielt. Der analytische Teil entspricht hier der »unteren Grenze« der exakten Wissenschaften, da es hier um die Herausarbeitung der Voraussetzungen geht, »die, in der seelischen Verfassung, in den sozialen Beziehungen, in der logischen Struktur der Wirklichkeiten und der Werte gelegen, dem Geld seinen Sinn und seine praktische Stellung anweisen«, wie Simmel in der Vorrede schreibt. 23 Indem die Philosophie die Voraussetzungen der Einzelwissenschaften wie z. B. der Ökonomie aufdecke, komme sie ihrem eigenen »im Unendlichen liegende[n] Ziel« nahe, das darin besteht, »voraussetzungslos zu denken«. 24 21 Vgl. G. Simmel: Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1905/1907), in: GSG 9, 227–419, hier 393 (Anm.). 22 Ebd., 356. 23 G. Simmel: Philosophie des Geldes [1900], in: GSG 6, 7–716, hier 10. 24 Ebd., 9.
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Der synthetische Teil erforscht dagegen die Wirkung des Geldes »auf die innere Welt: auf das Lebensgefühl der Individuen, auf die Verkettung ihrer Schicksale, auf die allgemeine Kultur«. Eine Philosophie des Geldes könne deswegen »nur diesseits und jenseits der ökonomischen Wissenschaft vom Gelde liegen«. 25 Diesseits liegt die Reflexion der impliziten Voraussetzungen und Bedingungen, welche die Nationalökonomie selbst nicht reflektiert, jenseits der ökonomischen Wissenschaft liegt die metaphysische Aufgabe, die darin besteht, das fragmentarische Wissen der Einzelwissenschaften »zu einem Weltbild zu ergänzen«. 26 Hier hat die Philosophie eine Berechtigung, die – so deutet Simmel hier noch recht vorsichtig an – selbst dann bestehen bliebe, wenn es möglich wäre, das Ganze der Welt mit empirischen Mitteln zu erkennen: »Ja, vielleicht würde selbst die vollendete Empirie die Philosophie als eine Deutung, Färbung und individuell auswählende Betonung des Wirklichen gerade so wenig ablösen, wie die Vollendung der mechanischen Reproduktion der Erscheinungen die bildende Kunst überflüssig machen würde«. 27
Dass Simmels Einschätzung der Philosophie sich in der Philosophie des Geldes gegenüber den frühen Schriften zum Positiven gewendet hat, lässt sich auch an der Wandlung des Titels von der ursprünglich geplanten Psychologie zur Philosophie des Geldes ablesen, die sich erst während der Arbeit an dem Buch vollzogen hat. 28 Der Vergleich mit der Kunst ist keineswegs zufällig, sondern kennzeichnend für Simmels Überlegungen zur Philosophie in den folgenden Jahren, die sich nun auch den Fragen der Metaphysik wieder annähert, wenn auch in einem spezifischen Verständnis, dem wir uns im Folgenden zuwenden wollen.
Ebd., 10. Ebd., 9. 27 Ebd. 28 Vgl. G. Simmel an C. Bouglé: Brief vom 22. Juni 1895, in: GSG 22, 149–150, hier 150, wo noch von einer »Psychologie des Geldes« die Rede ist, später spricht Simmel dann von einer »Philosophie« (vgl. G. Simmel an G. Jellinek: Brief vom 7. Juni 1897, in: GSG 22, 244–245, hier 244). 25 26
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III. Verwickelte Fäden (Hauptprobleme der Philosophie) Was macht der Philosoph, wenn er Philosophie in diesem zweiten Sinne, also Metaphysik betreibt? Die Frage nach dem »Wesen der Philosophie«, der Simmel das erste Kapitel seiner Hauptprobleme der Philosophie widmet, beschäftigt ihn in den folgenden Jahren gerade im Zusammenhang mit seiner Auseinandersetzung mit einzelnen Philosophen, wie in Schopenhauer und Nietzsche oder in den Kant-Vorlesungen. Auch in seine Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie sind immer wieder Überlegungen zum Philosophiebegriff eingestreut. In den Hauptproblemen der Philosophie von 1910 verbindet Simmel eine historische Einführung in philosophische Grundprobleme mit einer grundsätzlichen Reflexion über Philosophie. 29 Was Philosophie ist, lasse sich nur innerhalb der Philosophie ausmachen, »sie selbst ist sozusagen das erste ihrer Probleme«. 30 Dies führt Simmel darauf zurück, dass die Philosophie die Voraussetzungslosigkeit, die sie bei der Behandlung ihrer Gegenstände anstrebt, auch auf sich selbst anwendet. 31 Man könnte sagen, der Philosoph erfindet mit einer neuen philosophischen Theorie auch immer wieder die Philosophie neu. »In der Philosophie allein bestimmt jeder der überhaupt originalen Denker nicht nur, was er antworten, sondern auch, was er fragen will«, 32 heißt es in den Hauptproblemen, und in einer Vorlesung wird dieses Kennzeichen auf die griffige Formel gebracht: »Jeder Philosoph muss von vorn anfangen.« 33 Die Philosophie ist also nicht durch einen festen Kanon an Fragen bestimmt, sondern eher durch eine bestimmte Art zu denken, und schon zu Beginn der Hauptprobleme hatte Simmel angegeben, es komme ihm bei der Einführung in die Philosophie mehr auf den Zu Simmels Philosophieverständnis in den Hauptproblemen vgl. auch T.-K. Lehtonen und O. Pyyhtinen: »On Simmel’s conception of philosophy«, in: Continental Philosophy Review 41 (2008) 3, 301–322. 30 G. Simmel: Hauptprobleme der Philosophie [1910], in: GSG 14, 11–157, hier 13. 31 Lehtonen und Pyyhtinen verweisen auf die Parallele zu Husserl, die in der Idee der Voraussetzungslosigkeit anklingt (vgl. T.-K. Lehtonen und O. Pyyhtinen: »On Simmel’s conception of philosophy«, 309). Zu Simmel und Husserl vgl. auch G. Backhaus: »Simmel’s Philosophy of History and Its Relation to Phenomenology: Introduction«, in: Human Studies 26 (2003) 2, 203–208. 32 G. Simmel: Hauptprobleme der Philosophie, 15. 33 G. Simmel: »Allgemeine Geschichte der Philosophie« (1904, Mitschrift von R. Pannwitz), in: GSG 21, 407–492, hier 407. 29
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Prozess des Philosophierens an als auf die Resultate der einzelnen Denker. Das philosophische Denken versucht jedenfalls immer, sich von der Beschränktheit durch Voraussetzungen zu lösen. Dabei ist es durch eine spezifische »Stimmung« gekennzeichnet, welche annehme, »dieses Sich-Selbst-Gehören des Denkens […] betreffe, über die momentane Einzelheit hinaus, das Ganze des Erkennens, ja, des Lebens«. 34 Daraus leitet Simmel eine besondere Begabung des Philosophen ab, die ihn von anderen Menschen unterscheide. Demnach hat jeder Philosoph »einen Sinn für die Gesamtheit der Dinge und des Lebens und – insoweit er produktiv ist – die Fähigkeit, diese innere Anschauung oder dieses Gefühl des Ganzen in Begriffe und ihre Verknüpfungen umzusetzen«. 35 Dieses Ganze ist aber für niemanden einfach gegeben oder direkt zugänglich, es muss erst konstruiert werden, oder wie Simmel schreibt, »erst aus den allein gegebenen Fragmenten der Wirklichkeit zustande gebracht werden«. 36 Charakteristischerweise erfolgt der Zugang zum Ganzen nun durch eine Überbetonung eines einzelnen Zugs der Wirklichkeit, der zu einem Weltbild weiterentwickelt wird. In gewisser Weise hatte Simmel die metaphysische Tätigkeit schon in den Problemen der Geschichtsphilosophie ähnlich beschrieben, wo es hieß: »Die metaphysische Reflexion greift eine Erscheinung heraus, die sie mehrfach wiederholt sieht, und macht sie zum Maß aller Dinge.« 37 Die Einheit wird hier also nach Simmel notwendigerweise mit einer gewissen Einseitigkeit erkauft, was aber nicht mehr negativ bewertet wird. Betrachtet man Simmels Äußerungen zu diesen Vorgängen, so fällt auf, dass er immer wieder bestimmte Bilder benutzt, mit denen er die Tätigkeit des Philosophen beschreibt. Charakteristisch ist das Bild eines Fadens, den der Philosoph gewissermaßen aus dem Knäuel der Wirklichkeit aufnimmt und weiterspinnt, weswegen ich die Stelle im Ganzen zitiere: »Die Welt ist uns als eine Summe von Fragmenten gegeben, und es ist die Bemühung der Philosophie, das Ganze für den Teil zu setzen; und sie erreicht das, indem sie den Teil für das Ganze setzt. Aus den unübersehbar vielen Fäden, die das Netzwerk der Wirklichkeit ausmachen und deren Ge34 35 36 37
G. Simmel: Hauptprobleme der Philosophie, 14. Ebd., 16. Ebd., 17. G. Simmel: Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1892), 367.
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samtheit dem Philosophen sein Problem stellt, läßt ihn die Sonderart seines geistigen Typus einen einzelnen ergreifen; ihn erklärt er für den, der das Ganze zusammenhält, von dem alle andern abgeleitet sind, ihn verfolgt er, so sehr er auch an der Oberfläche nur fragmentarisch und oft von andern überdeckt erscheine, als den einzig kontinuierlichen durch das ganze Gewebe hin, ihn spinnt er über das relative Maß seiner endlichen Erscheinung hinaus ins Unendliche und Absolute.« 38
In einer Vorlesung aus dem Jahr 1914 bezeichnet er die Wirklichkeit auch als »unendliches Gewebe«, an dessen Oberfläche verschiedene Fäden auftauchen und verschwinden, von denen der Philosoph eben einen ergreife. So habe Schopenhauer beispielsweise »den Faden ›Wollen‹ ergriffen und weiterverlaufend gedacht, […] ihn für den durchhaltenden erklärt und alle andern Fäden an ihn geknüpft erscheinen lassen«. 39 Simmel meint, wie er rückblickend in einer Selbstdarstellung schreibt, 40 mit der Philosophie des Geldes für sich einen solchen Faden gefunden und damit einen Vorschlag für eine philosophische Gesamtdeutung entwickelt zu haben, die das Prinzip der Wechselwirkung zu einem metaphysischen Prinzip macht. Dementsprechend gibt er in der Selbstanzeige zur Philosophie des Geldes an, er wolle mit seinem Buch demonstrieren, dass es möglich ist, auch von einem scheinbar ganz konkreten und handfesten Gegenstand wie dem Geld zu metaphysischen Überlegungen zu kommen, wie er sie hier über Wahrheit, Wert und Welt anstellt. 41 Simmel kann daher in der Vorrede auch sagen, die Einheit seiner Untersuchungen läge nicht in dem spezifischen Gegenstand »Geld«, »sondern in der darzutuenden Möglichkeit, an jeder Einzelheit des Lebens die Ganzheit seines Sinnes zu finden«. 42 Trotzdem ist es natürlich nicht vollkommen willkürlich, dass Simmel sein Weltbild ausgerechnet am Geld entwickelt, schließlich handelt es sich um ein von ihm explizit als relativistisch bezeichnetes G. Simmel: Hauptprobleme der Philosophie, 32. G. Simmel: »Logik und Einleitung in die Philosophie« (1914, Mitschrift von G. Salomon), in: GSG 21, 988–1011, hier 994. 40 Vgl. G. Simmel: »Fragment einer Einleitung«, in: GSG 20, 304 f. 41 Das Buch erscheint so als Beleg für die Überzeugung, »daß sich von jedem Punkte der gleichgültigsten, unidealsten Oberfläche des Lebens ein Senkblei in seine letzten Tiefen werfen läßt, daß jede seiner Einzelheiten die Ganzheit seines Sinnes trägt und von ihr getragen wird« (G. Simmel: »Philosophie des Geldes« (Selbstanzeige 1901), in: GSG 6, 719–723, hier 719). 42 G. Simmel: Philosophie des Geldes, 12. 38 39
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Weltbild, das er in der oben bereits angesprochenen Selbstdarstellung als eine besondere Form der Metaphysik beschreibt, die sich für ihn aus dem Weiterspinnen des Gedankens der Relativität der ökonomischen Werte ergeben hat: »Mit diesem Relativismus als kosmischem Erkenntnisprinzip, das an die Stelle der substantiellen und abstrakten Einheit des Weltbildes die organische der Wechselwirkung setzt, hängt mein besonderer Begriff der Metaphysik zusammen«. 43
Relativismus bedeutet für ihn nicht, dass einzelne Sätze nur eine relative Wahrheit haben, 44 sondern »daß Wahrheit eine Relation von Inhalten zueinander bedeutet, deren keiner für sich sie besitzt, grade wie kein Körper für sich schwer ist, sondern nur im Wechselverhältnis mit einem andern«. 45 Dabei klingt dieser Gedanke im Bild eines Netzwerks der Wirklichkeit, in dem viele Fäden miteinander verwoben sind, bereits an, denn die Netzmetapher kann als Veranschaulichung einer dezentralen, relationalen Struktur verstanden werden. Es stellt sich allerdings die Frage, ob Simmel beantworten kann, warum der jeweilige Philosoph genau diesen und keinen anderen Faden wählt und wie sich die einzelnen Weltdeutungen zueinander verhalten. Wir haben bereits gesehen, dass die Philosophie für Simmel stark an die Figur des Philosophen gebunden ist. In gewisser Weise sind die einzelnen philosophischen Weltbilder dadurch »subjektiv« im Unterschied zur »Objektivität« der Wissenschaften, für die eine derartige Abhängigkeit von der Person nicht gilt. Während in den einzelwissenschaftlichen Forschungen die Person des Forschenden ganz irrelevant ist, der Träger von Behauptungen, wie Simmel schreibt, »in der Behauptung selbst verschwunden« sei, gelte dies für den Philosophen gerade nicht. 46 Besonders da, wo es um das Ganze geht, zeigt sich die Persönlichkeit desjenigen, der diese Vorstellung vom Ganzen hervorgebracht hat, mehr als in den Betrachtungen von einzelnen Elementen. G. Simmel: »Fragment einer Einleitung«, 305. Deswegen wird seine Position vielfach auch als Relationismus bezeichnet, gleichwohl vertritt er an vielen Stellen auch einen Relativismus im heutigen Sinne (vgl. z. B. W. Geßner: Der Schatz im Acker. Georg Simmels Philosophie der Kultur. Velbrück Wissenschaft: Weilerswist 2003, 87–93). 45 G. Simmel an H. Rickert: Brief vom 15. April 1916, in: GSG 23, 636–639, hier 638. 46 G. Simmel: Hauptprobleme der Philosophie, 30. 43 44
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Damit ist aber keine Abhängigkeit von individuellen Launen oder von psychologischen Besonderheiten des philosophierenden Individuums gemeint. Das Persönliche, von dem hier die Rede ist, wird nicht durch das Milieu, das Umfeld, das Temperament bestimmt – denn diese Faktoren betreffen jeden in irgendeiner Weise –, sondern das Persönliche eines Philosophen ist sein Werk. Nur, wenn die jeweilige Philosophie über eine bloße Idiosynkrasie hinausgeht, kann sie auch für andere überzeugend sein. Simmel verortet sie daher jenseits von individueller Subjektivität und logisch-objektivem Denken in einem Zwischenbereich, den er als die Schicht der »typischen Geistigkeit« bezeichnet. 47 Denn obwohl in einer Philosophie immer etwas Subjektiv-Besonderes enthalten ist, gibt es nach Simmel (bisher) nur eine begrenzte Anzahl von Grundgedanken und -positionen, die sich durch die Geschichte ziehen und die sich zu bestimmten Weltbilder ausgebildet haben. Diese Weltbilder sind also Ausdruck eines bestimmten Typus, einer bestimmten »Attitüde« zur Welt, die als Möglichkeit dem Menschen innewohnt, und sie besitzen, wie Simmel an anderer Stelle schreibt, »eine gewisse, theoretisch noch nicht recht beschreibliche Art von Ueberindividualität […], die nicht Allgemeingiltigkeit ist, sondern der von Kunstwerken vergleichbar, die diese neben einem höchst subjektiven Wesen zeigen können«. 48 Simmel vergleicht in den Hauptproblemen wie auch schon zuvor das Verhältnis des Philosophen zu seiner Philosophie mit dem des Künstlers zu seinem Werk. Obwohl jeder Künstler vor demselben Modell doch ein anderes Bild schaffe, habe jedes dieser Werke seine künstlerische »Wahrheit«. 49 Die Wahrheit der Philosophie ist daher eine andere als in den übrigen Wissenschaften. »Sie zeichnet nicht die Objektivität der Dinge nach – das tun die ›Wissenschaften‹ im engeren Sinne –, sondern die Typen der menschlichen Geistigkeit, wie sie sich je an einer bestimmten Auffassung der Dinge offenbaren.« 50 In einem kurzen Text über die Geschichte der Philosophie aus dem Jahr 1904 schreibt Sim-
Ebd., 28. G. Simmel: »Ueber Geschichte der Philosophie. Aus einer einleitenden Vorlesung« [1904], in: GSG 7, 283–288, hier 283. 49 Vgl. G. Simmel: Hauptprobleme der Philosophie, 28. 50 Ebd., 29. 47 48
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mel, die Wahrheit eines philosophischen Weltbildes sei »nicht eigentlich ein Nachzeichnen des Objekts, sondern des Subjekts«. 51 »Als Weltanschauung aber, d. h. als Ausdruck für das Sein einer Seele in ihrem Verhältnisse zum Weltganzen, ist ihre Wahrheit nach innen gewandt, ruht in der Treue, mit der jene seelische Tatsächlichkeit sich in ihr verkörpert, und ihre Bedeutung in der Größe und Tiefe dieser Seele selbst«. 52
In den Hauptproblemen argumentiert er ähnlich und kommt zu dem Schluss, Wahrheit sei daher vielleicht »überhaupt nicht der ganz angemessene Begriff, um den Wert einer Philosophie auszudrücken«. 53 Wenn Simmel dergestalt über die Wahrheit eines philosophischen Ansatzes als Ganzem spricht, geht es offenbar um etwas anderes als um die Geltung einzelner sprachlicher Aussagen. Für das Philosophieverständnis bedeutet dies eine deutliche Verschiebung. Zwar löst sich die Philosophie von ihrem engen Bezug auf die Wissenschaften, aber doch um den Preis, dass sie selbst den Charakter einer Wissenschaft zu verlieren und in den Markt der Weltanschauungen einzutreten droht. Wie lässt sich noch zwischen guter und schlechter Philosophie unterscheiden, wenn »jede Philosophie […] ihrer inneren Artung nach im tiefsten Grunde mit jeder anderen unvergleichbar« ist? 54 Wonach bemisst man die »Größe und Tiefe« einer philosophischen Seele? 55 Wir finden auf diese Fragen bei Simmel in den Hauptproblemen keine direkte Antwort. Wir müssen also von einer Situation ausgehen, in der es verschiedene solcher Weltbilder gibt, die alle eine Berechtigung haben und deren Verhältnis noch genauer untersucht werden muss.
G. Simmel: »Ueber Geschichte der Philosophie«, 283 f. Ebd., 284. 53 G. Simmel: Hauptprobleme der Philosophie, 30. 54 G. Simmel: Schopenhauer und Nietzsche. Ein Vortragszyklus [1907], in: GSG 10, 167–408, hier 190. 55 Für eine Kritik an diesem Philosophieverständnis vgl. G. Oakes: »Metaphysik des Geldes. Die Philosophie des Geldes als Philosophie«, in: W. Geßner und R. Kramme (Hg.): Aspekte der Geldkultur. Neue Beiträge zu Georg Simmels Philosophie des Geldes. Scriptum Verlag: Magdeburg 2002, 63–76. 51 52
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IV. Ackerbau und Schatzsuche (Philosophische Kultur) Dass Simmel sich nun mit der zweiten, metaphysischen Aufgabe der Philosophie so intensiv beschäftigt, liegt daran, dass seine eigene Philosophie sich weiterentwickelt, aber auch daran, dass in der zeitgenössischen Philosophie inzwischen ein anderer Wind weht. In dem 1912 erschienenen Aufsatz »Über einige gegenwärtige Probleme der Philosophie« heißt es rückblickend, das »Problem, das Erkennen zu erkennen« habe sich »als viel weniger fruchtbar erwiesen, als man noch vor wenigen Jahrzehnten glaubte«, 56 so dass »wieder ein Mut aufgekommen« sei, »den letzten sachlichen Fragen über Welt und Leben die scheinbar für sie verschlossenen Tore der Philosophie wieder zu öffnen«. 57 Simmel setzt hier große Hoffnungen auf die Lebensphilosophie, wie sie von Bergson vertreten wird, und dieser Richtung wendet er sich in seinen späteren Schriften ja selbst zu, ohne seinen seit der Philosophie des Geldes entwickelten kulturphilosophischen Ansatz aufzugeben. 58 Interessant ist, dass er auch in diesem Aufsatz die Reichweite der metaphysischen Theorien einschränkt. Es könne sein, dass die Metaphysik ihre Fragen nicht mit derselben Sicherheit beantworten könne wie die Erfahrungswissenschaften, dennoch blieben zwei Möglichkeiten, sie zu legitimieren: Man könne entweder argumentieren, dass die Philosophie überhaupt einen anderen Wahrheitsbegriff habe als die Wissenschaften, und dass dieser eher »in dem zutreffenden Ausdruck für das Verhältnis der großen Geistestypen zur Welt liegt«. 59 Diese Argumentation kennen wir bereits aus den Hauptproblemen. Die zweite Möglichkeit umschreibt er erneut mit einem Bild: Es könne sein, »daß ihre sehr mannigfaltigen Antworten sich zu der Wahrheit verhalten wie die Ätherteilchen im unpolarisierten Lichtstrahl zu dessen Richtung, die sie umspielen; sie machen diesen Strahl aus und doch fällt die Bewegung keines einzigen mit seiner Richtung zusammen«. 60 Wir werden auf dieses Bild noch zurückkommen. G. Simmel: »Über einige gegenwärtige Probleme der Philosophie« [1912], in: GSG 12, 381–387, hier 382. 57 Ebd., 383. 58 Zur Lebensphilosophie als Kulturphilosophie vgl. W. Geßner: Der Schatz im Acker, 199–256. 59 G. Simmel: »Über einige gegenwärtige Probleme der Philosophie«, 383. 60 Ebd. 56
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Wie Simmel sich eine zeitgemäße Form der Metaphysik vorstellt, entwirft er 1911 in der programmatischen Einleitung zu der Essaysammlung Philosophische Kultur, die das in der Philosophie des Geldes erstmals durchgeführte symbolische Verfahren, von einem Einzelaspekt der Kultur zu philosophischen Zusammenhängen bis hin zu einem relativistischen Weltbild vorzudringen, an verschiedensten Kulturphänomenen durchspielt. Er schlägt hier eine grundsätzliche Wende in der Metaphysik vor, nämlich die »ganz prinzipielle Wendung von der Metaphysik als Dogma sozusagen zu der Metaphysik als Leben oder als Funktion«. 61 Das Spezifische der Metaphysik liege weniger in ihren Resultaten als in ihrem Prozess, der von einer »Bewegtheit des Geistes« 62 gespeist werde, »die in sich selbst metaphysisch« sei – hier denkt Simmel sicherlich an seine relativistische Metaphysik des Geldes, welches gerade den »absoluten Bewegungscharakter« 63 der modernen Welt herausstellen sollte. Simmel erteilt hier jedem festen System eine Absage und plädiert dafür, die »philosophische Kultur« müsse sich »labil erhalten« und stets bereit sein, in eine andere Richtung weiterzudenken als in die zuvor eingeschlagene. 64 Neben die Betonung der Prozesshaftigkeit tritt nun die Forderung nach der Einbeziehung von scheinbaren Oberflächenerscheinungen, von denen eine metaphysische Überlegung jederzeit anheben könne – ein Programm, das Simmel in den Essays der Sammlung einlösen will. Von einem Weiterdenken der Einzelwissenschaften ist hier nun endgültig nicht mehr die Rede; die Metaphysik hat sich aus dieser Klammer offenbar befreit. Was für Simmel zählt, ist, dass diese Weltdeutung auf ein Bedürfnis des Menschen antwortet, das nach Einheit verlangt, auch wenn diese Einheit immer nur vom Einzelnen ausgehend anvisiert und nie vollständig erreicht werden kann. Wie Simmel sagt: »Die Ergebnisse der Bemühung mögen fragmentarisch sein, die Bemühung ist es nicht.« 65
G. Simmel: »Einleitung«, in: ders.: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais [1911], in: GSG 14, 162–167, hier 165. 62 Ebd., 164. 63 G. Simmel: Philosophie des Geldes, 714. 64 G. Simmel: »Einleitung«, in: ders.: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais [1911], 166. 65 Ebd. 61
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Annika Schlitte
Auch diese Überlegung verweist wie die Vorstellung einer Metaphysik der Oberflächenerscheinungen auf Überlegungen, die Simmel in der Philosophie des Geldes vorgenommen hat. Dort hatte er im Zuge seiner »relativistischen« bzw. relationistischen Wahrheitstheorie betont, auch die Vorstellung eines Absoluten als eines unerreichbaren Grenzbegriffs sei eine mögliche Gestalt des Relativismus, denn es sei einerlei, »ob man dies so ausdrückt: es gibt ein Absolutes, aber es kann nur in einem unendlichen Prozess erfasst werden, oder: es gibt nur Relationen, aber sie können das Absolute nur in einem unendlichen Prozess ersetzen«. 66 Verdeutlicht wird diese erneute Zurückhaltung in Bezug auf den Wahrheitsanspruch auch mit dem Gleichnis vom Schatz im Acker, das Simmel ans Ende seiner programmatischen Einleitung stellt und das die Unabschließbarkeit des philosophischen Prozesses zum Thema hat: »In einer Fabel sagt ein Bauer im Sterben seinen Kindern, in seinem Acker läge ein Schatz vergraben. Sie graben daraufhin den Acker überall ganz tief auf und um, ohne den Schatz zu finden. Im nächsten Jahre aber trägt das so bearbeitete Land dreifache Frucht. Dies symbolisiert die hier gewiesene Linie der Metaphysik. Den Schatz werden wir nicht finden, aber die Welt, die wir nach ihm durchgraben haben, wird dem Geist dreifache Frucht bringen – selbst wenn es sich in Wirklichkeit etwa überhaupt nicht um den Schatz gehandelt hätte, sondern darum, daß dieses Graben die Notwendigkeit und innere Bestimmtheit unseres Geistes ist.« 67
V.
Kreisbahn und Kugel (Lebensanschauung/ Fragmente eines Goethebuchs)
Doch nicht nur für die einzelnen philosophischen Systeme wird ein absoluter Wahrheitsanspruch fraglich, die Philosophie tritt schließlich auch in Konkurrenz zu anderen Deutungen der Welt. Den Gedanken, dass kulturelle Großformationen wie die Kunst, die Religion oder die Wissenschaft eigene »Welten« bilden, formuliert Simmel sowohl in den Hauptproblemen als auch in seinem Buch über Religion; die ausführlichste Darstellung findet sich aber in der Lebensanschauung, auf die wir nun noch abschließend einen Blick werfen wollen. G. Simmel: Philosophie des Geldes, 118. G. Simmel: »Einleitung«, in: ders.: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais [1911], 167.
66 67
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Simmels Philosophiebegriff
Hier erfolgt zum einen eine grundsätzliche Reflexion über den Weltbegriff, zum anderen entwickelt Simmel die These einer Pluralität von Welten, welche sein Philosophieverständnis noch einmal in einem anderen Licht erscheinen lässt. Dass hier verschiedentlich von »Welt« die Rede ist, ist in zweierlei Hinsicht charakteristisch für die Philosophie Anfang des 20. Jahrhunderts. Zum einen gehört die Welt als Grundbegriff der Kosmologie traditionell in den Bereich der Metaphysik, genauer gesagt, der Metaphysica specialis. 68 Die Frage nach dem Zusammenhang des Ganzen bündelt sich bei Simmel im Weltbegriff, der so zum zentralen Problem der Metaphysik wird, auch wenn die anderen Grundbegriffe der speziellen Metaphysik, die Seele und der Gottesbegriff, von Simmel durchaus reflektiert werden. 69 Zum anderen tritt der Begriff in den populären Verbindungen »Weltanschauung« und »Weltbild« zu Beginn des 20. Jahrhunderts gehäuft auf und wird von der Philosophie teils verworfen, teils selbst in Anspruch genommen. 70 Auch Simmel benutzt diese Begriffe, um die Tätigkeit des Philosophen zu beschreiben. Was heißt aber nun hier »Welt«? Dieser Frage widmet Simmel den Anfang des Kapitels »Die Wendung zur Idee«. Für Simmels Weltbegriff ist allgemein entscheidend, dass Welt immer Ergebnis eines Formungsprozesses ist: »Welt im vollen Sinne ist […] eine Summe von Inhalten, die vom Geiste aus dem isolierten Bestande jedes Stückes erlöst und in einen einheitlichen Zusammenhang gebracht worden ist, in eine Form, die Bekanntes und Unbekanntes zu umschließen imstande ist« bzw. »eine Form, durch die wir die Gesamtheit des wirklich oder möglicherweise Gegebenen in eine Einheit fassen«. 71 Zu Simmels Philosophie als »Kulturkosmologie« vgl. M. Amat: »Kulturphilosophie als Kosmologie. Das Beispiel Georg Simmels«, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 9 (2015) 1/2, 257–270. 69 Zur Karriere des Begriffs der Welt in der Philosophie im 19. Jahrhundert vgl. C. Bermes: ›Welt‹ als Thema der Philosophie. Vom metaphysischen zum natürlichen Weltbegriff. Meiner: Hamburg 2004; zur kulturphilosophischen Bedeutung des Weltbegriffs vgl. E. W. Orth, »Welt«, in: R. Konersmann (Hg.): Handbuch Kulturphilosophie. Metzler: Stuttgart 2012, 408–416. 70 Vgl. G. Scholtz: »Weltanschauung«, in: A. Hand, Ch. Bermes und U. Dierse (Hg.): Schlüsselbegriffe der Philosophie des 19. Jahrhunderts. Meiner: Hamburg 2015, 435– 463. 71 G. Simmel: Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel [1918], in: GSG 16, 209–425, hier 236, 288. 68
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Annika Schlitte
Das Alltagsverständnis bezeichne mit dem Begriff dagegen die bloße Summe aller Dinge und Geschehnisse, ohne zu reflektieren, dass noch eine Form hinzukommen muss, die aus all dem erst eine Einheit macht. Das, was wir gemeinhin als »Welt« bezeichnen, erlangt seine Form aber sehr wohl durch Prinzipien wie Raum und Zeit, Kausalität etc., nur reflektieren wir diese nicht. Philosophische Weltbilder entstehen, wenn ein bestimmtes Prinzip dazu dient, die Einheit der ganzen Welt herzustellen. 72 Solche Prinzipien sind die Voraussetzung dafür, dass überhaupt eine Welt zustande kommen kann, gleichwohl kann ein Prinzip besser funktionieren als ein anderes. Ohne ein solches Prinzip entsteht jedoch überhaupt keine Welt. Für die Philosophie gilt dann aber: »Die Philosophen vollziehen damit nur in entschiednerer, freilich auch jeweils einseitigerer Begrifflichkeit, was ein jeder andere tut, wenn er von der Welt spricht.« 73 Welchen Begriff eine Philosophie wählt, um den welthaften Zusammenhang herzustellen, ist gemäß der oben ausgeführten Vorstellung verschiedener Typen vom jeweiligen Philosophen abhängig. Haben wir es in der Philosophie also schon mit verschiedenen Ansätzen zu tun, die eine einheitliche Welt nach einem jeweils verschiedenen Prinzip konstruieren, so wird die Sache nun noch komplexer, wenn man den Blick ausweitet auf andere Weltdeutungsformen, die sich in der Kultur ausgebildet haben. Es gibt laut Simmel nämlich noch andere »Funktionsarten des Geistes«, die »durch ihre Formungskräfte eine prinzipielle Unendlichkeit möglicher Inhalte« zu einer je besonderen Welt zusammenfassen. 74 Auf diese Weise haben wir es als geistige Wesen immer schon mit einer Pluralität von Welten zu tun, die unterschiedlichen Formungsprinzipien gehorchen: »Vom menschlichen Geiste her gesehen, gibt es keineswegs nur eine Welt, wenn Welt den Zusammenhang aller überhaupt möglichen Gegebenheiten bedeutet, die durch irgendein schlechthin gültiges Prinzip zu einem Kontinuum werden«. 75
Im Zuge der kulturellen Tätigkeit des Menschen, die sich zu geistigen Objektivationen mit einer eigenen Logik verfestigt, bilden sich meh72 73 74 75
Vgl. ebd., 237. Ebd. Ebd., 238. Ebd., 240.
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Simmels Philosophiebegriff
rere, nebeneinander existierende Formprinzipien aus, die sich zu einheitlichen Welten zusammenschließen – so entstehen z. B. Wissenschaft, Religion und Kunst. »Welten« heißen sie deshalb, weil sie prinzipiell jeden möglichen Inhalt in sich aufnehmen können. Obwohl z. B. die Kunst immer in einer historischen Gestalt auftritt, die ihr Potenzial nur zum Teil verwirklicht, gibt es nach Simmel grundsätzlich nichts, was nicht Gegenstand der Kunst sein könnte. Darüber hinaus gibt er auch zu, dass der Bestand dieser Formen selbst historisch variabel sein könnte. All diese Welten, zu denen er auch die praktische Wirklichkeit zählt, stehen mit ihren jeweiligen Formungsprinzipien nicht in Konkurrenz zueinander, sondern verhalten sich zueinander wie unterschiedliche Sprachen. Zum Problem des Wahrheitsanspruchs der einzelnen philosophischen Deutungen kommt nun also noch der relativierende Faktor, dass nicht nur die Philosophie ein Weltbild aufbaut, sondern dass es auch andere »Welten« gibt, zu denen sich die Philosophie positionieren muss. Dabei ist es insbesondere die Kunst, die von Simmel immer wieder in eine Parallele zur Philosophie gerückt wird. Wie kann man aber zwischen philosophischer und künstlerischer Weltdeutung unterscheiden? In den Hauptproblemen und an anderer Stelle schreibt Simmel in Abwandlung des Diktums von Émile Zola, so wie die Kunst ein Weltbild sei, »›gesehen durch ein Temperament‹«, so sei die Philosophie »ein Temperament, gesehen durch ein Weltbild«. 76 Damit ist wohl gemeint, dass der Philosoph uns gerade nicht nur seine subjektive Sichtweise der Welt darbieten möchte, sondern eine Darstellung der Welt im Ganzen, die uns erst im Nachhinein als Ausdruck eines bestimmten geistigen Typus erscheint, während die Kunst von vornherein nur eine subjektive Sicht für sich beansprucht. Im Gegensatz zur Kunst verfährt die Philosophie begrifflich: Was für Simmel den Philosophen und den Künstler eint, ist ihre Empfänglichkeit für das Ganze: »sie fühlen die Welt oder das Leben als ein Allumfassendes, Einheitlich-Gesamtes, mit derselben Unmittelbarkeit, mit der die Durchschnittsnaturen singuläre Dinge und Ereignisse aufnehmen«. 77
G. Simmel: Schopenhauer und Nietzsche, 190. G. Simmel: »Fragmente eines Goethe-Buches. Aus dem Kapitel über Goethe und Kant« [1909], in: GSG 12, 9–21, hier 12.
76 77
77 https://doi.org/10.5771/9783495824009 .
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Doch während der Künstler daraufhin animiert wird, Einzelerscheinungen und Vorgänge zu stilisieren und zu einer anschaulichen Einheit zu formen, bringt dieselbe Empfänglichkeit für das Ganze den Philosophen dazu, »den Weltinhalt durch logische Verknüpfungen einem einheitlichen Begriffe unterzuordnen«. 78 Ein weiterer Unterschied besteht nun darin, dass das einzelne Kunstwerk für sich steht, das einzelne philosophische Werk aber ergänzungsbedürftig ist. Die »inselhafte Selbstgenugsamkeit«, 79 welche die Originalität des Kunstwerks ausmacht und den Wert und Sinn des einzelnen Werkes ganz unabhängig davon sein lässt, ob der Künstler davor oder danach noch etwas geschaffen hat, hat das Werk des Philosophen, den Simmel hier in Abgrenzung zum Künstler auch als »wissenschaftlichen Denker« 80 bezeichnet, nicht. Es gewinnt seinen Sinn vielmehr erst im Zusammenspiel mit anderen philosophischen Werken. Dabei denkt Simmel aber weniger an eine historische Abfolge in dem Sinne, dass eine philosophische Theorie auf eine Vorgängertheorie reagiert und diese verbessern will, sondern an ein Nebeneinander verschiedener Ansätze, die erst in ihrem Zusammenspiel ein vollständiges Bild ergeben. Hier finden wir ein ähnliches Bild wie das der Ätherteilchen, die die Richtung des Lichtstrahls umspielen, den sie nur gemeinsam bilden: Die philosophischen Weltbilder sind nicht Stationen einer zeitlich ablaufenden Reihe, sondern Punkte auf einer Kreisbahn: »Für die philosophischen Prinzipienfragen tritt an die Stelle einer Reihe, die ihrem Ziele ins Unendliche zuwächst, gleichsam ein Kreis, in dessen Mittelpunkt das Ziel liegt; dieser wird Punkt für Punkt von Theorien besetzt, deren jede die gleiche Nähe oder Entferntheit zu jenem Ziele zeigt. Erst alle überhaupt möglichen Philosophien zusammen würden den Kreis schließen und von jeder einzelnen werden wir, nicht nur psychologisch, sondern um der logischen Ergänzung willen, an eine andere, ja, an alle anderen gewiesen – wie eine Farbe einerseits mit ihrer Komplementärfarbe, anderseits aber mit der Gesamtheit aller anderen Spektralfarben das weiße Licht ergibt.« 81
Während jede Philosophie ein Versuch ist, das Ganze zu erfassen, bleibt ihr Ausgangspunkt immer an einen Punkt des Kreises gebunden. 78 79 80 81
Ebd. Ebd., 15. Ebd. Ebd.
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Simmels Philosophiebegriff
Offenbar will Simmel betonen, dass die einzelne philosophische Theorie der Ergänzung durch andere, komplementäre Sichtweisen bedarf, um die Einseitigkeit ihres Standpunktes zu überwinden, ohne dass damit ein höherer, absoluter Standpunkt gefunden wäre. Diese Denkfigur erinnert an seinen relativistischen Wahrheitsbegriff aus der Philosophie des Geldes, der Wahrheit als ein internes Verhältnis von Vorstellungen untereinander begriff. Dieser Gedanke wird nun auf philosophische Systeme im Ganzen übertragen: So wie dann, wenn es nur eine einzige Linie auf der Welt gäbe, deren Länge nicht festgestellt werden könnte, so kann auch das philosophische Weltbild nur in seinem Verhältnis zu anderen Weltbildern bewertet werden, und erst in ihrem Zusammenspiel ergibt sich so etwas wie Wahrheit. 82 Dabei gibt es auf der Kreisbahn unendlich viele Punkte, von denen eine philosophische Deutung ihren Ausgang nehmen kann. In dem Bild schieben sich jedoch zwei Ebenen ineinander: Wenn man beim Bild eines Farbkreises bleibt, in dem sich die jeweils gegenüberliegenden Komplementärfarben zum weißen Licht ergänzen, dann könnten die einzelnen Farben wie Blau oder Rot für die verschiedenen, begrenzten Typen stehen, von denen Simmel in der Philosophie ausging. Dass es eine begrenzte Anzahl von Typen von Philosophien gibt, ist mit der Annahme einer unendlichen Zahl von möglichen Philosophien in diesem Bild vereinbar. Geht man nämlich vom Bild des optischen Spektrums als eines Kontinuums aus, dann gibt es zwischen den einzelnen Farben unendlich viele Schattierungen. Auch bei der Zahl der Farben, die den philosophischen Typen entsprechen, gibt es aus theoretischer Perspektive einen gewissen Interpretationsspielraum, tatsächlich gehen wir aber von einer begrenzten Zahl von Grundfarben aus. Kennzeichnend für Simmels Denken ist, dass er eine zweifache Relationalität der Farben betont, die mit der Farbmischung zusammenhängt: Sowohl in der Mischung mit allen anderen Farben als auch mit der jeweiligen Komplementärfarbe ergibt sich das weiße Licht. Die Betonung der Beziehung zwischen den Komplementärfarben entspricht hier Simmels dialektischem Denken, bei dem eine Position stets die Gegenposition fordert. Auf einer anderen Bildebene spricht Simmel hier von einem Mittelpunkt, der für einen Farbkreis keine Bedeutung hat; hier könnDass Simmels Konzeption eine Pluralität von Philosophien zulässt, betonen auch T.-K. Lehtonen und O. Pyyhtinen: »On Simmel’s conception of philosophy«, 318.
82
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te man eher an die Umlaufbahn eines Himmelskörpers denken. Dieses Bild des Kreisens um einen Punkt veranschaulicht den Wahrheitsanspruch der einzelnen philosophischen Ansätze. Es ließe sich um eine weitere Dimension ergänzen, auch wenn Simmel selbst hier nur von den philosophischen Weltbildern spricht. 83 So könnte man in diesem Bild – gegen Simmel, der ja das interne Verhältnis der einzelnen künstlerischen Werke zueinander gerade anders verstanden wissen will als das Verhältnis unterschiedlicher Philosophien – die anderen kulturellen Welten hinzufügen, wie die Religion, die Wissenschaft oder eben auch die Kunst, und sie auf jeweils anderen Kreisbahnen im gleichen Abstand um den Mittelpunkt herum ansiedeln. Denn Simmel geht ja davon aus, dass es mehrere kulturelle Welten gibt, zu denen theoretisch auch noch neue hinzukommen könnten. Letztendlich näherten wir uns so der Form einer Kugel, aber wie gesagt führt Simmel dieses Bild nicht in dieser Weise weiter.
VI. Schluss Blicken wir zurück auf die Entwicklung, die Simmels Philosophieverständnis genommen hat, so zeigt sich, wie die Philosophie aus ihrem engen Bezug auf die Einzelwissenschaften heraustritt und als Metaphysik über diese hinausgeht. Im Bild des Täufers, der die Probleme der Einzelwissenschaften nur an diese weitergibt, um schließlich von ihnen überwunden zu werden, ist die Abhängigkeit noch ganz deutlich. Bei der Zweiteilung in einen Unter- und einen Überbau, die Simmel auch in späteren Schriften noch verwendet, ist zwar der Bezug auf die Wissenschaften noch vorhanden, aber es vollzieht sich bereits eine Emanzipation von diesen im Hinblick auf eine genuin philosophische Aufgabe, die er mit der Metaphysik in Verbindung bringt. Die konkrete Ausgestaltung dieser Metaphysik zeigt aber, dass jede Philosophie nur eine Weltdeutung unter mehreren ist, wie Simmel im Bild des Netzes und des Kreises anschaulich macht. Dabei ist hervorzuheben, dass Simmel das Philosophieren als Prozess denkt, was sich mit seinen späteren Überlegungen zum Begriff des Lebens in Verbindung bringen lässt.
83
Vgl. A. Schlitte: Die Macht des Geldes und die Symbolik der Kultur, 467 f.
80 https://doi.org/10.5771/9783495824009 .
Simmels Philosophiebegriff
Zum Wahrheitsanspruch bietet Simmel hier zwei Überlegungen an: Die erste geht von der Subjektivität der metaphysischen Gesamtdeutungen aus. Ein philosophischer Ansatz ist dann nichts wissenschaftlich Überprüfbares, sondern Ausdruck der typischen Geistigkeit eines Philosophen, die als solche nicht als wahr oder falsch bewertet werden kann. In vielerlei Hinsicht rückt die Philosophie damit von den Wissenschaften weg und in die Nähe der Kunst. Die zweite Überlegung überträgt sein relativistisches Wahrheitsverständnis – welches Wahrheit nur als Relation zwischen verschiedenen Vorstellungselementen anerkennt, aber nicht als irgendwie geartete objektive Korrespondenz mit einer äußeren Wirklichkeit – auf die Ebene der verschiedenen Weltdeutungen, wie im Bild des Kreises oder des Lichtstrahls. Tut man dies, so zeigt sich, dass so etwas wie Wahrheit einer philosophischen Position überhaupt erst im Zusammenspiel der einzelnen Positionen entstehen kann. Dann besteht aber immer noch das Problem, wodurch eine Position sich überhaupt erst als eine dieser »großen Geistestypen« qualifiziert. Der Relativismus, für den Simmel in seiner eigenen Philosophie eintritt, leitet hier somit auch seinen Blick auf die Philosophie als Ganze. So spiegelt sich in seinem Philosophieverständnis letztlich seine eigene philosophische Position, was für Simmel auch gar nicht anders sein kann. Es ließ sich an verschiedenen Äußerungen zeigen, dass er an der Konzeption, die er in der Philosophie des Geldes entwickelt hat, auch später noch festhält und dass er diese bis zuletzt als seinen eigentlichen Beitrag zur Philosophie erachtet, von dem eine Linie bis zur Lebensphilosophie führt. 84 So schreibt er 1904, erst die Philosophie des Geldes »ist wirklich mein buch, die andern erscheinen mir ganz farblos u[nd] als koennten sie von jedem beliebigen geschrieben sein«. 85 Hier wird deutlich, dass Simmel dieses Buch sozusagen als adäquaten Ausdruck seines Geistestypus betrachtet, aber eben doch auch als Ausdruck der modernen Kultur, die sich ausgehend von der Oberflächenerscheinung des Geldes in dieser Weise metaphysisch interpretieren lässt. Die Kriterien für das Gelingen einer solchen metaphysischen Interpretation, auch das hatten wir gesehen, bleibt Simmel jedoch weitgehend schuldig. Vgl. die beiden Fragmente »1916. Wenn ich die Bilanz ziehe …« und »1918. –Unzweideutiges Bild meiner geistigen Individualität –-«, in: GSG 24, 71 f. 85 G. Simmel an H. Rickert: Brief vom 27. Februar 1904, in: GSG 22, 471–473, hier 472. 84
81 https://doi.org/10.5771/9783495824009 .
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Unabhängig von den Problemen, die Simmels Verständnis von Philosophie als Weltanschauung aufwirft, lassen sich an ihm jedoch deutlich zwei Tendenzen ausmachen, welche meines Erachtens für die Kulturphilosophie insgesamt charakteristisch sind, nämlich erstens die Pluralisierung des Weltzugangs in verschiedene kulturelle Formen (wie sie sich später auch bei Cassirer findet) im Sinne eines »Parallelismus der Welten«, und zweitens eine Verschiebung im Selbstverständnis der Philosophie und in der Bewertung ihrer Position gegenüber anderen Welterschließungsformen. 86 Auch die Philosophie kann nun als kulturelle Form verstanden werden, die von historischen Entwicklungen nicht unberührt bleibt. Mit diesen Relativierungen geht aber nicht nur etwas verloren, sondern es gibt auch etwas zu gewinnen. Da die verschiedenen kulturellen Welten einander koordiniert sind und nicht um die eine richtige Perspektive auf »die Welt« konkurrieren, ist es auch für den Einzelnen möglich, an mehreren dieser Welten teilzuhaben. 87 Es gibt nicht nur eine Möglichkeit, wie sich die Welt zu einem Ganzen zusammenfügt, und die Sichtweise der Wissenschaft ist ebenso wenig verabsolutierbar wie diejenige der Kunst oder der Religion. Zwar bleiben einige Fragen offen, doch indem er die Frage des Umgangs mit Pluralität von vornherein in die Kulturphilosophie hineinholt, erweist sich Simmel einmal mehr als höchst aktueller Denker.
Literatur Amat, Matthieu: »Kulturphilosophie als Kosmologie. Das Beispiel Georg Simmels«, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 9 (2015) 1/2, 257–270. Backhaus, Gary: »Simmel’s Philosophy of History and Its Relation to Phenomenology: Introduction«, in: Human Studies 26 (2003) 2, 203–208. Bermes, Christian: ›Welt‹ als Thema der Philosophie. Vom metaphysischen zum natürlichen Weltbegriff. Meiner: Hamburg 2004. Dahme, Heinz-Jürgen: »Das ›Abgrenzungsproblem‹ von Philosophie und Wissenschaft bei Georg Simmel. Zur Genese und Systematik einer Problemstellung«, in: Heinz-Jürgen Dahme und Otthein Rammstedt (Hg.): Georg Simmel und die Moderne. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1984, 202–230. G. Simmel: »Der Fragmentcharakter des Lebens. Aus den Vorstudien zu einer Metaphysik« [1916], in: GSG 13, 202–216, hier 211. 87 Hier stellt sich allerdings die Frage, wie mit der Möglichkeit von Konflikten zwischen Welten umzugehen ist – sei es zwischen mehreren Personen oder innerhalb einer Person. 86
82 https://doi.org/10.5771/9783495824009 .
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83 https://doi.org/10.5771/9783495824009 .
Annika Schlitte Simmel, Georg: Brief an Heinrich Rickert, 27. Februar 1904, in: GSG 22, 471– 473. Simmel, Georg: Brief an Heinrich Rickert, 15. April 1916, in: GSG 23, 636–639. Simmel, Georg: »Fragment einer Einleitung«, in: GSG 20, 304 f. Simmel, Georg: »1916. Wenn ich die Bilanz ziehe …«, in GSG 24, 71. Simmel, Georg: »1918. –- Unzweideutiges Bild meiner geistigen Individualität –-«, in: GSG 24, 72. Simmel, Georg: »Allgemeine Geschichte der Philosophie« (1904, Mitschrift von Rudolf Pannwitz), in: GSG 21, 407–492. Simmel, Georg: »Logik und Einleitung in die Philosophie« (1914, Mitschrift von Gottfried Salomon), in: GSG 21, 988–1011.
84 https://doi.org/10.5771/9783495824009 .
The Philosophical Meaning of Simmel’s Sociological Work Gregor Fitzi
I.
From philosophy to sociology
Ever since the beginning of Simmel’s academic career, his relationship with the representatives of the established philosophical schools was difficult if not strained. During his Habilitation colloquium, Simmel became involved in an argument with Eduard Zeller, which meant that granting his venia legendi was postponed and he had to repeat the exam. 1 As a young man with the certainty of economic security due to his inheritance from Uncle Dol (Julius Friedländer, the owner of the Peters music editions), 2 Simmel was too self-confident to give in to the power rituals of Wilhelmine academia. Moreover, for the colleagues of the Berlin Friedrich-Wilhelm University it was a permanent annoyance to have Simmel in the faculty. The lectures of the new Privatdozent had a much larger audience than those of the established professors. As if this were not enough, he admitted women; he spoke about topical themes, yet he also contested the accepted doctrines by presenting innovative interpretations of Kant, Schopenhauer or Nietzsche. Finally, he introduced Bergson’s fashionable French philosophy of life to his German students. Altogether, this attitude to the world and teaching severely challenged the project of the established academics – in particular Wilhelm Dilthey – to grant philosophy the role of a bulwark against the ongoing fragmentation and specialisation of scientific knowledge. With regard to content, the young Simmel seemed to ride on the crest of the wave of the Darwinian Weltanschauung. Nothing could be considered sure, firm, or ontologically grounded any longer. Yet 1 Cf. K. Gassen and M. Landmann (Eds.): Buch des Dankes an Georg Simmel. Briefe, Erinnerungen, Bibliographie. Zu seinem 100. Geburtstag am 1. März 1958. Duncker & Humblot: Berlin 1958, 21. 2 Cf. ibid., 11.
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Gregor Fitzi
everything had to be seen as a product of the permanent change of matter, life and human society, without any hope of tracing a dialectical rhythm of history that would finally restore the lost balance of the world. The spectre that was haunting German culture after the unification of 1871 – the spectre of relativism – was personified in an ideal-typical way by the young Privatdozent. Simmel’s acknowledgement of Heymann Steinthal and Moritz Lazarus as the representatives of the rival enterprise of Völkerpsychologie made him suspect to Wilhelm Dilthey, the influential colleague, who was struggling to establish his hermeneutical methodology for the grounding of the humanities as sciences of the spirit (Geisteswissenschaften). Simmel’s interest for social phenomena like the workers’ movement, the women’s emancipation movement, as well as for the metropolitan ways of life, neurasthenia and prostitution, yet above all his proximity to Gustav Schmoller, in whose seminar Simmel presented the first ideas for his major study on modern society under the label of a »psychology of money«, 3 made him into a probable academic socialist. This attitude was beyond the pale for the German academia of the 1880s, that is, in the season of the anti-socialist laws. 4 The different personal and scientific characteristics, which I have briefly sketched, made Simmel completely ineligible to become an established German philosopher at the end of the nineteenth century. Moreover, there was an extraordinary sociological reason for his exclusion. As Max Weber explains in his »Reflections on Georg Simmel«, the philosophical schools of the time had a »thoroughly sectarian character« and Simmel did not belong to any of them. 5 Therefore, in the existing structures of academia there was no place for the type of philosopher that Simmel was becoming, and that made him a founding father of sociology. He was the supernumerary. His main interest, to paraphrase Hegel’s motto, was an innovation of the theoretical instruments to comprehend the present time. 6 Yet that was not Cf. G. Simmel: »Zur Psychologie des Geldes« [1889], in: G. Simmel: Gesamtausgabe, ed. by O. Rammstedt. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1989–2015 (in the following GSG), Vol. 2, 49–65. 4 Cf. V. L. Lidtke: The Outlawed Party: Social Democracy in Germany, 1878–1890. Princeton University Press: Princeton NJ 1966. 5 M. Weber: »Georg Simmel als Soziologe und Theoretiker der Geldwirtschaft«, in: Simmel Newsletter 1 (1991) 1, 9–13. 6 Cf. G. W. F. Hegel: Elements of the Philosophy of Right, transl. by H. B. Nisbet. Cambridge University Press: Cambridge UK 1991, 21. 3
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the perspective of Wilhelmine philosophy, above all in the Empire’s capital, Berlin. Simmel was keen to interpret the society to come, and thus he became the philosopher of modernity, as much as his teachers and colleagues were a product of the society of the past, so that they could not become anything other than representatives of »defensive modernity«. 7 Still today, this break between Simmel and official philosophy has not been remedied completely. As is well known, the Prussian factors – according to Weber – contributed to the anti-Semitic allegations of relativism that cost Simmel the appointment as a professor of philosophy in Heidelberg in 1908 and damaged his reputation as a philosopher in Germany and abroad. 8 In this respect, we can recall the phrase of Benedetto Croce about Simmel’s war writings as one pearl among many others: »Simmel is what they call an elegant spirit, but with little philosophical force, and it seems that with philosophy he plays as with a foil in the fencing hall«. 9 It was only through the tireless engagement of some good friends like Gothein, Rickert and Weber that Simmel finally obtained the »more than a decade-and-ahalf [earlier] deserved official recognition through the appointment to a full professorship«. 10 That was in Strasbourg, in the spring of 1914. Shortly afterwards, World War I broke out. Simmel died four years later and six weeks before the armistice, on September 26, 1918. Thus, there was no time left to establish his reputation as an academic philosopher. As if this were not enough, during the late 1920s the representatives of the conservative revolution, above all Erich Rothacker and Hans Freyer, once more strained themselves to exclude Simmel, the relativist and Jew, from the pantheon of social theory by establishing the concept of the German line of sociology that eventually influenced Talcott Parsons’ foundation of the classical canon of sociology. 11 For these reasons (and perhaps this is the positive side of the story) we, once again, discuss the status of Simmel as an impor7 W. Schluchter: Grundlegungen der Soziologie. Eine Theoriegeschichte in systematischer Absicht. Mohr-Siebeck: Tübingen 22015, 19–47. 8 Cf. »Dokumente zu Simmels Leben und Werdegang«, in: GSG 24, 141–460, here 286–289. 9 M. Picchio: »Croce as Reviewer of Simmel’s War Writing«, in: Simmel Studies 22 (2017) 2, 99–130, here 126. 10 M. Weber: »Georg Simmel als Soziologe und Theoretiker der Geldwirtschaft«, 9. 11 Cf. G. Fitzi: Grenzen des Konsenses. Rekonstruktion einer Theorie transnormativer Vergesellschaftung. Velbrück: Weilerswist 2015, 61–77.
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tant reference for the history of thought in the twentieth century, even though Hans Blumenberg delivered the proof of the consistency of Simmel’s philosophy as early as 1976. 12 After these introductory remarks, however, I would like to come to what, in my perspective, is the core question of the debate: namely, why Simmel himself thought that he could not be a philosopher in the sense of his contemporaries and colleagues, for which reason he had to contemplate becoming another kind of philosopher or what was then called a sociologist. In the introductory chapter of his main sociological work, the Soziologie of 1908, Simmel formulates the answer to this question in unequivocal terms. The quantity and quality of social relationships, which individuals are compelled to entertain in complex societies, change their way of life so dramatically that the assessment of every issue concerning humanity has to be grounded on a theory of society. 13 Consequently, in modern times any kind of philosophical anthropology in the classical sense is no longer possible, unless it takes the form of sociology. In a way, this is reminiscent of Durkheim’s approach. Simmel thus states that the classical philosophical questions of epistemology, ethics, social and political philosophy, yet also of aesthetics, cultural theory and so on, cannot be faced without a theory of society. Above all, this is a statement about modernity. Yet what does modernity mean? As Marx had argued before with regard to the economic production process, the underlying conditions of life had changed in an irreversible way through the political and industrial revolutions of the late eighteenth century. 14 For Simmel, however, the change to the structure of society, as well as the fragmentation of agency in modern times, applied to every domain of the growing qualitative differentiated society, and not only to the economy. Accordingly, no subject of philosophical reflection could be contained within the boundaries of Arcadia. Yet, all themes had to become the object of Cf. H. Blumenberg: »Geld oder Leben. Eine metaphorologische Studie zur Konsistenz der Philosophie Georg Simmels«, in: H. Böhringer and K. Gründer (Eds.): Ästhetik und Soziologie um die Jahrhundertwende: Georg Simmel. Vittorio Klostermann: Frankfurt a. M. 1976, 121–134. 13 Cf. G. Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung [1908], in: GSG 11, 7–875, here 13 f. 14 Cf. K. Marx: Kritik des Kapitalismus: Schriften zu Philosophie, Ökonomie, Politik und Soziologie, ed. by F. Butollo and O. Nachtwey. Suhrkamp: Berlin 2018. 12
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a theory of the current era that observed the great and ongoing transformation of society. Simmel’s entire oeuvre can be regarded as an effort of theory-building that is dedicated to this task. He developed an epistemology, a critical theory of culture, an anthropology, social ethics and aesthetics, which take into account the modification of the basic conditions of human life in modern society. 15 For the interpreter of Simmel’s work the task is thus, on the one hand, to understand which are the elements of this theoretical effort, and, on the other hand, to explain what is its philosophical meaning. To assess the ongoing transformation of the world and life in modernity, philosophy can no longer be grounded on the traditional philosophical dichotomies between subject and object, identity and diversity, tradition and progress, deontology and libertinism or community and society. Modernity is always an ambiguous mixture of these different phenomenal occurrences of reality, so its development can only be understood by analysing their points of intersection. Theory can neither focus on human agency nor on the weight of cultural and societal structures. Yet it must develop an analysis of the reciprocal action between subjective and objective spirit in order to develop a Realphilosophie of the existing and steadily changing world without any guarantee of detecting any permanent rules of its development. Consequently, from the beginning of his academic career, Simmel engaged in a series of research projects on social differentiation, monetarisation, culture reification, urbanisation, neurasthenia, fashion, women’s emancipation and so on. This analytical work not ›of the concept‹, but ›on the concept‹ delivered two major results. One the one hand, Simmel could establish a reconstruction of the framework of modern culture and society, that is, of the conditions of the possibility of human life in complex societies. Yet one the other hand, these sociological research initiatives profoundly modified his epistemological and philosophical positions.
II.
Sociology as an anthropology of modernity
Following Simmel’s sociological analyses of the framework of modern culture and society, modernity means that social actors are compelled 15 Cf. G. Fitzi: The Challenge of Modernity. Simmel’s Sociological Theory. Routledge: Abingdon-London 2019.
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to manage an increasing number of social relationships that are related to the different social circles in which they participate. Accordingly, their personality becomes strongly fragmented in manifold facets that follow the logic of the different reified domains of society. 16 The coordination of the different streams of social activity and the attempt to make sense of what Weber called a »conduct of life« thus becomes increasingly complex. 17 In modern qualitative differentiated societies, alienation affects social actors not only as members of the capitalist production process, but also in every other societal domain. Both the individual’s personality and social relationships face the increased rhythm and acceleration of social life, which establish an entropy for the individual, as well as for the collective subjects of social action. 18 Furthermore, modernity implies a multiplication of the random social contacts that the social actors have with the mobile mass of their peers, yet without accessing the spatiotemporal resources to rationalise and stabilise these latent social relationships. The result of this development is an increasing passivity towards the reified structures of social interaction due to the need to neutralise the emotional impact, the intensity and the acceleration of social life. This is the thesis of Simmel’s study of »The Metropolis and Mental Life«. 19 Because of the shifting spatial distance between social actors, an intensified production of symbolic social distance takes place and becomes a major instrument for regulating social relationships. A process of stereotypisation gains the upper hand and easily leads to the development of reductive and prejudicial images of the other. 20 The interaction partners are then reduced to the function that they are supposed to play in a particular social setting. The formation of structured social relationships, in which social actors invest themselves in a more comprehensive way, is therefore hindered by the accelerated rhythm of social interaction. Increasingly, the social fabric develops an intermittent character, so that social actors avoid investing energies in parCf. G. Simmel: Über sociale Differenzierung. Sociologische und psychologische Untersuchungen [1890], in: GSG 2, 109–295, here 169–198. 17 Cf. M. Weber: The Protestant Ethic and the Spirit of Capitalism [Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, 1904/1905], transl. by T. Parsons, with an introduction by A. Giddens. Routledge: London 1992; G. Simmel: Soziologie, 59. 18 Cf. G. Simmel: Philosophie des Geldes [1900], in: GSG 6, 7–716, here 696 ff. 19 Cf. G. Simmel: »Die Großstädte und das Geistesleben« [1903], in: GSG 7, 116–131. 20 Cf. G. Simmel: Soziologie, 47. 16
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ticular configurations of the social order and tend to adapt passively to their ongoing change. Accordingly, the question arises as to how an epistemological research project, which does not want to capitulate in view of the complexity of modern society, can give a theoretical account of these deep transnormative conditions of social life. 21 In the context of the entire epistemological debate in the second half of the nineteenth century, from Auguste Comte to Edmund Husserl, the ongoing fragmentation of modern society is mirrored by the specialisation and the loss of unity of the modern sciences. Knowledge seemed to take shape by simply following the autonomous logic of the different qualitative differentiated domains of science. A unitary conception of knowledge, or philosophy in Simmel’s definition, thus became impossible. 22 The great efforts to grant a synthesis of the whole of human knowledge, which characterised the research projects of Transcendental Philosophy and German Idealism, seemed to belong to a lost age. Was it still possible to give a philosophical foundation for the modern sciences, and particularly for the fast-paced emergence of the human, historical and social sciences in the late nineteenth century? In 1883, Dilthey formulated his influential answer to this question in the form of a programme for the grounding of a science of society and history: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. If we assess Simmel’s publications chronologically, it becomes evident that he consistently attempted to achieve Dilthey’s desideratum of research. Yet as the two editions of The Problems of the Philosophy of History show, 23 Simmel’s engagement with this question also led him to a significant epistemological turn. The descriptive analysis of the evolutionary development of natural or societal phenomena, which the Darwinian approach proposed, was not sufficient to understand the epistemological nature of the processes establishing historical knowledge. The risk was to fall back behind the transcendental turn of knowledge-philosophy, which had been introduced by Immanuel Kant, who showed that nature, as human beings
Cf. G. Fitzi: Grenzen des Konsenses. Cf. G. Simmel: Hauptprobleme der Philosophie [1910], in: GSG 14, 7–157. 23 G. Simmel: Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1892), in: GSG 2, 297–421; G. Simmel: Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1905/1907), in: GSG 9, 227– 419. 21 22
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discern it, is a product of their cognitive activity. Yet historical reality was as much a product of the experiential activity of human beings as natural reality. Therefore, the epistemological challenge of a science of society and history was to understand how socio-historical reality is produced by human agency and conversely, how its institutionalised structures act back on it. By enquiring into this topic, Simmel realised a momentous epistemological finding, as he relates in the excursus on »How is society possible?« for the introductory chapter of Soziologie. 24 In contradistinction to the knowledge process, which produces the human image of nature, researchers in the social sciences do not first connect the basic elements of their perception of reality into a synthesis of knowledge, because the scrutiny of sociocultural reality deals with contents that are already the product of a synthetic process of knowledge between the social actors. Thus, the reconstruction of the different modalities of knowledge that generate the objects of different domains of life experience allows Simmel to formulate a distinction between the natural and sociocultural sciences, which avoids all the ontological and psychology-led traps that characterised the debate about the sciences of the spirit between Dilthey, Rickert and Windelband. 25 According to Simmel, the difference between nature and culture, that is, between natural and socio-historical reality, depends on the fact that nature, following Kant’s approach, consists in a product of knowledge that an epistemic subject accomplishes by relating in a synthetic judgement the objective contents of its perception of reality. In contrast, culture is the product of the socio-historically determined interaction between different human subjects, so that the elements of knowledge of a science of society and history have a complex synthetic character and the epistemic subject finds them already accomplished. This makes socio-historical knowledge a meta-knowledge Cf. G. Simmel: Soziologie, 42–61. Cf. W. Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Erster Band [1883], in: id.: Gesammelte Schriften, Vol. 1. Teubner: Stuttgart/Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 41959; H. Rickert: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften [1896]. Mohr Siebeck: Tübingen 1902; W. Windelband: »Geschichte und Naturwissenschaft (Straßburger Rektoratsrede)« [1894], in: id.: Präludien. Aufsätzen und Reden zur Philosophie und ihrer Geschichte. Mohr Siebeck: Tübingen 91924, 136–160.
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that, for Simmel, necessitates a completely different epistemology, which takes into account its societal formation process. In this perspective, for Simmel, on the one hand Kant’s epistemological approach is necessary because socio-historical reality is a product of human activity even more than nature. Yet on the other hand, Kant’s limitation of knowledge to the relationship between the epistemic subject and the objects of his perception has to be overcome. As a consequence, the epistemology of society and history, in brief the sociological epistemology, has to switch from the level of inquiry into the relationship between subject and object of knowledge to that of the relationship between different subjects of knowledge that produce socio-historical reality through their common social action. This finding, for Simmel, implies that sociological epistemology has to adopt the perspective of the social actors instead of adopting the observer perspective, which is typical for traditional sociology, as one finds it, for example, in Durkheim or Weber. This methodological move leads to the central dilemma of sociological epistemology and shows how different Simmel’s answer to the question of the humanities and social sciences is in comparison to Dilthey’s research programme. Society is an »objective representation of subjective minds«. Yet Simmel’s awareness of the complexity of social interaction in modern societies compels him to turn down Dilthey’s grounding of the cultural sciences on the philosophical psychology that characterises the hermeneutical method. In complex societies »life does not simply comprehend life«. Here, the cycle of reciprocal action between expression and comprehension is mediated by an increasing social distance, an acceleration of the tempo of social life and the consequent stereotypysation of the fellow social actor. Accordingly, a comprehension of the sociocultural phenomena based on the axiomatic assumption of a substantial similarity in the psychological processes of all human beings is not possible and leads into unfounded speculation. I have shown elsewhere that this development of Simmel’s sociological epistemology was in part due to Durkheim’s allegation of individual psychologism, so I will not go into details here. 26 Yet the decisive point for Simmel was that social actors do not perceive each other by means Cf. G. Fitzi: »Dialogue. Divergence. Veiled Reception. Criticism: Georg Simmel’s relationship with Émile Durkheim« in: Journal of Classical Sociology 17 (2017) 4: Performing the Other. Durkheim in Germany (Special Issue), 293–308.
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of a natural psychology, but rather through the intermediation of sociocultural forms, which continually produce images of the others as well as of the relationships that social actors entertain. This is what makes complex societies interesting and what Simmel focused on in his manifold research studies on cultural sociology. However, the crucial question for sociological epistemology becomes one of how to identify these forms of sociocultural intermediation that empirically produce the complex research object of the social sciences. Simmel’s answer to the question was that to describe the processes of reciprocal perception, which regulate social interaction, research in the humanities and social sciences has to focus on the meaning that they have for social relationships and not on the psychological processes that accompany them. This turn represents the beginning of sociological epistemology as an alternative answer to Dilthey’s epochal question about the grounding of a science of society and history, because it refuses the methodology of psychologically mediated hermeneutics. From this perspective, the so-called »analytical-regressive method«, as Kant formulated it in the Prolegomena to Any Future Metaphysics (Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik), 27 plays the decisive role for the development of sociological epistemology. By methodologically excluding all the contingent aspects characterising the socio-cultural shaping of interaction, sociological epistemology has to trace back the most basic conditions a priori that any and every social interaction have to presuppose. The discussion of the three sociological a priori, which Simmel presents in the excursus on »How is society possible?«, constitutes the result of this research. 28 Sociology becomes the science of society and history that deals with the tension-fraught encounter between the incompatible logics of social action and social structure and describes its manifold culturally mediated forms. These coordinate, in a cognitive, yet also practical way, the relationships of social validity (soziale Geltung) linking social action and social structure together, in order to permit the existence of socio-historical reality as an »objective representation of subjective minds«.
I. Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können [1783], in: id.: Gesammelte Schriften, ed. by Royal Prussian Academy of Science (Akademie-Ausgabe), Vol. 4. Reimer: Berlin 1911, 253–383, here 276 (footnote). 28 Cf. G. Simmel: Soziologie, 42–61. 27
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Based on these results of his sociological epistemology, Simmel developed a theory of »qualitative societal differentiation«, by analytically elaborating the socio-cultural a priori that regulate the existence of the different societal domains. These separate surveys included, in order of appearance: economy, law, politics, religion, art and the erotic. At the end of these manifold research efforts, Simmel succeeded in relating them in an overarching theory of sociocultural activity, that is, in the sense of Hegel’s Tätigkeit, characterising the human being as »limit-setting animals«. This theory constituted the core of sociological anthropology that is traditionally addressed under the label of Simmel’s late life-philosophy. In this context, he was eventually able to found a social ethics that was on a par with the complexity of modern society. Thereby, he postulated that in modern social reality only the individual could realise the synthesis between the conflicting logics of social action and social structure, which is necessary to integrate complex societies. This epistemic and practical activity had to become a moral imperative in order to attempt to overcome modern alienation. 29 In summary, the key elements of Simmel’s achievements that establish the philosophical meaning of his sociological work are thus: his grounding of sociological epistemology, the provision of a theory of qualitative differentiated societies and eventually the relation of their sectorial a priori into a comprehensive sociological anthropology with the corollary of the foundation of a social ethics, which takes into account the life conditions of modern and fragmented individuality. 30 These achievements make Simmel one of the most important philosophers of the twentieth century. Yet the question is, what are the central theses of the sociologically well-informed philosophy that Simmel presented in his later work?
III. From sociology to philosophy The late phase of Simmel’s work has conventionally been explained as a product of his interest in the intellectual vogue of the philosophy of life. The »fashionable cultural phenomenon« during the Belle Époque Cf. G. Simmel: »Das individuelle Gesetz. Ein Versuch über das Prinzip der Ethik« [1913], in: GSG 12, 417–470. 30 Cf. G. Fitzi: The Challenge of Modernity. 29
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circulated widely in Paris and even as far as Germany. 31 Simmel was interested in Schopenhauer’s and Nietzsche’s philosophy of life and wrote a monograph about their philosophical conceptions in 1907. 32 Furthermore, he played a decisive role in the introduction of Bergson’s philosophy in Germany by organising an authorised translation of his works. 33 Simmel’s final book, The View of Life (Lebensanschauung), 34 was a contribution to the epistemological paradigm of the philosophy of life. However, it was also designed as a critique of its mono-dimensional orientation that derives all existence from the idea of the eternal flow of the stream of consciousness. 35 Hence, Simmel’s philosophy of life presented itself as an alternative to Bergson’s conception of durée as being the common denominator between consciousness and the natural world. In contradistinction to Bergson’s reductionism of all life to the psychic dimension of »experienced temporality«, according to Simmel, the common characteristic of natural, psychic and societal life is the continuous opposition between processes that construct and dismantle life forms. Cells, organisms, psychic processes, cultural contents and social structures rise and flourish by giving themselves individual forms. Yet there is a specific threshold where cells split, organisms reproduce or die and psychic processes, cultural contents and social structures are terminated, decline, or lose influence on reality and are substituted by new ones. These intermittent processes of »growth through form building« and »loss of form«, which permits new growth, constitute for Simmel the deepest metaphysic dimension of reality, and are its »grounding conditions of possibility« in the sense of Kant’s epistemological metaphysics. In the Prolegomena to Any Future Metaphysics, Kant clearly formulated the limits of a modern conception of metaphysics. 36 Following the Copernican turn, philosophy had to abandon the study of As formulated by H. Rickert: Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmungen unserer Zeit. Mohr Siebeck: Tübingen 1920. 32 Cf. G. Simmel: Schopenhauer und Nietzsche. Ein Vortragszyklus [1907], in: GSG 10, 167–408. 33 Cf. G. Fitzi: Soziale Erfahrung und Lebensphilosophie: Georg Simmels Beziehung zu Henri Bergson. UVK-Verl.-Ges.: Konstanz 2002, 195 ff. 34 G. Simmel: Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel [1918], in: GSG 16, 209–425. 35 G. Fitzi: Soziale Erfahrung und Lebensphilosophie, 265 ff. 36 Cf. I. Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik. 31
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the unknowable »reality-in-itself« in favour of the inquiry into the transcendental structures of the mind that determine the nature of experience. Simmel, for his part, developed a sociological epistemology that was able to grasp the intersubjective transcendental structures of the mind that determine modern social experience. Based on this achievement, metaphysics as a science could not rest on a conception of the universal and necessary transcendental structures of the mind, which, according to Kant, regulate the human knowledge of nature and thereby human life experience as a whole. Yet the study of social reality showed that it could not give in either to a conception of the inexorable liquefaction of all frameworks of action, as Bauman formulates it. 37 Simmel’s sociology of culture provided several case studies about the a priori orienting social action in the various domains of culture that characterise modern societies. Specific »attitudes to life and the world« come to the fore, which can potentially shape the entirety of the contents of experience from a particular viewpoint, creating an economic, political, religious, artistic or legal world. Yet the objective domains of culture evidenced a strong tendency towards autonomisation by developing an innate logic, imposing their rules on the creativity of social action, and resulting in a conflict between objective and subjective culture. 38 Consequently, the question arose as to whether social actors have the capability to accomplish the task of handling and overcoming the fragmentation of their personality as well as the reification of the social world under the societal conditions of modern life. 39 This interest grounded Simmel’s research programme for his later philosophy of life that took the shape of a sociological well-informed anthropology. The human individual does not simply fit into the natural existence of the world, like animals, but instead tears himself away, facing nature, demanding, violating and being violated – this basic dualism of human nature gives rise to the history of culture, as Simmel formulates it in »The Concept and the Tragedy of Culture«. 40 Yet in modern societies no issue concerning human beings could be an-
Cf. Z. Bauman: Liquid Modernity. Polity: Cambridge UK 2000. Cf. G. Simmel: »Persönliche und sachliche Kultur« [1900], in: GSG 5, 560–582. 39 Cf. G. Simmel: Soziologie, 42–61. 40 G. Simmel: »Der Begriff und die Tragödie der Kultur« [1911], in: GSG 12, 194–223, here 194. 37 38
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swered any longer without taking into account the importance and quantity of social relationships that individuals must maintain in order to conduct their life. 41 Therefore, no assessment of anthropological issues was possible without developing a theory of society, as Simmel remarked with implicit reference to Marx’ critique of classical German anthropology in the theses on Feuerbach, which were published in 1886 in the appendix of Engels’ book Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie. 42 The ongoing change of modern social reality had to be understood in a contextual way with the processes characterising its condensation in social forms and then explained from the perspective of the specific human approach to the world. Accordingly, it was necessary to develop a theoretical foundation project that was capable of linking together the different theoretical strands that Simmel provided in Soziologie and in his theory of qualitative differentiated society. 43 Because of his premature death, Simmel could not advance his late research project as much as he had intended to. Yet The View of Life (Lebensanschauung) gives an idea of what it had possibly become, as Kantorowicz writes in 1923 in the introduction to Fragments from the Estate. 44 As Simmel argues in his lecture on Logic of the summer term 1914, the key to formulating an anthropological concept linking together the different spheres of life lies in the interpretation of the »limit character« (Grenzcharakter) of human life experience of the world. 45 Circumscribing its potentially unlimited scope represents for Simmel the characteristic anthropological approach to life. This attitude requires significant efforts at shaping the relationship between the opposite principles of reality, so that a mixture of formlessness and forming impetus constantly moulds human life. TheoretiCf. G. Simmel: Soziologie, 13 f. Cf. F. Engels: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie (with an appendix by Karl Marx: »Thesen über Feuerbach«, 1845). Dietz: Stuttgart 1886. Since Marx’ and Engels’ German Ideology was not published during Simmel’s lifetime, it is to be assumed that Simmel took notice of the critique towards classical philosophical anthropology on the basis of Engels’ book on Feuerbach in which Marx’ theses on Feuerbach had first appeared in 1886. 43 Cf. G. Fitzi: The Challenge of Modernity, 89–122. 44 Cf. G. Kantorowicz: »Vorwort (zu Georg Simmel: Fragmente und Aufsätze aus dem Nachlaß und Veröffentlichungen der letzten Jahre)« [1923], in: GSG 20, 473–479. 45 G. Simmel: »Logik und Einleitung in die Philosophie« (1914, transcribed by G. Salomon), in: GSG 21, 988–1011. 41 42
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cally, it can be grasped only through a category appreciating the dynamics of the »limit-setting attitude« that differentiates human beings from other organisms. Furthermore, sociological research shows that individual, cultural and societal life lean on the ongoing creation of forms, i. e. conducts of life, cultural contents and styles, as well as institutions, which have temporal persistence and claim legitimacy in binding social action. Accordingly, the reality and specific character of the human attitude to life and the world cannot be identified with the pure flow of »experienced temporality«, as Bergson’s concept of durée suggests. 46 Sociological anthropology that is aware of the cultural and societal dimension of human life, especially in modernity, must take into account the circumstance that human beings steadily provide portions of the never-ending extension of their experienced temporality with sociocultural forms in order to instil them with meaning. This creative shaping attitude is constitutive for human life and cannot be discarded as a simple expression of modern alienation, as Bergson suggests. The human impetus to employ the creativity of social action in relation to the formless material of life experience must thus be examined as the central issue for the development of sociological anthropology. This also concerns the conception of temporality that is the basic category of Bergson’s life philosophy. Human life experience becomes meaningful within certain spatiotemporal and existential limits, whereas without any shaping it remains a meaningless flow of psychic impressions. This is the core of Simmel’s critique of the philosophy of life from the point of view of sociological epistemology, i. e. the conception of the sociological a priori, whose theoretical backdrop lies in the particular way in which he transformed the terms of Kantian epistemology to develop a science of society. 47 Social actors are not only confronted with social stereotypes (first sociological a priori) and feel that they do not seize the entirety of their individuality (second sociological a priori), but in order to participate in sociation they also need to recompose both aspects of their life experience in a synthesis that
Cf. H. Bergson: Essai sur les données immédiates de la conscience. Alcan: Paris 1889. – English translation: H. Bergson: Time and Free Will. An Essay on the Immediate Data of Consciousness. Routledge: London 2014. 47 Cf. Fitzi: Soziale Erfahrung und Lebensphilosophie, 55–129; G. Simmel: Soziologie, 42–61. 46
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overcomes their condition of alienation (third sociological a priori). Fleeing form the dynamics of sociation to seek shelter in the intimacy of the deep flow of psychic perception must therefore be considered a pathology of modernity, along with the blasé attitude, thus forcing the creativity of social action to capitulate to alienation. 48 Consequently, for Simmel the proper »motion impulsion« of human life lies not in experienced temporality, but rather in the process of the continuous setting and overcoming of individual sociocultural limits, which structure the amorphous experience flow by bursting through existing forms and producing new ones. In turn, these prescribe new limits to life experience. Not the unstoppable flow of temporality, but moulding life experience and constantly transgressing every limit confer on human life its motive for motion. According to Simmel, this stance is constitutive for the anthropological difference: in contrast to the reactive, instinct-driven relationship to the environment of the animal, the human being continuously »produces his world«, by giving a meaningful shape to portions of life experience. The static completion of the animal’s environment remains unconscious to it, whereas humans are aware of the limit-centred nature of their approach to experience and consequently feel the incentive to overcome the limits that they perceive. Human beings delimit the extension of their perception flow by producing sociocultural forms. However, they cannot rest throughout on single forms because they are conscious of their limiting character and feel the incentive to go beyond them and produce new ones in the never-ending cycle of the creativity of social action. In The View of Life (Lebensanschauung), Simmel aimed at founding an integrated theoretical and methodological approach to relate together the different studies, which he developed concerning the specific a priori that mould social action in the different domains of qualitative differentiated societies. 49 The starting point for this scrutiny is identifying the circumstance that social action constantly develops beyond its particular spatiotemporal shaping, so that the creativity of social action can be understood as a process continuously overcoming its current form. Here, the assessment of the manifold sociocultural a priori, which permit social actors to participate in different societal domains, flows into research about the deeper level of 48 49
Cf. G. Simmel: Philosophie des Geldes, 335 f. Cf. G. Simmel: Lebensanschauung, 212 ff.
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preconditions that permit the rise of their manifold variety. Simmel’s sociological anthropology thus takes the shape of a research project about the »a priori of the a priori« of social action in the different domains of qualitative differentiated societies. If the individual objects of experience can be led back to the specific conditions of the possibility of experience, their sum can revert to the grounding conditions of the possibility for the manifold human experience of the world. This assumption offers Simmel the key for the development of sociological anthropology as a theory linking the different shaping functions of experience in qualitative differentiated societies within a formal structure that is grounded on the concept of the »dynamic self-delimitation« of the human life form. Explaining its unitary, yet equally contradictory nature, producing, dissolving and again producing sociocultural life forms without succumbing to normative dualism between the »good dynamics« of the consciousness flow and the »bad reified sociocultural forms«, as Bergson did, requests consideration of both dimensions as constitutive for sociological anthropology. In order to link the different shaping processes of human life in one theoretical approach, however, it does not suffice to critically assess the results of the positive sciences from the viewpoint of the philosophy of the will, as Schopenhauer, Nietzsche and Bergson did in Simmel’s opinion. An analysis of the anthropological structure of life experience that makes allowances for the active and social character of human life is necessary, as Marx’ criticism concerning Feuerbach’s anthropology had already pointed out. 50 Furthermore, starting from sociological anthropology, a general theory of life can be developed that addresses its different manifestations because a similar dynamic of producing, dissolving and again producing life forms can be observed in all domains of life. Hence, in terms of the language of life philosophy, for Simmel, this insight means that life in general must be considered as something that does not simply develop incessantly. Rather, life produces forms that permit it to exist in its manifold variations – from the biological cell to the organism, the meaningful content of consciousness, the cultural product and societal form. Therefore, life in general has an antinomous character because the bearers of life-flow always have an indi-
50
Cf. G. Simmel: Soziologie, 13 f.; F. Engels: Ludwig Feuerbach.
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vidual form and in themselves are »centred entities«. 51 The unity of life can therefore only be explained as a steady conflict between the principle of the maintenance of form and the struggle of life for overcoming existing form by moving towards a new shaping process.
IV. A sociologically well-informed ethics According to the central assumptions of sociological anthropology, Simmel’s idea of »individual law« represents the mature formulation of his long-lasting examination of the ethical question concerning the relationship between the individual and society, so exploring the normative side of the relationship between social action and social structure in complex societies. This reflection accompanied Simmel’s analytical-descriptive assessment of the modern individuation processes since the study on Social Differentiation (Über soziale Differenzierung). The higher margins of freedom for the social actors in complex societies find their counterpart in the fragmentation of the personality that is motivated by modern cultural conflict. To have a life conduct in this context means that the individuals have the capacity to link, in a meaningful synthesis, the different and to some extent contradictory social roles that they perform. 52 The reconciliation of normative conflicts resulting from the opposition between the objectified logics of different societal domains can hardly be granted by existing lifestyles, so the cultural work, which has to be performed to constitute ethical individuality, becomes increasingly important. Kant’s categorical imperative calls for a disavowal of all subjective interests and individual needs by ensuring the conformity of behaviour to a universal rule, to which everybody would be able to conform in the same situation. 53 Yet in social-ethical terms, the categorical imperative seems to contribute more to the substantial heteronomy of the modern moral subject than to its emancipation from normative alienation. It forces him to accept the power of the conflicting normative orders characterising the established domains of qualiCf. G. Simmel: Lebensanschauung, 222 f. Cf. G. Simmel: Soziologie, 59. 53 Cf. I. Kant: Critique of practical reason [Kritik der praktischen Vernunft, 1788], ed. by A. Reath and M. J. Gregor. Cambridge University Press: Cambridge UK 2015; G. Simmel: Kant. Sechzehn Vorlesungen gehalten an der Berliner Universität [1904], in: GSG 9, 7–226. 51 52
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tative differentiated societies. From Kant’s deontological perspective, not only are egoistic inclinations criticised, but also the self-fulfilment of individuality is rejected as something immoral, along with the humanist ideals of the German classicism, and above all Goethe’s way of life. 54 Yet, for Simmel, in complex societies these limitations of the creativity of social action have to be seen critically, because here the moral subjects are called upon to be consistent, by realising a meaningful subjective synthesis of their normative commitments. As a consequence, if the individual were unable to realise his fulfilment, this would not only have negative consequences for his consistency, but also for the persistence of the social fabric. The fact that no ethics emerge that are capable of shaping anew the individual’s life conduct in complex societies and of overcoming the socially determined heteronomy of the moral subject, depends for Simmel on the traditional ethical way of thinking. From this perspective, life and duty are seen as ontological entities; they belong to separated orders of reality, so that ethical consciousness is conceived of as a succession of disjointed decisions that are divorced from the remaining life process. Yet, according to Simmel, an empirical view of ethical life shows that things do not follow this logic. The contents of moral judgement and the formulations of obligation are a direct expression of the individual’s real life and cannot be added to externally by following some abstract, general rules. 55 Empirically normative acts emerge from the specific individual context of life of moral subjects, so that duty does not prevail in contrast to individual life. Rather, duty is a modality of life performance, thus making possible an autonomous normative legislation of individuality. The problematic aspect of Kant’s concept of ethical autonomy therefore lies in the fact that it splits the individual into two opposing domains by playing off sensuality against rationality, and thus supposing that only the latter can constitute the true moral subject. 56 Simmel’s project for grounding a social ethics of the autonomous moral subject in complex societies thus focuses on overcoming the Kantian dualism between individual life and obligation. The »individual law« aims at reconciling the creative impulses of the modern complex personality with the ethical principle of obligation towards 54 55 56
Cf. G. Simmel: Goethe [1913], in: GSG 15, 7–270. Cf. G. Simmel: Lebensanschauung, 349. Cf. ibid., 355.
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the community, by making the biographies of great artists to exemplary expressions of this process. Self-fulfilment and the commitment to the normative expectations of the different social circles would no longer remain in a relationship of reciprocal exclusion. The precondition for Simmel’s social-ethical project, however, is represented by the emancipation of individuality from all traditional ideals of moral conformity. The individual has to give himself an ethical law and make self-fulfilment the principal purpose of his moral life. In this way, the personality can be shaped as though it were a work of art, by cyclically overcoming its current form for a new one, and by making the struggle for qualitative individuality the purpose of social ethics. 57 As long as ethics were founded on the idea of »quantitative individuality«, i. e. solely on the ideal of freedom from external coercion, then self-limitation of the scope of action in terms of Kant’s categorical imperative and the idea of respecting the freedom of the fellow human became a necessary and pivotal point of social ethics. Yet if the concept of the qualitative self-fulfilment of individuality represents the starting point for developing social ethics, the continuous process of moral life shaping can no longer be regarded as a sum of disconnected single actions. Accordingly, the ethical law of individuality can only be constituted as a reflection about its comprehensive dynamic unity. Thus, on the one hand, the individual conduct of life becomes the object of a consistent ethical project. This is not simply the result of an accidental succession of normative decisions, which are induced by the categorical imperatives, as proposed in the logics of the different societal domains of society. On the other hand, however, this ethical life conduct does not provoke the triumph of hedonistic amoralism or blasé artistic egoism, as Simmel observed in his diagnosis of the Wilhelmine age. 58 Every individual law is firmly anchored in the obligation-history of individuality, so moral judgement must always take it into account. 59 The ethical way out of the spatial conflict between the different normative orders of qualitative differentiated societies must therefore be found in the temporal depth of individual moral life.
Cf. G. Simmel: »Die beiden Formen des Individualismus« [1901], in: GSG 7, 49–56; G. Simmel: Lebensanschauung, 367. 58 Cf. G. Simmel: »Tendencies in German Life and Thought since 1870« [1902], in: GSG 18, 167–202. 59 Cf. G. Simmel: Lebensanschauung, 392 f. 57
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The idea of »normative temporality« characterising Simmel’s conception of individual law represents the most decisive compensation of his profoundly liberal social ethics in communitarian terms. In determining the normative path for the self-fulfilment project of the individuality, moral subjects have to be absolutely free. In doing this, however, they do not find themselves in an ethical vacuum, but within a network of constitutive ethical obligations that they contracted during their previous ethical life and that demand them to be consistent. For Simmel, realising a positive synthesis between these obligations and the self-fulfilment of the individuality represents the regulative ideal of modern societal life. Furthermore, the individual is called upon to perform a normative variation of it. Beyond the dichotomy between the subjective moral and the objective ethical obligation, a third dimension of life conduct thus becomes decisive: the objective obligation that the normative history of individuality represents for present moral judgement. 60 As a living being the individual is deeply rooted in his obligation-history, so the latter allows him to make decisions by taking into account his very personal, yet for the most part absolutely objective normative consistence. With this formulation of individual social ethics, Simmel provides a persuasive alternative to the consumerist hedonism of the Belle Époque by simultaneously offering a path for overcoming the normative alienation of the moral subject in qualitative differentiated societies. Social actors should be free to develop themselves and so would become conscientious members of their society. In this respect, Simmel developed an ethical programme that is comparable with Durkheim’s conception of so-called moral individualism, even if it is grounded on completely different moral assumptions. 61 Accordingly, already in the first version of »Individual Law« (»Das individuelle Gesetz«) of 1913, Simmel regarded the feeling of national belonging as an ethical corrective for a potentially unlimited tendency towards individualisation and cosmopolitanism. In order to construct itself in complex societies, individuality must overcome the condition of alienation produced by the ongoing process of social differentiation. The multiple facets of the personality are narrowly tied to the different social domains, which are founded on autonomous Cf. ibid., 408. Cf. É. Durkheim: L’individualisme et les intellectuels. Mille et une nuits: Paris 2002. 60 61
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and at times contradictory logics, and become increasingly fragmented. Individuality therefore risks resulting in a simple addition of the social roles, to which the actors are committed. To overcome this condition, modern moral subjects must take the shape of a project, giving sense to the entire personality in accordance with their individual law. 62 This is the perspective that Simmel’s social ethics adopts to provide a loophole as a way out of the levelling process reducing modern individuality to a simple epiphenomenon of the social mechanism. For him, however, there is an objective limit to the autonomisation project of the individual law. It consists in the existential debt, which every individual contracts vis-à-vis the community that made possible his birth, growth and education. If the individuals trace back the causal chain of experiences, which constitute their moral life, there is a long series of passages connecting them to the nation-state of which they are citizens. These ties cannot be simply forgotten or cut: rather they have to be taken into account to construct the ethical project of the individual law. At the time of the first publication of the essay on »Individual law«, before World War I, Simmel exemplified this conception of social ethics by resorting to the analysis of the relationship of an antimilitarist to the motherland. The objectivity of the individual law is so deeply rooted in the temporal sequence of life that the call of the homeland to the service of arms would even apply to an antimilitarist. He is a citizen of the nation-state and cannot take leave of the debt he contracted vis-à-vis the political community, even if from a moral viewpoint he has the right to refuse the use of arms. 63 Under the semblances of the nation, thus, the ethical history of the individuality appeals to him with an ethical objectivity that he cannot deny, without calling into question at once its own existence. The outbreak of World War I confronted Simmel with the full gravity of this conception of political obligation. On the one hand, he was aware that the war instantly destroyed half of his life work, as represented by the relationships of scientific cooperation that he developed with his French colleagues. 64 On the other hand, the emergence of strong feelings of national solidarity led him to hope for an Cf. G. Simmel: »Das individuelle Gesetz«. Cf. ibid., 458; G. Simmel: Lebensanschauung, 409. 64 Cf. H. Simmel: »Lebenserinnerungen« [1941/1942], in: Simmel Studies 18 (2008) 1, 9–136, here 111. 62 63
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ethical renewal through the experience of the war. The mammonism that dominated pre-war Germany and imposed the evaluation of all worldly items as commodities seemed to come to an end. Reversing the cynicism of modern capitalism through the normativity of national belonging seemed finally possible. 65 Accordingly, the topic of the alleged ethical change due to the war experience forms the core of Simmel’s first public intervention during the war in the speech on the »Inner Transformation of Germany« (»Deutschlands innere Wandlung«), which he delivered quite late, i. e. on 7 November 1914 at the Salle de l’Aubette in Strasbourg. 66 With the continuation of the war, however, Simmel became more sceptical about the possible positive effects of the conflict and began to articulate his critique towards the irrevocable destruction of the human, material and cultural patrimony provoked by the war. From March 1915, he began to publish interventions on the ideal of Europe which subjected him to trial for anti-German activities. 67 In 1917, when, at least in Germany, everyone was beginning to wonder about the possible outcomes of the conflict, Simmel published a collection of his war writings entitled Der Krieg und die geistigen Entscheidungen (The War and Decisions of the Spirit). 68 One wonders what the message is that Simmel wanted to convey with this book, which was a montage of his interventions on the war, which were not banned from re-publication. Simmel’s intention was to outline an ideal spectrum. Hence, the ordering of his selected texts did not respect the chronology of their first publication. The war had to be seen as the product of the frivolity and the blindness of a minority in Europe. In the early stages, it encouraged a readiness to sacrifice oneself that was worthy of respect, but it soon became an arena for the familiar ›German egoisms‹ to usurp that noble energy. There was no way of knowing how future generations would judge the war, yet since 1915 one thing was clear for Simmel: the ideal of Europe, which his generation of intellectuals had seen as a point of orientation, was lost. According to Simmel, no national identity might be founded on a Cf. P. Watier: »The war writings of G. Simmel«, in: Theory, Culture and Society 8 (1991) 3, 219–233. 66 G. Simmel: »Deutschlands innere Wandlung« [1914], in: GSG 15, 271–285. 67 Cf. G. Simmel: »Die Idee Europa« [1915], in: GSG 13, 112–116; G. Simmel: »Europa und Amerika. Eine weltgeschichtliche Betrachtung« [1915], in: GSG 13, 138–142; »Dokumente zu Simmels Leben und Werdegang«, in: GSG 24: 417–429. 68 G. Simmel: Der Krieg und die geistigen Entscheidungen [1917], in: GSG 16, 7–58. 65
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refusal of Europeanness, for Europe was not in contrast to, but beyond every national spirit: thus, it was compatible with every form of national life. The European ideal represented the synthesis of intellectual values that the cultivated and civilised people of the Belle Époque had oriented themselves towards, as long as their national character was for them an inalienable good, yet not a binding straitjacket. This ethical horizon could have been the new benchmark for the formation of an individual law on the high-point of the post-war European society. Yet Simmel did not have the possibility to develop this thought further.
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Georg Simmels Bekenntnis zum Relativismus. Historische und systematische Überlegungen Johannes Steizinger
I.
Das Wertproblem. Die systematische Fragestellung der Philosophie des Geldes im historischen Kontext
Die Philosophie des Geldes (1900) stellt eines der philosophischen Hauptwerke Georg Simmels dar. Ein Brief an Heinrich Rickert vom 27. Februar 1904 verdeutlicht dessen persönliche Bedeutung für Simmel. Das Bekenntnis: »erst dieses ist wirklich mein Buch«, 1 verweist darauf, dass Simmel mit der Philosophie des Geldes zu seiner »philosophische[n] Grundüberzeugung[…]« 2 gefunden hat. Damit korrespondiert auch der umfassende Anspruch, der in der Vorrede der Philosophie des Geldes gestellt wird: »Der Sinn und Zweck des Ganzen ist nur der: von der Oberfläche des wirtschaftlichen Geschehens eine Richtlinie in die letzten Werte und Bedeutsamkeiten alles Menschlichen zu ziehen.« 3 Es ist kein Zufall, dass Simmel diesen Anspruch anhand einer Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Geldes einlösen will. Dessen »philosophische Bedeutung« bemisst sich laut Simmel daran, inwiefern die »Formel des wirtschaftlichen Wertes« – dessen »Gipfel und reinste[r] Ausdruck« das Geld ist – einer »Weltformel parallel« gehe. 4 Diese »Weltformel« heißt für den Simmel der Philosophie des Geldes Relativismus. 5 Das Ende der Vorrede lässt keinen Zweifel da1 G. Simmel an H. Rickert: Brief vom 27. Februar 1904, in: ders: Gesamtausgabe, hg. von O. Rammstedt. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1989–2015 (im Folgenden GSG), Bd. 22, 471–473, hier 472. 2 G. Simmel: Philosophie des Geldes [1900], in: GSG 6, 7–716, hier 13. 3 Ebd., 12. Da es mir um eine Interpretation von Simmels Philosophie geht, werde ich mich im Folgenden in erster Linie auf die philosophische Rezeption Simmels beziehen und seine soziologische Rezeption ebenso beiseitelassen wie die ökonomische Interpretation der Philosophie des Geldes. 4 Ebd., 93. 5 Vgl. ebd., 121.
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Johannes Steizinger
ran aufkommen, dass Simmel mit der Philosophie des Geldes sein »relativistisches Weltbild« darlegen will. 6 Ein solches hält er »für den angemessensten Ausdruck der gegenwärtigen Wissensinhalte und Gefühlsrichtungen«. 7 Simmel glaubt, im Geld das beste Beispiel für den nicht nur von ihm selbst konstatierten »Übergang[] von der Festigkeit und Absolutheit der Weltinhalte zu ihrer Auflösung in Bewegungen und Relationen« gefunden zu haben. 8 Diesen »systematische[n] Sinn des Wert- und Tauschbegriffs, der in den historischen Erscheinungen nur rudimentär lebt«, will Simmel in der Philosophie des Geldes erschließen. 9 Der Tausch als Grundlage des wirtschaftlichen Wertes interessiert ihn als »die wirtschaftsgeschichtliche Verwirklichung der Relativität der Dinge«. 10 Im ausgehenden 19. Jahrhundert bot sich das Geld als Gegenstand einer Philosophie an, weil damit eine »philosophische Fundamentalfrage« dieser Zeit direkt angesprochen war. 11 Das Wertproblem steht im Zentrum der Philosophie des Geldes, vermutlich gerade weil es sich aufgrund von Simmels »relativistische[r] Interpretation des Seins« umso schärfer stellte. 12 Noch im Sommer 1898, d. h. eineinhalb Jahre vor dem Erscheinen der Philosophie des Geldes, klagte Simmel in Briefen über die Schwierigkeiten, die ihm seine Werttheorien bereiten. Am 10. Mai 1898 schrieb Simmel an Rickert sogar, dass er in seiner »Arbeit auf einem toten Punkt – in der Werththeorie! – angelangt« sei und »weder vorwärts noch rückwärts« komme. 13 Simmel sah sich mit dem Problem konfrontiert, dass »absolute u. objektive Werthe Anspruch auf Anerkennung machten« und diese Tat-
Ebd., 15. Ebd., 13. 8 Ebd., 95. 9 Ebd., 74. 10 Ebd., 91. Auf diesen Zusammenhang weist auch Annika Schlitte hin (vgl. A. Schlitte: »Simmels Philosophie des Geldes und die Folgen«, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 9 (2015) 1/2, 143–157, hier 156 f.). 11 H. Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831–1933. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1983, 197. Schnädelbach verweist auch darauf, dass der Wertbegriff in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts aus der Nationalökonomie übernommen wurde. Zum philosophiegeschichtlichen Kontext der Philosophie des Geldes vgl. auch: A. Schlitte: Die Macht des Geldes und die Symbolik der Kultur. Georg Simmels Philosophie des Geldes. Fink: München 2012, 149–155. 12 G. Simmel: Philosophie des Geldes, 13. 13 G. Simmel an H. Rickert: Brief vom 10. Mai 1898, in: GSG 22, 291 f., hier 292. 6 7
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Georg Simmels Bekenntnis zum Relativismus
sache mit seinem relativistischen Ansatz nicht zu vereinbaren war. 14 Denn, so Simmel weiter, »die Lösung dieser Schwierigkeit, die ich für manche Fälle gefunden habe, versagt bei andern u. ich sehe noch kein Ende der Schwierigkeiten ab«. 15 Die Frage nach der objektiven Geltung von Werten stellte sich nicht zuletzt aufgrund der – wie Simmel in einer unvollendeten Selbstdarstellung schreibt – »zeitgeschichtlichen Auflösung alles Substantiellen, Absoluten, Ewigen in den Fluß der Dinge, in die historische Wandelbarkeit, in die nur psychologische Wirklichkeit«, zu der er mit seinem Frühwerk selbst maßgeblich beigetragen hatte. 16 Auch sein Zeitgenosse Wilhelm Dilthey war davon überzeugt, dass »die Anarchie des Denkens […] sich in unserer Zeit auf immer mehr Voraussetzungen unseres Denkens und Handelns« erstrecke. 17 In seinem Vortrag »Die Kultur der Gegenwart und die Philosophie« (1898) liefert Dilthey eine aufschlussreiche zeittypische Diagnose, die den philosophiegeschichtlichen Kontext des Wertproblems erhellt. Dilthey stellt dem »rapiden Fortschritt der Wissenschaften« die »Unsicherheit über die Werte und Ziele des Lebens« gegenüber. 18 Mit der Hervorhebung der Diskrepanz zwischen dem »Kreis allgemeingültigen Wissens«, den die Naturwissenschaften mit ihrer theoretischen Erschließung der Wirklichkeit »hergestellt« haben, und der »Ratlosigkeit des Geistes über sich selbst« 19 wird deutlich, dass die Objektivität der Werte nicht zuletzt deshalb zum Problem wurde, weil – wie Herbert Schnädelbach überzeugend darlegt – »in einem nachmetaphysischen, nachidealistischen Zeitalter kein Sein oder Seiendes mehr dem Sollen ein objektives Fundament zu geben imstande
Ebd. Ebd. 16 G. Simmel: »Anfang einer unvollendeten Selbstdarstellung«, in: K. Gassen und M. Landmann (Hg.): Buch des Dankes an Georg Simmel. Briefe, Erinnerungen, Bibliographie. Zu seinem 100. Geburtstag am 1. März 1958 [1958]. Duncker & Humblot: Berlin 21993, 9 f., hier 9. Eine ausführliche Darstellung von Simmels Frühwerk im geistesgeschichtlichen Kontext findet sich in K. C. Köhnke: Der junge Simmel in Theoriebeziehungen und sozialen Bewegungen. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1996. 17 W. Dilthey: »Die Kultur der Gegenwart und die Philosophie« [1898], in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 8: Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie [1931], hg. von Bernhard Groethuysen. Teubner: Stuttgart; Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen 31962, 190–205, hier 194. 18 Ebd., 193 f. 19 Ebd. 14 15
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ist«. 20 Diltheys Darstellung der praktischen Orientierungslosigkeit seiner Zeit lässt jedoch auch keinen Zweifel daran aufkommen, dass es sich hierbei vor allem um eine philosophische Sinnkrise handelte. »Gerade heute«, so Dilthey, stehe man Fragen wie dem »großen Rätsel des Ursprungs der Dinge, des Wertes unseres Daseins, des letztens Wertes unseres Handelns« ratloser gegenüber »als in irgendeiner früheren Zeit«. 21 Diltheys »Verständnis der Gegenwart« ist auch deshalb zeittypisch, weil er seine kritische Diagnose mit dem »geschichtliche[n] Bewußtsein des 19. Jahrhunderts« verbindet und dessen Wirkung für die »Ratlosigkeit des Geistes über sich selbst« mitverantwortlich macht. 22 Denn der richtigen Einsicht in die »Relativität alles geschichtlich Wirklichen« attestiert Dilthey – wie viele seiner Zeitgenossen – »eine geheime Wirkung von Auflösung, Skeptizismus, kraftloser Subjektivität«. 23 Vor diesem Hintergrund betrachtet er es als Aufgabe »dieser Epoche«, »die Relativitäten mit der Allgemeingültigkeit in einen tieferen Zusammenhang« zu bringen. 24 Dilthey schlägt für dieses »Problem« eine dialektische Lösung vor: Zum einen plädiert er dafür, »das Bewusstsein der Relativität alles Geschichtlichen bis in seine letzten Konsequenzen« zu entwickeln. 25 Zum anderen ist es eben diese Steigerung »der relativ geschichtlichen Tatsachen« bis in das »Chaos«, die einen Umschlag ermöglichen soll. 26 Für Dilthey ist also das geschichtliche Bewusstsein selbst, das uns nicht »nur die Relativität der Antworten auf das Welträtsel« 27 deutlich macht, sondern auch ein neues allgemeingültiges Fundament bieten soll – eine Überzeugung, die ihm selbst den Vorwurf des Relativismus einbrachte, dessen vermeintliche Gefahren er doch eigentlich bannen wollte. 28 Dieses »Mißverständnis« 29 überrascht deshalb nicht, H. Schnädelbach: Philosophie in Deutschland, 200. Dilthey: »Die Kultur der Gegenwart«, 193. 22 Ebd., 190, 202, 194. 23 Ebd., 204. 24 Ebd. 25 Ebd. 26 Ebd. 27 Ebd., 194. 28 Beispielsweise nennt Rudolf Eisler seit der ersten Auflage seines Wörterbuchs der Philosophischen Begriffe und Ausdrücke von 1899 Dilthey unter dem Stichwort Relativismus (vgl. R. Eisler: Wörterbuch der philosophischen Begriffe und Ausdrücke. Mittler: Berlin 1899, 646; vgl. dazu auch K. C. Köhnke: Der junge Simmel, 473 f.). Edmund Husserl wird Dilthey gar vorwerfen keine »entscheidenden Gründe gegen 20 21
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weil – wie Klaus Christian Köhnke zu Recht betont – der Begriff Relativismus im langen 19. Jahrhundert vor allem ein »pejorativ gemeinter Sammelname für alle empirischen oder historischen Ansätze der Philosophie« 30 war. Mit seinem »primär philosophiepolitischen Sinn« diente der Begriff Relativismus dem »Zweck der Ausgrenzung« bestimmter Positionen aus dem Bereich der Philosophie. 31 Vor diesem Hintergrund ist Simmels Bekenntnis zum Relativismus umso bemerkenswerter und sollte deshalb nicht marginalisiert werden. Die philosophische Simmel-Forschung ist bei der Beurteilung von Simmels Relativismus gespalten. Lange Zeit dominierte die Meinung, dass Simmels Relativismus im Grunde ein Relationismus sei, und viele Interpreten deuteten sein Selbstbekenntnis als ein Selbst-Missverständnis. 32 Diese Entradikalisierung ist aus drei Gründen problematisch: Erstens werden die unterschiedlichen Formen von Relativität, die für Simmels Weltbild prägend sind, vernachlässigt und nur eine einzige – die relationistische – für dessen Charakterisierung herangezogen. Zweitens bedeutet die Charakterisierung von Simmels Weltbild als ein relationistisches zumeist nur, dass er nicht unter das Pejorativ Relativismus fällt. Der Relativismus wird mit der Gefahr, die von ihm ausgehen soll, d. h. mit Subjektivismus und/oder Skeptizismus, gleichgesetzt. Eine sachliche Bedeutung wird oft nicht einmal in Betracht gezogen. Deshalb werden drittens keine Kriterien
den Skeptizismus gewonnen zu haben« (E. Husserl: Philosophie als strenge Wissenschaft. Meiner: Hamburg 2009, 53). 29 W. Dilthey an Edmund Husserl: Brief vom 29. Juni 1911, in: F. Rodi und H.-U. Lessing (Hg.): Materialien zur Philosophie Wilhelm Diltheys. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1984, 110–114, hier 111. Dilthey selbst bezeichnet in seinem Brief an Husserl vom Juni 1911 dessen Vorwurf des Skeptizismus als »Mißverständnis« (ebd.). Der kurze Briefwechsel zwischen Dilthey und Husserl über Nähe und Differenz ihrer philosophischen Positionen aus dem Jahr 1911 findet sich in: F. Rodi und H.-U. Lessing (Hg.): Materialien zur Philosophie Wilhelm Diltheys, 110–120. 30 K. C. Köhnke: Der junge Simmel, 476. 31 Ebd., 474. 32 Vgl. z. B. K. C. Köhnke: Der junge Simmel, 480; G. Fitzi: Soziale Erfahrung und Lebensphilosophie. Georg Simmels Beziehung zu Henri Bergson. UVK-Verlags-Gesellschaft: Konstanz 2002, 57 f.; W. Geßner: Der Schatz im Acker. Georg Simmels Philosophie der Kultur. Velbrück Wissenschaft: Weilerswist 2003, 87–93; A. Schlitte: Die Macht des Geldes, 233 f.; A. Schlitte: »Simmels Philosophie des Geldes und die Folgen«, 153 f.; M. Amat: »Kulturphilosophie als Kosmologie. Das Beispiel Georg Simmels«, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 9 (2015) 1/2, 257–269.
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erarbeitet, die überhaupt erst ermöglichen, zu klären, ob Simmel aus heutiger Sicht als Relativist zu bezeichnen ist. 33 In letzter Zeit hat sich jedoch eine affirmativere Behandlung von Simmels Bekenntnis zum Relativismus ausgebildet. Manche Interpreten haben die Bedeutung von relativistischen Motiven für Simmels Epistemologie, 34 seine Soziologie des Wissens, seine Geschichtsphilosophie 35 und seine Metaphilosophie 36 darlegt. Meine Auseinandersetzung mit Simmel schließt an diese Forschungen an. Ich versuche zu zeigen, dass der Relativismus den ontologischen Kern seiner Kulturphilosophie bildet. Mit diesem Fokus folge ich Simmels eigener umfassenden Charakterisierung seiner relativistischen Position. In seiner unvollendeten Selbstdarstellung hebt Simmel die Notwendigkeit hervor, die gegenwärtige Philosophie gegen ihre Tendenz zu »haltlose [m] Subjektivismus und Skeptizismus« abzusichern. 37 Diese Aufgabe scheint ihm jedoch nur dann zu bewältigen zu sein, wenn der Relativismus als ein umfassendes Prinzip ernst genommen wird. Rückblickend hält Simmel fest: »Die Zentralbegriffe der Wahrheit, des Wertes, der Objektivität etc. ergaben sich mir als Wechselwirksamkeiten, als Inhalte eines Relativismus, der jetzt nicht mehr die skeptische Lockerung aller Festigkeiten, sondern gerade die Sicherung
Das gilt beispielsweise auch für Boudon, der zwar Simmels Selbstcharakterisierung auf interessante Weise deutet, jedoch eine rein pejorative Auffassung der gegenwärtigen Formen von Relativismus vertritt und deshalb keinerlei Verbindung zu Simmels Position sieht (vgl. R. Boudon: »Die Erkenntnistheorie in Georg Simmels Philosophie des Geldes«, in: J. Kintzelé und P. Schneider (Hg.): Georg Simmels Philosophie des Geldes. Hain: Frankfurt a. M. 1993, 113–142, hier 117, 121, 125, 138 f.). 34 Vgl. J. Millson: »The Reflexive Relativism of Georg Simmel«, in: The Journal of Speculative Philosophy 23 (2009) 3, 180–207; J. Steizinger: »In Defense of Epistemic Relativism: The Concept of Truth in Georg Simmel’s Philosophy of Money«, in: Proceedings of the 38th International Wittgenstein-Symposium, Contributions of the Austrian Wittgenstein Society 23 (2015), 300–302; M. Kusch: »Simmel and Mannheim on the Sociology of Philosophy, Historicism and Relativism«, in: M. Kusch, K. Kinzel, J. Steizinger und N. Wildschut (Hg.): The Emergence of Relativism. German Thought from Herder to National Socialism. Routledge: London/New York NY 2019, 165–180; M. Amat: »Relativism. A Theoretical and Practical Philosophical Program«, in: G. Fitzi (Hg.): The Routledge International Handbook of Simmel Studies. London/New York NY, i. E. 35 M. Kusch: »Simmel and Mannheim«; M. Kusch: »From Völkerpsychologie to Sociology of Knowledge«, in: HOPOS 9/2 (2015), 250–274, DOI: 10.1086/704105. 36 M. Amat: »Relativism. A Theoretical and Practical Philosophical Program«. 37 G. Simmel: »Anfang einer unvollendeten Selbstdarstellung«, 9. 33
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gegen diese vermittels eines neuen Festigkeitsbegriffs bedeutete (›Philosophie des Geldes‹).« 38 Simmel referiert an dieser Stelle auch einen »Wandel« seiner »prinzipiellen Überlegungen«. 39 Zeigt er in seinen frühen Schriften die psychologischen, sozialen und historischen Bedingungen der Entstehung von Wahrheit, Sittlichkeit oder Schönheit auf, so versucht die Philosophie des Geldes die objektive Geltung von Werten zu begründen. 40 Mit diesem Versuch schließt Simmel nichtsdestoweniger an sein evolutionistisches Frühwerk an. Denn Ziel der Philosophie des Geldes ist es, die Objektivität der Werte aus deren Genese abzuleiten. Der wirtschaftliche Wert soll als Beispiel für den Umschlag von der subjektiven Genese zur objektiven Geltung dienen. 41 Deshalb kann Simmel im Vorwort zum unveränderten Nachdruck seines Frühwerks Einleitung in die Moralwissenschaft. Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe (1892/1893; 2. Aufl. 1904) behaupten, dass »die Weiterbildung meiner Ansichten mehr eine Ergänzung als eine einfache Verneinung der früheren Darlegungen fordern würde«. 42 Folgt man der überzeugenden Interpretation von Willfried Geßner, markiert diese Verschiebung von Simmels Standpunkt auch den werkgeschichtlichen Übergang zu seiner Philosophie der Kultur. 43 Dies liegt nicht zuletzt an der Art und Weise, wie Simmel den Prozess der Wertung denkt. Dieser wird zunächst als ein praktisches Verhalten des Menschen, das durch Wille und Gefühl geleitet wird, von der »intellektuellen Vorstellung« eines Objekts abgehoben. 44 Aus der »praktischen Beziehung zwischen dem Menschen und seinen Objekten« entstehen laut Simmel Gliederungen, die sich von »der Wirklichkeit der Dinge, wie sie vor dem bloß erkennenden Geiste steht«, unterscheiden. 45 »[U]nsere Praxis«, so Simmel, »schneidet […] aus Ebd. G. Simmel: »Vorwort zu dem ersten Neudruck (von 1904)«, in: ders.: Einleitung in die Moralwissenschaft. Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe. Erster Band [1892], in: GSG 3, 9. 40 Für eine überzeugende Darlegung von Simmels früher Philosophie im Kontext der Völkerpsychologie vgl. M. Kusch: »From Völkerpsychologie to Sociology of Knowledge«. 41 Vgl. W. Geßner: Der Schatz im Acker, 92 f., 95. 42 G. Simmel: »Vorwort zu dem ersten Neudruck (von 1904)«, 9. Mit diesem Argument begründet Simmel seine Entscheidung zum unveränderten Nachdruck. 43 Vgl. W. Geßner: Der Schatz im Acker, 15 f. 44 G. Simmel: Philosophie des Geldes, 52. 45 Ebd., 52, 180. 38 39
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der äußeren oder inneren Komplexität der Dinge einseitige Reihen heraus und schafft erst so die großen Interessenssysteme der Kultur«. 46 Simmel beschränkt dieses Prinzip der Formung des Gegebenen durch ein spezifisches Paradigma jedoch nicht auf die Schaffung autonomer Wertsphären. Vielmehr sieht er das »Verhältnis des Menschen zur Welt« in toto dadurch bestimmt, »daß aus der absoluten Einheit und dem Ineinanderverwachsensein der Dinge, in dem jedes das andere trägt und alle zu gleichen Rechten bestehen, unsere Praxis nicht weniger als unsere Theorie unablässig einzelne Elemente abstrahiert, um sie zu relativen Einheiten und Ganzheiten zusammenzuschließen«. 47 Simmel begreift den Menschen als ein Kulturwesen, das – so Geßner – in »einem ›Pluriversum‹ autonomer Formwelten lebt, in denen die Erscheinungen in jeweils einer besonderen Perspektive repräsentiert werden«. 48 Die zentrale Fragestellung der Philosophie des Geldes kann deshalb auch kulturphilosophisch formuliert werden: Wie entstehen jene objektiven Wertformen, die den subjektiven Urteilen der Individuen entspringen, aber diesen gegenüber unabhängig werden und ein selbstständiges Dasein entwickeln?
II.
Paradigma Geld. Die kulturphilosophische Lösung des Wertproblems
Simmel beginnt seine Analyse des Wertbegriffs mit einer spekulativen Anthropologie, die dessen ideelle Genese darlegen soll. 49 An die Stelle der Auseinandersetzung mit der »historischen Wirklichkeitsentwicklung« von Wertformen, die Simmel in der frühen Schrift Einleitung in die Moralwissenschaft ausführte, tritt deren quasitranszendentale Begründung. 50 Denn, so Simmel apodiktisch, »[a]lle Ebd., 57 f. Ebd., 58. 48 W. Geßner: Der Schatz im Acker, 103. 49 Auf das von mir als anthropologisch charakterisierte Moment in Simmels Philosophie des Geldes weist auch Boudon hin, ohne es jedoch als ein anthropologisches zu bezeichnen (vgl. R. Boudon: »Die Erkenntnistheorie in Georg Simmels Philosophie des Geldes«, 115). Als spekulativ bezeichne ich Simmels anthropologische Überlegungen, weil sich diese nicht auf empirische Befunde stützen und auch gar nicht darauf stützen könnten. Simmel bezieht sich zwar immer wieder auf psychologische und historische Beispiele, im Grunde zeichnet er jedoch eine ideelle Entwicklung nach, die jene erst ermöglichen. 50 G. Simmel: »Vorwort zu dem ersten Neudruck (von 1904)«, 9. 46 47
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Deduktionen des Wertes machen nur die Bedingungen kenntlich, auf die hin er sich schließlich ganz unvermittelt, einstellt, ohne doch aus ihnen hergestellt zu werden«. 51 Ausgangspunkt von Simmels Überlegungen ist dabei die Annahme, dass das »seelische Leben […] mit einem Indifferenzzustand« beginnt, »in dem das Ich und seine Objekte noch ungeschieden ruhen«. 52 Im praktischen Verhältnis des Menschen zur Welt bedeutet dieser postulierte Urzustand, dass alle Bedürfnisse unmittelbar befriedigt werden. In der ursprünglichen Einheit des »seelischen Leben[s]« gibt es laut Simmel weder subjektives Begehren noch einen objektiven Wert. 53 Die »Wertbildung« stellt jenen »Differenzierungsprozeß« dar, durch den das Subjekt und das Objekt der Wertschätzung gleichermaßen entstehen. 54 Objektivierung ist hier im buchstäblichen Sinne zu verstehen: Insofern, als dass Bedürfnisse nicht mehr unmittelbar befriedigt werden, sondern dem Triebleben Hemmnisse und Widerstände entgegentreten, entwickelt sich ein begehrendes Subjekt, das sich nun auf Gegenstände richtet: »Die subjektiven Vorgänge des Triebs und des Genießens objektivieren sich im Werte, d. h. aus den objektiven Verhältnissen erwachsen uns Hemmnisse, Entbehrungen, Forderungen irgendwelcher ›Preise‹, durch die überhaupt erst die Ursache oder der Sachgehalt von Trieb und Genuß von uns abrückt und damit in ein und demselben Akt uns zum eigentlichen ›Objekt‹ und zum Wert wird.« 55 Simmel betont, dass diese Entwicklung eine Form von Objektivität hervorbringt, die sich von den empirischen Qualitäten der Dinge unterscheidet. Die »objektivierende Wirkung« in der korrelativen Beziehung von Begehren und Wert beschreibt Simmel dabei vor allem als »Distanzierung« des Gegenstandes vom Subjekt. 56 Er führt psychologische und historische Beispiele aus unterschiedlichen Wertsphären für seine These an, dass Distanz notwendig ist, »um die Eigenbedeutung der Dinge zu erkennen«. 57 Leitfaden von Simmels genetischer Analyse ist dabei, dass ein Werturteil zwar immer auf einem subjektiven Begehren beruht, aber nichtsdestoweniger eine
51 52 53 54 55 56 57
G. Simmel: Philosophie des Geldes, 27. Ebd., 30. Ebd. Ebd., 35, 38. Ebd., 50. Ebd., 48. Ebd., 41.
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eigentümliche »Art von Objektivität« hervorbringt. 58 Anders gesagt, obwohl »die Bedeutsamkeit der Dinge immer eine Bedeutsamkeit für uns und deshalb von unserer Anerkennung abhängig« ist, stehen uns »nach diesen Entwicklungen« die Objekte wie »Macht zu Macht« gegenüber. 59 So entsteht schon hier »eine Welt von Substanzen und Kräften, die durch ihre Eigenschaften bestimmen, ob und inwieweit sie unsere Begehrungen befriedigen, und die Kampf und Mühsal von uns fordern, ehe sie sich uns ergeben«. 60 Die von Simmel skizzierte elementare Struktur der menschlichen Bedürfniswelt macht damit zwar deutlich, dass das »Ich […] die allgemeine Quelle der Werte überhaupt« darstellt. 61 Zugleich zeigt sich aber, dass die Objektivität der Werte nicht trotz, 62 sondern durch ihre subjektive Genese entsteht. 63 Damit ist der Wertbildung jene »Richtung« gegeben, die sie über ihren »subjektiv-personalen Unterbau« und der darin gegebenen elementaren Distanzierung hinaustreibt – in diesem Fall zur wirtschaftlichen Wertform. 64 Obwohl laut Simmel auch in der Wirtschaft »die Begehrung und das Gefühl des Subjekts« die »treibende Kraft« darstellen, genügt die menschliche Bedürfnisstruktur nicht, um die wirtschaftliche Wertform hervorzubringen. 65 Wirtschaftlichen Wert kann es laut Simmel nur im und durch den Tausch geben. Durch die soziale Interaktion des Tausches vollzieht sich in der Wirtschaft auch die Objektivation der Werte. Damit verändert sich deren Konstitution entscheidend: In Anlehnung an den späten Simmel könnte man dies als eine »Achsendrehung« 66 in der Wertbildung bezeichnen – in der Philosophie des
Ebd., 52. Ebd., 48. 60 Ebd. 61 Ebd., 53. Diese Tatsache tritt in Geßners Interpretation zu sehr in den Hintergrund, der zudem den Tausch als Quelle des Wertes bezeichnet (vgl. W. Geßner: Der Schatz im Acker, 75 f.). 62 Schlitte behauptet fälschlicherweise, dass sich die objektive Geltung trotz der subjektiven Genese konstituiert (vgl. A. Schlitte: Die Macht des Geldes, 225 f.; A. Schlitte: »Simmels Philosophie des Geldes und die Folgen«, 145). 63 Auf diesen Zusammenhang weist Geßner nachdrücklich hin (vgl. W. Geßner: Der Schatz im Acker, 72, 92 f., 95). 64 G. Simmel: Philosophie des Geldes, 54 f. 65 Ebd., 56. 66 Vgl. z. B. G. Simmel: Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel [1918], in: GSG 16, 209–425, hier 245. 58 59
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Geldes spricht Simmel noch von einer »Metamorphose« 67 des Wertes der Dinge. Denn die »reinste wirtschaftliche Objektivität« entsteht laut Simmel dadurch, dass die Gegenstände durch den Tausch vollständig »aus der subjektiven Beziehung zur Persönlichkeit« gelöst werden. 68 Damit wird der »Wert der Objekte im objektiven Sinne« 69 geschaffen: »Die Tatsache des wirtschaftlichen Tausches also löst die Dinge von dem Eingeschmolzensein in die bloße Subjektivität der Subjekte und läßt sie, indem sie ihre wirtschaftliche Funktion in ihnen selbst investiert sich gegenseitig bestimmen. Den praktisch wirksamen Wert verleiht dem Gegenstand nicht sein Begehrtwerden allein, sondern das Begehrtwerden eines anderen. Ihn charakterisiert nicht die Beziehung auf das empfindende Subjekt, sondern daß es zu dieser Beziehung erst um den Preis eines Opfers gelangt, während von der anderen Seite gesehen, dieses Opfer als zu genießender Wert, jener selbst aber als Opfer erscheint. Dadurch bekommen die Objekte eine Gegenseitigkeit des Sichaufwiegens, die den Wert in ganz besonderer Weise als eine ihnen selbst objektiv innewohnende Eigenschaft erscheinen läßt.« 70
Der wirtschaftliche Wert erschöpft sich für Simmel weder in der Subjektivität der individuellen Wertschätzung, noch stellt er eine intrinsische Qualität der Dinge dar. Vielmehr wird der Wert im Tausch, so Simmel, »übersubjektiv, überindividuell« und der sich in dieser objektiven Bestimmung äußernde Anspruch auf »Anerkannt- und Bewußtwerden« geht zugleich auch »über die immanente Sachlichkeit der Dinge« hinaus. 71 Die im Tausch ausgebildeten Werte bilden deshalb eine eigene Sphäre, deren Konstitution sich sowohl von den subjektiven Vorstellungen als auch von der empirischen Wirklichkeit unterscheidet. »Die Wirtschaft leitet den Strom der Wertungen durch die Form des Tausches hindurch, gleichsam ein Zwischenreich schaffend«, so Simmel. 72 Er spricht sogar von einem »ideellen Reiche«, das »gleichsam zwischen uns und den Dingen« liegt. 73 Hier wird jene Form von Simmels Relativität sichtbar, deren »allgemeines Prinzip«
67 68 69 70 71 72 73
G. Simmel: Philosophie des Geldes, 138. Ebd., 53. Ebd., 35. Ebd., 56. Ebd., 53, 36, 53. Ebd., 57. Ebd., 37.
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als relationistisch charakterisiert werden kann. 74 Es lautet: »Elemente, deren jedes inhaltlich subjektiv ist, können in der Form ihrer gegenseitigen Beziehung das gewinnen oder darstellen, was wir Objektivität nennen.« 75 In der Form, die der Wert durch den Tausch annimmt, ist die »Grundbeziehung zum Menschen« nur noch »vorausgesetzt«. 76 Die Wirtschaft strebt laut Simmel »einer – nirgends völlig unwirklichen und nirgends völlig verwirklichten – Ausbildungsstufe zu, in der sich die Dinge ihre Wertmaße wie durch einen selbsttätigen Mechanismus gegenseitig bestimmen«. 77 Für Simmel bestätigt die historische Entwicklung die prinzipielle Loslösung der Wertbildung von ihrem subjektiven Ursprung. Die wirtschaftliche Wertform entsteht seiner Ansicht nach zwar »von vornherein als interindividuelles Gebilde« und im Tausch als »unmittelbare Wechselwirkung unter Individuen« bleibt der subjektive Ursprung des Wertes noch sichtbar. 78 Aber, so Simmel, »[d]ie weitere Entwicklung ersetzt nun diese Unmittelbarkeit der wechselwirkenden Kräfte durch die Schaffung höherer überpersönlicher Gebilde«. 79 Eine dieser »reinen Formen« ist das Geld, in dem sich »die Funktion des Tausches […] zu einem für sich bestehenden Gebilde kristallisiert«. 80 Das Geld verkörpert für Simmel den wirtschaftlichen Wert der Dinge, der sich durch ihre Relativität und d. h. hier durch ihre wechselseitige Austauschbarkeit konstituiert. Diese Verselbstständigung der Wertform zu einem unabhängigen kulturellen Gebilde ist eine Voraussetzung für jene Spannungen zwischen subjektiver und objektiver Kultur, deren kritische Analyse Simmel so bekannt machten. Im Zusammenhang mit der Frage nach Simmels Relativismus ist jedoch die »philosophische Bedeutung«, 81 die er dem Geld zuschreibt, entscheidender: Indem das Geld die wirtschaftliche Relativität der Dinge realiter ausdrückt, ist es für Simmel »innerhalb der praktischen Welt die entschiedenste Sichtbarkeit, die deutlichste Wirklichkeit der Formel des allgemeinen Seins […], nach der die Dingen ihren Sinn aneinander finden und die Gegenseitigkeit 74 75 76 77 78 79 80 81
Ebd., 113. Ebd. Ebd., 56. Ebd., 55. Ebd., 209. Ebd. Ebd. Ebd., 93.
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der Verhältnisse, in denen sie schweben, ihr Sein und Sosein ausmacht«. 82 Am Ende der Philosophie des Geldes erklärt er: »Je mehr das Leben der Gesellschaft ein geldwirtschaftliches wird, desto wirksamer und deutlicher prägt sich im bewußten Leben der relativistische Charakter des Seins aus.« 83
III. Das Prinzip der kulturellen Formung. Die Welt der Erkenntnis Für Simmel setzt sich die kulturelle Wirklichkeit des Menschen aus unterschiedlichen theoretischen und praktischen Verhaltensweisen zusammen. Er betrachtet beispielsweise Sprache, Sitte, Recht, Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Literatur, Kunst oder Religion als selbstständige Kulturgebiete. 84 In diesen sedimentiert sich die menschliche Auffassung und Gestaltung der Welt, die für Simmel immer auch symbolischen Charakter hat: »Die Wertung, als ein psychologischer Vorgang, ist ein Stück der natürlichen Welt; das aber, was wir mit ihr meinen, ihr begrifflicher Sinn, ist etwas dieser Welt unabhängig Gegenüberstehendes, und so wenig ein Stück von ihr, daß es vielmehr die ganze Welt ist, von einem besonderen Gesichtspunkt angesehen.« 85 Der an dieser Stelle deutlich werdende Gedanke, dass jede Sphäre der Kultur auf einer bestimmten Art der Formung durch ein vereinheitlichendes Prinzip beruht, prägt Simmels Kulturphilosophie. 86 Der menschliche Weltbezug ist für ihn prinzipiell durch das Medium der Kultur vermittelt. In der Philosophie des Geldes wird der Mensch als ein »indirektes Wesen« definiert, das keinen unmittelbaren Zugang zum Gegebenen hat. 87 Simmel spricht dort von der »eigenartiEbd., 136. Ebd., 716. 84 In Simmels Werken finden sich unterschiedliche Aufzählungen von selbständigen Kulturgebieten. Für eine Übersicht, vgl. W. Geßner: Der Schatz im Acker, 106 f. 85 G. Simmel: Philosophie des Geldes, 24 f. Die symbolische Dimension von Simmels Kulturbegriff wird von Geßner und Schlitte hervorgehoben. Schlitte organisiert ihre in dieser Hinsicht innovative Interpretation der gesamten Kulturphilosophie Simmels um dessen Symbolbegriff (vgl. W. Geßner: Der Schatz im Acker, 99–103; A. Schlitte: Die Macht des Geldes). 86 Darauf weisen auch W. Geßner und A. Schlitte hin (vgl. W. Geßner: Der Schatz im Acker, 107 f.; A. Schlitte: »Simmels Philosophie des Geldes und die Folgen«, 147 f.). 87 G. Simmel: Philosophie des Geldes, 265. 82 83
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gen Organisation unserer weltauffassenden Kategorien« und analysiert deren Charakteristika vor allem anhand der Wirtschaft. 88 In den späteren Schriften rückt der Begriff der ›Welt‹ in den Vordergrund und Simmel entwickelt eine Theorie autonomer Formwelten, die den konstruktivistischen Ansatz seiner Kulturphilosophie unterstreicht. Im zweiten Kapitel der postum publizierten Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel (1918) geht Simmel explizit davon aus, dass sich der Mensch zum Gegebenen wie zu einem Stoff verhält, der zu unterschiedlichen Welten geformt werden kann, ja geformt werden muss. Denn, so Simmel, »in seiner Reinheit« könne der Mensch den »Weltstoff […] nicht ergreifen, vielmehr heißt Ergreifen schon, ihn in eine jener großen, in ihrer vollen Auswirkung je eine Welt bildenden Kategorie einstellen«. 89 Diese These will Simmel nicht nur epistemologisch, sondern auch ontologisch verstanden wissen: »Der in dieser Weise zum Element sehr mannigfacher Welten geformte Stoff ist nicht etwa, weil er ohne solche Formung unergreifbar ist, ein ›Ding an sich‹ ; er ist nichts Transzendentes, das zur Erscheinung würde, indem es erkannt oder gewertet, religiös eingeordnet oder künstlerisch ausgestaltet wird. Sondern in den so bezeichneten Gesamtbildnern ist der Weltstoff jeweils ganz und gar und nicht auf Borg von einer selbstständigeren Existenz her enthalten. Die ›Inhalte‹ haben eine Existenz sui generis. Sie sind weder ›real‹, da sie das ja erst werden, noch eine bloße Abstraktion aus ihren mannigfachen Kategorisiertheiten, da sie nichts Unvollständiges sind, wie der abstrakte Begriff gegenüber dem konkreten Ding, noch haben sie das metaphysische Sein der ›Ideen‹ Platos.« 90
Dennoch haben die »großen Funktionsarten des Geistes« für Simmel ein natürliches Fundament. 91 Insbesondere anhand seiner Erkenntnistheorie kann deutlich gemacht werden, dass die kulturellen Formwelten an die physisch-psychische Organisation des Menschen zurückgebunden werden und damit, zumindest in ihrer Genese, relativ zu dieser sind. 92 In der Philosophie des Geldes wird das Erkennen beiEbd., 622. G. Simmel: Lebensanschauung, 238. 90 Ebd., 239. 91 Ebd., 238. 92 Für eine Auseinandersetzung mit Simmels Erkenntnistheorie im Kontext gegenwärtiger Debatten um einen epistemischen Relativismus vgl. J. Millson: »The Reflexive Relativism of Georg Simmel«; Steizinger: J. Steizinger: »In Defense of Epistemic Relativism«. 88 89
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spielsweise als eine natürliche Funktion bestimmter Lebewesen betrachtet. Mit der Eingliederung der Erkenntnis in die evolutionäre Ausstattung von spezifischen Arten geht eine pragmatische Grundlegung des Wahrheitsbegriffs einher. 93 Das Erkennen betrachtet Simmel als einen »reale[n] Vorgang innerhalb des Organismus«, der praktische Bedeutung für dessen Wechselwirkung mit der Umwelt hat. 94 Er behauptet, dass »wir kein anderes definitives Kriterium für die Wahrheit einer Vorstellung vom Seienden haben, als daß die auf sie hin eingeleiteten Handlungen die erwünschten Konsequenzen ergeben«. 95 Deshalb führt Simmel – wie schon in seinem frühen Aufsatz »Ueber eine Beziehung der Selectionslehre zur Erkenntnistheorie« (1895) – den Wahrheitswert einer Vorstellung auf deren Nützlichkeit für die jeweilige Art zurück. 96 Damit wird ein biologisch bedingter Pluralismus von wahren Erkenntniswelten begründet: »[M]it dem Ehrennamen des Wahren statten wir diejenigen Vorstellungen aus, die, als reale Kräfte oder Bewegungen in uns wirksam, uns zu nützlichem Verhalten veranlassen. Darum gibt es soviel prinzipiell verschiedene Wahrheiten, wie es prinzipiell verschiedene Organisationen und Lebensanforderungen gibt. Dasjenige Sinnenbild, das für das Insekt Wahrheit ist, wäre es offenbar nicht für den Adler; denn eben dasselbe, auf Grund dessen, das Insekt im Zusammenhang seiner inneren und äußeren Konstellation zweckmäßig handelt, würde den Adler im Zusammenhange der seinigen zu ganz unsinnigen und verderblichen Handlungen bewegen.« 97
Für Simmel repräsentiert keine dieser artspezifischen Erkenntniswelten »den außerpsychischen Weltinhalt in seiner an sich seienden Objektivität«. 98 Der »Erfolg« einer Handlung, »die von einem Vorstellungsgebilde geleitet und bestimmt wird«, hängt auch gar nicht vom
Zur Bedeutung pragmatistischer Motive für Simmels philosophische Entwicklung und deren Verhältnis zum amerikanischen Pragmatismus vgl. M. Kusch: »Georg Simmel and Pragmatism«, in: European Journal of Pragmatism and American Philosophy 11 (2019) 1, DOI: 10.4000/ejpap.1490. 94 G. Simmel: Philosophie des Geldes, 102. 95 Ebd., 103. 96 M. Coleman bezieht sich auf diesen frühen Aufsatz, um Simmels erkenntnistheoretischen Ansatz im Kontext der gegenwärtigen evolutionären Erkenntnistheorie zu diskutieren, berücksichtigt jedoch die weitere Entwicklung von dessen Überlegungen nicht (vgl. M. Coleman: »Taking Simmel seriously in evolutionary epistemology«, in: Studies in History and Philosophy of Science Part A 33 (2002) 1, 55–74). 97 G. Simmel: Philosophie des Geldes, 102. 98 Ebd., 101. 93
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»Inhalte dieser Vorstellung« ab. 99 Dennoch sollen die voneinander »völlig abweichende[n] Bilder von derselben Welt« nicht bloß subjektiver Natur sein. 100 Vielmehr »besitzt«, so Simmel, »jedes vorstellende Wesen […] eine prinzipiell festgelegte ›Wahrheit‹, die sein Vorstellen im einzelnen Fall ergreifen oder verfehlen kann«. 101 Die »normative Festigkeit« der artspezifischen Weltbilder wird seines Erachtens durch die Korrelation zwischen der spezifischen physischpsychischen Organisation des Lebewesens und seiner Umwelt gestiftet. 102 Auf dieser Grundlage bestimmt Simmel auch die Entwicklung einer artspezifischen Erkenntniswelt als einen evolutionären Prozess. Denn es steht zwar »ideell fest«, was für ein bestimmtes Lebewesen »Wahrheit ist«, doch erfordert dieses Apriori eine Auswahl unter den realen psychologischen Vorgängen. 103 Der Wahrheitswert von Vorstellungen wird damit zunächst durch natürliche Selektion reguliert. Simmel behauptet: »Da diese [die Wahrheit] die für das Wesen günstigsten Vorstellungen bedeutet, so findet eine Auslese unter seinen psychologischen Vorgängen statt: die nützlichen fixieren sich auf den gewöhnlichen Wegen der Selektion und bilden in ihrer Gesamtheit die ›wahre‹ Vorstellungswelt.« 104 Simmel betont, dass die menschliche Erkenntniswelt »als Ganzes« von dieser pragmatisch-evolutionären Grundlage »getragen« wird. 105 Diese ist damit ein weiteres Beispiel für die genetische Relativität, die auch dem Prozess der Wertbildung zugrunde liegt. Ebenso wie im Falle der wirtschaftlichen Wertform verselbstständigt sich jedoch auch die Konstitution des Wahrheitswertes. Sobald sich eine artspezifische Erkenntniswelt entwickelt hat, tritt das immanente Kriterium der Kohärenz an die Stelle des pragmatischen der Nützlichkeit: »Haben sich nun freilich durch die angedeutete Auslese, d. h. durch die Züchtung gewisser Vorstellungsweisen, diese als die dauernd zweckmäßigen gefestigt, so bilden sie unter sich ein Reich des Theoretischen, das für jede neue auftretende Vorstellung nach jetzt inne-
Ebd. Ebd. 101 Ebd., 102. 102 Ebd. 103 Ebd., 102 f. 104 Ebd., 103. 105 Ebd., 100. 99
100
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ren Kriterien über Zugehörigkeit oder Entgegengesetztheit zu ihm entscheidet«. 106 Wie Geßner überzeugend darlegt, behält Simmel dieses Konzept im Prinzip bis zu seinem letzten Hauptwerk Lebensanschauung bei. 107 Die dortigen Verschiebungen im Vergleich zum Wahrheitsbegriff der Philosophie des Geldes betreffen unterschiedliche Ebenen: Simmel erweitert beispielsweise den Begriff der Nützlichkeit zu dem der »Lebenszweckmäßigkeit«. 108 Damit soll nicht zuletzt »der pragmatistischen Verengung« begegnet werden, den »Sinn und Zweck unserer Bewußtseinsvorgänge ausschließlich in unser Handeln« zu setzen. 109 Simmel will auch Vorgänge wie »[d]as Ausleben einer Kraft, die Realisierung oder auch nur die voll bewußte Klärung innerer Tendenzen, das Sich-Ausdrücken des Seins in Entwicklungen und in der Formung nachgiebiger oder bezwungener Stoffe« als »Werte«, die dem Leben dienen können, verstanden wissen. 110 Zudem wird die biologisch bedingte Variabilität der Weltbilder durch eine geschichtlich-gesellschaftliche ergänzt: »Was einem indischen Yogi und einem Berliner Börsenjobber, was Plato und einem Australneger Wahrheit ist, liegt so unberührbar weit auseinander, daß die Führung dieser Existenzen auf Grund ihres Weltvorstellens undenkbar wäre, wenn nicht für jede von ihnen ›Leben‹ etwas anderes bedeutete, als für die andere, und deshalb für jede eine besondere zu ihr korrelative Erkenntnisbasis forderte.« 111
Diese Hervorhebung der unterschiedlichen Möglichkeiten von wahren Weltbildern innerhalb der Gattung Mensch verweist darauf, dass Ebd., 103. Vgl. W. Geßner: Der Schatz im Acker, 245–249. 108 G. Simmel: Lebensanschauung, 258. Auch Geßner weist darauf hin, dass Simmel in der Lebensanschauung die pragmatische Form des Wahrheitsbegriffs beibehält (W. Geßner: Der Schatz im Acker, 424 f.). In seinem Versuch, Simmels späte Kulturphilosophie als eine Kosmologie zu interpretieren, abstrahiert Amat von der Tatsache, dass Simmel in der Lebensanschauung die pragmatische Grundlage in erweiterter Form beibehält. Deshalb erscheint ihm Simmels Kulturphilosophie fälschlicherweise als »eine Art historisierter Platonismus« (M. Amat: »Kulturphilosophie als Kosmologie«, 265). Auch in seiner Auseinandersetzung mit Simmels Relativismus als eines metaphilosophischen Prinzips, das alle Aspekte seiner Philosophie prägt, beachtet Amat die pragmatische Dimension nicht (vgl. M. Amat: »Relativism. A Theoretical and Practical Philosophical Program«). 109 G. Simmel: Lebensanschauung, 257. 110 Ebd., 257 f. 111 Ebd., 257. 106 107
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Simmel in der Lebensanschauung überhaupt die »Distanz […] zwischen der physiologischen Gegebenheit des menschlichen Organismus und seinem praktischen Verhalten« betont. 112 Der Mensch wird nun schon auf der pragmatischen Ebene der Lebenszweckmäßigkeit durch ein gewisses Maß an Freiheit charakterisiert. 113 Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die Konstitution der lebensimmanenten Formen als ein Prozess der Auswahl aus einem Reservoir von Möglichkeiten bestimmt wird. Am Beispiel des »praktisch empirischen Sehens« erklärt Simmel: »Unsere Formung der Anschauungswelt geschieht also nicht nur durch benennbare physisch-psychologische Aprioritäten, sondern fortwährend in negativer Weise. Das Material unserer Anschauungswelt ist also nicht dasjenige, das wirklich da ist, sondern der Rest, der nach dem Fortfall unzähliger möglicher Bestandteile übrigbleibt – was denn freilich die Formungen, die Zusammenhänge, die Einheitsbildungen des Ganzen in sehr positiver Weise bestimmt.« 114
Schließlich wird die Verselbstständigung der überindividuellen Gebilde zu autonomen Formen als »Achsendrehung des Lebens um sie herum« interpretiert. 115 Simmel fasst den Objektivierungsprozess damit als Herauslösung der Formen aus der »vitalen Zweckmäßigkeit« und Umschlagen »in ihre ideale Geltung«. 116 Für Simmel sind Formen wie beispielsweise das Erkennen zunächst »Erzeugnisse des Lebens, wie all seine anderen Erscheinungen, seinem kontinuierlichen Lauf eingeordnet und dienend. Und nun geschieht die große Wendung, mit der uns die Reiche der Idee entstehen: die Formen oder Funktionen, die das Leben um seiner selbst willen, aus seiner eigenen Dynamik hervorgetrieben hat, werden derart selbstständig und definitiv, daß umgekehrt das Leben ihnen dient, seine Inhalte in sie einordnet«. 117
Diese »Wendung«, mit der die autonomen Formen »sich erheben«, begründet auch den weltbildenden Charakter der so entstehenden Kulturgebiete. 118 Dies zeigt sich beispielsweise an der »Achsendrehung« vom lebensimmanenten Erkennen zur Wissenschaft, die 112 113 114 115 116 117 118
Ebd., 248. Vgl. ebd., 248–250. Ebd., 269. Ebd., 245. Ebd. Ebd., 244 f. Ebd., 247.
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»die Bestimmungsgründe der Erkenntnisbilder aus den Inhalten und ihrer Bedeutung für das Leben heraus und in die Erkenntnisformen selbst hineinverlegt«. 119 Als Wissenschaft wird der »Umkreis des Wahren« für Simmel insofern »völlig autonom«, als dass die Erkenntnisformen »nun ihrerseits eine Welt bestimmen, daß die Inhalte nun in diese Welt aufgenommen werden, um deren Formen zu genügen«. 120 Simmel betont am Beispiel der Wissenschaft die Radikalität dieser Wendung, die in der Überwindung der genetischen Relativität der jeweiligen kulturellen Form besteht: »In welchen Lebensbeziehungen und im Dienste welcher historischen Zwecke indes auch die (im weitesten Sinne) logischen und methodischen Formen entstanden sein mögen: das Entscheidende ist, daß sie nun in reiner, jede weitere Legitimierung abweisender Selbstherrschaft sich ihren Gegenstand – als Inhalt der Wissenschaft – selbst schaffen.« 121 In der Lebensanschauung dient das Konzept der Achsendrehung dazu, die subjektive Genese einer kulturellen Form mit ihrer objektiven Geltung zu vermitteln. Zum einen werden die autonomen Formwelten damit nämlich als im Leben »verwurzelt« vorgestellt. 122 Dieses bildet »um seiner selbst willen« bestimmte »Formen oder Funktionen« aus, die »Embryonalstadien« der emanzipierten Kulturformen darstellen. 123 Zum anderen werden jene lebensimmanenten Formen durch die Achsendrehung autonome Gebilde, die »dem Leben gegenüber objektiv« sind. 124 Die »einmal geschaffenen Gebilde« haben für Simmel »einen selbstgenugsamen, von innen her zusammengehaltenen Bestand«, der sie unabhängig macht, nicht zuletzt von »dem seelischen Leben, aus dem sie gekommen sind«. 125 Im Unterschied zu ihren vitalen Vorformen, die der Zweckmäßigkeit des Lebens unterworfen sind, entwickeln die vollständig emanzipierten Kulturformen eine vom Leben unabhängige, autonome Logik. Mehr noch, die ihnen zugrunde liegende »Idee« zieht, so Simmel »ihren Sinn und ihr Recht gerade daraus […], daß sie das Andere des Lebens Ebd., 261, 265. Ebd., 263. 121 Ebd., 264. 122 Ebd., 244. 123 Ebd., 244, 244, 256. 124 Ebd., 255 f. 125 Ebd., 238. Simmel hebt an dieser Stelle auch hervor, dass die kulturellen Gebilde unabhängig davon sind, »ob und wie oft sie von Individuen aufgenommen und seelisch nachrealisiert werden« (ebd.). 119 120
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ist«. 126 Nichtsdestoweniger müssen die »prinzipiell fertigen Welten […] wieder in das Leben zurücktauchen können«. 127 Dieser Zusammenhang zeigt sich auch daran, dass sich die ideellen Gebilde realiter »in unmerklichen Übergängen aus den nicht ideellen« erheben – ein Prozess, den wir jedoch nicht nachvollziehen könnten, wie Simmel betont. 128 Das allmähliche »Erwachsen von ›Welten‹« ändert laut Simmel zudem nichts am prinzipiellen Unterschied zwischen der »Form des Lebens« und der »Form eigenweltlicher Idealität«. 129 Die Annahme, dass die »Wirklichkeit« eine »Kontinuität« zwischen den »beiden Kategorien« stiftet, »ihrem Wesen nach durch eine absolute Schwelle geschieden sind«, verdeutlicht Simmels Versuch zwei Forderungen Genüge zu tun: der Verankerung der Formen im Leben und ihrer Emanzipation von diesem. 130
IV. Das Pluriversum der Kultur und die Dialektik des Lebens Der »theoretische Kosmos der Wissenschaft« ist für Simmel jedoch nur ein Beispiel einer solchen »ideozentrische[n] Einstellung«, in der »die Gesamtheit des […] Gegebenen in eine Einheit« gefasst wird. 131 Da »aus dem gleichen Material mannigfaltige Welten« geschaffen werden können, entsteht eine Pluralität kultureller Formen. 132 Bezüglich deren Verhältnis zueinander nimmt Simmel eine radikale Position ein: Die unterschiedlichen Welten schließen sich gegenseitig aus, sie sind, so Simmel, »keiner Mischung, keines Übergreifens, keiner Kreuzung fähig, da jede ja schon den ganzen Weltstoff in ihrer besonderen Sprache aussagt«. 133 Zudem bestimmt Simmel ihre jeweilige Auffassung des Gegebenen als gleichwertig. Die autonomen Formwelten wie zum Beispiel Wissenschaft, Kunst oder auch »die sogenannte wirkliche Welt« stehen »ontologisch auf derselben Stufe«. 134 Ebd., 284. Ebd., 289. 128 Ebd., 245. 129 Ebd., 255, 244, 244. 130 Ebd., 255. 131 Ebd., 265, 262, 288. 132 Ebd., 288. 133 Ebd., 238. Ein von einer Welt geformter Inhalt kann jedoch Stoff einer anderen kulturellen Formung werden. 134 Ebd., 240, 242. Simmel behauptet, dass man »Welt nicht von vornherein als wirk126 127
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Damit wird mehr und mehr deutlich, dass ihr Verhältnis zueinander als relativistisch bestimmt werden kann. Dies zeigt sich nicht zuletzt am »irreduzibel perspektivische[n] Charakter der kulturellen Formen«. 135 Für Simmel stellen die jeweiligen Formwelten auch unterschiedliche Standpunkte dar, aus deren Perspektive das Gegebene auf verschiedene Weise erscheint. Die Richtigkeit einer Vorstellung konstituiert sich dabei nach immanenten Kriterien der jeweiligen Formwelt. Simmel betont explizit, dass sich die Gesetze der künstlerischen Wahrheit von den Gesetzen der wissenschaftlichen Wahrheit ebenso unterscheiden wie von denen der Wahrheit der empirischen Praxis. 136 Diese unterschiedlichen Perspektiven können weder gemeinsam realisiert werden, noch gibt es einen Blick von nirgendwo. Für Simmel heißt Gegebensein immer schon Geformtsein und damit unter einer bestimmten Perspektive erscheinen. 137 Die Relativität der etablierten kulturellen Formwelten beschränkt sich jedoch nicht nur auf ihr Verhältnis zueinander. Vielmehr ist Simmel davon überzeugt, dass keine dieser Welten in ihrer Totalität realisiert werden kann. Denn, so Simmel, nur »rein ideell gesehen kann kein Inhalt sich dem entziehen, sich erkennen zu lassen, künstlerische Formung anzunehmen, religiös ausgewertet zu werden«. 138 Aber faktisch »existiert nicht Erkenntnis schlechthin, Kunst schlechthin, Religion schlechthin. […] Es existiert immer nur eine historische, d. h. eine jeweils in ihren Ausdrucksmöglichkeiten, Stilbesonderheiten bedingte Kunst; eine solche aber kann ersichtlich nicht jedem der unbegrenzt vielen Weltinhalte Unterkunft gewähren«. 139 Das Fassungsvermögen der kulturellen Formwelten wird damit durch ihre Historizität beschränkt. Nur prinzipiell, d. h. für Sim-
liche Welt verstehen darf, Welt vielmehr als die ganz allgemeine Form gilt, von der ›Wirklichkeit‹ eine spezielle Determinierung ist« (ebd., 241). 135 W. Geßner: Der Schatz im Acker, 103. Zur Perspektivität der kulturellen Formen vgl. ebd., 103–110. 136 Vgl. G. Simmel: Hauptprobleme der Philosophie [1910], in: GSG 14, 7–157, hier 38. 137 In der Lebensanschauung erklärt Simmel: »Wie ein Stück physischer Materie in beliebig vielen Formen erscheint, ohne irgend eine aber nicht existieren kann, und der Begriff seines reinen, formfreien Materie-Seins eine zwar logisch gerechtfertigte, aber in keiner Art von Anschauung vollziehbare Abstraktion ist – so etwa verhält sich das, was ich den Stoff der Welten nenne« (G. Simmel: Lebensanschauung, 239). 138 Ebd., 238. 139 Ebd., 240.
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mel in diesem Zusammenhang nur potentiell, »kann die Welttotalität nach einer besonderen Formel dargestellt werden«. 140 Deren konkrete Verkörperungen bleiben gegenüber der möglichen Totalität der Repräsentation stets fragmentarisch. Die »absolute, jeder Aufgabe überhaupt gewachsene Vollendung« einer Form »fehlt uns«, weil diese notwendigerweise in einem historischen Kontext auftritt und der historischen Entwicklung unterworfen ist. 141 Die konkrete Gestalt der kulturellen Formwelten ist deshalb historisch kontingent. Dieser Gedanke der Kontingenz spielt aber nicht nur für das Verhältnis von Ideal und Wirklichkeit eine entscheidende Rolle. In der Lebensanschauung stellt sich Simmel darüber hinaus die Frage, ob die Prinzipien selbst, d. h. ihre ideellen Formen, kontingent sind. Da er den verfügbaren Kategorisierungen keine Notwendigkeit zuspricht, zeigt sich, wie wichtig diese Form von Relativität auch für seine späte Kulturtheorie ist. Für Simmel scheint es prinzipiell vorstellbar zu sein, dass sich die menschliche Kultur aus anderen Formwelten als den gegebenen zusammensetzt. Kurz gesagt, nicht nur, welche Kunst wir haben, sondern auch dass wir Kunst haben, erweist sich als kontingent. Denn Simmels Antwort auf die Frage nach dem Status der Prinzipien lautet: »Nun mag man behaupten: nicht nur die Darstellungen und Auslebungen der Prinzipien Kunst, Religion, Wert usw. seien durch historische Zufälligkeit bedingt, sondern daß diese Prinzipien auch in ihrer größten Allgemeinheit und übersingulären Idealität überhaupt bestünden, sei der historischen Entwicklung der Menschheit zuzuschreiben; es sei schließlich in höherem Sinne ein Zufall und eine bloße Faktizität unserer geistigen Einrichtung, daß jene Kategorien und nicht ganz andere bestehen und Welten bilden; […] Gibt man diese These, ohne in ihre metaphysische Diskussion einzutreten, zu, so ist damit das hier Durchzuführende keineswegs bedroht. Denn es handelt sich nur darum, daß diese Welten ideell bestehen, notwendig oder nicht, und daß sie, als Welten, der der Wirklichkeit koordiniert sind. Behauptet man ihre Zufälligkeit, so muß man auch für die Wirklichkeit eben dieselbe zugeben. Auch daß wir mögliche Inhalte in die Form der Wirklichkeit fassen, ist nicht als notwendig zu erweisen: es gibt tatsächlich träumerische ›wirklichkeitsfremde‹ Menschen, vor denen die Inhalte des
Ebd., 244. G. Simmel: Hauptprobleme, 21. Am Beispiel der philosophischen Weltbilder macht Simmel deutlich, dass eine absolut vollständige Welt nur von einem »göttliche[n] Geist« (ebd., 36) geformt werden könnte – eine Perspektive, die dem Menschen prinzipiell verschlossen ist.
140 141
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Daseins als bloße Bilder schweben und die den Begriff Wirklichkeit nie recht erfassen.« 142
In der Lebensanschauung stellt die Theorie der autonomen Formwelten nur eine Seite einer umfassenden Dialektik des Lebens dar. Simmels Hinwendung zum Lebensbegriff steht dabei deutlich im Zeichen des Versuches, seiner Kulturtheorie ein metaphysisches Fundament zu unterlegen. Die Herausbildung autonomer Formen der Kultur wird nun als »Objektivwerden des Lebens« selbst bestimmt. 143 Damit wird der Kulturprozess in eine buchstäblich metaphysische Dynamik integriert. Als geistiges »kann« das Leben, wie Simmel betont, »gar nicht anders, als sich in irgendwelchen Formen dartun« und damit das andere seiner selbst hervorbringen. 144 In seiner Formwerdung »offenbart« sich das Leben »als der kontinuierliche Prozeß des Sich-übersich-selbst-Erhebens«. 145 Diese »Lebenstranszendenz« betrachtet Simmel als »die wahre Absolutheit«. 146 »Absolut« ist das Leben aus dieser Perspektive, weil es »sich selbst im relativen Sinne und seinen Gegensatz, zu dem es und der zu ihm eben relativ ist, einschließt, oder sich zu ihnen als seinen empirischen Phänomenen auseinanderfaltet«. 147 Obwohl »das Leben in dem absoluten Sinne« als ein übergreifendes Prinzip konzipiert ist, werden die beiden Pole nicht in einer übergeordneten Einheit aufgehoben. 148 Simmels Lebensbegriff ist damit von einer Paradoxie gekennzeichnet: Im Falle des Lebens stellt dessen »Sich-Steigern und stetige[s] Sich-Verlassen gerade die Art seiner Einheit, seines In-Sich-Bleibens« dar. 149 Diese paradoxe Vorstellung einer immanenten Transzendenz des Lebens konstituiert auch deren dialektischen Charakter. Leben heißt für Simmel immer Leben und Form, d. h. die Wechselwirkung zwischen genuin widerstreitenden Prinzipien, die unaufhebbar konflikthaft sind und nicht miteinander versöhnt werden können. Das Leben wird als ein prinzipiell offener Prozess vorgestellt, in dem die »Dialektik gleichsam ›auf Dauer gestellt‹ ist«, wie Geßner zutreffend er-
142 143 144 145 146 147 148 149
G. Simmel: Lebensanschauung, 242. Ebd., 296. Ebd., 230. Ebd., 225. Ebd., 224. Ebd., 228. Ebd. Ebd., 225.
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klärt. 150 In Anlehnung an eine Stelle aus der Philosophie des Geldes könnte man deshalb auch formulieren: Obwohl das Leben im »absoluten Sinne« nicht in derselben Weise relativ ist wie seine dialektischen Pole Leben und Form, so ist es doch nichts anderes als deren Relativität. 151 Damit wird deutlich, dass Simmel auch hier eine relationistische Auffassung des Absoluten vertritt. Es gibt für Simmel kein absolutes Prinzip, das alle anderen Prinzipien aufhebt. Schon in der dritten Auflage seines Buches über Kant und Goethe von 1916 erklärt Simmel, dass er mit dem Begriff des Lebens seiner »in den Prinzipien pluralistischen Anschauungsweise« eine »tiefere Begründung« geben könnte. 152 Dieser Aufgabe wird er sich vor allem in der Lebensanschauung widmen. Dort steht der Lebensbegriff als kulturtheoretisches Prinzip für den endlosen Prozess der Hervorbringung und Wiederauflösung von Absolutheiten. Denn auch als einen solchen »fortwährenden Wandel« charakterisiert Simmel den »geschichtlichen Kulturprozess«, der durch die »Dynamik des Lebens« bewirkt wird: »In relativistischem Prozeß erhebt sich über das subjektiv psychologischen Geschehen die von ihm unabhängige objektive Gestalt und Wahrheit, Norm und Absolutheit – bis auch sie wieder als subjektiv erkannt wird, weil eine höhere Objektivität entwickelt ist, und so fort in die Unabsehlichkeit des Kulturprozesses.« 153 Indem Simmel die Bewegungsform des »geistige[n] Leben[s]« 154 auf diese Weise bestimmt, bleibt er der ontologischen Hauptthese der Philosophie des Geldes im Grunde treu: Als »Dialektik ohne Versöhnung« 155 konzipiert, drückt auch die Metaphysik des Lebens den »relativistischen
150 W. Geßner: Der Schatz im Acker, 272. Geßner hebt zurecht hervor, dass für Simmel die Tragik des Lebens darin besteht, dass der Konflikt keine Lösung finden kann. 151 G. Simmel: Lebensanschauung, 228. In der Philosophie des Geldes heißt es: »So sind die Normen […] nichts als die Arten und Formen der Relativität selbst, die sich zwischen den Einzelheiten der Wirklichkeit, sie gestaltend, entwickeln. Sie sind selbst nicht in demselben Sinne relativ, wie die ihnen untertanen Einzelheiten, da sie deren Relativität selbst sind.« (G. Simmel: Philosophie des Geldes, 124) 152 G. Simmel: Kant und Goethe [1906], in: GSG 10, 119–166, hier 165. 153 Ebd., 184, 184, 352, 296. 154 Ebd., 296. 155 M. Landmann: »Einleitung des Herausgebers«, in: G. Simmel: Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse, hg. von M. Landmann [1968]. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1987 (Neuausgabe), 7–29, hier 16.
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Georg Simmels Bekenntnis zum Relativismus
Charakter des Seins« 156 aus, d. h. seine Auflösung in Bewegung, Relation und Wandel.
V.
Fazit. Ist Simmel aus heutiger Sicht ein Relativist?
Die Auseinandersetzung mit den Hauptmotiven von Simmels Kulturphilosophie führt zu einem klaren Ergebnis: Verschiedene Formen von Relativität bilden die Grundlage seiner Neubestimmung der »Weltstellung des Menschen«. 157 Das »relativistische Weltbild«, zu dem sich Simmel seit der Philosophie des Geldes bekennt, kann wie folgt zusammengefasst werden: Für Simmel ist der Mensch ein Kulturwesen, dessen Welt- und Selbstbezug prinzipiell durch das Medium der Kultur vermittelt ist. Deren konkrete Formen werden auf verschiedene Instanzen hin relativiert. Die physisch-psychologische Ausstattung des Menschen fungiert als Bedingung und die Geschichte als Kontext der kulturellen Gebilde. Letztere begreift Simmel als vom Menschen hervorgebrachte Welten, die kontingent, perspektivisch und inkommensurabel sind – ein konstruktivistischer Ansatz. Das »individuell gelebte Leben« sieht Simmel in einem »eigentümlichen Verhältnis« zu diesem Pluriversum der Kultur. 158 Auch in dieser Hinsicht spricht er von einem »Fragmentcharakter des Lebens« und behauptet, dass »jeder Bewußtseinsvorgang seinem Inhalt und Sinne nach in eine dieser Welten« gehört. 159 Damit wird aber auch der Status der »erlebten seelischen Inhalte« abhängig von der jeweiligen kulturellen Formwelt. 160 Ob beispielsweise eine individuell geäußerte Meinung als wahr oder falsch zu betrachten ist, hängt von der Erkenntniswelt ab, zu der jene gehört. Diese Art der Zuweisung des Wahrheitswertes soll gerade seine Objektivität begründen. Simmel betont anhand von unterschiedlichen Beispielen, dass sich die Objektivität eines Wertes durch die Relation der Elemente einer kulturellen Formwelt zueinander konstituiert. Diese werden als autonome und autarke Entitäten vorgestellt, die jedoch nicht in der Luft schweben. 161 Vielmehr entstehen sie auf einer evolutionären Grund156 157 158 159 160 161
G. Simmel: Philosophie des Geldes, 716. Ebd., 264; ebenso G. Simmel: Lebensanschauung, 212. G. Simmel: Lebensanschauung, 243. Ebd. Ebd. Simmel erklärt: »Wir erblicken in jedem dieser Bezirke eine innere, sachliche
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lage, deren pragmatische Kriterien ihre Etablierung reguliert. Mit dieser genetischen Rückbindung ist der Möglichkeit der Weltbildung jedoch auch eine funktionale Grenze gesetzt: Kulturelle Gebilde können nur auf der Grundlage von Formen entstehen, »die sich als Förderungen der Lebensentfaltung« bewährt haben. 162 Nicht zuletzt aufgrund dieser Einschränkung stellt sich die Frage, wie Simmels Bekenntnis zum Relativismus aus heutiger Sicht zu beurteilen ist. Zunächst fällt ins Auge, dass Simmels kulturphilosophische Position starke Ähnlichkeiten mit den Formen jenes conceptual relativism 163 aufweist, der Autoren wie Nelson Goodman oder Richard Rorty zugeschrieben wird. 164 Insbesondere teilt Simmel deren antirealistische Stoßrichtung, d. h. er negiert die Möglichkeit eines Blicks von nirgendwo und lehnt die Korrespondenztheorie ab. 165 Er ist zudem davon überzeugt, dass dem Menschen das Sein nur vermittels jener Pluralität von kulturellen Welten gegeben ist, die er selbst formt. Dieser Perspektivismus hat einen globalen Anspruch, d. h. er schließt alle Gegenstände ein. In Anlehnung an den bekannten Homo-Mensura-Satz könnte man das Prinzip von Simmels Kulturphilosophie wie folgt zusammenfassen: Für Simmel ist der Mensch das Maß seiner Dinge. Andere sind ihm nicht zugänglich. Darüber hinaus ist eine der jüngsten Weiterentwicklungen des konzeptuellen Relativismus von einem Motiv getragen, das auch für Simmels Kulturtheorie eine wesentliche Rolle spielt. 166 Carol Rovane Logik, die zwar Spielraum für große Mannigfaltigkeiten und Gegensätze gibt, aber doch auch den schöpferischen Geist an ihre objektive Gültigkeit bindet.« (Ebd., 238) 162 Ebd., 259. 163 Vgl. M. Baghramian: Relativism. Routledge: New York NY 2004, 212–244. »The starting point of conceptual relativism is the philosophical position that the world does not come ready-made or ready-carved; rather, we divide it into various categories and kinds by applying a conceptual scheme or categorical framework.« (Ebd., 212) 164 Auf die Ähnlichkeit zu Rorty weist schon Boudon hin (vgl. R. Boudon: »Die Erkenntnistheorie in Georg Simmels Philosophie des Geldes«, 118). 165 Über die Gemeinsamkeiten der Harvard Relativists, zu denen neben Goodman und Rorty auch William James und Hilary Putnam zählen, schreibt Baghramian: »What all these philosophers have in common is their insistence that there are no facts of the matter independent of the scheme in which the ›facts‹ are represented. ›What there is‹ becomes our world by the interpretive acts of the human mind, throught the application of conceptual schemes, belief networks, worldviews, etc. The world does not come to us ready-made, even though ›what there is‹ may be, and probably, is, there independently of our worldmaking.« (M. Baghramian: Relativism, 243) 166 Rovane sieht das von ihr stark gemachte Motiv der Alternativität explizit in Goodmans vielen Welten-Theorie und der Diskussion um »conceptual schemes« präfor-
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Georg Simmels Bekenntnis zum Relativismus
versucht für den Bereich der Ethik eine konsistente relativistische Position zu formulieren, die sie als Alternative zu gegenwärtigen Standardtheorien einführt. 167 Im Zentrum von Rovanes metaphysischer Konzeption steht der Gedanke, dass die Träger von Wahrheitswerten in unterschiedlichen Welten leben können, die keinerlei logische Relationen zueinander haben. Die normative Geschlossenheit dieser Welten – Rovane spricht von »normative insularity« – macht es möglich, dass Urteile, die sich in einer Welt widersprechen würden, zu unvereinbaren Alternativen inkommensurabler Welten werden. 168 Für Rovane motiviert die Existenz von »truths that cannot be embraced together« eine relativistische Position, die auf der metaphysischen Überzeugung beruht, dass es innerhalb eines Bereiches – in ihrem Falle der Ethik – viele in sich geschlossene Welten mit einer eigenen Logik gibt. 169 Rovane legt außerdem großen Wert darauf, dass es für ihr metaphysisches Konzept sich gegenseitig ausschließender Welten eine naturalistische Grundlage geben kann. 170 Gestützt auf Noam Chomskys allgemeine These, dass alle Fähigkeiten ebenso begrenzend wie ermöglichend sind, formuliert sie die Möglichkeit eines biologisch bedingten Pluralismus, nicht zuletzt von Erkenntniswelten. 171 Aus der Perspektive dieser metaphysischen Debatte ist sowohl Simmels Theorie kultureller Formwelten als auch deren evolutionärpragmatische Grundlage von relativistischen Motiven geprägt – trotz der offensichtlichen Unterschiede zu Rovanes Konzeption im Allgemeinen. Denn Simmel fasst die unterschiedlichen Bereiche der miert (C. Rovane: »Relativism Requires Alternatives, Not Disagreement or Relative Truth«, in: S. D. Hales (Hg.): A Companion to Relativism. Wiley-Blackwell: Malden MA/Oxford UK 2011, 31–52, hier 34). Die von Baghramian unter dem Label conceptual relativists diskutierten Philosophen sahen sich selbst nicht als Relativisten, sondern höchstens als Pluralisten (vgl. M. Baghramian: Relativism, 243 f.). 167 Darauf verweist schon der Titel des Aufsatzes, auf den sich meine kurze Darstellung von Rovanes Ansatz stützt (vgl. C. Rovane: »Relativism Requires Alternatives«). Eine ausführliche Darstellung ihres moralischen Relativismus findet sich in C. Rovane: The Metaphysics and Ethics of Relativism. Harvard University Press: Cambridge MA/London 2013. 168 Rovane: »Relativism Requires Alternatives«, 37. 169 Ebd., 39. 170 Rovane geht es damit um die Möglichkeit einer realistischen Grundlegung ihrer relativistischen Position. Sie betont jedoch, dass eine anti-realistische Grundlegung ihres moralischen Relativismus näherliegt (vgl. ebd., 47 f.). 171 Ebd., 39.
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Kultur wie Wissenschaft, Kunst oder Religion in abstrakter Weise als inkommensurable Welten mit eigener Logik auf, ohne auf deren konkrete Gestalten einzugehen. Aufgrund der Nähe zum konzeptuellen Relativismus liegt der Schluss nahe Simmels Bekenntnis zum Relativismus aus heutiger Sicht ernst zu nehmen. Sein philosophisches Werk enthält Motive, die in gegenwärtigen Debatten um den Relativismus eine wichtige Rolle spielen. Es wäre deshalb sinnvoll, Simmels immer wieder neu ansetzende Reflexionen in systematischen Kontexten zu berücksichtigen, um die Potentiale und Grenzen seines relativistischen Standpunkts auszuleuchten – auch in Kontexten in denen die Zuordnung seiner Überlegungen nicht so eindeutig ist wie im Falle der metaphysischen Debatte um den Begriff der Welt. 172 Darüber hinaus zeigt Simmels Ausarbeitung einer relativistischen Position in der Philosophie, dass die Geschichte dieses Begriffs komplexer ist, als oft angenommen wird: der Relativismus war nicht nur das Schreckgespenst der modernen Philosophie, sondern konnte auch einen positiven Bezugspunkt darstellen, zumindest in Ausnahmefällen. 173
Literatur Amat, Matthieu: »Kulturphilosophie als Kosmologie. Das Beispiel Georg Simmels«, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 9 (2015) 1/2, 257–269. Amat, Matthieu: »Relativism. A Theoretical and Practical Philosophical Program«, in: G. Fitzi (Hg.): The Routledge International Handbook of Simmel Studies. London/New York NY, i. E. Baghramian, Maria: Relativism. Routledge: New York NY 2004. Boudon, Raymond: »Die Erkenntnistheorie in Georg Simmels ›Philosophie des Geldes‹«, in: Jeff Kintzelé und Peter Schneider (Hg.): Georg Simmels Philosophie des Geldes. Hain: Frankfurt a. M. 1993, 113–142. Coleman, Martin: »Taking Simmel seriously in evolutionary epistemology«, in: Studies in History and Philosophy of Science Part A 33 (2002) 1, 55–74.
Es ist beispielsweise unklar, ob man Simmel aus heutiger Perspektive als einen epistemischen Relativisten bezeichnen kann. Zu dieser Debatte vgl. J. Millson: »The Reflexive Relativism of Georg Simmel«; Steizinger: J. Steizinger: »In Defense of Epistemic Relativism«; M. Kusch: »Simmel and Mannheim«. 173 Ich danke Martin Kusch, Paul Ziche, Gerald Hartung und den TeilnehmerInnen an einer Konferenz in Wuppertal im September 2018 für kritisches Feedback. Forschungsarbeiten, die in diesen Aufsatz einflossen, wurden durch das ERC (Grant 339382 The Emergence of Relativism) gefördert. 172
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Georg Simmels Bekenntnis zum Relativismus Dilthey, Wilhelm: »Die Kultur der Gegenwart und die Philosophie« [1898], in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 8: Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie [1931], hg. von Bernhard Groethuysen. B. G. Teubner: Stuttgart; Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen 31962, 190–205. Dilthey, Wilhelm: Brief an Edmund Husserl, 29. Juni 1911, in: Frithjof Rodi und Hans-Ulrich Lessing (Hg.): Materialien zur Philosophie Wilhelm Diltheys. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1984, 110–114. Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe und Ausdrücke. Mittler: Berlin 1899. Fitzi, Gregor: Soziale Erfahrung und Lebensphilosophie. Georg Simmels Beziehung zu Henri Bergson. UVK-Verlags-Gesellschaft: Konstanz 2002. Geßner, Willfried: Der Schatz im Acker. Georg Simmels Philosophie der Kultur. Velbrück Wissenschaft: Weilerswist 2003. Husserl, Edmund: Philosophie als strenge Wissenschaft. Meiner: Hamburg 2009. Köhnke, Klaus Christian: Der junge Simmel in Theoriebeziehungen und sozialen Bewegungen. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1996. Kusch, Martin: »Simmel and Mannheim on the Sociology of Philosophy, Historicism and Relativism«, in: Martin Kusch, Katherina Kinzel, Johannes Steizinger und Niels Wildschut (Hg.): The Emergence of Relativism. German Thought from Herder to National Socialism. Routledge: London/New York NY 2019, 165–180. Kusch, Martin: »Georg Simmel and Pragmatism«, in: European Journal of Pragmatism and American Philosophy 11 (2019) 1, DOI: 10.4000/ejpap.1490. Kusch, Martin: »From Völkerpsychologie to Sociology of Knowledge«, in: HOPOS 9/2 (2015), 250–274, DOI: 10.1086/704105. Landmann, Michael: »Einleitung des Herausgebers«, in: Georg Simmel: Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse, hg. von Michael Landmann [1968]. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1987 (Neuausgabe), 7–29. Millson, Jared: »The Reflexive Relativism of Georg Simmel«, in: The Journal of Speculative Philosophy 23 (2009) 3, 180–207. Rodi, Frithjof und Lessing, Hans-Ulrich (Hg.): Materialien zur Philosophie Wilhelm Diltheys. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1984. Rovane, Carol: »Relativism Requires Alternatives, Not Disagreement or Relative Truth«, in: Steven D. Hales (Hg.): A Companion to Relativism. WileyBlackwell: Malden MA/Oxford UK 2011, 31–52. Rovane, Carol: The Metaphysics and Ethics of Relativism. Harvard University Press: Cambridge MA/London 2013. Schlitte, Annika: Die Macht des Geldes und die Symbolik der Kultur. Georg Simmels Philosophie des Geldes. Fink: München 2012. Schlitte, Annika: »Simmels Philosophie des Geldes und die Folgen«, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 9 (2015) 1/2, 143–157. Schnädelbach, Herbert: Philosophie in Deutschland 1831–1933. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1983. Simmel, Georg: Gesamtausgabe, hg. von Otthein Rammstedt. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1989–2015 (= GSG).
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Johannes Steizinger Simmel, Georg: »Vorwort zu dem ersten Neudruck (von 1904)«, in: ders.: Einleitung in die Moralwissenschaft. Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe. Erster Band [1892], in: GSG 3, 9. Simmel, Georg: Philosophie des Geldes [1900], in: GA 6, 7–716. Simmel, Georg: Kant und Goethe [1906], in: GSG 10, 119–166. Simmel, Georg: Hauptprobleme der Philosophie [1910], in: GSG 14, 7–157. Simmel, Georg: Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel [1918], in: GSG 16, 209–425. Simmel, Georg: Brief an Heinrich Rickert, 27. Februar 1904, in: GSG 22, 471– 473. Simmel, Georg: Brief an Heinrich Rickert, 10. Mai 1898, in: GSG 22, 291 f. Simmel, Georg: »Anfang einer unvollendeten Selbstdarstellung«, in: Kurt Gassen und Michael Landmann (Hg.): Buch des Dankes an Georg Simmel. Briefe, Erinnerungen, Bibliographie. Zu seinem 100. Geburtstag am 1. März 1958 [1958]. Duncker & Humblot: Berlin 21993, 9 f. Steizinger, Johannes: »In Defense of Epistemic Relativism: The Concept of Truth in Georg Simmel’s Philosophy of Money«, in: Proceedings of the 38th International Wittgenstein-Symposium, Contributions of the Austrian Wittgenstein Society 23 (2015), 300–302.
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Die Relativität des Seins. Zur Grundstruktur von Simmels Relativismus Tim-Florian Steinbach
Schon zu Lebzeiten Simmels fallen Selbst- und Fremdwahrnehmung auseinander: auf der einen Seite das Engagement des jungen Simmel für die Soziologie, das sich zwar früh erschöpft, ihm aber dennoch unablässig den Ruf eines Soziologen hinterherträgt, auf der anderen Seite von Beginn an der Weg durch die Fachwissenschaft Philosophie und der nahezu ein Leben lang andauernde Versuch, sich in dieser zu etablieren. Wenngleich diese Diskrepanz die Rezeption der Schriften Simmels noch lange Zeit begleiten wird, 1 gibt es doch frühe Versuche, die philosophische Leistung Simmels anzuerkennen: Bereits kurz nach dem Tod Simmels im Jahr 1918 spricht der Dilthey-Schüler Max Frischeisen-Köhler von Simmel als einem »der bekanntesten Vertreter deutscher Philosophie der Gegenwart«. 2 In dem Bewusstsein, dass sich das Werk Simmels den üblichen Registern einer möglichen Systematisierung und Einheitlichkeit entzieht, unternimmt Frischeisen-Köhler den Versuch, die »vielstrahligen Gebilde« 3 von Simmels Werk auf ein Zentrum zu konzentrieren, denn: »Wenn die Eigenart eines philosophischen Denkers auf der Eigenart des Standpunktes beruht, von dem aus er eine Gesamtdeutung der Wirklichkeit unternimmt, wird die systematische Festlegung und Bestimmung dieses Standpunktes das erste sein, um überhaupt erst einmal eine Orientierung über den Ort seiner Weltansicht innerhalb der Weite philosophischer Möglichkeiten zu gewinnen.« 4
Vgl. hierzu G. Simmel an G. Jellinek: Brief vom 20. März 1908, in: ders.: Gesamtausgabe, hg. von O. Rammstedt. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1989–2015 (im Folgenden GSG), Bd. 22, 617 sowie den Beitrag von G. Hartung in diesem Band. 2 M. Frischeisen-Köhler: »Georg Simmel (1. März 1858 – 26. September 1918)«, in: Kant-Studien 24 (1920) 1, 1–51, hier 1. 3 Ebd., 5. 4 Ebd., 1. 1
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Tim-Florian Steinbach
Simmel jedoch finde erst, so Frischeisen-Köhler, mit seinem Spätwerk zu einem solchen Standpunkt, da die frühen Schriften Simmels noch ganz unter dem Zeichen des Relativismus stehen – ein Ausdruck, dessen Sinn »so allgemein und vag geworden ist, daß er für sich zur Charakterisierung eines philosophischen Standpunktes nicht ausreicht«. 5 Eine Lösung für das Problem des Relativismus zeichnet sich laut Frischeisen-Köhler erst mit Simmels späten Schriften ab, die unter dem Stichwort einer Metaphysik des Lebens jeden Relativismus »zu Gunsten eines ›Absolutismus‹« aufheben. 6 Im Folgenden gilt es zu zeigen, dass das Zentrum der Philosophie Simmels gerade in jenem Relativismus begründet liegt, den Frischeisen-Köhler nicht genauer in Blick nimmt, denn erst die Grundstruktur dieses Relativismus lässt jenen Standpunkt klar erkennen, von dem aus Simmel sein Weltbild der Moderne entwirft. Diese Grundstruktur zeigt sich als Relativität des Seins, die Simmel, so die These des vorliegenden Beitrags, in Hauptprobleme der Philosophie (1910) zusammengeführt hat, 7 die damit deutlich mehr darstellen als eine bloße Gelegenheitsschrift. 8 Simmel expliziert die Relativität des Seins an dieser Stelle in drei Relationen: (1.) als Relation von Sein und Werden, (2.) als Relation von Sein und Haben sowie (3.) als Relation von Sein und Sollen. Zusammengeführt hat Simmel diese Relationen in Hauptprobleme der Philosophie, insofern er diese Grundstruktur zuvor bereits thematisch erarbeitet hat: die Relation von Sein und Werden anhand seiner Auseinandersetzung mit dem Thema Geschichte, die Relation von Sein und Haben an zentraler Stelle seiner Kulturphilosophie in der Philosophie des Geldes (1900) und die Relation von Sein und Sollen unter dem Stichwort des individuellen Gesetzes. Dass die Hauptprobleme der Philosophie diese Perspektive eröffnen, verwundert nicht, wenn Simmel konstatiert, dass nur der Ebd., 1. Ebd., 10; vgl. ebd., 42–51. 7 Simmel spricht bereits sehr viel früher an zentraler Stelle von der Relativität des Seins, in gewisser Weise bildet sie die Klammer der Philosophie des Geldes. Simmel verweist hier nicht nur in der Einleitung auf die relative Grundstruktur des Seins, sondern kommt auch am Schluss noch einmal auf diese zurück (vgl. G. Simmel: Philosophie des Geldes [1900], in: GSG 6, 7–716, hier 13, 716). Auf die Relativität des Seins verweisen auch G. Hartung und J. Steizinger in ihren Beiträgen in dem vorliegenden Band. 8 Vgl. G. Gebauer: »Hauptprobleme der Philosophie (1910)«, in: H.-P. Müller T. Reitz (Hg.): Simmel-Handbuch. Begriffe, Hauptwerke, Aktualität. Suhrkamp: Berlin 2018, 704–717, hier 704. 5 6
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Die Relativität des Seins
Philosoph »das aufnehmende und reagierende Organ für die Ganzheit des Seins« besitzt. 9 Nur dieser vermag, die Relativität des Seins überhaupt in den Blick zu nehmen. Diese Relativität bzw. Relationalität bezogen auf ein Ganzes führt auf ein Weltbild. Selbstredend kann kein Philosoph »die Gesamtheit der Dinge und des Lebens« von einem absoluten Standpunkt aus überblicken. 10 Doch das dem Philosophen eigene Vermögen liegt darin, aus seiner persönlichen, individuellen Perspektive eine Deutung der Wirklichkeit im Ganzen zu geben. 11 Der Philosoph erschafft ein Weltbild 12 und folgt im Zuge dessen ganz der Bewegung der Seele und ihrem Bedürfnis Einheit herzustellen. 13 Im Folgenden wird die Grundstruktur von Simmels Relativismus ausgehend von den Hauptproblemen der Philosophie in drei Schritten – als Relation von Sein und Werden, Sein und Haben, Sein und Sollen – entfaltet. In einem ersten Schritt gilt es jedoch, Simmels Kant-Interpretation in den Blick zu nehmen, diese bildet die Grundlage seines Relativismus.
I.
Die Dynamisierung des Kantischen Apriori 14
Simmel richtet sich im Zuge seiner Kant-Interpretation kritisch gegen die Annahme, Kant habe mit seiner Kritik der reinen Vernunft (1781/21787) eine Philosophie vorgestellt, die die Wirklichkeit im Ganzen betrifft. Kants theoretische Philosophie, so der Vorwurf Simmels, nimmt das Sein nur insoweit in den Blick, als dass dieses »Wissenschaft geworden ist«. 15 Kant setzt nicht nur ganz auf die objektiG. Simmel: Hauptprobleme der Philosophie [1910], in: GSG 14, 7–157, hier 16. Ebd. 11 Mit dem Versuch, Wissenschaft der Wirklichkeit im Ganzen zu sein, ist die Philosophie Simmels dem Anspruch nach prima philosophia (vgl. E. W. Orth: »Georg Simmel als Kulturphilosoph zwischen Lebensphilosophie und Neukantianismus«, in: Reports on Philosophy 14 (1991), 105–120, hier 106). 12 Zum Begriff des Weltbildes vgl. G. Simmel: Hauptprobleme, 32, 34 f. 13 Vgl. ebd., 17. 14 Vgl. hierzu ausführlich: H. Adolf: Erkenntnistheorie auf dem Weg zur Metaphysik. Interpretation, Modifikation und Überschreitung des Kantischen Apriorikonzepts bei Georg Simmel. Herbert Utz: München 2002. 15 Ebd., 19. Kant kam es »ausschließlich auf Analyse und Fundierung der als Wissenschaft vorliegenden Erkenntnis« (G. Simmel: Kant. Sechzehn Vorlesungen gehalten an der Berliner Universität [1904], in: GSG 9, 7–226, hier 28) an. 9
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ven Strukturen der Wirklichkeit, sondern auch ausschließlich auf die objektiven Strukturen des erkennenden Subjekts. 16 Die »Gestimmtheit des Subjekts« 17 jedoch bleibt außen vor und damit der »ganze Mensch«: »[D]ie künstlerische Phantasie wie die Liebe, der Schönheitssinn, wie die gar nicht zu rationalisierende Ahnung« – all dies, so Simmel, findet bei Kant keine Beachtung. 18 Um im Gegensatz zu Kant den ganzen Menschen in die philosophische Betrachtung einzubeziehen, geht Simmel auf die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Kantischen Philosophie zurück. In Frage steht für ihn der Status der apriorischen Strukturen menschlicher Erkenntnis, die Allgemeinheit und Notwendigkeit, d. h. »absolute Gültigkeit« für jede uns mögliche Erfahrung besitzen. 19 Das einzige Prinzip, das diese Allgemeinheit und Notwendigkeit beanspruchen kann, bezeichnet Simmel zwar als Apriori. Dieses Apriori stellt für ihn jedoch nicht mehr als eine leere Form dar, die wir, transzendentalphilosophisch gewendet, durchaus postulieren müssen; sie ist die »Funktion der Erfahrungsbildung«. 20 Hinter diesem »absoluten Apriori des Intellekts« steht jedoch stets »ein zweites, innerhalb des Intellekts geltendes und relatives Apriori«. 21 Erstens konstituiert dieses relative Apriori diverse menschliche Erfahrungsbereiche: »Es giebt offenbar sehr viele Stufen des Apriori und sehr verschiedenartige Mischungen der hinzugebrachten Form mit dem vorgefundenen Inhalt.« 22 Zweitens können wir laut Simmel überhaupt erst ausgehend von den verschiedenen Erfahrungsbereichen auf ein im Hintergrund stehendes absolutes Apriori schließen. Über das absolute Apriori können wir deshalb nicht mehr sagen, als dass es als Form»Das Ich ist nur noch der Punkt, in dem alle Elemente der Erkenntniswelt sich treffen, der Träger oder das Gegenbild des theoretisch erfaßbaren Daseins; eigentlich existiert nur der gleichsam freischwebende Komplex unsrer Erkenntnisse, und das Ich wie das Objekt sind nur Ausdrücke für die einheitliche Form, in der diese sich darbieten. Das Ich als Persönlichkeit, die dem erfaßbaren Dasein gegenübersteht, die subjektive Innerlichkeit, die von sich aus erst ein Verhältnis zur Wirklichkeit sucht – ist dieser theoretischen Philosophie fremd.« (G. Simmel: Kant, 104) 17 Ebd., 23. 18 Ebd., 28. 19 Ebd., 22; vgl. auch ebd., 31 f. 20 Ebd., 35; vgl. auch G. Simmel: Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1905/ 1907), in: GSG 9, 227–419, hier 241. 21 G. Simmel: Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1892), in: GSG 2, 297–421, hier 304. 22 Ebd., 304 f. 16
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Die Relativität des Seins
prinzip fungiert und das zugrundeliegende Prinzip der menschlichen Erkenntnis bildet. Eine nähere Bestimmung ist erst aus der empirischen Wirklichkeit heraus möglich: »Das Apriori […] ist eine objektive Kraft, eine wirksame Wirklichkeit in uns, die uns in bewußten Begriffen und Formeln erst nachträglich ausdrückbar ist.« 23 Jede weitergehende Bestimmung des Apriori ist damit immer schon erfahrungsgesättigt. Was bei Kant Allgemeinheit, Notwendigkeit und damit Unabhängigkeit von individuellen, empirischen Einflüssen beansprucht, ist laut Simmel stets individuell tingiert und empirisch bedingt: Apriorische Erkenntnisbedingungen und individuelle Erfahrung sehen sich untrennbar und wechselseitig aufeinander verwiesen. 24 Das Apriori wird dadurch individualisiert und ist stets abhängig von den entsprechenden empirischen und psychologischen, d. h. für Simmel kulturellen, Rahmenbedingungen. 25 Aufgrund dessen kommt es bei Simmel zur Multiplizierung und Dynamisierung des Apriori. Das absolute Apriori gilt ihm als Vermögen, der Wirklichkeit eine Form zu geben, das in Abhängigkeit zu relativen Apriori steht. Vor diesem Hintergrund richtet sich Simmels Interesse auf die Konstituierung der Wirklichkeit in ihren verschiedenen Formen. Es gibt ihm zufolge nicht die eine definitive Wirklichkeit, sondern nur verschiedene Welten »in einer Mannigfaltigkeit von Formen«: »Die Wissenschaft und die Kunst die Religion und die G. Simmel: Kant, 35. K. C. Köhnke spricht in seiner Darstellung des jungen Simmel von drei Apriori: dem völkerpsychologischen, dem soziologischen und dem erkenntnistheoretischen Apriori. Vor dem Hintergrund der Kantischen Erkenntnistheorie, der zufolge alle Urteilsfunktionen auf logische Funktionen und damit auf die nicht individuellen Formen unseres Denkens zurückgehen, steht das von Simmel modifizierte erkenntnistheoretische Apriori für die untrennbare Verknüpfung von Logischem und Psychologischem (vgl. K. C. Köhnke: Der junge Simmel in Theoriebeziehungen und sozialen Bewegungen. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1996, 426–428). Diese Verknüpfung bringt eine Verunreinigung einer vermeintlich erfahrungsunabhängigen Logik durch die Empirie mit sich, die in der Relation von absolutem Apriori und relativen Apriori zum Ausdruck kommt. 25 Simmels Kulturphilosophie übernimmt die Problem- und Aufgabenstellung der Völkerpsychologie Moritz Lazraus’ und Hermann Steinthals: Im Kern gilt es zu einem Verständnis zu bringen, in welchem Verhältnis Individuelles und Überindividuelles zueinanderstehen bzw. wie das Individuum sich das Überindividuelle aneignet. Entscheidend ist, dass das Überindividuelle stets dem Individuellen vorausliegt, weshalb bei Simmel kulturelle Prozesse und kulturphilosophische Fragestellungen in den Vordergrund rücken, die die Kultur als objektiven Geist behandeln (vgl. K. C. Köhnke: Der junge Simmel, 337–355). 23 24
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Tim-Florian Steinbach
gefühlsmäßig-innerliche Verarbeitung der Welt, die sinnliche Auffassung und der Zusammenhang der Dinge nach einem Sinn und Wert« 26 – Simmel spricht an anderer Stelle deshalb auch von einem »Parallelismus der Welten«. 27 Simmels Philosophie operiert zwischen der von ihm postulierten reinen Form des absoluten Apriori, das als Formprinzip und bloße Funktion der Erfahrungsbildung fungiert, und den zu diesem relativen Apriori, die in verschiedenen Ausprägungen in Erscheinung treten. Die daraus resultierende Pluralisierung der Welten bezieht sich nicht mehr nur auf die eine Wirklichkeit als Wissenschaft, wie Simmel mit Blick auf Kant moniert, sondern auf ganz verschiedene Bereiche der menschlichen Wirklichkeit: auf Wissenschaft, Kunst, Moral, Gesellschaft oder Religion. Das Apriori ist, wie Simmel zunächst mit Blick auf die Geschichte ausführt, das Prinzip der »Formung des unmittelbaren, nur zu erlebenden Geschehens gemäß den Aprioritäten des wissenschaftsbildenden Geistes«. 28 Die relative Abhängigkeit jeder möglichen Form von Erkenntnis von den entsprechenden empirischen Bedingungen führt zu der Annahme, dass sämtlichen Bereichen menschlicher Erfahrung ein eigenes, relatives Apriori eignet. Indem jedes relative Apriori einen eigenen Bereich der menschlichen Wirklichkeit konstituiert, setzt es das Sein in Relation zu den entsprechenden kulturellen, d. h. empirischen, psychologischen und historischen Bedingungen. Die Relation von absolutem und relativem Apriori bildet die Voraussetzung für Simmels Relativismus. Sie prägt seine frühe Schaffensphase und bestimmt noch explizit seine Auseinandersetzung mit dem Thema Geschichte, denn das Apriori im Kantischen Sinne erweist sich als ungenügend, um den historischen Erkenntnisprozess zu deuten. 29 »Mit diesen Feststellungen der Apriori der Einzelwissenschaften ist das Werk fortzuführen, das Kant doch nur halb gethan hat.« 30 G. Simmel: Hauptprobleme, 20; vgl. auch G. Simmel: Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1892), 305. 27 G. Simmel: »Der Fragmentcharakter des Lebens. Aus den Vorstudien zu einer Metaphysik« [1916], in: GSG 13, 202–216, hier 211; vgl. auch G. Simmel: »Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel« [1918], in: GSG 16, 209–425, hier 241 sowie hierzu den Beitrag von J. Steizinger in diesem Band. 28 G. Simmel: »Fragment einer Einleitung« [1958], in: GSG 20, 304 f., hier 304; vgl. hierzu K. C. Köhnke: Der junge Simmel, 427. 29 Vgl. Simmel: Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1892), in: GSG 2, 327/Anm. 30 G. Simmel an F. Jodl: Brief vom 3. Juli 1893, in: GSG 22, 88–90, hier 89. 26
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Die Relativität des Seins
II.
Sein und Werden
In dem, was wir Geschichte nennen, liegt Simmel zufolge implizit die Relation von Sein und Werden beschlossen. Bereits in der ersten Fassung seiner Probleme der Geschichtsphilosophie von 1892 fragt Simmel deshalb nach dem Verhältnis der Geschichtswissenschaft zur Philosophie, um deutlich zu machen, wie wir aus der Relation von Sein und Werden Geschichte ableiten. Unter Geschichte versteht Simmel das von uns geordnete und geformte Geschehen der Vergangenheit. Das formende Subjekt und die geformte Geschichte sehen sich wechselseitig aufeinander verwiesen: »Die bewußtwerdende Form all der geistigen Wirklichkeit, die als Geschichte jegliches Ich aus sich hervorgehen läßt, ist selbst aus dem formenden Ich hervorgegangen; dem Strome des Werdens, in dem der Geist sich erblickt, hat er selbst seine Ufer und seinen Wellenrhythmus vorgezeichnet und ihn erst damit zur Geschichte gemacht.« 31 Die Aufgabe der Philosophie bestimmt er in diesem Kontext als Reflexion auf die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Geschichtswissenschaft, die die Geschichtswissenschaft Simmel zufolge selbst nicht expliziert. Diese Aufgabe führt erstens auf das Apriori historischer Erkenntnis, zweitens auf die Frage nach den Gesetzen, die die historische Erkenntnis leiten. Beide Aspekte zusammengenommen führen auf die Relation von Sein und Werden. Geschichte ist für Simmel in erster Linie das Produkt seelischer Regungen. Bevor, was wir Geschichte nennen, Geschichte wird, ist sie die gelebte Wirklichkeit von Individuen, von Menschen, die nicht nur rational denken, sondern auch empfinden. Historisches Verstehen ist an das Verstehen historischer Persönlichkeiten gebunden und sucht deren Beweggründe und Motivationsrückhalte mit historischen Ereignissen zu verknüpfen. Die Aufgabe der Geschichtswissenschaft lautet, »nicht nur Erkanntes zu erkennen, sondern auch Gewolltes und Gefühltes«. 32 Die Objekte historischen Erkennens sind Seelen, die Materie historischen Erkennens »das Vorstellen, Wollen und Fühlen von Persönlichkeiten«. 33 Beides findet in dem zusammen, was Simmel als Apriori der Geschichtswissenschaft ausweist: die Einheit der Persönlichkeit. G. Simmel: Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1905/1907), 230 f. Ebd., 264. 33 G. Simmel: Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1892), 303; vgl. G. Simmel: Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1905/1907), 259. 31 32
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Entscheidend ist für Simmel zunächst, dass wir im Prozess historischen Erkennens und Verstehens gerade nicht versuchen, das psychische Innenleben von historischen Personen nachzuvollziehen, sondern vielmehr psychische Motivationsrückhalte konstruieren, die wir den historischen Personen zusprechen – und dies aufgrund der »äußeren Handlungen« dieser Personen. 34 Diese »Konstruierbarkeit psychischer Zusammenhänge« ist die »einzige Möglichkeit, das von Seelen getragen Geschehen zu verstehen«. 35 Wenngleich jedes relative Apriori eines spezifischen Erfahrungsbereichs inhaltlich näher bestimmt ist als das absolute Apriori, das im Hintergrund der relativen Apriori steht, so liegt jedes bloß relative Apriori dennoch nicht »in dem Inhalt selbst« – es ist ebenso wie das absolute Apriori ein Formprinzip –, sondern wird vielmehr zu diesem Inhalt »hinzugebracht«. 36 Die Einheit der Persönlichkeit ist ein heuristisches, erkenntnisleitendes Prinzip. Es fungiert als Formprinzip, auf das die vom Interpreten konstruierten psychischen Zusammenhänge als Inhalte bezogen werden. Das historische Apriori verhindert so, dass die konstruierten psychischen Motivationsrückhalte sich in zusammenhangslosen Ereignissen verlaufen, und ermöglicht im Gegenzug, diese als Teile eines Ganzen, einer einheitlichen Persönlichkeit, zu begreifen. Historische Erkenntnis ist synthetische Erkenntnis. Ihr Interesse gilt nicht primär den historischen Persönlichkeiten, sondern vielmehr der Frage, wie diese in Bezug zu den historischen Ereignissen stehen. Wenn aber der Mensch als handelndes Wesen ins Zentrum der Überlegungen rückt und auf die historischen Ereignisse bezogen werden soll, stellt sich die Frage, auf Grundlage welcher Verfahrensweisen die Geschichtswissenschaft ihre Erkenntnisse organisiert, wenn sie denn eine Wissenschaft sein möchte. Die von uns konstruierten psychischen Zusammenhänge historischer Persönlichkeiten führen für Simmel an diesem Punkt auf die Frage nach den Gesetzen historischer Erkenntnis, denn historische Ereignisse lassen sich nicht auf Gesetze vom Typus der Naturgesetze zurückführen, da jedes Naturgesetz absolute Geltung beansprucht. Unabhängig davon, ob ein solches Gesetz ein einziges Mal oder mehrere Male empirisch realisiert wird, es fordert ausnahmslos: »wenn A ist, so ist B«. 37 Die absolute 34 35 36 37
G. Simmel: Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1905/1907), 268. Ebd., 269. G. Simmel: Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1892), 304. G. Simmel: Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1905/1907), 339.
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Die Relativität des Seins
Geltung eines solchen Gesetzes sagt jedoch nichts darüber aus, ob A auch tatsächlich ist, sondern nur, dass wenn A ist, dann auch B eintritt. Betrachten wir im Umkehrschluss historische Ereignisse, dann stellen wir fest, dass sich kein Gesetz von absoluter Geltung auf verschiedene historische Ereignisse in gleichem Maße anwenden lässt – jede historische Ereignisfolge bedürfte eines eigenen Gesetzes. Der Begriff des Gesetzes scheint damit fehl am Platz, denn welches Gesetz ist noch Gesetz, wenn es nur für einen einzigen Fall gilt? Die Erkenntnis historischer Tatsachen folgt weder der absoluten Geltung von Naturgesetzen, noch addiert es lediglich singuläre Ereignisse und konstruiert Abbilder empirischer Ereignisfolgen; wenn nichtsdestotrotz singuläre Ereignisse die Grundlage historischen Erkennens bilden, so müssen diese doch immer schon in Zusammenhängen stehen, um überhaupt erkannt werden zu können. Blieben sie singulär und damit zusammenhangslos, wären sie schlichtweg bedeutungslos. Weder würden wir sie wahrnehmen, noch überhaupt erkennen können. Historische Ereignisse und Akteure stehen deshalb immer schon in Sinnzusammenhängen, die wir voraussetzen sowie gleichermaßen zu verstehen suchen. 38 Diese verdanken wir dem Vermögen des Geistes, das, zusätzlich zum historischen Apriori, synthetische Zusammenhänge stiftet: Begriffe ganz unterschiedlicher Art, auf die das historische Erkenntnisinteresse die singulären Ereignisse bezieht. 39 Diese Begriffe übernehmen eine heuristische Funktion. Sie stellen dort Zusammenhänge her, wo die Naturgesetze gerade nicht gelten: »[W]enn zwischen politischem Verfall und künstlerisch-wissenschaftlichem Aufschwung ein Zusammenhang erblickt wird; wenn ein beschleunigtes Tempo im Wechsel der Anschauungen, Moden, Bildungsinteressen, politischen Richtungen regelmäßig mit der ökoIn einer Art hermeneutischem Zirkel stehen die Handlungen historischer Akteure sowie die historischen Entwicklungen immer schon in einem Sinnzusammenhang und können nur aufgrund dessen überhaupt verstanden werden. Da im Prozess historischen Erkennens und Verstehens gerade nicht versucht wird, die psychischen Motivationsrückhalte historischer Personen nachzuvollziehen, sondern diese konstruiert werden, spricht Geßner davon, dass die unterstellten Sinnzusammenhänge als das »eigentliche Apriori der Geschichtswissenschaft anzusehen« (W. Geßner: Der Schatz im Acker. Georg Simmels Philosophie der Kultur. Velbrück Wissenschaft: Weilerswist 2003, 33; vgl. auch ebd., 34 f.) sind. 39 »[D]as Wesen des Geistes ist, der Vielheit die Form der Einheit zu gewähren. In der sinnlichen Wirklichkeit ist alles nebeneinander, im Geist allein gibt es ein Ineinander.« (G. Simmel: Philosophie des Geldes, 246) 38
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nomischen Vorherrschaft des Mittelstandes verknüpft scheint – so machen diese Verbindungen das Netzwerk mannigfaltigster Kausalitäten, von denen die individuellen Ereignisreihen bestimmt werden, keineswegs kenntlich«. 40 In ebendiesen Fällen, in denen keine Kausalität im naturwissenschaftlichen Sinne das Geschehen lenkt, sind die von uns konstruierten psychischen Motivationsrückhalte mit den Ereignissen und Begriffen zu vermitteln. Die daraus resultierenden Verbindungen erstellen aus singulären Ereignissen Ereignisreihen, »indem sie aus den Begriffen, in denen sich die erscheinenden Folgen jener Einzelereignisse abgelagert haben, ein nur in dieser Abstraktionsschicht heimatberechtigtes Gewebe herstellen«. 41 Wo »Geist zum Geiste spricht«, kommt es zu einer »Umgestaltung der gelebten Wirklichkeit«. 42 Wir haben es dann mit Geistesgeschichte zu tun, d. h. mit eben jenem »Gewebe«, von dem Simmel behauptet, dass es sich »zu den empirischen Einzelheiten generell verhält wie die großen philosophischen Begriffe des Seins und des Werdens«, über die Teil und Ganzes sich als ein Zusammenhang begreifen lassen. 43 Durch die Vermittlung von historischen Persönlichkeiten mit den historischen Ereignissen stiftet die Geschichtswissenschaft die Möglichkeit, die Relation von Sein und Werden überhaupt darzustellen. Diese der Geschichtswissenschaft eigene erkenntnistheoretische Grundstruktur kann wiederum nur die Philosophie aufdecken. Bildet die Struktur von absolutem und relativem Apriori in Simmels frühen Arbeiten noch die Grundstruktur seiner Analysen, so rückt sie nachfolgend in den Hintergrund. Weder expliziert Simmel diese weiterführend, noch bindet er sie explizit in seine Analysen ein. In den Vordergrund rückt im Gegenzug die Relativität des Seins, die seiner Kant-Interpretation bereits implizit ist. Simmels eigene Philosophie gewinnt durch diesen Perspektivwechsel deutlichere Konturen. Wenngleich er die Korrelation von absolutem und relativem Apriori nicht mehr explizit zum Thema macht, so setzt er diese doch voraus. Als Struktur des menschlichen Formgebungsprozesses bleibt sie erhalten und rückt als solche ins Zentrum seiner Kulturphilosophie auf: Der Mensch schafft aus dem Material, das ihn umgibt,
40 41 42 43
G. Simmel: Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1905/1907), 348. Ebd. Ebd., 294; vgl. ebd. 324 f. Ebd., 348.
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Die Relativität des Seins
ganz eigene Formen, Welten, wie z. B. Wissenschaft, Kunst, Moral, Gesellschaft oder Religion. Philosophisch betrachtet fundiert die Relation und Korrelation von absolutem Apriori und relativen Apriori Simmels Relativismus, der seinen prägnantesten Ausdruck im Geld als Symbol der modernen Wirklichkeitsauffassung findet: Denn »[j]e mehr das Leben der Gesellschaft ein geldwirtschaftliches wird, desto wirksamer und deutlicher prägt sich dem bewußten Leben der relativistische Charakter des Seins aus, da das Geld nichts anderes ist, als die in einem Sondergebilde verkörperte Relativität der wirtschaftlichen Gegenstände, die ihren Wert bedeuten.« 44
III. Sein und Haben Die Kultur ist Simmel zufolge zunächst ein Produkt der Überlieferung und entsteht dort, wo »ein bestimmter Inhalt von einem Individuum auf ein andres übertragen wird, ohne dass dieses Individuum, auf das es übertragen wird, wieder auf jenes zurückwirkt«. 45 Erst die Tradierung von Inhalten über Individuen hinweg, ohne dass ein wechselseitiger Austausch entsteht, macht »die Gesellschaft zu einem, seinem inneren Wesen nach, historischen Gebilde«. 46 Im Gegensatz zur soziologischen Kategorie der Wechselwirkung handelt es sich bei der Überlieferung um eine, wie Simmel sagt, »einreihige Wirkung«: Der tradierte Inhalt hat sich von seinem Urheber gelöst und wirkt nicht auf diesen zurück. 47 Abseits der Überlieferung bringt der Prozess der Kulturbildung jedoch ein Problem mit sich, das die einreihige Wirkung der Überlieferung übersteigt und auf die Relation von Sein und Haben führt: Der von Simmel sog. »Reflex auf das Subjekt«, der programmatisch für den zweiten Teil seiner Philosophie des
G. Simmel: Philosophie des Geldes, 716. G. Simmel: »Beiträge zur Philosophie der Geschichte« [1909], in: GSG 12, 62–69, hier 65. 46 Ebd. 47 Ebd. »Tradition ist die merkwürdige und eigentlich die ganze Kultur und Geistigkeit des Menschengeschlechts schaffende Tatsache, dass sich ein Inhalt des Denkens, des Tuns, des Schaffens, auch des Fühlens, seinem ursprünglichen Träger gegenüber verselbständigt hat und von ihm weitergegeben werden kann« (ebd., 66). 44 45
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Geldes ist, steht für die Rückwirkung der objektiven, tradierten Kultur auf das Subjekt als deren Urheber. 48 Simmel definiert die Kultur auch als den »Weg der Seele zu sich selbst« – ein Weg, der über die vom ihrem Urheber gelösten und von diesem geformten Inhalte führt. 49 Der Geist als objektivierendes Vermögen, gestattet es, subjektive Inhalte zu objektivieren, diese von ihrem Träger zu lösen und so anderen Subjekten zugänglich zu machen. Die »in transindividueller Gestalt objektiviert[en]« 50 Lebensinhalte bilden »überpersönliche Gebilde,« die ihrem Urheber nur allzu oft fremd gegenüberstehen. 51 Seele und Geist geraten an diesem Punkt in ein widersprüchliches Wechselspiel: »[E]s ist die Form der Festigkeit, des Geronnenseins, der beharrenden Existenz, mit der der Geist, so zum Objekt geworden, sich der strömenden Lebendigkeit […] der subjektiven Seele entgegenstellt«. 52 Die Erzeugnisse des objektiven Geistes – Wissenschaft, Sitte, Recht, Moral, Kunst oder Religion – sind »ideale Erzeugnisse des menschlichen Vorstellens und Wertens« und haben sich in ihrer Idealität von ihren Urhebern emanzipiert. Sie stehen »jenseits des einzelnen Wollens und Handelns […], gleichsam als dessen losgelöste ›reine Formen‹«. 53 Im Idealfall eignen sich Individuen objektive Kulturinhalte an und bilden dadurch eine Persönlichkeit aus. Kultur ist dann ein Bildungsprozess, besagter »Weg der Seele zu sich selbst«. Diese Idealvorstellung gerät jedoch allzu schnell in Ungleichgewicht. Die Formen des objektiven Geistes folgen einer Eigenlogik, die bewirkt, dass sich die Objektivationsformen des Geistes dem Zugriff der Individuen gegenüber verschließen. Es kommt zu der von Simmel später sog. Tragödie des Geistes bzw. der Kultur: Subjekt und Objekt der Kultur stehen einander fremd gegenüber. Diese Tragödie stellt jedoch nur die Vorstufe zu einer Entwicklung dar, die Simmel in der Philosophie des Geldes als einen Entfremdungsprozess beschreibt, der sich nicht mehr nur zwischen Subjekt und Objekt vollzieht, sondern der sich darüber hinaus innerhalb des Subjekts selbst fortsetzt.
G. Simmel: Philosophie des Geldes, 716. G. Simmel: »Der Begriff und die Tragödie der Kultur« [1911], in: GSG 12, 194–223, hier 194. 50 G. Simmel: Philosophie des Geldes, 386. 51 Ebd., 208. 52 G. Simmel: »Der Begriff und die Tragödie der Kultur«, 194. 53 G. Simmel: Philosophie des Geldes, 209. 48 49
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Die Relativität des Seins
Zu Beginn der Philosophie des Geldes macht Simmel deutlich, dass es einer Philosophie des Geldes zentral um die Frage unserer Wertbildungsprozesse geht und gerade nicht um die Frage nach dem Sein der Dinge, denn werten wir etwas, dann wird dessen »allseitig bestimmtes Sein […] in die Sphäre des Wertes erhoben«, ohne dass wir Aussagen über das Sein der Dinge treffen. 54 Unsere Wertungen bilden ein Reich eigenen Rechts, das parallel zum Sein der Dinge verläuft. Auf diesen Aspekt werde ich zurückkommen. Ungeachtet dieses Auftakts gewinnt die Frage nach dem Sein nachfolgend insofern an Brisanz, als dass Simmel in der Kultur einen Bildungsprozess am Werk sieht, der im Idealfall zur Ausbildung einer Persönlichkeit führt; das Gelingen eines solchen Bildungsprozesses setzt jedoch voraus, dass das eigene Sein nicht preisgegeben wird. Simmel zufolge tendiert jede Kultur im Zuge ihrer Entwicklung zu einer zunehmenden Objektivierung ihrer Kulturinhalte, mit der Konsequenz, dass eine »immer gründlichere, bewußtere Scheidung zwischen den objektiven und den subjektiven Vorstellungen« vorangetrieben wird. 55 Ursprünglich jedoch bildeten subjektiver und objektiver Geist gemeinsam einen »psychologischen Indifferenzzustand« und dieser psychologische Indifferenzzustand ist seines Erachtens nichts anderes als Besitz im ursprünglichen Sinne: ein »organisches Verweben der Persönlichkeit mit ihrem ökonomischen Sein und Haben«. 56 Dieser Indifferenzzustand »verschmilzt« das Ich und die Dinge miteinander. 57 Person und Sache sind unlöslich miteinander verbunden, Sein und Haben koinzidieren. Jeder Mensch besitzt ein ihm eigenes Sein, das untrennbar mit den Dingen verwoben ist, auf die sich sein Begehren richtet. Für Simmel steht fest, dass sich uns einerseits »alle Inhalte unseres Seins […] als Besitz jenes an sich ganz inhaltslosen, rein formalen Zentrums in uns [darbieten], das wir als unser gleichsam punktuelles Ich und als das habende Subjekt, gegenüber all seinen Qualitäten, Interessen, Gefühlen, als gehabten Objekten, empfinden; und andrerseits ist Besitz […] ein Ausdehnen unserer Machtsphäre, ein Verfügenkönnen über Objekte, die eben damit in den Umkreis unseres Ich hineingezogen werden. Das Ich, unser Wollen und Fühlen, setzt sich in die Dinge hinein
54 55 56 57
Ebd., 25. Ebd., 446. Ebd., 446 f. Ebd., 447.
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fort, die es besitzt […]; indem es [das Ich] die Dinge hat, sind sie Kompetenzen seines Seins, das ohne jedes einzelne dieser ein anderes wäre.« 58
In logischer und psychologischer Hinsicht scheint es Simmel zufolge deshalb vollkommen willkürlich zu sein, zwischen Sein und Haben überhaupt zu unterscheiden, wenn das, was wir haben, Besitz ist und Besitz, die Erstreckung des Ich, d. h. des eigenen Seins über die Dinge. 59 Sein und Haben konstituieren die Person. Dort jedoch, wo Sein und Haben nicht lediglich auf logischer und psychologischer Ebene die Struktur dieses Verhältnisses zum Ausdruck bringen, sondern als Werte genommen auf das Verhältnis von Subjekt und Objekt übertragen werden, können Sein und Haben durchaus divergieren. Sein und Haben sind dann nicht lediglich »theoretisch-objektive[]« Begriffe, sondern »Wertbegriffe« und als solche bedeutsam: »Es ist eine bestimmte Wertart und Wertmaß, die wir unseren Lebensinhalten zusprechen, wenn wir sie als unser Sein, eine andere, wenn wir sie als unser Haben bezeichnen.« 60 Die Lebensinhalte, die wir als unser Sein bezeichnen, konstituieren personale Werte, die wir für gewöhnlich als unveräußerbar empfinden; zugleich bezeichnen wir das als unser Haben, was wir bekommen, wenn wir etwas verkaufen. Das, was wir haben, trifft uns nicht unmittelbar in unserem Sein, da es uns von außen zukommt und sich dementsprechend auch wieder veräußern lässt. Zum Problem wird das Verhältnis von Sein und Haben dort, wo die moderne Tendenz zur Nivellierung in gesteigertem Maße personale Werte in Geld aufwiegt und diese dem ökonomischen Kreislauf zugänglich macht. Das personale Sein wird nicht mehr als Selbstwert, sondern als veräußerbar, als Wert unter Werten empfunden und der Sphäre der ökonomischen Werte zugespielt. Die Entwicklung der modernen Ökonomie bewirkt, dass wir zunehmend von der Qualität der Dinge absehen. Die Dinge besitzen dann nicht in erster Linie einen Eigenwert, sondern werden laut Simmel auf den Geldwert und im Zuge dessen auf ihre Quantität reduziert. Geld verstärkt damit den Differenzierungsprozess zwischen Subjekt und Objekt und führt auf eine zunehmende »räumliche Entfernung zwischen dem Subjekt und seinem Besitz«, der persönliche Anteil wird aus den Besitzverhältnissen gestrichen. 61 Die Konsequenz 58 59 60 61
Ebd., 533. Vgl. ebd. Ebd. Ebd., 448.
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Die Relativität des Seins
ist, dass »Sachlichkeit bzw. Besitz und Persönlichkeit […] gegeneinander selbständig« werden. 62 Doch dieser Differenzierungsprozess spielt sich nicht nur zwischen Person und Sache, Subjekt und Objekt ab, sondern setzt sich innerhalb der Person fort: »[D]ie verschiedenen Interessen und Betätigungssphären der Persönlichkeit« erhalten »durch die Geldwirtschaft ihre relative Selbständigkeit«. 63 Die Nivellierung der Dinge auf den Geldwert trifft damit auch die handelnden Personen. Das Resultat dieser Entwicklung ist eine »Atomisierung der Einzelpersönlichkeit«. 64 Geld löst »die ökonomische Leistung aus dem Ganzen der Persönlichkeit« und lässt die Persönlichkeit fragmentiert zurück. 65 Diese Fragmentierung bewirkt, dass die einzelnen Lebensinhalte nicht mehr auf ein Zentrum, das eigene Sein bezogen werden. Sie sind nicht mehr konstitutiv für die Personalität. Die »Atomisierung der Einzelpersönlichkeit« und die ökonomische Nivellierungstendenz aller Werte auf den Geldwert bewirken zunehmend die Veräußerung der von ihrem Zentrum gelösten Lebensinhalte: »Indem man alles dies für Geld aufgibt, hat man sein Sein gegen ein Haben ausgetauscht.« 66 Sein und Haben divergieren, »jenes Sich-selbst-gehören […], das wir von einem gewissen Grade an als Vornehmheit empfinden, hat seine Basis verloren«. 67 Wir besitzen immer mehr Dinge, nur uns selbst scheinen wir verloren zu haben. Die drei Hauptprobleme der Philosophie, die Simmel in Hauptprobleme der Philosophie vorstellt, lauten: »Vom Sein und vom Werden«, »Vom Subjekt und Objekt« und »Von den idealen Forderungen«. Das Hauptproblem Sein und Werden verhandelt Simmel im Zuge seiner Auseinandersetzung mit der Geschichte, das Hauptproblem Subjekt und Objekt in seiner Theorie der modernen Kultur unter der Opposition Sein und Haben. Bekundet sich das Bedürfnis der Seele, Einheit herzustellen im ersten Fall als das Bedürfnis nach einer Einheit der Wirklichkeit, so im zweiten Fall als das Bedürfnis nach einer Einheit der eigenen Persönlichkeit. Die Relation von Sein und Haben führt zwar das für Simmel zentrale Problem der modernen Kultur vor Augen, an diesem Punkt jedoch kaum eine Lösung herbei. 62 63 64 65 66 67
Ebd., 450. Ebd., 462. Ebd., 463. Ebd., 462. Ebd., 533. Ebd., 537.
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In der Philosophie des Geldes macht Simmel zwar deutlich, dass es gilt, sich die geistigen Inhalte, die von sich aus keiner Einheit zustreben, anzueignen, und so einen eigenen Stil auszubilden, d. h. sich selbst eine Form zu geben. 68 Den einzelnen Lebensinhalten eine Form zu geben und Teil und Ganzes gelingend miteinander zu vermitteln, bleibt jedoch den Großen der Geschichte vorbehalten. Wir bewundern die, die umzusetzen wissen, was unser Bedürfnis fortwährend zu realisieren sucht, was zunächst jedoch den Großen der Geschichte vorbehalten bleibt: einen eigenen Lebensstil und damit eine Persönlichkeit auszubilden, die uns als einheitliche entgegentritt. Was dem gewöhnlichen Menschen in seiner Wirklichkeit nicht glücken mag, überführt Simmel mit dem individuellen Gesetz in das Reich der Idealität, denn wo »die Einheit des Lebens nicht als daseiend empfunden wird, steht sie wenigstens als Forderung vor uns«. 69 Die Relativität des Seins in Form der Relationen Sein und Werden sowie Sein und Haben führt damit auf Problemanzeigen, die Simmel erst mit der dritten Grundrelation seines Relativismus aufzulösen sucht: mit der Relation von Sein und Sollen, die er unter dem Stichwort des individuellen Gesetzes verhandelt. Das individuelle Gesetz bildet hierbei das Pendant zum Modell des Lebensstils aus der Philosophie des Geldes, erst die Forderung des individuellen Gesetzes weiß die »kontinuierliche Form« eines Lebens zu bewahren. 70
V.
Sein und Sollen
Simmel entlehnt der theoretischen Philosophie Kants das Formprinzip und integriert dieses unter den entsprechenden Modifikationen seiner eigenen Philosophie. Seine Anleihen bei der Kantischen Philosophie mögen zwischenzeitlich in den Hintergrund rücken, sind jedoch nicht vergessen. Nicht nur bestimmt die Struktur, die sich Simmel in kritischer Auseinandersetzung mit Kant erarbeitet, seine Kulturphilosophie. Auch greift er in späteren Jahren die Diskussion um das Formproblem unter Rekurs auf Kant in »Das individuelle Gesetz« wieder
Vgl. ebd., 647 f. G. Simmel: Hauptprobleme, 138; vgl. G. Simmel: »Das individuelle Gesetz. Ein Versuch über das Prinzip der Ethik« [1913], in: GSG 12, 417–470, hier 468. 70 G. Simmel: »Das individuelle Gesetz«, 469. 68 69
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Die Relativität des Seins
auf, wenn auch aus einer anderen Perspektive. 71 Über die Relation von Sein und Sollen möchte Simmel Realität und Idealität miteinander vermitteln, um zu leisten, was der Philosophie Kants seines Erachtens gerade nicht gelingt, da diese ganz auf die Erkenntnis der objektiven Realität nach den Vorgaben der mathematischen Naturwissenschaften setzt und nicht auf die Wirklichkeit, die sich aus den »einzelnen Lebensmomente[n], Antriebe[n], Entschlüsse[n]« und Handlungen der Individuen konstituiert. 72 Simmels Philosophie operiert damit entlang der Bruchlinien des transzendentalen Idealismus. Der Brückenschlag, der Simmel zufolge der Kantischen Philosophie misslingt, zieht die Konsequenz nach sich, dass das auf erkenntnistheoretischer Ebene objektiv gefasste Subjekt seiner Individualität beraubt wird und auch von der praktischen Philosophie Kants nicht mehr aufgefangen werden kann. Das von Kant formulierte Sittengesetz nivelliert aufgrund seiner Idealität die Individualität. In seiner Allgemeinheit gleicht das Kantische Sittengesetz laut Simmel Allgemeinbegriffen, die nur ein »logisches Minimum« inhaltlicher Bestimmungen zulassen – »diejenigen Merkmale […], die das Ding mindestens zeigen muß, um auf eine bestimmte Bedeutung festgelegt zu werden«. 73 Diese Bedeutung entspricht nicht der des Dinges, sondern der des Begriffs, der den »mannigfaltige[n] Daseinsstücke[n]« des wirklichen Dinges einige wenige abtrotzt, die für die Bedeutung des Begriffs relevant sind. 74 Der Begriff fungiert als »ein Gerippe, ein ideelles Schema«, um »den gesamten realen Elementen des Wesens eine Form aufzuerlegen« und beschneidet dadurch die bedeutungsgebenden Inhalte. 75 Nur die vom Begriff selektiv erfassten Merkmale eines Dinges besitzen dann »eine unmittelbare, eine Seinsbeziehung zu dem Begriff«. 76 Nur für diese Merkmale ist der Begriff konstitutiv, »Das individuelle Gesetz« erscheint 1913 im ersten Heft des vierten Jahrgangs der Zeitschrift LOGOS. Was Simmel hier als individuelles Gesetz bezeichnet und in kritischer Abgrenzung zu Kant entwickelt, beschäftigt ihn jedoch bereits sehr viel früher. So spricht Simmel in »Rodins Plastik und die Geistesrichtung der Gegenwart« von 1902 bereits explizit vom individuellen Gesetz (vgl. G. Simmel: »Rodins Plastik und die Geistesrichtung der Gegenwart« [1902], in: GSG 7, 92–100 sowie hierzu R. Kramme und A. Rammstedt: »Editorischer Bericht« zu: »Das individuelle Gesetz«, in: GSG 7, 533 f., hier 533). 72 G. Simmel: »Das individuelle Gesetz«, 429. 73 Ebd., 418 f. 74 Ebd., 418; vgl. auch ebd., 423. 75 Ebd., 418. 76 Ebd., 419. 71
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normativ hingegen gegenüber allen anderen Merkmalen, die von der »ideellen Form« des Begriffs nicht erfasst werden. 77 Die Individualität wird ihrer Individualität beraubt, der Allgemeinheit des Begriffs zugeführt und nivelliert. 78 Simmel sieht die Ursache dieser Tendenz des Rationalismus in dem Bedürfnis begründet, das Sollen aus dem Sein abzuleiten und dem Sein das Primat zuzusprechen, so dass das Sollen als »Forderung an das individuelle Leben« aus einem »Begrifflich-Allgemeinen«, dem Sein herantritt. 79 Dieser Einbruch der Logik in das Leben 80 bewirkt, dass die Handlungen vom Individuum gelöst, von der Ganzheit eines Lebensvollzugs isoliert und der »normierende[n] Form« des Gesetzes unterworfen werden. 81 Die Individualität untersteht dann ausschließlich der Idealität und Allgemeinheit der Gesetzesform. Mit der Wirklichkeit der handelnden Individuen hat diese Konzeption einer Ethik laut Simmel nichts mehr zu tun. Für ihn gilt es im Gegenzug, die Individualität wieder »als für sich seiende, in sich zentrierende Existenz« anzuerkennen. 82 Dem allgemeinen Gesetz setzt er mit dem individuellen Gesetz deshalb einen Formbegriff entgegen, der die Ganzheit und Totalität des Lebens und damit noch die Individualität einfangen können soll: »Geprägte Form, die lebend sich entwickelt«. 83 Wenn das allgemeine Gesetz die Individualität nicht anerkennt, ist es Simmel zufolge noch nicht allgemein genug. Unter dem Vorzeichen des Relativismus erreicht die Allgemeinheit erst dort den höchsten Grad, wo sie nicht mehr absolut regiert, sondern vielmehr relativ auf die Individualität bezogen wird. Mit dem individuellen Gesetz bringt Simmel einen Gesetzesbegriff ins Spiel, der »diesen relativistischen Gegensatz« in sich aufzunehmen weiß: Es ist »das Ebd. Vgl. ebd. sowie ebd., 427. 79 Ebd., 419. 80 Vgl. ebd., 429. 81 Ebd., 430; vgl. ebd., 429. 82 Ebd., 421. 83 J. W. v. Goethe: »Urworte. Orphisch« [1820], in: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 1: Gedichte und Epen I, hg. von E. Trunz. C. H. Beck: München 121981, 359 f., hier 359; vgl. G. Simmel: »Die historische Formung« [1918], in: GSG 13, 321– 369, hier 329 und G. Simmel: »Werte des Goetheschen Lebens« [1923], in: GSG 20, 11–79, hier 50 sowie hierzu den entsprechenden Hinweis von A. Schlitte: Die Macht des Geldes und die Symbolik der Kultur. Georg Simmels Philosophie des Geldes. Wilhelm Fink: München 2012, 458/Anm. 38. 77 78
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Die Relativität des Seins
absolut Allgemeine […], das sowohl an dem einen wie dem anderen Pole wohnen kann«, ohne den einen dem anderen überzuordnen. 84 Anstelle eines Gesetzes, das dem Leben und seinen Inhalten von außen eine Form auferlegt, sollen Form und Inhalt des individuellen Gesetzes dem Leben selbst entwachsen, um das individuelle Leben und die Form ebendieses Lebens in einem gelingenden Objektivierungsprozess miteinander zu vermitteln. Dem Rationalismus, der das Sollen aus dem Sein ableitet, setzt Simmel den Begriff der »immanente[n] Transzendenz« entgegen. 85 Da uns das Sein stets relativ gegeben ist, kann es nicht den ideellen, metaphysischen Schlusspunkt liefern, aus dem ein Sollen abgeleitet wird; vielmehr müssen Sein und Sollen einander koordiniert werden und eben dies soll der Begriff der immanenten Transzendenz leisten. Der Begriff der immanenten Transzendenz steht zunächst für die Struktur des menschlichen Selbstbewusstseins, denn das »Bewußtsein, in dem oder als das unser Leben sich darstellt, hat doch diese beiden Kategorien zur Verfügung: wir wissen uns, wie wir sind und wissen uns, wie wir sein sollen«. 86 Das Gesetz, das uns als ideelles gegenübersteht, wohnt zugleich in uns. Sein und Sollen fallen in dem Sein, das wir selbst sind, zusammen. Es handelt sich bei beiden um »primäre Kategorie[n]«, die relational aufeinander bezogen und insofern gleichursprünglich sind. 87 »Der Aktus des Selbstbewußtsein, in dem wir ein Sein, dessen Inhalt wir selbst sind, uns gegenüber wissen […], ist jedenfalls der Art nach nichts anderes, als der Aktus des Sollens, in dem wir ein Gebotenes, dessen Inhalt wir selbst sind, uns gegenüber wissen.« 88 Aus der Kategorie des Seins lässt sich kein Sollen ableiten. Vielmehr läuft das Leben »ursprünglich auch unter der Kategorie des Sollens« ab, denn »das jeweilige Sollen ist eine Funktion des totalen Lebens oder individuellen Persönlichkeit«. 89 »In jedem Verhalten von uns ist der ganze Mensch produktiv«, 90 so dass wir Verantwortung für uns, die wir sind und die wir waren, für unsere Handlungen und
84 85 86 87 88 89 90
G. Simmel: »Das individuelle Gesetz«, 421. Ebd., 438; vgl. ebd., 438 f. Ebd., 438. Ebd., 419. Ebd., 438. Ebd., 445. Ebd., 445.
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unsere Geschichte zu übernehmen haben. 91 Das individuelle Gesetz sieht sich in seiner Idealität auf die Realität verwiesen und unterliegt damit nicht weniger der Entwicklung als das Individuum in der empirischen Wirklichkeit: Umfasst das individuelle Gesetz stets das ganze Leben eines Individuums, dann unterliegt es mit der Entwicklung ebendieses Lebens ebenfalls unentwegt Veränderungen. 92 Mit Blick auf die Relation von Sein und Werden fordert Simmel, »das Vorstellen, Wollen und Fühlen von Persönlichkeiten« zum Apriori der Geschichtswissenschaft zu erheben. 93 Das Zentrum dieser Relation ist die Einheit der Persönlichkeit, die mit Blick auf die eigene Persönlichkeit dort zum Problem wird, wo Subjekt und Objekt im korrelativen Wechselspiel mit der Wirklichkeit der Eigenlogik der Objektivationsformen des Geistes ausgesetzt sind. Vermittelt über die Kultur verläuft der Weg der Seele zu sich selbst nicht unproblematisch. An diesem Punkt sehen sich Geschichte und Kultur unmittelbar aufeinander verwiesen, denn die Seele »ist das Gebilde, das Geschichte hat, d. h. in dessen Gegenwart die bestimmte, individuelle Vergangenheit unverwechselbar lebt«. 94 Mit dem individuellen Gesetz formuliert Simmel den Anspruch, seinem eigenen Sein zu entsprechen, d. h. sich selbst in Verantwortung für die eigene Geschichte eine Form zu geben. Simmel überführt die Relation Sein und Werden sowie Sein und Haben in die Relation von Sein und Sollen und vermittelt so Realität und Idealität miteinander. Für Simmel resultiert daraus die Auflösung der zuvor auf Ebene der Kultur entstandenen Problemlage der Tragödie, insofern das individuelle Gesetz für Simmel ein Gegengewicht zur Entfremdungstendenz darstellt, der das Individuum in der modernen Wirklichkeit ausgesetzt ist. 95 Es verhindert, dass dem Vgl. ebd., 442. Vgl. ebd., 458 f., 466–468. 93 G. Simmel: Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1892), 303; vgl. auch G. Simmel: Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1905/1907), 259. 94 G. Simmel: Hauptprobleme, 128. 95 Strukturell gleicht Simmels Diagnose an dieser Stelle der der Tragödie der Kultur, wenngleich Simmel das Augenmerk hier auf die Konsequenzen richtet, die dies für eine praktische Philosophie mit sich bringt: »Wir fühlen uns unfrei, wenn in der jeweiligen Gesamtverfassung unseres Wesens einzelne Momente: sinnliche Triebe, autoritative Suggestionen, Erinnerungen, logische Theoreme usw. sich der Ausgleichung mit unseren anderen Wesenselementen zu entziehen und sich als Selbständigkeiten, nur ihrem eigenen Gesetz folgend, aufzutun scheinen.« (G. Simmel: »Das individuelle Gesetz«, 434; vgl. auch G. Simmel: Hauptprobleme, 141) 91 92
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Sein, das wir selbst sind, ein Sollen aus einer ihm fremden Sphäre diktiert wird, da das Sollen, das dieses Gesetz zum Ausdruck bringt, der Bewegung der immanenten Transzendenz entspringt. Wir sind es, die sich selbst objektivieren: »diese Dualistik, sich selbst sich gegenüberzustellen, sich selbst zum Objekt aller möglichen Funktionen zu machen, gehört zu den Fundamentalbestimmungen des geistigen Lebens.« 96 Das individuelle Gesetz bildet laut Simmel deshalb ein Drittes zwischen einer vermeintlich rein objektiven Realität und dem subjektiven Bewusstseinsleben. 97 Als ideelle Forderung umgreift es das Sein des Menschen in seiner Individualität und erhebt gerade darin Anspruch auf Objektivität: Das Sollen umfasst den ganzen Menschen. Wenn das individuele Gesetz dies aber leisten soll, darf es keine inhaltliche Bestimmung vorgeben; es sagt nichts darüber aus, was wir tun sollen. 98 Anstelle inhaltlicher Bestimmungen macht Simmel das »wirklich allgemein Sittliche« deshalb »am rein Funktionellen, an der Form des Handelns als solcher« fest. 99 Die Inhalte, das Was, das unsere Handlungen im Alltag bestimmt, kann niemals von sich aus gut sein. Gut sind die Inhalte unserer Handlungen nur als Ausdruck eines »von sich aus guten Willens« 100 – und eben dieser gute Wille ist laut Simmel »reine Funktion«. 101 Als eine solche realisiert der Wille zwar Inhalte, setzt sich jedoch nicht aus diesen zusammen. Das sittliche Sollen, so der Anspruch Simmels, wird hier zur »tiefste[n] Forderung«, da es nicht mehr auf einzelne Handlungen oder Inhalte, sondern »auf das Sein des Menschen« selbst gerichtet ist. 102
G. Simmel: »Das individuelle Gesetz«, 438. Vgl. G. Simmel: Hauptprobleme, 106. 98 Vgl. ebd., 147 f. sowie G. Simmel: »Das individuelle Gesetz«, 438 f. 99 G. Simmel: Hauptprobleme, 148. 100 Ebd. 101 Ebd., 150. 102 Ebd., 148. Aus diesem Grund steht für Simmel fest: »das Handeln folgt dem Sein. Vom Sein, insoweit es im Willen zum Ausdruck kommt, wird die Qualität des ›Guten‹ verlangt – für die es vielleicht eine Analyse und Definition nicht gibt, sondern die eine nur zu erlebende Rhythmik des Willens, Form seines Funktionierens bedeutet.« (Ebd.) An diesem Punkt sieht Simmel die größte Differenz zwischen seinem Entwurf des individuellen Gesetzes und dem Kantischen Sittengesetz, da das Kantische Sittengesetz Form und Inhalt zugleich zu bestimmen sucht (vgl. G. Simmel: »Das individuelle Gesetz«, 417) – für Simmel eine »sinnwidrige Ineinssetzung des Wirklichen und des Idealen« (ebd., 418). 96 97
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Seine Objektivität gewinnt das individuelle Gesetz gerade nicht aufgrund der Objektivationsleistung des Geistes – eine Leistung, die die Scheidung zwischen Subjekt und Objekt bewirkt 103 und auf die Tragödie der Kultur führt –, sondern aufgrund der immanenten Transzendenz als einer Funktion der Objektivierung des Lebens aus dem Leben selbst heraus. 104 Simmel möchte so vermeiden, den Menschen auch noch im Bereich der Ethik Zweck-Mittel-Relationen zu unterwerfen. Da keine inhaltliche Bestimmung einen bestimmten Zweck sittlicher Handlungen vorschreiben kann, kann auch das Sollen nicht von einem Zweck her gedacht werden: »Nicht von einem solchen [Inhalt], sondern von uns aus sollen wir; das Sollen als solches ist kein teleologischer Prozeß.« 105 Der Mensch ist sich selbst Zweck. 106 Die zunächst erkenntnistheoretische Scheidung von Subjekt und Objekt, die auf Ebene der Wirklichkeit auf die Relation von Sein und Haben und damit auf die Tragödie der Kultur führt, meint Simmel an diesem Punkt zu überwinden, denn »das Individuelle braucht nicht subjektiv zu sein, das Objektive nicht überindividuell«. 107 Was Simmel auch als »Objektivität des Individuellen« bezeichnet, liegt weder im Bewusstsein des Subjekts begründet, noch in einer überindividuellen und objektiven, dem Subjekt transzendenten Sphäre, sondern bildet besagtes drittes Moment: »[D]as objektive Sollen eben dieses Individuums, die aus seinem Leben heraus an sein Leben gestellte Forderung, die prinzipiell unabhängig davon ist, ob es selbst sie richtig erkennt oder nicht. […] Besteht einmal ein bestimmt individualisiertes Leben, so ist auch sein ideales Sollen als ein objektiv gül-
Vgl. G. Simmel: »Das individuelle Gesetz«, 440. Vgl. ebd. 105 Vgl. ebd., 453. 106 Vgl. ebd., 454. Simmel zufolge ist es Kant gerade nicht gelungen, den Menschen im Bereich der Ethik als Selbstzweck, d. h. frei von außen auferlegten Zwecken zu denken. »Indem Kant nämlich die Pflicht mit der allgemeinen, d. h. der logisch begrifflichen Gültigkeit der Handlungsinhalte identifiziert, wird sie in eine ralionalistische Weltanschauung eingestellt, und die Pflicht erscheint als ein Mittel, das Vernunftideal als eine Verfassung des Daseins zu verwirklichen. […] Hier also offenbart sich, daß auch der kategorische Imperativ von einer Teleologie umfaßt ist, daß auch so das Sollen, weil ihm die Allgemeingültigkeit seines Inhaltes vorgezeichnet ist, zum bloßen Mittel wird, mit dem Endzweck: einer logisierten, rational gesetzlichen Welt zum Dasein zu verhelfen.« (Ebd., 454 f.) 107 G. Simmel: »Das individuelle Gesetz«, 457. 103 104
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Die Relativität des Seins
tiges da, derart, daß wahre und irrige Vorstellungen darüber sowohl von seinem Subjekte wie von anderen Subjekten gefaßt werden können.« 108
Diese Objektivität des Individuellen ist durch die Kontexte, in denen das Individuum in seiner Wirklichkeit steht, mitbedingt und ist in seiner Idealität stets mit dem »tatsächliche[n] Sein oder Leben« des Individuums verwoben. 109 Die Relation von Sein und Werden kann auch das individuelle Gesetz nicht aufheben, es führt nicht abschließend auf eine Vollendung der eigenen Persönlichkeit. 110 Das individuelle Gesetz stellt lediglich über das Ganze des individuellen Lebens die ideale und objektive Forderung, die »kontinuierliche Form« ebendieses Lebens zu bewahren. 111 Die Individualität ist dann, so Simmel, Bestandteil des realen sowie des idealen Menschen gleichermaßen. 112 Das Sollen wird von Simmel der Zweck-Mittel-Relationen enthoben, es gehört in seiner Idealität nicht der Wirklichkeit an. 113 Dennoch bleiben Realität und Idealität nicht unverbunden: Es sind die Inhalte des Lebens, die sich in Korrelation zueinander sowie zugleich durchaus in strengem Gegensatz zueinander als Sein sowie als Sollen konstituieren, beides sind Formen des Lebens. 114 Das Sollen ist dann die »mit dem Leben selbst gegebene[] Ausformung seiner Totalität«. 115 Als »ideale Reihe des Lebens« umfasst dieses Sollen »jedes Sein und Geschehen dieses Lebens« und konzentriert es in seiner Idealität auf ein Zentrum. 116 Im Zuge der Vermittlung von Realität und Idealität soll damit jene Zentrierung der Individualität herbeigeführt werden, die Simmel zufolge die Kantische Philosophie nicht erbringen kann. In der Tendenz zur Objektivierung der Inhalte des Lebens liegen Gefahr und Chance zugleich: hier die Tragödie der Kultur hervorgerufen durch die Scheidung in Subjekt und Objekt, dort die Möglichkeit, im Zuge der (Selbst-)Objektivierung dem eigenen Sein zu entsprechen und dem eigenen Gesetz zu folgen.
108 109 110 111 112 113 114 115 116
Ebd. Ebd., 459. Vgl. ebd., 466. Ebd., 469. Vgl. ebd., 420 f. Vgl. ebd., 454. Vgl. ebd., 439, 456 f. Ebd., 440. Ebd., 443; vgl. ebd. 444, 454.
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VI. Fazit oder: Sein und Wert Simmel spricht zu Beginn der Hauptprobleme davon, dass in »jeder andern Wissenschaft […] ein allgemeiner, prinzipiell anerkannter Erkenntniszweck« besteht. Nur in der Philosophie »bestimmt jeder der überhaupt originalen Denker nicht nur, was er antworten, sondern auch, was er fragen will«. 117 In der Philosophie gibt es im Gegensatz zu anderen Wissenschaften keinen übergeordneten Erkenntniszweck, im Denken unterstehen wir nicht zwangsläufig Zweck-Mittel-Relationen. Es ist gerade die Bindung an die Persönlichkeit, die Simmel zufolge verhindert, dass die Philosophie »ein allgemeines Erkenntnisziel« aufweist. 118 Die Persönlichkeit folgt hier dem eigenen Gesetz und sucht nicht mehr nur der eigenen Individualität eine Form zu geben, sondern auch die Welt als eine Einheit zu fassen. Der Typus des Philosophen ist für diese Aufgabe wie geschaffen, denn was ihn auszeichnet, ist sein Gespür für die Ganzheit des Seins. Der Philosoph weiß um die »Ganzheit der Dinge«, er ist imstande, diese in ein Weltbild zu überführen und so der Heterogenität der Dinge und deren Eigengesetzlichkeit zum Trotz Teil und Ganzes miteinander zu vermitteln – auch das »philosophische Grundverhalten« muss »durch die innerlichste Einheit des Geistes hindurch«. 119 Aufgrund der ihm eigenen Fragestellungen und Antwortversuche, über die der Philosoph ein Weltbild entwirft, bleibt jedes Weltbild in seiner Allgemeinheit stets individuell. Kein Weltbild gleicht dem anderen. Das zentrale heuristische Prinzip, über das wir uns diesem Weltbild nähern, ist das gleiche, das zuvor bereits die Erkenntnistheorie der Geschichte bestimmt: Es ist die Einheit der Persönlichkeit, durch die die einzelnen Teile dieses Weltbildes zu einer »organische[n] Einheit« verschmelzen. 120 Die Einheit der Persönlichkeit fungiert als ein »ideelles Gebilde«, dessen Leistung darin besteht, die Teile in der Form eines Weltbildes zusammenzuhalten, ohne die Individualität auszuschalten. 121 Um sich das Weltbild eines Philosophen zu erschließen, führt der Weg über die Interpretation seines Werkes.
117 118 119 120 121
G. Simmel: Hauptprobleme, 15. Ebd. Ebd., 26. G. Simmel: Kant, 13. Ebd.
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Die Relativität des Seins
Die Persönlichkeit des Philosophen bleibt im Zuge dessen außen vor, das Werk des Philosophen tritt im Gegenzug in den Vordergrund, in dem wir laut Simmel das Individuellste dieses Philosophen erblicken. Die historische Persönlichkeit hat viele Eigenschaften mit weiteren Individuen seiner Zeit gemeinsam und ist gerade darin nichts Besonderes; seine Individualität gewinnt sie erst über ihre Funktion: über die Stiftung eines einheitlichen Weltbildes. Die Individualität scheint durch das Werk und das in diesem enthaltene Weltbild hindurch. Durch dieses Individuelle sehen wir uns laut Simmel dann gerade nicht mit den Besonderheiten einer historischen Persönlichkeit in seiner Individualität konfrontiert; vielmehr scheint hier eine »Schicht der typischen Geistigkeit« durch, etwas typisch Menschliches, das sich weder mit der real-historischen Individualität, noch mit der Objektivität deckt. 122 In »dem individuellen Phänomen [tritt] der Typus Mensch oder ein Typus Mensch in Funktion«: der Mensch als Selbstzweck. 123 In einer solchen Persönlichkeit, die uns an einem Weltbild teilhaben lässt, erblicken wir »das innerlich Objektive einer durchaus nur dem eignen Gesetz gehorchenden Persönlichkeit« – ein Gesetz, das dem Typus Mensch entstammt und diese als Typus vorausliegende Allgemeinheit individuell ausprägt. 124 Was uns das Werk eines Philosophen vor Augen führt, ist »das typische Sein« des geistigen Lebens, das wir als Menschen sind. 125 Über die Themen Geschichte, Kultur und das individuelle Gesetz verhandelt Simmel die Probleme, die seines Erachtens zu den Hauptproblemen der Philosophie zählen, unter ihm eigenen Fragestellungen und Antwortversuchen. Die Kategorien des einen Bereichs dürfen nicht auf den des anderen übertragen werden, die Relationen Sein und Werden, Sein und Haben, Sein und Sollen gehen nicht ineinander auf, sondern bleiben relativ aufeinander bezogen. Die spezifisch modernen Oberflächenphänomene Geschichte, Kultur und das individuelle Gesetz gehen aus diesen Grundrelationen hervor und prägen das Weltbild der Moderne, an dem uns Simmel, vermittelt über sein Werk, teilhaben lässt. In Hauptprobleme der Philosophie expliziert Simmel die drei genannten Relationen, die in Spannung zueinanderstehen bleiben. 122 123 124 125
G. Simmel: Hauptprobleme, 28. Ebd., 29. Ebd. Ebd., 31.
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Bereits in der Philosophie des Geldes jedoch macht Simmel einen Vorschlag, wie die Relativität des Seins zu einer Einheit zusammengeführt werden kann. Die Ausarbeitung seiner Wertphilosophie mag ihm Schwierigkeiten bereitet haben, 126 doch sie führt auf eine weitere Grundrelation seines Relativismus, die mit der Aufgabe des Philosophen korreliert, die Einheit der Wirklichkeit in ein Weltbild zu überführen: auf die Relation von Sein und Wert. Die Reihen Sein und Wert, so macht Simmel deutlich, verlaufen unabhängig voneinander, ihr Verhältnis zueinander ist bloß zufällig. 127 In dieser bloß zufälligen Verbindung von Sein und Wert liegt jedoch gerade die Voraussetzung für die Konstitution eines Weltbildes, das keiner Gesetzlichkeit im strengen Sinne unterworfen ist. Zwischen dem Wert in seiner Idealität und dem Sein der Dinge in der Realität existiert kein kausaler Nexus: »Wir sind fähig, die Inhalte des Weltbildes zu denken, unter völligem Absehen von ihrer realen Existenz oder Nichtexistenz«, denn »wie die Welt des Seins meine Vorstellung ist, so ist die Welt des Wertes meine Begehrung«. 128 Dieses Begehren richtet sich nicht zuletzt auf die Einheit der Wirklichkeit, die nur der Philosoph in der Form eines Weltbildes realisieren kann – und ein Weltbild ist nichts anderes als die Wertung ebendieser Wirklichkeit. Zwischen Subjekt und Objekt schiebt sich damit ein »Drittes, Ideelles, das zwar in jene Zweiheit eingeht, aber nicht in ihr aufgeht«, »gleichsam etwas zwischen uns und den Dingen«. 129
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126 Vgl. G. Simmel an H. Rickert: Brief vom 10. Mai 1898, in: GSG 22, 291 f., hier 292. 127 Vgl. G. Simmel: Philosophie des Geldes, 23–26. 128 G. Simmel: Philosophie des Geldes, 25, 39. 129 Ebd., 36 f.
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III. Aspekte des philosophischen Werkes
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Simmel und die Subjektphilosophie um 1900 Ingo Meyer
Die nicht mehr ganz taufrische Einsicht, dass der hypertrophierte, nämlich vernunftbasierte Subjektbegriff des Deutschen Idealismus mit all seinen Ansprüchen den modernen Menschen überfordert, hat neben den mittlerweile ad acta gelegten postmodernen Toterklärungen des Grundprinzips neuzeitlicher Philosophie zu verschiedenen Versuchen geführt, eine aktuell ermäßigte und lebbare Variante zu finden; ich nenne nur, denkbar weit voneinander entfernt, Jürgen Habermas’ heroischen Versuch, die Vernunft aus dem Subjekt gleichsam in die Kommunikation, also das Soziale, auszulagern 1 und Horst Bredekamps Theorie des Bildakts, die sich zuletzt und ebenfalls als Alternative zum Subjektbegriff annonciert. 2 Fest steht nur, dass wir die ärgerliche, weil noch immer ziemlich undurchschaute Tatsache der Subjektivität per Dekret nicht loswerden, hängt doch buchstäblich alles an ihr, denn alles was ist, ist (zunächst und wenigstens) in meinem Bewusstsein; hier behalten moderate bis radikale Varianten des Konstruktivismus gegenüber bescheidenen bis vollmundigen Spielarten des Realismus noch stets ihr Recht. Subjekt/Ich, Person, Individuum usw. – es hat sich bewährt, mit Manfred Frank »›Subjekt‹ (und Ich)« als Allgemeines, Person als Be1 J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1981. Simmel als Soziologe spielt in Habermas’ Gesellschaftstheorie bekanntlich keine Rolle – und schon gar nicht als Subjektphilosoph. Umso interessanter, dass Simmel genau hier, wo Habermas auf die Unfruchtbarkeit transzendentaler Ansätze eingeht, »in den auf Rickert und Husserl zurückgehenden neukantianischen und phänomenologischen Spielarten der verstehenden Soziologie eher Verwirrung gestiftet« (ebd., Bd. 2, 381) habe. Die m. W. vernichtendste Kritik an Habermas selbst stammt von D. Henrich: »Was ist Metaphysik – was Moderne?«, in: ders.: Konzepte. Essays zur Philosophie in der Zeit. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1987, 11–43, insbes. 34 ff. 2 H. Bredekamp: Theorie des Bildakts. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007. Suhrkamp: Berlin 2010, 328. Zu seinen bizarreren Ausführungen vgl. I. Meyer: »Pikturale Kosmologie. Horst Bredekamps ›Theorie des Bildakts‹«, in: Merkur 65 (2011), 349– 354, hier 352 f.
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Ingo Meyer
sonderes und Individuum als »ein Einzelnes« zu fassen. 3 Wenn ich ergänzen darf, Subjektivität ist demnach ein Prinzip (primär der Wissensorganisation 4), Person etwas Empirisches 5 und Individualität eine Qualität. 6 Nun aber gerade Georg Simmel im Kontext der Subjektphilosophie zu perspektivieren, mag aus mehreren Gründen befremdlich erscheinen. Dafür vier naheliegende Indizien, denn, wiederum nach Frank, war das eigentliche 19. Jahrhundert nach Hegel (und einschließlich Nietzsches) keine gute Zeit für die Frage nach dem Subjekt. 7 So wie ihr in Herbert Schnädelbachs noch immer nützlicher Überblicksdarstellung kein Kapitel gewidmet ist, 8 so bringt das neue Simmel-Handbuch zwar Artikel zu »Persönlichkeit« sowie »Individualisierung, Individualismus und Individualität«, keinen aber zum Subjekt. 9 Nimmt man hingegen Stichproben aus dem Schrifttum der Zeit, drängen sich zuweilen verblüffende Entdeckungen auf. Nir3 M. Frank: Die Unhintergehbarkeit von Individualität. Reflexionen über Subjekt, Person und Individuum aus Anlaß ihrer ›postmodernen‹ Toterklärung. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1986, 25. 4 Allerdings, mit D. Henrich: Denken und Selbstsein. Vorlesungen über Subjektivität. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 2007, 40, 176 f., 212 f., 249, 354, in der seltsamen Spielart eines einstelligen, nicht-relationalen Wissens unmittelbarer Selbstvertrautheit. Dazu später mehr. 5 Nicht zufällig markiert für Niklas Luhmann ›Person‹ die soziale Erreichbarkeit des psychischen Systems, Person ist hier quasi unsere soziale Adresse (vgl. N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Bd. 2. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1997, 620, 643 ff.). 6 Das ist der Grund, warum T. W. Adorno sagen kann: »Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen« (T. W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben [1951]. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1969, 57). 7 M. Frank: »Fragmente einer Geschichte der Selbstbewußtseins-Theorie von Kant bis Sartre«, in: ders. (Hg.): Selbstbewußtseinstheorien von Fichte bis Sartre. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1991, 413–599, hier 505 ff. 8 H. Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831–1933. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1983. Auch kein Wort über die – vereinzelten – neokantianischen Versuche einer Selbstbewusstseinsphilosophie bei K. C. Köhnke: Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus. Die deutsche Universitätsphilosophie zwischen Idealismus und Positivismus. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1986, der seine Rekonstruktionsarbeit noch vor der eigentlichen »Blütezeit« (ebd., 433) des Neokantianismus seit den 1880er Jahren abbricht. Irritiert dazu F. Tenbruck: »Geschichte und Geschichtsschreibung der Philosophie am Beispiel des Neukantianismus«, in: Philosophische Rundschau 35 (1988), 1–15, hier 4 ff. 9 Vgl. F. Fellmann: »Persönlichkeit«, in: H.-P. Müller und T. Reitz (Hg.): SimmelHandbuch. Begriffe, Hauptwerke, Aktualität. Suhrkamp: Berlin 2018, 412–416; H.-P. Müller: »Individualisierung, Individualismus und Individualität«, in: H.-P. Müller
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Simmel und die Subjektphilosophie um 1900
gendwo wird das deutlicher, als in Heinrich Rickerts Brief an Enno Littmann vom 12. November 1913, in dem er die Kandidaten für die Straßburger Professur, die im Jahr darauf letztlich Simmel erhalten sollte, beurteilt: Fritz Medicus’ Einleitung zur Auswahlausgabe Fichtes bei Meiner sei »ein Meisterstück, aus dem jeder, der Fichte sehr genau kennt, noch Neues lernen wird«. 10 Macht man sich die Mühe und liest heute diese wahrhaft verstaubten 180 Seiten, so fällt doch auf, dass Fichte hier zeittypisch, nämlich goethisch als titanisch ringender Geist entrückt wird, dem Autor aber zur Werkkontur und speziell den zahlreichen Varianten der Wissenschaftslehre gar nichts Handfestes einfällt. 11 Die Erfassung von Fichtes ursprünglicher Einsicht 12 war um 1900 offenbar vollständig verstellt. Um also Subjektphilosophie zu einer Zeit substantiell zu explorieren, als Vertreter des Fachs wie der Philosophiehistoriker Rudolf Eucken Nobelpreise erhielten, muss sich der Horizont weiten. Es drängen sich als Seitenstücke zu Simmels Einlassungen Sigmund Freuds Skandaltheorie der Psychoanalyse und Edmund Husserls Phänomenologie auf, von Anbeginn intendiert als vollständiger Neueinsatz philosophischen Denkens. Mit Freud kann man es kurz machen, mit Husserl nicht. 13 Direkte Äußerungen über Freud sind von Simmel nicht überliefert; nur Margarete Susman, selbst in hohem Maße an der Psychoanalyse interessiert, teilt mit, dass Simmel mit dem neuen Paradigma der Jahrhundertwende nichts zu tun haben wollte. 14
und T. Reitz (Hg.): Simmel-Handbuch. Begriffe, Hauptwerke, Aktualität. Suhrkamp: Berlin 2018, 296–303. 10 H. Rickert an E. Littmann: Brief vom 12. November 1913, in: G. Simmel: Gesamtausgabe, hg. von O. Rammstedt. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1989–2015 (im Folgenden GSG), Bd. 24, 369–372, hier 371. 11 F. Medicus: »Einleitung«, in: Johann Gottlieb Fichte: Werke. Auswahl in sechs Bänden, hg. von F. Medicus, Bd. 1. Meiner: Leipzig 1911, V–CLXXX, insbes. LXXVII ff. 12 So der Titel der berühmten Abhandlung von Dieter Henrich aus dem Jahr 1967. Ich komme darauf zurück. 13 Leider völlig nutzlos ist B. Heintzel, U. Kadi und H. Vetter (Hg.): Traum – Logik – Geld. Freud, Husserl und Simmel zum Denken der Moderne. Edition Diskord: Tübingen 2001, da kein einziger (!) der versammelten Beiträger alle drei Positionen synoptisch ins Auge fasst. 14 M. Susman: »Erinnerungen an Georg Simmel« [1957], in: K. Gassen und M. Landmann (Hg.): Buch des Dankes an Georg Simmel. Briefe, Erinnerungen, Bibliographie. Zu seinem 100. Geburtstag am 1. März 1958. Duncker & Humblot: Berlin 1958, 278– 291, hier 289.
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Es fällt nicht allzu schwer, um sich einige Gründe dafür auszumalen. Die Reduktion aller Kultur auf Triebverzicht bzw. ihr Verständnis als Sublimierung sexuellen Begehrens musste einem Kulturphilosophen um 1900, der über Stefan George, Michelangelo und Rodin schrieb und das Wunder der Formbindung seelischer Inhalte umkreiste, zumindest auf den ersten Blick wie eine Verhöhnung alles Geistigen vorkommen. Wer zudem die Differenz in analytischer Exzellenz zwischen Simmel und der Freud-Schule ermessen möchte, lege z. B. seine Essays über die Koketterie neben die Behandlung des Phänomens seitens eines Dr. M. Wulff. Während Simmel das Phänomen als Rache der sozialstrukturell benachteiligten Frau an kognitiv schwerfälligen Männern begreift, 15 fasst Wulff, der Simmels Essay kennt, ihm aber nichts Rechtes abzugewinnen vermag, Koketterie als Ausdruck des Ödipuskomplexes beim Mädchen, operiert also mit dem problematischsten Theorem aus dem Freud’schen Arsenal: 16 Der Hass auf den Vater erst generiere die Eigenart der Koketten, mit männlichen Idealen und Lebenspraxen zu sympathisieren, unbewusst werde so der Koitus »mit der Kastration identifiziert«, woraus Frigidität resultiere. 17 Man kann das wohl auf sich beruhen lassen. Jedoch auch die Traumdeutung des Meisters, die Simmel vielleicht in der Hand gehabt haben könnte – seine Antipathie muss schließlich auf zumindest rudimentärer Kenntnis beruhen –, verschreckt durch ihren Simplizismus. Trauminhalte (heute sollte man besser sagen: ihre propositionalen Gehalte), so Freud, seien »ohne weiteres verständlich, sobald wir sie erfahren haben«, 18 der Traum weise keinerlei kreatives oder ästhetisches Potential auf 19 und sei »ein Stück des über-
G. Simmel: »Zur Psychologie der Frauen« [1890], in: GSG 2, 66–102, hier 97; ders.: »Die Koketterie«, in: ders.: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais [1911], in: GSG 14, 256–277, hier 264 f. 16 M. Wulff: »Die Koketterie in psychoanalytischer Betrachtung«, in: Imago 11 (1925), 123–134, hier 126 f. 17 Ebd., 128 f. 18 S. Freud: Die Traumdeutung [1900], Nachw. v. H. Beland. Fischer: Frankfurt a. M. 1991, 284. 19 Ebd., 499, 580. Umso seltsamer, dass Freud als »Schutzpatron der Surrealisten« (G. Bauer: »Psychoanalyse und Parapsychologie. Der Surrealismus«, in: M. Wagner (Hg.): Moderne Kunst. Das Funkkolleg zum Verständnis der Gegenwartskunst, Bd. 1. Rowohlt: Reinbek 1991, 309–328, hier 325) fungieren konnte, die sich ja die Freiheit, nicht einen neuen Mechanismus der Imagination aufs Panier schrieben. 15
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wundenen Kinderseelenlebens«. 20 Deutlich ist auch das von Freud implementierte Modell der Katharsis, wenn es Funktion des Traumes sei, die »freigelassene Erregung des Ubw [Unbewussten, IM] wieder unter die Herrschaft des Vorbewußten zu bringen«. 21 Einige Jahre vor der Traumdeutung jedoch höhnte Simmel bereits in der Einleitung in die Moralwissenschaft über das – freilich nicht von Freud entdeckte, allerdings selbst von der seriösen Hirnforschung anerkannte 22 – »Unbewusste« als Verlegenheitskonzept des Kausaldenkens mit seinem »alte[n] Irrthum des Kraftbegriffs«; alles, was offenbar keine »reale Ursache« habe, werde in dieser black box abgelegt. 23 Später allerdings konzediert Simmel durchaus Latenzzustände des Bewusstseins. 24 Ebenso nimmt er im frühen Buch, wohl Kants Rede vom inneren Gerichtshof attackierend, die Annahme einer »richterliche[n] Instanz« in unsrem Inneren für eine »vulgäre Vorstellung«, 25 hätte folglich auch das vom späten Freud erfundene »Über-Ich«, eine bloße Metapher, nicht akzeptabel gefunden, spätestens jedoch beim Gewahrwerden von Freuds Pansexualismus, der noch das Treppensteigen als Sexualmetapher nimmt, 26 hätte Simmel indigniert abgewunken, zumal die Traumdeutung explizit als Korrektur der Philosophie auftritt, die den »Bau unseres seelischen Apparats« bisher nicht wesentlich habe erhellen können. 27 Und doch gibt es zwischen Freud und Simmel einige Ähnlichkeiten; des ersteren Einsicht etwa, dass das Individuum mit der Evolution »gewissermaßen nicht mitgekommen« sei und daher eines
S. Freud: Traumdeutung, 556. Wie das zum Faktum passen soll, dass auch Tiere träumen (ebd., 146), hat sich Freud offenbar nicht gefragt. 21 Ebd., 568. 22 Eher psychogenetisch orientiert G. Roth: Aus der Sicht des Gehirns. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 2003, 151. Wichtiger ist doch wohl, dass wir ohne Unbewusstes nicht einmal in ein Wahrnehmungskontinuum der Alltagswelt eintreten könnten. Zu Freuds Vorläufern bis Schelling (von dessen Schule er weiß, vgl. S. Freud: Traumdeutung, 22) vgl. O. Marquard: »Zur Bedeutung der Theorie des Unbewußten für eine Theorie der nicht mehr schönen Künste« [1968], in: ders.: Aesthetica und Anaesthetica. Philosophische Überlegungen. Paderborn: Schöningh 1989, 35–46. 23 G. Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft. Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe, Bd. 2 [1893], in: GSG 4, 7–389, hier 263 f. 24 G. Simmel: »Die Persönlichkeit Gottes« [1911], in: ders.: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais [1911], in: GSG 14, 349–366, hier 354. 25 G. Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft, Bd. 2, 282. 26 S. Freud: Traumdeutung, 310. 27 Ebd., 158. 20
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»Mechanismus der universalen Versagung durch Kultur« bedürfe, 28 mit Simmels Zeitdiagnose, dass der Mensch »aus sich selbst entfernt« 29 sei, später dann gar einer »Tragödie der Kultur« als schlicht quantitative Zunahme der Kulturgüter, wirksam als Komplexisierungsdruck auf das Individuum 30 und überhaupt die in der Philosophie des Geldes vorgetragene Ansicht, Moderne sei kulturelle Sublimierung, was bei Simmel heißt: Beschleunigung, Verlängerung der Zweckreihen, zunehmende Differenzierung, damit aber auch das Bedürfnis nach höchst verfeinerten und archaischen Genüssen in einer Person. Sehr wahrscheinlich hätte sich Simmel jedoch für Freuds späte metapsychologische Arbeiten, die u. a. fragen, wie der Krieg in die Welt kommt, interessieren können, spekulierte er doch selbst 1908 in »Der Mensch als Feind« über einen »apriorischen Kampfinstinkt«, 31 der sämtliche Sozialverhältnisse von der Gemeinschaft »primitiver Gruppen« bis zu den modernen Geschlechterverhältnissen grundiere, 32 um selbst die Seele als wesentlich apotropäische zu fassen: Nichts spreche dagegen, daß sie »nicht auch ein in ihr autochthones Bedürfnis, zu hassen und zu kämpfen besäße«. 33 Gut vorstellbar wäre ebenso die Neugierde auf Das Unbehagen in der Kultur, denn gerade Simmels Mensch ist ja das kulturschaffende Wesen. Dass nun alle Kultur auf Triebverzicht bzw. -Unterdrückung basiere, 34 hätte ihn zumindest als Reibefläche angehen können. Entscheidend aber ist schlicht die Differenz beider in Weitsicht von Diagnose und Qualität der Analyse. Nirgendwo wird das schlagender als in der Deutung der Religion, die Freud »einer KinderSo T. W. Adorno: Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft [1964], hg. von T. ten Brink und M. P. Nogueira. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 2008, 148. 29 G. Simmel: Philosophie des Geldes [1900], in: GSG 6, 7–716, hier 674. 30 Vgl. G. Simmel: »Der Begriff und die Tragödie der Kultur« [1911], in: ders.: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais [1911], in: GSG 14, 385–416, hier 392, 402 ff. Ein close reading des Tragödientheorems findet sich bei G. Ehrl: »Wie ›tragisch‹ ist Simmels ›Tragödie der Kultur‹ ?«, in: Simmel Studies 15 (2005), 3–37. 31 G. Simmel: »Der Mensch als Feind. Zwei Fragmente aus einer Soziologie« [1908], in: GSG 8, 335–343, hier 336. 32 Ebd., 339, 343. 33 Ebd., 338. 34 S. Freud: »Die kulturelle Sexualmoral und die moderne Nervosität« [1908], in: ders.: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie und verwandte Schriften, ausgew. von A. Mitscherlich, Frankfurt a. M. 1977, 120–139, hier 125; ders.: »Zeitgemäßes über Krieg und Tod« [1915], in: ders.: Das Unbehagen in der Kultur und andere kulturtheoretische Schriften, eingel. von A. Lorenzer und B. Görlich. Fischer: Frankfurt a. M. 1994, 133–161, hier 143. 28
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neurose vergleichbar« und durch Anführen von Vernunftgründen, also Aufklärung, hoffentlich bald zu beseitigen ist. 35 Diese, noch vom Wissenschaftsglauben des 19. Jahrhunderts tief imprägnierte Naivität disqualifiziert Freuds Position nicht nur für jedes ernsthafte Gespräch mit Philosophen oder Soziologen, zumal vom Schlage Simmels, der die Vokabel »religioid« für ein bestimmtes Verhalten erfunden 36 und im Rembrandt ausführlich über religiöse Kunst nachgedacht hat. 37 Simmel betont angesichts des schon damals verfügbaren religiösen Supermarkts der Inhalte, hingegen die »Funktion« und träumt davon, modern nicht seins-, sondern, mit einem unschönen Wort, lebensfromm zu werden, damit »dessen Vollzug selbst ein religiöser« würde, die »Wendung zu der religiösen Gestaltung des Lebens selbst« 38 erreicht wäre. Nur: Die »Durchschnittstypen« werden das wohl nicht schaffen. 39 Mehr noch, die von Freud empfundene »Aufgabe der Versöhnung des Menschen mit der Kultur« 40 hätte bei Simmel eher Heiterkeit erregt, ist ihm doch Sinn der Kultur, die er als wesentlich konfliktuell denkt, die Erzeugung, nicht Lösung von Problemen zwecks, systemtheoretisch gesprochen, besserer Umweltadaption. 41 Auch die berühmte Formel, dass das »Ich […] nicht einmal Herr ist im eigenen Hause, sondern auf kärgliche Nachrichten angewiesen bleibt von dem, was unbewußt in seinem Seelenleben vorgeht«, 42 hätte der in der Spätphase so sehr an bewussten Formbildungsprozessen zumal in der Ästhetik interessierte Simmel nicht unterschrieben. Weiterhin verfügt der Mediziner Freud über keinen philosophisch belastbaren Subjektbegriff, sondern handelt stets von empiri-
S. Freud: »Die Zukunft einer Illusion« [1927], in: ders.: Gesammelte Werke, chronologisch geordnet, hg. von A. Freud, Bd. 14: Werke aus den Jahren 1925–1931. Imago: London 1948, 321–380, hier 354, 362 ff., 377. 36 G. Simmel: Die Religion [1906], in: GSG 10, 39–118, hier 61. 37 G. Simmel: Rembrandt. Ein kunstphilosophischer Versuch [1916], in: GSG 15, 305–515, hier: 451–515. 38 G. Simmel: »Das Problem der religiösen Lage« [1910], in: GSG 12, 148–161, hier 157, 160. 39 Ebd. 40 S. Freud: »Die Zukunft einer Illusion«, 368. 41 Vgl. G. Simmel: »Der Konflikt der modernen Kultur. Ein Vortrag« [1918], in: GSG 16, 181–207, hier 205 f. 42 S. Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse [1917]. Fischer: Frankfurt a. M. 1977, 226. 35
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schen Individuen 43 – als Patienten, denn wir alle sind neurotisch, weil kulturell zugerichtet, weil recht eigentlich Triebwesen, und »die Neurosenlehre ist die Psychoanalyse selbst«; 44 Grundannahmen, die nicht nur Simmel nicht teilen mochte. Niemand bringt den schon damals lebhaft empfundenen Zumutungsgehalt der Primitivität des psychoanalytischen Instrumentariums mit ihren Simplifikationen und Remythisierungen besser auf den Punkt als Egon Friedell, der übrigens gut als simmelianischer Kulturhistoriker lesbar ist. 45 Zwar sei der Primat des Geistigen gegenüber allem gar nicht erst satisfaktionsfähigen Materialismus noch bei Freud, mit dem Friedells Kulturgeschichte übrigens endet, gesichert, 46 doch scheint ihm »die Psychoanalyse als eine Religion, die als Wissenschaft auftritt«, allerdings »heidnischen Charakters: Naturanbetung, Dämonologie, chthonischer Tiefenglaube, dionysische Sexusvergötterung«; 47 als »Sklavenaufstand der Amoral« ein »Racheakt der Schlechtweggekommenen«, nämlich der Neurotiker. 48 Und dennoch gilt Freud bis heute als »ein Kolonisator, ein Eroberer, der trotz tiefer Skepsis doch den Traum der Vernunft träumte« 49 – diesem freilich war Simmel stets abhold. Edmund Husserl hingegen gehört zu den wenigen Philosophen um 1900, die sich wirklich am Subjektbegriff abarbeiten. Sein Verhältnis zu Simmel allerdings ist in der längst unüberschaubaren, internationalen Husserl-Forschung m. W. bisher nicht ausführlich untersucht. 50 Wie einige überlieferte Korrespondenz zeigt, war Simmel mit
Die Verwirrung scheint hier notorisch, siehe als Ordnungsversuch C. Kupke: »Subjekt und Individuum. Zur Bedeutsamkeit ihres philosophischen Unterschieds in der psychiatrischen Praxis«, in: E-Journal Philosophie der Psychologie 3 (2007) 8, 1– 11, hier 2. 44 S. Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, 298. 45 Zu Simmel und Friedell vgl. I. Meyer: »Simmel as a ›Hidden King‹ ? On his Relations to Egon Friedell and Max Raphael«, in: Hermes. Journal of Communication 10 (2018), 13–22. 46 E. Friedell: Kulturgeschichte der Neuzeit. Die Krisis der europäischen Seele von der schwarzen Pest bis zum Ersten Weltkrieg [1927–1931]. Beck: München 1989, 1519. 47 Ebd. 48 Ebd., 1518. 49 Zuletzt wieder J. Schimmang: Grenzen, Ränder, Niemandsländer. 51 Geländegänge. Edition Nautilus: Hamburg 2014, 117, nicht zufällig ein 68er, bei denen Freud bekanntlich seine beste Zeit hatte. 50 G. Backhaus: »Georg Simmel as an Eidetic Scientist«, in: Sociological Theory 16 (1998), 260–281; ders. »Husserlian Affinities in Simmel’s Later Philosophy of His43
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Husserl befreundet, 1907 erhält dieser Reisetipps für Florenz, 51 manchmal verpasst man sich in Berlin 52 und kommt dann in Göttingen zusammen, 53 tauscht Monographien und Sonderdrucke 54 – darunter, so Simmel am 19. Februar 1911, ein »kleines Büchelchen«, 55 genannt Hauptprobleme der Philosophie – die Husserl, wenn auch oftmals Jahre später, tatsächlich gelesen hat. 56 Simmel hingegen ist als eifriger Student der Logischen Untersuchungen oder auch nur der Ideen I schwer vorstellbar, dennoch musste er wissen, was Husserl umtrieb, teilt er doch Rickert am 14. Dezember 1909 mit, dass Husserl »durchaus als ein führender geist« gilt und plädiert für seine Aufnahme in das Herausgeberboard des Logos. 57 In »Über einige gegenwärtige Probleme der Philosophie« von 1912 spottet Simmel über den prototypischen Neokantianer, der erscheine »wie jemand, der dauernd Messer und Gabel putzt und auf ihre Gebrauchsfähigkeit untersucht, aber nichts zu essen hat«, und zählt Husserl neben Bergson zu denjenigen, die auf die »Kantische Kette am Fuß« 58 nichts geben und – wie er selbst – zu einem unverkürzten Begriff der Erfahrung vordringen, während Husserl selbst erst in den Londoner Vorträgen von 1922 explizit die »ungeheure Extension des Begriffs der Erfahrung« fordert. 59 Eine weitere Vergleichbarkeit liegt im »Schein der Konkre-
tory: The 1918 Essay«, in: Human Studies 26 (2003), 223–258, ist über Tentatives bisher nicht hinausgelangt. 51 Siehe G. Simmel an E. Husserl: Brief vom 12. März 1907, in: GSG 22, 570–571. 52 Siehe G. Simmel an E. Husserl: Brief vom 2. März 1913, in: GSG 23, 169; E. Husserl an G. Simmel: Rohrpostkarte vom 9. März 1906, in: GSG 24, 121 f. 53 Siehe G. Simmel an M. von Bendemann: Brief vom 4. Mai 1913, in: GSG 23, 180. 54 Siehe G. Simmel an E. Husserl, Widmung o. O., o. D. (1. Jan. 1909), in: GSG 22, 680; ders.: Widmung vom 30. oder 31. Juli 1912, in: GSG 23, 93; ders.: Widmung um den 1. November 1913, in: GSG 23, 211 f. 55 G. Simmel an E. Husserl: Brief vom 19. Februar 1911, in: GSG 22, 940 f., hier 940. 56 Husserl pflegte seine Lektüren zu datieren, Simmels »Das Problem des Schicksals« [1913], in: GSG 13, 483–491, etwa las er am 2. Juli 1931 (vgl. G. Simmel: Widmung um den 1. November 1913, 211 f.). 57 G. Simmel an H. Rickert: Brief vom 14. Dezember 1909, in: GSG 22, 752 f., hier 753. 58 G. Simmel: »Über einige gegenwärtige Probleme der Philosophie« [1912], in: GSG 12, 381–387, hier 382, 383. 59 Ich zitiere von Anbeginn nach E. Husserl: Einleitung in die Philosophie: Vorlesungen 1922/23, in: ders., Husserliana, hg. vom Husserl-Archiv Leuven. Martinus Nijhoff; Kluwer Academic Publishers: Den Haag/Dordrecht u. a. 1950 ff. (im Folgenden Hua), Bd. 35, hg. von B. Goossens. Kluwer Academic Publischers: Dordrecht/Boston MA u. a., 325.
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tion« bei Husserl, die »Begriffe werden sinnlich getönt«, wie Adorno notierte, während für ihn Simmel tatsächlich zu den Sachen vorgedrungen sei, aber in schlechter Metaphysik terminiere. 60 Niemals jedoch kommt Simmel Husserls Beschreibungsmodalitäten so nahe wie im Essay mit dem seltsamen Titel »Die Persönlichkeit Gottes« 61 von 1911. Über Erinnerung, Zeit und Vorstellung: »Nun aber werden Bewußtseinselemente durch Bewußtseinselemente beeinflußt, d. h. wir können uns den kontinuierlichen Fluß unsres inneren Lebens nur unter dem Symbol denken, daß dessen Inhalte, in unserer Abstraktion zu einzelnen, umschriebenen Vorstellungen kristallisiert, sich untereinander modifizieren und so die Gegenwart des Menschen, im großen und ganzen, das Ergebnis seiner Vergangenheit ist«. 62 Simmel spricht hier von »Bewußtseinsrayons«, 63 kann aber Husserls berühmte, von Heidegger und Edith Stein erst 1925 edierte Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins gar nicht kennen. Mit Husserl im Geiste sicher einig war sich Simmel im offenen Brief an Karl Lamprecht vom 17. Mai 1913 in der Abwehr der Okkupation philosophischer Lehrstühle durch Psychologen, denn »die Philosophie hat von der Psychologie nichts zu gewinnen«. 64 Nicht nur hat Husserl nach geläufiger Auffassung in den Logischen Untersuchungen die Psychologie erledigt, sofern sie sich anheischig macht, Denkprozesse und Logik empirisch aufzuklären, sondern auch der berühmte, lange Aufsatz »Philosophie als strenge Wissenschaft«, 1911 im Logos erschienen, dem Periodikum, das Simmel ganz kontrafaktisch als seine Zeitschrift empfand, also zu kennen hatte, hat neben der Verkündigung eines wahrhaften strong programs (Ursprungs- und Korrelationsforschung, Philosophie von unten und doch des Geistes etc.) neben der Psychologie-Schelte jedoch erstaunlich wenig mitzuteilen. Diese immerhin lautet: Psychologie sei als »Tatsachenwissenschaft« gar nicht in der Lage, »Fundamente abzugeT. W. Adorno: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Studien über Husserl und die phänomenologischen Antinomien [1956]. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1970, 43; ders.: »Henkel, Krug und frühe Erfahrung«, in: ders.: Noten zur Literatur, hg. von R. Tiedemann. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1974, 556–566, hier 558, 561. 61 Der Titel ist R. H. Lotze: Mikrokosmos. Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit. Versuch einer Anthropologie [1864], hg. und eingel. von N. Milkov, Bd. 3. Meiner: Hamburg 2017, 545 ff. entnommen. 62 G. Simmel: »Die Persönlichkeit Gottes«, 353. 63 Ebd. 64 G. Simmel an K. Lamprecht: Brief vom 17. Mai 1913, in: GSG 17, 107–112, hier 110. 60
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Simmel und die Subjektphilosophie um 1900
ben, die es mit den reinen Prinzipien aller Normierung zu tun haben, also der reinen Logik, der reinen Axiologie und Praktik«. 65 Da Psychologie nicht einmal an die Gegenstandskonstitution herankomme, bedürfe es einer »Wissenschaft vom Bewußtsein und doch nicht Psychologie«, kurz: einer »Phänomenologie des Bewußtseins«. 66 Zugleich aber war Simmel nur zu klar, dass man nicht im selben Bergwerk arbeite, denn, so an Rickert am 15. Dezember 1909, »Kulturbeziehungen der Philosophie« kommen bei Husserl schlicht nicht vor, 67 auch Margarete Susman wird am 4. Mai 1913 nach »langen Gesprächen« mit Husserl in Göttingen in Kenntnis gesetzt, wie weit sich doch der »Abstand zwischen unsren geistigen Naturen« ausnehme. 68 Was aber hat Husserl nun in die Waagschale der Subjektphilosophie zu werfen? Der Gang ist in groben Zügen bekannt: In den Logischen Untersuchungen verneint er die Denknotwendigkeit eines Ich, das über das »phänomenologisch reduzierte« 69 hinausginge und spottet über die »Ausartungen der Ichmetaphysik«. 70 Aufgrund der ständig statthabenden, zahllosen intentionalen Akte »konstituiert sich das Ich als subsistierender Gegenstand erst in der alle wirklichen und möglichen Veränderungen der Erlebniskomplexion übergreifenden Einheit«. 71 So erscheint ihm sicher, »daß das phänomenologisch reduzierte Ich […] seine Einheit in sich selbst trägt«. 72 Der schöne, schlanke Gedankengang ist klar, ähnlich wie ein Feedback oder Residualecho (und ähnlich wie schon beim Fichte-Schüler, dann Gegner Herbart, den Simmel gut kannte) entsteht das Ich als emergente Einheit erst
E. Husserl: »Philosophie als strenge Wissenschaft« [1911], in: Hua 25, 3–62, hier 12 f. 66 Ebd., 17. 67 G. Simmel an H. Rickert: Postkarte vom 15. Dezember 1909, in: GSG 22, 757. Und, so Simmel im selben Brief, auch nicht bei Cassirer, der ihm als kommende Potenz noch vor der Arbeit zum Substanz- und Funktionsbegriff auffällt. Er konnte weder von der Philosophie der symbolischen Formen noch von Husserls Krisis-Schrift wissen, die endlich die Geschichte entdeckt – nach Marcuse »wirklich ein Neubeginn« (J. Habermas: »Gespräch mit Herbert Marcuse« [1977], in: ders.: Philosophisch-politische Profile. Erweiterte Neuausgabe. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1981, 265–319, hier 279). 68 G. Simmel an M. von Bendemann: Brief vom 4. Mai 1913, in: GSG 23, 180. 69 E. Husserl: Logische Untersuchungen. Zweiter Band. Erster Teil: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis [1901], in: Hua 19, 364. 70 Ebd., 374. 71 Ebd. 72 Ebd. 65
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aus seiner Tätigkeit. 73 Charakteristisch für den frühen Husserl kann Reflexion auf den eigenen Bewusstseinsstrom die »adäquate«, also phänomenologisch gereinigte Wahrnehmung freilegen: »Das adäquat Wahrgenommene […] macht nun den erkenntnistheoretisch ersten und absolut sicheren Bereich dessen aus, was im betreffenden Augenblick die Reduktion des phänomenalen empirischen Ich auf seinen rein phänomenologisch faßbaren Inhalt ergibt; wie es auch umgekehrt richtig sein wird, daß im Urteil ›ich bin‹ unter dem Ich das adäquat Wahrgenommene eben den die Evidenz zu allererst ermöglichenden und begründenden Kern ausmacht«. 74 Funktionalisten und Pragmatisten jeder Couleur würden an dieser Stelle heute noch zustimmen, das Ich sei einfach mit seiner »eigenen Verknüpfungseinheit identisch«, 75 doch schon beim zweiten Blick vermag die Erledigung des Problems nicht zu überzeugen, denn um intentionale Akte als je meinige identifizieren (!) zu können, muß ich über eine IchIdentität ja bereits verfügen. Husserl ist 1901 noch überzeugt, »daß das Ich sich selbst erscheine« 76 – nur muss es sich dann bereits kennen, ganz so, wie Feedbacks und Echos eben Feedbacks und Echos von etwas sind. Husserl beunruhigt hier noch nicht, dass er den »zweite[n] Bewußtseinsbegriff« als den »ursprünglichere[n]« 77 aus dem ersten ableiten muss. 78 Nach seiner späteren Revision fügte er in die Logischen Untersuchungen ein, dass er die »Opposition gegen die Lehre vom ›reinen‹ Ich« nicht mehr aufrecht erhalte. 79
73 Genau dieses Argument aus Herbarts Psychologie als Wissenschaft referiert Simmel (vgl. G. Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft, Bd. 2, 141) – und wird von Manfred Frank in seiner Textsammlung gebracht (vgl. J. F. Herbart: »Darstellung des im Begriff des Ich enthaltenen Problems, nebst den ersten Schritten zu dessen Auflösung«, in: M. Frank (Hg.): Selbstbewußtseinstheorien, 70–84). 74 E. Husserl: Logische Untersuchungen. Zweiter Band. Erster Teil, 368. 75 Ebd., 364. Typisch dafür etwa Richard Rorty: Das Ich habe keine Wünsche, Empfindungen etc., es sei diese Wünsche und Empfindungen – man möge den »Begriff ›Bewußtsein‹ fallenlassen« (R. Rorty: »Physikalismus ohne Reduktionismus«, in: ders.: Eine Kultur ohne Zentrum. Vier philosophische Essays und ein Vorwort, übers. von J. Schulte. Reclam: Stuttgart 1993, 48–71, hier 64 f.). Wie der Übergang von einem Wunsch zum anderen stattfinden soll, das Ich sich perpetuiert, erfährt man nicht. 76 E. Husserl: Logische Untersuchungen. Zweiter Band. Erster Teil, 375. 77 Dies ist bereits eine Spezifikation der zweiten, erheblich umgearbeiteten Auflage von 1913. 78 Ebd., 367. 79 Ebd., 364; vgl. E. Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomeno-
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Simmel und die Subjektphilosophie um 1900
Husserl hat seine transzendentale Wende, die sich um 1907 ankündigt, 1913 mit den Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, enthaltend die berühmte, aber gar zu ausführliche dargelegte »Einklammerung« oder epoché, vollzogen und selbst so genannt. Der Preis ist hoch, »kein reales Sein […] ist für das Sein des Bewußtseins notwendig«, 80 Husserl konzediert sogar: »Zwischen Bewußtsein und Realität gähnt ein wahrer Abgrund des Sinnes«, beruhigt sich aber wenige Sätze zuvor damit, »daß Bewußtsein (Erlebnis) und reales Sein nichts weniger als gleichgeordnete Seinsarten sind, die friedlich nebeneinander wohnen«. 81 Und dennoch sei wahr, »daß trotz alledem Bewußtsein […] als ein für sich geschlossener Seinszusammenhang zu gelten hat, als ein Zusammenhang absoluten Seins, in den nichts hineindringen und aus dem nichts entschlüpfen kann; der kein räumlich-zeitliches Draußen hat und in keinem räumlich-zeitlichen Zusammenhange darinnen sein kann, der von keinem Dinge Kausalität erfahren und auf kein Ding Kausalität üben kann«. 82 Die »ganze räumlich-zeitliche Welt« ist »ihrem Sinne nach bloßes intentionales Sein, […] darüber hinaus aber ein Nichts«. 83 Das nun ist nicht nur trotz aller Beteuerungen eindeutig solipsistisch, 84 sondern geradezu nihilistisch. Kontraintuitiv und in direkter Opposition zu den Logischen Untersuchungen heißt es, »das Sein, das für uns das Erste ist, ist an sich das Zweite, […] Realität […] entbehrt wesensmäßig […] der Selbständigkeit«, 85 sie ist Konstruktion des absoluten, reinen Ich: »Wir haben eigentlich [durch die »Einklammerung«] nichts verloren, aber das ganze absolute Sein gewonnen, das, recht verstanden, alle weltlichen Transzendenzen in sich birgt, sie in sich ›konstituiert‹«. 86 Welt wird in der phänomenologischen Analyse ein Schattenspiel ohne Referenz. Und das Ich? Innerhalb der Einklammerung nimmt Husserl noch eine Einklammerung vor, gut kantianisch »scheint [es] beständig, ja notwendig da zu sein, logischen Philosophie I: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie [1913], in: Hua 3/1, 124. 80 Ebd., 104. 81 Ebd., 105. 82 Ebd. 83 Ebd., 106. 84 Kein »subjektiver Idealismus« (ebd., 120), die Welt bestehe ja weiterhin. Aber wie kann ich das wissen, wenn ich selbst sie konstituiere? Dieser Hinweis findet sich schon bei T. W. Adorno: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie, 93. 85 Ebd., 106. 86 Ebd., 107.
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[…] gehört es [doch] zu jedem kommenden und verströmenden Erlebnis«, aber wir werden »nirgends auf das reine Ich stoßen«. 87 Es sei »ein Identisches« in der Internalität des Bewusstseinsstromes extern, eben transzendental. 88 Für Husserl ist es »eine eigenartige – nicht konstituierte – Transzendenz, eine Transzendenz in der Immanenz«, man werde es »einer Ausschaltung nicht unterziehen dürfen«. 89 Husserl freilich konzediert die »schwierigen Fragen des reinen Ich« und vertröstet den Leser auf die (zu Lebzeiten nicht erschienenen) Ideen II. 90 Hier nun ist er um Entzerrung bemüht, das absolute Ich sei »gar nichts Geheimnisvolles oder gar Mystisches«. 91 Immer noch lebe das Ich in den »mannigfaltigen Akten«, 92 kann aber in Latenz absinken. 93 Vor allem jedoch: Ich ist nun selbst Prozess, 94 »ich bin immerfort derselbe, aber im wechselnden Strom der Erlebnisse, in denen öfter neue Motive sich konstituieren. […] Das eine reine Ich ist« nun doch, anders als in den Ideen I, »konstituiert als Einheit mit Beziehung auf diese Stromeinheit, das sagt, es kann sich als identisches in seinem Verlauf finden«. 95 Damit lädt sich Husserl erstens die Frage nach einer – bis heute fehlenden – adäquaten Prozesstheorie auf. Zweitens die Frage nach der »originären Selbsterfassung« dieses Ich, denn selbst »erscheint [es] nicht«; 96 Husserl verfällt, bei seiner hohen Verehrung für Descartes nicht verwunderlich, auf das berüchtigte Reflexionsmodell, »Selbstwahrnehmung ist eine Reflexion«, 97 spätestens seit Dieter Henrichs Abhandlung ausgewiesen als untauglich zur ErEbd., 123. Ebd. 89 Ebd., 124. 90 Ebd. 91 E. Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie II: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution [1952], in: Hua 4, 97. 92 Ebd., 98. 93 Ebd., 99 f. 94 »Für Husserl ergibt sich z. B. die Identität der erlebenden Subjektivität allererst aus und mit den verschiedenen im wandelbaren Fluss befindlichen ›cogitationen‹ ; die Einheit des Subjekts ist nicht ein ontologisch starres Zugrundeliegen, sondern bei der denkenden Subjektivität steht die Identität in Wechselbeziehung zu den mannigfaltigen Erlebnischarakteren und Erlebnisinhalten im heraklitischen Bewusstseinsfluss.« (R. Schäfer: Ich-Welten. Erkenntnis, Urteil und Identität aus der egologischen Differenz von Leibniz bis Davidson. Schöningh: Paderborn 2012, 206) Aber wie geht das? 95 E. Husserl: Ideen II, 112. 96 Ebd., 101, 104. 97 Ebd., 248. 87 88
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hellung der intrikaten Fragen des Selbstbewusstseins, da hier der infinite Regress vorprogrammiert sei: 98 Im Spiegelbild sehe ich gerade nicht mich selbst, sondern mein Spiegelbild, die Re-flexion-auf-etwas bekommt immer nur das Reflektierte, niemals die reflektierende, aktive Instanz ins Blickfeld. Doch Husserl geht noch weiter, »[d]as reine Ich ist durch das reine Ich, das identisch selbe, gegenständlich setzbar«. 99 Dann aber wäre recht eigentlich keine Identität mehr oder eine ursprüngliche Verdopplung des Selbstbezugs. Manfred Frank hat in einer eingehenden Analyse Husserls Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins den Garaus gemacht, lande dieser doch in den besten Fällen stets bei der Annahme von qua Retention zugänglicher »Urimpressionen« oder gar einem »Urbewußtsein«, passivisch, nicht intentional gewahrend, 100 um den infiniten Regress zu sistieren, bei zugleich behaupteter Selbstpräsenz des gegenwärtig konstituierenden, absoluten Ich, das natürlich nicht in die empirische Zeit fallen darf. 101 Man sieht, die Problemlage der Ideen II kehrt hier, gleichsam material gewendet, wieder. Frank lobt zu Recht »Husserls wunderbare Lernbereitschaft und Phänomentreue«, 102 doch scheint ein Unbehagen zu bleiben, denn m. E. nicht zufällig in diesem Zusammenhang, dem Abschied von den Logischen D. Henrich: Fichtes ursprüngliche Einsicht. Klostermann: Frankfurt a. M. 1967, 9, 17, 50; ders.: »Fichtes ›Ich‹«, in: ders.: Selbstverhältnisse. Gedanken und Auslegungen zu den Grundlagen der klassischen deutschen Philosophie. Reclam: Stuttgart 1982, 57–82, hier 60, 66. Gänzlich unbeeindruckt davon zeigt sich Elisabeth Ströker, denn die »Selbstgewißheit des Ich ist ferner reflektive Gewißheit. Gewendet auf sich aber, weiß sich das Ich schon in der natürlichen Selbstreflexion nicht nur als identisch bleibendes im Wandel seines fort und fort strömenden Aktlebens; es weiß sich auch als Objekt und Subjekt der Reflexion und in dieser Dopplung wiederum mit sich eins – so jedoch, daß ihm diese Identität niemals evident faßbar werden kann.« (E. Ströker: Husserls transzendentale Phänomenologie. Klostermann: Frankfurt a. M. 1987, 129) Hieran ist nun alles fraglich. 99 E. Husserl: Ideen II, 101. 100 Vgl. dazu K. Held: Lebendige Gegenwart. Die Frage nach der Seinsweise des transzendentalen Ich bei Husserl, entwickelt am Leitfaden der Zeitproblematik. Nijhoff: Den Haag 1966, 98 ff., der als einer der ersten die späten »C-Manuskripte« sichtete. 101 M. Frank: »Zeit und Selbst. Oder: Wie sich präreflexives Bewusstsein differenziert« [1990], in: ders.: Ansichten der Subjektivität. Berlin: Frankfurt a. M. 2012, 191–260, hier 195 ff., insbes. 217 ff. Frank übrigens hält den Ansatz von Husserls Lehrer Franz Brentano für geeigneter, die präsentische, unmittelbare Selbstvertrautheit zu explizieren (vgl. ebd. 226 ff.). 102 M. Frank: »Fragmente einer Geschichte der Selbstbewußtseins-Theorie von Kant bis Sartre«, 541. 98
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Untersuchungen während der Jahre von ca. 1905–1910, muss man Husserls dritten Weg, die verschiedenen Ansätze zur Erklärung von Intersubjektivität, also Sozialität, verstehen. Es ist Konsens, dass Husserl auch hier scheitert 103 – zwangläufig, möchte man sagen, denn alle transzendentalen Gesellschaftstheorien müssen eine Instanz im Subjekt behaupten, die irgendwie dafür sorgt, dass wir sozialisationsfähig sind. 104 Bisher aber hat noch niemand diese Instanz isolieren können. Husserls Argument, das er erst nach weit über 20 Jahren in der berühmt-berüchtigten fünften Cartesianischen Meditation publiziert, 105 ist bekannt, simpel und in der Durchführung verwickelt zugleich: Da zu meinem In-der-Welt-sein notwendig meine unauflösliche Bindung an Leiblichkeit gehöre, 106 ich vom Anderen aber zunächst nur über dessen Leiblichkeit als Ausdrucksfeld wisse 107 – aber wie das? –, generalisiere ich über Analogieschluss und »erfahre« so die anderen »zugleich als Subjekte für diese Welt, als diese Welt erfahrend, und diese selbe Welt, die ich selbst erfahre, und als dabei auch mich erfahrend, mich, als wie ich sie und darin die Anderen erfahre. Jedenfalls also in mir, im Rahmen meines transzendental reduzierten reinen Bewußtseinslebens, erfahre ich die Welt mitsamt den Anderen und dem Erfahrungssinn gemäß nicht als mein sozusagen privates synthetisches Gebilde, sondern als mir fremde, als intersubjektive, für jedermann daseiende, in ihren Objekten jedermann 103 Vgl. z. B. K. Held: »Einleitung«, in: E. Husserl: Phänomenologie der Lebenswelt. Ausgewählte Texte II, hg. von K. Held. Stuttgart: Reclam 1986, 5–53, hier 35. Nur Ströker (E. Ströker: Husserls transzendentale Phänomenologie, 137) ist, soweit ich sehe, die Einzige, die sich nicht zu einem klaren Urteil durchringen kann (»Unebenheiten« (ebd., 151). Stattdessen feiert sie Husserls »bemerkenswerte Stringenz« (ebd.). 104 Und dabei im Kern noch ›frei‹ bleiben (vgl. dazu G. Wagner: »Zur Rekonstruktion und Kritik einer transzendentalen Theorie der Gesellschaft. Helmut Schelsky und Wolfgang Schluchter«, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 81 (1995), 1–25). Auch Dieter Henrich optiert massiv für dieses Paradigma (vgl. D. Henrich: Denken und Selbstsein, 145 f.) und erweist sich sozialtheoretisch als Nominalist, empfiehlt den Philosophen aber, sicher beherzigenswert, sich aus den fachkonstitutiven Begründungsproblemen der Soziologie herauszuhalten (ebd., 211). 105 Ströker bemerkt, dass Husserl um 1930 in der Reflexion von Intersubjektivität bereits viel weiter gewesen sei (vgl. E. Ströker: Husserls transzendentale Phänomenologie, 148). Warum er den Stand der Dinge dann nicht einbrachte, bleibt sein Geheimnis. 106 E. Husserl: Cartesianische Meditationen. Eine Einleitung in die Phänomenologie [1931], in: Hua 1, 41–183, hier 128, 140 f. 107 Ebd., 148.
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zugängliche Welt«. 108 So sei der Andere als »alter ego konstituiert«, der »Andere verweist seinem konstituierten Sinne nach auf mich selbst, der Andere ist Spiegelung meiner selbst, und doch nicht eigentlich Spiegelung; Analogon meiner selbst, und doch wieder nicht Analogon im gewöhnlichen Sinne«. 109 Irgendeine Art von Divination, die dem Gedanken voraus sein könnte, ist für den Rationalisten Husserl natürlich nicht statthaft, ebenso wehrt er sich gegen den damals arg belasteten Begriff der »Einfühlung« und nutzt ihn doch. 110 Auch Analogieschluss sei nicht adäquat, richtiger heiße es »verähnlichende Apperzeption«, 111 doch es bleibt dabei: »In mir erfahre, erkenne ich den Anderen, in mir konstituiert er sich – appräsentativ gespiegelt, und nicht als Original«. 112 Schon der frühe Simmel war in den Problemen der Geschichtsphilosophie von 1892 weiter, bemerkte er doch zur Hermeneutik, daß wir immer und überall mit Verstehensunterstellungen als Varianten von Kohärenzimplementierung ins Fremdpsychische operieren: 113 Verstehen ist au fond Fiktion. Husserl benötigt dafür 16 Jahre länger, das fremde »Bewusstsein ist einfühlungsmässig supponiertes«. 114 Natürlich verstehe ich alter ego nicht als Original, jedoch wie soll ich die Existenz anderer Subjekte wissen, wenn ich die Welt doch eingeklammert habe und sie sich allein über meine sinnhaften Akte konstituiert? Es kann auch ein Gaukelspiel des betrügerischen Gottes sein, nur für mich; das war bereits die Befürchtung Descartes’, von diesem allerdings durch Begriffskosmetik in der dritten Meditation eskamotiert. Nein, wenn schon Transzendentalphilosophie, sollte man, wie Luhmann (der von Husserl viel gelernt hat) vorschlägt, auf den »Unbegriff der ›Intersubjektivität‹« verzichten, 115 Phänomenologie bleibt Bewusstseins- sowie Erkenntnistheorie und ist am allerwenigsten gemacht für sozialphilosophische Bedürfnisse 116 – schon Ebd., 123. Ebd., 125. 110 Ebd., 124. 111 Ebd., 141. 112 Ebd., 175. 113 G. Simmel: Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1892), in: GSG 2, 297–421, hier 307, 321 f. 114 E. Husserl: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität I: 1905–1920, in: Hua 13, 11. 115 N. Luhmann: Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie. Picus: Wien 1996, 25. 116 Das musste schon Alfred Schütz erfahren, der, unzufrieden mit Husserls Vor108 109
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gar nicht, wenn sie quasi als Nebenertrag noch übrig gebliebene Probleme vom Schlage der Genese des einsamen Ich erhellen soll, wie gleich zu zeigen ist. Husserl, ungewöhnlich genug, bricht 1909 seine Überlegungen durch bloße doxa ab: »L’ (der fremde Leib) erhält durch Einfühlung ein ›fremdes‹ Bewusstsein B’. […] Nun verschwindet alle Schwierigkeit, wenn eben die Einfühlung als Gegebenheitsbewusstsein für fremdes Bewusstsein gelten darf. Fremdes und eigenes Bewusstsein sind in einer objektiven Zeit, und das ist ›wahrnehmbar‹«. 117 Gegebenheitsbewusstsein ist aber nicht durch »verähnlichende Apperzeption« zu erzeugen, und wenn ich nun doch die objektive Zeit bemühen muss, brauche ich die ganze Einklammerung nicht. Husserl aber wäre nicht Husserl, hätte er nicht noch einige andere Wendungen aufzubieten. In seinen tastenden Notizen um 1908 stellt er fest: »Dein Bewusstsein ist für mein Bewusstsein absolutes Aussensein, und mein Bewusstsein für dich. Fände ich in meinem Bewusstsein keine Erscheinungen, die ich als andere Leiber apperzipieren dürfte, so gäbe es für mich kein Du (und somit kein Ich im Gegensatz dazu) und umgekehrt«. 118 Die Idee hier also lautet, ziemlich unvermittelt: Ohne alter ego gar kein ego! Diese beiläufige, doch in ihrer Relevanz kaum zu überschätzende Notiz bringt recht eigentlich das ganze transzendentale Gebäude des späten Husserl zum Einsturz, antizipiert jedoch sämtliche sozialbehaviouristischen Ansätze von Mead bis Habermas – die in Sachen Subjektphilosophie freilich allesamt nicht überzeugen wollen, denn um mich über den generalized other oder die kommunikative Vernunft in der Sozialität konstituieren zu können, muss ich über mich bereits im identitären Bezug verfügen können. 119 Es geht bei Husserl aber noch anders, denn schlag, einen eigenen Weg einschlug. Doch auch Schütz (A. Schütz: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt [1932]. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1974) in seinem ehrgeizigen Versuch Max Webers Sinnanalyse und Husserls Intersubjektivität zu verbinden, gelangt niemals aus der Immanenz des Bewusstseins heraus, Gesellschaft ereignet sich hier durchweg nur im Kopf. Bekennende Schützianer wie Richard Grathoff (vgl. R. Grathoff: Milieu und Lebenswelt. Einführung in die phänomenologische Soziologie und die sozialphänomenologische Forschung. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1989), haben denn auch schlechterdings nichts soziologisch Relevantes mitzuteilen. 117 E. Husserl: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität I, 20. 118 Ebd., 6, Hvh. I. M. 119 Niemand hat das ungnädiger exponiert als D. Henrich: Denken und Selbstsein, 158 ff.
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in der vierten Fassung des Encyclopaedia Britannica-Artikels »Phänomenologie« von 1928 dreht er eine rekursive Schleife. Ich habe nun die transzendentale Reduktion des empirischen Bewusstseins als »Reinigung« vollzogen, doch der »Gehalt dieser Erlebnisse, ihr Eigenwesentliches, bleibt dabei voll erhalten«, 120 es ergibt sich »das endlose transzendentale Seinsfeld«, 121 zu dem nun das empirischpsychologische als »Parallele« gedacht wird, sehr anders denn noch in den Ideen I. Kehre ich nun zurück in die natürliche Einstellung, »stellt sich notwendig eine Identität des Ich her; in transzendentaler Reflexion auf ihn [den Wiedereintritt] wird die psychologische Objektivierung als Selbstobjektivierung des transzendentalen Ich sichtlich«. 122 Mein Ich also ergibt sich hier gleichsam als Nebeneinkommen der Epoché! Voraussetzung aber wäre dann wohl, dass wir alle, nicht nur die Phänomenologen, wenigstens einmal die transzendentale Reduktion vollziehen, um allererst zu Selbsthabe zu gelangen. Wenn Husserl glaubt, der »Parallelismus der transzendentalen und psychologischen Erfahrungssphären« ließe sich »als eine Art Identität des Ineinander des Seinsinnes aus bloßer Einstellungsänderung verständlich« machen, ist der Gipfel der Verwirrung erreicht und nicht zuletzt die Annahme einer prästabilierten Harmonie unumgänglich, die diese Parallelen und Ineinander koordiniert – der denkbar größte Widerspruch zum Ethos der Phänomenologie, ausschließlich vom evident Gegebenen auszugehen. Kurzum, in Sachen Subjektphilosophie hinterlässt Husserls »transzendental-solipsistischer Ansatz« 123 ein Trümmerfeld. 124 E. Husserl: Phänomenologische Psychologie: Vorlesungen Sommersemester 1925, in: Hua 9, 293. Hermann Schmitz hat die Unsinnigkeit der Einklammerung bündig benannt: »Wie sollte es gelingen, sich aus dem unbefangenen Leben als distanzierter Beobachter herauszuhalten und doch die Sichtmöglichkeiten, die Evidenzen, die gerade dieser Unbefangenheit verdankt werden, zu retten und hinüberzunehmen?« (H. Schmitz: System der Philosophie, Bd. 1: Die Gegenwart. Bouvier: Bonn 1964, 126 f.) Referenz gehört nicht nur zum Sinn, sondern zum Sein. 121 E. Husserl: Phänomenologische Psychologie, in: Hua 9, 294. 122 Ebd. 123 So sogar E. Ströker, Husserls transzendentale Phänomenologie, 144. 124 Das schmälert nicht die Exzellenz seiner materialen Analysen etwa zur Bildtheorie (vgl. E. Husserl: Phantasie, Bildbewusstsein, Erinnerung: Zur Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen, in: Hua 23, 1–105) oder zur Wahrnehmung überhaupt (vgl. E. Husserl: Analysen zur passiven Synthesis. Aus Vorlesungs- und Forschungsmanuskripten, in: Hua 11, 3–24). Wahr bleibt wohl, dass Husserl mit allem Probleme hat, das nicht auf Ding-Erkenntnis geht (vgl. T. W. Adorno: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie, 174). Das Ich ist aber kein ›Ding‹. 120
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Und Simmel? Zunächst muss man konzedieren, dass er kein Begriffsphilosoph ist, trennscharfe und fortan durchgehaltene Definitionen wird man bei ihm vergeblich suchen, ganz im Gegenteil ist seine Terminologie ja essayistisch-gleitend, 125 notorisch etwa seine extrem vieldeutige Semantik der Form. Gerade bei einem so heiklen Thema wie der Frage nach dem Subjekt kann das ausgesprochen enervierend sein; zu rechnen ist mit Passagen wie: »Das Selbstbewußtsein, das Subjekt, das sich zu seinem eignen Objekt macht, ist ein Symbol oder realer Selbstausdruck des Lebens«, 126 an denen letztlich alles unklar bleibt. Dennoch fällt z. B. im damals erfolgreichen, doch heute seltsam leer und unkonkret wirkenden Kant-Buch 127 von 1904 eine allgemeine Zurückhaltung gegenüber dem Subjekt-Begriff auf. Kant erscheint Simmel gerade nicht revolutionär, sondern habe philosophiehistorisch vielmehr den unauflöslichen Zusammenhang von Subjekt und Objekt gezeigt, die »Wendung zum Subjekt« setzt er daher sogar in Anführungszeichen. 128 Kants Trennung nun des empirischen vom reinen, leeren Ich als Einheit der transzendentalen Apperzeption 129 leitet Simmel, eigenwillig genug, als »philosophische Sublimierung« des Leitgedankens von Freiheit und Gleichheit, der das 18. Jahrhundert beherrsche, ab, indem er das empirische Ich mit Freiheit und Individualismus analogisiert, Gleichheit jedoch mit dem Transzendentalen. 130 Soweit Simmel zum Diskursbegründer der modernen Subjektproblematik: eher eine Depotenzierung. Der Brief an Hermann Graf Keyserling vom 31. Oktober 1908 bringt dann eine explizite Kant125 Dies hat bereits extreme Taxonomiker wie Max Weber schwer irritiert (vgl. M. Weber: »Georg Simmel als Soziologe und Theoretiker der Geldwirtschaft«, in: Simmel Newsletter 1 (1991), 9–12, hier 9, 11), weshalb trotz aller Brillanz der Einsichten Methode und Darstellung zur Ablehnung zwingen. 126 G. Simmel: »Aus dem nachgelassenen Tagebuche«, in: GSG 20, 261–296, hier 264. 127 Simmel war kein ›Kantwissenschaftler‹, wie er sich schmeichelte, sondern behandelte fast ausschließlich die drei Kritiken und schleppte Zitierfehler jahrelang fort (vgl. K. Röttgers: »Die Große Soziologie und die ›große‹ Philosophie«, in: H. Tyrell, O. Rammstedt und I. Meyer (Hg.): Georg Simmels große ›Soziologie‹. Eine kritische Sichtung nach hundert Jahren. Transcript: Bielefeld 2011, 69–81, hier 70 f.). 128 G. Simmel: Kant. Sechzehn Vorlesungen gehalten an der Berliner Universität [1904], in: GSG 9, 7–226, hier 34. 129 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft [21787], in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (Akademie-Ausgabe), Bd. III. Reimer: Berlin 1904, hier B 404. 130 G. Simmel: Kant, 217, 218 f.
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Schelte, Philosophie müsse endlich heraus aus dem »bann des subjekts«. 131 Der frühe 132 Simmel scheint dafür durchweg die Rede von Persönlichkeit zu favorisieren, 133 eine Wendung hin zum Empirischen, sehr wahrscheinlich angeregt durch seinen Lehrer Moritz Lazarus, 134 der so etwas verfolgte wie eine metaphysikfreie Theorie des objektiven Geistes. Das Ich der Subjektphilosophie wird in der Einleitung in die Moralwissenschaft als »Lückenbüsser« denunziert, der nur den »Schein einer synthetischen Erfüllung« gebe, 135 wie überhaupt – dies ein Leitgedanke der Moralwissenschaft, der bis zur Soziologie von 1908 widerhallt 136 – metaphysische Probleme entstehen, wenn empirische »in die tieferen Schichten der Seele« projiziert werden. 137 Freiheit etwa »hafte« nicht am Ich oder dürfe gar als Willensfreiheit missverstanden werden, sondern sei Kontextphänomen, 138 stets müsse gefragt werden: Freiheit wovon und Freiheit wozu, es sei
G. Simmel an H. Graf Keyserling: Brief vom 31. Oktober 1908, in: GSG 22, 666 f. Eine säuberliche Scheidung von Simmels Textproduktion und intellektueller Orientierung scheint zunehmend schwierig. Der ›Dreischritt‹ von M. Frischeisen-Köhler: »Georg Simmel«, in: Kant-Studien 24 (1919/1920) 1, 1–51, jedenfalls: früher evolutionistischer, mittlerer neokantianischer und später lebensphilosophischer Simmel will nicht mehr recht überzeugen, er spricht etwa schon 1899 von der Notwendigkeit einer »Philosophie des Lebens« (G. Simmel [Rezension]: »Maeterlinck, M.: Weisheit und Schicksal, 1899«, in: GSG 1, 419–421, hier 421). Donald N. Levine betont das durchgängige Kardinalproblem Simmels, Form und Leben, Analyse und Synthese, Bewegung und Begriff in Einklang zu bringen (vgl. Donald N. Levine: »Soziologie und Lebensanschauung. Zwei Wege der ›Kant-Goethe-Synthese‹ bei Georg Simmel«, in: Simmel Studies 17 (2007), 239–263, hier 246, 256 f.). 133 So schon Fellmann, der in der »Persönlichkeitskultur« einen »modifizierten Subjektbegriff« (F. Fellmann: »Georg Simmels Persönlichkeitsbegriff als Beitrag zur Theorie der Moderne«, in: E. W. Orth und H. Holzhey (Hg.): Neukantianismus. Perspektiven und Probleme. Königshausen & Neumann: Würzburg 1994, 309–325, hier 310) erblickt. Warum aber diese Kultur über »Zeichenhaftigkeit zum neuen Medium der Subjektivität« bereits die Postmoderne in »Umrissen« (ebd., 324) antizipiere, erschließt sich mir nicht. 134 Zu Lazarus immer noch instruktiv I. Belke: »Einleitung«, in: Moritz Lazarus und Heymann Steinthal. Die Begründer der Völkerpsychologie in ihren Briefen, hg. von I. Belke: Niemeyer: Tübingen 1971, I–CXLII. 135 G. Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft, Bd. 2, 151. 136 Etwa wenn Simmel die ›Urszene‹ aller Religion darin erkennt, dass Menschen gleichzeitig in den Himmel schauen können (G. Simmel: Soziologie. Untersuchung über die Formen der Vergesellschaftung [1908], in: GSG 11, 7–875, hier 731). 137 G. Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft, Bd. 2, 148; vgl. ebd., 176. 138 Exzellent dazu M. Martinelli: »Freiheit«, in: H.-P. Müller und T. Reitz (Hg.): Simmel-Handbuch. Begriffe, Hauptwerke, Aktualität. Suhrkamp: Berlin 2018, 196–203. 131 132
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ein graduelles Phänomen. 139 Ob damit Simmel »die Grundlage für eine metaphysische Bestimmung des Menschen zerstört« hat, 140 sei dahingestellt, allerdings sind wir so bereits mit dem frühen Simmel intern dezentriert; übrigens ein weiterer virtueller Anknüpfungspunkt zu Freud.141 Individualität bzw. Individualismus versteht Simmel hingegen historisierend als Anspruch und Aufgabe zugleich, insofern tangiert diese Frage strenggenommen gar keine Subjektproblematik. Korrekt leitet er in »Der Individualismus der modernen Zeit« von 1910 die heutige Bedeutung aus dem 18. Jahrhundert her, sieht in der Romantik einen ungeheuren qualitativen Schub ihrer Reflexion und pointiert, Goethe habe das »künstlerische« Paradigma, Schleiermacher das »metaphysische« der Individualität definiert. 142 Aufschlussreich ist die Kontrastbildung zu Luhmann, erscheint bei diesem doch das schiere Faktum, dass wir alle verschieden sind, als »kriterienloser Grundtatbestand«, als »pure Selbstkonstituierung des Lebens und des Bewußtseins.« 143 In Luhmanns Begriffsdestruktion klingt das dann so: »Kann es sich selbst bestimmen, wenn ihm nicht einmal ein dafür gültiges Kriterium zur Verfügung gestellt wird? […] Die alte Wunschliste der Individualität: Freiheit, Gleichheit, Selbstbestimmung, Autonomie, Emanzipation, rückt mit solchen Fragen in ein anderes Licht. Folgt man der soziologischen Gesellschaftstheorie, sind dies nur Korrelate zunehmender gesellschaftlicher Differenzierung. Das Individuum wird zwangsläufig in die Individualität abgeschoben, und dazu wird ihm noch souffliert, daß dies seinen eigensten Wünschen entspreche. Fast fühlt man sich an Adam und Eva erinnert: keine Wohnung, keine Kleidung, keine Arbeit, nur einen Apfel für
Vgl. G. Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft, Bd. 2, 158, 150, 163, 166. W. P. Wiesehöfer: Der unmetaphysische Mensch. Untersuchungen zur Anthropologie im Frühwerk Georg Simmels. Phil. Diss. Tübingen 1975, 62. 141 Ebd. 142 G. Simmel: »Der Individualismus der modernen Zeit«, in: GSG 20, 249–258, hier 250 ff., 256. Simmels »individuelles Gesetz« ist wesentlich von Schleiermacher, den er zu Recht als einen der frühen Emphatiker von Individualität feiert, inspiriert (vgl. I. Meyer: Georg Simmels Ästhetik. Autonomiepostulat und soziologische Referenz. Velbrück: Weilerswist 2017, 50 ff.). Die zentrale Einlassung findet sich in den Grundfragen der Soziologie, nicht in der Lebensanschauung (vgl. G. Simmel: Grundfragen der Soziologie [1917], in: GSG 16, 59–149, hier 145 f.). 143 N. Luhmann: »Individuum und Gesellschaft«, in: Universitas 39 (1984), 1–11, hier 3. 139 140
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beide – und dann mußten sie es noch Paradies nennen.« 144 Individualität sei nichts anderes als eine semantische Erfindung der modern ausdifferenzierten Gesellschaft, die auf gesteigerte Ansprüche der Allokation reagiere. 145 Von diesem Zynismus (hier trifft ein beliebter Vorwurf an Luhmann einmal zu) ist Simmel noch weit entfernt, nämlich immer noch neohumanistisch orientiert. Verblüffend allerdings, dass auch er wissenssoziologisch argumentiert: Durchaus im Sinne von Luhmanns gepflegter Semantik als nicht-beliebiger Kovariation der Gesellschaftsstruktur 146 bringt Simmel die jüngsten Ansprüche an Individualismus mit »Konkurrenz und Arbeitsteilung« auf dem Boden des Wirtschaftsliberalismus des 19. Jahrhunderts zusammen, möchte aber »glauben, daß die Idee der schlechthin freien Persönlichkeit und die der schlechthin einzigartigen Persönlichkeit noch nicht die letzten Worte des Individualismus sind«, da er die Gefahren eines ökonomistisch imprägnierten Individualismus zwar sieht, aber gelinde optimistisch hofft, dass sich künftig in entspannteren Varianten dieses Anspruches »immer mannigfaltigere Formen« ergeben könnten, die dereinst vielleicht gar »sich zu Harmonien zusammenordnen« könnten. 147 Persönlichkeit dagegen bilde sich umso stärker und individueller aus, als Herausforderungen an sie herantreten; Ich-Identität konturiere sich besonders prägnant im Wechselbad der Gefühle, 148 ja sei überhaupt erst nötig, »wenn das Zusammenstehen des Heterogensten eine verbindende Macht fordert«. 149 Simmel geht soziologisch so weit, ein »Reziprozitätsverhältnis von Individualisierung und Verall144 Ebd., 7. Hier werden die Gehlen-Implikate bei Luhmann selten deutlich, die einmal aufgearbeitet gehörten. 145 N. Luhmann: »Selbstorganisation und Mikrodiversität. Zur Wissenssoziologie des neuzeitlichen Individualismus«, in: Soziale Systeme 3 (1997), 23–32, hier 29 ff. 146 N. Luhmann: »Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition«, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 1. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1980, 9–71, hier 15, 19. 147 G. Simmel: »Der Individualismus der modernen Zeit«, 257, 258. Der Essay steht m. E. unter dem unmittelbaren Lektüreeindruck von Friedrich Steppuhns »Friedrich Schlegel, als Beitrag zu einer Philosophie des Lebens«, da hier erstmals Schlegel zitiert wird (vgl. ebd., 255 f.; F. Steppuhn: »Friedrich Schlegel, als Beitrag zu einer Philosophie des Lebens«, in: Logos 1 (1910/1911), 261–282 sowie G. Simmel an H. Rickert: Brief vom 4. Oktober 1910, in: GSG 22, 857. 148 Vgl. G. Simmel: Über sociale Differenzierung. Sociologische und psychologische Untersuchungen [1890], in: GSG 2, 109–295, hier 191. 149 G. Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft, Bd. 2, 215.
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gemeinerung« zu konstatieren, Integrationsbemühungen provozieren oder ermöglichen erst Profilierung von Eigenheiten, »Hervortreten der Individualität« korreliere so mit der »Erweiterung der Gruppe«. 150 Das Ich aber bleibt beim frühen Simmel völlig unterbestimmt, es sei »als ein Punkt oder Kreis zu symbolisiren«, das nur über »die Persönlichkeit sich ausprägt« und sonst keine Chance hätte, sich als »bestimmtes Individuum […] gegen andere abzuheben«. 151 Hier nun geht begrifflich so ziemlich alles durcheinander; ein reines, transzendentales Ich jedoch scheint bei Simmel tatsächlich nicht vorgesehen. 152 Die »Einheit der Persönlichkeit« aber sieht er in der »Einheit der psychologischen Zwecke«, also im Wollen, der Intentionalität: »Ich glaube, dass wir unter einer einheitlichen Persönlichkeit, ganz allgemein gesprochen, eine solche verstehen, deren einzelne Seeleninhalte miteinander in einem nach empirischen Regeln der Psychologie begreiflichen Zusammenhange stehen«. 153 Die Regeln selbst seien »offenbar nur kondensirte Erfahrungen«. 154 Das reicht natürlich bei weitem nicht aus, um ein selbstbewusstes Ich zu denken, denn wann und wie erfasst sich diese Komplexion von Seeleninhalten selbst? Und welche Instanz organisiert die Erfahrungen? Der Simmel der Moralwissenschaft gibt darauf keine Antwort. Mehr noch, die Regelgewinnung komme durch Beobachtung »empirischer Seelenvorgänge« zustande, Simmel schwimmt hier also durchaus im Strome des von Husserl später attackierten Psychologismus. 155 Und plötzlich taucht doch noch die »Einheit« des »Subjekt[s]« auf – die Simmel prompt zur Zuschreibungssache von »Werth- und Quantitätserwägung« ernennt. 156 Damit ist nicht nur dem Relativismus, sondern recht eigentlich einem Fiktionalismus Tür und Tor geöffnet. Unmittelbar darauf – und sehr viel aussichtsreicher – geht er auf die inkommensurable »Färbung der gesammten Vorstellungswelt, die den individuellen Menschen als solchen charakterisiert«, also auf das G. Simmel: Über sociale Differenzierung, 194. G. Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft, Bd. 2, 232. 152 Für Melanie Riedel verabschiedet Simmel das Subjekt-(und damit Reflexions-) Modell im Gefolge Nietzsches zugunsten von ›Individuum‹ überhaupt (vgl. M. Riedel: Georg Simmel als Philosoph. Phil. Diss. Bonn 2019, 22 f., 31). Die Sache verhält sich aber offensichtlich etwas komplizierter. 153 Ebd., 331, 334. 154 Ebd., 337. 155 Ebd., 338. 156 Ebd., 338 f. 150 151
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Selbstgefühl, 157 um freilich doch die Waffen zu strecken: Alle Suche nach Gesetzen habe dort ein Ende, wo der Anfang ist, die »ursprüngliche Gegebenheit […], die aus diesen Gesetzen nicht abzuleiten ist«; Simmel konzediert die »Nothwendigkeit eines auf psychologischem Wege nicht konstruirbaren Anfanges aller psychologischen Entwicklung«, er kann genauso wenig wie Kant sagen, wann und wie sich das Subjekt konstituiert. 158 Bekannter geworden ist Simmels zwar von Dilthey und Lazarus inspirierte, 159 doch strikt soziologistisch gewendete These von der Kreuzung sozialer Kreise als verantwortlich für die Individualisierung des Einzelnen, Quantität schlägt modern in Qualität um, 160 es »thut sich uns eine unermeßliche Möglichkeit von individualisierenden Kombinationen dadurch auf, daß der Einzelne einer Mannichfaltigkeit von Kreisen angehört«, 161 denn je mehr Teilhabe an verschiedenen sozialen Kreisen, desto höhere Kultur; doch wohlgemerkt, hier geht es nicht um das Subjekt – es muss auch für dieses Theorem, und sei’s minimal installiert, als selbstbewusstes bereits da sein. Die Philosophie des Geldes nimmt eine Mittelstellung ein und lanciert den diffusesten auf die Ich-Problematik bezogenen Begriff, die Seele. Jedoch: »Unsere Seele besitzt keine substantielle Einheit, sondern nur diejenige, die sich aus der Wechselwirkung des Subjekts und des Objekts ergibt, in welche sie sich selbst teilt […], sie erhebt sich als die wissende über sich selbst, die gewußte, und indem sie dieses Wissen ihrer selbst wiederum weiß, verläuft ihr Leben prinzipiell in einem progressus in infinitum, dessen jeweilig aktuelle Form, gleichsam sein Querschnitt, die Kreisbewegung ist: das seelische Sub157 M. Frank: Selbstgefühl. Eine historisch-systematische Erkundung. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 2002, 8, hat auch diesen »Kandidat[en] für die Weise erwogen, wie die radikale Subjektivität mit sich selbst bekannt ist, ohne darum von sich zu wissen«. 158 G. Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft, Bd. 2, 341 f. 159 Vgl. M. Lazarus: Ueber das Verhältnis des Einzelnen zur Gesammtheit [1876], in: ders.: Das Leben der Seele in Monographien über seine Erscheinungen und Gesetze, Bd. 1. Dümmler: Berlin 31883, 321–411, hier 334; zu Dilthey H. Tyrell: »Zur Diversität der Differenzierungstheorie. Soziologiehistorische Anmerkungen«, in: Soziale Systeme 4 (1998), 118–149, hier 136. Dilthey lässt allerdings Kultursysteme im Erleben und Handeln des Akteurs sich kreuzen (vgl. W. Dilthey: Gesammelte Schriften, Bd. 1: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte [1883], hg. von B. Groethuysen. Teubner: Leipzig Berlin 1914, 51). 160 Vgl. G. Simmel: Über sociale Differenzierung, 247. 161 Ebd., 239.
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jekt weiß sich als Objekt und das Objekt als Subjekt«. 162 Diese sehr rätselhafte Passage mit mehreren Echos bis ins Spätwerk 163 lässt nun offen, ob hier Selbstbewusstsein als Reflexion oder, wie damals noch gesagt wurde, innere Wahrnehmung gemeint ist, da Simmel keine Konsekution formuliert (z. B. und folglich das Objekt als Subjekt) und obendrein statt den infiniten Regress einen Vorlauf behauptet und auch noch die These im Kontext von »Relativismus« verortet. Er beginnt aber bereits hier mit der für die letzten Arbeiten charakteristischen Entrückung des Phänomens zur »Urtatsache des Selbstbewußtseins«. 164 Urtatsachen und Urphänomene stellen sich beim späten Simmel zuverlässig immer dann ein, wenn Evidentes nicht begründet werden kann, z. B. das Verstehen oder die Beseelung des Porträts. 165 Der Schlüsseltext für seine Behandlung des Selbstbewusstseins ist der Essay über »Die Persönlichkeit Gottes«, denn hier vermag persönlicher Geist ein »inneres Sich-selbst-Trennen in Subjekt und Objekt, das eines und dasselbe ist«, und ermögliche so überhaupt erst Erkenntnis. Voraussetzung sei »Selbstbewußtsein, mit dem er die Funktion seiner selbst zum Inhalt seiner selbst macht«. 166 Simmel konzediert die »große Dunkelheit des Denkens: wie es, als ein in sich verbleibender Prozeß, doch einen Gegenstand haben könne, wie es mit der reinen Subjektivität seines Ablaufes doch ein ihm Gegenüberstehendes in sich einziehen könnte – ist dadurch aufgehellt, daß es dieses Insich und Außersich, diese Geschlossenheit und den Einschluß des Gegenüber schon, als Selbstbewußtsein, in sich selber hat, daß die Identität von Subjekt und Objekt die Form seines eigenen Lebens ist«. 167 Und weiter: »Mit dem Selbstbewußtsein hat das Leben sich in sich gebrochen und hat sich wiedergefunden; womit natürlich nur ein schlechthin einheitlicher Akt für den Ausdruck in eine zeitliche Folge auseinandergezogen ist. Das ist die Grundtatsache, wenn man will: das Grundwunder des Geistes, das macht ihn zum persönlichen, daß er, in seiner Einheit verbleibend, sich dennoch sich selbst gegenüberstellt; die Identität des Wissenden und des Gewußten, wie G. Simmel: Philosophie des Geldes, 119. Z. B. in G. Simmel: Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel [1918], in: GSG 16, 209–425, hier 340. 164 G. Simmel: Philosophie des Geldes, 119. 165 G. Simmel: »Vom Wesen des historischen Verstehens« [1918], in: GSG 16, 151– 179, hier 160, 162; G. Simmel: Rembrandt, 339. 166 G. Simmel: »Die Persönlichkeit Gottes«, 362. 167 Ebd., 363. 162 163
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sie im Wissen um das eigene Sein, um das eigene Wissen vorliegt, ist ein Urphänomen«. 168 Das ist fichtisch, denn »Gott ist nicht der Mensch im Großen, aber der Mensch ist Gott im Kleinen«, 169 er muss das Nicht-Ich internalisieren, allerdings ohne Fichtes ursprüngliche Einsicht, dafür vielleicht sogar mit einem Anklang an Schellings Identitätsphilosophie. 170 Allerdings, so vermerken die Hauptprobleme, obzwar unablösbar voneinander, verbleiben »Subjekt und Objekt […] in tiefer gegenseitiger Fremdheit«, 171 Simmel geht bis zur Annahme eines Urmovens der »Spaltung« auch als »göttliche[s] Prinzip«, ohne das selbst »Mystik« und »Pantheismus« nicht auskommen, 172 moderner formuliert, einer Inzision oder Markierung einer Differenz als Form à la George Spencer Brown – »draw a distinction!« –, ohne die einfach Nichts wäre. Das ist der zumindest raffinierte Versuch einer Umschiffung des Zirkelschlusses, jedoch verliert sich die Sache auch bei Simmel nicht nur im Dunkeln, Manfred Frank nimmt bereits den gehäuften Rekurs auf das Reflexivpronomen sich als zuverlässiges Indiz für den Rückfall in das untaugliche Paradigma des Reflexionsmodells, 173 der wohl auch hier verfängt. Umso bedauerlicher, dass Simmel gelegentlich den seltsam freischwebend-ungreifbaren und doch nichtnegierbaren, unmittelbaren Modus des Selbstbewusstseins als erlebnishafte, doch nichtrelationale Wissensform durchaus bemerkt. In der Moralwissenschaft war es eine Gefühlsfärbung, die das Denken begleitet, 1911 ist das »Wesen des persönlichen Geistes« ein »Bewußtsein von sich selbst, wie in einem Punkt gesammelt«, 174 also nicht mehr gefasst als Beziehung-auf-etwas, in der Lebensanschauung scheint 1918 ein Durchbruch unmittelbar bevorzustehen: »Wenn wir denken, sind wir nur das Gefäß von Inhalten, oder richtiger, das Dasein von Inhalten; den tragenden oder zeugenden Prozeß können wir nicht fassen, weil er in dem Augenblick seines Erfaßt-Werdens selbst schon Inhalt Ebd., 362. Ebd., 364. 170 Es ist überaus schwer zu sagen, was Simmel wirklich vom Deutschen Idealismus wusste – z. B. Fichte erscheint überwiegend als rigider Ethiker und an Schelling stört ihn die begriffskaskadierende ›Constructions‹-Wut bar jeder erfahrungsphilosophischen Komponente (vgl. I. Meyer: Georg Simmels Ästhetik, 45 ff.). 171 G. Simmel: Hauptprobleme der Philosophie [1910], in: GSG 14, 7–157, hier 102. 172 G. Simmel: »Die Persönlichkeit Gottes«, 362. 173 Vgl. M. Frank: Unhintergehbarkeit, 12 f., 60; M. Frank: »Fragmente«, 583. 174 G. Simmel: »Die Persönlichkeit Gottes«, 362. 168 169
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ist. Und doch wissen wir ihn – mit einem Bewußtsein sui generis, wie es nur für ihn und für nichts anderes besteht – als die letzte Realität eben dieses Denkens gegenüber den ideellen, begrifflich ausdrückbaren Inhalten«. 175 Doch soll man Simmel natürlich nicht vorrechnen, die richtige Ausfahrt verpasst zu haben, also nicht bei Dieter Henrich und Manfred Frank angekommen zu sein, 176 zumal das Problem ihm nicht unmittelbar auf den Nägeln brannte. Nahrhafter ist deshalb seine Behauptung von 1900, die »rätselhafte Einheit der Seele« sei »unserem Vorstellen nicht unmittelbar zugänglich, nur sobald sie sich in eine Vielheit von Strahlen gebrochen hat, durch deren Synthese sie dann erst wieder als diese eine und bestimmte bezeichenbar wird«, 177 denn dies weist den Weg zur kulturalistisch grundierten, wie ich sagen möchte, praktischen Subjektphilosophie ebenfalls des Spätwerks. Geist, kreative Energie, muss sich an einen Gegenstand entäußern; Tätigkeit, mit einem bei Goethe beinahe sakral aufgeladenen Begriff, ist auch Simmel alles. Bevor diese Tätigkeit als Aus- oder Umweg näher beschrieben wird, zeigt ein Zwischenresümee, dass die drei Autoren doch einiges eint, Freud betont stets den Hiatus von Seelenleben und Realität, Husserl findet zum transzendentalen Ego, doch zwischen Sinn und Sein gähne, wie bereits bemerkt, ein »Abgrund«, Simmels erster »Exkurs« in der Soziologie beginnt mit dem ersten soziologischen Apriori, 178 demnach wir stets den »Andern in irgend einem Maße verall-
G. Simmel: Lebensanschauung, 377, Hvh. I. M. Gemeint ist das von E. Tugendhat so getaufte ›Heidelberger Konzept‹ des Selbstbewusstseins; vgl. hierzu die programmatische Skizze der Problemlage bei D. Henrich: »Selbstbewußtsein. Kritische Einleitung in eine Theorie«, in: R. Bubner, K. Cramer und R. Wiehl (Hg.): Hermeneutik und Dialektik. Aufsätze I: Methode und Wissenschaft – Lebenswelt und Geschichte (Festschrift Gadamer, Bd. 1). Mohr Siebeck: Tübingen 1970, 257–284, insbes. 266 f., 276 f., 282; vgl. dazu M. Frank: Unhintergehbarkeit, 26 ff.; ders.: »Fragmente«, 583 ff.; ders.: »Subjektivität und Individualität. Überblick über eine Problemlage«, in: ders.: Ansichten der Subjektivität. Suhrkamp: Berlin 2012, 29–73, hier 33 f. 177 G. Simmel: Philosophie des Geldes, 393. 178 Simmels Benennung dieser Axiome als »Aprioris« ist eher irreführend, da sie erkennbar auf Erfahrungswissen beruhen. Luhmann betont dazu die hier vorgenommene sozialpsychologische Dekomposition (vgl. N. Luhmann: »Wie ist soziale Ordnung möglich?«, in: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 2. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1981, 195– 285, hier 253 f.). 175 176
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gemeinert« 179 sehen, übrigens ein Berührungspunkt mit der vom späten Husserl entwickelten lebensweltlichen Typik; 180 Simmels letzter »Exkurs« kurz vor Ende des Buches von aktuell 863 Seiten Fließtext wundert sich »über die Analogie der individualpsychologischen und der soziologischen Verhältnisse«, soll heißen: dass Individuum und Gesellschaft überhaupt zusammenpassen. 181 Kantianer sind sie deshalb alle nicht. Der große Unterschied Simmels zu Freud und Husserl ist jedoch nicht nur seine Skepsis gegenüber, sondern gar ein Desinteresse am hehrsten Gut der neuzeitlichen Philosophie, genannt Vernunft. Kultur-, aber nicht Vernunftphilosophie ist bekanntlich Simmels Programm, zu einer »Wesenslehre der Vernunft« als letztes Ziel allen Philosophierens hat er sich, anders als Husserl, 182 niemals verstiegen – dafür war er wohl auch zu sehr Soziologe. In Hauptprobleme der Philosophie jedenfalls spielt das Thema keine merkliche Rolle und nicht zufällig hält Simmel in der Soziologie fest, wüssten andere, was alltäglich, in jeder Sekunde, in unserem Kopf tatsächlich abläuft, man müsste uns umgehend »ins Irrenhaus bringen«. 183 Luhmanns Spott über den bloß »historisch eingeführten Markenartikel der Semantik« namens Vernunft hätte er vermutlich sofort unterschrieben. 184 Jedoch hat Rüdiger Bubner in seinem skizzenhaften Versuch, neuzeitliche Subjektivität vom Vernunftbegriff zu lösen, neben Naturphilosophie und der antiken Tradition einer Reflexion des guten Lebens auch Ästhetik als explikative Disziplin der »vom Subjektiven voll durchwirkte[n] Weltauffassung« benannt, und derart perspektiviert ist leicht zu sehen, dass Simmel beide letzteren Aspekte breit bearbeitet. 185 Es ist so selbstverständlich geworden, dass wieder daran erinnert werden muss: In seinen damals als bahnbrechend wahrG. Simmel: Soziologie, 47. Vgl. E. Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie [1936, 1954], in: Hua 6, 126, 358. 181 Vgl. G. Simmel: Soziologie, 850–855. Ihn zu den transzendentalen Gesellschaftstheoretikern zu zählen, wie etwa Wagner (vgl. G. Wagner: »Zur Rekonstruktion und Kritik«, 3), ist vermutlich vorschnell, setzt doch gerade die Soziologie insgesamt dezidiert interaktionistisch an. Sind die drei Aprioris tatsächlich der Rahmen für alles Weitere? 182 E. Husserl: Einleitung in die Philosophie, in: Hua 35, 337. 183 G. Simmel: Soziologie, 387. 184 N. Luhmann: »Tautologie und Paradoxie in den Selbstbeschreibungen der modernen Gesellschaft«, in: Zeitschrift für Soziologie 16 (1987), 161–174, hier 163. 185 R. Bubner: »Wie wichtig ist Subjektivität? Über einige Selbstverständlichkeiten 179 180
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genommenen Ausführungen über Alexander Baumgartens Begründung der Disziplin hat Joachim Ritter nachdrücklich betont, wie seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in der Theoriebildung die Künste zugleich als Medium von Erkenntnis und als Organon der Subjektivität aller Philosophie »mit dem Anspruch auf eine Wahrheit entgegentreten, die die Philosophie […] außer sich hat.« 186 Ritter spricht gar von einer mit Baumgarten vollzogenen »Wende zur ›Subjektivität‹ und zur Begründung der Künste aus ihr«. 187 In Simmels unmittelbarer Zeitgenossenschaft wäre dafür natürlich auch Nietzsche ein Kronzeuge gewesen, aber er ist Simmel von Anbeginn allein als Moralphilosoph interessant. 188 Das aber führt ebenso zum guten Leben, also zu Nietzsches Wiederaufnahme des pindarischen Topos »Werde, der du bist«, 189 also zu Simmels Mach aus dir, was in dir angelegt ist – dem »individuellen Gesetz«. Ist Simmel damit für die Subjektphilosophie gehaltvoll zu explorieren? Ich denke, nur in seiner spezifischen Verschiebung der Fragestellung, die wiederum aus einer spezifischen Problematik entspringt. So anregend und originell Simmels soziologische Arbeiten mit ihrem Schwenk zur empirischen Person auch sind, subjektphiund mögliche Mißverständnisse der Gegenwart«, in: W. Hogrebe (Hg.): Subjektivität. Fink: München 1998, 235–246, hier 246. 186 J. Ritter: »Ästhetik, ästhetisch«, in: ders. (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1: A–C. Schwabe: Basel/Stuttgart 1971, Sp. 555–580, hier 556. 187 Ebd., Sp. 559. 188 Ich habe das öfters betont, vgl. etwa in I. Meyer: »›Jenseits der Schönheit.‹ Simmels Ästhetik – originärer Eklektizismus?«, in: G. Simmel: Jenseits der Schönheit. Schriften zur Ästhetik und Kunstphilosophie, ausgew. und mit einem Nachw. versehen von I. Meyer. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 2008, 399–437, hier 405 f.; I. Meyer: Georg Simmels Ästhetik, 70 ff.; I. Meyer: »Kunst und Philosophie der Kunst«, in: H.-P. Müller und T. Reitz (Hg.): Simmel-Handbuch. Begriffe, Hauptwerke, Aktualität. Suhrkamp: Berlin 2018, 342–347, hier 345; I. Meyer: »Philosophy of Art«, in: G. Fitzi (Hg.): The Routledge International Handbook of Simmel Studies. Routledge: London/New York NY, i. E. Als Indiz möge gelten, dass in Schopenhauer und Nietzsche von 1907 zwar Ersterem, nicht aber Letzterem ein eigenes Kapitel zur Ästhetik konzediert wird. 189 Pindar: »II. Pythische Ode«, in: ders., Oden, griech./dt., hg. und übers. von E. Dönt. Reclam: Stuttgart 1986, 92–101, hier 99; vgl. F. Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister I [1878], in: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. von G. Colli u. M. Montinari. DTV: München 1980 ff., Bd. 2, 9–366, hier 219; ders.: Die fröhliche Wissenschaft [1882], in: ders.: Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe, Bd. 3, 341–651, hier 519; ders.: Ecce homo. Wie man wird, was man ist, in: ders.: Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe, Bd. 6, 255–374, hier 255.
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Simmel und die Subjektphilosophie um 1900
losophisch bleiben sie aus zwei Gründen unbefriedigend: (1.) Wer sich in einen sozialen Kreis begibt (oder feststellt, dass er sich bereits in einem befindet), muss über eine wenn auch nur minimale IchIdentität bereits verfügen; (2.) was den späten, kulturphilosophischen Simmel an bedeutenden Künstlern interessiert, ist natürlich nie und nimmer aus einer bloß formalen »Kreuzung sozialer Kreise« abzuleiten. 190 So aber kommt endgültig die Seele ins Spiel, genauer: der kulturalistisch-ästhetische Faktor, denn bekanntlich befindet Simmel, Kultur sei der »Weg der Seele zu sich selbst«. 191 Heißt es 1890 noch, »was man sich unter der Einheit der Seele konkret zu denken habe, weiß kein Mensch«, 192 benennt die Vokabel in der Kulturphilosophie um die Wende zum 20. Jahrhundert bis in die beginnenden 1930er so ziemlich alles Psychische, von subjektiv-kreativen Energien und Potenzen bis zur conditio humana: Noch der gelegentlich als Positivist verschriene Heinrich Wölfflin schwärmt über Hans von Marées’ »Kraft […], die Seele zu berühren« für Friedells monumentale Kulturgeschichte, die die Krisis der europäischen Seele (im Singular!) als Untertitel führt, scheint jedes Produkt des im Hegelschen Sinne objektiven sowie absoluten Geistes ihre Emanation zu sein. 193 Sehr absichtsvoll besetzt das ästhetisierende Denken der Zeit, zu dem Sim190 M. Frank regt in einer freundlichen Mail vom 26. August 2019 an, dass, um diese Schroffheit zu vermitteln, auch und gerade beim Schleiermacher-Verehrer Simmel dessen Sprachtheorie herangezogen werden könnte, die Frank ja nicht von ungefähr auf den Begriff des »individuellen Allgemeinen« gebracht hat. Analog zu diesem Ansatz wäre dann – wie die Grammatik – die soziale Schnittmenge nur der »Ermöglichungsgrund« von Individualität in ihrer Spontaneität, ja »Anarchie«, die sich wiederum analog zur faktischen, performativen Rede modellieren ließe, die sich aus keinerlei vorgängig bekannten Regel ableiten lässt (vgl. M. Frank: »Einleitung des Herausgebers«, in: F. D. E. Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, hg. von M. Frank. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1977, 7–69, hier 25 ff.; ders.: Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und -interpretation nach Schleiermacher. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1977; ders., Das Sagbare und das Unsagbare. Studien zur deutschfranzösischen Hermeneutik und Texttheorie. Erweiterte Neuausgabe. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1989, 25 ff., 109, 112, 571; ders.: Stil in der Philosophie. Reclam: Stuttgart 1992, 11, 16 f., 53 f., 65 ff. Überfällig wäre dann freilich die Fahndung nach dem, was Simmel von Schleiermacher wirklich kannte – im worst case vielleicht nicht mehr als das Leben Schleiermachers des ungeliebten Berliner Kollegen Dilthey. 191 G. Simmel: »Der Begriff und die Tragödie der Kultur«, 385. 192 G. Simmel: Über sociale Differenzierung, 128. 193 H. Wölfflin: »Hans von Marées« (1892), in: ders.: Kleine Schriften, hg. von J. Gantner. Schwabe: Basel 1946, 75–83, hier 75.
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mels ja unstreitig zählt, die Vokabel, gerade weil die harte Philosophie um 1900 ganz so wie die vordringende Psychologie fast überall vom Ich statt der Seele spricht, 194 woran sich unverkennbar Unmut kristallisiert; etwas scheint zu fehlen, neuer Raum auch zur Spekulation wird geschaffen. Ludwig Klages hat in seinem nicht durchweg obskurantistischen Hauptwerk mit Vehemenz darauf hingewiesen, dass bis auf weiteres die Seele als Terminus so lange unverzichtbar bleibt, wie Fragen der Bewusstseinsphilosophie und Psychologie in ihren Begründungsversuchen über den infiniten Regress noch stets in Metaphysik terminieren. 195 Letzteres hätte Simmel kaum gestört, doch hält er den seit Anbeginn, später aber inflationär genutzten Seelenbegriff bewusst unscharf, 196 während zugleich »das Ich nur Tätigkeitsform« 197 sei, also weiter depotenziert wird, um damit all das zu umfassen, was nicht in den Kategorien von Subjektivität und Individualität aufgeht. Gerade bei Simmel wird Seele »expressives Zentrum«, 198 so unleugbar wie schwer fassbar; jüngst beschrieben als ein »Resonanzorgan, […] referentiell nicht festgelegt, reagiert [es] aber auf alles.« 199 Der ästhetisch Produzierende bedarf eines besonderen Sensoriums oder nüchterner, einer kognitiven Kompetenz wenigstens zur Präfiguration; Aufmerksamkeitsregister, die die Gewahrung des prospektiven Artefakts erst regeln, und so ist es kein Zufall, dass Simmels im Rembrandt beschworene »Totalwahrnehmung« 200 oder Goethes »Totalverhalten« 201 in der Tradition Philipp Otto Runges 202 erzromantisch ein Paradigma 194 E. Scheerer: »Seele (Philosophie der Psychologie)«, in: J. Ritter und K. Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9: Se–Sp. Schwabe: Basel 1995, Sp. 52–89, hier 65. 195 L. Klages: Der Geist als Widersacher der Seele, Bd. 1 [1929]. Barth/Bouvier: Bonn 31954, 4, 7. 196 Paul Nolte folgt dieser Unschärfe wohl zu bereitwillig, wenn er hier nur Synonyme für Sinn, Erfahrung und Weltdeutung erkennt (vgl. P. Nolte: »Georg Simmels Historische Anthropologie der Moderne«, in: Geschichte und Gesellschaft 24 (1998), 225–247, hier 239). 197 G. Simmel: »Der Fragmentcharakter des Lebens. Aus den Vorstudien zu einer Metaphysik« [1916], in: GSG 13, 202–216, hier 205. 198 W. Hogrebe: Der implizite Mensch. Akademie Verlag: Berlin 2013, 56, in einer Exegese Paul Valérys. 199 Ebd., 29. Dort auch Hinweise auf aristotelische und thomistische Traditionen. 200 G. Simmel: Rembrandt, 329. 201 G. Simmel: Goethe [1913], in: GSG 15, 7–270, hier 50. 202 P. O. Runge an Unbekannt: Brief von 1807/1808, in: ders.: Schriften, Fragmente/ Briefe, hg. von E. Forsthoff. Friedrich Vorwerk: Berlin 1938, 123–134, hier 125; P. O.
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Simmel und die Subjektphilosophie um 1900
von Subjektivität als schlechthin produktiv impliziert. Novalis gab den Anstoß zur Möglichkeit der Graduierung: »Fast jeder Mensch ist in geringen Grad schon Künstler« 203 und erließ die Order: »Jeder Mensch sollte Künstler seyn«. 204 Der ganz späte Simmel schließt sich dieser Auffassung an, wenn in jedem Menschen auch der Keim des Künstlertums angelegt sei. 205 Dieser von der Lebensanschauung ausgegebene kreativistische Kredit leitet zu dem zurück, was mit Seelentätigkeit umschrieben ist, eine Kraft 206 der Individualität, die schafft: »Zu der metaphysischen Seelensubstanz aber wird dieses Ich, indem es seine endliche, an das Leben gebundene Funktion sich in eine für sich bestehende, die Endlichkeit ebenso wie das Leben übergreifende Absolutheit umformt«. 207 Alle Formen kreativer Entäußerung, vom alltäglichen Problemlösen bis zur Produktion der sublimsten Artefakte lassen sich, so Simmel an Ernst Robert Curtius vom 15. März 1918, in »einem Aktiv« denken, 208 dem sich jedoch gerade in den ästhetischen Disziplinen am besten nachspüren lässt, da sie es mit Artefakten, Werken, mithin objektivierter Seelenarbeit zu tun haben, denn sie erzeugt Produkte, »Kultur entsteht […], indem zwei Elemente zusammenkommen, deren keines sie für sich enthält: die subjektive Seele und das objektive geistige Erzeugnis«. 209 Die Seelen- als Kulturarbeit, darauf besteht Simmel typisch, ist konkrete Metaphysik, generiert überhaupt erst Weltzusammenhänge, ist insofern notwendig Gegenstand der ästhetisch-philosophischen Reflexion. Wenn irgend das moderne Individuum zeigt, was es vermag, so konkurrenzlos plastisch in der Kunst: »Auf schwer enträtselbare Weise malt sich hinter Runge an C. Brentano: Brief vom 5. Dezember 1809, in: ders.: Schriften, Fragmente/ Briefe, hg. von E. Forsthoff. Friedrich Vorwerk: Berlin 1938, 226–233, hier 227. 203 Novalis: »Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen« [1798], in: ders.: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, Bd. 2: Das philosophischtheoretische Werk, hg. von H.-J. Mähl. Hanser: München 1978, 311–384, hier 363. 204 Novalis: »Glauben und Liebe und politische Aphorismen« [1798], in: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, Bd. 2: Das philosophisch-theoretische Werk, hg. von H.-J. Mähl. Hanser: München 1978, 287–309, hier 303. 205 Vgl. G. Simmel: Lebensanschauung, 275. 206 Es ist kein Zufall, dass die Wellmer-Schule z.Zt. den Kraft-Begriff in der Ästhetik rehabilitiert und auf praktische Freiheit bzw. Sozialbezug hin interpretiert (vgl. C. Menke: Die Kraft der Kunst. Suhrkamp: Berlin 2013, 153, 156 f.). 207 G. Simmel: »Der Fragmentcharakter des Lebens«, 205. 208 G. Simmel an E. R. Curtius: Brief vom 15. März 1918, in: GSG 23, 921 f., hier 921. 209 G. Simmel: »Der Begriff und die Tragödie der Kultur«, 389.
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jedes Kunstwerk das Wollen und Fühlen einer bestimmten Seele, eine bestimmte Auffassung von Welt und Leben«, 210 Seele ist greifbar nur, indem sie an der glücklich gefundenen Kunstform gleichsam kondensiert und damit immer und stets überindividuell, auch für andere zugänglich gerät. Die Form bricht so den einsam-solipsistischen Akt der Produktion und öffnet zugleich Zugänge für uns. 211 Die Formwerdung des Kunstwerks bleibt jedoch nicht denkbar ohne einen ungreifbar-unbegrifflichen seelischen Antrieb, der nicht in Form aufgeht, nicht die bloße Emergenz des Werks meint – nicht zufällig dünken uns epigonale Arbeiten daher auch unbeseelt, ohne dass wir auf Anhieb sagen könnten, woraus genau der Mangel resultiert. Beseelung scheint so unvermeidlich metaphysische Vokabel für eine spontane Kraft, enárgeia, Welt als Einheitsform aus einem individuellen Akt zu setzen, gilt daher analog für »künstlerische ›Wahrheit‹« als auch für die Philosophie. 212 Weiter ist sinnvoll für Simmel nicht zurückzufragen, er muss sich mit »Energien, die in dem Überindividuellen der Seele wurzeln«, begnügen. 213 Auch für ästhetische Belange bleibt das nicht nur recht abstrakt, man spürt geradezu Simmels Verlegenheit, nicht recht vorzudringen. Klar zumindest ist geworden, dass mit dem Seelen-Terminus das Erstaunliche gefasst sein soll, wie aus allgemeinen und – nun doch! – vorbewussten Antriebsgründen verbindliche Kulturleistungen geschaffen werden. Um 1900 sollte, mit einem treffenden Wort, »dort, wo Ich war, Seele werden«, 214 doch erst das gelungene Kunstwerk zeigt die Tätigkeit der Seele, demonstriert ihr »Totalisierungsvermögen«, 215 und zwar, kunstspezifisch modern als Totalisierungsleistung anhand eines notwendig Fragmentarischen, 216 bis die Form geG. Simmel: »Venedig« [1907], in: GSG 8, 258–263, hier 258. G. Simmel: »Zum Problem des Naturalismus«, in: GSG 20, 220–248, hier 237. 212 G. Simmel: Hauptprobleme der Philosophie, 34. Simmel ist hier nahe an der frühromantischen Auffassung, alle Philosophie resultiere aus einem ursprünglichen Gefühl: »Die Anschauungen dieses Gefühls begreifen die filosofischen Wissenschaften«, so die »Fichte-Studien« des Novalis (vgl. Novalis: »Fichte-Studien«, in: ders. Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, Bd. 2: Das philosophisch-theoretische Werk, hg. von H.-J. Mähl. Hanser: München 1978, 8–208, hier 18 (Nr. 15)). 213 G. Simmel: Hauptprobleme der Philosophie, 29. 214 J. M. Fischer: Jahrhundertdämmerung. Ansichten eines anderen Fin de siècle. Zsolnay: Wien 2000, 21. 215 G. Simmel: Hauptprobleme der Philosophie, 17; vgl. G. Simmel: »Vom Wesen der Philosophie« [1910], in: GSG 12, 70–80, hier 72. 216 Vgl. z. B. G. Simmel: Philosophie des Geldes, 690 f. 210 211
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nügt, während in Philosophie, ebenfalls eine »Reaktion von Seelen auf die Totalität des Seins« und deshalb als individueller Entwurf so wenig zu falsifizieren wie das einzelne Kunstwerk, 217 doch als nur gedachter »Vereinheitlichung der Welt« 218 die Ordnungsleistung zwar gewaltiger ist, aber unsinnlich bleibt: Nur die Kunst, heißt es zum Ende des Rembrandt, könne eine »Ganzheit des sinnvollen Daseins widerspruchslos […] zum Ausdruck […] bringen«, es scheint »von allen großen Geistesgebieten nur diesem gegeben zu sein«. 219 Kunst ist modern und dezidiert antihegelianisch mithin sehr wohl noch in der Lage, den »ganzen Umfang des Daseins zu gestalten«, 220 deshalb ist es für Simmel wiederum in frühromantischer Tradition letztlich auch gleichgültig, welchen Stoff der Künstler bearbeitet, 221 sofern seine Gestaltung nur fürs Ganze einstehen kann, daher seine Feier der Lyrik Stefan Georges als völlig sublimierter seelischer Widerhall der Gegenstandswelt, 222 daher die Beschreibung Rembrandts als »Maler der Seele«, 223 der Religiosität überhaupt darstelle, nicht irgendwelche Anekdoten, Lehrinhalte und Dogmen, vielmehr »das Ganze ist religiös«, 224 deshalb wird im Goethe beipflichtend ein Eckermann-Eintrag zitiert, demnach Goethe all seine Produktion »immer nur symbolisch angesehen« habe und ihm »im Grunde ziemlich gleichgültig gewesen« sei, ob er nun »Töpfe machte oder Schüsseln«. 225 G. Simmel: Hauptprobleme der Philosophie, 35. Ebd., 36. 219 G. Simmel: Rembrandt, 514. 220 G. Simmel: Hauptprobleme, 29. Hegels These vom Bedeutungsschwund der Kunst in der Moderne hat sich, anders als das ›sinnliche Scheinen der Idee‹, als authentisch erwiesen (vgl. A. Gethmann-Siefert: »Die systematische Bestimmung der Kunst und die Geschichtlichkeit der Künste. Hegels Vorlesung über ›Aesthetica sive philosophiam artis‹ von 1826«, in: G. W. F. Hegel, Philosophie der Kunst. Vorlesung von 1826, hg. von A. Gethmann-Siefert. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 2005, 9–44, hier 31). 221 Vgl. G. Simmel: »Zum Problem des Naturalismus«, 221 f. »Alles kann zur schönen Kunst werden.« (Novalis: »Glauben und Liebe und politische Aphorismen«, 303) Für Simmel konvergieren etwa Naturalismus und Ästhetizismus darin, dass sie genau dies, die Gleichgültigkeit der Gegenstandswahl, dartun: Zolas Milieustudien und Stefan Georges oder Oscar Wildes Phantasiewelten sind gleichermaßen Kunst. 222 Vgl. G. Simmel: »Der siebente Ring« [1909], in: GSG 12, 51–54, hier 52. 223 G. Simmel: Rembrandt, 477. 224 Ebd., 480. 225 G. Simmel: Goethe, 24; vgl. das Gespräch vom 2. Mai 1824, in: J. P. Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, hg. von F. Bergmann. Insel: Frankfurt a. M. 1987, 103 ff., hier 107. 217 218
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Obwohl einsichtig ist, worauf Simmel abstellt, bleibt ein Unbehagen angesichts dieser immer neu ansetzenden Versuche, die – das ist der Preis der Einheits- und Syntheseemphase von Schaffensprozess als auch Werkkontur als Realisierung von Individualität – zur analytischen Aufschlüsselung kaum vorstoßen. Deutlich wird aber, dass Simmels »individuelle[s] Gesetz«, als Begriff erstmals 1902 in einem frühen Aufsatz zu Rodin geprägt, 226 aus einem ästhetischen Kontext stammt und überhaupt von langer Hand angelegt ist, denn seine Reflexionen über den Umstand, dass soziale Individualisierungsprozesse als auch Kunstproduktion notwendig ein Fragmentarisches zur Totalität umformen, 227 erweisen sich so als Frühformen der Direktive, recht eigentlich (obwohl natürlich völlig aussichtslos) müsste man eine gottgleiche Persönlichkeit entwickeln; 228 diese allerdings als Vorform des individuellen Gesetzes – es ist immer der gleiche Gedanke, 229 in seiner Letztfassung, »daß der Mensch […] ein mit diesem Leben gegebenes Ideal seiner selbst zu verwirklichen hat«, 230 von Simmel nun endlich als Alternative zu Kants kategorischem Imperativ annonciert. 231 Die Goethe-Monographie von 1912 kann als materiale Explikation dieses individuellen Gesetzes verstanden werden, 232 denn Goethe habe es vermocht, »sein Subjekt zu objektivieren« 233 und »gehörte zu denen, die wirklich zu Ende kamen und keinen Rest hinterließen«, dieses Leben habe tatsächlich etwas gesollt, nämlich seine »Entwicklung als die typisch menschliche« aufzuweisen; »die Linie, der eigentlich jeder folgen würde, wenn er sozusagen seinem Menschentum rein überlassen wäre«, 234 nämlich der einer 226 Vgl. G. Simmel: »Rodins Plastik und die Geistesrichtung der Gegenwart« [1902], in: GSG 7, 92–100, hier 93. 227 Vgl. G. Simmel: Soziologie, 49; ders.: Philosophie des Geldes, 690 f. 228 G. Simmel: »Die Persönlichkeit Gottes«, 355. 229 Z. B. wieder in G. Simmel: Lebensanschauung, 272, 277, 280. 230 Ebd., 402. 231 Ebd., 384. 232 Umso mehr, als das letzte Kapitel der Lebensanschauung, das noch einmal das individuelle Gesetz verhandelt (vgl. G. Simmel: Lebensanschauung, 346–425), deutliche Längen hat. 233 G. Simmel: Goethe, 76; vgl. ebd., 230. 234 Ebd., 269. Deshalb ist Goethe für Simmel auch kein Genie, sondern das »schlechthin Normale« (ebd., 270) – ein Notat, das besonders T. W. Adorno empörte (vgl. T. W. Adorno: Minima Moralia, 100). So erweist sich dieser, der in »Henkel, Krug und frühe Erfahrung« über Simmels Bildungsfetisch höhnte, der seine Objekte »gleichwie in einem Fayenceschrank anhortet« (T. W. Adorno: »Henkel, Krug und frühe Erfahrung«, 561), als entschieden bildungsbürgerlicher als jener.
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ästhetischen Existenz. Rembrandt hingegen geht das Individuelle vom Werkbegriff her an (kein Wort über die Lebensumstände des niederländischen Meisters!): Es bleibt inkommensurabel, ist jedoch darstellbar. 235 1918 freilich versteigt sich Simmel, schon todesnah, in der erneuten Variation der Idee totalisierender Individualität noch zu einem letzten seiner notorischen Analogieschlüsse: Das Kunstwerk als solches, als ausdifferenzierte und doch geformte Mannigfaltigkeit, zeige das individuelle Gesetz in »wortloser Wesenstiefe«, womit allerdings die von ihm stets verteidigte ästhetische Autonomie plötzlich kassiert wird. 236 Hat sich dies nicht von der Frage nach dem Subjekt sehr weit entfernt? Ja und nein. Zunächst kann es nicht verwundern, dass Moralphilosophen wie Georg Lohmann in diesen Konstruktionen keine Ethik mehr erkennen, fehle doch nun jeder Sozialbezug. 237 Andere Interpreten sprechen treffend vom »ethischen Gesamtkunstwerk«, 238 das Simmel hier jedem abverlange. Man kann die Sache weiterspinnen: Nicht die großen Künstler (Wissenschaftler? Staatsmänner? Religionsstifter?) benötigen eine Erläuterung des individuellen Gesetzes, sie exekutieren ihr jeweiliges intuitiv, gehen ihren Weg, wir »Durchschnittstypen« aber bedürfen der Erinnerung, »daß der Mensch […] ein mit diesem Leben gegebenes Ideal seiner selbst zu verwirklichen hat«, 239 durchaus als Anweisung zum seligen Leben. Hier noch einmal wird deutlich, dass nicht Subjektivität, sondern das qualitative Moment Simmels Interesse okkupiert, er spricht gar von der »falschen Verwachsung zwischen Individualität und Subjektivität«. 240 Und dennoch, Dieter Henrich hat zwar keine Zeit für eine eigene, systematische Selbstbewusstseinstheorie gefunden, doch 2007 die bisher tiefdringendste Entfaltung des Problems in seiner
G. Simmel: Rembrandt, 362, 370, 397, 441, 449. G. Simmel: »Gesetzmäßigkeit im Kunstwerk« [1917], in: GSG 13, 382–394, hier 394. 237 G. Lohmann: »Moral und ›Moralwissenschaft‹«, in: H.-P. Müller und T. Reitz (Hg.): Simmel-Handbuch. Begriffe, Hauptwerke, Aktualität. Suhrkamp: Berlin 2018, 382–389, hier 383, 388. Fellmann erblickt hier jedoch die Stärke, dass Simmels Entwurf »die Idealität nicht von der Individualität trennt« (F. Fellmann: »Persönlichkeitsbegriff«, 322). 238 H.-P. Müller: »Individualisierung, Individualismus und Individualität«, 301. 239 G. Simmel: Lebensanschauung, 402. 240 Ebd., 419. 235 236
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»Analyseresistenz« geliefert: 241 Es kann keine »demonstrierbare Erkenntnis vom Ursprung der Subjektivität geben«, 242 ihr Grund ist identifizierendem Denken unerreichbar, 243 zugleich jedoch, in Gegenläufigkeit, strebt sie als Prozess im »Überstieg« über sich hinaus auf ein Ganzes, das ebenso wie das schiere Faktum des Selbstbewusstseins immer schon vorausgesetzt werden muss; Metaphysik ist folglich unvermeidbar. 244 Als »Durchführungen« expliziert Henrich die Frage nach dem Subjekt in Relationen zur Ethik, Sozialität und Freiheit – Themen, die auch Simmel immer wieder beschäftigt haben. 245 Insgesamt ergibt sich damit bei Simmel trotz aller Begriffsverwirrungen eine Verschiebung von der umsteuerten Begründung der Subjektivi-
241 D. Henrich: Denken und Selbstsein, 34 – zumal, wenn man die Folgerungen der kognitiven Neurobiologie, so interessant ihre eigentlichen Befunde sind, streckenweise eher drollig finden kann. So spricht Gerhard Roth von der »Modularität von Bewusstseinszuständen« (G. Roth: Aus der Sicht des Gehirns, 128): Gefühle, Raum- und Zeitbewusstsein etc. werden an verschiedenen Orten des Gehirns erzeugt. Das mag so sein, wenn es aber »vergeblich ist, nach einem Träger des Ich zu suchen«, weil es »keine eigenständige, übergeordnete Instanz [gibt], die verbindet« (ebd., 142), wüssten wir schlicht nicht, wer wir sind. Die Rede von »Körper-« und »Kontroll-Ich« (ebd. 141), perspektivischem, autobiographischem usw., freilich bleibt bloße Metapher. Selbstverständlich geht es in der philosophischen Frage nach dem Subjekt nur um die Konsistenz des »Erlebnis-Ich«, welches hier »vornehmlich – wenngleich nicht ausschließlich – eine Funktion des Schläfenlappens« (ebd.) ist. Das erinnert an Simmels erstes Habilitationskolloquium, als Eduard Zeller die Seele als »punktförmiges Wesen, das in der Mitte des Gehirns seinen Sitz habe« (H. Simmel: »[Lebenserinnerungen] 1941/43«, in: Simmel Studies 18 (2008), 9–135, hier 21), identifizierte, worauf es zum Streit kam und Simmel wiederholen durfte, der fälschlich Theobald Ziegler nennt (vgl. zum Vorfall K. C. Köhnke: Der junge Simmel – in Theoriebeziehungen und sozialen Bewegungen. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1996, 115 ff.). 242 D. Henrich: Denken und Selbstsein, 79. 243 Ebd., 54. 244 Ebd., 42 f., 51, 56, 75, 255. Warum sich dies so verhält, ist leider kaum referierbar, man muss Henrichs ›Gang‹ mitmachen. 245 Nur die Ästhetik fehlt hier – vielleicht nicht zufällig. Karl Heinz Bohrer gibt einen erheblichen Eklat mit Henrich in Turin 1994 über das modern-selbstreferentiell Phantastische zu Protokoll, das sich keinerlei vernunft- oder moralphilosophischer Verwertungsabsicht öffne, was Henrich nicht habe dulden können (vgl. (K. H. Bohrer: Jetzt. Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie. Suhrkamp: Berlin 2017, 340 ff.). Tatsächlich glaubt Henrich, mit seiner fraglos ingeniösen, aber im Ansatz verfehlten Umdeutung Hegels zum Paradigma einer »Nicht-mehr-schönen-Kunst« die Moderne fassen zu können (D. Henrich: »Kunst und Kunstphilosophie der Gegenwart (Überlegungen mit Rücksicht auf Hegel)«, in: W. Iser (Hg.): Immanente Ästhetik – ästhetische Reflexion (Poetik und Hermeneutik, Bd. 2). Fink: München 1966, 11–32.
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tät hin zu etwas, was man tatsächlich als breit entfaltete, praktische Subjektphilosophie bezeichnen könnte: die Essays über das Schauspielen als eigenständige Kunstform, Karikatur und Porträtmalerei als Extraktion bzw. Beseelung der Individualität, über die Liebe, vielleicht sogar Koketterie, die Kreativität des Lügens, die Zukunft der Religion und natürlich die Künstler-Studien. Dennoch, zwischen gut handhabbaren Theoremen wie dem der »quantitativen Bestimmtheit der Gruppe« und Spekulationen aus der Lebensanschauung, demnach das Subjekt sein Schicksal wünschelrutengängerisch geradezu suche, 246 liegen Welten. Auch wenn man der Konstruktion eines stromlinienförmigen intellektuellen Profils abhold ist – wie sich die Positionen des Soziologen und Philosophen Simmel zueinander verhalten, ist fraglicher denn je.
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G. Simmel: Lebensanschauung, 321.
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»Moralwissenschaft« gegen Moralphilosophie. Zur Kritik von Simmels Moralwissenschaft Georg Lohmann
Simmel versteht unter »Moral« das empirische, sittliche und unsittliche Leben einer Gesellschaft, in der formale Sollensforderungen der je konkreten Gemeinschaft an das einzelne Individuum von außen gestellt werden und die innerlich als Konflikte unterschiedlicher Pflichten erlebt werden. Konkrete sittliche Forderungen sind Resultate von evolutionären Prozessen der Verdichtung und Stabilisierung der immer spannungsreichen Wechselwirkungen zwischen Individuum und Gemeinschaft. Er ist der Meinung, dass diese (sittlichen) Sollensforderungen letztlich unbegründbar, widersprüchlich und nicht spezifisch moralisch sind und deshalb auch nicht durch moralphilosophische Prinzipien erklärt oder begründet werden können. In einer destruierenden »Kritik der ethischen Grundbegriffe« will er daher die Moralphilosophie in eine »realistische Moralwissenschaft« überführen, die selbst wieder in einzelwissenschaftliche Forschungen der Psychologie, Soziologie und Geschichtswissenschaft zerfällt. 1 Simmel glaubt, dass eine solche, nur beobachtende Moralwissenschaft sich ethischer Wertungen enthalten kann und muss. Simmels »zerlegende Betrachtungsweise« läuft freilich auf eine kritische Diagnose des modernen Lebens zu, nach der die Auflösung alles Substantiellen und Endzweckhaften die konflikthaften Spannungen zwischen Individuum und Gesellschaft zu immer neuen Ausgleichsversuchen treibt, ohne dass eine endgültige Lösung erreicht werden kann. Der späte, lebensphilosophisch argumentierende Simmel entwirft daher eine Konzeption eines ethisch guten Lebens, indem er unter dem Stichwort »individuelles Gesetz« eine Verantwortung des Einzelnen für sein ganzes Leben als Antwort auf die Fragmentierungserfahrungen modernen Lebens entwirft. Sowohl Simmels Moralwissenschaft G. Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft. Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe, Bd. 1 [1892], in: G. Simmel: Gesamtausgabe, hg. von O. Rammstedt. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1989–2015 (im Folgenden GSG), Bd. 3, 7–443, hier 11.
1
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Georg Lohmann
wie sein »individuelles Gesetz« sind ambivalent zu bewerten, ihr zeitdiagnostisches Potential ist beeindruckend, moralphilosophisch aber nicht überzeugend.
I.
Einleitung: Der methodische Ansatz von Simmels Moralwissenschaft 2
Ethik oder Moralphilosophie waren nicht zentrale Themen von Georg Simmel. Aber noch während der Habilitation, deren Kolloquium er wiederholen musste (1883 abgeschlossen), beginnt Simmel sich ethischen Themen zuzuwenden, unterrichtet als junger Privatdozent regelmäßig Ethik 3 und rezensiert neuere Arbeiten zur Moralphilosophie. Seine Intention geht aber auf eine Kritik der zeitgenössischen Ethiken, die er einige Jahre später in einer zwei-bändigen Einleitung in die Moralwissenschaft (1892, Bd. 1; 1893, Bd. 2) ausführt. Aber von dieser Jugendsünde, wie Simmel später sagt, distanziert er sich, nimmt sie nicht in seine »Unvollendete Selbstdarstellung« 4 auf, und eine im üblichen Sinne philosophische Ethik findet man im späteren Werk Simmels ebenso wenig wie eine konventionelle Rechts- oder Staatsphilosophie. Am Ende seines Schaffens kommt der späte, nun »lebensphilosophische« Simmel noch einmal prominent auf ein klassisches ethisches Thema zurück: Im »Individuellen Gesetz« (1913, umgearbeitet 1918) wird er seine Version des »guten Lebens« vorstellen. Der Weg und die Spannungen zwischen dieser zunächst nur kritischen Beschäftigung mit Ethik und dem eigenen Versuch einer ethischen Konzeption guten Lebens sollen Gegenstand dieses Beitrags sein. In der 1896 erschienen Rezension von Heymann Steinthals »Allgemeine Ethik« wird schon Simmels Opposition gegen zeitgenössische, erbauliche und belehrende Ethiken deutlich. Deren humaEine stark gekürzte Fassung dieses Aufsatzes habe ich veröffentlicht als: »Moral und ›Moralwissenschaft‹«, in: H.-P. Müller, T. Reitz (Hg.): Simmel-Handbuch. Suhrkamp: Berlin 2018, 382–389. 3 Hauptsächlich Kant und Schopenhauer; vgl. K. C. Köhnke: Der junge Simmel in Theoriebeziehungen und sozialen Bewegungen. Frankfurt a. M. 1996, 194–200. 4 G. Simmel: »Anfang einer unvollendeten Selbstdarstellung«, in: K. Gassen und M. Landmann (Hg.): Buch des Dankes an Georg Simmel, Briefe, Erinnerungen, Bibliographie. Zu seinem 100. Geburtstag am 1. März 1958. Duncker & Humblot: Berlin 1958, 9 f. 2
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»Moralwissenschaft« gegen Moralphilosophie
nistischen Predigerstil destruiert er, indem er ihre Grundbegriffe als widersprüchlich nachweist. In der »Einleitung in die Moralwissenschaft« setzt Simmel seine destruierende, nicht aufbauende »Kritik der ethischen Grundbegriffe«, so der zutreffende Untertitel, fort. Gegenstand sind mit je einem Kapitel, und ohne dass damit eine systematische Abfolge impliziert sei, ethische Großbegriffe: Das Sollen, Egoismus und Altruismus, Sittliches Verdienst und sittliche Schuld, Glückseligkeit (1. Bd.); Der kategorische Imperativ, Freiheit, Einheit und Widerstreit der Zwecke (2. Bd.). Klaus Christian Köhnke hat in einer detektivischen Arbeit die Entstehungsgeschichte dieser zwei Bände aufgezeigt. 5 Er kann nachweisen, dass der veröffentlichte Text so sehr eine Kompilation unterschiedlicher Textvarianten ist, dass der Eindruck einer nur negativen, unzusammenhängenden und mit allerlei psychologischen, soziologischen und geschichtswissenschaftlichen Ausführungen und teils schmückenden geistreichen Bemerkungen überladenen Kritik der Ethik entstehen musste, was denn auch die Rezensenten der beiden Bücher Simmel vorhielten. Rückblickend gesehen enthalten die beiden Bände vielen Vorfassungen und erste Formulierungen von späteren soziologischen, kultur- und zeitdiagnostischen und lebensphilosophischen Thesen Simmels, die der junge Simmel gewissermaßen experimentierend im Medium einer destruierenden Ethikkritik entwickelt und ausprobiert. Auf diese Beziehungen soll hier nur insoweit eingegangen werden, wie sie unmittelbar zum Verständnis ethischer Fragen dienlich sind. Simmels »Moralwissenschaft« ist ein Werk der »Überleitung«. 6 Es will die Moralphilosophie seiner Zeit überführen in den Status einer Moralwissenschaft, die ihrerseits sich in ihren Standards an den fortgeschrittenen Wissenschaften orientiert. Mittel dieser Transformation ist eine »zerpflückende[] Betrachtungsweise«, 7 die die allgemeinen und nach Simmel abstrakten Begriffe der Moral in die durch sie repräsentierten oder zusammengefassten »Einzelerfahrungen« zerlegt. Die einzelnen Tatsachen, die nach Simmels Erkenntnistheorie immer auf eine bestimmte »psychologische[] Verfassung« und damit »auf ein Gefühl« zurückgeführt werden können, 8 sollen
Vgl. K. C. Köhnke: Der junge Simmel, 169–213. G. Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft, Bd. 1, 11. 7 G. Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft. Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe, Bd. 2 [1893], in: GSG 4, 7–389, hier 347. 8 G. Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft, Bd. 1, 25, 24. 5 6
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Georg Lohmann
nach Art der induktiv verfahrenden, empirischen Wissenschaften allein aus der Perspektive eines unbeteiligten Beobachters und in einer methodisch kontrollierbaren Weise zu allgemeineren Aussagen und Urteilen verwandt werden. 9 Die Ethik soll »realistische[] Wissenschaft« 10 werden, indem sie als »Theil der Psychologie«, »Theil der Sozialwissenschaften« und »Theil der Geschichte« behandelt wird. 11 Dabei ist es für Simmel offen, ob bei diesen Aufteilungen »die Ethik überhaupt als eine besondere Wissenschaft bestehen bleiben wird«. 12 Dem eigenen Selbstverständnis nach legt Simmel somit eine Anatomie der Moral vor; 13 ihre Eigenart, Leistungsfähigkeit und ihre Grenzen sollen im Folgenden überprüft werden. So wenig der Anatom, sagt Simmel, »ein ästhetisches Urteil über den Körper auf dem Seziertisch abzugeben hat«, so wenig hat der kritische Moralforscher seine eigenen moralischen Werturteile mit der »parteilosen« Feststellung der empirischen oder hypothetischen Wirklichkeit zu vermengen. 14 Simmel will also, wie in neuerer Zeit das etwa Niklas Luhmann propagierte, eine »moralfreie Behandlung der Moral« liefern. Diese eigene Urteilsenthaltung, auch sonst Kennzeichen von Simmels Schriften, birgt allerdings im Falle einer anatomischen Moralkritik ein eigenes Problem. Simmel sieht selbst, dass das »Werturteil, dessen sich der Forscher anmaßt, denselben generellen Inhalt hat, wie das Forschungsobjekt selbst«. 15 Simmel glaubt, darauf angemessen mit einer »geschärfteren und differenzirenden Methodik« 16 reagieren zu können, so dass Erklärung und Normierung, parteilose Deskription und eigeSimmel folgt mit diesem methodischen Programm empirischer Wissenschaften David Hume, auf den er freilich nur einmal in dieser Hinsicht verweist; vgl. G. Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft, Bd. 2, 140 f. Wie häufig lässt Simmel die Leserin über seine eigentlichen Quellen im Unklaren, und auch Klaus Christian Köhnke ist diese methodische, aber auch inhaltliche Anknüpfung an Humes Destruktion einer Philosophie der Moral entgangen; vgl. zu Hume: H. F. Klemme: David Hume zur Einführung. Junius: Hamburg 2007; und besonders das Hume-Kapitel in: J. Habermas: Auch eine Geschichte der Philosophie, Bd. 2. Suhrkamp: Berlin 2019. 10 G. Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft, Bd. 1, 11 (Vorwort zur ersten Auflage). 11 Ebd., 10. 12 Ebd. 13 Vgl. G. Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft, Bd. 2, 9. 14 Ebd., 11. 15 Ebd. 16 Ebd. 9
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»Moralwissenschaft« gegen Moralphilosophie
nes Werturteil getrennt werden können. In Wahrheit aber sind nicht zwei Arten moralischer Wertung auseinanderzuhalten, sondern drei: (1.) die empirischen moralischen Überzeugungen in den moralischen Phänomenen, (2.) die wissenschaftlichen oder philosophischen moralischen Urteile oder Theorien, deren implizite oder explizite Wertungen der Anatom bestätigt oder verwirft, indem er sie mit den empirischen moralischen Überzeugungen in Beziehung setzt, und (3.) seine eigenen moralischen Überzeugungen, die davon ganz unabhängig sein können. Simmel identifiziert (2.) mit (3.), und da er mit Recht auf einer strikten Trennung von (1.) und (3.) besteht, entgeht ihm, dass das wissenschaftliche Ergebnis der Moralkritik auf ein begründetes Urteil hinsichtlich (2.) hinausläuft, und dass damit seine Moralanatomie zumindest implizit ein eigenes Urteil über die überprüften hypothetischen Moraltheorien enthalten muss: sie muss bestimmte Moralkonzeptionen verwerfen, andere stützen. Simmel glaubt, dass er in dieser Hinsicht nur zu negativen Urteilen kommt, d. h., dass die überprüften Moralprinzipien unhaltbar sind, a) weil sie widersprüchlich sind, b) zu heterogenen Schlussfolgerungen führen oder c) mit widersprechenden Inhalten kompatibel sind. 17 Indem er aber bestimmte Moralauffassungen destruiert, ergibt sich gewissermaßen induktiv die Stützung für eine nicht-destruierte. Er nennt sie jeweils »Moralprinzip des Willensmaximums« 18 oder des »Lebensmaximums« 19 oder des »Thätigkeitsmaximums« 20 oder des »Freiheitsmaximums« 21. Ich glaube, dass Simmel damit, ganz gegen sein Selbstverständnis, eine bestimmte Moralkonzeption, nämlich eine letztlich utilitaristische, favorisiert. Zu dieser impliziten Bevorzugung einer utilitaristischen Moralauffassung kommt es auch deshalb, weil sie aus dem methodischen Vorgehen, das Simmel in seiner »zerpflückenden Betrachtungsweise« verfolgt, sich nahelegt. 22 Methodisch zerlegt Simmel moralphilosophische Allgemeinbegriffe in eine Vielzahl von »oft entgegengesetzVgl. ebd., 9. G. Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft, Bd. 1, 142. 19 G. Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft, Bd. 2, 328; Simmel selbst verweist an dieser Stelle auf seine Ausführungen in G. Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft, Bd. 1, 181 ff. 20 G. Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft, Bd. 1, 283 (im Inhaltsverzeichnis des Kapitels aufgeführt). 21 G. Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft, Bd. 2, 246. 22 Ebd., 347. 17 18
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ten Tendenzen und Denkmotiven«, 23 die er aber immer aus der Beobachterperspektive beschreibt und dementsprechend als psychologische oder soziale oder »historische[] Einzelheiten und Beobachtungen« 24 darstellen kann. Die Einzelheiten und »einfachsten Elemente«, bei denen die kritische Moralwissenschaft im Sinne Simmels anlangt, erklären moralische Überzeugungen und Urteile mit psychologischen, soziologischen oder historischen Tatsächlichkeiten, die empirische Sachverhalte des menschlichen Lebens sind. Fragt man sich nun, in welcher Hinsicht ein so in moralische oder sittliche Einzelheiten zerlegtes Leben wertvoll ist, so ist der allgemeinste Gesichtspunkt die Maximierung von diesen sittlichen Lebenselementen. Sofern die Ethik auf das Wertvollste bezogen ist, ist sie auf ein Maximum dessen aus, was als wertvoll angesehen wird. So ergibt sich die Vorstellung eines »höchsten Gutes« oder des »größten Glücks der größten Zahl«. Eine solche Ansicht ist nun außerordentlich naheliegend, wenn man, wie Simmel, moralische Urteile und Handlungen nicht aus der Perspektive dessen, der urteilt oder handelt, betrachtet. Nicht auf das, was mit einem moralischen Urteil gemeint ist, soll Bezug genommen werden, sondern nur darauf, dass empirisch ein moralisches Urteil, eine moralische Handlung oder eine sittliche Wertung vorliegt. Der externe Betrachter kann nicht anders, als das unterstellt Wertvolle in seiner größten Ansammlung oder Konzentration für das Wertvollere zu halten und also in dem jeweiligen Maximum das sittliche Prinzip zu sehen. Simmel macht hier aber den gleichen Fehler, den er sonst der Moralphilosophie vorhält, dass sie das wichtigste schon voraussetzt, was sie erst klären müsste: Was denn das moralisch Gute sei oder was wir damit meinen, wenn wir eine Handlung als moralisch gut beurteilen oder Handlungen eines Menschen als sittlich gut bewerten oder ihn selbst als gut loben oder als moralisch schlecht tadeln. Weil Simmel zu diesem internen Verständnis moralischer Urteile und Wertungen fast (es gibt einige Ausnahmen im Text) keinen Zugang gewinnt, ist seine »Einleitung in die Moralwissenschaft« in der Tat keine Moralphilosophie, sofern man als deren Aufgabe bestimmt, genauer anzugeben, was wir mit moralischen Urteilen und Wertungen meinen.
23 24
Ebd., 9. Ebd., 10.
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Simmel betont in der Vorrede zum 2. Band, dass die einzelnen Kapitel seiner »Einleitung in die Moralwissenschaft« nicht aufeinander aufbauen, sondern dass sie »vielmehr selbständig nebeneinander« stehen, »zusammengehalten nur durch die […] methodische[] Gesinnung«. 25 Daher baut auch die Kritik des einen Kapitels nicht auf der Kritik des vorhergehenden auf, sondern »jedes für sich (gelangt) in Bezug auf sein spezielles Thema« zu dem formal gleichen, kritischen destruktiven Resultat. 26 Zur Überprüfung der obigen Vermutungen müssen wir daher nicht alle Kapitel durchgehen, sondern können exemplarisch Simmels zerlegende Anatomie überprüfen. Ich beginne dazu mit dem 1. Kapitel über »Das Sollen« (II), mache dann ein paar Bemerkungen über m. E. wichtige Einsichten in anderen Kapiteln (III) und gehe abschließend auf das letzte Kapitel über »Einheit und Wiederstreit der Zwecke« ein (IV). Ein nur noch kurzer Abriss des »Individuellen Gesetztes« skizziert dann Simmels späte Beschäftigung mit Moral und Ethik (V).
II.
Simmels Destruktion des sittlichen Sollens und die Verfehlung des Moralischen
Das Kapitel über »Das Sollen« ist in fünf Unterabschnitte aufgeteilt: Es beginnt (1) mit einer erkenntnistheoretischen Charakterisierung des Sollens, aus der sich (2) die logische Unbegründbarkeit des sittlichen Sollens ergeben soll, die gleichwohl psychologisch als unbedingte Notwendigkeit aufgefasst werden könne. Simmel erklärt (3) den Absolutheitsanspruch des sittlichen Sollens aus dem sozialen Charakter des sittlich Guten und (4) den Verpflichtungscharakter des Sollens aus der Verinnerlichung von Zwang. Abschließend (5) ist er der Meinung, dass das sittliche Sollen inhaltlich bestimmt ist sowohl durch die vorhandenen Sitten wie durch nichtverwirklichte Ideale und so auch in seinen Inhalten einen »mittleren Zustand« zwischen Wirklichkeit und Ideal bildet. In Anlehnung an Kant und Schopenhauer geht Simmel davon aus, dass alles, worauf wir uns bewusstseinsmäßig beziehen können, als Vorstellung gegeben ist. Ein und derselbe Vorstellungsinhalt kann, je nach dem Gefühl, das ihn begleitet, als wirklich, als erhofft, 25 26
Ebd., 9. Ebd.
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als gewollt und so weiter und schließlich als gesollt bestimmt werden. 27 Simmel schließt daraus, dass das Sollen selbst ein »Denkmodus« 28 ist, »ein gefühlter Spannungszustand«, in dem einem »sachlichen ideellen Inhalt« eine »Uebergangsbeziehung zur Realität« gegeben wird. 29 Übersetzt in heutige Terminologie könnte man sagen: Simmel geht von propositionalen Gehalten, = den »Vorstellungsinhalten«, aus, die in unterschiedlichen performativen Äußerungen ausgesagt werden können. Allerdings ist Simmel gerade nicht an den sprachlichen Ausdrücken und der sprachlichen Form moralischer Urteile orientiert, sondern bleibt an einem bewusstseinsphilosophischen Subjekt-Objekt-Modell orientiert, in dessen Grundstruktur er seine Überlegungen einzeichnet. Objekte sind immer Vorstellungen eines Subjektes, und der Charakter des Objekts oder die Art des Objektbezuges soll durch etwas im Subjekt selbst bestimmt werden, nämlich durch die subjektiven Gefühle, die jeweils mit einem bestimmten Vorstellungsinhalt verbunden sind. So ist für Simmel »die Räumlichkeit der Dinge selbst […] gar nichts anderes, als ein Verhältnis von Vorstellungen untereinander, eine Ordnung der Empfindungen, die nicht ausserhalb ihrer existirt«. 30 Auch Wirklichkeit ist »nichts, was ausserhalb der Vorstellungen […] existirte«, sondern es ist nur eine »gewisse psychologische Qualität der Vorstellungen«. 31 Simmel glaubt nun, dass sich nach und nach, »im Laufe der Entwicklung des Vorstellungslebens« 32 eine Vorstellungsart von einer anderen trennt; es sei eine evolutionäre »Gattungserfahrung«, durch die sich Klassen von Vorstellungen voneinander trennen. Dies geschehe auf Grund bestimmter Merkmale, mit denen wir Erfolg in unserem Gattungsleben haben und die sich in unterschiedlichen, charakteristischen Qualitäten der korrespondierenden Gefühle niederschlagen. Das bewusstseinsphilosophische Vorstellungsmodell wird so mit einer evolutionistischen, durch Darwin und Spencer beeinflussten Erkenntnistheorie verbunden. Wenn einmal solche Differenzierungen sich ausgebildet und verfestigt haben, stehen sie nach Simmel in einer »phänomenologische 27 28 29 30 31 32
Vgl. G. Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft, Bd. 1, 21. Ebd., 22. Ebd., 24. Ebd., 19. Ebd. Ebd.
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[n] Reihe«, die von der »Vorstellung des Nichtseins, des blossen Gedachtwerdens zu der der vollkommnen Wirklichkeit führt; das Wollen, das Hoffen, das Können, das Sollen – alles dies sind gewissermaassen Zwischenzustände und Vermittlungen zwischen dem Nichtsein und dem Sein«. 33 Simmel schließt daraus, dass es »keine Definition des Sollens« gibt, dass es, wie oben schon gesagt, nur ein »Denkmodus« ist, der bezogen ist auf irgendeinen Vorstellungsinhalt, dem das Sein noch abgesprochen wird, der aber auch nicht im Nichtsein verharren soll. 34 Unserem so, auf bestimmten Gefühlen basierenden Verhalten bezüglich eines Vorstellungsinhaltes geben wir dann sprachlich in der »Form des Imperativs« Ausdruck. 35 Was will Simmel nun eigentlich mit dieser »erkenntnistheoretischen« Charakterisierung des Sollens? Zunächst einmal glaubt er damit ein Argument gegen Kant zu haben, dem er vorwirft, den kategorischen Imperativ aus dem »Begriff des Sollens überhaupt heraus deduzirt[]« zu haben. 36 Das sei aber ein Irrtum, da ja das Sollen überhaupt mit gar keinem spezifischen Inhalt einhergehe, sondern alle möglichen Inhalte gesollt werden könnten. Unter den Prämissen seiner (Simmels) Konstruktion ist das auch richtig; Simmels Auffassung selbst aber nicht zwingend. Insbesondere, so muss man sagen, ist es selbst eine bestimmte, bewusstseinstheoretische und evolutionistische Erkenntnistheorie, auf die Simmel sich nur deshalb so ohne weiteres glaubt stützen zu dürfen, weil er glaubt, dies sei die Erkenntnistheorie der exakten positiven Wissenschaften. Die zweite Absicht der erkenntnistheoretischen Bestimmung des Sollens besteht aber darin, die These der »Unbegründbarkeit der Moral« zu stützen. Simmel ist der Meinung, dass man ein bestimmtes moralisches Sollen, wie jeden gesollten Inhalt auch, nicht begründen kann, sondern es nur auf ein vorhergehendes Sollen zurückgeführt werden kann, und dies wieder auf ein vorhergehendes, so dass sich schließlich ein ursprünglich gesollter Inhalt ergibt; »von ihm entlehnen alle anderen die Würde des Sollens, ohne dass er selbst sie von einer andern Instanz herleitete«. 37 Bei diesem letzten Sollen hat es
33 34 35 36 37
Ebd., 21 f. Ebd., 22. Ebd. Ebd., 23. Ebd., 26.
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nun keinen Sinn, zu fragen, woher denn sein Sollen begründet werden könnte: »das Letzte, das wir erklären können, ist das Vorletzte«. 38 Das letzte Sollen ist ein Sollen, bei dem die Begründungsfrage einfach abbricht; es ist daher nur negativ bestimmt und insofern kann Simmel behaupten, dass es eine »logische Grundlosigkeit des Sollens überhaupt« gebe. 39 Simmel schließt hieran eine interessante, psychologische Spekulation: Im praktischen Moralbewusstsein führe diese Unerklärbarkeit des Sollens nicht zu seiner Hinfälligkeit oder zu einem Kontingenzbewusstsein, da dieses den sozialen Erfordernissen widerspreche. Das Alltagsbewusstsein entlaste sich vielmehr, in dem es das moralische Sollen in Überlieferung und Tradition abstütze. Darüber hinaus führe die Unerklärbarkeit des Sollens gerade umgekehrt zu der Annahme seiner »Würde und psychologischen Kraft«: »Je dunkler und unverständlicher der Ursprung und die Berechtigung einer ethischen Norm ist, um so viel heiliger pflegt sie zu gelten«. 40 Auch die Vorstellung einer absoluten Begründung des Sollens wird aus der Grundlosigkeit erklärt: »Was durch Gründe gestützt ist, kann durch Gründe zu Fall gebracht werden, […] was [dagegen] keine Stützen hat und braucht, dem können keine fortgezogen werden.« 41 Nur über diese psychologischen Annahmen kann nach Simmel der unbedingte Notwendigkeitscharakter des moralischen Sollens erklärt werden. 42 Die absolute oder unbedingte Notwendigkeit des moralischen Sollens sei eine solche, wo die Unbegründetheit des letzten Grundes ins Unbewusste abgesunken ist. 43 Nach diesen Überlegungen zur logischen Begründbarkeit des Sollens und seinen paradoxen psychologischen Auswirkungen versucht Simmel etwas zur inhaltlichen Bestimmung des moralischen Sollens auszusagen. Also doch!, könnte man nach dem Vorhergehenden sagen. Offenbar, so vermutet Simmel, verdankt das logisch unbegründbare Sollen seinen Verpflichtungscharakter gerade dem sozialen Charakter des Sittlichen. 44 Die »Sittlichkeit [besteht] in dem Verhältniss zur Allgemeinheit« und eine soziale Gruppe fordere 38 39 40 41 42 43 44
Ebd., 27. Ebd., 28. Ebd., 30. Ebd., 35. Vgl. ebd., 37 f. Vgl. ebd., 38. Ebd., 30 f.
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vom Einzelnen das als sittliche Pflicht, was »Bedingung ihrer Selbsterhaltung ist«. 45 Insofern sei die Ansicht aufgekommen, dass Altruismus die Basis moralischen Sollens sei. Nun hat Simmel aber behauptet, dass das moralische Sollen unerklärbar sei, also dürfte es auch nicht mit Altruismus erklärt werden können. Die Grundlosigkeit des Sollens legt Simmel nun so aus, dass einfach eine andere Erklärung für eine Handlung noch nicht gefunden worden ist, so wie auch Freiheit nur ein Ausdruck dafür sei, dass eine Kausalität noch nicht entdeckt worden ist. Normalerweise ist alles Handeln durch egoistische Motive verursacht, was aber der altruistischen Auffassung des sittlichen Sollens widersprechen würde (so schon Schopenhauer). Simmel löst das Paradox, in dem er behauptet, dass das sittliche »Sollen nichts anderes bedeutet als […] gefühlte Triebe in uns, die nicht auf den Egoismus zurückführbar, also überhaupt nicht weiter erklärbar sind«. 46 Gerade die Unbegründbarkeit, d. h. jetzt: ihre Nichtzurückführbarkeit auf egoistische Motive, erklärt nach Simmel den absoluten Wert des sittlichen Sollens. 47 Er kommt so zu der Pointe seiner Destruktion des sittlichen Sollens: Es gilt absolut, weil es nichts als ein Leerbegriff ist, Name für »eine leere Stelle«, an der unsere Begründungsversuche abbrechen. 48 Es kann daher keine inhaltliche Bestimmung des Sollens geben, sondern gerade die inhaltliche Unbestimmtheit bewirkt »psychologisch« ihren absoluten Verpflichtungscharakter. Man kann nun kritisch gegen Simmel vermuten, dass eine solche Leer-bestimmung des sittlichen Sollens auch in der moralischen Praxis leerlaufen muss. Simmel betont, dass kein Tun sich der Beurteilung gemäß einem sittlichen Sollen entziehen kann. 49 Mit Kant ist er hier der Meinung, dass es ein moralisch Gleichgültiges, Adiaphoron, nicht geben kann; alles Tun und Lassen kann einer ethischen Beurteilung unterzogen werden. »[D]er Umfang des sittlichen Sollens erstreckt sich so weit, wie der Umfang des von Zwecken geleiteten Thuns überhaupt«. 50 Das aber bedeutet, dass es gar kein Kriterium gibt, um ein sittlich Gesolltes von irgendeinem anderen praktischen Sollen zu unterscheiden. Bei allen zweckgerichteten 45 46 47 48 49 50
Ebd., 33, 32. Ebd., 41. Vgl. ebd., 44. Ebd. Vgl. ebd., 46. Ebd., 61 f.
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Handlungen können wir sagen: »Wenn du X willst, sollst du Y tun!« Und ganz konsequent sagt Simmel daher auch, dass der Ausdruck »sittliches Sollen« ein Pleonasmus ist. 51 Es ist nämlich seiner Meinung nach dasjenige Sollen, was als Resultante, »durch Summirung und Balancirung« 52 aller einzelnen »Sollungen« sich jeweils ergibt. Nur wenn verschiedene Forderungen die »gleiche Dignität des Sollens haben«, kann es zu einem »Konflikt der Pflichten« kommen. 53 Dem Umfang nach erstreckt das sittliche Sollen sich daher auf alle Handlungen, aber es enthält, nach Simmel, kein inhaltliches Kriterium, um irgendeine gesollte Handlung gegenüber einer anderen auszuzeichnen. Aus dem Sollen an sich lässt sich »absolut kein Hinweis auf das, was gesollt wird, gewinnen«. 54 Simmel glaubt damit eine weitere, desaströse Konsequenz aus einem moralischen Allgemeinbegriff nachgewiesen zu haben. In Wirklichkeit hat er damit nur die absurden Konsequenzen seiner eigenen Auffassung vom moralischen Sollen offengelegt. Denn natürlich besteht eine moralische Auffassung gerade darin, dass sie ein praktisches Sollen überhaupt vom moralischen Sollen durch ein Kriterium unterscheiden kann. Und selbst Simmel könnte das in seiner bizarren Konzeption explizieren: Er müsste nur dem Leser mehr über die Gefühle verraten, die seiner Meinung nach dem jeweiligen Sollen zugrunde liegen. Denn in der Tat können wir sagen, und ich folge hier der Moralauffassung von Ernst Tugendhat, dass der besondere Verpflichtungscharakter des moralischen Sollens erst verständlich wird, wenn wir moralische Gefühle wie Achtung, Mitleid, Empathie oder Sympathie, aber auch Scham, Schuld und Empörung mit hinzunehmen. Die erste Gruppe fungiert als moralische Motivationen, die letztere Gruppe als innere Sanktionen bei der Nichterfüllung des moralischen Sollens. Freilich sind die Gefühle allein nicht das Kriterium, sondern sie implizieren das jeweilige Kriterium, insofern sie auf Werturteile bezogen sind, die gemäß einer Konzeption des moralisch Guten getroffen werden. Es ist nun das Interessante an Simmels verqueren Überlegungen, dass er in eben diesem Kapitel auch eine Bestimmung des moralisch Guten gibt, die sehr gut mit der oben skizzierten Auffassung von Moral, wie sie von Tugendhat vertreten wird, 51 52 53 54
Ebd., 55. Ebd. Ebd., 54. Ebd., 63.
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übereinstimmt. »Jemand, der im moralischen Sinne, d. h. schlechthin gut ist [und nicht nur gut in bestimmten Hinsichten, z. B. gut als Schuhmacher etc.], ist für alle, die mit ihm zu tun haben, gut.« 55 Das Sittliche, sagt Simmel, trägt »ganz und gar sozialen Charakter« 56 und er bestimmt ihn überraschend ähnlich wie Tugendhat: »Weil alle unsere Handlungen schliesslich in der Relation der Menschen untereinander münden, darum ist derjenige, der in sozialer, d. h. sittlicher Hinsicht gut ist, auch gut schlechthin«. 57 Bei Tugendhat ist das moralisch Gute bezogen auf die zentrale Fähigkeit, ein guter Kooperationspartner oder ein gutes Mitglied der Gemeinschaft zu sein. Simmel meint auch hier, dass er mit der »soziale[n] Bedeutung der Sittlichkeit« ein Argument gegen die Leerheit höchster moralischer Begriffe vorgebracht hat. 58 Er sieht nicht, dass er damit in Wahrheit ein Kriterium, nämlich eine Konzeption des moralisch Guten, angegeben hat, mit dem ein moralisches Sollen von einem praktischen Sollen überhaupt unterschieden werden kann. Und leider sieht er auch nicht, dass man dazu ebenfalls sich auf die korrespondieren moralischen Gefühle beziehen muss, die freilich anders als bei Simmel nicht einfach nur subjektive Tönungen von Bewusstseinsvorstellungen sind. Übrigens, weil Simmel der Meinung war, dass Gefühle immer subjektive Gefühle sind, wandte er sich schon in der Rezension des Buches von Heymann Steinthal gegen eine »sensualistische Ethik« und sah zurecht auch keine Lösung darin, bei moralischen Gefühlen, die Begründungsfunktion übernehmen sollen, statt von subjektiven von »objektiven Gefühlen« zu sprechen. Das erklärt vielleicht, warum er, ganz gegen die Erwartungen, die der erkenntnistheoretische Ansatz weckt, auf die spezifischen Gefühle, die dem Sollen als einem »Denkmodus« zugrunde liegen sollen, nicht mehr zu sprechen kommt. Aber er hätte, man könnte sagen, zumindest die Bausteine beisammengehabt, um eine ordentliche Theorie von Moral zusammenzustellen, hätte, hätte, hätte, … Er hätte können, wenn er sich überlegt hätte, was wir denn mit dem moralischen Sollen und mit moralischen Wertungen von Handlungen als gut schlechthin, als moralisch gut meinen. Dieser innere Sinn, in dessen Explikation sich erst ein angemes-
Ebd., 58; vgl. E. Tugendhat: Vorlesungen über Ethik. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1993. 56 G. Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft, Bd. 1, 58. 57 Ebd. 58 Ebd., 57. 55
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sener Moralbegriff gewinnen lässt, entgeht aber Simmel, weil er moralische Phänomene nur aus der externen Beobachterperspektive wahrnimmt.
III. Simmels indirekter Utilitarismus: Das ethische Maximum Ich hatte oben schon darauf hingewiesen, dass Simmel, scheinbar ganz gegen seine bloß kritische Absicht, mehrmals in den beiden Bänden eigene Moralprinzipien vorschlägt, die offenbar schon die ersten tastenden Schritte in eine konstruktive Moralwissenschaft darstellen, die die widersprüchlichen, alten ethischen Allgemeinbegriffe durch die induktive Kombination gesicherter Einzeltatsachen ersetzen soll. 59 In seinem Buch wendet sich Simmel gegen die apodiktische Behauptung des ethischen Monismus, dass es ein einheitliches Moralprinzip a priori gäbe, aber er argumentiert nicht an und für sich gegen die Möglichkeit eines solchen vereinheitlichenden Prinzips. Ein solches Prinzip, »auf das die Gesammtheit menschlicher Bethätigungen zurückzuführen ist«, müsste s. E. »auf empirischem Wege« gefunden werden, und es würde nur gestatten, Handlungen und seelische Vorgänge so zu betrachten, »als ob« sie von jenem Prinzip bestimmt würden. 60 »Ob es wirklich ein solches Prinzip giebt, muss die Moralwissenschaft selbst in ihrer Entwicklung […] ergeben.« 61 Aber ob es ein solches Prinzip gibt, darüber entscheidet nicht die Tatsache, dass wirklich die Menschen in ihren Handlungen sich danach richten, sondern die Möglichkeit des Beobachters, sittliches Verhalten wissenschaftlich so zu beschreiben und zu erklären, als ob es durch ein solches Prinzip geleitet würde. Von dieser methodischen Position aus versucht Simmel im Buch nun mehrmals, ein solches Moralprinzip zu formulieren. Dass es sich um einen Versuch und um einen ersten hypothetischen Vorschlag handelt, der quasi am empirischen Material noch durchgetestet werden muss, machen die vorsichtigen Formulierungen deutlich: »Man könnte als ein solches Moralprinzip […] aussprechen: […]«. 62 Den 59 60 61 62
Vgl. G. Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft, Bd. 2, 388 f. Ebd., 344. Ebd., 344 f. G. Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft, Bd. 1, 141.
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Formulierungsversuchen voraus geht jeweils eine Destruktion ethischer Allgemeinbegriffe wie: Egoismus/Altruismus, Pflichten gegen sich selbst, eudaimonia und sittliche Freiheit. Ihnen korrespondieren vier Formulierungen von Simmels Moralprinzip des »ethischen Maximums«, wie ich sie zusammenfassend nennen, aber zunächst einmal zitieren will: Da ist zunächst das »Moralprinzip des Willensmaximums«: 63 »Du sollst dasjenige wollen, dessen Erfüllung zugleich die Erfüllung eines maximalen Theiles alles überhaupt vorhandenen Willens ist«; 64 dann das »Moralprinzip des Lebensmaximums«, 65 das die »Erhaltung und Steigerung der Lebenssumme rein als solcher« 66 fordert; dann drittens: das »Moralprinzip des Thätigkeitsmaximums«: 67 »Thue dasjenige, wodurch Du unmittelbar und mittelbar ein Maximum von Thätigkeit herbeiführst«. 68 Und schließlich viertens: das »Moralprinzip des Freiheitsmaximums«: »[H]andle so, dass die von dir geübte Freiheit zusammen mit der, die dein Handeln den Anderen lässt oder bereitet, ein Maximum ergiebt«. 69 Es fällt zunächst auf, dass sich alle Formulierungen an Kants Formulierungen des kategorischen Imperativs anlehnen, dass sie aber auch ein Moment, das wesentliche Moment des k. I. unterschlagen: die Bestimmung der Universalität und Egalität des sittlich Gebotenen, die Kant im Allgemeinheits- oder Gesetzescharakter des Gesollten platziert. Das wird besonders deutlich bei der Formulierung des letzten Prinzips, da Simmel es als eine »positive Wendung« von Kants Prinzip des Rechts ausgibt. 70 Er formuliert sogar vorher Kants Rechtsprinzip, aber eben so, dass er die Bestimmung »nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit« weglässt. Kants Rechtsprinzip sei: »[D]ie Freiheit eines jeden solle soweit eingeschränkt werden, dass sie mit der Freiheit jedes Anderen zusammen bestehen kann«. 71 Bei Kant hingegen heißt es: Recht ist der »Inbegriff der Bedingungen, unter Ebd., 142. Ebd., 141. 65 G. Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft, Bd. 2, 328; Simmel selbst verweist an dieser Stelle auf seine Ausführungen in G. Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft, Bd. 1, 181 ff. 66 G. Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft, Bd. 1, 182. 67 Ebd., 283 (im Inhaltsverzeichnis des Kapitels aufgeführt). 68 Ebd., 355. 69 G. Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft, Bd. 2, 246. 70 Ebd. 71 Ebd. 63 64
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denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann«. 72 Simmel setzt an die Stelle von Universalität und Egalität der Allgemeinheitsforderung ein Maximierungsgebot und nimmt damit ein wesentliches Merkmal utilitaristischer Moralvorstellungen auf. Auch diese kennen, strenggenommen, kein allgemeines Gleichbehandlungsgebot, sondern stellen, wie Simmel, Allgemeinheit durch Summierung von X (Glück/Unglück oder Lust/Unlust) her. Damit ist schon das zweite Kennzeichen von Simmels Gebot ethischer Maximierung genannt: Es fordert zur Summierung ethisch wertvoller Güter auf, d. h. aber auch, es muss in der Lage sein, positive und negative Werte und kleine und große Werte miteinander zu verrechnen. Hier gibt Simmel selber zu, dass das nicht wirklich gelingen kann. Dass eine Verrechnung von Glück und Unglück miteinander unmöglich sei, war übrigens sein stärkstes Argument gegen den Pessimismus. Simmel glaubt aber, dass man bei einer solchen ethischen Rechnerei, für den Praxisgebrauch, so tun könne, als ob es möglich wäre, und zudem sei das eben noch eine offene wissenschaftliche Frage. Vor dem Hintergrund seines atomistischen Weltbildes, in dem alle Qualitäten letztlich nur komplizierte quantitative Relationen zwischen Atomen sind, muss ihm das auch möglich erscheinen! Was aber soll maximiert werden? Wollen, Leben, Tätigkeit, Freiheit, wobei Freiheit hier als positive Freiheit, also als Verwirklichung von Möglichkeiten verstanden wird. Alle vier Bestimmungen sind lebensphilosophische Zentralkategorien, die an sich schon für etwas Wertvolles angesehen werden, weil sie, so würde Nietzsche sagen, zu einem starken Leben gehören. Simmel argumentiert an diesen Stellen nicht lebensphilosophisch, aber der vorausgesetzte Wertcharakter von Wollen, Leben, Tätigsein und Freisein impliziert lebensphilosophische Annahmen. Die werden nicht deutlich, weil Simmel nicht darüber reflektiert, warum denn mit den jeweiligen Begriffen schon etwas sittlich Wertvolles gegeben sei, und weil sie mit den mehr technischen Problemen der Verrechnung der Einheiten verdeckt werden, die sich sowohl auf das Leben einer Person wie auf mehrere Personen verteilen. 72 I. Kant: Die Metaphysik der Sitten [1797], in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (Akademie-Ausgabe), Bd. VI. Reimer: Berlin 1914, 203–493, hier 230, Hvh. G. L.
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Schließlich ist zu sagen, dass hier wiederum die dominierende Beobachterperspektive und die unterschlagene interne Teilnehmerperspektive den falschen objektivistischen Schein hervorrufen, als ob die Phänomene der Moral sich einer Tatsachenwissenschaft erschließen. Man kann daher zusammenfassend sagen, dass sowohl das kritische Geschäft der Anatomie wie die Versuche den Körper der Moral neu zu rekonstruieren, Simmel nicht gelungen sind. Die »zerpflückende Betrachtungsweise« hat in der Tat den Körper der Moral zerpflückt, aber so, dass das, was spezifisch mit Moral gemeint ist, ebenfalls zerdröselt ist; die Konstruktionspläne eines neuen moralischen Verhaltens lassen eine Moral ahnen, die ebenfalls nichts mit dem gemein hat, was wir darunter verstehen. Wenn das Buch Meriten hat, dann müssen sie woanders liegen.
IV. Verdeckte Gegenwartsanalyse: »Einheit und Widerstreit der Zwecke« Im 7. und letzten Kapitel »Einheit und Widerstreit der Zwecke« versucht Simmel in einer Kritik am ethischen Monismus, genauer an der teleologischen Moralauffassung, eine Zeitdiagnose seiner Gegenwart zu entwerfen. Er nimmt damit Elemente der soziologischen Analyse der Gegenwart aus »Über soziale Differenzierung« auf und zugleich Eigenarten der »Philosophie des Geldes« vorweg. 73 Das Kapitel beginnt zunächst mit einem scheinbaren Einwand gegen die kritische Manier des Buches: Bisher ist jeder Allgemeinbegriff oder jedes »höchste[] allumfassende[] Moralprinzip« als unvereinbar mit der Mannigfaltigkeit tatsächlicher Moralvorstellungen ausgewiesen worden, dennoch aber scheint es so etwas wie einen allgemeinen und formalen Begriff des Sittlichen zu geben. Die unterschiedlichen Moralsysteme in zwei völlig verschiedenen Kulturkreisen werden von uns doch mit dem gleichen »Begriff des Sittlichen« oder als Moral bezeichnet. 74 Es muss also ein begriffliches Kriterium geben, das uns erlaubt, zwei inhaltlich vollkommen verschiedene VerIn dieser ist »Indifferenz« der Leitbegriff der Zeitdiagnose; vgl. dazu G. Lohmann: »Die Ambivalenz der Indifferenz in der modernen Gesellschaft: Marx und Simmel«, in: Zeitschrift für Ethik und Moralphilosophie 2 (2019) 1, 75–93. 74 G. Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft, Bd. 2, 284 f. 73
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haltensweisen mit dem gleichen Begriff zu bezeichnen. Wenn überhaupt, so ist Simmels Meinung, so ist dieser allgemeine Begriff des Sittlichen ein funktioneller, und kein teleologischer. Der teleologische Monismus geht davon aus, dass das, was unterschiedliche Verhaltensweisen in unterschiedlichen Kulturen zu etwas vergleichbar Sittlichem macht, »eine Gleichheit des Zweckes, des letzten Gesichtspunktes« ist. 75 Die funktionale Auffassung geht davon aus, dass »das Gemeinsame aller ethischen Urtheile das Sollen, jene psychologische Funktion [ist], welche sich an jedem beliebigen Inhalt realisiren kann«. 76 Damit sind die beiden Eckbegriffe genannt, zwischen die Simmel seine Zeitdiagnose in der »Einleitung in die Moralwissenschaft« spannt: »Endzweck« und »Funktion«. Der teleologische Monismus interpretiert den Allgemeinbegriff des Sittlichen mit einem hypostasierten Begriff des Endzweckes und, einer »schwer vermeidliche[n] Substanzialisirungsgewohnheit« folgend, als substantiellen Endzweck; die funktionelle Auffassung sieht im Allgemein-Sittlichen etwas Formales, das zugleich subjektiv wie objektiv sein muss. 77 Hier fügt Simmel eine interessante Spekulation über das Verhältnis des Ethischen zum Ästhetischen ein, die er hier leider abbricht, aber später wieder aufnimmt. 78 Da Simmel davon ausgeht, dass die Form/Inhalt-Unterscheidung selber nur eine graduelle ist, 79 ist der funktionelle allgemeine Moralbegriff als formaler zugleich inhaltlich getönt, insofern er sich von anderen formalen Begriffen unterscheiden muss. Diese inhaltliche Tönung könnte, so spekuliert Simmel, in einem ästhetischen Gefühl des Gefallens liegen. Er bemüht dafür die Herbart’sche Psychologie der Vorstellungen, nach der jede willensartige Vorstellung von einem unmittelbaren Gefühl des Gefallens oder Missfallens begleitet wird. 80 Was immer daher der Inhalt des Sollens wäre, da nach Simmel das Sollen »ein Modus des Wollens« ist, liege ihm ein ästhetisches Gefühl von Gefallen oder Missfallen zugrunde. 81 Ein sittliches Sollen erfordert freilich nicht einfach ein subjektives ästhetisches Gefühl des Gefallens, sondern Ebd., 286. Ebd., 287. 77 Ebd., 286. 78 Vgl. ebd., 287 f. Es war das von Simmel erwünschte Thema für die Antrittsvorlesung 1885; die Thematik selbst zieht sich bis zum »individuellen Gesetz« durch. 79 Vgl. ebd., 285 f. 80 Vgl. ebd., 287. 81 Ebd., 286. 75 76
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»Moralwissenschaft« gegen Moralphilosophie
ein objektiv allgemeines Gefühl des Gefallens. Mit Kant nimmt Simmel an, dass das ästhetische Urteil des Geschmacks eine subjektive Allgemeinheit ausdrückt, und etwas unklar formuliert er, dass hier »[d]as objektiv ästhetische Interesse an dem formalen Verhalten des Willens […] ein blosses Urtheil« ist, was wohl Kants Auffassung vom ästhetischen Urteil als »interesseloses Wohlgefallen« meint. 82 Es wird nämlich unparteiisch gefällt und kann deshalb allen anderen ebenfalls zugemutet werden, wenn auch nicht aufgezwungen werden. Es ist subjektiv und zugleich objektiv im Sinne dieser zumutbaren Allgemeinheit. Hierin sieht Simmel »das tiefstgelegene Moment, in dem die ästhetisirende Ethik die formale Einheit des Ethischen mit seiner materialen Verschiedenheit zusammenbringt«. 83 Wie gesagt, der Gedankengang bricht hier ab mit der rhetorischen Floskel: »Ob dies wirklich durchführbar und mehr als ein verführerischer Schein ist, untersuche ich hier nicht«. 84 Später wird Simmel in der Tat versuchen, das allgemein Ethische in einer bestimmten Weise an ästhetische Werturteile zurückzubinden: Das sittliche Sollen des »individuellen Gesetzes« »basiert« auf einem ästhetischen Urteil über die gelungene Ganzheit eines Kunstwerkes. Kehren wir nach diesem Exkurs wieder zur Fragestellung zurück. Der ethische Monismus, in seiner teleologischen Spielart, geht von der Voraussetzung aus, dass »[a]lle Einheit der Moral […] am Begriffe des Endzwecks« hängt. 85 Sie ordnet so die Vielfalt der menschlichen Zweckhandlungen und Strebungen zu einer »Pyramide der Zwecke, die sich zum Endzweck aufgipfelt«. 86 Simmel weist auf die praktische Wirkung eines solchen geordneten Baus mit Spitze hin: durch ihn scheinen wir von den subjektiven Wirrnissen des Lebens erlöst. 87 Und alles, was als Mittel zum Endzweck erscheint, erhält von diesem Würde und Sinn, der Endzweck selbst erhält eine absolute Würdigkeit oder gilt als absoluter Wert. Simmel ist der Meinung, dass ein ethischer Monismus sogar eine »objektive Teleologie« 88 der Welt voraussetzen muss und sich nicht damit begnügen kann, so zu
82 83 84 85 86 87 88
Ebd., 288. Ebd. Ebd. Ebd., 310. Ebd., 311. Vgl. ebd., 320. Ebd., 325.
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tun, als ob es einen Endzweck gäbe 89 oder als ob es nur ein ideales Ziel sei, das man aber niemals erreichen könne. Simmel Kritik geht zunächst dahin, zu zeigen, dass man die Einheitlichkeit von Zwecken von der Bestimmung des Endzweckes unterscheiden kann; 90 dann zeigt er, dass die »Zweckreihen des Lebens an mehreren auseinanderliegenden Punkten münden«, 91 d. h. dass es nicht einen, sondern mehrere gleichwertige Endzwecke gibt. Damit wird der Absolutheitsanspruch jedes Endzweckes erschüttert, »das ganze Leben« bekommt »etwas Irrationales«, wie »ein zwar in sich […] wohlgefügtes Gebäude, das aber als Ganzes auf Sand gebaut ist«. 92 Diese Destruktion der sinnstiftenden Funktion des Endzwecks macht auf eine Ersatzmöglichkeit aufmerksam, die Simmel dann weiterverfolgt: Es »liegt der Gedanke nahe, dass vielleicht die bloße Form der Zwecksetzung einen Werth erhalten mag«. 93 An die Stelle substanzieller, endzweckhafter Sinngebung tritt eine subjektivistische Wertschöpfung: Wir nennen einen Wert das, »was wir wollen«. 94 Simmel macht noch einmal einen Versuch, auf diesem subjektivistischen Boden den Gedanken eines ethischen Maximums zu formulieren, nach dem ein ästhetischer Wert »vielleicht […] in der Fülle der Zweckvorstellungen« bestehe, aber er sieht wohl selbst, dass sich diese Überlegung nicht halten lässt. 95 Sie gerät ebenso wie der teleologische Monismus in den Strudel der »allgemeinen Tendenz des modernen Denkens«, die nach Simmel bestimmt ist durch die »Auflösung der Substanzen in die Funktionen, des Starren und Dauerenden in den Fluss rastloser Entwicklung«. 96 Hier wird nun die zeitdiagnostische Ausrichtung dieser Überlegungen schlagend deutlich, sieht Simmel doch diese Tendenz des Denkens in »Wechselwirkung […] mit den praktischen Bewegungen einer Zeit, die sich gegen alle Rudimente überlebter, des Anspruchs auf Ewigkeit sich anmaassender Zustände richtet«. 97 89 90 91 92 93 94 95 96 97
Vgl. ebd., 322 f. Vgl. ebd., 314 f. Ebd., 320. Ebd., 321. Ebd., 326. Ebd. Ebd., 330. Ebd. Ebd.
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»Moralwissenschaft« gegen Moralphilosophie
Auf die faktischen Zustände seiner Zeit greift Simmel daher zurück, um der monistischen Moralauffassung den Todesstoß zu versetzen. Sie muss ja unterstellen, dass sie alles regeln kann und dass es letztlich keine unlösbaren, ethischen Konflikte gibt. Nun weist Simmel auf die Tatsächlichkeit von ethischen Konflikten im modernen Leben hin, die als Konflikte von Pflichten und als solche des individuellen Wollens nicht geleugnet werden können und die durch die modere Arbeitsteilung, durch soziale Differenzierung und die quantitative Vergrößerung der sozialen Gruppen 98 rasant zunehmen. Dabei kommt es nicht nur zu konträrem Widerstreit, sondern auch zu echten kontradiktorischen Widersprüchen, 99 die tragisch sind, d. h. deren Ursachen selbstbewirkt und unabänderlich sind. 100 Die moderne Tendenz, externe Pflichtkonflikte in das Individuum hinein zu verlegen, verschärft noch die Konflikthaftigkeit und die Gefahr tragischer Zuspitzungen. In dieser Situation ist Erlösung oder Versöhnung nicht möglich, aber eine Lösungsstrategie, die Simmels Antwort auf seine Zeitdiagnose notwendiger tragischer Konflikte ist: Konflikthaftigkeit und Individualisierung des modernen Lebens steigern sich wechselseitig: Der Konflikt wird »zur Schule, in der sich das Ich bildet«. 101 Je tiefer wir empfinden, je moralischer und individueller wir sind, desto tiefer empfinden wir die Konflikthaftigkeit des modernen Lebens, desto konflikthafter muss das Leben werden und deshalb haben wir die Möglichkeit, Kompromisse im alltäglichen Leben zu schließen; wir suchen nach Wegen, uns an die Widersprüchlichkeit des Lebens anzupassen. 102
V.
Das »individuelle Gesetz«: Ganzheitliche Existenz
In diese Richtung sucht Simmel zeitlebens Antworten auf seine negativistische Zeitdiagnose der Moderne: in der Philosophie des Geldes durch Stilisierung des Lebens, in der Soziologie durch Formbildung aus sozialen Wechselwirkungen, in der Kulturtheorie durch die be-
Vgl. ebd., 378. Vgl. ebd., 351 f. 100 Vgl. ebd., 356 ff. 101 Ebd., 381. 102 Vgl. ebd., 381 f. 98 99
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sondere Bedeutung der weiblichen Kultur; und später versucht die Lebensphilosophie durch die Idee des »individuellen Gesetzes« eine ethische Antwort auf diese Diagnose zu geben. 103 Es geht Simmel dabei um ein angeblich sittlich verpflichtendes und zugleich irgendwie individuelles Sollen, das dem einzelnen aufgegeben ist, sofern er eine ganzheitliche, individuelle Existenz führen will. 104 Das nimmt in einem vagen Sinne die Rede von Pflichten gegen sich selbst auf, insbesondere aber steht es in einer Tradition, die seit Pindars »genoi hoios essi« über Schleiermacher und Goethe bis zu Nietzsche reicht, und deren Grundgedanke Nietzsches »Werde, der du bist!« formuliert. Simmel knüpft aber nicht direkt an diese Tradition an, sondern entwickelt sein Konzept als existenzielles Kontrastprogramm zu Kants kategorischem Imperativ. 105 Während die rationale Moral Kants eine Zerlegung des Lebens in einzelne Bestandteile voraussetzt, 106 versucht Simmel die Modi aufzuklären, in denen »die irgendwie einheitliche Totalität des Lebens verläuft«. 107 Das »individuelle Gesetz« fordert uns auf, gewissermaßen aus einer radikalisierten Teilnehmerperspektive, aus einem Bezug auf die Ganzheit unserer Existenz heraus zu leben, genauer: wir sollen alle unsere einzelnen Handlungen so tun und vor uns selbst so »verantworten«, dass wir für die Art des Zusammenhangs darin eine Übereinstimmung mit unserem »innersten Gefühl« anstreben. Da aber jede (rechtfertigende) Bezugnahme auf andere Menschen in dieser nur scheinbaren »Verantwortung« fehlt, kann von einer ethischen Konzeption in Wahrheit nicht die Rede sein. So opponiert das »individuelle Gesetz« wie seine Protagonisten Rembrandt, Goethe und Stefan George im Modus der Einzigartigkeit gegen die funktionale Differenzierung einzelner Lebensbereiche in der Moderne, die Simmel als unbegrenztes Wachstum gegeneinander indifferenter Lebensbereiche diagnosti103 Ich habe Simmels »individuelles Gesetz« ausführlich diskutiert und beschränke mich hier nur auf einen Hinweis; vgl. ausführlich G. Lohmann: »Fragmentierung, Oberflächlichkeit und Ganzheit individueller Existenz. Negativismus bei Georg Simmel«, in: E. Angehrn, H. Fink-Eitel und C. Iber (Hg.): Dialektischer Negativismus. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1992, 342–367. 104 Ebd. 105 Vgl. M.-S. Lotter: »Das individuelle Gesetz. Zu Simmels Kritik an der Lebensfremdheit der kantischen Moralphilosophie«, in: Kant-Studien 91 (2000), 178–203. 106 Vgl. G. Simmel: »Das individuelle Gesetz. Ein Versuch über das Prinzip der Ethik« [1913], in: Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse, hg. von M. Landmann [1968]. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1987 (Neuausgabe), 174–230, hier 193 f. 107 Ebd., 197.
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»Moralwissenschaft« gegen Moralphilosophie
ziert hat. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Simmel, der als Moralwissenschaftler die Moral rein aus einer Beobachterperspektive verfehlt hat, nun mit dem »individuellen Gesetz« rein aus einer Teilnehmerperspektive wiederum das spezifisch Moralische verfehlt. Simmel hat sicherlich zu Recht gefordert, dass moralphilosophische Überlegungen sich mit einer Soziologie, Psychologie oder Geschichte moralischer Praxen konfrontieren müssen und in ihren Argumentationen mit aufnehmen müssen. Dafür aber müssen sie die, nur aus den Teilnehmer- und Erlebnisperspektiven moralischer Subjekte und moralischer Objekte erschließbaren, moralischen Urteile an den in wissenschaftlichen Beobachtungen konstatierten Tatsachen überprüfen, und nicht umgekehrt das Moralische auf bloße Funktionen objektivistischer Annahmen 108 reduzieren. 109 Für die Belange einer Ethik ist Simmels Moralwissenschaft daher nicht von großer Bedeutung, ihr bleibender Wert liegt in den Ansätzen zu einer Zeitdiagnose, die das spätere Werk Simmels so anregend ausgeführt hat und in deren Kontext auch noch seine lebensphilosophische Idee eines »individuellen Gesetzes« seine Bedeutung gewinnt.
Literatur Habermas, Jürgen: Wahrheit und Rechtfertigung. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1999. Habermas, Jürgen: Auch eine Geschichte der Philosophie, 2 Bde. Suhrkamp: Berlin 2019. Kant, Immanuel: Die Metaphysik der Sitten [1797], in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (Akademie-Ausgabe), Bd. VI. Reimer: Berlin 1914, 203–493. Klemme, Heiner F.: David Hume zur Einführung. Junius: Hamburg 2007. Köhnke, Klaus Christian: Der junge Simmel in Theoriebeziehungen und sozialen Bewegungen. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1996. Lohmann, Georg: »Fragmentierung, Oberflächlichkeit und Ganzheit individueller Existenz. Negativismus bei Georg Simmel«, in: Emil Angehrn, Hinrich Fink-Eitel und Christian Iber (Hg.): Dialektischer Negativismus. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1992, 342–367. Lohmann, Georg: »Moral und ›Moralwissenschaft‹«, in: Hans-Peter Müller und Tilmann Reitz (Hg.): Simmel-Handbuch. Suhrkamp: Berlin 2018, 382–389.
Z. B. Niklas Luhmanns »moralfreie Theorie der Moral«; vgl. N. Luhmann: Die Moral der Gesellschaft, hg. von D. Horster. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 2008. 109 Vgl. J. Habermas: Wahrheit und Rechtfertigung. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1999. 108
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Georg Lohmann Lohmann, Georg: »Die Ambivalenz der Indifferenz in der modernen Gesellschaft: Marx und Simmel«, in: Zeitschrift für Ethik und Moralphilosophie 2 (2019) 1, 75–93. Lotter, Maria-Sibylla: »Das individuelle Gesetz. Zu Simmels Kritik an der Lebensfremdheit der kantischen Moralphilosophie«, in: Kant-Studien 91 (2000), 178–203. Luhmann, Niklas: Die Moral der Gesellschaft, hg. von Detlef Horster. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 2008. Simmel, Georg: Gesamtausgabe, hg. von Otthein Rammstedt. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1989–2015 (= GSG). Simmel, Georg: Einleitung in die Moralwissenschaft. Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe, Bd. 1 [1892], in: GSG 3, 7–443. Simmel, Georg: Einleitung in die Moralwissenschaft. Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe, Bd. 2 [1893], in: GSG 4, 7–389. Simmel, Georg: »Das individuelle Gesetz. Ein Versuch über das Prinzip der Ethik« [1913], in: Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse, hg. von Michael Landmann [1968]. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1987 (Neuausgabe), 174–230. Simmel, Georg: »Anfang einer unvollendeten Selbstdarstellung«, in: Gassen, Kurt und Landmann, Michael (Hg.): Buch des Dankes an Georg Simmel. Briefe, Erinnerungen, Bibliographie. Zu seinem 100. Geburtstag am 1. März 1958. Duncker & Humblot: Berlin 1958, 9 f. Tugendhat, Ernst: Vorlesungen über Ethik. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1993.
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»Fate« in the Thought of Simmel and Maeterlinck Austin Harrington
In some significant, if brief, passages of his writing, Simmel engages with the thought of the Belgian poet and playwright Maurice Maeterlinck (1862–1949), best known today for Pelléas and Mélisande, the Symbolist play set to music as an opera by Claude Debussy, and as symphonic music by Arnold Schönberg, Jean Sibelius and others. In addition to writing poetry and drama, Maeterlinck penned a number of works of essayistic prose on moral and metaphysical themes, including the 1898 text La Sagesse et la destinée (Wisdom and Destiny), which Simmel reviewed a year later in its German translation, published by Eugen Diederichs. 1 After the turn of the century, Simmel returns to Maeterlinck in a few paragraphs of his book on Schopenhauer and Nietzsche, as well as in at least three of his series of lectures on European nineteenth-century philosophy in Berlin, including, in 1907–08, the cycle recorded as »Nineteenth-Century Philosophy from Fichte to Nietzsche and Maeterlinck«. 2 Reading Maeterlinck as a counterpart in literature to the social-realist sculptures of his Belgian compatriot Constantin Meunier (the sculptor Simmel juxtaposes initially to Rodin in his long essay on the latter from 1911), as well as a kind of social-democratic alternative to Nietzsche G. Simmel [review]: Maeterlinck, M.: Weisheit und Schicksal, 1899 [1900], in: G. Simmel: Gesamtausgabe, ed. by O. Rammstedt. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1989– 2015 (in the following GSG), Vol. 1, 419–422; M. Maeterlinck: La Sagesse et la destinée [1898]. Le Cri: Brussels 1992; M. Maeterlinck: Weisheit und Schicksal, tr. by F. von Oppeln-Bronikowski. Eugen Diederichs: Leipzig 1899, notably also the publisher of Bergson, Hermann Hesse and the influential magazine Die Tat, after 1912. 2 G. Simmel: Schopenhauer und Nietzsche. Ein Vortragszyklus [1907], in: GSG 10, 167–408, here 370–372; G. Simmel: »Philosophie des 19. Jahrhunderts (von Fichte bis Nietzsche)« (1903/04, transcribed by R. Pannwitz), in: GSG 21, 354–406; G. Simmel: »Ethik und Prinzipien der philosophischen Weltanschauung« (1905/06, transcribed by H. Nathanson), in: GSG 21, 493–522; G. Simmel: »Philosophie des 19. Jahrhunderts, von Fichte bis Nietzsche und Maeterlinck« (1907/08, transcribed by H. Schmalenbach), in: GSG 21, 692–742. 1
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Austin Harrington
– even an »authentic rival« to Nietzsche – Simmel shows considerable sympathy for the Belgian writer, and indeed some notable commonalities can be discerned between the two men’s styles. 3 Drawn to Maeterlinck’s combination of egalitarian social feeling with Symbolist and in part mystical idioms, Simmel appears to have been inspired by Maeterlinck in at least some aspects of his later statements on questions of the meaning and metaphysics of life and death and the crisis, conflict and tragedy of modern culture. Not so well appreciated in scholarship to date, his engagement with Maeterlinck carries an importance for commentary today and relates largely to a central preoccupation of the two authors with themes of the fate of life (Schicksal, destin, destinée) in an age of deep cultural and societal change. This short contribution highlights first briefly some threads in Simmel’s discourse of fate before turning to an array of affinities in the two authors’ idioms of reflection.
I.
Fate in Simmel
Inasmuch as fate in Simmel’s thinking is the global concept that encompasses within it the more particular categories of tragedy and tragedy of culture, his considerations on the theme bear directly on his depiction of the plight of modern advanced industrial societies. 4 Indeed it can be said that fate in Simmel’s writing frequently appears simply as one articulation of the general salience of contingency in global structural directions of development in modern social-historical change. With Max Weber, as is well known, Simmel emphasises an essential character of relativity, plurality and indeterminacy in pathways of modern mind, value and belief – in distinction to Marx and to the efforts of Lukács, Bloch and other former followers of his teaching to tie the figure of objectification in culture to one single, universal theorem of class struggle in capitalist societies. In The Philosophy of Money (Philosophie des Geldes), Simmel paints a panoramic picture of myriad situations of misfortune, irony and fate of life
Cf. G. Simmel: Schopenhauer und Nietzsche, 370; G. Simmel: »Rodin (mit einer Vorbemerkung über Meunier)« [1909], in: id.: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais [1911], in: GSG 14, 330–348, here 330–334. 4 Cf. G. Simmel: »Der Begriff und die Tragödie der Kultur« [1911], in: id.: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais [1911], in: GSG 14, 385–416. 3
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»Fate« in the Thought of Simmel and Maeterlinck
that afflict different social groups and classes of actors in different ways. 5 Enabled by an increasingly unified and unifying world of money that draws all things and peoples into relations of exchange and interaction with one another, socialism and the modern social movement promulgate a struggle for universal equality of chances of life – yet inequality, poverty and privation in Simmel’s depiction remain, at the same time, just as much matters of relative differences in means of happiness as absolute ones. 6 Modern social-democratic norms and provisions of social justice and security seek to abolish or to reduce outward luck, lot or fortune in the ascription of wealth, power and means of self-fulfilment. Yet inner, personally meaningful fate or destiny of life hinges just as much on a capacity of individuals to form inwardly directed states of contentment of self, free from passions of envy and ressentiment of others. Any modern societal quest for equality in chances of life under the social-democratic state is not a vain and futile undertaking in a world of endless desiring, willing and striving in this-worldly illusion, in the sense of nineteenth-century Schopenhauerian pessimistic metaphysics. Yet neither is this quest a work of ultimate teleological necessity in history, such as in the sense of this tendency in Hegelian-Marxian and socialist philosophies of history. In an age of modern culture, each and every individual takes on a last burden of responsibility for inner meaningfulness of life, each in his or her own unique way. 7 In several late writings, including in The View of Life (Lebensanschauung) as well as in his essay on Michelangelo of 1910 and still more explicitly in his monograph of 1916 on Rembrandt, Simmel thematises meanings of individual fate of life with a remarkable frequency. Notably in Chapter 2 of the Rembrandt study, given over to a comparison of different ethical styles of representation of the individual on the stage of society and the cosmos in early modern European Cf. G. Simmel: Philosophie des Geldes [1900], in: GSG 6, 7–716, here Ch. 3.II; 4.III; 6.II. 6 Cf. G. Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung [1908], in: GSG 11, 7–875, here 512–555 (Der Arme); G. Simmel: »Rosen. Eine soziale Hypothese« [1897], in: GSG 17, 357–361; cf. R. K. Merton, Social Theory and Social Structure. The Free Press: New York NY 1968, 281–290 (»relative deprivation«). 7 Cf. G. Simmel: Schopenhauer und Nietzsche, 241–268; G. Simmel: »Zu einer Theorie des Pessimismus« [1900], in: GSG 5, 543–551; G. Simmel: »Socialismus und Pessimismus« [1900], in: GSG 5, 552–559. 5
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painting, the word Schicksal appears in his pages on no fewer than 60 occasions. 8 In particular, in the section of Chapter 2 on the topos of »Death in Art«, based on a lecture of January 1915 attended, among others, by Rilke, Simmel proposes that just as death is to be seen as no mechanical end-point of life but rather as life’s ever-present horizon of self-articulation in time (the vision Simmel also develops at more length in Chapter 3 of The View of Life), so fate, for any authentic modern understanding, is no longer to be seen as a sheer extraneous force of supernatural control over life. 9 Rather, fate is henceforth to be seen as describing one aspect of life’s immanent directive structure of unfolding in individual lives. Death and fate comprise simultaneously distinct and interrelated aspects of life, and both reveal a history of cognitive shift in consciousness from terms of hypostasis in medieval orders of mind to more and more modern signifiers of life’s ultimate existential boundary in inner temporal experience of the self. Misleading for modern times, Simmel underlines, is any way of thinking of death in the manner of the Greek mythical figures of the Parcae or Moirai; that is, in the manner of the three Greek fates (Clotho, Lachesis and Atropos), who spin, measure and cut the threads of life at their pleasure. Rather, for modern understanding, death and fate enter alike into finite courses of life as facets and contours of an individual’s vital earthly being in time. As Simmel writes when referring to the difference between Rembrandt’s Germanic portraits and Italianate portraits in the classical Romanic style, death and fate in modern comprehension become increasingly questions of life’s aging and maturing in uniqueness of the self over time. As death is visibly taken over in the aging, maturing and decaying of the subject in a Rembrandt portrait, so fate becomes increasingly, in post-medieval, post-Renaissance and post-classical culture, a matter of self-orientation of the person in earthly temporality. Fate becomes a question for the self in distinction from the general immutable »lot« or »sort« of human beings as set down by the gods or God: it is now a problem for the individual agent, not as one instance of the lot of the rich or poor but as my fate, as my challenge of »individual law« under the gaze of
Cf. G. Simmel: Rembrandt. Ein kunstphilosophischer Versuch [1916], in: GSG 15, 305–515, here 388–450. 9 Cf. G. Simmel: Rembrandt, 400–410; G. Simmel: »Vom Tode in der Kunst. Nach einem Vortrag« [1915], in: GSG 13, 123–132; G. Simmel an R. M. Rilke, Postkarte vom 7. Januar 1915, in: GSG 23, 477–480. 8
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»Fate« in the Thought of Simmel and Maeterlinck
the cosmos. 10 In these terms, as Simmel writes of Rembrandt’s figures in the section titled »Human Fate and the Heraclitean Cosmos« – here consciously modifying a passage from Spinoza’s Ethics – each character in Rembrandt lives ex solis suae naturae legibus, or »solely from its own laws of nature«. 11 Important in these connections is Simmel’s brief »Note on the Concept of Fate« in Chapter 3 of The View of Life, imported from the essay he published earlier in 1913 under the title »Das Problem des Schicksals«. 12 Here we find Simmel writing of fate as the »sequence of objective occurrences, proceeding purely causally« which is »woven into the subjective experience of a life determined in other respects from within, and by favouring or violating the direction and destiny of this life, […] acquires a meaning from it, a relevance to the subject – as though the more or less external occurrence, operating according to its own causality, were nonetheless somehow aimed at connection to our life«. 13 As with the concept of tragic flaw, Simmel suggests, so also more trivially with the habitual foible or tick of a person, such as with the person who is habitually late to appointments: individuals can be victims of particular circumstances and nevertheless, under these circumstances, responsible for their conduct as a whole. As Simmel goes on to propose: in the sense in which Kant speaks of experience and knowledge of the world as enabled by a priori concepts and categories of the intellect, so fate must be seen as something analogous in practical conduct of the self. Just as the world is not impressed in the subject like potatoes in a sack, so the world experienced practically by the subject is at the same time a work of the subject’s characteristic habits of acting and doing in the world, and fate in this sense is to be seen as a category of this character of an agent’s conduct in the world or Tat. 14 Therefore fate is not to be viewed in any reified way as some predeterminate force of intervention in life. Rather, after the »axial turn« to the subject in modern consciousness (thematised by Simmel in Chapter 1 of The View of Life), fate becomes the problem and concept of a subject’s »innermost intention of life« that calls into being the Cf. G. Simmel: Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel [1918], in: GSG 16, 209–425, here 346–425 (Ch. 4 »Das individuelle Gesetz«). 11 G. Simmel: Rembrandt, 444. 12 G. Simmel: »Das Problem des Schicksals« [1913], in: GSG 12, 483–491. 13 G. Simmel: The View of Life, transl. by J. A. Y. Andrews and D. N. Levine. University of Chicago Press: Chicago IL 2010, 78; G. Simmel: Lebensanschauung, 319. 14 G. Simmel: Lebensanschauung, 321. 10
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things that happen to it, such that the subject takes up ownership and yet still takes up moral ownership of those things, even as they appear to exist and to occur ›outside‹ of the subject. Crucially, therefore, Simmel stresses, the problem remains that fate seems to persist in me in a way that never entirely extinguishes contingency. An element of arbitrary externality haunts and inhabits me in everything I do, in a way that feels to me »uncanny« (unheimlich). It is in this sense, Simmel writes, that fate expresses for us »the uncanny feeling that the entire necessity of our life still somehow remains a thing of chance«. 15 At several places in his writings, Simmel speaks of the concept of tragedy as one structure of dramatic form that resolves this conflict of contingency and necessity in fate by reversing the order of finality of the two moments. 16 As Simmel underlines: more than sad victims of unfortunate circumstances, tragic subjects produce their own downfall, and in their downfall, the seemingly contingent and extraneous character of their flaw is drawn once more into a framework of ultimate wholeness and necessity. (And this, he adds, stands in contrast to the case of caricature in graphic portraiture and theatre where the opposite is the case, such that contingency, not necessity, is handed the last word: now instead, the character’s flaw appears as one residual, risible, hanging part of the protagonist.) 17 However, as an aesthetic device or construct, tragedy in Simmel’s thinking is not the only conceivable idiom of integration of contingency and necessity in fate. In European painting of the early modern period, he considers, Rembrandt and Germanic style in general suggest a different code of resolution, where fate is portrayed more as a grounded earthliness of the individual life in finitude and mortality. 18 Here fate is not a matter of some situation of tragic heroic confrontation and conflict, such as it is with Michelangelo – as the exemplary Renaissance artistic personality in Simmel’s account. Rather, in Rembrandt and to an extent also G. Simmel: The View of Life, 81. »Dass in allem, was wir unser Schicksal nennen, dem Günstigen wie dem Zerstörenden, ein Etwas nicht nur von unserem Verstande unbegriffen, sondern auch von unserer Lebensintention zwar aufgenommen, aber doch nicht bis ins Letzte assimiliert ist – das entspricht, nach der ganzen Struktur des Schicksals, dem unheimlichen Gefühl, dass das ganz Notwendige unseres Lebens doch noch irgendwie ein Zufälliges sei.« (G. Simmel, Lebensanschauung, 323). 16 G. Simmel: Lebensanschauung, 323–324; G. Simmel: »Michelangelo. Ein Kapitel zur Metaphysik der Kultur« [1910], in: GSG 12, 111–136. 17 G. Simmel: »Über die Karikatur« [1917], in: GSG 13, 244–251. 18 G. Simmel: Rembrandt, 440–450. 15
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»Fate« in the Thought of Simmel and Maeterlinck
in Goethe for Simmel, fate is now more an immanent feature of the ordinary pious lives of lowly individuals; and among visionaries of Simmel’s own time at the fin de siècle, Maeterlinck appears to stand for him as the figure with perhaps the closest affinity to his own Weltanschauung, as a playwright of the fates of humble everyday lives, representing in some respects a literary counterpart to Rembrandt – as well as to the social-realist sculptor Constantin Meunier.
II.
Maeterlinck and Simmel
In his 1899 review of Maeterlinck’s La Sagesse et la destinée, as well as again later in 1907 in Schopenhauer and Nietzsche, Simmel writes of Maeterlinck as a kind of democratic respondent to Nietzsche – even as an »authentic rival« to him. 19 Far from locating highest values of life in heroic and exceptional deeds of exceptional individuals, Simmel writes, Maeterlinck vests these values in an essential equality of each ordinary moment of a life course and in an essential equality of each individual life-story of a person. Important for Maeterlinck in Simmel’s account is man’s »silent, nameless, average hours of life«, in things »quotidian and dependable, not extraordinary or improbable«, 20 such that value lies in everything our deeds and experiences essentially have in common – just as socialism on the public and collective dimension of existence locates highest value in all that humanity has in common. In this way, Simmel comments, Maeterlinck accomplishes a »demotion of the unusual to a means of spiritualizing the commonplace«, wherein mundane work and conduct is now valorised as »sole space for an enduring inner human life, capable of surviving all accidents and contingencies of experience«. 21 For Nietzsche’s »aristocracy of all orders of life«, Simmel observes, Maeterlinck substitutes a »democracy of life«. 22 Nietzsche’s amor fati and doctrine of Eternal Recurrence mean henceforth less a supreme capability of the Übermensch than a beautiful resourcefulness of the
Cf. G. Simmel [review]: Maeterlinck, 421 f.; Cf. G. Simmel: Schopenhauer und Nietzsche, 370–372. 20 G. Simmel [review]: Maeterlinck, 421. 21 Ibid. 22 Ibid., 422. 19
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common man or woman, able to »retain at every moment a possibility of the good and the noble«. 23 Although exiguous by comparison with his commentaries on other contemporaries such as Rodin, George or Böcklin, Simmel’s considerations on Maeterlinck tend to suggest some important clues to his thinking about the fate, plight or cosmic situation of individuals in an age of modern mass industrial societal transformation, and a number of motifs in Maeterlinck’s prose writings do indeed stand out in ways that seem complementary to Simmel’s themes. In Pelléas and Mélisande (1893), the play that catapulted Maeterlinck to fame at the outset of the 1890s, life’s cosmic mystery as destin or destinée of the individual seems to stand forth as the central poetic focus of the unfolding drama. 24 Interweaving the legend of Blue Beard with the medieval German romance tradition of the Knight of the Swan (famously staged in Richard Wagner’s Lohengrin), Maeterlinck’s play foregrounds subversively the figure of Golaud as Blue Beard, a rather monstrous and bourgeois figure, who stumbles upon the girl Mélisande alone in a forest and aspires to care for her as her husband – even as she, Mélisande, falls in love with Pelléas, brother to Golaud, on whose liaisons Golaud spies obsessively. Consumed by jealousy and anguish, Golaud eventually kills Pelléas and wounds Mélisande. On multiple levels, Maeterlinck’s drama appears to revolve around a problematic of the relationship between having and being – in objects of desire and attachment, in love, in happiness, and in poetic symbolism, language and representation in relation to exterior reality. Ostensibly the chivalric Knight, Golaud wishes to have, to possess and to fix happiness, love and fulfilment in life, whereas Pelléas and Mélisande, by contrast, emerge as figures of that elusive sense of fate, destin or destinée in life that cannot be captured, mastered or controlled but at most can and must be »let be«. Enormously present in literary discussion of the age and a major inspiration for writers with well-known links or affinities of their Ibid., 420. M. Maeterlinck: Pelléas et Mélisande. Grasset: Paris 1972; analysis at length in P. Gorceix: Maurice Maeterlinck: L’arpenteur de l’invisble. Le Cri: Brussels 2005, 355–373. Widely performed on European stages throughout the 1890s, the role of Mélisande first taken by Sarah Bernhardt, on whose acting Simmel comments briefly in 1908 in the first of his three essays on theatre, the play seems likely to have been viewed by Simmel; cf. G. Simmel: »Zur Philosophie des Schauspielers« [1908], in: GSG 8, 424–432, here 424. 23 24
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»Fate« in the Thought of Simmel and Maeterlinck
own to Simmel such as Hofmannsthal and Musil, Maeterlinck has long been considered the foremost poet of the mystical, ineffable or unsayable in European literature of the fin de siècle. 25 But while fusing anti-rationalist themes in Flemish, English and German currents of thought with late nineteenth-century French poetic Symbolism after Stéphane Mallarmé, Maeterlinck also mobilises in his plays and prose writings certain more distinctively naturalistic or social-realist elements in ways that would appear to have made him equally a source of interest to Simmel for other, more directly sociological reasons. Worth noting in these respects are the many passages of Maeterlinck’s essays that articulate the kind of vision Simmel highlights in his 1899 review. Unmistakable in La Sagesse et la destinée, as well as in the volumes Le Trésor des humbles (1896) and Le Temple enseveli (1902), is a sense of the semantic salience of fate as a modern secular symbol of human finitude and vulnerability in an age of dwindling belief in any saving providential order of the divine. 26 As Maeterlinck writes in the essay »Le Tragique quotidien« in Le Trésor des humbles, symbols of the infinite, invisible and mysterious in life in modern consciousness are no longer registered in triumphal and miraculous acts and deeds of heroes, saints, martyrs or cataclysmic events. 27 Modern tragedy is no longer the appurtenance of figures of any outstanding social example, transcendence or distinction and fate in tragedy and adversity of life is now, for the modern individual, nothing more than an invitation to everyone to contemplation of »the profound life« in »silence« and introspection. 28 Writers from Marcus Aurelius to Emerson and Novalis, Maeterlinck urges, enjoin the modern self to cultivate a Stoic wisdom of inner assent or refusal of assent
25 P. Gorceix: Maurice Maeterlinck, 111–182, 593–602; I. Meyer, Georg Simmels Ästhetik: Autonomiepostulat und soziologische Referenz. Velbrück: Weilerswist 2017; U. Faath: Mehr-als-Kunst: Zur Kunstphilosophie Georg Simmels. Königshausen & Neumann: Würzburg 1998; L. Jäger: »Zwischen Soziologie und Mythos: Hofmannsthals Begegnung mit Werner Sombart, Georg Simmel und Walter Benjamin«, in: U. Renner, G. B. Schmid (Eds.): Hugo von Hofmannsthal: Freundschaften und Begegnungen mit deutschen Zeitgenossen. Königshausen & Neumann: Würzburg 1991, 95–107. 26 M. Maeterlinck: Le Trésor des humbles [1896]. Grasset: Paris 2008; Le Temple enseveli. Bibliothèque-Charpentier: Paris 1902. 27 M. Maeterlinck: »Le tragique quotidien«, in: id.: Le Trésor des humbles, 117–127. 28 M. Maeterlinck: Le Trésor des humbles, 157–169.
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to pains of experience on the stage of this world. 29 Fate is the archer that shoots arrows of pain at man, but it is for the soul in man to decide whether such pain shall become our suffering or not – whether the arrows shall reach us and destroy us or not. »L’événement en soi, c’est l’eau pure que nous verse la fortune, et il n’a d’ordinaire par luimême ni saveur, ni couleur, ni parfum. Il devient beau ou triste, doux ou amer, mortel ou vivifiant, selon la qualité de l’âme qui le recueille«. 30 Fortune and misfortune in life may stem from chance, but happiness in inner wisdom of the soul does not depend on chance. »Pour que notre âme devienne grave et profonde comme celle des anges, …: Il ne suffit pas d’un hasard; il faut une habitude«. 31 Without passivity or resignation, the soul absorbs and welcomes chance into the flow of life, in such a way that chance is allowed to become not its own habit in our lives – a mere habitude des hasards – but our habit of conduct. In this sense, Maeterlinck writes, the modern agent rises to a task of learning to separate destinée extérieure from destinée morale – able and wise enough to accept subjection to fate without slavery or servility. 32 It is clear that at stake in these passages for Maeterlinck is not only a mode of daily moral-practical counsel to the reader, but also a more generalised philosophical vision of ethical learning and development in human history – arguably in the sense of something quite close to Simmel’s and Émile Durkheim’s early interest in questions of general societal moral evolution. Societal modernity in Maeterlinck’s picture tends to appear most generally and structurally as the story of a process of the lifting of fate and fatality from experiences of primitive cyclic recurrence of events into horizons of cumulative shared social agency and security of man. Primitive fatality of nature is raised to an order of moral social lawfulness that is felt inwardly in individuals as personal responsibility for destiny. However, because and to the extent that contingency, accident and misfortune continue to pervade modern life and to derail projects of organised mitigation of fortune in social institutions, fate persists in modern consciousness as symbol of a cosmic plight of human beings that afflicts lords and
M. Maeterlinck: La Sagesse et la destinée, 29–31, 55–57, 59, 63–66; Le Trésor des humbles, 89–114. 30 M. Maeterlinck: La Sagesse et la destinée, 25, 63. 31 M. Maeterlinck: Le Trésor des humbles, 163. 32 M. Maeterlinck: La Sagesse et la destinée, 23. 29
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»Fate« in the Thought of Simmel and Maeterlinck
bondsmen, noblemen and labourers alike. Arbitrary lot and luck in social inequality is by degrees countered and redressed by institutions, by science and medicine, by democratic law and by social reform. But fate as a tragi-cosmic predicament of the individual still fundamentally remains – and remains not only for the nobleman as a tragic hero, for Hamlet, Tristan or Don Carlos, but also for the ordinary, unnamed labouring man or woman in the fields and factories. In parts of Le Temple enseveli, Maeterlinck interrogates further some meanings of a problem of felt justice and injustice of fate for modern understanding. 33 With the receding authority of any providential order capable of meaningfully explaining evil and misfortune in life, he continues, modern mind struggles rationally to ascribe meaningful moral agency to natural events of distress. Reason and enlightenment make clear that a flood or plague can no longer be deemed to punish the wicked or to persecute the good. Hence, felt justice or injustice in the cosmos become nothing but the seedbed of the sense of justice developing in man, in conscience of the individual. Justice of fate is recognised as human justice projected into and onto events of the world as justice of the cosmos. Yet nonetheless, fate is still inwardly and authentically experienced as cosmic rather than purely man-made in power and force, and it is experienced in this way because it is felt to inhere in the collision between human agency and intentionality with that which is essentially unintended and unforeseen – with chance and fortuity. Therefore, fate is the theatre of man’s justice in the cosmos, and theatre as tragedy is the performance of this justice of the cosmos on the stage of society and affairs of this world. Parallel to other literary ciphers in the discourse of the age, Maeterlinck’s figure of the star of orientation in conduct of life is not an obscurantist signifier. 34 Like Stefan George’s cipher of the angel in Der Teppich des Lebens or Max Weber’s image of the daemon in »Science as a Vocation«, Maeterlinck’s star is rather, one may say, the intelligent moral-philosophical symbol of fated life of the self in an age of increasingly post-theistic belief, of disenchantment in Weber’s sense. 35 For both Maeterlinck and Simmel, fate and star are the M. Maeterlinck: Le Temple enseveli, 1–99. M. Maeterlinck: Le Trésor des humbles, 131–141 (»L’Étoile«). 35 Cf. G. Simmel: »Stefan George: Eine kunstphilosophische Studie« [1901], in: GSG 7, 21–35, here 28. 33 34
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compass, the moving, flowing centre of moral value in the self over time in which pangs of regret and remorse, frustration and disappointment, continually point the self forward to a search for right and just conduct in circumstances of misfortune. The self is required to take up ownership of fate on the stage of contingencies, even as the self at times may feel its workings to be bitter and unfair. As Walter Benjamin also suggests broadly in these terms in »Schicksal und Charakter«, fate in modern discourse is not the prophetic phantasm of preordained events but the inscription, in the worldly actor, of moral fallenness and finitude. 36 Equally perhaps in the sense of the later twentieth-century British philosopher Bernard Williams, one might say that fate in this thinking is the problem of »moral luck« in life, such that a kind of inner luck exists, which does not merely befall the subject extraneously but enters deeply into the subject’s own most essential commitments of life and decides these commitments’ ultimate moral meaning for the subject. 37 (In Williams’ influential discussion, the decision of the painter Paul Gauguin to break with his family in France to pursue a life as a painter in the South Seas suggests in these terms a case of moral luck in a positive sense. Anna Karenina’s unhappy affair with Count Vronsky in Tolstoy’s eponymous novel, on the other hand, suggests a fate of moral luck in the negative sense.) In these ways and in the widest sense, Simmel and Maeterlinck, as authors writing fundamentally under the shadow of Nietzsche’s examinations in The Genealogy of Morals and other works, can be said to be thinking of moral modernity as the story of a societal process of the gradual taking over of fate in inner autonomy of the person, without saving guarantees. Autonomy of the actor grows and expands in this process and seeks constantly to reconstitute itself from dispersion and fragmentation in the flux and flow of fortuity. Modernity in this vision seeks to hermeneutically recover its relationship to antiquity and to the pre-modern imagination of the gods as fates in our lives and in this way to reclaim luck and lot of life as mystery and enigma without mystification. Not pessimists of the futility of this-worldly striving in the vein of Schopenhauer or the Book 36 W. Benjamin: »Schicksal und Charakter«, in: id.: Gesammelte Schriften, ed. by R. Tiedemann and H. Schweppenhäuser. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1972–1999, Vol. 2–1, 171–179. 37 B. Williams: Moral Luck. Cambridge University Press: Cambridge UK 1981.
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»Fate« in the Thought of Simmel and Maeterlinck
of Ecclesiastes, Simmel and Maeterlinck claim only in this sense that in the progress of modern enlightened norms, institutions and accomplishments of social justice, problems of justice nevertheless remain for the individual as intrinsically cosmic problems of questions of fate. 38 Even as social systems of stratification evolve from structures of inherited fortune at birth to ones of merit and achievement as individuals acquire advantages and securities by right and desert, positions, stations or destinies of life in society and social structure remain, in key dimensions, destinies of cosmic lot or luck, and, as such, pose a problem for the self, such that in the absence of any still credible scheme of divine providence capable of explaining their order, individuals must in some way take up the burden somehow of explaining their order for themselves. Even as events, conditions and unintended outcomes of societal action appear to unfold of their own accord like a runaway train, in a universal tragedy of culture, neither the individual in fate nor the community in fate – the Schicksalsgemeinschaft – is absolved from responsibility. The subject – the individual subject and the collective subject – is entangled in responsibility, essentially and intrinsically.
References Benjamin, Walter: »Schicksal und Charakter«, in: id.: Gesammelte Schriften, ed. by Rolf Tiedemann and Hermann Schweppenhäuser. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1972–1999, Vol. 2–1, 171–179. Faath, Ute: Mehr-als-Kunst: Zur Kunstphilosophie Georg Simmels. Königshausen & Neumann: Würzburg 1998. Gorceix, Paul: Maurice Maeterlinck: L’arpenteur de l’invisble. Le Cri: Brussels 2005. Jäger, Lorenz: »Zwischen Soziologie und Mythos: Hofmannsthals Begegnung mit Werner Sombart, Georg Simmel und Walter Benjamin«, in: Ursula Renner and Gisela Bärbel Schmid (Eds.): Hugo von Hofmannsthal: Freundschaften und Begegnungen mit deutschen Zeitgenossen. Königshausen & Neumann: Würzburg 1991, 95–107.
Cf. Ecclesiastes 9, 11 f. »I returned, and saw under the sun, that the race is not to the swift, nor the battle to the strong, neither yet bread to the wise, nor yet riches to men of understanding, nor yet favour to men of skill; but time and chance happeneth to them all. / For man also knoweth not his time: as the fishes that are taken in an evil net, and as the birds that are caught in the snare; so are the sons of men snared in an evil time, when it falleth suddenly upon them« (ibid.).
38
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Austin Harrington Maeterlinck, Maurice: »Le tragique quotidian«, in: id.: Le Trésor des humbles [1896]. Grasset: Paris 2008, 117–127. Maeterlinck, Maurice: Le Trésor des humbles [1896]. Grasset: Paris 2008. Maeterlinck, Maurice: La Sagesse et la destinée [1898]. Le Cri: Brussels 1992. Maeterlinck, Maurice: Weisheit und Schicksal [1898], transl. by Friedrich von Oppeln-Bronikowski. Eugen Diederichs: Leipzig 1899. Maeterlinck, Maurice: Le Temple enseveli. Bibliothèque-Charpentier: Paris 1902. Maeterlinck, Maurice: Pelléas et Mélisande. Grasset: Paris 1972. Merton, Robert K.: Social Theory and Social Structure. The Free Press: New York NY 1968. Meyer, Ingo: Georg Simmels Ästhetik: Autonomiepostulat und soziologische Referenz. Velbrück: Weilerswist 2017. Simmel, Georg: Gesamtausgabe, ed. by Otthein Rammstedt. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1989–2015 (= GSG). Simmel, Georg: »Rosen. Eine soziale Hypothese« [1897], in: GSG 17, 357–361. Simmel, Georg [review]: Maeterlinck, M.: Weisheit und Schicksal, 1899 [1900], in: GSG 1, 419–422. Simmel, Georg: Philosophie des Geldes [1900], in: GSG 6, 7–716. Simmel, Georg: »Socialismus und Pessimismus« [1900], in: GSG 5, 552–559. Simmel, Georg: »Zu einer Theorie des Pessimismus« [1900], in: GSG 5, 543– 551. Simmel, Georg: »Stefan George: Eine kunstphilosophische Studie« [1901], in: GSG 7, 21–35. Simmel, Georg: Schopenhauer und Nietzsche. Ein Vortragszyklus [1907], in: GSG 10, 167–408. Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung [1908], in: GSG 11, 7–875. Simmel, Georg: »Zur Philosophie des Schauspielers« [1908], in: GSG 8, 424– 432. Simmel, Georg: »Michelangelo. Ein Kapitel zur Metaphysik der Kultur« [1910], in: GSG 12, 111–136. Simmel, Georg: »Der Begriff und die Tragödie der Kultur« [1911], in: id.: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais [1911], 385–416. Simmel, Georg: »Rodin (mit einer Vorbemerkung über Meunier)« [1911], in: id.: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais [1911], in: GSG 14, 330–348. Simmel, Georg: »Das Problem des Schicksals« [1913], in: GSG 12, 483–491. Simmel, Georg: »Vom Tode in der Kunst. Nach einem Vortrag« [1915], in: GSG 13, 123–132. Simmel, Georg: Rembrandt. Ein kunstphilosophischer Versuch [1916], in: GSG 15, 305–515. Simmel, Georg: »Über die Karikatur« [1917], in: GSG 13, 244–251. Simmel, Georg: Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel [1918], in: GSG 16, 209–425. Simmel, Georg: The View of Life [1918], transl. by John A. Y. Andrews and Donald N. Levine. University of Chicago Press: Chicago IL 2010.
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»Fate« in the Thought of Simmel and Maeterlinck Simmel, Georg: »Philosophie des 19. Jahrhunderts (von Fichte bis Nietzsche)« (1904, transcribed by Rudolf Pannwitz), in: GSG 21, 354–406. Simmel, Georg: »Ethik und Prinzipien der philosophischen Weltanschauung« (1905/1906, transcribed by Hugo Nathanson), in: GSG 21, 493–522. Simmel, Georg: »Philosophie des 19. Jahrhunderts, von Fichte bis Nietzsche und Maeterlinck« (1907/1908, transcribed by Herman Schmalenbach), in: GSG 21, 692–742. Simmel, Georg: Postkarte an Rainer Maria Rilke, 7. Januar 1915, in: GSG 23, 477–480. Williams, Bernard: Moral Luck. Cambridge University Press: Cambridge UK 1981.
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Kultur als unendliche Aufgabe – Simmel, Cassirer und die Tragödie der Kultur Heike Koenig
»Was kann der Mensch sich besseres wünschen, als große Aufgaben und einen Mut dazu, der sich nicht mehr von der Hoffnung auf ihre Lösung abhängig macht?« 1
Georg Simmels berühmte These von der Tragödie der Kultur und Ernst Cassirers nicht weniger bekannte kritische Replik stehen im Kontext kulturphilosophischer Diskurse immer wieder im Zentrum des Interesses. Nicht zuletzt, weil es sich um nicht weniger als »zwei Pioniere« 2 handelt, die Anfang des 20. Jahrhunderts einen Kulturbegriff prägen, der für das Selbstverständnis der Kulturphilosophie als Disziplin wegweisend wird: Einen Begriff der Kultur, der eine innere Dialektik von Subjekt und Objekt immer schon umfasst und von ihrer lebendigen Wechselwirkung getragen wird. In der Forschung wird die Auseinandersetzung Cassirers mit Simmel denn gemeinhin als »idealtypische Konstellation« 3 gesehen, an der sich zwei mögliche Schwerpunktsetzungen in der Theorie explizieren und einander gegenüberstellen lassen: Während Simmel als Patron einer primär kulturkritischen Perspektive bemüht wird, gilt Cassirer als derjenige, der u. a. »in seiner Kritik an Simmels lebensphilosophischen Denkvoraussetzungen, […] das Profil der Kulturphilosophie derart markant herausgearbeitet hat«, 4 dass sie an ihn anzuknüpfen hat, wenn sie ein konstruktives Programm entwerfen will. So verdanke sich Cassirer die Einsicht, dass den von Simmel sensibel aufgespürten »Überforderungen durch Kultur nur mit den G. Simmel: »Aus dem nachgelassenen Tagebuche«, in: ders.: Gesamtausgabe, hg. von O. Rammstedt. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1989–2015 (im Folgenden GSG), Bd. 20, 261–296, hier 273. 2 R. Konersmann: Kulturphilosophie zur Einführung. Junius: Hamburg 2003, 27. 3 Ebd., 31. 4 Ebd., 28. 1
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Möglichkeiten der Kultur selbst« begegnet werden kann. 5 Das Motto lautet gleichsam: Von bzw. mit Simmel zu Cassirer. Problematisch wird eine solche Perspektive jedoch dann, wenn man sie radikal zugespitzt. So ist bisweilen die Rede von einer »Simmel-Cassirer-Kontroverse« im Sinne eines weltanschaulichen Dissens zwischen Kulturpessimismus und -optimismus. 6 Hier zeigt sich, dass sich Vorurteile sowie problematische Verkürzungen der Philosophie Simmels mitunter hartnäckig halten, in Folge derer Simmel zu einem bloßen kritischen Stichwortgeber 7 oder gar zum Verfechter eines Kulturkonservatismus 8 stilisiert wird, der selbst weder tragfähige theoretische Ansätze, noch praktische Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen vermag. R. Becker: »Paradigmen zu einer Dramaturgie der Kultur. Cassirers Auseinandersetzung mit Simmels Kulturkritik im Licht der ›Basisphänomene‹«, in: R. L. Fetz, S. Ullrich (Hg.): Lebendige Form. Zur Metaphysik des Symbolischen in Ernst Cassirers ›Nachgelassenen Manuskripten und Texten‹. Meiner: Hamburg 2008, 161–178, hier 176. Auch Friedemann Voigt spricht kontrastierend von der »kulturzugewandte[n] Signatur der Kulturphilosophie Cassirers« (F. Voigt: »Kultur und Bildung bei Georg Simmel, Ernst Cassirer und Adolf Harnack. Lehr- und Wanderjahre der Goethe-Rezeption in Kulturphilosophie und Theologie«, in: D. Korsch u. E. Rudolph (Hg.): Die Prägnanz der Religion in der Kultur. Ernst Cassirer und die Theologie. Mohr Siebeck: Tübingen 2000, 179–200, hier 182). Ferdinand Fellmann hingegen betont, dass bei Simmel selbst die Einsicht leitend ist, dass sich Subjektivität »[n]ur mit und nicht gegen die Kultur der Sachlichkeit […] als kritische Instanz bewahren« lässt (F. Fellmann: »Georg Simmels Persönlichkeitsbegriff als Beitrag zur Theorie der Moderne«, in: E. W. Orth u. H. Holzhey (Hg.): Neukantianismus. Perspektiven und Probleme. Königshausen & Neumann: Würzburg 1994, 309–325, hier 324). 6 B. Recki: »Nicht so tragisch … Simmels Begriff, Theorie und Problem der Kultur in der Kontroverse«, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 9 (2015) 1/2, 41–55, hier 53. Birgit Recki bringt einen »praktische[n] Optimismus« (ebd., 46) Cassirers gegen Simmel in Anschlag: »Ob der theoretische Befund die Adressaten dazu ermutigt, ihre Verhältnisse selbst in die Hand zu nehmen, oder ob er dies von vornherein als eine aussichtslose Sache erscheinen lässt – das macht einen praktischen Unterschied« (ebd., 54). Hingegen zeigt Gregor Fitzi mit Blick auf das »individuelle Gesetz« auf, dass auch Simmel für die »Kulturverantwortung« des Einzelnen plädiert (G. Fitzi: Soziale Erfahrung und Lebensphilosophie. Georg Simmels Beziehung zu Henri Bergson. UVK: Konstanz 2002, 324). Auf das »individuelle Gesetz« werde ich in Kapitel II zu sprechen kommen. 7 So z. B. in Habermas’ Bezeichnung Simmels als »Zeitdiagnostiker«, wie schon Klaus Christian Köhnke kritisch bemerkt hat (K. C. Köhnke: »Simmel ohne Landmann? Nachwort zur Neuausgabe 1987«, in: G. Simmel: Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse [1968], hg. von M. Landmann. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1987 (Neuausgabe), 256–275, hier 267). 8 Vgl. B. Recki: »Nicht so tragisch …«, 59. 5
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Kultur als unendliche Aufgabe – Simmel, Cassirer und die Tragödie der Kultur
In meinem Beitrag möchte ich versuchen, diesem verkürzten Bild entgegen zu wirken und aufzuzeigen, dass sich die Simmel-Cassirer-Konstellation vielmehr dann fruchtbar machen lässt, wenn wir sie als Zeugnis eines dynamischen Ringens um ein den modernen Bedingungen angemessenes philosophisches Problembewusstsein verstehen. 9 Dafür werde ich die Simmelsche These der Tragödie der Kultur und Cassirers Antwort im Horizont drei verschiedener Bedeutungsebenen untersuchen: Denn auch wenn die Tragödie durch Simmels Charakterisierung – »dass die gegen ein Wesen gerichteten vernichtenden Kräfte aus den tiefsten Schichten eben dieses Wesens selbst entspringen, dass sich mit seiner Zerstörung ein Schicksal vollzieht, das in ihm selbst angelegt« ist – der Grundstruktur nach eindeutig bestimmt ist, bleibt dennoch zu fragen, welches Wesen hier eigentlich adressiert ist. 10 Wer ist der tragische Held der Simmelschen Tragödie, d. h. derjenige, als dessen Schicksal sich die Tragödie der Kultur notwendig vollzieht? Hier scheinen tatsächlich drei Antworten möglich zu sein: (I) der Mensch, (II) das Individuum, (III) der Philosoph bzw. die Philosophin. Drei Antworten, in deren Horizont die Tragödien-These je spezifische Implikationen entfaltet und systematische Einsichten liefert, die die bleibende Anschlussfähigkeit Simmels für eine moderne Kulturphilosophie bezeugen.
I.
Der Mensch als tragischer Held der Geschichte?
I.1. Die Bestimmung des Menschen als ein trostsuchendes Wesen In Hans Blumenbergs Nachlass findet sich die bemerkenswerte Auszeichnung Simmels als eines Denkers, von dem »eine philosophische Anthropologie auf anderem Niveau zu erwarten gewesen [wäre] als alles, was dann in den zwanziger Jahren unter diesem Titel publiziert
Zumal Cassirers Nachlass gerade von »einer lebenslangen Auseinandersetzung« (R. Konersmann: Kulturphilosophie zur Einführung, 29) nicht nur in kritisch-negativem, sondern auch konstruktiv-positivem Sinne zeugt. Wie Ralf Konersmann hier anführt, hat Cassirer Simmel ausdrücklich eine »Wendung zu Kulturphilosophie« (ebd.) bescheinigt; darauf werde ich in Kapitel III zurückkommen. 10 G. Simmel: »Der Begriff und die Tragödie der Kultur« [1911], in: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais [1911], in: GSG 14, 385–416, hier 411. 9
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worden ist«. 11 Als Anlass für diese starke These dient Blumenberg ein Eintrag aus Simmels Tagebuch, in welchem der Mensch als ein trostsuchendes Wesen bezeichnet wird: »Der Begriff des Trostes hat eine viel weitere, tiefere Bedeutung, als man ihm bewußt zuzuschreiben pflegt. Der Mensch ist ein trostsuchendes Wesen. Trost ist etwas anderes als Hilfe – sie sucht auch das Tier; aber der Trost ist das merkwürdige Erlebnis, das zwar das Leiden bestehen läßt, aber sozusagen das Leiden am Leiden aufhebt, er betrifft nicht das Übel selbst, sondern dessen Reflex in der tiefsten Instanz der Seele. Dem Menschen ist im großen und ganzen nicht zu helfen. Darum hat er die wundervolle Kategorie des Trostes ausgebildet – der ihm nicht nur aus den Worten kommt, wie Menschen sie zu diesem Zwecke sprechen, sondern den er aus hunderterlei Gegebenheiten der Welt zieht.« 12
Die anthropologische Tiefendimension dieser Beschreibung sieht Blumenberg in der Verbindung von Trostbedürftigkeit und Tröstungsfähigkeit als »Korrelate eines Sachverhalts, der in die Formel zu fassen ist, dem Menschen könne in einer sehr elementaren Weise überhaupt nicht geholfen werden«. 13 In Blumenbergs Deutung handelt es sich hierbei um den Sachverhalt, dass für das Dasein des Menschen – im Gegensatz zum Tier – ein Schmerz konstitutiv ist, den dieser weder vermeiden noch auflösen kann, sondern den es zu verarbeiten gilt: Das Leiden an seiner Kontingenz, d. h. am »elementare[n] Mangel seines Daseinsgrundes, der sich […] in dem Mangel einer deutlichen Vorzeichnung seines Lebenssinnes als eines gegebenen« reflektiert. 14 Es ist die sich auch »in ihrer anthropologischen Fassung« als unbeantwortbar erweisende metaphysische »Seinsgrundfrage«, der sich der Mensch als Mensch aber nicht entziehen kann. 15 Darin, »die Unerträglichkeit der großen Fragen ertragen zu müssen«, wurzelt laut Blumenberg »die konstitutive Trostbedürftigkeit des Menschen«. 16 Zugleich beruht aber auch seine Tröstungsfähigkeit, d. h. die Fähigkeit jene Unerträglichkeit tatsächlich auch ertragen zu können, auf ebenjener Fähigkeit, die ihm die großen Fragen zuallererst auferlegt hat: Auf seiner Fähigkeit, »auf Distanz zur 11 H. Blumenberg: Beschreibung des Menschen. Aus dem Nachlaß, hg. von M. Sommer, Suhrkamp: Frankfurt a. M. 2006, 625. 12 G. Simmel: »Aus dem nachgelassenen Tagebuche«, 272 f. 13 H. Blumenberg: Beschreibung des Menschen, 626. 14 Ebd., 635. 15 Ebd., 638. 16 Ebd., 639, Hvh. H. K.
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Wirklichkeit zu gehen«. 17 Hat diese Fähigkeit den Menschen einerseits schmerzlich um seinen unmittelbaren Wirklichkeitsbezug gebracht, ermöglicht sie ihm andererseits, an diesem Schmerz nicht zugrunde zu gehen. 18 So ist der Trost laut Blumenberg paradoxerweise »eine Form der Distanzierung von der Wirklichkeit, im Grenzfall des Verlustes von Wirklichkeit«, 19 die den Menschen seiner wesentlichen Bedürftigkeit, zugleich aber auch seiner Freiheit versichert: »Allemal ist nämlich ein einzigartiger Grad von Freiheit damit gegeben, auch mit der bloßen Fiktion von Realität deren Äquivalent zu besitzen oder zumindest deren Entbehrung verkraften zu können. Die Trostbedürftigkeit ist die Kompensation einer Mangelstruktur, die noch über die Grenze der reellen Leistungsfähigkeit solcher Kompensation hinausgeht, indem sie sich den Überschuß der Dienstbarkeit des Imaginären verschafft.« 20
Von dieser Deutung Blumenbergs lässt sich eine Brücke zurück zu Simmels These von der Tragödie der Kultur schlagen. Tatsächlich leitet Simmel seinen berühmten Aufsatz mit der Feststellung ein, dass »der Mensch sich in die natürliche Gegebenheit der Welt nicht fraglos einordnet, wie das Tier, sondern sich von ihr losreißt, sich ihr gegenüberstellt, fordernd, ringend, vergewaltigend und vergewaltigt«. 21 Die Fähigkeit zur Distanzierung wird hier also explizit als Charakteristikum menschlicher Lebensform ausgewiesen, die zugleich eine neue Art der Bezugnahme ermöglicht: Als geistiges Lebewesen ist der Mensch in der Lage, sich die natürliche Welt zum Gegenstand zu machen und bewusst zu ihr zu verhalten. 22 Mit »diesem ersten großen Dualismus entspinnt sich der endlose Prozeß zwischen dem Subjekt und dem Objekt.« 23 Endlos, weil die Versuche des Geistes, ihn Ebd., 628. Vgl. ebd., 631. 19 Ebd., 627. 20 Ebd., 631 f. 21 G. Simmel: »Der Begriff und die Tragödie der Kultur«, 385. 22 Bereits in der Philosophie des Geldes hatte Simmel im Rahmen der Analyse von Wertbildungsprozessen den Prozess objektivierender Distanzierung, d. h. das Heraustreten aus dem »Indifferenzzustand, in dem das Ich und seine Objekte noch ungeschieden ruhen« (G. Simmel: Philosophie des Geldes [1900], in: GSG 6, 7–716, hier 30) als Charakteristikum geistigen Lebens herausgestellt (vgl. ebd., 29–32) und dabei »Distanzierung und Annäherung [als] Wechselbegriffe« bestimmt: »[D]er Sinn jener Distanzierung ist, daß sie überwunden werde. Die Sehnsucht, Bemühung, Aufopferung, die sich zwischen uns und die Dinge schieben, sind es doch, die sie uns zuführen sollen« (ebd., 49). 23 G. Simmel: »Der Begriff und die Tragödie der Kultur«, 385. 17 18
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restlos zu vermitteln, d. h. Subjekt und Objekt vollständig zur Synthese zu bringen, laut Simmel immer wieder vereitelt werden: »Der Geist sieht sich einem Sein gegenüber, auf das ebenso der Zwang, wie die Spontanität seiner Natur ihn hintreibt; aber er bleibt ewig in die Bewegung in sich selbst gebannt, in einem Kreise, der das Sein nur berührt, und in jedem Augenblick, in dem er, in der Tangente seiner Bahn abbiegend, in das Sein eindringen will, reißt ihn die Immanenz seines Gesetzes wieder in seine in sich selbst beschlossene Drehung fort.« 24
Drückt sich laut Simmel in der begrifflichen Korrelation von Subjekt und Objekt »schon die Sehnsucht und Antizipation einer Überwindung dieses starren, letzten Dualismus« aus, so bleiben jene Bemühungen zuletzt doch »endliche Versuche, eine unendliche Aufgabe zu lösen«. 25 Mit anderen Worten: In der Distanzierung des Menschen von der natürlichen Welt, die ihm eine (im wahrsten Sinne des Wortes) Auseinandersetzung mit dieser überhaupt erst ermöglicht, vermag er sie doch nie vollständig (zurück) zu gewinnen, sondern sieht sich immer wieder radikal auf sich zurückgeworfen. Angesichts dieser Verlusterfahrung, die zweifellos als Kontingenz-Erfahrung beschreibbar ist, sucht der Mensch gleichsam Trost in der kulturschaffenden Entäußerung seiner selbst, denn »die bloße formale Tatsache, daß das Subjekt ein Objektives hingestellt hat, daß sein Leben sich aus sich heraus verkörpert hat, wird als etwas Bedeutsames empfunden«. 26 Dies veranschaulicht Simmel am Vergleich eines natürlichen Sonnenaufgangs und einem ihm nachempfundenen Gemälde: »Ein Sonnenaufgang, den kein Menschenauge sieht, macht die Welt durchaus nicht wertvoller oder erhabener, weil ihre objektive Tatsächlichkeit für diese Kategorien überhaupt keinen Platz hat; sobald aber ein Maler in ein Bild dieses Sonnenaufgangs seine Stimmung, seinen Form- und Farbensinn, sein Ausdrucksvermögen hineingelegt hat, so halten wir dieses Werk […] für eine Bereicherung, eine Wertsteigerung des Daseins überhaupt.« 27
Jene Wertsteigerung des Daseins findet ihren Höhepunkt darin, dass der Mensch seine seelischen Erzeugnisse als einen »selbständigen Kosmos des objektivierten Geistes sich gegenüberstellt und er-
24 25 26 27
Ebd., 389 f. Ebd., 390. Ebd., 391. Ebd., 394.
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blickt«. 28 Einer prinzipiellen Wertindifferenz der objektiven Natur gleichsam zum Trotz (man könnte auch sagen: zum Trost), eröffnet sich dem Menschen im Zuge der Vergegenständlichung des Geistes eine Welt objektiver Bedeutsamkeit, die seine Situation grundlegend verändert: »So muß der subjektive Geist zwar seine Subjektivität, aber nicht seine Geistigkeit verlassen, um das Verhältnis zum Objekt zu erleben, durch das seine Kultivierung sich vollzieht. Dies ist die einzige Art, auf die die dualistische Existenzform, mit dem Bestande des Subjekts unmittelbar gesetzt, sich zu einer innerlich einheitlichen Bezogenheit organisiert. Hier geschieht ein Objektivwerden des Subjekts und Subjektivwerden eines Objektiven, das das Spezifische des Kulturprozesses ausmacht […].« 29
Ebenjener Dualismus, der sich in seiner ersten Instanz als unaufhebbar erweist, deutet sich somit in seiner zweiten Instanz als der Synthese fähig an: Es ist die Idee der Kultur – als der »Weg der Seele zu sich selbst« im Sinne ihrer Höherbildung und Vollendung über den Umweg ihrer Entäußerung –, die eine »Lösung der Subjekt-ObjektGleichung« prinzipiell in Aussicht stellt. 30 Darin, dass der Mensch sich das Objekt zum Bilde schafft (Objektivwerden des Subjekts), um sich daran selbst zu bilden (Subjektivwerden eines Objektiven), wurzelt für Simmel gerade die metaphysische Bedeutung der Kultur: »Der ganze Reichtum, den dieser Begriff realisiert, beruht darin: daß objektive Gebilde, ohne ihre Objektivität zu verlieren, in den Vollendungsprozeß von Subjekten als dessen Weg oder Mittel einbezogen werden. Ob, vom Subjekt aus gesehen, die höchste Art seiner Vollendung so erreicht wird, bleibe dahingestellt; für die metaphysische Absicht aber, die das Prinzip des Subjekts und das des Objekts als solches in Eines zu bringen sucht, liegt hier eine der äußersten Garantien dagegen, sich nicht selbst als Illusion erkennen zu müssen.« 31
Den durch die Distanzierung von der natürlichen Welt schmerzlich erlittenen Verlust von unmittelbarer Wirklichkeit (Blumenberg) versucht der Mensch gleichsam dadurch aufzuheben, dass er jene Welt im Zuge der Kultivierung der Objekte mit Sinn anreichert und sie damit symbolisch werden lässt für die unendlichen Möglichkeiten
28 29 30 31
Ebd., 391. Ebd., 390. Ebd., 385, 388. Ebd., 413
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seiner subjektiv-seelischen Vollendung, d. h. seiner eigenen Kultivierung. Die Tragik dieses Versuchs liegt darin, dass letztlich ein und derselbe Sachverhalt – nämlich, dass die kulturellen Erzeugnisse, die als Mittel zum Zweck subjektiver Vollendung dienen sollen, sich zugleich in feste objektive Wertordnungen einreihen – einerseits seine notwendige Voraussetzung aber zugleich die Ursache seines Scheiterns darstellt. So wertet Simmel die Entfremdungsphänomene in der modernen Kultur als Zeugnis des »ganz allgemeinen […] menschlich-geistigen Schicksals«, 32 dass der von ihm selbst geschaffene Kosmos des objektiven Geistes ein solches Maß an Selbstständigkeit gewinnt, dass auch er sich dem Menschen zuletzt zu entziehen droht: »Das große Unternehmen des Geistes, das Objekt als solches dadurch zu überwinden, daß er sich selbst als Objekt schafft, um mit der Bereicherung durch diese Schöpfung zu sich selbst zurückzukehren, gelingt unzählige Male; aber er muss dieselbe Selbstvollendung mit der tragischen Chance bezahlen, in der sie bedingenden Eigengesetzlichkeit der von ihm selbst geschaffenen Welt eine Logik und Dynamik sich erzeugen zu sehen, die die Inhalte der Kultur mit immer gesteigerter Beschleunigung und immer weiterem Abstand von dem Zwecke der Kultur abführt.« 33
Es könnte vor diesem Hintergrund naheliegen, die Simmelsche These von der Tragödie der Kultur als (kultur-)pessimistische Einsicht in eine prinzipielle Untröstlichkeit des Menschen in der Kultur zu lesen. Nimmt man Simmels Charakterisierung der Kategorie des Trostes jedoch beim Wort, gemäß welcher Trost gerade nicht die Aufhebung des eigentlichen Übels bedeutet, sondern »das merkwürdige Erlebnis, das zwar das Leiden bestehen läßt, aber sozusagen das Leiden am Leiden aufhebt« (s. o.), so erweist sich die Tragödie der Kultur zunächst nur als Bestätigung der grundsätzlichen Trostbedürftigkeit des Menschen; genauer: als Bestätigung dafür, dass diese für ihn tatsächlich – wie Blumenberg betont hat – konstitutiv ist: Auch in der Kultur kann sich der Mensch einer metaphysischen Letztbegründung der Einheit von Ich und Welt nicht versichern, sondern sieht sich abermals radikal auf sich zurückgeworfen. Die »metaphysische Frage« nach der Einheit von Subjekt und Objekt findet in der Kultur
32 33
Ebd., 406. Ebd., 415 f.
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Kultur als unendliche Aufgabe – Simmel, Cassirer und die Tragödie der Kultur
zwar »eine historische Antwort«, 34 doch lässt sich diese Antwort nicht ins Absolute heben, sondern bleibt wesentlich brüchig: Die Tragödie der Kultur besiegelt die grundsätzliche Absage an eine im Zeichen von absoluter Synthese stehende Metaphysik, die ein Gelingen des »großen Unternehmens des Geistes« 35 im Rahmen einer Geschichtsteleologie spekulativ absichert. Auch im Zuge der Vergegenständlichung des Geistes bleibt der Mensch das trostsuchende Wesen, das sich einer endgültigen Aufhebung seiner Kontingenz nicht versichern kann, sondern sein Leiden daran fortwährend zu verarbeiten hat.
I.2. Das trostsuchende Wesen als animal symbolicum? In seiner Schrift Die Sorge geht über den Fluß (1987) hat Blumenberg gleichsam beiläufig darauf aufmerksam gemacht, dass »die Bestimmung des Menschen als des trostbedürftigen Wesens etwas zu tun hat mit seiner philosophisch sicher anspruchsvolleren Definition als des animal symbolicum«. 36 Tatsächlich hatte Cassirer den negativen Befund, dass der Mensch »der Wirklichkeit nicht mehr unmittelbar gegenübertreten« kann, sondern in einem »symbolischen Universum« lebt, 37 als Bedingung der Möglichkeit aktiven Wirklichkeitsgewinns dezidiert positiv gewendet: »Im Medium der Sprache und der Kunst, des Mythos und der theoretischen Erkenntnis vollzieht sich jene Umkehr, jene geistige Revolution, deren Ertrag darin besteht, dass der Mensch sich die Welt beseitigt, um die Welt an sich zu ziehen. Kraft ihrer wird ihm eine Nähe zur Welt und eine Ferne von ihr zu Teil, wie sie kein anderes Wesen besitzt.« 38 Ebd., 413. Ebd., 415. Angesprochen scheint damit insbesondere die Geist-Metaphysik Hegels, deren dialektische Figur hier paraphrasiert wird. In Hauptprobleme der Philosophie hatte Simmel die großen metaphysischen Systeme der Philosophiegeschichte als verschiedene Versuche rekonstruiert, den Subjekt-Objekt-Dualismus und damit eine »metaphysische[] Unsicherheit« zu überwinden (G. Simmel: Hauptprobleme der Philosophie [1910], in: GSG 14, 11–157, Kap. »Vom Subjekt und Objekt«, hier 81). 36 H. Blumenberg: Die Sorge geht über den Fluß. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1987, 156. Simmel wird an dieser Stelle allerdings nicht erwähnt. 37 E. Cassirer: Versuch über den Menschen [An Essay on Man, 1944], übers. von R. Kaiser. Meiner: Hamburg 22007, 50. 38 E. Cassirer, »Zur Metaphysik der symbolischen Formen«, in: ders.: Nachgelassene Manuskripte und Texte, Bd. 1: Zur Metaphysik der symbolischen Formen, hg. von 34 35
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Das schon von Simmel als für die geistige Lebensform konstitutiv ausgewiesene Wechselverhältnis von Distanzierung und Annäherung 39 bildet damit den Kern von Cassirers kulturphilosophischer Bestimmung des Menschen: Für das Weltverhältnis des animal symbolicum ist jene Grundspannung konstitutiv, weil es diese seine Welt im Zuge objektivierender Symboltätigkeit erst bildet, eben weltbildend tätig ist. In der 2. Studie aus Zur Logik der Kulturwissenschaften (1942) verweist dann sogar Cassirer auf die »immanente Tragik [sic!] jeder geistigen Form, daß sie diese innere Spannung nicht zu überwinden vermag«. 40 Entsprechend hatte Cassirer in der auf Simmel antwortenden 5. Studie zunächst auch positiv hervorgehoben, dass dieser die »dialektische Struktur des Kulturbewußtseins« und damit die Grundproblematik philosophischer Reflexion freigelegt habe. 41 Folglich geht es ihm nicht darum, die von Simmel angesprochenen Probleme als bloße Scheinprobleme zu entlarven, sondern vielmehr, ihnen die Schärfe zu nehmen. Entgegen einem naiven Optimismus sei die Kultur tatsächlich »kein harmonisch sich entfaltendes Ganzes, sondern von den stärksten inneren Gegensätzen erfüllt«; wir müssten jedoch auch die sich immer wieder vollziehende »eigentümliche ›Katharsis‹ ins Auge fassen«. 42 So sind die Konflikte zwischen dem subjektiven Leben und seinen zu festen Gebilden verdichteten Erzeugnissen laut Cassirer Zeichen eines fortwährenden kulturellen Formwandels, der sich im Ineinandergreifen von Kräften der Formerhaltung und -erneuerung, von Tradition und Innovation, erhält und von der Lebendigkeit der J. M. Krois. Meiner: Hamburg 1995, 3–112, hier 36; vgl. dazu auch J. Bohr: »Approximative Distanz. Cassirers mehrdeutiger Medienbegriff für eine Kulturphilosophie«, in: J. Gruevska und K. Liggieri (Hg.): Vom Wissen um den Menschen. Philosophie, Geschichte, Materialität. Alber: Freiburg/München 2018, 131–149. 39 Vgl. G. Simmel: Philosophie des Geldes, 49 f. sowie Fußnote 16 dieses Beitrags. Geßner geht sogar so weit, die Simmelsche Rede vom Menschen als »objektive[s] Tier« (G. Simmel: Philosophie des Geldes, 385) und Cassirers animal symbolicum als Synonyme zu betrachten (vgl. W. Geßner: »Geld als symbolische Form. Simmel, Cassirer und die Objektivität der Kultur«, in: Simmel Newsletter 6 (1996) 1, 1–30, hier 19). 40 E. Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien [1942]. Meiner: Hamburg 2011, 59 (2. Studie): »Mit der Auflösung der Spannung wäre auch das Leben des Geistigen erloschen; denn dieses besteht eben darin, das Geeinte zu trennen, um dafür um so sicherer das Getrennte vereinigen zu können.« (Ebd.) 41 Ebd., 109 (5. Studie). 42 Ebd., 113, 118.
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Kultur als unendliche Aufgabe – Simmel, Cassirer und die Tragödie der Kultur
Kultur in ihrer Geschichtlichkeit zeugt. 43 Das »Drama der Kultur« wird deshalb nicht schlechthin zu einer Tragödie, weil es »in ihm ebensowenig eine endgültige Niederlage, wie […] endgültigen Sieg gibt«. 44 Entsprechend hatte sich Cassirer in einem Vortrag von 1939 nicht nur gegen einen fatalistischen Pessimismus, sondern auch gegen einen spekulativen Optimismus ausgesprochen, wie ihn die Geschichtsphilosophie Hegels verkörpere. Auf Basis der Forderung, von »der Hegelschen Bedeutung der Idee wieder zur Kantischen, von der Idee als ›absolute Macht‹ wieder zur Idee als ›unendliche Aufgabe‹ zurück« 45 zu gehen, steht Cassirers Ansatz einer kritischen Kulturphilosophie im Zeichen prinzipieller Offenheit: »Alles, was hier gesagt werden kann, ist, daß die Kultur sein und fortschreiten wird, sofern die formbildenden Kräfte, die letzten Endes von uns selbst aufzubringen sind, nicht versagen oder erlahmen. Diese Voraussage freilich können wir machen, und sie ist für uns selbst, für unser eigenes Tun und für unsere eigenen Entscheidungen die einzig belangreiche. Denn sie versichert uns freilich nicht von vornherein der unbedingten Erreichbarkeit des objektiven Zieles; aber sie lehrt uns gegenüber diesem Ziele unsere eigene, subjektive Verantwortung kennen.« 46
Entscheidend ist jedoch, dass auch Simmel die klassische Erzählung einer Fortschrittsgeschichte keineswegs durch die einer notwendigen Verfallsgeschichte ersetzt hat. 47 Im Aufsatz von 1911 mag die Rede von der sich in der Moderne radikal zuspitzenden Dialektik von Subjekt und Objekt zwar bisweilen wie eine Untergangs-Prophezeiung klingen; im Vortrag »Der Konflikt der modernen Kultur« von 1918 bezeichnet Simmel es hingegen als »ein ganz philiströses Vorurteil, daß alle Konflikte und Probleme dazu da sind, gelöst zu werden«. 48 Vielmehr gilt die tragische Situation auch für Simmel als Bedingung bzw. Stimulans eines fortwährenden Wandels der Kulturformen in
Vgl. ebd., 128. Ebd. 45 E. Cassirer: »Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie« [1939], in: ders.: Zur Logik der Kulturwissenschaften, 135–161 (Anhang), hier 161. 46 Ebd. 47 Vgl. dazu auch W. Geßner: Der Schatz im Acker. Georg Simmels Philosophie der Kultur. Velbrück Wissenschaft: Weilerswist 2003, 180 f. 48 G. Simmel: »Der Konflikt der modernen Kultur« [1918], in: GSG 16, 181–207, hier 206. 43 44
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der Geschichte, 49 in der sich das schöpferische Leben immer wieder an seinen zu festen Gebilden kristallisierten Formen bricht und neue, ihm (wieder) angemessene Formen hervorbringt: »Der fortwährende Wandel der Kulturinhalte, schließlich der ganzen Kulturstile, ist das Zeichen oder vielmehr der Erfolg der unendlichen Fruchtbarkeit des Lebens, aber auch des tiefen Widerspruchs, in dem sein ewiges Werden und Sich-Wandeln gegen die objektive Gültigkeit und Selbstbehauptung seiner Darbietungen und Formen steht, an denen oder in denen es lebt.« 50
Das Simmelsche Prinzip einer »Dialektik ohne Versöhnung« gibt den Fortgang der Kultur demnach nicht einem metaphysischen Pessimismus preis, sondern bestärkt vielmehr ebenfalls dessen prinzipielle Offenheit. 51 Für beide, Cassirer und Simmel, ist gerade das Motiv grundlegend, das große Unternehmen des Geistes aus den spekulativen Höhen der Metaphysik gleichsam zurück auf den Boden der konkreten Geschichte zu holen, auf dem sich Kultur als eine prinzipiell unendliche Aufgabe aktiver Sinnstiftung des Menschen in verantwortlicher Perspektive offenbart. 52 So liegt hierin auch die Pointe von Simmels Deutung des Schicksalsbegriffs: Als tragischer Held der Geschichte erscheint der Mensch nicht eigentlich deshalb, weil seine Lebensintentionen prinzipiell zum Scheitern verurteilt sind, sondern weil sich ihm die Lebensgestaltung überhaupt als Aufgabe stellt. Im Gegensatz einerseits zum Über-dem-Schicksal-Stehen Gottes und andererseits zum Unter-dem-Schicksal-Stehen des Tieres ist es laut Simmel gerade »das eigentlich Menschliche, unsere eigentliche Bestimmung […], im Schicksal zu stehen«. 53 »Denn in diesem [dem Schicksalsbegriff] spricht sich zu allererst die Assimilationskraft des menschlichen Wesens aus: daß sich in dieses als bestimVgl. M. Landmann: »Einleitung des Herausgebers«, in: G. Simmel: Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse, hg. von M. Landmann [1968]. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1987 (Neuausgabe), 7–29, hier 12. 50 G. Simmel: »Der Konflikt der modernen Kultur«, 184. Laut Simmel treibt letztlich auch in der Moderne das Leben »auf jenen typischen Kulturwandel hin, auf die Schöpfung neuer, den jetzigen Kräften angepaßter Formen« (ebd., 207). 51 M. Landmann: »Einleitung«, 16. 52 Eine Annäherung der beiden Denker über das Motiv der »unendlichen Aufgabe« schlägt auch Christian Möckel vor in: C. Möckel: »Georg Simmel und Ernst Cassirer. Anstöße für eine Philosophie der symbolischen Kulturformen«, in: Simmel Newsletter 6 (1996) 1, 31–43, hier 39. 53 G. Simmel: »Das Problem des Schicksals« [1913], in: GSG 12, 483–491, hier 490. 49
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Kultur als unendliche Aufgabe – Simmel, Cassirer und die Tragödie der Kultur
mende Elemente seines Lebens Geschehnisse einstellen, die zugleich sozusagen unbeirrt ihres objektiven Weges gehen, daß sie von der Subjektivität dieses Lebens einen Sinn, eine positive oder negative Zweckbedeutung bekommen, während andererseits eben dieses Leben von ihnen nach Richtung und Verhängnis bestimmt wird. Die Aktivität und die Passivität des Lebens in seinem tangentialen Verhältnis zu dem Weltlauf ist im Schicksalsbegriff zu einer Tatsache geworden.« 54
Was die Tragödie als Kunst-Form anhand des Schicksals ihres tragischen Helden in Reinheit darstellt, nämlich »daß das bloß Ereignishafte der Objektivität sich in das Sinnhafte einer individuellen Lebensteleologie wandele oder als solches enthülle«, erweist sich im konkreten Lebensprozess des Menschen als Aufgabe, die Widersprüche und Spannungen als Teil seines Weltverhältnisses zu begreifen und im Sinne fortwährender Kontingenzbewältigung aktiv zu gestalten. 55 In diesem Sinne muss, wie Simmel schon im Tragödien-Aufsatz explizit formuliert hat, Kultiviertheit immer schon als eine »im Unendlichen liegende Aufgabe« verstanden werden. 56 Wie aber der Einzelne diese Aufgabe auch unter modernen kulturellen Bedingungen noch annehmen und bewältigen kann, das hat Simmel tatsächlich radikal auf den Prüfstand gestellt. Es ist die Frage nach den Bedingungen der Tröstungsfähigkeit in der Moderne, 57 d. h. nach den Bedingungen der Möglichkeit in der modernen Kultur aktiv sinnbildend tätig zu sein, statt sich angesichts der fortschreitenden Differenzierung des objektiven Geistes als der »bloße Träger des Zwanges« 58 von Sachlogiken einem rein äußerlichen Schicksal passiv zu unterwerfen. Eine Frage, die endgültig einen radikalen Perspektivwechsel vom allgemein menschlich-geistigen Schicksal hin zum konkreten Schicksal des Individuums in der modernen Kultur erfordert, insofern die stetig wachsende Ausdifferenzierung des objektiven Geistes den Einzelnen in einem – im Vergleich zu vormodernen Zeiten – neuen Maß »auf sich zurückweist«. 59 Ebd., 485. Ebd., 490. 56 G. Simmel: »Der Begriff und die Tragödie der Kultur«, 401. 57 So sind wir laut Blumenberg »fast unfähig geworden, über das gewaltige Arsenal an Instrumenten für Trost und Vertröstung zu verfügen, das in der Geschichte der Menschheit angehäuft worden ist.« (H. Blumenberg: Beschreibung des Menschen, 628) 58 G. Simmel: »Der Begriff und die Tragödie der Kultur«, 411. 59 G. Simmel [Beitrag]: »Die Zukunft unserer Kultur« [1909], in: GSG 17, 79–83, hier 81. 54 55
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II.
Das Individuum als tragischer Held der Moderne?
II.1. Die humanistische Bildungsidee in der Krise Auch Cassirer hat diesen Perspektivwechsel Simmels wahr- sowie ernstgenommen und die Spannung zwischen Individualität und Allgemeinheit geradezu als Kern der Simmelschen Tragödien-Diagnose rekonstruiert: »Vertieft man sich in diese Seite des Problems, so gewinnt es damit erst seine volle Schärfe. […] Der Fortschritt der Kultur beschenkt die Menschheit mit immer neuen Gaben; aber das einzelne Subjekt sieht sich vom Genuß derselben mehr und mehr ausgeschlossen. […] Unter ihrer Mannigfaltigkeit und unter ihrem ständigen zunehmenden Gewicht sieht sich das Ich erdrückt. Es schöpft aus der Kultur nicht mehr das Bewußtsein seiner Macht, sondern nur die Gewißheit seiner geistigen Ohnmacht.« 60
Cassirers bekannter Vorwurf lautet, dass Simmel hier vermeintlich als Skeptiker auftritt, sich jedoch der Sprache des Mystikers bedient, der sich danach sehnt, »sich rein und ausschließlich in das Wesen des Ich« zu versenken, das damit letztlich doch substantialisiert und den Bildwelten der Kultur schlechthin gegenübergestellt wird. 61 Mit Verweis auf frühere Betrachtungen hält Cassirer dem entgegen, »daß die Scheidung zwischen ›Ich‹ und ›Du‹, und ebenso die Scheidung zwischen ›Ich‹ und ›Welt‹, den Zielpunkt, nicht den Ausgangspunkt des geistigen Lebens bildet. […] jene Verfestigung, die das Leben in den verschiedenen Formen der Kultur, in Sprache, Religion und Kunst erfährt, bildet alsdann nicht schlechthin den Gegensatz zu dem, was das Ich kraft seiner eigenen Natur verlangen muß, sondern sie bildet die Voraussetzung dafür, daß es sich selbst in seiner eigenen Wesenheit findet und versteht.« 62
Cassirers Antwort auf Simmel steht damit ganz im Zeichen der Verschränkung von Individualität und Allgemeinheit, wie sie die Idee der humanitas in der Tradition Humboldts, Herders und Goethes verkörpert: Dass sich das Allgemeine nur »in der Tat der Individuen« 63 aktualisieren und verwirklichen kann, gilt hier gerade als Charakteristikum menschlicher Kultur; die Möglichkeit gegenseitigen VerE. Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften, 110 (5. Studie). Vgl. ebd., 111–112. 62 Ebd., 122. 63 E. Cassirer: »Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie«, 151. 60 61
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Kultur als unendliche Aufgabe – Simmel, Cassirer und die Tragödie der Kultur
stehens ist das Zeugnis der »Ganzheit und der ungebrochenen Einheit des Menschengeschlechts«, 64 die in der Vielfalt der Individuen und Kulturen waltet. Entsprechend führt Cassirer in Antwort auf Simmel mit der Rede von der »Bildung der Menschheit« das humanistische Ideal einer Erziehung des Menschengeschlechts ins Feld, in welchem der Prozess der Selbstwerdung immer schon in den historischen Prozess des Werdens der Gattung aufgenommen ist. 65 Ihr Werden ist es, das sich in einer Kette der Individuen (Herder) vom Ich über das Werk zum Du (Cassirer) in einem steten Wechsel von Verfestigung und Verflüssigung vollzieht und somit zeigt, »welcher Lösung die Tragödie der Kultur fähig ist«, 66 wenn wir Kultur nicht primär als Medium der Höherbildung und Vollendung des Einzelnen, sondern als Medium gegenseitigen Verstehens begreifen: »Der Lebensprozeß der Kultur besteht eben darin, daß sie in der Schaffung derartiger Vermittlungen und Übergänge unerschöpflich ist«. 67 In diesem Sinne gibt Cassirer zwar den »dogmatischen Glauben an die ›Perfektibilität‹ des Menschen« 68 auf, hält jedoch nichtsdestotrotz an einem Ideal der Humanität im Sinne einer regulativen Idee fest, vor deren Horizont Kultur als »Prozeß der fortschreitenden Selbstbefreiung des Menschen« 69 bestimmbar bleibt, und zwar als unendliche Aufgabe der Menschheit als Ganzer, in deren Verantwortung jeder Einzelne steht. Damit soll, wie Cassirer in einem Aufsatz zu »Goethes Idee der Bildung und Erziehung« (1932) betont, ein ästhetisches Ideal der Humanität im Sinne Herders zuletzt dezidiert durch ein soziales Ideal der Humanität, wie es das späte Wirken Goethes kennzeichne, korrigiert werden: »Die Ganzheit, nach der jede Bildung streben muß, findet Ebd., 152. E. Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften, 132 (5. Studie). 66 Ebd., 114 f. 67 Ebd., 115. Damit wendet Cassirer gerade das positiv, was Simmel als vom Standpunkt des Individuums als problematisch ausgewiesen hatte, nämlich den Überschuss an Bedeutung, an dem sich die Tätigkeit eines anderen Subjekts entzünden kann; vgl. dazu auch R. Becker: »Paradigmen zu einer Dramaturgie der Kultur«, 167–170, der das Cassirersche Verständnis von »Kultur als ein kommunikatives Geschehen« (ebd., 176) herausarbeitet. 68 Ebd., 113. 69 E. Cassirer: Versuch über den Menschen, 345. Amat sieht darin, dass bei Simmel eine regulative Idee der Humanität keine systematische Rolle spielt, gerade einen wesentlichen Unterschied zu Cassirer (vgl. M. Amat: »La philosophie de la culture de Georg Simmel, un humanisme sans anthropologie?«, in: Alter – Revue de phénoménologie 23 (2015), 9–27, hier 16). 64 65
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ihre eigentliche Wirklichkeit nicht mehr im Individuum, sondern in der Gesamtheit«. 70 Dass Cassirers Antwort auf Simmel in eine Art Rehabilitierung der humanistischen Bildungsidee mündet, erscheint durchaus konsequent, lässt sich die Diagnose der Tragödie der Kultur doch als Diagnose einer grundsätzlichen Krise ebenjener Idee lesen. 71 So hatte Simmel selbst bereits in der Philosophie des Geldes die Diskrepanz zwischen subjektiver und objektiver Kultur in der Moderne explizit mit einem Wandel des Bildungsbegriffs in Verbindung gebracht: »Gewissermaßen faßt sich das Übergewicht, das die objektive über die subjektive Kultur im 19. Jahrhundert gewonnen hat, darin zusammen, daß das Erziehungsideal des 18. Jahrhunderts auf eine Bildung des Menschen, also einen persönlichen, inneren Wert ging, aber im 19. Jahrhundert durch den Begriff der ›Bildung‹ im Sinne einer Summe objektiver Kenntnisse und Verhaltensweisen verdrängt wurde.« 72
Dieser Wandel zeigt sich in der zunehmenden Fragmentarisierung des individuellen Lebens als Resultat einer Übertragung des »mechanischen Wesen[s] unserer Kulturprodukte« auf die Individuen selbst. 73 Während für Simmel das klassische Kunstwerk als das reinste Sinnbild der Seele als Totalität gilt, die die geistigen Inhalte auf ein persönliches Zentrum hin bezieht und in lebendiger Form organisiert, 74 korreliert die in der arbeitsteiligen Gesellschaft zunehmende Differenzierung zwischen Subjekt und Objekt sowohl auf der Ebene der Produktion als auch der Konsumption mit einer wachsenden Spezialisierung, die eine Bildung der Persönlichkeit als Ganzer zugunsten der einseitigen Ausbildung seelischer Kräfte vernachlässigt, die der »Form persönlicher Einheit« zuletzt entbehren. 75 Hier liegt für Simmel die Ursache des gemeinhin geteilten Eindrucks, »daß das Bedeutende in der gegenwärtigen Epoche nicht mehr durch die Individuen, sondern durch die Massen geschehe«. 76 E. Cassirer: »Goethes Idee der Bildung und Erziehung« [1932], in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 18: Aufsätze und kleinere Schriften (1932–1935). Meiner: Hamburg 2004, 127–147, hier 138. »Alle Bildung gleicht einem vielstimmigen Chor, in dem die Einzelstimme nur eine relative, eine mitwirkende Bedeutung hat.« (Ebd., 142 f.) 71 Dies betont schon F. Voigt: »Kultur und Bildung«, 187. 72 G. Simmel: Philosophie des Geldes, 621. 73 Ebd., 648. 74 Vgl. ebd., 647. 75 Ebd., 648; vgl. auch 628–630. 76 Ebd., 648. 70
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Vor diesem Hintergrund scheint das Urteil, dass sich »in Simmels Bildern einer ›Tragödie der Kultur‹ die Kränkungen einer bildungsbürgerlich-intellektuellen Weltverfügung durch den steigenden Einfluss der Massen« ausdrücken, zwar zutreffend. 77 Entscheidend ist jedoch, dass Simmel selbst dabei nicht als Ankläger oder gar Anwalt jenes Bildungsbürgertums auftritt, sondern anhand der Krisenphänomene in erster Linie aufzuzeigen sucht, dass sich Fragen der Aneignung bzw. individuellen Teilhabe am objektiven Geist unter modernen Bedingungen auf radikal neue Art und Weise stellen. Wenn Simmel konstatiert, dass der »Subjektivismus des modernen Individuallebens […] nichts als der Ausdruck dafür [ist], daß diese unabsehbar ausgedehnte, komplizierte, verfeinerte Kultur der Dinge, der Institutionen, der objektiven Gedanken dem Einzelnen die innerlich einheitliche Beziehung zu dem Kulturganzen nimmt und ihn wieder auf sich zurückweist«, 78 dann stellt er sich nicht schon selbst auf die Seite dieses Subjektivismus, sondern sucht vielmehr dessen Bedingungen offenzulegen. Dafür verweist er auf die allgegenwärtige Vielheit der Stile, die das moderne Kulturleben durchweg bestimmt und grundsätzlich von dem früherer Epochen unterscheidet, in denen der objektive Geist in seiner inhaltlichen Überschaubarkeit noch eine einheitliche Struktur besaß. 79 Es ist der moderne »unvermeidliche[] Mangel eines einheitlichen Stiles«, 80 der einerseits zwar eine neue Stufe individueller Freiheit markiert, sich aber zugleich als deren potentielle Begrenzung erweist: Die spezifisch moderne Möglichkeit, einen individuellen Lebensstil auszubilden, 81 der den einzelnen Inhalten des Lebens eine einheitliche Form gibt, stellt sich erst angesichts eines Angebots von verschiedenen Stilen, aus denen das Individuum wählen kann, 82 zugleich aber droht es infolge allgemeiner Orientierungslosigkeit an der Unmöglichkeit zu scheitern, die Inhalte des unerschöpflichen objektiven Geistes zu assimilieren und zu geK.-S. Rehberg: »Tragödie der Kultur«, in: H.-P. Müller und T. Reitz (Hg.): SimmelHandbuch. Begriffe, Hauptwerke, Aktualität. Suhrkamp: Berlin 2018, 566–572, hier 568. 78 G. Simmel: »Die Zukunft unserer Kultur«, hier 81. 79 Vgl. G. Simmel: Philosophie des Geldes, 641; G Simmel: »Die Zukunft unserer Kultur«, 81. 80 G Simmel: »Die Zukunft unserer Kultur«, 81; vgl. dazu auch G. Simmel: Philosophie des Geldes, 659 im Sinne einer »generelle[n] Form des Individuellen«. 81 Vgl. G. Simmel: Philosophie des Geldes, Kapitel 6: Der Stil des Lebens. Den Stil bestimmt Simmel »als generelle Formung des Individuellen« (ebd., 659). 82 Vgl. ebd., 642. 77
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stalten. Simmels Diagnose einer Krise der klassisch-humanistischen Bildungsidee ist damit primär Ausdruck eines neuartigen Problembewusstseins: In Kontrast zu dem, was »dem Genius und den begnadeten Epochen gelingt«, nämlich »daß der Schöpfung durch das von innen quellende Leben eine glücklich harmonische Form wird«, 83 die allgemein stilbildend wirkt und somit die objektive Kultur als Ganze zu prägen imstande ist, kann die Tragödie der Kultur als Tragödie des einfachen, konkreten Individuums reformuliert werden, das sich angesichts eines fehlenden einheitlichen Bezugsrahmens in der Moderne als freies Individuum bewusst wird, aber daran zu verzweifeln droht, diese Freiheit auszufüllen. 84 Hierzu war jedoch die Tragödien-Diagnose keinesfalls Simmels letztes Wort. Vielmehr hatte er sich schon im Jahr 1909 zu einer Umfrage, wie die zukünftige Kulturentwicklung bewusst gefördert werden könne, konstruktiv geäußert: »Es käme etwa darauf an, in den Mittelpunkt unserer Schulbildung […] diejenigen Kategorien zu stellen, die den Schüler auf die Aufnahme der ihn erwartenden Kulturwelt vorbereiten. […] Unsere Jugend ist darauf eingestellt, den peloponnesischen Krieg mit dem zweiten punischen zu vergleichen […], vielleicht auch über die Reihenfolge der Platonischen Dialoge Auskunft zu geben. Aber für die Aneignung und Verarbeitung der […] Kulturwerte der Gegenwart […] – dafür fehlen ihr die Handhaben. Keine Kulturpolitik kann jene tragische Diskrepanz zwischen der unbegrenzt vermehrbaren objektiven und der nur sehr langsam zu steigernden subjektiven Kultur beseitigen; aber sie kann an ihrer Minderung arbeiten, indem sie die Individuen befähigt, die Inhalte der objektiven Kultur, die wir erleben, besser und schneller als bisher zum Material der subjektiven zu machen, die schließlich allein den definitiven Wert jener trägt.« 85
1909 spricht Simmel also ausdrücklich von der Möglichkeit einer Minderung der bereits hier als tragisch betitelten Diskrepanz zwischen subjektiver und objektiver Kultur, und zwar durch eine den
G. Simmel: »Der Wandel der Kulturformen« [1916], in: GSG 13, 217–223, hier 218. 84 Hier zeigt sich die grundlegende Dialektik des Freiheitsbewusstseins, wie sie Simmel schon in der Philosophie des Geldes formuliert hatte: »Wie Freiheit nichts negatives ist, sondern die positive Erstreckung des Ich über ihm nachgebende Objekte, so ist umgekehrt Objekt für uns nur dasjenige, woran unsere Freiheit erlahmt, d. h. wozu wir in Beziehung stehen, ohne es doch unserem Ich assimilieren zu können« (G. Simmel: Philosophie des Geldes, 638). 85 G. Simmel: »Die Zukunft unserer Kultur«, 82 f. 83
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modernen Kulturbedingungen angemessene Erziehung der Individuen. Isoliert man demgegenüber den Aufsatz von 1911, so ließe er sich womöglich wie eine pessimistische und resignierende Einsicht lesen, die den Rückzug in eine reine Innerlichkeit als einzigen Ausweg propagiert. 86 Es sind jedoch die darauffolgenden Jahre, in denen Simmel seine Überlegungen zur Wechselwirkung von Individualität und Allgemeinheit abermals intensiviert und in denen er Vorlesungen zur Schulpädagogik hält, die jene schon 1909 eingeforderte Befähigung der Individuen konkretisieren. Entgegen der Sehnsucht, »daß das Leben rein bei sich selbst« bleibt, die laut Simmel den modernen Individualismus bestimmt und sich als »Originalitätssucht« äußert, stehen diese Überlegungen im Zeichen des Versuchs Individualität neu – das heißt den Bedingungen des modernen Kulturbewusstseins angemessen – zu denken. 87
II.2. Simmels Individualismus der Unvertretbarkeit 88 Schon in einem frühen Aufsatz von 1901 unterscheidet Simmel zwischen einem quantitativen und einem qualitativen Individualismus. Während das 18. Jahrhundert unter der Voraussetzung formaler Freiheit von institutionellen Zwängen in jedem Individuum den »allgemeinen Menschen« entdeckt habe, finde die arbeitsteilige Gesellschaft des 19. Jahrhunderts ihr Ideal in der »Verschiedenheit des Menschlichen«. 89 Das Individuum als Realisierung des AllgemeinEine solche Lesart hält sich mitunter bis heute: So bleibt laut Friedemann Voigt mit Simmel »nur der Bereich der Kunst als Refugium, ansonsten eine Zurückhaltung von der Welt« (F. Voigt: »Kultur und Bildung«, 192). Die These, dass Cassirer »Simmels romantischem und nicht unsentimentalen Leiden einer schönen Seele eine weltzugewandte, verantwortungsethische Entsagung entgegen« (ebd., 195) setzt, entwickelt Voigt anhand der Goethe-Rezeption und den sich darin zeigenden Bildungsideen der beiden Denker, berücksichtigt jedoch nicht Simmels Idee des »individuellen Gesetzes« oder seine Vorlesungen zur Schulpädagogik. 87 G. Simmel »Der Konflikt der modernen Kultur«, 195 f. 88 Die Überlegungen dieses Unterkapitels habe ich, in vergleichender Perspektive zum Individualitätskonzept sowie zur Erziehungstheorie John Deweys, bereits ausgeführt in H. Koenig: »Enabling the Individual: Simmel, Dewey and ›The Need for a Philosophy of Education‹«, in: Simmel Studies 23 (2019) 1: Simmel as Educator (Special Issue), 109–146; vgl. insbes. 118–139. 89 G. Simmel: »Die beiden Formen des Individualismus« [1901], in: GSG 7, 49–56, hier 52 f. 86
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begriffs Mensch, der schlechthin als freies und eigenverantwortliches Individuum auftritt, 90 steht hier dem Individuum gegenüber, das ein »besonderes Idealbild seiner selbst, das keinem anderen gleich ist, zu verwirklichen« 91 hat, sich also über ein qualitatives Einzig- und Anderssein definiert. Diese Spannung zwischen Gleichheit und Ungleichheit der Individuen greift Simmel 1910 in einem Vortrag wieder auf und spricht von dem Streben der Moderne, die beiden Ideale »zur Ausgleichung« 92 zu bringen. Simmel hält jedoch dagegen: »Lieber aber möchte ich glauben, daß die Idee der schlechthin freien Persönlichkeit und die der schlechthin einzigartigen Persönlichkeit noch nicht die letzten Worte des Individualismus sind; daß vielmehr die unabsehliche Arbeit der Menschheit immer mehr, immer mannigfaltigere Formen aufbringen wird, mit denen die Persönlichkeit sich bejahen und den Wert ihres Daseins beweisen wird.« 93
Ich möchte mich der Interpretation anschließen, dass sich Simmels Versuch, eine Alternative zu diesen beiden Individualismus-Formen aufzuzeigen, im »individuellen Gesetz« manifestiert, 94 das zwar zuerst als ästhetisches Konzept formuliert und schließlich als ethisches Konzept entfaltet wird, das aber für die Lebens- und Kulturphilosophie Simmels insgesamt ein Schlüsselkonzept darstellt. 95 Simmels Grundmotiv besteht darin, das Sollen nicht in Form eines allgemeinen Gesetzes dem Leben gegenüberzustellen, sondern es als Modus des Lebensprozesses selbst zu begreifen, als »Idealsphäre des gesamten personalen Lebens«, sofern jede einzelne sittliche
Vgl. ebd., 51. Ebd., 53. 92 G. Simmel: »Der Individualismus der modernen Zeit«, in: GSG 20, 249–258, hier 257. 93 Ebd. 94 Vgl. K. C. Köhnke: »Simmel ohne Landmann?«, 261. Efraim. Podoksik spricht zudem explizit von drei Formen des Individualismus bei Simmel (vgl. E. Podoksik: »Georg Simmel: Three Forms of Individualism and Historical Understanding«, in: New German Critique 37 (109) 1, 119–145). 95 Vgl. dazu M. Amat: »Simmel’s Law of the Individual: A Relational Idea of Culture«, in: Simmel Studies 22 (2017) 2, 41–72 sowie W. Geßner: Der Schatz im Acker, 224–232. Das »individuelle Gesetz« taucht schon 1902 im Aufsatz »Rodins Plastik und die Geistesrichtung der Gegenwart« auf; 1913 erscheint in der Zeitschrift Logos ein Aufsatz zum Titel »Das individuelle Gesetz. Ein Versuch über das Prinzip der Ethik«, der teils wortidentisch in das 4. Kapitel des Spätwerks Lebensanschauung (1918) eingegangen ist. 90 91
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Pflicht »in der Totalität des jeweiligen Lebens« wurzelt. 96 Entscheidend ist jedoch, dass damit keineswegs einem Subjektivismus stattgegeben werden soll. Vielmehr sieht Simmel in der Idee des individuellen Gesetzes »eine viel radikalere Objektivität gegeben« als jedes allgemeine Gesetz leisten könne, insofern das Individuum sich dem Gebotenen gerade nicht unter Berufung auf einen rein subjektiven Standpunkt entziehen könne. 97 Tatsächlich versucht Simmel gerade die »falsche Verwachsung zwischen Individualität und Subjektivität« 98 aufzulösen, um von der »Objektivität des Individuellen« sprechen zu können: »Die sittliche Forderung scheint für ihre Sanktion an die Entscheidung gewiesen: entweder ist sie das, was sich im subjektiven Bewußtsein, in der persönlich gewissensmäßigen Entscheidung als gesollt darstellt; oder sie kommt vom Objektiven her, von einer überindividuellen, aus ihrem sachlich-begrifflichen Gefüge Gültigkeit ziehenden Satzung. Dieser Wahl gegenüber glaube ich, daß es ein Drittes gibt: das objektive Sollen eben dieses Individuums, die aus seinem Leben heraus an sein Leben gestellte Forderung, die prinzipiell unabhängig davon ist, ob es selbst sie richtig erkennt oder nicht.« 99
Simmel schlägt sich damit ausdrücklich nicht auf die Seite eines qualitativen Individualismus: »Nicht um die Einzigkeit, sondern um die Eigenheit, in deren Form jedes organische Leben und zunächst das seelische verläuft, handelt es sich, um das Wachsen aus eigener Wurzel.« 100 Das individuelle Gesetz steht gleichsam jenseits der Kategorien der Gleichheit bzw. Ungleichheit der Individuen, ist der eigenschaftlichen Vergleich- bzw. Unvergleichbarkeit gegenüber gleichgültig. Weiter darf auch Simmels Rede vom Wachsen aus eigener Wurzel nicht missverstanden werden. Das individuelle Gesetz ist kein ursprüngliches festes und starres Ideal, gemäß welchem sich das Leben bloß im wörtlichen Sinne zu ent-wickeln hätte. Simmel verweist vielmehr auf die »vitale Bewegtheit des Gesetzes selbst«, 101 für das das Individuum Verantwortung trägt: »[D]enn es gilt für uns nur, weil G. Simmel: Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel [1918], in: GSG 16, 209–425, hier 383, 382. 97 Ebd., 382 f. 98 Ebd., 410. 99 Ebd., 408. 100 Ebd., 414 f. 101 G. Simmel: »Das individuelle Gesetz. Ein Versuch über das Prinzip der Ethik« [1913], in: GSG 12, 417–470, hier 441. 96
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wir diese bestimmten sind, deren Sein sich durch jede geschehene Tat irgendwie modifiziert und damit das ihm stetig entfließende Sollensideal selbst in jedem Augenblick modifiziert.« 102 Das Sollensideal ist damit immer schon von den objektiven Sinnzusammenhängen geprägt, in deren Kontext das Individuum seine Erfahrungen sammelt; es nimmt »alle möglichen, ihm äußeren Verkettungen auf […]; denn alle sozialen und schicksalsmäßigen, alle vernunfthaften und religiösen, alle aus den tausend Bedingungen der Umwelt stammenden Bedingungen, Aufforderungen, Impulse wirken ja auf dies Leben selbst ein; gemäß der Füllung und Formung, die das Leben von ihnen erfährt, bestimmt sich jeweils seine Pflicht.« 103
Das individuelle Gesetz speist sich folglich aus zwei Bezugssystemen, die Simmel 1916 im Logos-Aufsatz »Der Fragmentcharakter des Lebens« als Lebenstotalität und Welttotalität einander gegenüberstellt: Einerseits aus der Totalität des individuellen Lebens im Sinne einer Ganzheit und Einheit der »kontinuierlichen Strömung von Inhalten« 104 über den zeitlichen Lebensprozess hinweg, in dem jeder Teil Ausdruck des Ganzen, des »unbeschreibliche[n] Stil[s] und Rhythmus einer Persönlichkeit« 105 ist; andererseits aus der Welttotalität bzw. den Welttotalitäten im Plural, insofern in jedem Gebiet der Kultur die »prinzipielle Unendlichkeit möglicher Inhalte« wie um ein ideelles Zentrum herum organisiert wird und zu einer Welt je besonderen Charakters zusammenwächst. 106 Vor diesem Hintergrund spricht Simmel vom Fragmentcharakter des geistigen Lebens: »Indem unsere Lebensinhalte gewissermaßen zwischen das Leben als solches und die ideelle Totalität von Welten gestellt sind, werden sie zu Fragmenten. […] Das Leben ist Vollständigkeit und jede Welt ist Vollständigkeit; aber wo sie sich schneiden, umgrenzen die Schnittflächen ein Fragment – ein Fragment ebenso des Lebens wie eines der Welt.« 107
Und genau in diesem spannungsvollen Zwischen der Lebenstotalität auf der einen und den Welttotalitäten auf der anderen Seite wohnt die G. Simmel: Lebensanschauung, 420. Ebd., 404 f. 104 G. Simmel: »Der Fragmentcharakter des Lebens. Aus den Vorstudien zu einer Metaphysik« [1916], in: GSG 13, 202–216, hier 215. Dieser Aufsatz ist in Teilen wortidentisch mit dem 2. Kapitel der Lebensanschauung. 105 G. Simmel: Lebensanschauung, 424. 106 Ebd., 238. 107 G. Simmel: »Der Fragmentcharakter des Lebens«, 215, 216, Hvh. H. K. 102 103
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Idee der Bildung bzw. Kultivierung des Ich, das sein Leben gleichsam diesseits beider als Einheit führen muss. 108 Um all die skizzierten Aspekte zusammenzubringen, könnte man entsprechend – ein Wort von Simmel selbst aufgreifend 109 – von einem Individualismus der Unvertretbarkeit sprechen. Denn Individualität bedeutet hier weder ein unvergleichbares Was einzigartiger persönlicher Eigenschaften, noch ein subjektivistisches Wer, das im Sinne einer festen und unwandelbaren Identität der objektiven Welt schlechthin gegenübersteht, sondern ein unvertretbares Wie der Lebensführung – und zwar in der konkreten Situiertheit zwischen Lebens- und Welttotalität – als Prozess der Bewältigung von sich immer wieder neu formierenden Subjekt-Objekt-Verhältnissen. 110 Oder wie Simmel es 1917 formuliert: »[I]mmer bedeutet die undefinierbare Lebensbestimmtheit, die wir Individualität nennen, daß ein Wesen beide in Eins zusammenlebt: die innere Zentriertheit, Eigenweltlichkeit, das sich genügende Selbst-Sein – und das positive oder negative, sich angleichende oder sich abhebende Verhältnis zu einem Ganzen, dem das Wesen zugehört.« 111
108 »[W]ie dieser Lebensprozeß seine Inhalte von sich sondert, wie sie eine Bedeutung jenseits ihres dynamisch-realen Erlebtwerdens erhalten, so entläßt er aus sich, gleichsam auf seiner anderen Seite, das Ich, das sich, in gewissem Sinn uno actu mit den Inhalten, aus ihm herausdifferenziert und sich damit auch von den Inhalten […] als eine besondere Bedeutung und Wert, Existenz und Forderung ablöst. Je mehr wir erlebt haben, desto entschiedener markiert sich das Ich als das Eine und Kontinuierende in allen Pendelschwingungen des Schicksals und des Weltvorstellens« (G. Simmel: Lebensanschauung, 312). 109 »Wird dieser Sinn der Individualität, der nicht etwa eine eigenschaftliche Unvergleichbarkeit bezeichnet, nicht zugegeben: die Erzeugung der Pflicht aus dem unvertretbaren, unverwechselbaren Einheitspunkt oder, was hier dasselbe ist, der Ganzheit des lebendigen Ich – so sehe ich nicht, wie es zu der eigentlichen Verantwortung, also dem Innerlichsten des ethischen Problems, kommen sollte« (ebd., 405; Hvh. H. K.). 110 Vgl. zur Bestimmung von Individualität als »performativ verstehbares ›Wie‹ der jeweiligen Lebensführung« auch N. Ricken: »Individualität«, in: C. Wulf, J. Zirfas (Hg.): Handbuch Pädagogische Anthropologie, Springer VS: Wiesbaden 2014, 559– 566, hier 564; auf Simmel wird hier jedoch nicht verwiesen. 111 G. Simmel: »Individualismus« [1917], in: GSG 13, 299–306, hier 300. Diese Stelle hebt auch Olli Pyyhtinen (O. Pyyhtinen: »Ambiguous Individuality: Georg Simmel on the ›Who‹ and the ›What‹ of the Individual«, in: Human Studies 31 (2008) 3, 279– 298, hier 284) hervor, interpretiert das individuelle Gesetz jedoch als Kern von »Simmel’s version of qualitative individualism« (ebd., 287); vgl. dazu auch H. Koenig: »Enabling the Individual«, 125–127.
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Das Individuelle ist von jenem Verhalten zur Welt (Welttotalität) und zu sich selbst (Lebenstotalität) nicht zu trennen – man könnte sagen: es ist jenes Sich-Verhalten selbst. Das Gefühl der Entfremdung in der modernen Kultur lässt sich vor diesem Hintergrund als Fragmentarisierung der Persönlichkeit beschreiben, insofern das Ich in der höchsten Spannung zwischen Lebens- und Welttotalität nicht mehr ohne weiteres in der Lage scheint, die fragmentarischen Inhalte zur Ganzheit der Welt oder der seines Lebens adäquat in Beziehung zu setzen und sich als Einheit zu konstituieren. In der Folge schwankt der Lebensvollzug gleichsam zwischen erdrückender Nähe und isolierender Distanz, zwischen Ausbremsung und Beschleunigung, erscheint mitunter mechanisch und de-rhythmisiert – kurz: dem Leben fehlt ein einheitlicher Stil, der, zwischen Lebens- und Welttotalität vermittelnd, die einzelnen Fragmente in sich zusammenhält. Hieraus erwächst die Herausforderung moderner Pädagogik, wenn sie den Schüler – wie Simmel in seinen Vorlesungen zur Schulpädagogik fordert – »zur geistigen Beherrschung des Lebens, das er lebt«, 112 erziehen will, sich also gleichsam als Erziehung zur Lebensführung versteht: »[W]enn sich das rein dem Triebe folgende Ichleben zu einem Weltleben entwickelt, d. h. wenn eine Einwanderung des Ich in die Welt erfolgt, die nicht äußerlich ist, sondern rein das Leben des Ich bedeutet, das die Welt und ihre Tatsachen und Forderungen in sich selbst einbezieht, indem es in diese einbezogen wird. Dann wird der auf dieser Stufe gewonnene Rhythmus […] wieder als ein Leben empfunden. Dies vorzubereiten ist die sehr schwere Aufgabe der Pädagogik«. 113
Entsprechend bestärkt Simmel, dass nach einem lange vorherrschenden Objektivismus und Passivismus die pädagogische Tendenz seiner112 G. Simmel: Schulpädagogik, in: GSG 20, 311–472, hier 434. Hierbei handelt es sich um Vorlesungen, die Simmel im Wintersemester 1915/1916 in Straßburg hielt und deren Manuskripte, die ursprünglich nicht für den Druck bestimmt waren, 1922 posthum veröffentlicht wurden (vgl. die Vorrede des Herausgebers, 313). Zur Rezeptionsgeschichte vgl. M. Amat: Le relationnisme philosophique de Georg Simmel. Une idée de la culture. Honoré Champion Éditeur: Paris 2018, 267 ff., dem das Verdienst zukommt, die zentrale Bedeutung Simmels pädagogischer Überlegungen für sein Programm relationaler Philosophie herausgestellt zu haben; und zwar mehr als 25 Jahre nach den Pionierarbeiten von Stefan Danner (vgl. S. Danner: Georg Simmels Beitrag zur Pädagogik. Klinkhardt: Bad Heilbrunn 1991) und D. N. Levine (vgl. D. N. Levine: »Simmel as Educator: On Individuality and Modern Culture«, in: Theory, Culture & Society 8 (1991), 99–117). 113 G. Simmel: Schulpädagogik, 147.
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zeit ihren Fokus zu Recht auf die »Anerkennung der Individualität des Schülers« und die »Belebung der Selbsttätigkeit« setze, 114 jedoch ohne damit in einen Subjektivismus umzuschlagen. Gegenüber einem »radikalen Entweder-Oder« 115 soll die pädagogische Praxis vielmehr ein Drittes ermöglichen: »Denn Bildung ist weder das bloße Haben von Wissensinhalten, noch das bloße Sein als eine inhaltslose Verfassung der Seele. Gebildet ist vielmehr derjenige, dessen objektives Wissen eingegangen ist in die Lebendigkeit seiner subjektiven Entwicklung und Existenz, und dessen geistige Energie andrerseits mit einem möglichst weiten und immer wachsenden Umfang von an sich wertvollen Inhalten erfüllt ist.« 116
Vor diesem Hintergrund fordert Simmel, dass »der Unterricht hinsichtlich der Subjekte mehr und mehr dahin streben soll, den Schüler als Einheit und Ganzheit zu erfassen, als ein Leben in all seinen Leistungen, die nicht als Sondergebiete von ihm zu trennen sind«. 117 Der Unterricht soll sich in die Persönlichkeit des Schülers senken, 118 damit »von jedem Lehrinhalt ein befruchtender Strom in die ganze Lebensbreite geht«. 119 Dabei gilt es zugleich, die Einheit der objektiven Sinnzusammenhänge, d. h. die einzelnen Lehrinhalte stets »in die Tiefe und Allgemeinheit zu verfolgen, den philosophischen Weg zu gehen, […] die Richtungen zu zeigen, in die das philosophische Senkblei, von der Oberfläche weg, ausgeworfen werden kann«. 120 Die Pädagogik findet ihre Aufgabe demnach in der Vermittlung einer lebendigen Beziehung zwischen dem ganzheitlichen Entwicklungsprozess des Schülers und der Ganzheit objektiver Lehrinhalte, zwischen Lebensund Welttotalität, für die ein Senken in die Tiefen und Weiten einerseits des individuellen Lebens und andererseits des objektiven Geistes notwendig ist: »Das von der Pädagogik herzustellende Verhältnis von Lehrstoff und Menschenbildung ist darzustellen als das zwischen objektivem Geist und Leben«. 121 Ebd., 332. Ebd., 336. 116 Ebd., 355. 117 Ebd., 428. 118 Vgl. ebd., 350. 119 Ebd., 356. 120 Ebd., 435. »Das Wort Philosophie braucht dabei gar nicht zu fallen. Die philosophische Propädeutik ist dazu weniger geeignet, als jedes beliebige Fach« (ebd.); »jede Stunde soll in philosophischem Geiste gegeben werden« (ebd., 354). 121 Ebd. 334. Im Rahmen der Thematisierung verschiedener Aspekte der Unterrichts114 115
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Wenn wir moderne Pädagogik in Anschluss an Simmel als »Erziehung zum individuellen Gesetz« 122 bezeichnen wollen, so meint dies also keinesfalls eine Erziehung zur bloßen Entfaltung einer ursprünglichen Innerlichkeit (qualitativer Individualismus), sondern eine Erziehung gleichsam zur Individualität, die man mit Norbert Ricken als Anforderung verstehen kann, angesichts der Pluralität der Lebensstile in der Moderne »der eigenen Nichtvertretbarkeit bzw. -hintergehbarkeit Rechnung zu tragen, ohne diese in Ursprünglichkeit wenden zu können«. 123 Gleichzeitig liegt hierin auch die Abkehr vom klassischen Bildungsideal, als der Verwirklichung eines schlechthin universell Allgemeinen im Individuum (quantitativer Individualismus), beschlossen: Zwar folgt Simmels Definition von Kultur als Weg der Seele zu sich selbst im Sinne ihrer Höherbildung und Vollendung, wie auch Habermas betont, noch uneingeschränkt »dem von Herder über Humboldt bis Hegel maßgeblichen expressivistischen Bildungsideal«, 124 das sein telos in der Vervollkommnung des individuellen Lebens vor dem Horizont eines Menschheitsideals findet. Mit Blick auf das individuelle Gesetz bestärkt Simmel jedoch, dass es mißverständlich wäre, dieses »als ›Vollendung der eigenen Persönlichkeit‹ zu bezeichnen […], da die hier erfragte Sanktion überhaupt nicht von einem terminus ad quem, sondern nur von einem terminus a quo, von dem mit dem Leben selbst vorschreitenden Ideal seiner selbst kommen kann«. 125 Spricht Simmel 1908 noch ausdrücklich von der Teleologie der menschlichen Seele, 126 nennt er den Menschen 1918 »das am wenigsten teleologische Wesen«, dessen »Freiheit […] nicht Lösung vom terminus a quo, sondern vom terminus ad quem« bedeugestaltung (Tempo, Stoffauswahl, Unterrichtsstil und -klima, Fächerwahl) bringt Simmel im Laufe seiner Vorlesungen vielfältige Ideen ins Spiel, die aus heutiger Sicht stark an reformpädagogische Konzepte anklingen: z. B. fächerübergreifender Unterricht (vgl. ebd., 322 f.), genetisches Lernen (vgl. ebd., 323 f.), Lebensweltbezug und Individualisierung des Unterrichts (vgl. ebd., 339), exemplarisches Lernen (vgl. ebd., 347), entdeckendes Lernen (vgl. ebd. 367). 122 So formuliert es A. Schlitte: »Bildung und Kultur bei Georg Simmel«, in: M. Spieker u. K. Stojanov (Hg.): Bildungsphilosophie. Disziplin – Gegenstandsbereich – Politische Bedeutung. Nomos: Baden Baden 2017, 213–227, hier 223. 123 N. Ricken: »Individualität«, 564. 124 J. Habermas: »Simmel als Zeitdiagnostiker« (Nachwort), in: G. Simmel: Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne. Gesammelte Essais. Verlag Klaus Wagenbach: Berlin 1983, 243–253, hier 247. 125 G. Simmel: Lebensanschauung, 420. 126 G. Simmel: »Vom Wesen der Kultur« [1908], in: GSG 8, 363–373, hier 366 f.
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tet. 127 Während also Cassirer die klassische Bildungsidee zu rehabilitieren sucht, indem er an die Stelle eines ästhetischen einen ethischen Humanismus setzt, womit Ganzheit nicht länger unter dem Vorzeichen eines »Ideals der Höhe« im Sinne einer Vollendung des Einzelnen, sondern eines »Ideals der ›Mitte‹« im Horizont eines Fortschritts der Menschheit gedacht wird, 128 sucht Simmel Ganzheit grundsätzlich von dem Gesichtspunkt der Perfektibilität zu lösen und im Horizont der Idee ganzheitlicher Lebensführung zu denken. Die Frage nach den Bedingungen von Bildung im Sinne der Aneignung bzw. Teilhabe am Schatz des objektiven Geistes wird damit konsequent als Frage nach den Gelingensbedingungen ganzheitlicher Lebensführung in der Moderne reformuliert, die ihr Ideal im individuellen Gesetz findet. Simmels Emphase für die Pädagogik liegt dann zwar nicht in dem Versprechen einer Auflösung der Kultur-Tragödie, aber in der Befähigung zu ihrer Bewältigung: Und zwar im Sinne einer unendlichen Aufgabe, die sich dem modernen Individuum stellt, das die Aufklärung als schlechthin frei und selbstverantwortlich aus sich entlassen hat, das sich aber nicht mehr ohne weiteres auf ein allgemeines Humanitätsideal berufen kann. Simmels Betonung der Unvollkommenheit von Erziehung 129 verweist vielmehr auf eine Öffnung zur Kontingenz und sucht nach Möglichkeiten der Kontingenzbewältigung. Landmanns Kennzeichnung vom Prinzip der Philosophie Simmels als »Dialektik ohne Versöhnung« bewahrt auch hier ihre volle Gültigkeit. Doch liegt die Konsequenz angesichts der prinzipiellen Unmöglichkeit vollkommener Synthese nicht in der Resignation, sondern findet auf Basis der uneingeschränkten Anerkennung der Widersprüchlichkeit des Lebens ihr Ideal im steten Versuch, im Zuge 127 G. Simmel: Lebensanschauung, 250, 251. »Und frei sind wir in dem idealen Reiche, vor dem die Teleologie endet« (ebd. 250). 128 E. Cassirer: »Goethes Idee der Bildung und Erziehung«, 142. »Alle Erziehung und Bildung soll das Individuum auf eine bestimmte Mitte hinweisen und in ihr klar und sicher erhalten. Statt den einzelnen durch die grenzenlose Fülle des geistigen Seins zu führen, soll sie ihn lehren, sein inneres Maß zu erkennen und zu bewahren.« (Ebd., 141) Entscheidend ist, dass das »Ideal der Mitte« laut Cassirer nicht von ›außen‹ kommt, sondern eine Form der Selbst-Begrenzung ist, die keine Hemmung, sondern »Zentrierung« der individuellen Kräfte bedeutet (vgl. ebd., 140 f.); dies erscheint durchaus anschlussfähig an Simmels Idee des »individuellen Gesetzes«. 129 »Erziehen pflegt unvollkommen zu sein, weil es mit jedem einzelnen seiner Akte zwei entgegengesetzten Tendenzen zu dienen hat: dem Befreien und dem Binden« (G. Simmel: »Aus dem nachgelassenen Tagebuche«, 282).
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der Lebensführung Stabilitäten und Vermittlungen zu schaffen – auch wenn diese immer nur provisorisch sein können und wesentlich unvollkommen bleiben.
III. Tragik der Philosophie? Kulturphilosophie als Aufgabe Bis hierhin sollte deutlich geworden sein: Aus der Cassirer-SimmelKonstellation ist nicht viel zu gewinnen, wenn man ihre Positionen als Kulturoptimismus bzw. -pessimismus zuspitzt und gegeneinander ausspielt. Vielmehr lässt sich Cassirers Auseinandersetzung mit Simmel als Zeugnis des Ringens um ein den modernen Bedingungen angemessenes Problembewusstsein verstehen, bei dem es letztlich nicht nur um die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Kultur bzw. individueller Kultivierung, sondern auch um die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit modernen Philosophierens überhaupt geht. Hier entfaltet die These von der Tragödie der Kultur noch einmal ihre volle Schärfe: Denn wenn sich uns, sowohl als Menschen als auch als Individuen, das Streben nach Einheit und Ganzheit angesichts der Widersprüchlichkeiten und Mehrdeutigkeiten des Lebens als unendliche Aufgabe offenbart, was bedeutet das dann für die Philosophie, deren Tätigkeit doch gerade darin besteht, »die Einheit zu gewinnen, deren der Geist gegenüber der unermeßlichen Vielheit, dem Bunten, Zerrissenen, Unversöhnten der Welt bedarf«? 130 Wenn man den Philosophen laut Simmel »als denjenigen bezeichnen [kann], der das aufnehmende und reagierende Organ für die Ganzheit des Seins hat«, 131 enthüllt er sich unmittelbar als ein dritter möglicher Protagonist der Tragödie der Kultur, der vor der Herausforderung steht, Möglichkeiten ihrer Bewältigung zu finden. Cassirer wird – wie eingangs bereits angeführt – mitunter das Verdienst zugesprochen, »in seiner Kritik an Simmels lebensphilosophischen Denkvoraussetzungen, […] das Profil der Kulturphilosophie derart markant herausgearbeitet [zu haben], daß sie auch später noch, nachdem diese Anfänge schon vergessen schienen, als eigenständige Disziplin wahrnehmbar blieb«. 132 Bemerkenswert ist jedoch, dass Simmel selbst sich mit den zeitgenössischen Ansätzen einer Me130 131 132
G. Simmel: Hauptprobleme der Philosophie, 35. Ebd., 16. R. Konersmann: Kulturphilosophie zur Einführung. Junius: Hamburg 2003, 28.
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taphysik des Lebens kritisch auseinandergesetzt und sie als Ausdruck der allgemeinen modernen Tendenz interpretiert hat, das Leben jenseits seiner Formbestimmtheit »in seiner nackten Unmittelbarkeit bestimmen« und als »Wesen alles Seins« setzen zu wollen. 133 Insofern hierin laut Simmel eine grundsätzliche »[Ab-]Wendung vom Formprinzip« als selbständigem Prinzip beschlossen liegt, muss jedwede Form geistigen Lebens als ursprünglich aus dem Leben selbst entstehend, als genuines Produkt des Lebensprozesses selbst gelten. 134 Folglich erweist sich der »fortwährende Wandel der Kulturinhalte, schließlich der ganzen Kulturstile, [… als] das Zeichen oder vielmehr der Erfolg der unendlichen Fruchtbarkeit des Lebens, aber auch des tiefen Widerspruchs, in dem sein ewiges Werden und Sich-Wandeln gegen die objektive Gültigkeit und Selbstbehauptung seiner Darbietungen und Formen steht«. 135 Ein Widerspruch, der unter den Prämissen einer Metaphysik des Lebens als Selbstwiderspruch des Lebens gelten muss. Simmel führt damit letztlich vor, dass die Philosophie in dem Versuch, »Leben als Zentralbegriff« zu setzen, eigentlich ein Unmögliches versucht: Nämlich dem Ganzen die Form des Formlosen zu geben, das schlechthin Formlose als Grundform der Wirklichkeit zu setzen. 136 Die metaphysische Erhöhung des reinen Lebens, die den Anspruch der Philosophie retten sollte, das Ganze der Wirklichkeit zu fassen – ohne es der naturwissenschaftlichen Reduktion preiszugeben, aber andererseits auch ohne ein mit dem Scheitern der großen spekulativen Systeme eigentlich ad acta gelegtes Dogma schlechthin ›jenseitiger‹ Metaphysik wiederzubeleben –, führt in eine Sackgasse und besiegelt die »tiefgreifende philosophische Krisis«, die mitten in den Kern philosophischer Begriffsbildung hineinweist. 137 Macht man radikal ernst mit der Forderung einer »Umgestaltung des Erkenntnisproblems«, 138 d. h. der Transformation von Erkenntnis- in Lebensprobleme, so offenbart sich das grundsätzliche »Versagen der bisher logisch geltenden Begriffsalternativen« und die dringliche Forderung eines, wie Simmel es nennt, »noch unformulierbaren Dritten«. 139 133 134 135 136 137 138 139
G. Simmel: »Der Konflikt der modernen Kultur«, 206, 198. Ebd., 198. Ebd., 184. Ebd., 198. G. Simmel: »Der Wandel der Kulturformen«, 220. G. Simmel: »Der Konflikt der modernen Kultur«, 198. G. Simmel: »Der Wandel der Kulturformen«, 223.
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Dieser Forderung hat Simmel in seiner eigenen Metaphysik des Lebens, die in seiner letzten Monographie Lebensanschauung ihren reifsten Ausdruck findet, versucht nachzukommen. In der Formel von der »Transzendenz des Lebens« sucht er eine Anschauung, die beides, den kontinuierlichen Fluss des Lebens (Mehr-Leben) und seine kristallisierten Formen (Mehr-als-Leben), umgreift, aber dabei nicht versöhnt, sondern ihren Widerstreit als dem absoluten Leben immanent ausweist. 140 Insofern Leben ein In- und Außer-Sich-Sein zugleich bedeutet, es nur im Außen bei sich, aber bei sich immer schon über sich hinaus ist, ist »das konkret erfüllte Leben« für Simmel dadurch bestimmt, »daß ihm die Transzendenz immanent ist«. 141 Es kann als Verdienst Simmels gelten, diese grundsätzliche Spannung des Lebensbegriffs so klar – wie vielleicht kein anderer – herausgestellt und damit die weltanschaulichen Konsequenzen einer Metaphysik des Lebens offengelegt zu haben. Cassirer war einer derjenigen, der dies anerkennend festgestellt und darin gerade das auszeichnende Charakteristikum gegenüber anderen Lebensphilosophien gesehen hat. So habe Simmel bereits gesehen, dass der Widerspruch des zugleich In- und Außer-Sich-Seins des Lebens »nicht das Sein, nicht die Wirklichkeit des Lebens selbst, sondern nur unser Denken dieser Wirklichkeit, das notwendig trennen und zerschneiden muss« 142 trifft, daher also allein der »Ohnmacht des Begriffs« 143 zuzurechnen sei. Simmels Formel von der Transzendenz des Lebens bleibt daher laut Cassirer notwendiger- und im Grunde auch konsequenterweise »in einer logischen Paradoxie bestehen«. 144 Cassirer stellt jedoch in Frage, ob »es sich hier wirklich um eine Schranke des Denkens überhaupt oder vielleicht nur um eine Schranke eines bestimmten Typus des Denkens« 145 handelt. So zeige sich, »daß die moderne Metaphysik sich von der älteren zwar in ihrem Ziele […], aber kaum in ihrer Methode unterscheidet. Denn auch sie geht in der Weise vor, daß sie zunächst bestimmte Gegensätze betrachtet und fixiert, die sich ihr in der Welt der Erfahrung […] darbieten, um sodann diese Gegensätze von der Relativierung, von den Schranken, die ihnen im Gebiet des endlichen Daseins anhaften, zu befreien und sie ins Unendliche zu projizieren. 140 141 142 143 144 145
G. Simmel: Lebensanschauung, 228–235. Ebd., 223. E. Cassirer: »Zur Metaphysik der symbolischen Formen«, 12. Ebd., 14. Ebd., 8. Ebd., 14.
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Kraft dieser Projektion wird das Unendliche zu dem Punkte, in dem alle Divergenzen, alle Gegensätze und Widersprüche, wie sie sich im Bereich des Endlichen darbieten, sich lösen sollen, in dem sie sich aber zugleich aufs höchste verdichten.« 146
Der sich hier vollziehende Doppelschritt des Denkens liegt laut Cassirer tatsächlich einem bestimmten Typus des Denkens zugrunde: Einem Denken, das den Anspruch erhebt, ein letztes unbedingtes Sein, d. h. ein Absolutes denken zu können, wie es die »metaphysische[] Denkart« als solche charakterisiere. 147 Entsprechend fällt der im Rahmen einer Metaphysik des Lebens zugespitzte Widerspruch zwischen Leben und Form nicht eigentlich »den logischen Kategorien als solchen zur Last«, sondern genau jener metaphysischen Hypostasierung, jener Projektion ins Unendliche, die überhaupt erst zur »Hypostase der ›reinen‹ Form wie […] des ›reinen‹ Lebens« geführt hatte. 148 Diesem Denktypus verpflichtet scheint es geradezu unausweichlich, dass Simmel – als Philosoph (!) – an der Lösung der Tragödie der Kultur (im wahrsten Sinne des Wortes) »verzweifelt«, denn die »Philosophie kann nach ihm den Konflikt nur aufweisen; sie kann keinen endgültigen Ausweg aus ihm versprechen. Denn die Reflexion zeigt uns, je tiefer sie dringt, um so mehr die dialektische Struktur des Kulturbewußtseins«. 149 Cassirers Ansatz zum Umgang mit diesem Problem besteht dann – wie so oft – darin, es konstruktiv zu wenden: Dass die Philosophie das Versprechen eines endgültigen Auswegs nicht einlösen kann, muss ihr nicht zum Verhängnis, sondern kann ihr zum Anstoß einer Neuformulierung ihrer Aufgabe werden: Statt der Dialektik von Leben und Form im Metaphysischen eine absolute Lösung zu geben, gilt es sich mitten in den »konkreten Prozess[] der Formwerdung und in die Dynamik dieses Prozesses« zu versetzen und »das Gegeneinander der beiden Momente als ein Gegeneinander nicht von Seienden, sondern von reinen Funktionen« zu begreifen. 150 Was sich in der Projektion ins Unendliche als unvereinbar zeigen muss, kann im Endlichen in seiner Relativität als Einheit erkannt werden: 146 147 148 149 150
Ebd., 11. Vgl. ebd., 11 f. Ebd., 14 f. E. Cassirer: Zur Logik der Kulturwissenschaften, 109 (5. Studie). E. Cassirer: »Zur Metaphysik der symbolischen Formen«, 16.
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»[S]tellen wir nicht einfach die ›Unmittelbarkeit‹ des Lebens und die ›Mittelbarkeit‹ des Denkens und des geistigen Bewusstseins überhaupt als starre Gegenpole gegen einander, sondern fassen wir rein den Prozess ihrer Vermittlung ins Auge, wie er sich in der Sprache, im Mythos, in der Erkenntnis vollzieht – so nimmt das Problem alsbald eine andere Gestalt und einen anderen Charakter an. Nicht irgend ein Absolutes jenseits dieser Mitte, sondern allein sie selbst kann uns den Ausweg aus den theoretischen Antinomien gewähren.« 151
Die herausragende Bedeutung Simmels liegt dann für Cassirer darin, dass er jene funktionale Relativität von Grund auf mitdenkt. Denn so sehr Simmel »immer wieder auf der Hinwendung zum Leben besteht, so sehr steht es andererseits für ihn fest, daß diese Hinwendung unlöslich mit dem verknüpft ist, was er als die ›Wendung zur Idee‹ bezeichnet hat«, d. h. die Wendung zu den selbstständig und definitiv werdenden »Formen und Funktionen, die das Leben um seiner selbst willen, aus seiner eigenen Dynamik hervorgetrieben hat«. 152 Die Wendung zur Idee im Sinne einer Selbst-Reflexion des Lebens markiert für Cassirer deshalb die entscheidende dritte Wendung in Simmels Philosophie, mit der sich die »Wendung zur Kulturphilosophie«, in deren Zeichen letztlich sein ganzes Denken stehe, erst vollständig offenbare. 153 In Anschluss an Simmel lässt sich das Programm einer Kulturphilosophie als Aufgabe formulieren, nach den Bedingungen der Möglichkeit von Kultur, d. h. nach den Bedingungen der Möglichkeit der Vermittlung von Leben und Form, Subjekt und Objekt, Ich und Welt im konkreten geistigen Leben zu fragen. Eine Aufgabe, die angesichts kultureller Vielfalt und historischen Wandels zwar prinzipiell unabschließbar ist, der Cassirer aber mit seiner Philosophie der symbolischen Formen einen systematischen Rahmen zu geben versucht hat, in dem das Symbolische als Medium des Verstehens funktionaler Zusammenhänge und damit als einheitsstiftendes Konzept fungiert. 154 Diese steht letztlich durchaus im Zeichen der »prinzipielEbd., 13. Ebd., 12 f., 13. 153 E. Cassirer: »Grundprobleme der Kulturphilosophie (Sommer-Semester 29)«, in: ders.: Nachgelassene Manuskripte und Texte, Bd. 5: Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge 1929–1941, hg. von R. Kramme, Meiner: Hamburg 2004, 3–28, hier 4. Cassirer spricht hier von »3 Phasen von Simmels Philosophie: Entwicklungsbegriff – Lebensbegriff – Kulturbegriff«. 154 Vgl. zur Programmatik der Philosophie der symbolischen Formen E. Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil. Die Sprache [1923]. Meiner: Hamburg 2010, VII–XI (Vorwort), 1–49 (Einleitung und Problemstellung). 151 152
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le[n] Wendung von der Metaphysik als Dogma […] zu der Metaphysik als Leben oder als Funktion«, 155 die Simmel im Rahmen seines Programmentwurfs einer Philosophischen Kultur gefordert hatte, um den Anspruch der Philosophie, eine »Deutung des Lebens in seiner Ganzheit und seiner Tiefe« 156 vorzunehmen, auf neue Art und Weise mit Leben zu füllen. Die Grundidee dieses Metaphysik-Verständnisses hat Simmel in folgendem Gleichnis veranschaulicht: »In einer Fabel sagt ein Bauer im Sterben seinen Kindern, in seinem Acker läge ein Schatz vergraben. Sie graben daraufhin den Acker überall ganz tief auf und um, ohne den Schatz zu finden. Im nächsten Jahre aber trägt das so bearbeitete Land dreifache Frucht. Dies symbolisiert die hier gewiesene Linie der Metaphysik. Den Schatz werden wir nicht finden, aber die Welt, die wir nach ihm durchgraben haben, wird dem Geist dreifache Frucht bringen – selbst wenn es sich in Wirklichkeit etwa überhaupt nicht um den Schatz gehandelt hätte, sondern darum, daß dieses Graben die Notwendigkeit und innere Bestimmtheit unseres Geistes ist.« 157
Auf allen drei Bedeutungsebenen, die in diesem Beitrag behandelt wurden, behält die These von der Tragödie der Kultur ihr volles Gewicht: Den Schatz, d. h. eine absolute Synthese von Subjekt und Objekt, von Ich und Welt, werden wir nicht finden. Doch die Suche nach ihm, bringt dreifache Frucht, insofern sie uns als Menschen auszeichnet, unser individuelles Leben bestimmt und eine genuin philosophische Haltung prägt. Kultur erweist sich im dreifachen Sinne als unendliche Aufgabe: menschlicher Sinnstiftung, individueller Lebensführung und philosophischen Verstehens.
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Warum braucht Simmel einen Gottesbegriff? Elemente zu einer Relativistischen Theologie Matthieu Amat
I.
Problemstellung
I.1. Wovon hier nicht die Rede sein wird Um den Sinn und den Anwendungsbereich unserer Frage zu bestimmen, müssen wir sie zuerst von drei weiteren Fragen unterscheiden. Erstens werden wir die soziologische Analyse des Gottesbegriffes – wobei die Beziehung des Menschen zu Gott als Ausdruck der Beziehung des Individuums zur Gesellschaft betrachtet wird – außen vor lassen. Es heißt zum Beispiel in der Soziologie, dass es »für die sozialisierende Bedeutung der Religion großer Kreise […] offenbar sehr wichtig [ist], dass Gott sich in einer bestimmten Distanz von den Gläubigen befindet«. 1 Auffassungen dieser und ähnlicher Art werden in diesem Beitrag nicht kommentiert. 2 Zweitens handelt es sich bei unserer Frage nicht um das kulturkritische und religionsphilosophische Problem, welche Form der Religion bzw. Religiosität eine der Gegenwart angemessene wäre; 3 die G. Simmel: Soziologie. Untersuchung über die Formen der Vergesellschaftung [1908], in: G. Simmel: Gesamtausgabe, hg. von O. Rammstedt. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1989–2015 (im Folgenden GSG), Bd. 11, 7–875, hier 201; vgl. auch die »Analogie zwischen dem Verhalten zur Allgemeinheit und dem Verhalten zu Gott« in G. Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft. Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe, Bd. 1 [1892], in: GSG 3, 7–443, hier 422–424. 2 Vgl. V. Krech: Georg Simmels Religionstheorie. Mohr Siebeck: Tübingen 1996, 57– 59, 72–75; P. Watier: »Georg Simmel: religion, sociologie et sociologie de la religion«, in: Archives des sciences sociales des religions 93 (1996), 23–50. 3 Vgl. P.-O. Ullrich: Immanente Transzendenz. Simmels Entwurf einer nachchristlichen Religionsphilosophie. Peter Lang: Frankfurt a. M. 1981; R. Laermans: »The ambivalence of religiosity and religion: a reading of Georg Simmel«, in: Social Compass: International Review of Sociology of Religion 53 (2006) 4, 479–489; M. Amat: »Religion, mystique et crise de la culture à la fin de la période wilhelmienne. Perspectives sur Georg Simmel«, in: Revue de l’histoire des religions 232 (2015) 3, 373–396; 1
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Beziehungen zwischen Religion, Gottesvorstellungen und der Geldwirtschaft werden nur am Rande erwähnt. 4 Drittens behaupten wir nicht, die Frage entscheiden zu können, ob Gott bei Simmel eine positive metaphysische Bestimmung erhält. Ob Simmel eine Art Theologie bzw. negative Theologie skizziert – so interpretiert der Theologe Hans Urs von Balthasar Simmels Aufsatz »Die Persönlichkeit Gottes« 5 –, das steht hier nicht zur Debatte. Tatsächlich wird sich dieser Beitrag mit einer bestimmten metaphysischen Funktion des Gottesbegriffs befassen, aber nicht mit der Intention, das Wesen Gottes positiv zu bestimmen. 6
I.2. Was hat »Die Persönlichkeit Gottes« mit der »Philosophischen Kultur« zu tun? Unserer Meinung nach erschöpfen die drei genannten Perspektiven nicht die Funktion des Gottesbegriffs von Simmel. Gott ist ein sozusagen transversaler Begriff, oder vielmehr eine Idee, der man an sehr verschiedenen Orten des Werkes begegnet. Für die Entstehung unserer Fragestellung hat insbesondere ein Text eine wesentliche Rolle gespielt; ein Text, dessen Titel und Position im Oeuvre schon das Problem bezeichnen. Gemeint ist der Aufsatz »Die Persönlichkeit Gottes. Ein Philosophischer Versuch« von 1911 und die Tatsache, dass er (ohne seinen Untertitel) als Kapitel des Sammelbandes Philosophi-
F. E. S. Montemaggi: »Religion as Self-Transcendence. A Simmelian Framework for Authenticity«, in: Simmel Studies 21 (2017) 1, 89–114. 4 Vgl. dazu P. Berger: Religion und Wirtschaft bei Georg Simmel. Über die Chancen und Grenzen ganzheitlicher Lebensführung. Transcript: Bielefeld 2019, 29–58. 5 Vgl. H. U. von Balthasar: Theo-Dramatik, Bd. I: Prolegomena. Johannes-Verl.: Einsiedeln 1973, 584. Auch Romano Guardini und in stärkerem Maße Erich Przywara finden in Simmel Impulse für ihre katholische Theologie (vgl. E. Przywara: »Die Zukunft der Philosophie«, in: ders.: Ringen der Gegenwart. Gesammelte Aufsätze. 1922–1927, Bd. 1. Benno Filser: Augsburg 1929, 196–205, hier 199–201; vgl. M. Amat: »Romano Guardini et Erich Przywara«, in: D. Thouard: Les Enfants de Simmel. Circé: Belval, i. E.). 6 Einen Überblick über Simmels Schriften zur Religion geben F. Vandenberghe: »Immanent transcendence in Georg Simmel’s sociology of religion«, in: Journal of Classical Sociology 10 (2010) 1, 5–32 und J. McCole: »Georg Simmel and the Philosophy of Religion«, in: New German Critique 94 (2005), 8–35. Das Nachschlagewerk bleibt V. Krech, Georg Simmels Religionstheorie.
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sche Kultur wiederveröffentlicht wurde. 7 Wie in der »Einleitung« des Bandes angegeben, besteht die Herausforderung darin, eine »prinzipielle Wendung von der Metaphysik als Dogma zu der Metaphysik als Leben oder als Funktion« herbeizuführen. 8 Die Metaphysik wird als eine »intellektuell[e] Bewegtheit«, als ein »durchgehende[s] geistige[s] Verhalten zu allem Dasein«, d. h. auch als eine »Form der Kultur« (im Sinne der Bildung) bestimmt. 9 Sehr vereinfacht und plakativ formuliert findet man im Band Philosophische Kultur vier verschiedene Textarten: theoretische kulturphilosophische Texte (vor allem »Der Begriff und die Tragödie der Kultur«), kulturkritische Texte (z. B. »Das Problem der religiösen Lage« oder »Die Mode«), Texte über Persönlichkeiten, die einige Aspekte des Problems der modernen Kultur verkörpern (»Michelangelo« und »Rodin«) und endlich Texte, die die »philosophische Kultur« oder »Metaphysik als Leben« in actu darstellen (z. B. »Der Henkel« oder »Das Abenteuer«). Diese Texte bieten Probleme, konzeptuelle Bedingungen, Anregungen und Beispiele, die einen Horizont für die Entwicklung einer echten philosophischen Kultur eröffnen. Aber was hat ein Essay über die Persönlichkeit Gottes damit zu tun? Simmel präzisiert, dass die Perspektive des Essays die der Religionsphilosophie ist. Dann fügt er hinzu: »Innerhalb dieser [Religions-]Philosophie also verbleibend, der keine religiösen Entscheidungen obliegen, weil sie nur gleichsam immanent über die religiösen Inhalte – ihren Sinn, ihre Zusammenhänge, ihre logische Dignität, nicht aber über deren Wirklichkeit urteilt – untersuche ich hier den Begriff der ›Persönlichkeit‹ des göttlichen Prinzips«. 10 Es wird deutlich, dass der Essay nicht in den Bereich der dogmatischen Theologie fällt. Es bleibt jedoch unklar, inwieweit solche spekulativen Überlegungen einer lebendigen Kultur dienen und eine solche befruchten können. Aber zumindest wissen wir schon, dass es Simmel um den Sinn des Gottesbegriffs geht und nicht um das positive Objekt Gottes.
7 G. Simmel: »Die Persönlichkeit Gottes« [1911], in: ders.: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais [1911], in: GSG 14, 349–366. 8 G. Simmel: »Einleitung« [1911], in: ders.: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais [1911], in: GSG 14, 162–167, hier 165. 9 Ebd., 165 f.; vgl. W. Geßner: Der Schatz im Acker. Georg Simmels Philosophie der Kultur. Velbrück Wissenschaft: Weilerswist 2003, 287–292. 10 G. Simmel: »Die Persönlichkeit Gottes«, 351.
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I.3. Funktionelle Theologie? Die Unterscheidung zwischen »Sinn« und »Wirklichkeit« eines Begriffs erinnert natürlich an die kantische Unterscheidung zwischen dem »Gegenstand schlechthin« und dem »Gegenstand in der Idee«. Der metaphysischen bzw. regulativen Idee wird »direkt kein Gegenstand […] zugegeben«. Sie ist ein »Schema«, das »nur dazu dient, um andere Gegenstände vermittelst der Beziehung auf diese Idee, nach ihrer systematischen Einheit, mithin indirekt vorzustellen«. 11 Die Idee dient einem »Interesse der Vernunft«, das über die einfache Bestimmung des Objekts im Wissen hinaus auf den Horizont einer »Kultur der menschlichen Vernunft« abzielt, die dessen praktischen und theoretischen Zweck in einem System artikuliert. 12 Setzt Simmels Gottesbegriff die kantische funktionelle Interpretation der metaphysischen Ideen fort? Und wenn ja, welche Bedürfnisse der Vernunft – oder vielmehr des Geistes oder des Lebens 13 – werden dadurch erfüllt? In seinem Buch Was ist und was heißt »Kultur« bezeichnet Ernst Wolfgang Orth die Kulturphilosophie, die insbesondere durch den südwestdeutschen Neukantianismus und die Zeitschrift Logos entstanden war, als »kulturelle Metaphysik«. Die Kulturphilosophie habe eine »metaphysikanaloge Funktion«. Begriffe wie »WeltanschauI. Kant: Kritik der reinen Vernunft [21787], in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (Akademie-Ausgabe), Bd. III. Reimer: Berlin 1904, hier 440, 443. 12 Ebd., 539–549. 13 Die kantische Rhetorik des Interesses der Vernunft wird von Lotze in den Worten der »Bedürfnisse« des »Gemüts«, des »Geistes« oder des »geistigen Lebens« neu formuliert (siehe dazu H. Schnädelbach: Philosophie in Deutschland. 1831–1933. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1983, 202–216) – eine Art Rhetorik, die auch in Simmels Texten oft zu finden ist, vgl. z. B. G. Simmel [Rezension]: »Rudolf Euckens ›Lebensanschauungen‹« [1890], in: GSG 1, 251–280, hier 274–276, wo Simmel, gegen Eucken, eine Befriedigung der »geistigen Bedürfnisse« durch die »modernsten Lebensanschauungen« zu erreichen sucht; vgl. auch G. Simmel: Hauptprobleme der Philosophie [1910], in: GSG 14, 7–157, hier 113, 135, wo das »philosophisches Bedürfnis« als »Bedürfnis unsres Seins« beschrieben wird. Die Einleitung des Kantbuchs fasst das Problem zusammen: »[E]s [ist] wohl das fundamentalste Motiv der gesamten neueren Philosophie, die Werte des Gemüts, einen Endzweck des Lebens, einen Sinn des Weltlaufs zu retten, ohne die […] mehr oder weniger mechanistische Naturansicht aufzugeben […]. Der Kantische Lösungsversuch ist im ganzen der Typus aller späteren geblieben« (G. Simmel: Kant. Sechzehn Vorlesungen gehalten an der Berliner Universität [1904], in: GSG 9, 7–226, hier 179–180). 11
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ung« oder »geistige Welt« stellen demnach eine Art funktionelles Äquivalent der Welt der »rationelle[n] Kosmologie« dar, während die anthropologischen Reflexionen der Kulturphilosophie an die Stelle der »rationelle[n] Psychologie« getreten seien. 14 Nach Orth gibt es in der »kulturellen Metaphysik« jedoch kein Äquivalent der rationalen Theologie mehr, die in der klassischen Metaphysik die Kosmologie und die Psychologie begleitete. Ob die Stelle Gottes aus funktionaler Sicht einfach leer bleiben kann, ist jedoch fraglich. Diese Funktionalisierung der Metaphysik trifft auf die Simmelsche »Wendung von der Metaphysik als Dogma zu der Metaphysik […] als Funktion« sehr gut zu. Inspiriert von der These Orths haben wir an anderer Stelle versucht, die Kulturphilosophie Simmels – genauer einen Teil dieser: die objektiv orientierte Beschreibung der Kultur – als eine funktionelle Kosmologie zu beschreiben. 15 Hier möchten wir uns mit dem dritten Pol der Metaphysik, dem Theologischen, beschäftigen und untersuchen, ob und an welchem Platz er bei Simmel auftaucht. 16
II.
Simmels ambivalente Beurteilung des Pantheismus
II.1. Die Dialektik zwischen Pantheismus und Theismus Laut einem Brief an Rickert vom Jahr 1899 interessiert sich Simmel »schon seit langem aufs äußerste« für die »religionsphilosophischen Probleme«. 17 Dennoch bringt er sein ausdrückliches Interesse an Soziologie und Philosophie der Religion erst relativ spät zum Ausdruck. Zwar finden sich in der 1890 erschienenen Schrift Soziale Differenzierung und in der Einleitung in die Moralwissenschaft, die Simmel E. W. Orth: Was ist und was heißt »Kultur«? Dimensionen der Kultur und Medialität der menschlichen Orientierung. Königshausen & Neumann: Würzburg 2000, 29, 206–207. 15 M. Amat: »Kulturphilosophie als Kosmologie. Das Beispiel Georg Simmels«, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 9 (2015), 257–269. 16 Dabei ist es nicht unsere Absicht, so etwas wie eine »verkappte Theologie« in der Kulturphilosophie zu enthüllen – in der Art und Weise, wie es Nietzsche im Falle der Geschichtsphilosophie getan hat (vgl. F. W. Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben [1874], in: ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 3–1, hg. von G. Colli u. M. Montinari. De Gruyter: Berlin/New York NY 1972, 239–330, Kap. 8). 17 G. Simmel an H. Rickert: Brief vom 27. Oktober 1899, in: GSG 22, 339. 14
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von 1892–94 verfasst, einige Passagen, die sich der Religion aus soziologischer oder psychologischer Perspektive widmen. 18 Aber erst im Jahr 1898 veröffentlicht Simmel eine »Soziologie der Religion« und hält erst im darauffolgenden Jahr sein erstes Seminar zur Religionsphilosophie ab (ein »Kolleg«, von dem er Rickert erzählt, dass es sein bisher »bestes« ist). 19 Aus der lakonischen Bemerkung gegenüber Rickert wird nicht ersichtlich, welcher Art die »religionsphilosophischen Probleme« sind, die Simmel schon lange beschäftigen. In der Vielfalt der Themen und Probleme lässt sich aber ein Motiv identifizieren, das sehr früh auftaucht (bereits während der öffentlichen Promotion im Jahr 1881) und sich dann von den ersten religionsphilosophischen Aufsätzen in den frühen 1900er Jahren ausgehend bis zur Lebensanschauung von 1917 wiederholt und weiterentwickelt: das Verhältnis von Pantheismus und Theismus. Simmels öffentliche Promotion hat noch die Form einer Disputation durch Verteidigung von Thesen gegen »Opponenten«, in der Regel ebenfalls Kandidaten für den Doktortitel. 20 Die zweite These lautet: »Die Selbstentwicklung des Begriffs des Theismus führt durch Pantheismus auf Atheismus«. 21 Wie Klaus C. Köhnke gezeigt hat, ist diese Formel ein ungefähres Zitat aus Feuerbachs »Vorläufigen Thesen zur Reformation der Philosophie«, in denen man liest: »Der ›Pantheismus‹ ist die notwendige Konsequenz der Theologie (oder des Theismus) – die konsequente Theologie; der ›Atheismus‹ die notwendige Konsequenz des ›Pantheismus‹, der konsequente ›Pantheismus‹.« 22 Diese These ist, wenngleich in anderer Absicht, ebenfalls eine Umformulierung des Standpunkts von Jacobi im Pantheismusstreit. Gegen G. E. Lessings Spinozismus behauptet Jacobi, dass der Spinozismus als Pantheismus unvermeidbar zum Atheismus führt. Man findet auch eine soziologisch-evolutionistische Fassung dieser These bei Spencer. Nach Köhnke kann man davon ausgehen,
Vgl. V. Krech: Georg Simmels Religionstheorie, 11–25 und 34–58. G. Simmel an H. Rickert: Brief vom 27. Oktober 1899, 339. 20 Vgl. K. C. Köhnke: Der junge Simmel in Theoriebeziehungen und sozialen Bewegungen. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1996, 73. 21 Ebd. 22 L. Feuerbach: »Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie« [1843], in: ders.: Werke in sechs Bänden, Bd. 3: Kritik und Abhandlungen II (1839–1843). Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1975, 223–243, hier 223 (zitiert in K. C. Köhnke: Der junge Simmel, 74). 18 19
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dass Simmel eher diese Fassung der These unterstützt. 23 Wie dem auch sei, was mich hier interessiert, ist die Funktion und die Entwicklung dieses Motivs in Simmels Werk. Drei Jahre später ist die These der Disputation in »Dantes Psychologie« (1884) zu finden, wo Simmel die Schwierigkeit betont, den Gegensatz und die Unterordnung zwischen dem Kaiserreich und dem Papsttum aufrechtzuerhalten, da »der Dualismus […] in spiritualistischen Monismus hinüber fallen [muss] – wie ja überhaupt jeder Theismus, wenn man Ernst mit ihm macht, in Pantheismus übergeht«. 24 Dass Simmel an dieser Stelle Dualismus mit Theismus und Monismus mit Pantheismus assoziiert, ist bemerkenswert. Auch im zweiten Kapitel der Einleitung in die Moralwissenschaft stellt Simmel den Pantheismus als eine Form von Monismus dar und weist zugleich auf einen inneren Widerspruch des Pantheismus hin. So wie »der Begriff der Egoismus überhaupt nur im Gegensatz zu dem des Altruismus einen Sinn hat« – sonst ist es nur ein »leeres Wort, ein bloßer Name« –, so erhält »der Begriff Gottes« einen »spezifischen Sinn« »nur durch den Gegensatz von Gott und Welt«. Der »Pantheismus«, d. h. die »Gesamtheit möglicher Existenz Gott [zu] nenn[en]«, ist in der Tat eine »Tautologie, auf die jeder Monismus führt«. 25 Zwar wird hier der »Gegensatz von Gott und Welt« nicht um seiner selbst willen behandelt, jedoch erfüllt er zwei strategische Funktionen. Erstens steht er exemplarisch für Simmels Auffassung, dass alle Begriffe nur relativ und wechselseitig bestimmbar sind. 26 Zweitens fungiert der innere Widerspruch oder die Tautologie (je nachdem, wie man es liest) eines absoluten Pantheismus als Vorbild für die Inkonsequenz aller Monismen. In diesem Sinne verwendet Simmel im ersten Kapitel (»Das Sollen«) den »brahmanische[n] Pantheismus« als Beispiel für die Verwechslung und Ignoranz der »Grenze zwischen dem allein Werthvollen und dem allein Wirklichen«. 27 Der Pantheismus erscheint hier als eine Art ethischer Monismus, d. h. eine Art Reduzierung der ethischen Bewertungen und Kriterien auf
23 24 25 26 27
K. C. Köhnke: Der junge Simmel, 75. G. Simmel: »Dantes Psychologie« [1884], in: GSG 1, 91–177, hier 137. G. Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft, Bd. 1, 130. Vgl. z. B. ebd., 57, 254, 280, 334. Ebd., 81.
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ein einziges Prinzip – eine Reduktion, die Simmel entschieden ablehnt. 28 Im Jahr 1902 wird die Frage nach dem Verhältnis von Gott und Welt im Aufsatz »Vom Pantheismus« explizit thematisiert und entwickelt. »Es scheint, als ob jeder Begriff Gottes, der mit sich Ernst macht, auf diese Ungeschiedenheit zwischen ihm und der Welt drängen müsste. Denn jede Selbständigkeit der Dinge, jedes Nicht-Sein seiner in ihnen ist eine Grenze seiner Macht, die doch keine Grenzen kennen soll«. 29 Dies führt aber zu einem Selbstwiderspruch des Gottesbegriffs. Wenn die Grenze zwischen Gott und der Welt verwischt, »schlägt die Macht [Gottes] in ihr Gegenteil um, in dieses Absolute gesteigert verneint sie sich selbst, weil sie keinen Gegenstand ihrer Betätigung mehr außer sich findet. Von seiner Seite her wiederholt das Gefühl diese pantheistische Selbstverneinung des Göttlichen«. 30 Damit kann die Seele nicht zufrieden sein: »Es ist das Wesen der religiösen Stimmung, dass sie, in aller Sicherheit und Meeresstille, doch noch ihren Gott suche.« 31 Damit eine solche Suche möglich bleibt, darf die Distanz zu Gott nicht völlig aufgehoben werden. Für die »religiöse Seele« ist die zu lösende Frage die folgende: wie kann ich mit Gott eine Einheit bilden, ohne sein transzendentes Gegenüberstehen aufzulösen? In dem im Vorjahr veröffentlichten Aufsatz »Beiträge zur Erkenntnistheorie der Religion« versucht Simmel die »Form« des »religiöse[n] Phänomen[s]« zu beschreiben. 32 Die »Religiosität« sei eine der »apriorischen Grundformen«, die »den ganzen Reichtum der Wirklichkeit als ihren Inhalt aufnehmen kann«. 33 Als »Verfassung der Seele« wird diese Religiosität als ein »Ineinander von […] Geben und Nehmen, Demut und Erhöhung, Verschmelzung und Distanzierung« beschrieben. 34 Der neukantianische Ton dieser Analyse nimmt durch die Verwendung des Begriffs der Seele eine Wendung, die psychologisch erscheinen mag. Die Analyse ist jedoch auch eine metaphysische 35 – darauf komme ich später Ebd., 130, 146, 315. G. Simmel: »Vom Pantheismus« [1902], in: GSG 7, 84–91, hier 85. 30 Ebd., 89. 31 Ebd., 87. 32 G. Simmel: »Beiträge zu Erkenntnistheorie der Religion« [1901], in: GSG 7, 9–20, hier 11. 33 Ebd., 14. 34 Ebd., 13. 35 Man kann sich fragen, warum Simmel, der jede einheitliche und substantielle Vor28 29
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noch zurück. Der 1902 erschienene Aufsatz über den Pantheismus objektiviert diese »Verfassung der Seele« als Oszillation zwischen Pantheismus und Theismus. 36 Diese Oszillation wird in »Die Persönlichkeit Gottes« (1911) als ein »dialektische[r] Prozess« beschrieben, der »all[e] Religionen« durchzieht, »die mit der Absolutheit des göttlichen Prinzips Ernst machen«. 37 In mancher Hinsicht stehen diese Entwicklungen im Zusammenhang mit dem neukantianischen Projekt der Kulturphilosophie: die den einzelnen Kulturbereichen zugehörigen, a priori vorhandenen spezifischen Erfahrungsformen zu identifizieren. 38 Nachdem Simmel im ersten Kapitel der Philosophie des Geldes die Formen und Bedingungen der Möglichkeit des ökonomischen Wertes und des Wahrheitswertes bestimmt hatte, wird er sein kulturphilosophisches Programm auf dem Bereich der religiösen Erfahrung anwenden. So wichtig diese Entwicklungen in Bezug auf Kultur- und Religionsphilosophie, und auch auf eine Phänomenologie der religiösen Erfahrung, sein mögen, überschreitet jedoch ihre Bedeutung bei weitem diesen Rahmen. Die Vielfalt der Kontexte, in denen die Spanstellung vom Geist ablehnte, dem Begriff der Seele verbunden bleibt. Er wird im Unterschied zu einem deskriptiv-wissenschaftlichen Begriff der »Psyche« auf der einen Seite und zu einem formal-transzendentalen Begriff des »Bewusstseins« sowie zum Begriff »Geist« auf der anderen Seite – der als »objektiver Geist« dazu neigt, leblose logische Inhalte zu bezeichnen – verwendet. Die »Seele« bezeichnet das Psychische als Träger des Wertes, als metaphysische Realität und als individuelles Leben. 36 Von allen Religionen ist es das Christentum, das dieser Bewegung am nächsten gekommen ist: »In dem Prinzip der Liebe zu Gott war der Weg gefunden von dem Gott-Gegenüberstehen, wie es im Judaismus und fast allen nicht-christlichen Religionen vorherrscht, und dem Verschmelzen mit Gott zur Einheit, das den Brahmanismus und die philosophische Religiosität bezeichnet […]. Der Weg von dem einen zum andern, sage ich, nicht die Versöhnung zwischen ihnen« (G. Simmel: »Vom Pantheismus«, 90). Obwohl Simmel jüdischer Herkunft ist und seine Vorstellung von echter Religiosität eine Art Radikalisierung der protestantischen liberalen Theologie hin zu einer gottlosen oder »atheistischen Mystik« (F. Vandenberghe: »Immanent transcendence in Georg Simmel’s sociology of religion«, 19; vgl. G. Bourquin: »Salut extrinsèque et salut intrinsèque chez Georg Simmel. Une tension constitutive pour le protestantisme libéral«, in: ThéoRèmes 8 (2016), § 9, online unter: http://journals. openedition.org/theoremes/809; Stand 25. Januar 2020) ist, scheint er das Christentum den anderen Religionen in metaphysischer Hinsicht überlegen zu halten. 37 G. Simmel: »Die Persönlichkeit Gottes«, 359. 38 Dieses Programm wurde in den frühen 1910er Jahren um Windelband und Rickert in der Zeitschrift Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur klar formuliert; vgl. insbes. W. Windelband: »Kulturphilosophie und transzendentaler Idealismus«, in: ders.: Präludien, Bd. 2. Mohr: Tübingen 1915, 279–294.
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nung zwischen Theismus und Pantheismus hervorgerufen wird, legt nahe, dass es sich eher um ein transversales Motiv, eine Art Schema handelt, das das Denken von Simmel strukturiert und dynamisiert, als um eine Reihe von assertorischen Aussagen, die die Elemente einer religions- oder kulturphilosophischen Theorie bilden könnten.
II.2. Die Dialektik zwischen Pantheismus und Individualismus Die Forderung nach einer notwendigen Einschränkung des Pantheismus ist umso interessanter, als pantheistische bzw. monistische Orientierungen in der Philosophie durchaus einen Reiz auf Simmel ausübten. Es ist daran zu erinnern, dass der junge Simmel vom Evolutionismus, von Moritz Lazarus’ Herbartscher Völkerpsychologie und vom kritischen Positivismus eines Hans Vaihinger oder Richard Avenarius – den Troeltsch »relativistischen Pantheismus« nennt 39 – stark beeinflusst ist. Sowohl Völkerpsychologie als auch kritischer Positivismus projizieren die sogenannten psychischen bzw. physischen Erscheinungen auf einem Immanenzplan der Vorstellungen oder Empfindungen. 40 Die Entwicklungslehre des Evolutionismus reduziert alle Formen des Lebens auf einen großen einheitlichen Prozess, der alle Substanzen auflöst. All diese funktionalistischen phiE. Troeltsch: Gesammelte Schriften, Bd. 3: Der Historismus und seine Probleme [1922]. Scientia Verlag: Aalen 1961, 574. 40 »Indem Herbart und seine Schule das Seelenleben in die Mechanik der einzelnen Vorstellungen auflöst, tritt an die Stelle des Ich als eines Wesens die Wechselwirkung von Vorstellungen« (G. Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft. Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe, Bd. 2 [1893], in: GSG 4, 7–389, hier 141). Simmels Lehrer Lazarus erweiterte diese »Mechanik« auf den gesamten objektiven Geist, was einen tiefen Einfluss auf Simmels Soziologie und Kulturphilosophie hatte (vgl. K. C. Köhnke: Der junge Simmel, 337–354 und M. Amat: Le relationnisme philosophique de Georg Simmel. Une idée de la culture. Honoré Champion: Paris 2017, 165–176). Der Einfluss des kritischen Positivismus ist am deutlichsten im ersten Kapitel von Soziale Differenzierung zu erkennen: »[D]ie Erkenntnis der Allgemeinbegriffe, die ein noch immer spukender Platonismus als Realitäten in unsere Weltanschauung einschwärzt, als bloß subjektiver Gebilde und ihre Auflösung in die Summe der allein realen Einzelerscheinungen ist eines der Hauptziele der modernen Geistesbildung« (G. Simmel: Über sociale Differenzierung. Sociologische und psychologische Untersuchungen [1890], in: GSG 2, 109–295, hier 126). Zu Simmels Beziehung zum Positivismus siehe E. Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme, 572–574. Zum Einfluss von Darwin und Spencer auf Simmel, siehe K. C. Köhnke: Der junge Simmel, 62–69, 75–77, 216–218. 39
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losophischen Tendenzen haben zum Ziel, jede Art von Dualismus, Transzendenz und auch Substanzialismus auszuschließen. Substanzielle Einheiten und Einzelheiten werden in physische, biologische und psychische Strömungen aufgelöst. Dies gilt auch für die soziohistorischen Realitäten. 41 Alles wird in einem »unermeßlichen Kulturprozess« absorbiert. Das Individuum wird auf »ein bloßes Glied am Gesellschaftskörper« reduziert, der aus einem »Zusammenwirken aller ihrer Glieder« besteht«. 42 So nah er ihm auch innerlich gestanden haben mag, Simmel nahm diese Art von monistischem Funktionalismus, egal in welcher Version, nie ganz an. Vor allem das Reifewerk, das um die Jahrhundertwende entstand, zeugt von einer Distanz zu dieser Art von Philosophie der reinen Immanenz. Dies zeigt sich besonders deutlich in Simmels ambivalentem Verhältnis zum Pantheismus. Dieses wird in zwei strategisch wichtigen Texten besonders deutlich, in der »Soziologischen Ästhetik« aus dem Jahr 1896 und in der ersten Fassung der Vorrede der Philosophie des Geldes. In der »Soziologischen Ästhetik« fordert Simmel eine »ästhetische Betrachtung«, für die »in dem Zufälligen das Gesetz, in dem Äußerlichen und Flüchtigen das Wesen und die Bedeutung der Dinge hervortreten«. Über die ganze Welt erweitert, als »ästhetische Weltanschauung«, wäre diese »Betrachtung« ein »ästhetischer Pantheismus«. 43 Die Vorrede der Philosophie des Geldes beschreibt in sehr ähnlichen Worten die Aufgabe der Philosophie: »an jeder Einzelheit des Lebens die Ganzheit seines Sinnes zu finden«. 44 In der ersten Fassung der Vorrede spricht Simmel von einem »sozusagen – empirischen Pantheismus«, den er als eine der »große Richtungen des Wertempfindens« beschreibt. Für diesen bildet »das Niedrige und Materielle
Simmel verwischt die Grenzen zwischen all diesen Ebenen. Langbehns Pathos der Individualität zum Trotz behauptet Simmel, dass »die neue historisch soziologische Anschauung […] den Einzelnen als ein Produkt der historischen Entwicklung seiner Gattung, als einen bloßen Schnittpunkt sozialer Fäden [versteht]; sie entkleidet ihn der falschen Einheitlichkeit und Selbständigkeit und löst ihn auf in eine Summe von Eigenschaften und Kräften, die uns aus dem Nacheinander der Gattungsschicksale und aus dem Nebeneinander der augenblicklichen Gesellschaft verständlich sind« (G. Simmel [Rezension]: »Rembrandt als Erzieher« [1890], in: GSG 1, 232–242, hier 236). 42 Ebd., 237. 43 G. Simmel: »Soziologische Ästhetik« [1896], in: GSG 5, 197–214, hier 198. 44 G. Simmel: Philosophie des Geldes [1900], in: GSG 6, 7–716, hier 12. 41
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des Daseins« den Ausgangspunkt. 45 Jedes Detail, das an sich unbedeutend ist, wird als Teil des Ganzen, das es symbolisiert, bedeutend. Dieser methodologische Pantheismus schien das geeignetste Mittel zu sein, um eine moderne funktionelle Kultur verständlich zu machen, die die substantiellen Einheiten und traditionellen Wert- und Rangordnungen auflöst. Nicht ohne Grund hat Köhnke im ästhetischen Pantheismus das »methodologische Programm« Simmels wahrgenommen. 46 Absolut genommen ist jedoch diese Aussage einseitig und nicht zulässig. Die »Soziologische Ästhetik« warnt schon vor einem einseitigen »ästhetischen Pantheismus«: »Wenn wir diese Möglichkeit ästhetischer Vertiefung zu Ende denken, so gibt es in den Schönheitswerten der Dinge keine Unterschiede mehr. […] Damit aber hat das Einzelne die Bedeutung verloren, die es gerade als Einzelnes und im Unterschiede gegen alles Andere besitzt«. 47 Der Pantheismus neigt dazu, die Unterschiede der Dinge, ihre Distanz zueinander – und damit die strukturelle Bedingung des Wertes 48 – zu beseitigen. Würde man seine Logik auf die Spitze treiben, dann führe der Pantheismus zu einer undifferenzierten Einheit, die sogar jede Wechselwirkung der Elemente verunmöglicht: »Der Pantheismus hebt das Außereinander der Dinge auf, wie er ihr Fürsichsein aufhebt. Von einer Wechselwirkung derselben kann hier nicht mehr die Rede sein«. 49 Deshalb verteidigt die erste Vorrede der Philosophie des Geldes auch »die Differenzierungstendenz, die grade nur durch die Absolutheit der Distanz zwischen den höheren und den tieferen Lebensinhalten beiden ihr Recht zu geben meint«. 50 Die Differenzierungstendenz und ein pantheistisches Verständnis der Dinge müssen zusammenwirken und sich gegenseitig relativieren. Dazu sollten beide nicht dogmatisch interpretiert werden: »Indem nun aber das Einzelne in seiner Sonderung und Fürsichsein ein absolutes Recht an uns und in Ebd., 732. K. C. Köhnke, Der junge Simmel, 499. 47 G. Simmel: »Soziologische Ästhetik«, 199. 48 Hier ist der Einfluss von Nietzsche entscheidend, vgl. G. Simmel: »Friedrich Nietzsche. Eine moralphilosophische Silhouette« [1895], in: GSG 5, 115–129, insbes. 116– 120 und K. Lichtblau: »Das ›Pathos der Distanz‹. Präliminarien zur Nietzsche-Rezeption bei Georg Simmel«, in: O. Rammstedt u. H.-J. Dahme (Hg.): Georg Simmel und die Moderne. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1984, 231–281. 49 G. Simmel: Die Religion [1906], in: GSG 10, 39–118, hier 104. 50 G. Simmel: Philosophie des Geldes, 732. 45 46
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uns beansprucht und die Einheit, die alles Einzelne in sich zusammenführt, eben dieselbe kompromisslose Forderung erhebt, entsteht ein Widerspruch, unter dem das Leben freilich oft genug leidet, und der dadurch zu einem logischen wird, dass jede der Seiten zu ihrem Bestande die andere voraussetzt«. 51 Der Relativismus, wie im ersten Kapitel des Buches dargelegt, zielt genau auf eine »Auflösung dogmatischer Starrheiten in die lebendigen, fließenden Prozesse des Erkennens« ab. 52 Dazu müssen »die konstitutiven, das Wesen der Dinge ein- für allemal ausdrückenden Grundsätze in regulative übergehen«. 53 Somit: »Wenn nun die konstitutiven Behauptungen […] in heuristische verwandelt werden, die nur unsere Erkenntniswege durch Feststellung idealer Zielpunkte bestimmen wollen, so gestattet dies offenbar eine gleichzeitige Gültigkeit entgegengesetzter Prinzipien«. 54 Das gilt nicht nur für die Erkenntnisbildung im engeren Sinne, sondern für alle »Gegentendenzen« (ob epistemisch oder axiologisch orientiert), die »[…] fortwährend unsere Attitüde zum Leben [bestimmen]«. 55 Der Pantheismus wird zum Namen einer Grundtendenz des geistigen Lebens, die mit dem ihm entgegensetzten Prinzip in eine relationale Dialektik (ohne Versöhnung) treten soll. 56 Dennoch ist das Gegenstück zum Pantheismus hier nicht der Theismus, sondern vielmehr der Sinn für die Individualität, oder allgemeiner, die Anerkennung der relativen Transzendenz der Formen der Objektivität, bzw. des Wertes.
II.3. Spinoza + Nietzsche = Schleiermacher Dieser relativistische Gegensatz zwischen einer individuell-axiologisch orientierten und einer universell-pantheistisch orientierten Ebd., 109. Ebd., 107. 53 Ebd., 106. 54 Ebd., 107. Dazu siehe M. Amat: »Relativism. A Theoretical and Practical Philosophical Program«, in: G. Fitzi (Hg.): The Routledge International Handbook of Simmel Studies. Routledge: London/New York NY, i. E.; vgl. auch den Beitrag von J. Steizinger in diesem Band. 55 G. Simmel: Philosophie des Geldes, 108. 56 Der berühmte Ausdruck »Dialektik ohne Versöhnung« kommt von M. Landmann: »Einleitung des Herausgebers«, in: G. Simmel: Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse, hg. von M. Landmann [1968]. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1987 (Neuausgabe), 7–29, hier 16. 51 52
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Tendenz wird durch zwei Denker der Moderne, Nietzsche und Spinoza, verkörpert. Simmel unterstreicht in der Philosophie des Geldes die Verwandtschaft zwischen dem Relativismus und dem Spinozismus: »[D]urch die ins Unendliche hin fortgesetzte Auflösung jedes starren Fürsichseins in Wechselwirkungen nähern wir uns überhaupt erst jener funktionellen Einheit aller Weltelemente, in der die Bedeutsamkeit eines jeden auf jedes andere überstrahlt. Darum steht der Relativismus […] dem Spinozismus mit seiner allumfassenden substantia sive Deus näher als man glauben möchte«. 57 Im Gegensatz dazu stellt Nietzsche die innere Distanz im horizontalen Feld der modernen Kultur wieder her, indem er den »Rang einer Gesellschaft« nach der »erreichten Höhe der Werte« und nicht »nach dem Verbreitungsmaß von schätzbaren Qualitäten« beurteilt. 58 Auf die Polarität zwischen Nietzsche und Spinoza geht Simmel auch im siebten Kapitel von Schopenhauer und Nietzsche, 1907 erschienen, ein. Beide bieten eine radikale Lösung für das Problem der Artikulation des Individuellen und des Universalen an. Das Problem wird, ausgehend von der »Opposition des Selbst und Gottes«, theologisch formuliert. Während Spinoza es dadurch löst, dass er das Selbst in Gott versenkt, offenbart der nietzscheanische Personalismus ein »transzendentes« Motiv, insofern nach Nietzsche »die Steigerung der Persönlichkeit in sich selbst […] an das Absolute rührt«. 59 Simmel zitiert, wenngleich nicht im Wortlaut, die Formel von Zarathustra: »Es kann kein Gott sein, sagt er; denn gäbe es ihn – wie hielte ich es aus, nicht Gott zu sein«. 60 Dieser »höchst[e] Personalismus« leugnet die Existenz Gottes, während er gleichzeitig das Bestreben offenbart, »Gott zu werden«. Nietzsche nähert sich hier bestimmten Formen der »frühen deutschen Mystik«, die auf der Suche nach der deificatio danach strebte, »mit Gott völlig Eins zu werden«. 61 Er schafft jedoch die G. Simmel: Philosophie des Geldes, 120; vgl. F. Vandenberghe: »Relativisme, relationnisme, structuralisme«, in: Simmel Studies 12 (2002) 1, 41–84, hier 44. 58 G. Simmel: Philosophie des Geldes, 362. 59 G. Simmel: Schopenhauer und Nietzsche. Ein Vortragszyklus [1907], in: GSG 10, 167–408, hier 355–356. 60 Ebd., 355–356. Der genaue Satz lautet: »[…] wenn es Götter gäbe, wie hielte ich’s aus, kein Gott zu sein! Also giebt es keine Götter« (F. W. Nietzsche: Also sprach Zarathustra [1883–1885], in: ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 6–1, hg. von G. Colli u. M. Montinari. De Gruyter: Berlin 1968, 106 (Zweiter Theil, Auf den glückseligen Inseln)). 61 Ebd.; vgl. Ch. Adair-Toteff: »The ›Antinomy of God‹ : Simmel on Meister Eckhart and Nietzsche«, in: Simmel Newsletter 3 (1993) 1, 10–16. 57
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Distanz zwischen dem Einzelnen und Gott ab, die die Mystik aufrechterhielt, und schliesst sich schließlich Spinoza an, indem er den entgegengesetzten Weg ging: »Es ist diese selbe Leidenschaft, die auch Spinoza und Nietzsche erfüllt: sie können es nicht ertragen, nicht Gott zu sein«. 62 Genauer gesagt können sie den Gegensatz zwischen Gott und Selbst nicht tolerieren. Die spinozistischen und nietzscheanischen Vorstellungen von der Beziehung zu Gott, die bei beiden eher als Nicht-Beziehung zu verstehen ist, stellen idealtypische Formen zweier grundlegender Richtungen des modernen Geistes dar. Beide sind Philosophien der Immanenz. Aber während die eine den Wert des Universums auf einige Punkte konzentriert – auf die Individualitäten, in denen die Geschichte zusammengefasst ist –, wird die andere die Individualitäten der unendlichen Substanz einverleiben. Weder Nietzsche noch Spinoza schlagen eine zufriedenstellende Formulierung des Verhältnisses zwischen Individuellem und Universellem vor, wenngleich sie zwei unterschiedliche Pole der Thematik besetzen. Es liegt nun am Relativismus Simmels, das Zusammensein und die Wechselwirkung dieser beiden Richtungen zu gewährleisten. Darin hat er einen Vorgänger, Schleiermacher: »Nur Schleiermacher hat diesen Zwiespalt überwunden […]: die Besonderheit und die göttliche Universalität schließen sich so wenig aus, dass umgekehrt jene allein die Form ist, in der diese sich darstellt«. 63 In Hauptprobleme der Philosophie von 1910 nimmt Simmel ebenfalls auf Schleiermacher Bezug, um aus den spinozistischen Aporien herauszukommen, insbesondere aus der »unhaltbar[en]« Position, das Individuelle sei eine Negation. 64 Simmel sieht in Schleiermacher einen »metaphysische[n] Individualist[en]«: »Alles Wirkliche, lehrt er, ist individuell«. 65 Dies schließt die Anerkennung einer universellen Einheit nicht aus. »Für den Pantheismus und alles, was an ihm rührt, hat das Besondere ein wirkliches Leben nur in der Form des Allgemeinen, für diesen metaphysischen Individualismus aber hat umgekehrt das Allgemeine sein Leben nur in der Form des BeG. Simmel: Schopenhauer und Nietzsche. Ein Vortragszyklus, 356. Ebd., 357. 64 G. Simmel: Hauptprobleme der Philosophie, 59. Simmel leiht sich diesen Widerstand von Schleiermacher gegen Spinoza wahrscheinlich von Diltheys Leben Schleiermachers (vgl. D. Thouard: »L’éthique de l’individualité chez Schleiermacher«, in: Archives de philosophie 77 (2014) 2: Schleiermacher philosophe, 281–299, hier 284). 65 G. Simmel: Hauptprobleme der Philosophie, 59. 62 63
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sonderen«. 66 Das Allgemeine differenziert sich im Individuellen und drückt sich in ihm aus. Jedoch ist das Modell nicht das einer »Analogie der Welt mit einem Organismus«, oder das einer Analogie mit der »Arbeitsteilung«: Das Individuelle ist nicht ein »Mittel«, ein »Glied der Welt«, sondern ein »Gegenbild« und eine »Darstellung des Universums«. In dieser Hinsicht hat es einen »definitive[n] Sinn«. 67 So wie das Universum als solches unvergleichlich ist, ist es auch jede seiner Einzelfiguren. Welchen Platz hat Gott in dieser Polarität zwischen Individuum und Welt? »Die Art, in der das göttliche Sein existiert ist: dass es an jedem Punkte sich anders als an jedem andern äußert«. »Gott« bezeichnet schließlich die Distanz, Beziehung und Spannung zwischen Allgemeinem und Individuellem. In dieser Hinsicht sind Schleiermachers »metaphysische[r] Individualismus« und seine »Philosophie der Vielheit« nicht so sehr das Gegenteil des Pantheismus, sondern ein Versuch, die pantheistisch-vereinigende Tendenz und die individualistisch-differenzialistische Tendenz zu integrieren. In seinem 1913 gehaltenen Kurs über »Ethik und Probleme der modernen Kultur« beschreibt Simmel Schleiermachers Philosophie als »individualistischen Pantheismus«. 68
II.4. Das Motiv der Coincidentia oppositorum und seine zeitgemäße Relevanz Es wurde bereits deutlich, dass die Beschreibungen von Schleiermachers Metaphysik teilweise als Darstellung von Simmels eigenem relativistischen und lebensphilosophischen Versuch gelesen werden können. 69 Im 1916 veröffentlichten Rembrandt heißt es, dass »die Kategorie von Ganzem und Teil auf das Leben nicht anwendbar ist«: »[e]s [ist] das Wesen des Lebens, […] in jedem Augenblick ganz da zu Ebd., 60. Ebd. 68 G. Simmel: »Ethik und Probleme der modernen Kultur« (1913, Mitschrift von Adolf Löwe), in: GSG 21, 847–890, hier 853. 69 Es gibt viele Ähnlichkeiten zwischen Schleiermachers Dialektik des »Oszillierens«, der »Wechselwirkung« zwischen »relativen Gegensätzen« (vgl. S. Schmidt: Die Konstruktion des Endlichen. Schleiermachers Philosophie der Wechselwirkung. De Gruyter: Berlin/New York NY 2005, 6, 20) und Simmels Relativismus. Eine diesbezügliche Studie steht noch aus. 66 67
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sein« – und doch jedes Mal anders. 70 Es ist die lebensphilosophische Version eines Motives, das das ganze Werk durchzieht. 71 Individualität selbst ist nur innerhalb des problematischen Verhältnisses zwischen Teil und Ganzem denkbar. Im Aufsatz »Individualismus« von 1917 ist dies so formuliert: »Alles, was wir Individualität nennen […] bedeutet auf der einen Seite ein Verhältnis zur […] Welt, […] andererseits aber besagt sie, dass dieses Wesen eine Welt für sich ist […]. Es ist immer Glied und Körper, Partei und Ganzes, Vollkommenes und Ergänzungsbedürftiges. Individualität nennen wir die Form, in der diese Doppelbedeutung der menschlichen Existenz sich zur Einheit zu bringen vermag oder versucht«. 72 Die berühmteste Figur dieses Motives ist in Bezug auf die Soziologie formuliert, deren a priori es ist, dass der Einzelne sich gleichzeitig innerhalb und außerhalb der sozialen Strukturen und Beziehungen befindet. 73 Die Form der individuellen Existenz kann durch eine horizontale, rein sozioökonomische Lebensbeschreibung nicht ausreichend erfasst werden. In seinem Versuch, sich vom Schema des Ganzen und des Teils zu lösen, bedient sich Simmel auch eines weiteren theologischen bzw. mystischen Motives: der Coincidentia oppositorum von Nikolaus von Kues. Simmels Auseinandersetzung mit der Mystik beginnt bei Eckhart, für ihn »der erste große spekulative Philosoph der Deutschen«. 74 In Kues sieht er in gewisser Weise seinen eigenen Vorgänger. In seinem Kurs zur Geschichte der Philosophie im Wintersemester 1913/1914 bezeichnet Simmel Kues als einen »Prophet[en] des neuzeitlichen Lebensgefühls« mit einem »leidenschaftlichen Gefühl G. Simmel: Rembrandt. Ein kunstphilosophischer Versuch [1916], in: GSG 15, 305–515, hier 313. »1916. Wenn ich die Bilanz ziehe, so habe ich vielleicht folgende originale Grundmotive zu der Geistesentwicklung beigesteuert. Die Transscendenz [sic!] des Lebens, die Charakterisierung des Lebens, wonach jeder Moment seines kontinuierlichen Anderswerdens nicht ein Teil seiner, sondern das ganze Leben in der Form dieses besonderen Momentes ist« (G. Simmel: »1916. Wenn ich die Bilanz ziehe …«, in: GSG 24, 71). 71 Bereits der erste Satz der Soziale Differenzierung von 1890 lautet, dass »das Verhältnis eines Ganzen zu einem andern sich innerhalb der Teile eines dieser Ganzen wiederholt« (G. Simmel: Über sociale Differenzierung, 115). 72 G. Simmel: »Individualismus« [1917], in: GSG 13, 299–306, hier 300. 73 G. Simmel: Soziologie, 51–56. 74 G. Simmel: »Geschichte der Philosophie (1913/1914)«, in: GSG 21, 11–140, hier 27. Zu Simmels Beziehung zu Eckhart vgl. ebd. 26–30; G. Simmel: Hauptprobleme der Philosophie, 17–24; G. Simmel an H. Rickert: Brief vom 29. Dezember 1899, in: GSG 22, 1020–1021, hier 1021 und V. Krech, Georg Simmels Religionstheorie, 210– 226. 70
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für die Individualität der Dinge«. 75 Nach der Coincidentia oppositorum ist Gott die »Einheit der Gegensätze«, und »[lebt] an jeder Seite der Gegensätze […]«. Diese »Umbildung des Einheitsbegriffes und des Gegensatzbegriffes«, die in den folgenden Jahrhunderten vergessen und vernachlässigt wurde, wurde, so Simmel, »vielleicht erst in der Gegenwart wieder aufgenommen«. 76 Es ist klar, dass Simmel sich selbst als denjenigen betrachtet, der die heutige Fruchtbarkeit dieses Motivs offenbart. 77 So »hat das Geld, als das absolute Mittel […], in seiner psychologischen Form bedeutsame Beziehungen zu der Gottesvorstellung« als »Coincidentia oppositorum«. 78 Die paradoxe Beschreibung des Geldes als »absolute[s] Mittel« benennt die »Doppelrolle« des Geldes, das gleichzeitig »Äquivalent aller Werte« und gehandeltes Wirtschaftsgut unter anderen ist. »Hier ordnet sich das Geld einer […] Kategorie von Lebensmächten ein, deren sehr eigenartiges Schema es ist, dass sie ihrem Wesen und ursprünglichen Sinne nach sich über die Gegensätze erheben, in die die betreffende Interessenprovinz auseinandergeht […] – dann oder zugleich aber in den Gegensatz der Einzelheiten hinuntersteigen«. 79 So ist auch zum Beispiel die Religion ein Teil des Lebens, das danach strebt, das ganze Leben zu sein: »ein Glied und zugleich ein ganzer Organismus«, wie Simmel im 1905 erschienenen Essay »Die Gegensätze des Lebens und der Religion« schreibt. 80 Dort geht er vertiefend auf das Motiv der Coincidentia oppositorum ein. Die Thematik lässt sich nicht auf die Frage der Religion reduzieren: Das mystische Schema drückt »de[n] Rhythmus des modernen Lebens« aus, in dem »die versöhnende Instanz selbst […] nicht in unberührter Ruhe jenseits alles Gegensatzes verharren und erstarren [darf]«. 81 Die Coincidentia oppositorum steht für die unaufhörliche Dialektik zwiG. Simmel: »Geschichte der Philosophie (1913/1914)«, 31 f. Ebd. 77 Dies entging E. Przywara nicht (vgl. K. Gassen und M. Landmann (Hg.): Buch des Dankes an Georg Simmel. Briefe, Erinnerungen, Bibliographie. Zu seinem 100. Geburtstag am 1. März 1958. Duncker & Humblot: Berlin 1958, 224–227, hier 225). 78 G. Simmel: Philosophie des Geldes, 305. 79 Ebd., 692. 80 G. Simmel: »Die Gegensätze des Lebens und die Religion« [1904], in: GSG 7, 295– 303, hier 302. 81 Ebd., 303; vgl. dazu M. Amat: »Religion, mystique et crise de la culture«, 392–396. Zu den Anwendungen der Mystik im Kontext der »Krise der Kultur« vgl. K. Lichtblau: Kulturkrise und Soziologie um die Jahrhundertwende. Zur Genealogie der Kultursoziologie in Deutschland. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1996, 345–379. 75 76
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schen Differenzierung und Vereinheitlichung in der modernen Kultur, die zugleich objektivierend und entsubstanzialisierend wirkt. Es ist bereits behauptet worden, dass »die allertiefste Grundlage von Simmels Denken die Mystik war«. 82 Dies könnte unter der Voraussetzung zugegeben werden, dass Simmels Bezug zur Mystik nicht als Streben nach Unmittelbarkeit und als rein religiöse Erfahrung verstanden wird. 83 Spekulative Motive, die aus der Rheinischen Mystik übernommen wurden – und allgemeiner die schon erwähnten kosmotheologischen Motive –, gelten als relationale Formen oder Schemata, die es ermöglichen, die problematische Beziehung zwischen dem Leben und den Formen seiner Objektivierung zu beschreiben. Daher haben sie eine kulturphilosophische Relevanz und Funktion. 84 Sie befassen sich mit dem, was auf das Problem der Kultur (das des Verhältnisses zwischen dem Leben und seinen Formen) bezogen außerhalb der Reichweite des rationalen Verstandes liegt und daher nicht in Form einer wissenschaftlichen Begriffsbestimmung ausgedrückt werden kann. Sie bilden das metaphysisch-analogische Moment der Kulturphilosophie.
III.
Das »problematische Verhältnis zwischen Gott und Welt« als analogisches Schema des Kulturprozesses
III.1. Idee der Kultur, Idee Gottes Ich komme auf den Essay »Die Persönlichkeit Gottes« und seine Funktion im Projekt der »philosophischen Kultur« zurück. 85 Zu diesem Zweck sei daran erinnert, worin das Problem der Kultur besteht. Ich verweise auf den Essay »Der Begriff und die Tragödie der Kultur«, M. Susman: Die geistige Gestalt Georg Simmels. Mohr Siebeck: Tübingen 1959, 8. Im Rembrandt wird der mystischen Religiosität, als »Relation« zwischen »d[em] Seelische[n]« und »d[em] Göttliche[n]« eine subjektive, rein immanente Religiosität entgegengesetzt, die nur das »subjektive Gegenbild des Pantheismus« (G. Simmel: Rembrandt, 473, 456) ist. 84 Nach Simmel werden auch R. Hönigswald und E. Cassirer Nikolaus von Kues aus einer ähnlichen Perspektive lesen (siehe R. Hönigswald: Philosophische Motive in neuzeitlichen Humanismus. Trewendt & Granier: Breslau 1918, insbes. 29–49, und E. Cassirer: Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance [1927], in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 12. Meiner: Hamburg 2002, 1–220, insbes. 37, 42, 220). 85 Elemente für eine soziologische Lesart findet man in V. Krech: Georg Simmels Religionstheorie, 84–85, 258–259. 82 83
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der sich ebenfalls im Sammelband Philosophische Kultur befindet. »Kultur [bedeutet] eben immer nur die Synthese einer subjektiven Entwicklung und eines objektiven geistigen Wertes«. 86 »Geistiger Wert« bezeichnet hier den »Sachgehalt« eines kulturellen Gebildes, aus dem sich die Seele die »Verwirklichung des ihr vorgesetzten, aber zuerst nur als Möglichkeit bestehenden, vollen und eigensten Seins« schöpft. 87 Mit den Worten eines späteren Textes: »Ich verstehe [Kultur] als diejenige Vollendung der Seele, die sie nicht unmittelbar von sich selbst her erreicht, wie es in ihrer religiösen Vertiefung, sittlichen Reinheit […] geschieht, sondern indem sie den Umweg über die Gebilde der geistig-geschichtlichen Gattungsarbeit nimmt: durch Wissenschaft und Lebensformen, Kunst und Staat, Beruf und Weltkenntnis geht der Kulturweg des subjektiven Geistes«. 88 Aber wie können der subjektive, wechselnde, kontinuierliche Lebensprozess und die Sachbedeutung der objektiven Kulturgebilde eine Einheit bilden? »Kultur entsteht – und das ist das schlechthin Wesentliche für ihr Verständnis –, indem zwei Elemente zusammenkommen, deren keines sie für sich enthält: die subjektive Seele und das objektiv geistige Erzeugnis. Hier wurzelt die metaphysische Bedeutung dieses historischen Gebildes«. 89 Die Kultur kann weder auf einen psychischen Zustand, noch auf ein historisch-soziologisch objektivierbares Produkt reduziert werden. Sie ist eine »metaphysische Form«. 90 Es liegt an dem Kulturphilosophen, diese Form zu bestimmen. Aber Kultur zu einer metaphysischen Form werden zu lassen, bedeutet im neukantianischen Kontext, dass keine Erfahrung ihr vollständig entsprechen oder sie bestimmen kann. Meine Hypothese ist, dass Simmel der Idee der Kultur mit dem Essay über die Persönlichkeit Gottes eine möglichst umfassende symbolisch-analogische Gestalt geben wollte, wenn er sie schon nicht vollständig begrifflich erfassen zu können glaubte. In »Die Persönlichkeit Gottes« wird die Persönlichkeit als »Komplex von Ideen« und nicht als deskriptiver Begriff aufgefasst. 91 Die G. Simmel: »Der Begriff und die Tragödie der Kultur« [1911], in: ders.: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais [1911], in: GSG 14, 385–416, hier 399. 87 Ebd., 396, 401, 388. 88 G. Simmel: »Die Krisis der Kultur« [1916], in: ders.: Der Krieg und die geistigen Entscheidungen. Reden und Aufsätze [1917], in: GSG 16, 37–53, hier 37. 89 G. Simmel: »Der Begriff und die Tragödie der Kultur«, 389. 90 Ebd., 390. 91 G. Simmel: »Die Persönlichkeit Gottes«, 365. 86
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These ist, dass der Gottesbegriff genau diesem Komplex entspricht, dass Gottesbegriff und Persönlichkeit (in ihrer vervollständigten Form, als Idee) dasselbe bedeuten. Als erste Annäherung kann die Persönlichkeit als »die Erhöhung und Vollendung, die die Form des körperlichen Organismus durch ihre Fortsetzung in das seelische Dasein gewinnt«, definiert werden. Der Organismus ist ein Ganzes, das aus »Teile[n] in einer engeren Wechselwirkung« besteht. 92 Die Persönlichkeit ist ein Organismus, der eine spezifische »Art von Kausalität« kennt: »die einsinnige, nur vorwärts drängende Kausalität der Zeit wird innerhalb des seelischen Lebens zu einer Wechselwirkung«. Die Ursache verschwindet nicht einfach im Effekt. 93 So kann ein »vergangener« Lebensinhalt vorhanden sein, jetzt auf alle anderen Lebensinhalte einwirken und umgekehrt durch andere Inhalte verändert werden. Aber so wie kein Organismus ein absolutes Ganzes bildet – da es in »ein größeres Ganzes« (d. h. sein »Milieu«) einbezogen ist 94 –, kann auch »ein Wesen, das der Teil eines Ganzen ist, […] nie vollkommene Persönlichkeit sein, weil es sich von außen speist und nach außen gibt«. 95 Die »menschlich-zeitliche Form« des Lebens schränkt die Wechselwirkung der Teile ein: Das Gedächtnis ist voller Lücken und Inhalte, die nicht mit anderen zusammenwirken. 96 »So wenig wir mit unsrem Körper den reinen Begriff des Organismus erfüllen, so wenig mit unsrer Seele den der Persönlichkeit«. 97 Jeder dieser Begriffe entspricht jedoch einer Idee, die er »restlos realisiert«: die »des Weltganzen«, die der Organismus vollzieht, und die des »Begriff[es] Gottes«, die die »eigentliche Realisierung der Persönlichkeit« ist. 98 Dies ist eine logische Anforderung: »Macht man mit dem Begriff der Persönlichkeit Ernst […] – so kann er sich nur an einem absoluten Wesen realisieren, an einem, das entweder mit der Totalität der Welt Eins ist, substantia sive Deus, oder an einem, das sozusagen das Totalitätsmoment der Welt bedeutet, vergleichbar der Seele als ἐντελέχεια σώματος φυσικοῦ ὀργανικοῦ« (Entelechie eines organisierten
92 93 94 95 96 97 98
Ebd., 351. Ebd., 353. Ebd., 352. Ebd., 356. Ebd., 355. Ebd. Ebd.
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physischen Körpers). 99 Die Alternative liegt zwischen einem spinozistischen Pantheismus und einer Art Personalismus, der hier in Aristoteles’ Sprache zum Ausdruck kommt. In der Tat ist es keine Alternative, sondern eine Dialektik. Wenn man die Persönlichkeit als eine vollendete Einheit ohne Äußeres versteht, läuft die Anwendung des Persönlichkeitsbegriffs auf Gott auf einen Pantheismus hinaus. Dieser untergräbt aber wiederum den Gottesbegriff, da Gott nur denkbar ist, wenn er Macht über ein Objekt hat. So werden wir notwendigerweise zu einem »dialektische[n] Prozess« zwischen dem Gegensatz von Gott und Welt und seiner Verschmelzung mit ihr geführt. 100 Der richtig verstandene Gottes- bzw. Persönlichkeitsbegriff enthält ein fortlaufendes und definitives »Voneinem-zum-andern-Getriebenwerden«, das Simmel »lebendig gewordene[r] Pantheismus« nennt. Man kann keine »Versöhnung« dieses Gegenspieles von Verschmolzenheit und Trennung« erwarten. 101 Die Idee Gottes bzw. der Persönlichkeit erscheint als eine grundsätzlich lebendige, d. h. instabile und konfliktreiche Form der Einheit. An dieser Idee messen wir uns und nur diese Form der Einheit können wir hoffentlich – und nur teilweise – verwirklichen. »Je mehr wir uns als Persönlichkeit fühlen, als desto unabhängiger wissen wir unser Ich von jedem einzelnen Inhalt […]; als desto selbständiger steht auf dieser Ausbildungsstufe auch jeder einzelne Inhalt in seinem logischen und ethischen, seinem dynamischen und historischen Rechte dem Ich gegenüber. […] Und doch: je mehr wir Persönlichkeit sind, desto mehr färben wir die Gesamtheit unserer Inhalte mit der Färbung unseres Ich […], desto souveräner ist dieses Ich nicht nur im Sinne der Unabhängigkeit von jedem einzelnen, sondern auch im Sinne der Herrschaft darüber«. 102 Die betreffenden Inhalte erhalten kulturelle Attribute und der Wortlaut ähnelt dem, was wir in »Begriff und Tragödie der Kultur« lesen: »[D]ie Inhalte, an denen das Ich diese Organisierung zu einer eigenen, einheitlichen Welt vollziehen soll, gehören nicht ihm allein an; sie sind ihm gegeben, […] sie sind zugleich die Inhalte irgendwelcher anderer Welten, gesellschaftlicher und metaphysischer, begrifflicher und ethischer, und in diesen besitzen sie Formen und Zusammenhänge unter sich, die mit denen des Ebd., 357. Ebd., 359. 101 Ebd. 102 Ebd., 359 f. 99
100
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Warum braucht Simmel einen Gottesbegriff?
Ich nicht zusammenfallen wollen«. 103 Es geht in beiden Texten um dieselbe problematische Beziehung zwischen dem Ich und seinen Inhalten, die nicht nur die seinen, sondern auch Elemente objektiver kultureller Strukturen sind, die sich allmählich zu Welten formen. 104 Die Philosophie des Geldes zeigt, wie das Geld den Abstand zwischen Subjekt und Objekt in der modernen Persönlichkeit vergrößert. Subtiler beschreibt Simmel das unaufhörliche Zusammenspiel von »Nähe« und »Distanz« zwischen dem Selbst und seinen Inhalten, zwischen dem »Zentrum« und seiner »Peripherie«. 105 So erscheint das Geld manchmal als Bruchfaktor der Wechselwirkung zwischen dem Ich und seinen Inhalten, manchmal als Mittel ihrer Revitalisierung. 106 Im Verhältnis zwischen Gott und Welt handelt es sich ebenfalls um »Nähe und Distanz, Kontrast und Verschmelzung« zwischen »Zentrum und Peripherie«. 107 Das Problem der Persönlichkeitsbildung in der modernen Kultur, das die Philosophie des Geldes durch das Prisma des Geldes und seiner vielfältigen Figuren betrachtet hat, wird in »Die Persönlichkeit Gottes« in seiner allgemeinsten spekulativen Form dargestellt. So erhält das metaphysischste und ahistorischste Kapitel der Philosophischen Kultur eine kulturkritische Relevanz. Hier findet eine grundsätzliche Erfahrung des Menschen als Kulturwesen ihren metaphysischen Ausdruck. Das »Doppel- und Gegenspiel zwischen dem einzelnen Element und dem einheitlichen Ganzen« kann nicht »beschrieben« werden, »sondern nur erlebt werden; und dazu gibt es in unsrer historischen Vorstellungswelt nur die eine Analogie: eben jenes, für die Logik so problematische Verhältnis zwischen Gott und Welt«. 108
G. Simmel: »Der Begriff und die Tragödie der Kultur«, 403 f. Vgl. dazu M. Amat, »Kulturphilosophie als Kosmologie«, 136–140. 105 Siehe z. B. G. Simmel: Philosophie des Geldes, 416, 432–435, 658–663. 106 »Es ist die großartige Leistung des Geldes, durch die Nivellierung des Mannigfaltigsten gerade jeder individuellen Komplikation die angemessenste Ausprägung und Wirksamkeit zu ermöglichen […].« »Wenn also Freiheit den Sinn hat, Sein und Haben voneinander unabhängig zu machen, und wenn der Geldbesitz die Bestimmtheit des einen durch das andere am entschiedensten lockert und durchbricht – so steht dem ein anderer und positiverer Begriff der Freiheit gegenüber, der das Sein und das Haben auf einer anderen Stufe wiederum enger verbindet, darum aber nicht weniger am Geld seine energischste Verwirklichung findet.« (Ebd., 428, 431) 107 G. Simmel: »Die Persönlichkeit Gottes«, 360. 108 Ebd. 103 104
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III.2. Metaphysik als Leben, Metaphysik des Lebens Gegen diese Analogie gibt es dennoch einen naheliegenden Einwand: den des Anthropomorphismus. »Für die ›Aufklärung‹ ist [der Begriff der Persönlichkeit Gottes] ein Beweis, dass es sich in der Religion nur um die Vergöttlichung des Menschlichen handelt, der Pantheismus und die Mystik umgekehrt lehnen ihn als Vermenschlichung des Göttlichen ab«. 109 Für Simmel ist eine »höhere Perspektive« möglich: »Für die Realitäten unseres Lebens gewinnen wir Ordnung und Wertung von einem Komplex von Ideen her, deren Bewusstsein freilich sich psychogenetisch aus dem zufälligen und fragmentarischen Zustand des empirischen Lebens erhebt, die aber ihrem Sinne nach eine ideelle Selbständigkeit und eine geschlossene Vollkommenheit besitzen«. 110 Es gibt zweifellos eine psychogenetische – bzw. anthropologische, soziologische – Genese des Begriffs der Persönlichkeit Gottes. 111 Sein Geltungsbereich ist jedoch nicht auf die genetischen Bedingungen seines Auftretens beschränkt. Dies nennt Simmel die »Wendung zur Idee«: Es gibt keine ontologische Homogenität oder Kontinuität zwischen den psychischen Bedürfnissen und den ideellen Bedeutungsformen – wie der Idee der Persönlichkeit –, aus denen der Mensch seinem Leben Sinn und Wert verleiht. 112 Der Versuch, die Idee Gottes auf eine Projektion des Menschen, auf eine »Übertreibung empirisch-seelischer, von unseren Naturzusammenhängen ressortierender Tatsachen« (nach dem z. B. »der weltschaffende Gott […] als eine Hypertrophie des Kausaltriebes [erscheint]«), zu reduzieren, ist die »vollkommenste Oberflächlichkeit«. 113 Die Religionskritik der Aufklärung lehnt Simmel ab. Die wesentliche Bewegung geht nicht vom Menschen zu Gott, sondern von (der Idee von) Gott zum Men-
Ebd. 351. Ebd. 365. 111 Siehe dazu die Referenzen in Anm. 1. Es ist jedoch zu beachten, dass Simmel bereits in seinen soziologischen Analysen darauf hinweist, dass sich die Vorstellung Gottes in Bezug auf die soziale Funktion der Religion relativ autonom entwickelt: »In dem Glauben an Göttliches hat sozusagen der reine Prozess des Glaubens sich verkörpert, losgelöst von seiner Bindung an einen sozialen Gegenpart« (G. Simmel: »Zur Soziologie der Religion« [1898], in: GSG 5, 266–286, hier 275; zitiert in V. Krech, Georg Simmels Religionstheorie, 63). 112 G. Simmel: Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel [1918], in: GSG 16, 209–425, hier 236–296. 113 G. Simmel: Die Religion, 48 f. 109 110
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schen. »Gott ist nicht der Mensch im Großen, aber der Mensch ist Gott im Kleinen.« 114 Ist Simmel mit solchen Formeln nicht in der Nähe von Feuerbach, der behauptete, dass »das Bewusstsein Gottes […] das Selbstbewusstsein des Menschen, die Erkenntnis Gottes die Selbsterkenntnis des Menschen [ist]«, so dass »aus seinem Gotte […] du den Menschen [erkennst]«? 115 Simmel unterscheidet seine Position von der Feuerbachs in »Das Problem der religiösen Lage«, ein Aufsatz, der sich auch in der Philosophischen Kultur befindet: »Wenn der Mensch ein metaphysisch-göttliches, alle empirische Einzelheit übersteigendes Gebilde sich gegenüberstellt, so projiziert er damit nicht immer und nicht nur seine psychologischen Emotionen: Furcht und Hoffnung, Überschwang und Erlösungsbedürfnis aus sich heraus; er projiziert auch damit dasjenige, was in ihm selbst metaphysisch ist, in ihm selbst jenseits aller empirischen Einzelheit liegt«. Simmel fährt fort: »Der Gedankengang Feuerbachs ist kurz von diesem Punkte abgebogen. Gott ist für ihn nichts andres, als der Mensch, der, in der Not seiner Bedürfnisse, sich aus sich heraus ins Unendliche steigert und von dem so entstandenen Gott Abhilfe sucht«. Religion wird Anthropologie; Feuerbach sieht aber im Menschen »nur den empirischen Fluss seelischer Einzelheiten« und nicht das, »was in ihm selbst metaphysisch ist«. 116 Theologische Ideen drücken in der Tat etwas Menschliches aus, aber etwas »Metaphysisches«. Was bedeutet das? Es ist in der Philosophischen Kultur nicht sehr klar ausgedrückt. Wir wissen lediglich, dass es sich hierbei nicht um eine »qualitas occulta«, sondern um »eine Form des ganzen, lebendigen Lebens selbst, […] eine Gestimmtheit und Rhythmik an sich, eine Beziehung des einzelnen Inhaltes zum Ganzen des Lebens« handelt. 117 Einige der Antworten finden wir im ersten Kapitel der Lebensanschauung, »Die Transzendenz des Lebens«, wo Simmel versucht, die »formale Struktur unseres Daseins« zu präzisieren. 118 Alle relativen Gegensätze, in denen sich das G. Simmel: »Die Persönlichkeit Gottes«, 364. L. Feuerbach: Das Wesen des Christentums [1849]. Reclam: Stuttgart 1971, 53. 116 G. Simmel: »Das Problem der religiösen Lage« [1910], in: ders.: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais [1911], in: GSG 14, 367–384, hier 373 f. 117 Ebd. 376. 118 G. Simmel: Lebensanschauung, 212–235, hier 212. Die Philosophie des Geldes stellte bereits die relativistische Polarspannung als Ausdruck einer inneren Polarität im Leben dar (siehe insbes. G. Simmel: Philosophie des Geldes, 108–109). 114 115
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Leben ausdrückt, sind schließlich »die Auseinanderlegungen, Strahlenbrechungen jener metaphysischen Tatsache: das sein innerstes Wesen ist, über sich selbst hinauszugehen, seine Grenze zu setzen, indem es über sie d. h. eben über sich selbst, hinausgreift«. 119 Auf der einen Seite ist unser Leben ein Formprozess, d. h. die Bildung einer »Individualität«, einer »metaphysischen Einzigkeit«, die »Zusammengehaltenheit eines Umfangs durch ein […] Zentrum«; auf der anderen Seite gehören ihm auch die »ewig fortströmenden Reihen der Inhalte oder Prozesse« an, die nicht fixierbar sind. 120 In ihrer problematischen Polarität drückt die Idee der Persönlichkeit Gottes die ontologische Struktur des Lebens, indem sie deren regulativen Horizont darstellt, aus. Trotz der Kritik an aller Projektionstheorie können wir uns nicht mit einer reinen Inkommensurabilität zwischen Leben und metaphysischen bzw. theologischen Ideen zufriedengeben. Die Hauptfrage ist nicht die, wie eine autonome religiöse Welt verfasst sein kann – was im Übrigen eine Dimension der »Tragödie der Kultur« ist. Simmel fragt hier vielmehr, ob und inwiefern die metaphysischen Ideen für das Leben – und genauer für seine Kultur – fruchtbar gemacht werden können. Dazu muss die Struktur der Idee analog zu der der Lebensform eines Kulturwesens – d. h. zu der des Lebens als individuelle Form und Beziehung zu einer objektivierten Welt – sein. »Metaphysik als Leben oder als Funktion« impliziert eine Metaphysik des Lebens. Die von Kant eingeleitete funktionelle Deutung der metaphysischen Begriffe findet hier eine metaphysische Grundlage.
IV. Zum Abschluss Im Übrigen verbleibt die Verwendung des Begriffes »Idee« im Rahmen der Kantischen Kritik der Metaphysik, nach der die metaphysischen Ideen notwendige regulative Schemata bieten, die die »Kultur der menschlichen Vernunft« orientieren und ermöglichen. Daher kann man Simmels Relativismus als eine »relativistische Umbildung des Kritizismus« sehen. 121 Simmel hat Kants Deutung der MetaG. Simmel: Lebensanschauung, 224. Ebd., 225 f. 121 Der Ausdruck kommt von T. K. Oesterreich: Friedrich Ueberwegs Grundriss der Geschichte der Philosophie, 4. Teil: Die deutsche Philosophie des 19. Jahrhunderts 119 120
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physik im vierten Kapitel des Kantbuchs vom Jahr 1904 dargestellt und verteidigt: »Indem [die Ideen] uns berechtigen, zu leben und zu forschen, ›als ob‹ wir die absoluten Ziele erreichen könnten, ›als ob‹ die absoluten Normen gälten – retten sie den ganzen Wert des Absoluten und Transzendenten in seine Funktion hinein, Sinn, Ordner und Wegweiser des Relativen und Empirischen zu sein«. Kant, indem er die »funktionell[e] Bedeutung des Überempirischen« entdeckte, verwandelte damit »den Fluch der Metaphysik in Segen«. 122 Jedoch, während die transzendentale Idee Gottes in Kants Kritik der reinen Vernunft uns die analogische Vorstellung eines »unbekannten Substratum[s] der systematischen Einheit, Ordnung und Zweckmäßigkeit der Welteinrichtung« 123 bietet, nimmt bei Simmel die Idee der »Persönlichkeit Gottes« eine individualisierende Funktion ein. Damit bricht in der Tat Simmel mit dem Horizont einer als »System der Ideen« vollendeten »Cultur der menschlichen Vernunft«. 124 Unter diesem Gesichtspunkt beobachten wir eher eine Funktionalisierung der Leibniz’schen Metaphysik des Individuellen – nach der »jedweder Geist […] in seinem Bezirk gleichsam eine kleine Gottheit [ist]« – als eine Fortsetzung der Kantischen Architektonik. Dies steht im Einklang mit Schleiermachers Werk, das als eine neuhumanistische Formulierung der Leibniz’schen Metaphysik interpretiert werden könnte. 125 Es wäre dennoch irreführend, Simmels Kulturphilosophie als eine Aktualisierung der neuhumanistischen Bildungsreligion zu lesen. Dies zeigt insbesondere die klare Unterscheidung, die Simmel zwischen der durch die Kultur herbeigeführten »Vollendung der Seele« und ihrer »Vertiefung«, die durch Religiosität entsteht, vornimmt. Trotz der Affinitäten, die sich zwischen Simmels und der Gegenwart. Mittler & Sohn: Berlin 1923, 417. Oesterreich denkt wahrscheinlich an Simmels relativistische Theorie der Objektivität bzw. Gültigkeit, die das Apriori von Kants »Transzendentaler Analytik« relativiert. Aber diese »relativistische Umbildung« gilt meiner Meinung nach auch für die Kritik an der Metaphysik in der »Transzendentalen Dialektik«. 122 G. Simmel: Kant. Sechzehn Vorlesungen gehalten an der Berliner Universität, 196 f. Simmel präzisiert, dass das Als-ob-Prinzip nicht im Sinne von Vaihinger als eine »notwendige Fiktion«, sondern als »eine selbstständige synthetische Einheit« zu verstehen ist (ebd., 26). 123 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft [21787], 457. 124 Ebd., 549. 125 Siehe C. Menze: Leibniz und die neuhumanistische Theorie der Bildung des Menschen. Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften (Vorträge, Bd. 246): Düsseldorf 1980, 6–7, 10, 15, 18–19.
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Rhetorik der »Persönlichkeit« und der Arbeit von Ernst Troeltsch finden lassen, betreibt Simmel also keinen Kulturprotestantismus. 126 Sicherlich sind Troeltsch und Simmel, was die von Marino Pulliero »zweiter Pantheismusstreit« genannte Debatte angeht, auf derselben Seite. 127 So verteidigt Troeltsch auch in 1911 in der Zeitschrift Logos das »Persönlichkeitsideal«, eine »personalistisch[e] Metaphysik« und einen »prinzipelle[n] Dualismus« gegen den »modernen Monismus und Antipersonalismus« und die »pantheistisch-relativistische Metaphysik, für die alles nur ein Wandelungszustand der einen, in ihren Wandelungen mit sich identischen Substanz ist«. 128 Aber eine Persönlichkeit Gottes ist für Troeltsch ohne die Vermittlung und das Bild von der konkreten Person Jesu, der außerdem das echte Symbol einer »Erhebung und Befreiung der Persönlichkeit« ist, nicht wirklich denkbar und wirksam. 129 Für Troeltsch wachsen religiöse und kulturelle Bildung also zusammen. Die Konvergenz der Gottesidee mit der Kulturidee wird bei Simmel auf Kosten einer vollständigen, aber notwendigen Abstraktion von historischen Religionen erreicht. Simmel beabsichtigt jedoch nicht, so etwas wie eine Ersatzreligion einzurichten, deren neuer Gottesbegriff besser zur modernen Kultur passen würde. 130 Aber es geht auch nicht darum, die Religion zu überwinden, um Platz für eine emanzipierte Kultur zu schaffen. Um einen damals 126 Zum Kulturprotestantismus: F.-W. Graf: »Kulturprotestantismus. Zur Begriffsgeschichte einer theologischen Chiffre«, in: Archiv für Begriffsgeschichte XXVIII (1984), 214–268. Zum Persönlichkeitsbegriff im Kulturprotestantismus vgl. ders.: »Rettung der Persönlichkeit. Protestantische Theologie als Kulturwissenschaft des Christentums«, in: R. v. Bruch, F. W. Graf und G. Hübinger (Hg.): Kultur und Kulturwissenschaft um 1900. Steiner: Stuttgart 1989, 103–131. 127 M. Pulliero: »Problématique néoreligieuse et sécularisation dans l’Allemagne wilhelminienne. Monisme, Diesseitsreligion, Ersatzreligion«, in: Droits 59 (2014) 1, 79– 102, hier 91. Dieser Streit war »zwischen den Anhängern der post-christlichen, monistischen Religiosität und der liberalen Theologie« (ebd.) entbrannt. 128 E. Troeltsch: »Die Zukunftsmöglichkeiten des Christentums«, in: Logos 1 (1910– 1911) 2, 165–185, hier 169, 184. Simmel spricht nur in Bezug auf Nietzsche und den Individualismus der Renaissance vom Personalismus (vgl. G. Simmel: Schopenhauer und Nietzsche. Ein Vortragszyklus, 356, 391; G. Simmel: »Michelangelo. Ein Kapitel zur Metaphysik der Kultur« [1910], in: GSG 12, 111–136, hier 133). 129 E. Troeltsch: »Die Zukunftsmöglichkeiten des Christentums«, 167; vgl. dazu auch E. Troeltsch: »Die Bedeutung der Geschichtlichkeit Jesu für den Glauben«, in: F. Voigt (Hg.): Ernst Troeltsch Lesebuch. Ausgewählte Texte. Mohr Siebeck: Tübingen 2003, 61–92. 130 Siehe dazu: M. Pulliero: »Problématique néoreligieuse et sécularisation dans l’Allemagne wilhelminienne«, 82–84.
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weit verbreiteten Ausdruck zu verwenden, geht es ihm in seiner Entwicklung des Gottesbegriffs nicht um die »kulturelle Bedeutung der Religion«, sondern nur um eine funktionelle Metaphysik, bzw. Theologie, die als Beispiel und kulturelle Leistung des Relativismus-Programms gilt. 131 Aus kulturphilosophischer Sicht und entgegen allem Anschein eröffnet Simmels kosmotheologische Rhetorik nicht die Perspektive eines totalisierenden Kulturprozesses, sondern individualisiert das Problem der Kultur. Es liegt im Wesentlichen am Einzelnen, das moderne Problem der Diskrepanz zwischen dem Leben und den Formen seiner Objektivierung zu entschärfen. Außerdem gibt es umso weniger um Totalisierung, als die »Kultur nicht das einzige Wertdefinitivum der Seele ist«. 132 Die Theismus-Pantheismus-Dialektik gilt als Symbol nicht für alle Bildungen der Individualität und alle Dimensionen der Erfahrung, zum Beispiel nicht für die Ideen der Lebensführung, die einseitig »auf das Subjekt« (z. B. die Religiosität oder die Idee einer rein ethischen Bildung) oder »auf das Objekt [z. B. einen Künstler, Staatsmann, Erfinder oder Gelehrten] gerichtet sind«. Kultur ist eine (relative und immer vorläufige) Synthese. »Aber die Synthese ist nicht die einzige und nicht die unmittelbarste Einheitsform«. 133 Mit seinem Relativismus, der sich hier anhand der Idee eines wechselseitigen Zusammenspiels von Gott und der Welt manifestiert, will Simmel die Form der Synthese zum Ausdruck bringen, zu der die Moderne noch in der Lage ist: individuell, konfliktträchtig, immer an der Grenze der Fragmentierung – aber dennoch als regulative Idee erhalten. In einem Brief vom Jahr 1898 fragt Simmel Rickert: »[H]aben Sie denn nicht empfunden, dass in dem Gott, der um der Welt willen da ist, u. der Welt, die um Gotteswillen da ist – mein ganzer berüchtigter Relativismus liegt?« 134 Simmel verweist hier auf die »Paradoxien in der Jugend« (in der Zeitschrift Jugend), genauer auf seine »Theistische[n] Phantasien eines Fin-de-sièclisten«. Darin heißt es: »Voltaire hat behauptet, die Gottesidee wäre dem Menschen so unentbehrlich, dass, selbst wenn es keinen Gott gäbe, man ihn erfinden 131 Vgl. z. B. M. Rade: »Die Bedeutung der theologischen Fakultät für die heutige Kultur«, in: Akademische Rundschau. Zeitschrift für das gesamte Hochschulwesen und die akademischen Berufsstände 1 (1913), 632–650, hier 647. 132 G. Simmel: »Der Begriff und die Tragödie der Kultur«, 389. 133 Ebd., 397 f. 134 G. Simmel an H. Rickert: Brief vom 15. August 1898, in: GSG 22, 304 f., hier 305.
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müsste. Aber alle Lebendigkeit der Kultur hängt daran, dass ihr Verhältnis zu ihrem Gotte in fortwährenden Oscillationen verlaufe, leiseren oder stärkeren Schwingungen zu ihm und von ihm hinweg – wie der Einzelne in seiner enger eingerahmten Existenz die ganze Kraft seiner Religiosität erst an ihrem fortwährenden Pulsieren zwischen näherem und fernerem Verhalten zu seinem Gott entfaltet und fühlt – von der seligen Innigkeit der Verschmelzung mit ihm bis zur Verzweiflung der Gottentfremdung. […] [S]elbst wenn es einen Gott gäbe, man müsse ihn leugnen!« 135 Die darin gefundene funktionale Interpretation der Gottesidee kontrastiert mit Positionen, die zu Simmels Zeit gängig waren. Nicht der Inhalt der Gottesidee ist hier entscheidend, sondern die rein formale Oszillation, die sie enthält. Und umgekehrt geht es auch nicht darum, diesen oder jenen Inhalt der objektiven Kultur, zum Beispiel deren Ethik oder Religion, zu bewerten. Es ist auch keine formale Vereinheitlichung der Kultur, die durch diese funktionale Oszillation angestrebt wird, sondern die »Lebendigkeit der Kultur« selbst, d. h. das Heilmittel gegen die Versteifung kultureller Inhalte und die Dogmatisierung geistiger Einstellungen – und damit die Möglichkeit einer echten philosophischen Kultur bzw. eines echt philosophischen Lebens. 136
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135 G. Simmel: »Theistische Phantasien eines Fin-de-sièclisten« [1898], in: GSG 17, 371–374, hier 372. 136 Ich möchte Rebekka Wilkens für ihr Korrekturlesen herzlich danken.
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Form und Beziehung: Zur kritischen Funktion der Wechselseitigkeit bei Simmel Willi Goetschel
Simmel sah sich stets zuerst als Philosophen, gerade auch dort, wo er als Soziologe tätig war. Seine Soziologie (1908) schrieb er, wie er in Briefen nicht müde wird zu betonen, als Pflichtübung, um ein Fach zu etablieren, das auch philosophische Relevanz haben sollte. Soziologen bildete er bewusst nicht aus, weil das schon in der damaligen Situation hoffnungslos und darum, wie er meinte, unverantwortlich gewesen wäre. 1 Dass er dabei den Begriff der Philosophie programmatisch neu bestimmt und damit einen entscheidenden Impuls zur Richtungsänderung von Philosophie auslöste, die von Martin Buber, Georg Lukacs, Ernst Bloch und Margarete Susman bis in die Kritische Theorie der Frankfurter Schule eine prägende Rolle spielte, ist dabei gewiss einer der wichtigsten Aspekte von dem Erbe, von dem Simmel meinte, dass seine Erben es einst jeder auf seine Weise ausmünzen würden. 2 In einem Brief an Célestin Bouglé schreibt Simmel 1899: »Es ist mir überhaupt einigermaassen schmerzlich, dass ich im Ausland nur als Soziologe gelte – während ich doch Philosoph bin, in der Philosophie meine Lebensaufgabe sehe u. die Soziologe [sic!] eigentlich nur im Nebenfach treibe. Wenn ich erst einmal meine Verpflichtung gegen diese damit erfüllt haben werde, dass ich eine umfassende Soziologie publizire – was
»Dazu kommt, daß ich es vor meinem Gewissen nicht verantworten kann, junge Leute, die sich an mich anschließen möchten, an ein Gebiet zu fesseln, das nicht offiziell anerkannt ist, in dem kein Examen gemacht werden kann u. für das man sich in absehbarer Zeit nicht habilitiren kann.« (G. Simmel an G. Jellinek: Brief vom 15. Juli 1898, in: ders.: Gesamtausgabe, hg. von O. Rammstedt. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1989–2015 (im Folgenden GSG), Bd. 22, 297–299, hier 298). 2 »Ich weiß, daß ich ohne geistige Erben sterben werde (und es ist gut so). Meine Hinterlassenschaft ist wie eine in barem Gelde, das an viele Erben verteilt wird, und jeder setzt sein Teil in irgendeinen Erwerb um, der seiner Natur entspricht: dem die Provenienz aus jener Hinterlassenschaft nicht anzusehen ist.« (G. Simmel: »Aus dem nachgelassenen Tagebuche«, in: GSG 20, 261–296, hier 261). 1
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Willi Goetschel
wohl im Lauf der nächsten Jahre geschehen wird – werde ich wahrscheinlich nie mehr auf sie zurückkommen.« 3
Bei Simmels Bemühen, das Projekt der Philosophie auf neue Weise zu konzipieren, spielen zwei Begriffe eine zentrale Rolle: Form und Beziehung bilden eine Begriffskonstellation, in der sich für Simmel diese beiden Begriffe als korrelativ zueinander erweisen. Im Zuge der Ausdifferenzierung der Disziplinen am Ende des 19. Jahrhunderts wird die Philosophie angesichts des Phänomens der Ausfächerung der Wissensgebiete mit gesteigerter Dringlichkeit mit der Frage ihrer eigenen Zuständigkeit und Funktion konfrontiert. Simmels eigene Laufbahn reflektiert diese Problematik in paradigmatischer Weise. Sein Ansatz stellt eine kritische Antwort auf die Herausforderung dar, Philosophie neu zu denken und zwar nicht länger als inhaltsbestimmt und fachbezogen, sondern im Hinblick auf die Funktion der Beziehung, das heißt im Hinblick auf die Korrelation von Form und Beziehung als der grundlegenden Funktion, aufgrund derer Form bei Simmel als kritischer Begriff neu in den Blick tritt. 4 Diese kritische Entwicklung wird bei Simmel begleitet von einer zuweilen schmerzhaften Erfahrung akademischer Disziplinierung, der sich Simmel ausgesetzt fand angesichts der gesellschaftlichen Umgangsformen, wie sie im akademischen Umfeld des späten 19. Jahrhunderts herrschten. Die Frage der Funktion und Stellung der Philosophie selbst wurde so unter anderem für Simmel zum Anlass, die Frage nach der soziologischen Funktionsweise der Philosophie zu stellen
G. Simmel an Célestin Bouglé: Brief vom 13. Dezember 1899, in: GSG 22, 342–343, hier 342; vgl. auch G. Simmel an G. Jellinek: Brief vom 23. Dezember 1907, in: GSG 22, 597 f., hier 598; G. Simmel an G. Jellinek: Brief vom 20. März 1908, in GSG 22, 617 sowie G. Simmel an R. Michels: den Brief vom 6. August 1913, in: GSG 23, 201 f., hier 201. Für eine erhellende Diskussion von Simmels drei zentralen Interessengebieten Philosophie, Soziologie und Ästhetik vgl. H.-P. Müller und T. Reitz: »Einführung«, in: dies. (Hg.): Simmel-Handbuch: Begriffe, Hauptwerke, Aktualität. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 2018, 11–90 sowie den wichtigen Eintrag D. Thouard: »Philosophie«, in: H.-P. Müller und T. Reitz (Hg.): Simmel-Handbuch, 417–423. 4 Für eine aufschlussreiche Diskussion des Formbegriffs bei Simmel vgl. G. Oakes: »Introduction«, in: G. Simmel: Essays on Interpretation in Social Science, hg. und übers. von G. Oakes. Rowman and Littlefield: Totowa NJ 1980, 3–94, hier insbesondere den Abschnitt »The Theory of Form«, 8–27; vgl. auch R. H. Weingartner: »Form and Content in Simmel’s Philosophy of Life«, in: K. H. Wolff (Hg.): Georg Simmel, 1858–1918. A Collection of Essays. Ohio State University Press: Columbus OH 1959, 33–60. 3
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Form und Beziehung: Zur kritischen Funktion der Wechselseitigkeit bei Simmel
und die Philosophie auf diese hin kritisch zu hinterfragen und in der Folge neu und anders zu konzipieren. Zunächst ist dieser Problemzusammenhang mit einem pragmatischen Beispiel kurz vor Augen zu führen, nämlich wie genau sich denn diese Problematik in Simmels eigener Sicht im Hinblick auf die Philosophie als Disziplin mit ihren professionellen, fachlichen, wissenschaftspolitischen und institutionellen Herausforderungen, wie sie um die Jahrhundertwende mit besonderer Unnachgiebigkeit herrschten, darstellt. Und zwar darum, weil diese Perspektive ein paar Hinweise auf die Frage von Form und Beziehung schlechthin zu geben imstande ist. Betrachten wir die Frage, wie Simmels Verhältnis zur Philosophie zu bestimmen sei, also die Frage, inwiefern er oder bestimmte Aspekte seines Denkens als philosophisch zu bestimmen seien, so erweist sich die Form/Beziehung-Relation als ein Verhältnis von Wechselseitigkeit, das ein erhellendes Licht auf die Frage nach der Philosophie selbst zu werfen vermag. Es ist dies eine Frage, die den Vorgang der Ausdifferenzierung der wissenschaftlichen Disziplinen aus dem Schoße der Philosophie kompliziert und nahelegt, dass der Prozess der Wissenschaftsausdifferenzierung erhebliche Implikationen für die Philosophie selbst bewirkt. Während die Betonung darauf geht, dass Simmel ein Exponent des Prozesses dieser Diskursausdifferenzierung ist, erweist sich bei näherer Betrachtung, dass Simmels eigene Stellung durchaus komplexer Gestalt ist. Indem Simmel in theoretisch pragmatischer Form, nämlich performativ, die Frage der Form produktiv, das heißt durch den Prozess seiner argumentativen Linienführung in einen kritischen Diskurs überführt, transformiert er den Formbegriff in einen durch Funktion bestimmten Relationsbegriff. Er tut dies in zunehmend theoretisch expliziterer Weise. Mit dieser theoretischen Intervention geht aber eine biographisch, beziehungsweise wissenschaftspragmatisch inszenierte Wendung einher, die Simmels kritische Bedeutung auf der Ebene pragmatischer Bedeutung vorführt. Simmel betont dabei die Formfrage als die zentrale Frage seiner theoretischen Untersuchungen. Und indem er dies tut, bewegt er sich auch auf philosophisch relevantem Boden. Dabei bestimmt Simmel aber Form von Grund auf in neuer Weise. Und indem er dies tut, eröffnet er der Philosophie selbst in produktiver Weise einen neuen Ansatz, Form neu und anders, eben als Funktion von Beziehung zu verstehen. Die alte und immer wieder neu in Anschlag gebrachte 331 https://doi.org/10.5771/9783495824009 .
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taxonomisch aber damit bereits ins Abseits manövrierte Frage, ob das denn nun Philosophie sei, erweist sich dadurch als erledigt. Denn Philosophie ist nun nicht länger durch disziplinkonformes Einhalten von Form und Etikette bestimmt, sondern qualifiziert sich dadurch, ob ihre Formen philosophischer Praxis sich als funktionsadäquat erweisen. Diese Verschiebung lässt sich biographisch, das heißt in der von Simmels eigener Karriere sich abzeichnenden Differenz ablesen, inwiefern seine intellektuelle, publizistische und institutionelle Laufbahn sich dezidiert vom konventionell praktizierten Formbegriff unterscheidet, wie ihn noch die Fin-de-Siècle-Attitüden seiner philosophischen Fachkollegen bestimmt. 5 So ist es denn auch kein Zufall, dass Simmel professionell insbesondere zu Beginn seiner akademischen Laufbahn, aber auch bis zuletzt, immer wieder aufgrund sogenannter Formfragen Anlass zu Ärger seitens der Fachvertreter und Verwalter der Disziplin gab. Simmel selbst macht auf diesen Punkt immer wieder aufmerksam, indem er auf diese Differenz zuweilen mit Vorliebe hinwies. An Husserl schrieb er so 1911 mit Dank und Zustimmung den Erhalt von Husserls »Philosophie als strenge Wissenschaft« (1911) bestätigend: »[e]s scheint, wir müssen uns im Großen u. Ganzen dahin resignieren, daß die deutschen Ordinariate für die Philosophie verloren sind.« 6 Damit war es Simmel allerdings Ernst und seine Meinung kam ihm denn auch teuer zu stehen, wenn auch jemand wie Husserl mit ihm durchaus übereinstimmen mochte. Die Pointe von Simmels Ansatz, Form in neuer Weise zu denken, besteht denn nicht darin, Form als unwesentlich an den Rand zu schieben, sondern umgekehrt den Formbegriff gerade zur zentralen Problematik seines Denkens zu erheben. Dabei deckt der Begriff allerdings mehr ab als eine konventionelle Bedeutung beinhalten mag und erhält gleichzeitig eine heuristisch kritische Funktion. Der Begriff der Form wird damit selbst zum philosophischen Thema, das so nicht länger als Moment einer Letztbegründung verstanden wird, sondern als selbst der Begründung bedürftig. Als erkenntnistheoretisch grundlegende Kategorie selbst zum explanandum geworden, kann Form also selbst nichts weiter erklären, sondern wird selbst zum Eine aufschlussreiche Untersuchung mit Blick auf die Frage von Simmels transdisziplinärer Stellung bietet E. Goodstein: Georg Simmel and the Disciplinary Imaginary. Stanford University Press: Stanford CA 2017. 6 G. Simmel an E. Husserl: Brief vom 13. März 1911, in: GSG 22, 950 f., hier 950. 5
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Form und Beziehung: Zur kritischen Funktion der Wechselseitigkeit bei Simmel
Objekt der Untersuchung. So geht bei Simmel Form auch in der Folge jeder ontologischen wie normativen Bestimmung verlustig. Indem Form durch Funktion bestimmt wird, wird sie zu einem Wechselbegriff, der nur in jeweils wechselnden Beziehungskonstellationen Bedeutung annimmt. Damit wird der Formbegriff nun aber auch erst der philosophischen Analyse zugänglich, ohne ihn einfach zu historisieren oder psychologischen Reduktionsverfahren anheimfallen zu lassen. Soziologisches Denken wird damit als philosophische Methode deutlich, Multiperspektivität erkenntnistheoretisch fruchtbar zu machen. Wie Guy Oakes bemerkt: »No form has a privileged ontological, epistemological, or logical status.« 7 Es mag merkwürdig erscheinen, Simmels Philosophie als kritische Analyse von Formen zu verstehen. Das Merkwürdige daran schwindet aber sobald deutlich wird, dass es sich bei Simmel um einen radikal gewandelten Formbegriff handelt, der Funktion als das entscheidende Moment von Form theoretisch erkennt. Soziologie, oder genauer gesagt, Simmels Ansatz der Soziologie gewinnt dann auch für die Philosophie kritische Bedeutung, weil Soziologie Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung bietet, wie der Untertitel der großen Soziologie von 1908 formuliert oder wie Simmel zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses soziologischen Grundwerkes, als welches er dieses Buch konzipiert hatte, im selben Jahr in einem Brief schreibt: Soziologie ist die »Lehre von den Formen der menschlichen Wechselwirkungen«. 8 Dass eine solche Sicht, wie implizit und sorgfältig verklausuliert Simmel sie auch formuliert, der akademischen Fachphilosophie Anathema bleiben musste, bedarf wohl kaum einer weiteren Erklärung. Und Simmel ist daher auch durch die disziplinäre Aufrechterhaltung der Grenzen der Berufsphilosophie konsequent aus der Philosophie ausgeschlossen worden, wo sie sich nicht dazu bewegen lassen hat, ihn wenigstens am Rand als kuriose Marginalie oder als philosophischen Dilettanten zu dulden. Das Thema der Umgangsformen – wie wir Simmels soziologische Thematik etwas nonchalant bezeichnen könnten – gewinnt also, richtig verstanden, eine nicht-triviale Signifikanz, die sich dabei nicht Für eine Diskussion der unterschiedlichen Formbegriffe, die bei Simmel im Spiel sind, vgl. D. Silver und M. Brocic: »Three Concepts of Form in Simmel’s Sociology«, in: The Germanic Review 94 (2019) 2, 114–124. 8 G. Simmel an G. F. Steffen: Brief vom 30. Oktober 1908, in: GSG 22, 664 f., hier 664. 7
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Willi Goetschel
aufs Soziologische allein beschränkt, denn Formen sind mit Simmel gesprochen eben immer schon nichts anderes als Umgangsformen, das heißt Formen des Umgangs nicht nur gegenüber Menschen, sondern letztlich auch Dingen, Gegenständen und Methoden gegenüber. Mit anderen Worten: Formen sind bei Simmel interaktiv, das heißt durch Wechselseitigkeit bestimmt gedacht. Das muss angesichts von Simmels passionierter Leidenschaft gegenüber allem Ästhetischen nicht eigens vorexerziert werden, denn Ästhetik ist bei Simmel immer schon als gesellschaftliches Phänomen gedacht – und bekanntlich gerade auch dort, wo Kunst dem naiven Auge als abgehobener und vom Sozialen getrennter Bereich erscheint. Hier nur ein kleines Beispiel, wie dies bei Simmel pragmatisch zum Ausdruck kommt. In einem Brief an den Freund und Dichter Paul Ernst, versucht Simmel den Autor davor zu bewahren, sich den Vorgaben der »ästhetischen formvollendetheit des klassizismus« zu unterwerfen und damit, wie Simmel es ausdrückt, »seinen eigenen genius zu verleugnen«. 9 Und nun kommt die entscheidende Stelle: »das geschah im grossen maasse an schiller, als er von kabale u. liebe zum jambendrama überging, im kleinen an hauptmann, als er von den webern zur versunknen glocke umbog […].« 10 Simmel lehnt also Schillers normenschweren Klassizismus energisch ab ebenso wie Hauptmanns neoklassizistische Aspirationen. Der zitierten Stelle folgen Ausführungen zu Maeterlink, Dürer und anderen, um dann auf das in Frage stehende Drama von Paul Ernst zu sprechen zu kommen, angesichts dessen Simmel folgende die Form betreffenden Bemerkungen festhält: »ein solcher bruch der gestaltung zwischen umriss u. erfüllung, zwischen leben u. äusserung weist darauf hin, dass die instinkte irritiert sind, dass die überdeckung eines ursprünglichen seelischen stromes mit einem ganz andersgerichteten das reine, durch keine kunstregel zu ersetzende gefühl für die organische stileinheit des werkes verwirrt hat. es nützt nichts, das jambendrama für die objektiv höhere kunstform zu erklären. die erfahrung zeigt ersichtlich, dass kunstwerke, die aus einer solchen, eigentlich abstrakten überlegung, statt aus dem natürlichen zuge des genius heraus bestimmt sind, immer im letzten grunde uninteressant sind […].« 11
G. Simmel an P. Ernst: Brief vom 1. Januar 1910, in: GSG 22, 768–771, hier 768. Ebd., 768 f. 11 Ebd., 769. 9
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Form und Beziehung: Zur kritischen Funktion der Wechselseitigkeit bei Simmel
Im Folgenden merkt Simmel an, dass dies freilich eine Sache des Geschmacks sei. Aber die theoretisch relevante Implikation ist unüberhörbar: dass nämlich Form und Perfektion der Form Kunst geradezu unterminieren kann. Anders formuliert: Form und ihre Vollendung bestehen allein dort, wo schöpferische Schaffenskraft ihre Form organisch hervorbringt, oder weniger metaphorisch gesprochen, wo Form reine Funktion des zum Ausdruck Gebrachten, das heißt der Darstellung wird. Etwas weniger wohlwollend thematisiert Simmel diese Spannung zwei Jahre früher in seinem Aufsatz »Das Problem des Stiles« als den Unterschied zwischen Kunst und Kunstgewerbe. 12 Bestimmt Simmel in seiner Soziologie von 1908, wie wir gesehen haben, Form als den Inhalt soziologischer Untersuchung, nämlich als die Formen der Vergesellschaftung, so macht das einleitende erste Kapitel der Soziologie deutlich, dass das Interesse soziologischer Untersuchung auf die Vergesellschaftung als die »Formen des Miteinander und Füreinander […] unter dem allgemeinen Begriff der Wechselwirkung« geht, die sich als in »in unzähligen verschiedenen Arten sich verwirklichende Form« erweist. 13 Es mag denn wohl kaum überraschen, dass Form und Beziehung funktionell so zusammengedacht werden, dass Simmel sein Programm der Soziologie als die »Beobachtung der Realisierung von Beziehungsformen der Menschen« bezeichnet. 14 Beziehungsformen oder Formen gesellschaftlicher Beziehungen sind also für Simmel immer schon Formen, die durch Beziehung konstitutiv bestimmt sind. Bereits in einem Brief an den französischen Soziologen Célestin Bouglé beschreibt Simmel 1896 die Aufgabe der Soziologie bestehe darin, »die Studenten zu dem soziologischen Blick zu erziehen, auf den alles ankommt, u. der in der einzelnen sozialen Erscheinung sogleich die soziale Form u. den materialen Inhalt zu scheiden versteht«. 15 Form ist also eminent eine gesellschaftliche Erscheinung und stets eine Funktion der Beziehung und nicht des Inhalts, wie Simmel betont. Und so ist Form immer schon Beziehungsform und damit funktionell gedacht. Dies gilt nun nicht nur für die Soziologie, sondern grundsätzlich auch in der Philosophie überhaupt, wie Simmel
G. Simmel: »Das Problem des Stiles« [1908], in: GSG 8, 374–384, hier 376. G. Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung [1908]. Duncker & Humblot: Berlin 51968, 5. 14 G. Simmel: Soziologie, 19, Hvh. W. G. 15 G. Simmel an C. Bouglé: Brief vom 22. November 1896, in: GSG 22, 229. 12 13
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Willi Goetschel
1910, in dem kleinen Göschenbändchen Hauptprobleme der Philosophie deutlich macht. Dort findet sich im ersten Kapitel, »Vom Wesen der Philosophie« überschrieben, folgende Bemerkung: »Es gibt vielleicht keine Notwendigkeit des Denkens, deren wir uns – obgleich sie weder logischer Zwang noch den der fühlbar gegebnen Tatsächlichkeit enthält – so wenig entschlagen können, als der Zerlegung der Dinge in Inhalt und Form. In unzähligen, so und anders benannten Modifikationen durchzieht diese Scheidung unser Weltbild, als eine der Organisationen und Gelenkigkeiten, mit denen der Geist die in ihrer unmittelbaren Einheit ungefüge Masse des Daseienden sich gefügig macht.« 16
Im kritischen Gegensatz zu Kant, beziehungsweise wie Simmel selbst formuliert im Widerspruch zu Kant, von dem Simmel ja durchaus untergründig bestimmt bleibt, wie Margarete Susman so zutreffend bemerkt hat, wird die Differenz zum Kantischen Formbegriff bei Simmel zum kritisch entscheidenden Punkt. 17 Denn bei Kant sind, wie Simmel festhält, »die Grundformen […] keiner Evolution unterworfen«. 18 Jenseits von einem historischen oder psychologischen Reduktionismus, gegen die sich Simmel konsequent wehrt, schreibt er der Unterscheidung zwischen Form und Inhalt eine kulturelle Dynamik zu, die erkenntnistheoretische Signifikanz annimmt: »Wenn Fichte sagt, was für eine Philosophie jemand habe, hänge davon ab, was für ein Mensch er wäre – so gilt dies weit über die Philosophie und weit über den einzelnen Menschen hinaus. Was für eine Wissenschaft die Menschheit in einem gegebnen Augenblick hat, hängt davon ab, was für eine Menschheit sie in diesem Augenblick ist; und wie sich die Unvollendetheit und geschichtliche Zufälligkeit ihres Seins zu der Idee ihrer Vollendung verhält, so ersichtlich die Formen und Kategorien, die für sie in jedem Jetzt Wissenschaft bedeuten, zu jenen, die für die Gestaltung des gesamten Weltinhalts zur Wissenschaft zulänglich wären.« 19
Gewiss, die Einsicht, dass Form letztlich eine Relation bedeutet, taucht bereits in Kants Diskussion der Amphibolie der Reflexionsbegriffe auf. 20 Aber Simmel wendet seine Kritik nicht zuletzt gegen Kants Moralrigorismus, bei dem Form normative Geltung gewinnt. G. Simmel: Hauptprobleme der Philosophie [1910], in: GSG 14, 7–157, hier 19 f. Vgl. M. Susman: Die geistige Gestalt Georg Simmels. Mohr: Tübingen, 1959, 22. 18 G. Simmel: Hauptprobleme, 22. 19 Ebd. 20 Vgl. I. Kant: Kritik der reinen Vernunft [1781/21787], Bd. 1, in: ders.: Werkausgabe, hg. von W. Weischedel, Bd. 3. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1974, A 260–292/ B 316–349. 16 17
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Form und Beziehung: Zur kritischen Funktion der Wechselseitigkeit bei Simmel
Es ist aber in der Diskussion von Plato, wo Simmels Erläuterungen zum Formbegriff besondere Bedeutung erlangen. Die Diskussion nimmt eine zentrale Stelle im Kapitel »Vom Subjekt und Objekt« ein, das dem konstitutiven Wechselverhältnis dieses grundlegenden Begriffspaars nachgeht. Die Unterscheidung von Subjekt und Objekt stellt für Simmel eine begriffliche Grundproblematik dar, deren kritische Bedeutung in Adornos Insistenz auf der »Präponderanz des Objekts« Resonanz findet, wie sie in der Negativen Dialektik und dem Aufsatz »Zu Subjekt und Objekt« zum Thema wird. 21 Simmel lehnt dabei wie Adorno jede Form von Verdinglichung von Subjekt und Objekt energisch ab. Stattdessen besteht er auf dem irreduziblen Wechselverhältnis, das die beiden Begriffe verbindet und aneinanderknüpft, indem er hinweist auf »das tiefe Problem, daß Subjekt und Objekt einheitlich zusammengehören und dennoch in tiefer gegenseitiger Fremdheit beharren«. 22 Indem für Plato die Ideen eine Lösung versprechen, den wechselseitigen Nexus, auf dem die Dialektik von Subjekt und Objekt beruht, konzeptionell in den Griff zu bekommen, übernehmen die Ideen bei Plato eine kritische Funktion. Plato tut dies aber in einer Weise, wie Simmel festhält, wodurch die Ideen selbst keinerlei ontologische Bedeutung annehmen. Vielmehr besteht für Simmel Platos entscheidende Bedeutung darin, dass Plato laut Simmel das Reich der Ideen in einen »›unräumlichen Raum‹ (τόπος ἄτοπος) verlegt«. 23 Diese metaphysische Fassung des Problems erlaubt Plato – in Simmels Lesart – einen Ansatz der Simmels aufs Genaueste entspricht. Ebenso wie Platos Ideen, richtig verstanden, keinerlei andere als metaphysische Wirklichkeit annehmen, welche, wie Simmel erklärt, »sich freilich auch über jene konkreten, physischen oder psychischen, Wirklichkeitsarten erhebt«, so sieht Simmel selbst Form als nichts anderes als eine Funktion des epistemologischen Prozesses. 24 Form dient bei ihm einem rein und ausschließlich heuristischen Zweck. Aus genau diesem Grund bezeichnet Simmel Platos Entdeckung als seine »große metaphysische Tat […], die in seiner Ideenlehre eine der weltT. W. Adorno: Negative Dialektik [1966], in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 6, hg. von R. Tiedemann. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1973, 7–408, hier 184 und T. W. Adorno: »Zu Subjekt und Objekt« [1969], in: Gesammelte Schriften, Bd. 10.2, hg. von R. Tiedemann. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1977, 741–758. 22 G. Simmel: Hauptprobleme, 102. 23 Ebd., 99. 24 Ebd. 21
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geschichtlichen Lösungen des Subjekt-Objekt-Problems gezeitigt hat«. 25 Und er führt auf diese Weise, um seine Affinität mit dieser Lesart der Platonischen Philosophie, die gerade von einer ontologischen oder ontologisierenden Option absieht, umso deutlicher hervorzuheben, aus: »Man kann diese Tat so bezeichnen, daß Plato die Tatsache der geistigen Welt entdeckt hat«. 26 Ideen und Begriffe kommen, ebenso wie Formen, für ihn nur in Betracht insofern sie erkenntniskonstituierende Bedeutung gewinnen. Das heißt nicht, dass Plato in Simmels Augen nicht der Gefahr ausgesetzt ist, von dieser avancierten »Erkenntnisstufe« zuweilen auf eine »primitive« zurückzufallen. 27 Dennoch hält Simmel daran fest, dass Plato, korrekt verstanden, einem solchen Rückfall gerade prinzipiell widersteht, dem allerdings seine Anhänger unterliegen mögen, wo sie der Versuchung verfallen, Ideen und Formen in verdinglichter Weise als wirklich existierende Dinge zu hypostasieren. Form hingegen, wie Simmel betont, ist selbst bei Plato letztlich nie ein Ding, dem als solches Wirklichkeit zugesprochen werden könnte, sondern ein exklusiv heuristisches Erkenntnismittel, dessen erkenntnistheoretischer Gewinn stets als Dividende sich einstellt, die allein der Nexus von Form und Beziehung generiert. In Simmels Tagebuch findet sich so der Eintrag, dass Geld die einzige »reine Kraft« sei, die Kultur produziere. Sie sei »reine Beziehung«, die frei jeglichen Inhalts dieser Beziehung sei. 28 Reine Form, wo sie existiert, ist für Simmel so stets eine reine Form einer spezifischen Erfahrung oder Beziehung. Reine Form an sich aber existiert nicht. Geld zum Beispiel, wie die Philosophie des Geldes notiert, ist die reine Form von Austausch. 29 Ästhetische Erfahrung ist allein möglich weil Form wahrnehmbar wird aufgrund des Inhalts, den sie reflektiert. Nehmen wir als Beispiel von Inhalt etwa »Quantität«, wie Simmels Essay »Die Alpen« deutlich macht: »Wir sind gar nicht imstande, eine reine Form, d. h. das bloße Verhältnis von Linien, Flächen, Farben zu genießen, sondern wie unsere sinnlich-geistige Art nun einmal beschaffen ist, bindet sie diesen Genuß an eine bestimmte Quantität solcher Formen.« 30 25 26 27 28 29 30
Ebd., 96. Ebd. Ebd., 100. G. Simmel: »Aus dem nachgelassenen Tagebuche«, 295. G. Simmel: Philosophie des Geldes [1900], in: GSG 6, 7–716, hier 138. G. Simmel: Philosophische Kultur. Klinkhardt: Leipzig 1911, 147.
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Form und Beziehung: Zur kritischen Funktion der Wechselseitigkeit bei Simmel
Aus dieser Bemerkung können wir schließen, dass die reine Form unabhängig von der spezifischen Erkenntnisfunktion, die sie in systematischer Absicht einnimmt, als ein für sich genommener Begriff zur nichtssagenden Abstraktion wird, die allerdings anders als Geld etwa, jede distinkte Form entbehrt, weil der Begriff einer Form der Form in einer reinen Tautologie endet. Wie Omar Lizardo treffend bemerkt: »Form and content co-exist in the social world, as two sides of the same coin.« 31 Im Kapitel »Die Kreuzung sozialer Kreise« der Soziologie bietet Simmel denn so eine prägnante Beschreibung der erkenntnistheoretischen Bedeutung seines Formbegriffs: »Allenthalben sind Form und Inhalt nur relative Begriffe, Kategorien der Erkenntnis zur Bewältigung der Erscheinungen und ihrer intellektuellen Organisierung, so daß ebendasselbe, was in irgendeiner Beziehung, gleichsam von oben gesehen, als Form auftritt, in einer anderen, von unten gesehen, als Inhalt bezeichnet werden muß.« 32 Während Form bereits in Simmels früheren Texten als Kontrastund Gegenbegriff zum Begriff des Lebens auftaucht, gewinnt Form in seinem letzten Werk Lebensanschauung (1918) eine an nichts mehr zu wünschen übriglassende Deutlichkeit. Hier findet sich auf der ersten Seite des dritten Kapitels »Tod und Unsterblichkeit« der entscheidende Satz: »Das Geheimnis der Form liegt darin, daß sie Grenze ist; sie ist das Ding selbst und zugleich das Aufhören des Dinges, der Bezirk, in dem das Sein und das Nichtmehrsein des Dinges Eines sind.« 33 Und noch deutlicher zwei Sätze später: »Dadurch, daß das Lebendige stirbt, daß das Sterben mit seiner Natur selbst (gleichviel ob aus begriffener oder noch nicht begriffener Notwendigkeit heraus) gesetzt ist, bekommt sein Leben eine Form.« 34 Form ist damit aber auch, wie Simmel zwei Seiten später deutlich macht »ebenso im zeitlichen Hintereinander der Lebensmomente wie im räumlichen Nebeneinander« zu finden. 35 Simmel spricht denn auch vom »fundamentale(n) Gegensatz zwischen dem Prinzip Leben und dem Prinzip Form«, wobei allerdings die Dialektik darin besteht, O. Lizardo: »Simmel’s Dialectic of Form and Content in Recent Work in Cultural Sociology«, in: The Germanic Review 94 (2019) 2, 93–100. 32 G. Simmel: Soziologie, 331. 33 G. Simmel: Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel [1918], in: GSG 16, 209–425, hier 297. 34 Ebd. 35 Ebd., 299. 31
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dass »das Leben sich nur in Formen dartun kann«. 36 Das bedeutet aber auch, und in dieser Konsequenz ist Simmels Klarheit geradezu befreiend, den Widerspruch des Lebens direkt und ungescheut zur Sprache zu bringen: »Sowie das Leben sich bewußt geistig oder kulturell, schöpferisch oder historisch bestimmt, ist es auch damit behaftet, nur in der Form seines eigenen, von ihm unmittelbar erzeugten Widerspruchs zu existieren, in der Form von Formen.« 37 Simmel sieht Form so als sich stets dynamisch veränderndes Produkt, das im Strom des Lebens und seinem unendlichen Fluss von Beziehungen im dauernden Wechselspiel sich bildet und verändert. Dies ist, worin Simmel die Manifestationen des Lebens erkennt: als ein permanentes Wechselspiel des Widerspruchs zwischen dem Leben und den Formen, die es produziert, um sie in der Folge gleichsam in einem Abhäutungsprozess hinter sich zu lassen. So manifestiert sich das Leben in seiner vitalen Schaffenskraft, indem es in immer neuen Gestaltungen den Reichtum seiner Formen in ihrer Mannigfaltigkeit aufzeigt. Soweit eine knappe Zusammenfassung, wie Simmel Form als ephemeres Moment eines Prozesses darstellt, das entsteht, um auch schon wieder zu vergehen beziehungsweise abgelegt zu werden, und sich in einer fortlaufenden Schleife des Lebensprozesses konstituiert, um sich dann immer wieder neu- und umgestaltend zu rekonstituieren. Simmel spricht hier dabei konsequent von einem dauernden Wechselspiel als einem immer wieder neu sich konfigurierenden Spiel von Beziehungen, in denen Form sich als Funktion des Lebens manifestiert, das in dem Moment, in dem es zur Form gerinnt, auch schon überlebt und wie eine abgelebte Haut wieder abgestoßen wird. In ähnlicher Weise laufen so auch die Formen philosophischen Denkens durch Umgestaltungsprozesse, in denen sich aufeinander folgende Lebensphasen manifestieren, in denen immer wieder abgelebte Lebensformen abgestoßen werden, um neuen Raum zu machen. So stellt gerade die Zeitgebundenheit philosophischen Denkens nicht die Begrenztheit ihrer Formgebungen dar, sondern macht erst ihre schöpferische Lebenskraft und Relevanz möglich. Es ist dabei von entscheidender Bedeutung, dass Simmel konsequent den Begriff Dialektik vermeidet und lediglich von Wechselseitigkeit spricht. Während etwa Autoren wie der spätere Engels die 36 37
Ebd., 352. Ebd.
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Form und Beziehung: Zur kritischen Funktion der Wechselseitigkeit bei Simmel
Begriffe Dialektik und Wechselwirkung synonym verwenden und vor allem mit marxistischen Bedeutungsinhalten besetzen, wird Wechselseitigkeit bei Simmel zu einem Terminus der Unterscheidung, gerade um sich des Begriffs der Dialektik nicht bedienen zu müssen. 38 Bei Simmel taucht der Begriff der Dialektik fast gar nicht auf, und wo er es tut, scheint er durchaus untypisch für Simmel zu sein. Er taucht denn auch nur in einem kurzen Text auf, in dem der Begriff der Dialektik im Titel steht, erschienen in einem Artikel, der in der Zeitung Der Tag vom 28. September 1916, und zwar im Illustrierten Teil: »Die Dialektik des deutschen Geistes«. 39 Es spricht für sich, dass Dialektik in diesem Zusammenhang als ein Terminus verwendet wird, welcher eher negative Konnotationen anklingen lässt. Dialektik signalisiert hier eher Trübes, Finsteres, Dunkles, Verhängnisvolles und zuletzt potenziell Unheil und Zerstörung. Mit den bei Simmel zuweilen wechselseitig austauschbaren Termini der Wechselwirkung, -beziehung, und -seitigkeit dagegen kommt eine andere Dynamik ins Spiel, die mit ihrer fortlaufend rekursiven Schleifenbewegung einen grundsätzlich anderen und ungleich hoffnungsvolleren Ansatz in Anschlag bringt, dessen lebensbejahender Ton eine ungleich verheißungsvollere Note anklingen lässt. Der von Simmel verwendete Begriff der Wechselseitigkeit unterscheidet sich von der bei Hegel vorhandenen idealistischen Aufladung ebenso wie von der marxistisch besetzten materialistisch orientierten Teleologisierung einer historischen Entwicklungserwartung, die bei Simmel illusionsresistent als Schematismus abgewiesen wird, vor dem der Begriff der Wechselseitigkeit gerade bewahrt. Simmel eröffnet damit die Möglichkeit dialogischen Denkens, das mit Dialektik zwar den Begriff der Wechselseitigkeit teilt, ihn aber anders denkt. Und zwar im Unterschied zur Dialektik ganz ohne das der Dialektik wesentliche Moment der Transformationserwartung zu einem höherwertigen Zustand – ein metaphysisches Versatzstück, dem Sim-
Vgl. F. Engels: »Dialektik der Natur« [1925], in: K. Marx und F. Engels: Werke, Bd. 20. Dietz: Berlin 1975, 305–570, hier 499 sowie und den Abschnitt »Genéalogie de la ›Wechselwirkung‹«, in: V. Morfino, Le temps de la multitude, übers. von N. Gailius. Éditions Amsterdam: Paris 2010, 67–74; vgl. auch den Eintrag zum Begriff der Wechselwirkung von P. Ziche: Wechselwirkung [Art.], in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, hg. von J. Ritter, K. Gründer und G. Gabriel. Schwabe: Basel 2004, 324–341. 39 G. Simmel: »Die Dialektik des deutschen Geistes« [1916], in: GSG 13, 224–230. 38
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mels kritisch erkenntnistheoretisch fundierte Spielart des Vitalismus aufs genauste widerspricht. In seiner Einleitung zu dem Auswahlband seiner Schriften in französischer Übersetzung mit dem Titel Mélanges de philosophie relativiste. Contribution à la culture philosophique 40, definiert Simmel Philosophie nicht durch irgendeine eine Art von Inhaltsbestimmung, sondern bezeichnet sie vielmehr als eine funktionale Form (»forme fonctionelle«). 41 Während Simmel die Beschreibung seiner Philosophie als relativistisch nicht weiter begründet, weist der Schlusssatz auf den kritischen Punkt hin, der Simmel dabei motiviert: »Philosophie besteht nicht in einem isolierten Inhalt, sondern in einer Funktion des Geistes; einer Funktion, die allen Inhalt, worin er auch bestehe, in der Unendlichkeit der Formen begreifen und erkennen kann, die sie schafft.« 42 In einem Brief, den Simmel vier Jahre später an Heinrich Rickert schreibt, führt er aus, was er mit dem Begriff Relativismus genau meint. Für Simmel bezeichnet er eine positive metaphysische Weltanschauung »so wenig Skeptizismus, wie der physische R. von Einstein oder Laue«: Relativismus »bedeutet für mich durchaus nicht, daß Wahrheit u. Unwahrheit zueinander relativ sind; sondern: daß Wahrheit eine Relation von Inhalten zueinander bedeutet, deren keiner für sich sie besitzt, grade wie kein Körper für sich schwer ist, sondern nur im Wechselverhältnis mit einem anderen. Daß einzelne Wahrheiten in Ihrem Sinne relativ sind, interessiert mich dabei garnicht, grade nur ihr Ganzes ist es, oder richtiger ihr Begriff.« 43
In der Folge eröffnet Simmel die Möglichkeit dialogischen Denkens, die mit der Dialektik zwar den Term der Wechselwirkung teilt, ihn aber unterschiedlich fasst: nämlich mit der Differenz, den Begriff der Beziehung frei und unbeschwert von jeglicher Implikation eines transformativen Schritts zu einer wie auch immer höheren Stufe zu denken. Denn von Simmels Spielart des Vitalismus können solche G. Simmel: Mélanges de philosophie relativiste. Contribution à la culture philosophique [1912], übers. von Alix Guillain, in: GSG 19, 137–371. 41 G. Simmel: »Préface« [1912], in: ders.: Mélanges de philosophie relativiste. Contribution à la culture philosophique, übers. von Alix Guillain, in: GSG 19, 139–142, hier 139. 42 »[L]a philosophie n’est pas un contenu isolé, mais une fonction de l’esprit, fonction qui peut concevoir et réaliser tout contenu, quel qu’il soit, dans l’infinité des formes qu’elle crée.« (Ebd., 142) 43 G. Simmel an H. Rickert: Brief vom 15. April 1916, in: GSG 23, 636–639, hier 638. 40
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Form und Beziehung: Zur kritischen Funktion der Wechselseitigkeit bei Simmel
Aspirationen einer Transformation zu höherwertigen Synthesen nur als hoffnungsloser Auswuchs anachronistischer Aspirationen erscheinen, deren metaphysische Attitüden Zeichen längst abgelebter Denkformationen sind. Diese dialogische Öffnung – das ist Simmel erkenntnistheoriekritischer Punkt – befreit nicht nur den Formbegriff von obsoleten Zwangsvorstellungen, sondern schafft auch Raum für eine Pluralität, wie die früher angeführte »Form der Formen« deutlich macht, und sie tut dies, indem sie Alterität in den Formbegriff einschreibt. 44 Anstatt den Formbegriff in Frage zu stellen oder aufzugeben, öffnet ihn Simmel, indem er einen kritischen Ansatz artikuliert, Form dynamisch zu denken, weil diese Richtungsänderung Form gerade nicht dialektisch als Resistenz gegenüber Differenz bestimmt, sondern umgekehrt auf Differenz hin offenhält. Statt Form als Programm von Resistenz gegen Differenz und Assimilation von Alterität bis hin zur vollständigen Substitution zu verstehen, stellt Simmels transformativer Ansatz, den Formbegriff anders zu denken, eine kritische Abwendung von konventionellen Formkonzeptionen dar und ermöglicht es uns Form als offene Kategorie ins Spiel zu bringen, Differenz und Alterität auf eine Weise so zu thematisieren, die gerade frei von jeglichem Zwang konzeptioneller Stillegung ist. In seinen Grundfragen der Soziologie von 1917 notiert Simmel so: »Die Form ist gegenseitiges Sich-Bestimmen, Wechselwirken der Elemente, wodurch sie eben eine Einheit bilden.« 45 Simmels erkenntnistheoriekritischer Punkt läuft darauf hinaus, dass Form nur dort Erkenntnisgewinn schafft, wo Beziehung als das ihr entsprechende andere erkannt wird und wo die Korrelation von Form und Beziehung als Konstellation in den Blick kommt, die beide Aspekte erst lesbar macht, in der sie gegenseitig ihren Grund finden. Ohne Beziehung ist Form bedeutungslos, ebenso wie Beziehung ohne Form es ist. Um Kant zu variieren: Beziehungen ohne Formen sind leer, Formen ohne Beziehungen sind blind.
G. Simmel: Lebensanschauung, 352. G. Simmel: Grundfragen der Soziologie (Individuum und Gesellschaft) [1917], in: GSG 16, 59–149, hier 107.
44 45
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Literatur Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik [1966], in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 6, hg. von Rolf Tiedemann. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1973, 7–408. Adorno, Theodor W.: »Zu Subjekt und Objekt« [1969], in: Gesammelte Schriften, Bd. 10.2, hg. von Rolf Tiedemann. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1977, 741– 758. Engels, Friedrich: »Dialektik der Natur« [1925], in: Karl Marx und Friedrich Engels: Werke, Bd. 20. Dietz: Berlin 1975, 305–570. Goodstein, Elizabeth: Georg Simmel and the Disciplinary Imaginary. Stanford University Press: Stanford CA 2017. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft [1781/21787], Bd. 1, in: ders.: Werkausgabe, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 3. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1974. Lizardo, Omar: »Simmel’s Dialectic of Form and Content in Recent Work in Cultural Sociology«, in: The Germanic Review 94 (2019) 2, 93–100. Müller, Hans-Peter und Reitz, Tilman: »Einführung«, in: dies. (Hg.): SimmelHandbuch: Begriffe, Hauptwerke, Aktualität. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 2018, 11–90. Morfino, Vittorio: Le temps de la multitude, übers. von Nathalie Gailius. Éditions Amsterdam: Paris 2010. Oakes, Guy: »Introduction«, in: Georg Simmel: Essays on Interpretation in Social Science, hg. und übers. von Guy Oakes. Rowman and Littlefield: Totowa NJ 1980, 3–94. Thouard, Denis: »Philosophie«, in: Hans-Peter Müller und Tilman Reitz (Hg.): Simmel-Handbuch: Begriffe, Hauptwerke, Aktualität. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 2018, 417–423. Silver, Dan und Brocic, Milos: »Three Concepts of Form in Simmel’s Sociology«, in: The Germanic Review 94 (2019) 2, 114–124. Simmel, Georg: Gesamtausgabe, hg. von Otthein Rammstedt. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1989–2015 (= GSG). Simmel, Georg: »Das Problem des Stiles« [1908], in: GSG 8: 374–384 Simmel, Georg: Philosophie des Geldes [1900], in: GSG 6, 7–716. Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung [1908]. Duncker & Humblot: Berlin 51968. Simmel, Georg: Hauptprobleme der Philosophie [1910], in: GSG 14, 7–157. Simmel, Georg: Philosophische Kultur. Klinkhardt: Leipzig 1911. Simmel, Georg: Mélanges de philosophie relativiste. Contribution à la culture philosophique [1912], übers. von Alix Guillain, in: GSG 19, 137–371 (Préface: 139–142). Simmel, Georg: »Die Dialektik des deutschen Geistes« [1916], in: GSG 13, 224– 230. Simmel, Georg: Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel [1918], in: GSG 16, 209–425. Simmel, Georg: Brief an Célestin Bouglé, 22. November 1896, in: GSG 22, 229. Simmel, Georg: Brief an Célestin Bouglé, 13. Dezember 1899, in GSG 22, 342 f.
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Form und Beziehung: Zur kritischen Funktion der Wechselseitigkeit bei Simmel Simmel, Georg: Brief an Paul Ernst, 1. Januar 1910, in: GSG 22, 768–771. Simmel, Georg: Brief an Edmund Husserl, 13. März 1911, in: GSG 22, 950 f. Simmel, Georg: Brief an Georg Jellinek, 15. Juli 1898, in: GSG 22, 297–299. Simmel, Georg: Brief an Georg Jellinek, 23. Dezember 1907, in: GSG 22, 597 f. Simmel, Georg: Brief an Georg Jellinek, 20. März 1908, in GSG 22, 617. Simmel, Georg: Brief an Robert Michels, 6. August 1913, in: GSG 23, 201 f. Simmel, Georg: Brief an Heinrich Rickert, 15. April 1916, in: GSG 23, 636–639. Simmel, Georg: Brief an Gustaf F. Steffen, 30. Oktober 1908, in: GSG 22, 664 f. Simmel, Georg: »Aus dem nachgelassenen Tagebuche«, in: GSG 20, 261–296. Susman, Margarete: Die geistige Gestalt Georg Simmels. Mohr: Tübingen 1959. Weingartner, Rudolph Herbert: »Form and Content in Simmel’s Philosophy of Life«, in: Kurt Heinrich Wolff (Hg.): Georg Simmel, 1858–1918. A Collection of Essays. Ohio State University Press: Columbus OH 1959, 33–60. Ziche, Paul: »Wechselwirkung« [Art.], in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, hg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel. Schwabe: Basel 2004, 324–341.
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IV. Wirkungslinien der Philosophie Simmels
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Schüler ohne Schule? Über die Simmel-Schüler Herman Schmalenbach und Willy Moog Nicole C. Karafyllis
I.
Zum Einstieg: Suchen nach Simmel im Fundbüro
Zum Einstieg in die Frage nach der Simmel-Schule und den Schülern dient eine Imagination, die das Vergessene, Liegengebliebene und manchmal doch irgendwann Abgeholte versammelt. Wuppertal, wo 2018 die Konferenz zur Wiedererinnerung von »Simmel als Philosoph« stattfand, war der deutschlandweit beste Ort, um Fundstücke zusammenzutragen. Denn dort befindet sich das Zentrale Fundbüro der Deutschen Bahn. Dahin gelangen verlorene Gegenstände von Bahnreisenden (250.000 pro Jahr), wenn sie mehr als 15 Euro wert sind, allerdings erst nach mindestens sieben Tagen. Hat man etwas im Zug verloren, was auf der Fahrt unentdeckt blieb, wird es an der Endhaltestelle desjenigen Zuges aufgehoben, in dem man saß – egal, wo man selbst hinreiste und ausstieg. Dann gelangt das Fundstück nach Wuppertal. Man muss einen Nachforschungsantrag stellen, aber 80 % der gefundenen Gegenstände werden dafür nicht genügend vermisst. 1 Übertragen auf die Situation zu Simmel – als einem auf der Fahrt der Philosophiegeschichtsschreibung irgendwo liegen Gebliebenem – und die Frage nach einer etwaigen Schule, heißt es, mit Zwischenhalten, unbekannten Endhaltestellen und Umwegen zu rechnen, um das länger unentdeckt Verlorene wiederzufinden und dabei auch in Kauf zu nehmen, dass diejenigen, die die institutionelle Deutungshoheit über die Wertigkeit des Aufgesammelten haben, es vielleicht als nicht aufbewahrenswert erachteten, erachten konnten. Hier finden wir Simmels ureigenste Frage, wie sich Wert und Bedeutung
Vgl. die Internetseite »Fundservice« der Deutschen Bahn, online unter: https:// www.bahn.de/p/view/service/fundservice.shtml; Stand: 20. Juli 2019.
1
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Nicole C. Karafyllis
historisch zueinander verhalten. 2 Ein historisches Verstehen sei möglich, so Simmel, denn im überlieferten Material biete sich die historische Persönlichkeit bereits in ihrer Gänze dar, als ein beseeltes »Du«, trotz der »Unzulänglichkeit der Bedingungen, unter denen sich das Bild oder das Verständnis erhebt« und »deren Vollendetheit hintan hält«. 3 Übertragen: Zwar gibt es objektive Wertmaßstäbe, aber die ganze Bedeutung des im Zug Verlorenen als Wertgegenstand kann nur mit Hilfe subjektiver, biographisch-historisierender Bezüge ermessen werden. Eine Unterschätzung der Bedeutung Simmels finden wir angesichts von Willy Moog (1888–1935) und Herman Schmalenbach (1885–1950). Ihnen galt Simmel als ihr wichtigster Lehrer. Mehr noch als er wurden sie vergessen und sind in der Philosophiegeschichtsschreibung gleichsam liegen geblieben, obwohl sie als langjährige Ordinarien für Philosophie den objektiven Maßstab der Wiedererinnerung erfüllen. Hier soll der Wert Simmels für beide biographiehistorisch, seine Bedeutung an beiden philosophiehistorisch – und das heißt: mit systematischem Blick auf überzeitliche Ideen – in die Anschauung gebracht werden. Zu diesen Ideen gehören nicht nur die eigentlich philosophischen, sondern auch deren institutionelle Vorbedingungen: die denkerische Gemeinschaft bzw. Schule, zu deren Konzept beide Philosophen gearbeitet haben. 4 Wegweisend auch für das Folgende ist Schmalenbachs Konzept des Bundes, gerichtet gegen Ferdinand Tönnies’ soziologische Basisdifferenz von Gemeinschaft und Gesellschaft. Der Bund sei nicht wie die Gemeinschaft eine natürlich-familiäre, verwandtschaftliche Form der Kollektivierung, sondern durch Freundschaft gekennzeichnet und entstehe durch Begeisterung für die Sache und das Charisma eines Anführers bzw. Vordenkers. 5 Die Geschichte von Moog und Schmalenbach ist auch die Geschichte einer mutmaßlichen Freundschaft, die dazu führte, dass sie zusammen bei Simmel in Berlin hörten, nachdem sie 1906 2 G. Simmel: Die Probleme der Geschichtsphilosophie. Eine erkenntnistheoretische Studie (1905/1907), in: ders.: Gesamtausgabe, hg. von O. Rammstedt. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1989–2015 (im folgenden GSG), Bd. 9, 227–419. 3 G. Simmel: »Vom Wesen des historischen Verstehens« [1918], in: GSG 16, 151–179, hier 162. 4 Vgl. W. Moog: Hegel und die Hegelsche Schule. Reinhardt: München 1930; H. Schmalenbach: »Die soziologische Kategorie des Bundes«, in: Die Dioskuren, Bd. 1, hg. von W. Stich. Meyer & Jessen: München 1922, 35–105. 5 Vgl. H. Schmalenbach: »Die soziologische Kategorie des Bundes«.
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Schüler ohne Schule? Herman Schmalenbach und Willy Moog
in Darmstadt am Neuen Gymnasium gemeinsam das Abitur abgelegt hatten. Unser Zug fährt also von Hessen zur vorläufigen Endhaltestelle Berlin (Simmel); von dort führt er über verschiedene Zwischenhalte (u. a. München) und außerplanmäßige Wartezeiten (unfreiwilliger Kriegsdienst 1915–1918, verzögerte Habilitationen) zu den endgültigen Zielpunkten bzw. professoralen Wirkungsorten Basel (Schmalenbach, 1931–1950) und Braunschweig (Moog, 1924–1935). In beiden Fällen sind dies auch die Sterbeorte mit dem Unterschied, dass Moogs Tod kein natürlicher war. Heute an diese Orte zurückzukehren meint also die genannten Umwege in der Rekonstruktion von Simmels Wirkung auf seine Schüler, die sich erst im eigenlogischen Moment der Geschichte als solche erweisen werden.
Abb. 1: Herman Schmalenbach (rechts; undat., ca. 1910) und Willy Moog (links; 1919). 6
Wir haben es – nicht nur in diesen Fällen – mit einem weitreichenden Verlust der Spuren zu tun, die uns zur Frage nach Simmel als Philosoph wie auch nach einer Schule hätten hinführen können. Der wichtigste Grund dafür ist die immer noch mangelhafte Aufarbeitung der deutschsprachigen Philosophie in der NS-Zeit und Nachkriegszeit.
Abdruck mit freundl. Genehmigung von Jon-Erik Hoff, Oslo (Abb. Moog, Ausschnitt, Aufnahme Fotostudio Kuebeler, Darmstadt) und Jean-Pierre Thévenaz, Yvorne, Schweiz (Abb. Schmalenbach, Urheber unbek.).
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Zahlreiche Gestalten und Denkwege wurden im einst gewollten Dunkel belassen und mit ihnen Simmels Wirkungslinien. Entsprechend ist im Rahmen der sog. Erinnerungsforschung 7 philosophiegeschichtliche und archivarische Vorarbeit zu leisten wie es in den Fällen von Moog und Schmalenbach jüngst geschehen ist. 8 Denn sonst bleibt nur die Option, die die Zeitschrift DB Mobil zufällig im SimmelJubiläumsjahr wählte, um Bahnkunden auf Nicht-Abgeholtes aufmerksam zu machen: Sie ließ Literaten fiktive Geschichten zu den Gegenständen erzählen, beginnend mit einem wohl einst geliebten Teddy. 9 Diese Form der imaginativen Wiedererinnerung sollte verhindern, dass ihm dasjenige widerfährt, was mit Fundstücken nach Überschreiten der Lagerzeit geschieht: Sie werden entweder entsorgt oder zur Auktion freigegeben. Es ist nicht übertrieben, auch hier Parallelen zu Simmel zu ziehen, der wie kaum ein Philosoph von anderen Fächern in Anspruch genommen wird, aber wenig von der Philosophie und bezüglich philosophischer Fragestellungen. Hingegen hat Moog ›seinen‹ Simmel einst v. a. für die Geschichtsphilosophie und Pädagogik, Schmalenbach für die Metaphysik und Religionsphilosophie sowie die Leibniz- und Kant-Auseinandersetzung fruchtbar gemacht. Mit Die Probleme der Geschichtsphilosophie (2./3. Aufl. 1905/1907), unter den Veröffentlichungen zu Kant vorrangig mit Kant und Goethe (1906), haben sie Werke Simmels und ihnen vorausgehende Vorlesungen zu Rate gezogen, die jenseits der heute als Hauptwerk geltenden Philosophie des Geldes (1900) liegen. Damit verschiebt sich die Relation des Denkens beider von der Modernekritik hin zu ihrem Zugrundeliegenden: der Rettung der bekämpften Metaphysik. Moog und Schmalenbach einte das Erkenntnisinteresse, das Simmel im Untertitel von Kant und Goethe formulierte: »Zur Geschichte der modernen Weltanschauung« zu arZum Konzept der Memory Studies vgl. C. Gudehus: »Soziologische Erinnerungsforschung zum Nationalsozialismus«, in: M. Christ und M. Suderland (Hg.): Soziologie und Nationalsozialismus. Suhrkamp: Berlin 2014, 310–331. 8 Vgl. N. C. Karafyllis: Willy Moog (1881–1935) – Ein Philosophenleben. Alber: Freiburg/München 2015 22016; N. C. Karafyllis: Die Philosophen Herman Schmalenbach und Willy Moog und ihr Wirken an den Technischen Hochschulen in Hannover und Braunschweig. Wehrhahn: Hannover 2016. Beide Werke enthalten weitere Quellenangaben zum vorgelegten Beitrag. Jüngst erschien auf Polnisch zu Moog und seinem Doktorvater Karl Groos das Buch von A. J. Noras: Niedocenieni myśliciele – zapomniane historie filozofii. Uniwersytet Śląski Wydawnictwo: Katowitz 2019. 9 Vgl. T. Glavinic: »Warum dieser Teddybär auf der Strecke blieb«, in: DB Mobil 09 (2018), 35–37. 7
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beiten. Dies wiederum meinte kein ausschließlich philosophiehistorisches Arbeiten, sondern die reflexive Denkbewegung eines philosophierenden Individuums, das sich in der Moderne dieser und der eigenen Situiertheit in ihr vergewissert. Dazu gehörte die Kenntnisnahme ihrer Verobjektivierungen wie die »Atomisierung des seelischen Lebens« 10 v. a. durch die Psychologie (vgl. Moogs Greifswalder Habilitationsschrift), ein übergreifender Ursache-WirkungsSchematismus, in den die Formen des Lebens gepresst werden (vgl. für die geschichtsphilosophische Befreiung aus der allzu eindeutigen Kausalität Leibniz-Kant Schmalenbachs Göttinger Habilitationsschrift), 11 sowie eine allgemeine Fragmentierung und Beschleunigung des Lebens, Bedingung der Geschichtsvergessenheit und Verdrängung metaphysischer Fragestellungen. Schmalenbach drückt Simmels generell formativen Einfluss auf ihn im Lebenslauf seiner Dissertationsschrift so aus: »er hat die eigentliche Leidenschaft für die Begrifflichkeit in mir zum Bewußtsein erweckt und mich alles metaphysisch zu sehen angeleitet«. 12 Moogs frühe Wissenschaftstheorie wird in der Rezeption als »aprioristische Erkenntnislehre« tituliert, was an Simmels Kant-Kritik erinnert. 13 Simmel selbst hat gerne vom beschleunigten Standpunkt aus philosophiert. Er war begeisterter Bahnfahrer, wie überhaupt das Bahnfahren als Gleichnis für seine Methode stehen kann: Philosophieren als reflektierendes Beobachten und Beschreiben von einem bewegten Standpunkt aus, der aber in der Welt ist, sich seiner ratioG. Simmel: »Über Freiheit. Bruchstücke aus dem Nachlass« [1922], in: GSG 20, 80–115, hier 103. 11 Vgl. die gedruckten Habilitationsschriften W. Moog: Logik, Psychologie und Psychologismus. Wissenschaftssystematische Untersuchungen. Niemeyer: Halle 1919 (kriegsbedingt verspätet erschienen 1920); H. Schmalenbach: Leibniz. Drei Masken: München 1921. 12 H. Schmalenbach: Das Seiende als Objekt der Metaphysik. Erster Teil einer Erkenntnistheorie der Metaphysik. I: Die erste Konzeption der Metaphysik im abendländischen Denken. Dissertationsschrift Universität Jena 1909 (Privatdruck 1910), Lebenslauf im Anhang (ohne Seitenzahlen). Die Promotionsurkunde (Privatbesitz) trägt das Datum 12. Juni 1910 wegen Schmalenbachs aus Kostengründen verspäteter Einreichung der 280 Pflichtexemplare. Rudolf Euckens Gutachten liegt vor in Universitätsarchiv Jena, Bestand M, Nr. 531, Bl. 98v. Die mündliche Prüfung war am 24. Juli 1909; Schmalenbach wurde im Fach Philosophie von Eucken (1846–1926), im Fach Geschichte von Alexander Cartellieri (1867–1955) und im Fach Kunstgeschichte von Botho Graef (1857–1917) geprüft; Gesamtnote magna cum laude. 13 G. Klamp: Über die Idee einer Metaphysik im Sinne des kritischen Realismus. Zickfeldt: Osterwieck 1925, 41. 10
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nalistisch-technischen Maßgabe – der »Versachlichung des Lebens« – versichert und sich so einer extraterrestrisch gedachten Weltanschauung im Sinne Diltheys verweigert. 14 Das Bahnfahren meint dabei nicht nur zügiges Bewegtwerden, sondern die Lebenssteigerung und den rasenden Perspektivenwechsel, in dem die Welt an einem vorbei zieht und der Schwierigkeit der Maßnahme des Gegebenen enthoben scheint; aber auch das Reisen und damit die Möglichkeit, durch Erlebnisse auf dem Weg zu sich selbst zu sein: zur Lebensanschauung (1918). 15 So könnte man das Problem einer mangelnden Simmel-Schule bereits in Simmels eigener, damals für die Philosophie überraschender Methode verorten, 16 denn ohne festen Standpunkt wird der systematische Zugriff auf Werk und Person schwierig, wie schon Max Frischeisen-Köhler, ein Freund von Moog, 17 in seinem Nachruf auf Simmel bemerkte. 18 Simmel habe deshalb auch keine Schule im strengen Sinne hinterlassen können. Häufig habe Simmel von seinem Relativismus gesprochen; heute würden wir vielleicht MultiPerspektivismus sagen, was die Mobilität der Betrachterposition verlangt. Die Zugfahrt nutzte Simmel zur Beobachtung, von den Veränderungen der Landschaft und dem neuen Phänomen des Massentourismus 19 bis hin zu den Dialogen der Fahrgäste im Abteil. Wegen der Flüchtigkeit der Begegnung im abenteuerlichen Ausnahmezustand des Reisens neigten Menschen dazu, ihr Verhältnis von Nähe und Distanz zu verändern und erzählten sich ungeahnt Privates. 20 G. Simmel: Philosophie des Geldes [1900], in: GSG 6, 7–716, hier 723. G. Simmel: Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel [1918], in: GSG 16, 209–425. 16 Häufig gehandelt werden die Dilthey-Schule, der (badische) Neukantianismus und die Schopenhauer-Schule, bisweilen auch die Schule von Moritz Lazarus (Völkerpsychologie). Spricht man von Richtungen, finden wir prominent die Lebens- und die Kulturphilosophie. 17 Nach dem Tod Frischeisen-Köhlers (1878–1923), der der Dilthey-Schule zugeordnet wird, übernahm Moog die Fertigstellung und Mitherausgabe von Friedrich Ueberwegs Grundriß der Geschichte der Philosophie, Bd. 3: Die Philosophie der Neuzeit bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. E. S. Mittler & Sohn: Berlin 121924. Zudem führte er die von Frischeisen-Köhler begründeten Jahrbücher für Philosophie. Eine kritische Philosophie der Gegenwart Bd. 1 (1913), Bd. 2 (1914) mit Bd. 3 (1927) fort, dem letzten Band der Reihe. 18 M. Frischeisen-Köhler: Georg Simmel (1. März 1858 – 26. September1918), in: Kant-Studien 24 (1919) 1, 1–51. 19 Vgl. G. Simmel: »Alpenreisen« [1895], in: GSG 5, 91–95. 20 Vgl. G. Simmel: »Philosophie des Abenteuers« [1910], in: GSG 14, 168–185. 14 15
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Das verkehrserzeugte Einsamkeitsgefühl, das Simmel im ersten Kapitel der großen Soziologie analysiert, wird Schmalenbach religionsphilosophisch bearbeiten und bis zum Mittelalter zurück verfolgen. Ein weiterer Forschungsbefund Simmels war: »Vor der Ausbildung der Omnibusse, Eisenbahnen und Straßenbahnen im 19. Jahrhundert waren Menschen überhaupt nicht in der Lage, sich minuten- bis stundenlang gegenseitig anblicken zu können oder zu müssen, ohne miteinander zu sprechen.« 21 Hier spricht der Soziologe Simmel – oder der Phänomenologe, Psychologe oder der Sozialphilosoph, gar der Geschichts-, Lebens-, Kultur- oder sogar der bislang unbekannte Technikphilosoph? In welcher der vielen von Simmel bedienten Disziplinen und Teildisziplinen sollen wir nach möglichen Schülern suchen, auch im Archiv? Denn Fundstücke müssen etikettiert werden, um wiedergefunden werden zu können; sie werden gemäß Ordnungsschemata akzessioniert, in Schubladen oder ähnliches gesteckt und zu einer Referenzliste katalogisch in Bezug gesetzt. Die Suche nach Simmel-Schülern ist also vorab eine Suche nach möglichen, auch historisch verblichenen Etiketten (wie Lebensphilosoph 22), die erst möglich werden durch das Öffnen der Schubladen und Überprüfen der Referenz, bis hin zur möglichen Neukatalogisierung.
II.
Relationen für die Rekonstruktion
In diesem Sinne werden hier zwei Schüler Simmels vorgestellt, die selbst kein Etikett (mehr) oder wenn, dann ein missverständliches haben, und die auch deshalb bislang nicht als Simmel-Schüler gelten: der meist als Soziologe 23 gehandelte Schmalenbach und der als Pädagogik-Historiker 24 firmierende Moog. Beide hatten ein Ordinariat für G. Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung [1908], GSG 11, 7–875, hier 727. 22 Vgl. N. C. Karafyllis: »Leben«, in: J. Bohr, G. Hartung, H. Koenig und T.-F. Steinbach (Hg.): Georg Simmel Handbuch. Metzler: Stuttgart, i. E. 23 Maßgeblich dafür ist Schmalenbachs weit rezipierter Bund-Artikel (vgl. H. Schmalenbach: »Die soziologische Kategorie des Bundes«), der als Teil einer englischsprachigen Anthologie übersetzt und veröffentlicht wurde (vgl. G. Lüschen und G. P. Stone (Hg.): Herman Schmalenbach on Society and Experience. University of Chicago Press: Chicago IL 1977). 24 Moog schrieb mehrere Überblickswerke zur Pädagogik, darunter das bis 1991 in neun Auflagen erschienene Standardwerk Geschichte der Pädagogik, Bd. 2: Die Pädagogik der Neuzeit von der Renaissance bis zum Ende des 17. Jahrhunderts. Zickfeldt: 21
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Philosophie bzw. Moog für »Philosophie und Pädagogik« inne 25 – Moog an der Technischen Hochschule Braunschweig von 1924/1925 bis zu seinem Suizid 1935, Schmalenbach an der Universität Basel von 1931 bis zu seinem Tod 1950. Anders als Moog verband Schmalenbach eine auch über den George-Kreis vermittelte, 26 engere persönliche Beziehung zu Simmel. 27 Sie hatten gemeinsame Freunde wie Martin Buber und Sabine Lepsius. Davon zeugen zahlreiche Briefe im Basler Nachlass, die Schmalenbach nicht nur an seinen Lehrer, sondern auch an dessen familiäres Umfeld richtete, so u. a. an Simmels langjährige Assistentin und außereheliche Partnerin, die Lyrikerin, Kunsthistorikerin und Bergson-Übersetzerin Gertrud Kantorowicz (1876–1945), und beider Tochter Angela. Ein weiterer Beleg: Auf Vermittlung von Eugen Diederichs hatte Simmel den frankophilen Schmalenbach damit beauftragt, ein Stück »Probeübersetzung« von Bergsons Matiére et Mémoire anzufertigen. 28 Dem vorausgegangen war Schmalenbachs emphatischer Artikel zur »Bergsonschen Metaphysik« als Wegbereiter der Erlösung aus einer »nur noch als Automaten begriffenen Welt« mit Hilfe des »das Leben verstattenden Horizontes, der auch für die künftige Formung eines erneuerten Kosmos die sichere Gewähr gibt«. 29 Kantorowicz und Schmalenbachs Ehefrau Sala (1885–1942, geb. Müntz; Schwester des Mathematikprofessors Herman bzw. Chaim Müntz) – ebenfalls einst im Briefaustausch mit Simmel – stammten beide aus polnisch-jüdischen Familien wie auch Simmels Vater EdOsterwieck 1928; Bd. 3: Die Pädagogik der Neuzeit vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Zickfeldt: Osterwieck 1933. Der geplante Band I zur Antike ist nicht erschienen. 25 Wie auch Simmel ab 1914 in Straßburg. 26 Vgl. M. Landmann: »Herman Schmalenbach«, in: ders. (Hg.): Figuren um Stefan George. Zehn Porträts, Bd. 1, in: Castrvm Peregrini, Zeitschrift für Literatur, Kunstund Geistesgeschichte 31 (1982) 151/152, 80–87. 27 Dass Simmel sich intensiv mit dem Werk von George beschäftigte, ist durch drei Aufsätze belegt (vgl. G. Simmel: »Stefan George. Eine kunstphilosophische Betrachtung« [1898], in: GSG 5, 287–300; G. Simmel: »Stefan George. Eine kunstphilosophische Studie« [1901], in: GSG 7, 21–35; G. Simmel: »Der siebente Ring« [1909], in: GSG 12, 51–54). 28 G. Simmel an E. Diederichs: Brief vom 30. September 1913, in: GSG 23, 205 f., hier 205. 29 H. Schmalenbach: »Henri Bergson«, in: Die Hilfe. Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst 19 (1913) 3, 40–73, hier zitiert nach Korrekturfahne (10 Druckseiten), von Schmalenbach handschriftl. datiert »Januar 1913« (Familienbesitz Thévenaz), Zitate auf der letzten Seite; Kursivierungen im Orig. gesperrt.
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ward. Diese Gemeinsamkeit ließ den Protestanten Schmalenbach und seine beiden Brüder mit den Familien Simmel und Kantorowicz dasjenige »jüdische Schicksal« erleiden, das Diffamierung, Verfolgung, Flucht bis zur Vernichtung im Konzentrationslager 30 meint und, die Vernichtung weitertreibend, zu mangelnder Rezeption von Person und Werk beitrug, nicht nur in Deutschland und nicht nur ›damals‹. Schmalenbach wie auch Moog waren in der NS-Zeit des Philosemitismus 31 verdächtig und setzten sich präventiv 32 gegen dasjenige ein, was später als »jüdisches Schicksal« die Relationen mehr verdunkeln als erhellen wird. Zu diesem Kontext gibt es dank der vorgelegten Briefedition von Karl Jaspers neuere Belege. So hat im Sommer 1931 Schmalenbach – unmittelbar vor seinem eigenen Wechsel von Göttingen nach Basel – zusammen mit seinem Mentor Moritz Geiger den Göttinger Assistenten Werner G. Brock (1901–1974) vergeblich davor gewarnt, zu Heidegger nach Freiburg zu wechseln, weil »Herr wie im besonderen Frau Heidegger dem damals im Schwange befindlichen Nationalsozialismus nahe stünden«, so zitiert Brock Schmalenbach. 33 Brock hatte damals für seine Einstellung Heidegger nicht offengelegt, dass er ›Jude‹ war, und schreibt rückblickend das Obige 1949 an Jaspers – im Zusammenhang der persönlichen Aufarbeitung der ›causa Heidegger‹ wie auch einer privaten, psychiatrischen Arzt-Patienten-Beziehung – mit der Bitte, »dieses eine Faktum durch die Zeugenaus-
Kantorowicz starb im KZ Theresienstadt; Schmalenbach verlor seine Schwägerin Irene (1889–1944, geb. Ehrenstein, Witwe seines Bruders Edmund) im KZ Ausschwitz. Sie wurde aufgegriffen, als sie sich auf der Flucht zu ihm in die Schweiz befand. 31 So auch C. Tilitzki: Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich. Akademie: Berlin 2002. Bd. 1, 227. 32 Bzgl. Moog ist u. a. dessen Herkunft aus der schon früh als pazifistisch und philosemitisch verschrienen Gießener Philosophie, seine spätere Relation zur Braunschweiger Fabrikantenfamilie Carl Helle, die die von Moog 1929 gegründete Braunschweiger Ortsgruppe der Kant-Gesellschaft finanziell unterstützte, sowie seine Buchreihe Philosophie in Längsschnitten hervorzuheben. Dort nahm er noch 1933 die Bände von Gustav Kafka (1883–1953; mit ihm war Moog seit seinem Münchner Studiensemester bei Theodor Lipps verbunden) und Richard Hönigswald (er wird fast zeitgleich zwangsemeritiert, Kafka 1934), trotz politischer Anpassungseffekte bei der Autorenauswahl (vgl. N. C. Karafyllis: Willy Moog (1888–1935), 429–436). 33 W. G. Brock an K. Jaspers: Brief vom 12. April 1949, in: D. Kaegi und R. Wiehl (Hg.): Karl Jaspers Korrespondenzen. Philosophie. Wallstein: Göttingen 2016, 211– 213, hier 212. 30
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sage Prof. Dr. H. Schmalenbachs« zu »verifizieren«. 34 Denn Jaspers war seit gut einem Jahr direkter Kollege Schmalenbachs in Basel und hatte, soweit bekannt, zu diesem eine gute Beziehung, die nicht zuletzt in der gemeinsamen Wertschätzung für Simmel begründet gewesen sein dürfte. 35 Zudem hatten sie vor Ort eine gemeinsame Widerständigkeit in Person des Privatdozenten für Philosophie Heinrich Barth (1890–1965) zu überwinden, der sowohl bei Schmalenbachs Berufung 1931 (Nachfolge Karl Joël) 36 als auch bei der von Jaspers 1947 (Nachfolge Paul Häberlin) von den wirkmächtigen Kreisen des Bruders Karl Barth für die jeweilige Professur vorgesehen war. Erst 1950 wird Heinrich Barth als nun Schmalenbachs Nachfolger zum Zuge kommen, mit sehr gemischten Gefühlen Jaspers’. 37 Denn mit dem im ersehnten Amt nun auftrumpfenden Barth und seiner um Platon drapierten, theologisierenden Philosophie bricht auf Jaspers das Problem einer zuvor am Institut nicht gekannten Schulenbildung ein, gegen das er für die Basler Doktoratsausbildung die Pluralität der Lehrmeinungen und die akademische Freiheit hoch hält. 38 Schmalenbach und Jaspers waren nur zwei gemeinsame Kollegenjahre vergönnt, in denen aber eine wichtige Relation gebildet wurde: die der Unterstützung von Michael Landmann (1913–1984). Dem SchmaEbd. Eine gemeinsame Bezugsperson war auch der Heidelberger Germanist Friedrich Gundolf, der mit Stefan George sowie mit Simmel gut bekannt gewesen war. 36 Geiger hatte im Frühjahr 1931 Schmalenbach in einem nicht überlieferten, aber aus dem Antwortschreiben Schmalenbachs rekonstruierbaren, »streng vertraulich« zu haltenden Brief darüber informiert, dass für Basel auf Betreiben von Häberlin Eberhard Grisebach gehandelt wurde, aber, falls dieser nicht gewonnen werden könne (Grisebach nahm einen Ruf nach Zürich an), es auf Heinrich Barth hinauslaufen könnte. Schmalenbach antwortete trocken: »[Das] klärt mich, wie ich vermute, über den Charakter der dortigen Situation einigermaßen auf« (vgl. H. Schmalenbach an M. Geiger: Brief undat. [kurz vor dem 22. April 1931], UB Basel NL 106Aa188,12 (Rücks.); zum Kontext P. Kamm: Paul Häberlin. Leben und Werk, Bd. 2. Spiegel-Verlag: Zürich 1981, 13 f. 37 Vgl. K. Jaspers: Drei Briefe an Heinrich Barth, 3. Februar 1950, 22. Februar 1950, 6. September 1950, in: Dominic Kaegi und Reiner Wiehl (Hg.): Karl Jaspers Korrespondenzen. Philosophie. Wallstein: Göttingen 2016, 33–35. Im Anmerkungsteil findet sich der Hinweis, dass Heinrich Barth bereits 1939 gegen eine Berufung von Jaspers opponierte sowie dass Schmalenbach, wie er später Jaspers berichtete, dazu genötigt war, sich bei dessen Berufung der Stimme zu enthalten. 38 Vgl. zu dieser nur wenige Wochen nach Schmalenbachs Tod auftretenden Kontroverse den Briefwechsel zwischen Heinrich Barth und Karl Jaspers ab Januar 1951, hier v. a. den Brief K. Jaspers an H. Barth: Brief vom 2. April 1951 in: D. Kaegi und R. Wiehl (Hg.): Karl Jaspers Korrespondenzen. Philosophie, 43–45. 34 35
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lenbach-Schüler (Promotion 1939) wurde von der Basler Fakultät 1947 die Habilitation verweigert; er habilitierte sich dann 1949 bei Otto Friedrich Bollnow in Mainz. 39 Landmann wird die in WestDeutschland wichtigste Person für die Wiederentdeckung Simmels 40 und die »Überwindung linearer Simmel-Bilder« 41. Als Landmann 1950 einen Ruf an die FU Berlin erhält, versucht Jaspers den Schweizer in Basel zu halten, gegen den Widerstand von Barth, der »die Sache Landmann« »erledigt glaubte« und Jaspers ersucht, »davon abzusehen, ein Zurückhalten von Herrn L. in Basel vor die Fakultät zu bringen. Die Fakultät kann doch nicht einen solchen Zickzackkurs verfolgen«. 42 Und so wird mit dem Scheiden Landmanns nicht nur der Basler Wirkungsfaden Simmels, sondern auch der Schmalenbachs abgeschnitten; und zwar bis heute. Das jüngst erschienene Buch Philosophie in Basel würdigt ausführlich Barth und Jaspers, verliert aber über die fast 20-jährige Professorenschaft Schmalenbachs keine Silbe. 43 Anders als Jaspers hat Schmalenbach nie die Schweizer Staatsbürgerschaft angenommen. Hinzu kommt, dass wir es bei der Frage nach einer direkten Simmel-Schule biographisch mit der Generation der um 1880/1890 Geborenen zu tun haben, die gleich durch zwei Weltkriege in Mitleidenschaft gezogen wurde und entsprechende biographische Brüche aufweist, auch akademisch. Beim liberal-pazifistisch gesinnten Moog mündete ein gegen ihn lanciertes Dienststrafverfahren wegen eines unehelichen Kindes im Nazi-Braunschweig in den Freitod, der Nachrufe verhinderte wie er eine Nachkriegsrezeption behinderte. An dieErläuternd R. Wisser: »Michael Landmanns Mainzer ›Lehr‹-Jahre. Ein Echo«, in: K.-J. Grundner, D. Holz, H. Kleiner und H. Weiss (Hg.): Exzerpt und Prophetie: Gedenkschrift für Michael Landmann (1913–1984). Königshausen & Neumann: Würzburg 2001, 17–31. 40 Vgl. M. Landmann: »Erinnerungen an Simmel von Herman Schmalenbach«, in: M. Landmann und K. Gassen (Hg.): Buch des Dankes an Georg Simmel. Briefe, Erinnerungen, Bibliographie. Zu seinem 100. Geburtstag am 1. März 1958. Duncker & Humblot: Berlin 1958, 213. 41 K. C. Köhnke: »Simmel ohne Landmann?« [1987], in: K.-J. Grundner, D. Holz, H. Kleiner und H. Weiss (Hg.): Exzerpt und Prophetie: Gedenkschrift für Michael Landmann (1913–1984). Königshausen & Neumann: Würzburg 2001, 125–139, hier 125. 42 H. Barth an K. Jaspers: Brief vom 16. Januar 1951, in: D. Kaegi und R. Wiehl (Hg.): Karl Jaspers Korrespondenzen. Philosophie, 36 f. 43 E. Angehrn und M. Rother (Hg.): Philosophie in Basel. Prominente Denker des 19. und 20. Jahrhunderts. Schwabe: Basel 2011. 39
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ser Stelle macht es Sinn, das für das historische Verstehen notwendige dritte Subjekt sprechen zu lassen, d. h. die Autorin dieses Beitrags aus der Ich-Perspektive. Moogs Wiederentdeckung, noch dazu als Simmel-Schüler, war einer Verkettung von Zufällen geschuldet, wie dann auch die Schmalenbachs, die Folgen meiner Annahme des Rufes an die TU Braunschweig 2010 waren – und an der ich meine Antrittsvorlesung zu Simmel hielt. 44 Beim baldigen Inventarisieren der einst von Moog angelegten Seminarbibliothek bemerkte ich auffällig viele Originalausgaben von Simmel, die eigentlich hätten der Bücherverbrennung zum Opfer fallen müssen, aber, wie ich später rekonstruieren konnte, von Moog versteckt worden waren und seine eigene Lebenszeit überdauerten. Moog war an der TU kein Begriff, von wenigen Zeilen im Catalogus Professorum abgesehen, die mangels Nachforschung sogar ein falsches Todesdatum enthielten. Ich begann, Moogs Bücher zu lesen. Dabei erinnerte mich zuvorderst der präzise bezeichnende und doch formschöne Schreibstil zutiefst an den von Simmel. Aber auch Moogs überpersönlicher, die innere Wertrichtung veranschaulichende Zugriff auf die Geschichtsschreibung der Philosophie in Das Leben der Philosophen (1932) ließ das Erbe Simmels aufleuchten, weshalb ich biographisch in diese Richtung forschte und mit Hilfe vieler Beteiligter bald fündig wurde. Moog stand tatsächlich auf den Berliner Hörerlisten von Simmels Vorlesungen. Damit sei gesagt, dass ein Philosoph im Werk seiner Schüler nicht nur über die Inhalte, sondern auch durch die Form weiterleben kann, und damit eher wie ein bildender Künstler. Im Zuge der Recherchen ergab sich der weitere Zufall, dass ich auf der Abiturientenliste (1906) des Darmstädter Neuen Gymnasiums unterhalb von Moogs Namen den Schmalenbachs entdeckte und eine Ahnung hatte, dass es sich um den als Phänomenologen bekannten aus den Husserliana handeln könnte. So forschte ich auch zu diesem weiter und erschließe bis dato weitere Quellen, weshalb das Folgende zu Schmalenbach als fortgeschrittener Werkstattbericht zu verstehen ist. In diesem wird erstmals unveröffentlichtes Text- und Bildmaterial verwendet, beides aus privatem Familienbesitz von Schmalenbachs Enkelin (Tochter von Schmalenbachs dritVerschriftlicht als N. C. Karafyllis: »(Ver)führt das Leben, kokettiert mit der Technik! Georg Simmel und die Koketterie als Lebensform in einer technisierten Welt«, in: dies. (Hg.): Das Leben führen? Lebensführung zwischen Technikphilosophie und Lebensphilosophie. Edition sigma: Berlin 2014, 79–102.
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tem Kind Roswitha, 1923–2002) und seinem Enkel (Sohn von Schmalenbachs Erstgeborener Cornelia, 1918–1999), beide wohnhaft in der Schweiz. Wie bei Moog, dessen einziges eheliches Kind Marianne (verh. Hoff) während der NS-Zeit nach Norwegen emigrierte und in drei Enkeln weiterlebte, sind auch bei Schmalenbach wichtige Spuren zur Wiedererinnerung im Ausland zu suchen. Die Möglichkeit der Spurensuche gestaltet sich hier deutlich leichter als bei Moog, da nicht nur ein umfangreicher Nachlass in der UB Basel vorliegt, sondern auch bereits eine Biographie seines berühmten großen Bruders Eugen Schmalenbach (1873–1955), Begründer des Faches Betriebswirtschaftslehre. 45 Trotzdem ist die Mehrzahl biographischer Einträge zu Herman Schmalenbach bis dato falsch; 46 häufig fehlt etwa die Nennung seines jüngeren Bruders [Max] Edmund (1887–1923), Photograph und Inhaber eines Mainzer Optikgeschäftes, der bei einem Ausflug in Eltville verunglückte und zu dem Herman Schmalenbach eine innige Beziehung hatte. Er war der mittlere, Moog der älteste von drei Brüdern. Anders als bei den Moogs handelt es sich bei den Schmalenbachs um eine Akademiker-Dynastie, die durch Herman Schmalenbachs Sohn Werner (1920–2010) und seinen Neffen Fritz (1909–1984) 47 in zwei Professoren für Kunstgeschichte weiterlebte und in deren Wirken, soviel darf man hier zumindest andeuten, auch Bezüge zu Simmel aufscheinen. Fritz Schmalenbach ist ein maßgeblicher Interpret der Werke von Käthe Kollwitz, 48 deren Sohn einst Herman Schmalenbach als Hauslehrer in Berlin unterrichtete, und deren Bilder Simmel bewunderte. 49 Das Folgende gliedert sich in drei argumentative Teile: Nach einer an Moog und Schmalenbach exemplifizierten Reflexion der Frage nach der Simmel-Schule (III.) geht der zweite Teil auf ihre Selbstbekenntnisse und biographischen Relationen zu Simmel ein (IV.), um dann im dritten Teil (V.) die systematischen Wirkungslinien von M. Kruk: »Leben und Wirken Schmalenbachs«, in: M. Kruk, E. Potthoff und G. Sieben: Eugen Schmalenbach. Der Mann – Sein Werk – Die Wirkung, hg. von W. Cordes im Auftrag der Schmalenbach-Stiftung. Schäffer: Stuttgart 1984, 1–278. 46 Auf einzelne Fehler wurde hingewiesen in N. C. Karafyllis: Die Philosophen Herman Schmalenbach und Willy Moog, 64 (Anm. 3). 47 Fritz, Sohn von Eugen Schmalenbach, war 1934 wegen der NS-Verfolgung (seine Mutter Marianne, geb. Sachs, war Jüdin; 1874–1956) in die Schweiz emigriert, wo ihm sein Onkel Herman in Basel eine Lehrtätigkeit in Kunstgeschichte verschaffte. 48 F. Schmalenbach: Käthe Kollwitz. Langewiesche: Königstein im Taunus 1965. 49 Vgl. G Simmel: »Weibliche Kultur« [1902], in: GSG 7, 64–83, hier 74 f. 45
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Simmels Philosophie und Soziologie in den Werken beider hervorzuheben und abschließend (VI.) die Reflexionen zur Schulenfrage zu bündeln.
III. Simmel und (k)eine Schule Bei Simmel gehört zu haben, reicht zum Etikett Schüler nicht hin. Auch Max Scheler, Leo Trotzki und Gabriel García Morente haben zeitweise bei Simmel gehört, sind damit aber noch keine Schüler. Umgekehrt hat Helmuth Plessner nie bei Simmel gehört, macht aber in seinen Werken maßgebliche, bislang kaum erforschte Anleihen bei Simmel, ohne Angabe der Quelle; ähnlich Morentes Madrider Kollege José Ortega y Gasset. 50 Mit namentlichen, aber bislang ebenfalls kaum untersuchten Referenzen auf Simmel-Lektüren ist das Werk von Hans Blumenberg (1920–1996) versehen, der jedoch qua Alter gar kein direkter, d. h. leiblich kopräsenter Simmel-Schüler gewesen sein kann. Sein Name soll hier hypothetisch dazu dienen, zunächst begrifflich den Simmel-Rezipienten von der Vorform des SimmelSchülers zu unterscheiden 51 und damit die Wirkungslinie von der möglichen Schule, die stets als in Konkurrenz zu anderen Schulen und ihren Einordnungsversuchen gesehen werden muss. Eine akademische Schule muss, streng gefasst, notwendig zwei Minimalkriterien erfüllen: die persönliche Kopräsenz von Lehrer und Schüler und dessen denkerische Beziehung der Teilhabe. Ferner dient Blumenberg Zur Simmelrezeption bei Ortega vgl. E. Vernik: »Recepción de Georg Simmel en Hispanoamérica«, in: C. T. Sarmiento (Hg.): Georg Simmel y la Modernidad. Universidad Nacional de Colombia: Bogotá 2011, 29–48. Ortega habe spätestens ab 1906 Simmel gelesen, ein Jahrzehnt später dessen Übersetzung ins Spanische im Rahmen der Madrider Schule koordiniert. Ferner sei Simmels nicht zitierte Rembrandt-Untersuchung, die erst deutlich später (1950) übersetzt wurde, maßgeblich für Ortegas Ästhetik gewesen. 51 Blumenberg stand im engen Austausch mit Jacob Taubes, der wiederum ab 1943 bei Schmalenbach in Basel gehört hatte und mit dessen Schülern Landmann und Armin Mohler gut bekannt war; vgl. den Briefwechsel zwischen Hans Blumenberg und Jacob Taubes, in dem Blumenberg das phänomenologische Schulenverständnis vom »Papst der deutschen Philosophie« (H. Blumenberg an J. Taubes: Brief vom 22. März 1965, in: H. Blumenberg/J. Taubes: Briefwechsel 1961–1981 und weitere Materialien, hg. von H. Kopp-Oberstebrink und M. Treml. Suhrkamp: Berlin 2013, 43–50, hier 48) – gemeint ist Gadamer – schildert, das Blumenberg mit seiner Distanzierung von Heidegger bewusst von sich wies, weshalb ihm von Gadamer das Etikett des Wissenschaftshistorikers statt das des Philosophen angeheftet worden sei. 50
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als Indiz für die Simmel-Forschung, Wirkungslinien gerade dort zu suchen, wo sich Phänomenologie mit Geschichtsphilosophie und Lebensphilosophie in einer Arbeit am Begriff und am Weltbild verschränken und Schulzusammenhänge relativiert werden. Dies hat Blumenberg systematisch mit Moog und Schmalenbach gemeinsam, biographisch zudem die mangelnde Schulzugehörigkeit. Erinnern wir mit Simmel erneut an das Fundbüro. Denn auch sehr wertvolle Dinge und sogar hohe Bargeldbeträge werden nicht als vermisst gemeldet. Liegt es am mangelnden Zutrauen in die Mitmenschen, fremdes Eigentum aus ihrem Besitz abzugeben? Oder sehen wir den Begriff Besitz ganz falsch, wie Simmel feststellte: »Es ist eine falsche Gewöhnung, den Besitz als etwas passiv Hingenommenes zu betrachten, als das unbedingt nachgiebige Objekt, das, soweit es eben Besitz ist, keine Betätigung unsererseits mehr erfordert.« 52 Besitz bedeute Tun, nur Kinder und Naturvölker gingen mit den Dingen rein genussvoll um und verlieren sie, wenn sich ihr Interesse verflüchtigt. Erachten wir also Simmels Schüler wie seine Kinder, wäre es für sie eine natürliche Entwicklung, ihn beim philosophischen Erwachsenwerden zu verlieren. Dasjenige, was man Simmel verdankt, als nun in seinem eigenen Besitz zu würdigen, verlangte eine eigene Anstrengung, die nicht jeder auf sich nimmt. So fällt auch Licht auf Simmel als einen der meistplagiierten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Allerdings bleiben wir so noch einem familiären Schulbegriff verhaftet. Alternativ kann man das Kriterium der denkerischen Teilhabe vom familiären Gemeinschaftskollektiv lösen, wie Simmel es ja durch die Mitbegründung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie selbst vorgelebt hat. Ein starkes Motiv für den Besitz bleibt nach Simmel die soziale Abgrenzung, d. h. das Wissen, dass man etwas besitzt und der Andere nicht. Verliert man etwas und muss damit rechnen, dass es nun ein anderer besitzt, kommt dies einer Entwertung des eigenen Status gleich. Vielleicht stellen deshalb viele Menschen keinen Nachforschungsantrag. Die Anspielung meint Simmel im heutigen ›Besitz‹ der Soziologie, die – so die These – lange dazu geführt hat, dass eine nach dem Zweiten Weltkrieg sich als im Status entwertet verstandene Philosophie ihren Verlust nicht anzeigte, wie sie es auch unterließ, bei ebenfalls nun als Soziologen firmierenden Philosophen
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G. Simmel: Philosophie des Geldes, 405.
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wie Plessner und Arnold Gehlen, aber auch Schmalenbach nach Wirkungslinien zu suchen. Eine zweite ist dem Zusammenbruch der Phänomenologie jenseits von Heidegger geschuldet, die Moog wie Schmalenbach betrifft. In den Husserliana wird Schmalenbach zum »frühen Münchner Phänomenologenkreis« gerechnet, auch sein Spätwerk Geist und Sein (1939) fällt in die Phänomenologie. An seinem Grab ordnet Heinrich Barth Schmalenbach in die phänomenologische Bewegung Husserls ein und betont: »Herman Schmalenbach ist in einer Phase der philosophischen Bemühung herangewachsen, in der das neu erwachende Denken die etwas versteiften Gehäuse der die Vorkriegszeit beherrschenden philosophischen Schulbildungen zu sprengen geneigt war. Es wurde erstes Bedürfnis, sich den Reichtum geistiger Sachverhalte zu Gesicht kommen zu lassen.« 53 Moogs Habilitationsschrift ist eine Psychologismuskritik im Anschluss an Husserls Logische Untersuchungen. Eine naheliegende Option wäre deshalb, beiden das Etikett Phänomenologe anzuheften und von da aus rückwirkend zu fragen, inwieweit auch Simmel als solcher gelten kann. Denn das Verhältnis der beiden Logos-Beiräte Husserl und Simmel ist unterforscht, was daran liegt, dass in der Rekonstruktion Husserl zu viel, Simmel gar keine Schulenbildung attestiert wurde. Die für Simmel gängige Antwort auf die Schulenfrage ist bekanntlich negativ. So schreibt noch Markus Schroer jüngst: »Georg Simmel begründete zeit seines Lebens keine wirkliche Schule. Dies liegt daran, dass er sich darum nicht ernsthaft bemühte; hinzu kommt jedoch, dass er aufgrund seines erst sehr spät erfolgten Rufs auf eine Professur auch kaum die Mittel und Möglichkeiten zur Schulenbildung hatte.« 54 Hier werden zwei Vorentscheidungen getroffen: (1.) erstens, dass es äußerliche Bedingungen wie der lange Zeit mangelnde Lehrstuhl waren, der Simmel eine Schulenbildung verunmöglichte. Diese Sicht fußt auf der gängigen Prämisse, dass sich Schulen über akademische Qualifikationsarbeiten bilden und sich damit universitären, familiär-patriarchalischen Herrschaftsverhältnissen verdanken; zudem wird Simmel ein Mangel an intrinsischer Motivation
H. Barth: Traueransprache anlässlich der Kremationsfeier H. Schmalenbach am 7. November 1950 in Basel. Typoskript 3 Seiten (Privatbesitz Sylvia Bodenheimer, Basel). 54 M. Schroer: Soziologische Theorien: Von den Klassikern bis zur Gegenwart. Wilhelm Fink: Paderborn 2017, 103. 53
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unterstellt, überhaupt eine Schule gebildet haben zu wollen. Hier wird ein anderer Schulenbegriff bemüht, nämlich (2.) der der Übernahme eines Denkstils in Voraussetzung einer Person. Simmels angeblich mangelnde Motivation einer Schulenbildung klingt psychologistisch, entsprechend ist Widerspruch angebracht, der philosophisch oft so formuliert wird: Es ist sein Philosophieren selbst, aus dem klar wird, dass für ihn Schulenbildung nicht erstrebenswert sein konnte. Denn Simmel gehörte nicht zu denjenigen Philosophen, die ein Programm verfolgten, womit (3.) ein dritter, programmatischer Schulenbegriff angesprochen wäre. So eröffnet er seine Hauptprobleme der Philosophie (1910, 5. Aufl. 1920) mit der Frage des voraussetzungslosen Denkens, das gleichermaßen unmöglich wie philosophisch anzustreben sei. Philosophieren beginnt eingedenk des Paradoxen, was sich der Philosoph zu eigen machte: Simmels Programm war die Programmlosigkeit. Kurz vor seinem Tode notierte er eine Sentenz, die weiteren Aufschluss gibt, warum er gegen eine Schulenbildung gewesen sein könnte: »Es sind zwei Dinge, die in dem Einzelnen wie in den Beziehungen der Menschen untereinander, alles Gute und Beste hemmen: der Vorteil und das Vorurteil.« 55 Damit zeigt die Schulenbildung ein Dilemma: Zeichnet sich Philosophie gerade durch das vorurteilsfreie Denken als hochrangig aus, d. h. wenn sie dem Kriterium der Originalität folgt, so kann dies nicht für ihre intergenerationelle Wirksamkeit in Folge einer Schule gelten. Die Historiographie der Schule würde notwendig in eine Dekadenz-Geschichte münden, die mit dem Tod des Meisters beginnt. Aus diesem Grunde ist es für den Denker und die Denkerin wichtig, schon zu Lebzeiten den Eindruck der Schule zu minimieren (was nicht notwendig bedeutet, dass es keine gibt); für die Schülerin und den Schüler, sich frühzeitig mit eigener Argumentation vom Meisterhaften zu emanzipieren, aber die gedankliche Bindung nicht zu lösen. Der Vorteil, den ein Doktorand in einer Schule wie etwa der Husserlschen durch Qualifikation erlangt haben mag, ist gleichzeitig behindernd für die eigene philosophische Entwicklung, zumindest in der karriererelevanten Außenwahrnehmung; paradigmatisch stehen sich hier der Husserl-treue Alexander Pfänder und der von Husserl vielfach abgefallene Martin Heidegger gegenüber. Das Vorurteil des Lehrers, dem man sich bedingungslos anschließt, ist Kennzeichen jeder Schule
55
G. Simmel: »Es sind zwei Dinge …« [1918], in: GSG 17, 147.
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bzw. jeden Bundes, wie Schmalenbach verdeutlichte. 56 Ganz in diesem Sinne hebt Schmalenbach im Nachruf auf Simmel dessen vorurteilslösendes Philosophieren hervor, »ein alle Problematik eigenen Behauptens mitheraufhebendes Philosophieren«. 57 Simmel verstand sich als Anreger und Motivator, als Korrespondent und Gesprächspartner, bevorzugt in der Form der Dyade, d. h. unter vier Augen oder im Brief, auch im Privatissimum mit Studenten, die er aber nicht Schüler nennt. Er spricht vom Kreis – ähnlich wie der George-Kreis, dem er bis ca. 1908 nahestand. Für die Erforschung der Wirkungslinien ist es nicht unerheblich, dass das schmale Zeitfenster der größten Wertschätzung Simmels für George 58 auch Schmalenbach prädisponiert, zum äußeren George-Kreis zu gehören (ca. 1907 bis 1913). 59 Entsprechend urteilt Schmalenbach, dass Simmel »auf weiteste Kreise« eine »beispiellose Wirkung« gehabt habe. 60 Zu diesen Kreisen gehörten auch solche der Berliner Salon-Kultur und damit ritualisierte Formen des Philosophierens, die in der Lesart von Schule als öffentlicher Institution – inklusive der Universität – nicht berührt werden. Simmel schickte auch seinen Sohn Hans nicht in die öffentliche Schule, sondern ließ ihn privat unterrichten, womit (4.) ein weiterer, landläufiger Begriff von Schule als Erziehungsanstalt ins Spiel gebracht
Vgl. H. Schmalenbach: »Die soziologische Kategorie des Bundes«. H. Schmalenbach: »Georg Simmel« [Nachruf] Teil II (19. Mai 1919), 482–485, hier 485. 58 Vgl. S. Breuer: »George, Stefan«, in: H.-P. Müller und T. Reitz (Hg.): SimmelHandbuch: Begriffe, Hauptwerke, Aktualität. Suhrkamp: Berlin 2018, 231–236. Dies ist die einzige Stelle, in der Schmalenbach im Handbuch auftaucht. Für den Bruch des engeren George-Kreises (und George selbst) mit Simmel wird von Breuer der Eklat um Simmels Replik auf einen Zeitungsartikel Friedrich Gundolfs kurz nach Kriegsbeginn angeführt (vgl. S. Breuer: »George, Stefan«, 235), womit keine philosophischen Gründe ausschlaggebend gewesen seien, was weiter zu beforschen ist. Schmalenbach hingegen berichtet in seinem Radiovortrag zu George (siehe die folgende Anmerkung) selbst über seine in der Philosophie begründete Differenz mit George. Denn George hätte bestritten, dass es Gebilde des Begriffs gebe. Unter jenem Titel hatte Schmalenbach einen Aufsatz für das zweite Jahrbuch des George-Kreises geschrieben, der zum Druck abgelehnt worden war. Zu einem wirklichen Bruch sei es jedoch nie gekommen, auch dank der großen persönlichen Wertschätzung auf beiden Seiten. 59 Vgl. H. Schmalenbach: »Schmalenbachs Erinnerungen an Stefan George« (Auszüge seines Schweizer Radiovortrags vom 1. Oktober 1945), in: R. Böhringer (Hg.): Mein Bild von Stefan George. Küpper: Düsseldorf/München 21967, 254–256. 60 H. Schmalenbach: »Georg Simmel« [Nachruf] Teil I, in: Socialistische Monatshefte (24. März 1919), 283–288, hier 283. 56 57
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wird, der bei der Einordnung der Fundstücke aus zwei Gründen eine Rolle spielt. Zunächst affirmierend, denn es ist bezüglich der Durchdringung von Simmel- und George-Kreis auffallend, dass Schmalenbach, Moog und Friedrich Gundolf auf das gleiche Gymnasium gingen wie eine Generation früher Stefan George: das Ludwig-GeorgsGymnasium in Darmstadt. 61 Hier ist weniger nach tradierten Lehrinhalten bzw. Curricula zu fragen als vielmehr nach ritualisierten Formen der Geselligkeit (Lesekreise, Theatergruppen etc.), die jenseits des Unterrichts dasjenige evozierten, was man dichterische Lebensanschauung nennen könnte. Dann ist die Schule als Erziehungsanstalt negierend zu betrachten: Denn der Lehrersohn Moog, der selbst ein Staatsexamen zum Gymnasiallehrer ablegte, und der Industriellensohn Schmalenbach machten aus ihrer Unlust, beruflich als Philosoph an einer staatlichen Schule zu wirken, keinen Hehl. Es war die Zeit tiefgreifender Schulreformen, die die klassische Pädagogik in eine Erziehungswissenschaft transformierte, mit Schwächung und später sogar Aufgabe des philosophischen Propädeutikums. 62 Schmalenbach legte gar kein Staatsexamen ab. Er verdiente sich sein Geld in den 1910er Jahren in Berlin als Hauslehrer der Söhne von Käthe Kollwitz, dem Künstlerehepaar Reinhold und Sabine Lepsius (über den George-Kreis im Kontakt zu Simmel) und des Sozialistenehepaars Lily und Heinrich Braun. 63 Er musste aushalten, dass er alle drei seiner Zöglinge im Ersten Weltkrieg verliert; Schmalenbach hatte den Jungen dringend davon abgeraten, sich freiwillig zum Kriegsdienst zu melden. 64 Moog gefährdete sogar sein Habilitationsverfahren durch sein pazifistisch orientiertes Buch Kants Ansichten über Krieg und Frieden (1917), das er schon 1915 verlegt wissen wollte. In seinen zahlreichen pädagogischen Schriften betont Moog immer wieder: Ein guter Lehrer muss das Wissen in seiner ganzen Persönlichkeit in die Anschauung bringen, nicht nur vermittels des Unterrichts – eine charakterliche Eignung, die die Freunde an Simmel stets 61
Das von Schmalenbach und Moog besuchte Neue Gymnasium war eine Dependan-
ce. Vgl. die Kritik von W. Moog: »Die Behandlung der philosophischen Propädeutik«, in: Pädagogisches Archiv 53 (1911) 10, 585–601. 63 Offenbar war Schmalenbach außerdem an einer Privatschule tätig und zwar an derselben, an der auch Robert Boehringer, Mitglied des Jahrbuch-Kreises um George, unterrichtete. Dies berichtet M. Landmann: »Herman Schmalenbach«, 81. 64 Dazu ausführlich N. C. Karafyllis: Die Philosophen Herman Schmalenbach und Willy Moog, 23–36. 62
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bewunderten. In den nach dem Studium gemeinsam verbrachten Berliner Jahren (1913 bis Frühjahr 1915) unterrichtete Moog an einem privaten Lyzäum für Mädchen in Reinickendorf, das seinerzeit eine Art Sekundarstufe II einführte – eben dafür hatte sich Simmel politisch eingesetzt. 65 Moog und Schmalenbach haderten also mit dem sicheren Brotberuf, aber engagierten sich wie ihr Vorbild Simmel für Frauenbildung an höheren Lehranstalten, die Frauen das Abitur und auch ein Studium ermöglichten. 66 Dies sei betont, weil wir bei Wirkungslinien Simmels auch an die politische Einstellung denken sollten und damit (5.) einen fünften Schulenbegriff bemühen: die Übernahme einer umfassenden Haltung zum Verhältnis von Philosophie und Gesellschaft, das sich auch im Verhältnis der Philosophie zu ihren Nachbardisziplinen zeigt. So finden wir im Philosophieren von Moog und Schmalenbach eine Orientierung an Simmel in folgenden Hinsichten: –
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eine v. a. bei Moog explizit kritische Auseinandersetzung mit der Bildungsfrage und der sich neu als eigenes Fach verstehenden Pädagogik bzw. Erziehungswissenschaft, die sich dabei enthistorisiert (vgl. dazu Simmels späte Straßburger Vorlesungen, postum ediert von Karl Hauter (1922)); 67 analog die Abgrenzungsfrage zur Psychologie mit ihrem wissenschaftssystematischen Aufschwung als Psychologismus und Anspruch als Synthesefach für Aussagen zur Wirklichkeit, die v. a. vom frühen Moog verfolgt wird. Man vergleiche Simmels Kampf gegen die Besetzung von Philosophielehrstühlen mit Psychologen. 68
Vgl. u. a. in Simmel als Unterzeichner der Petition »Gestattung bzw. Errichtung vollständiger Mädchengymnasien« (27. März 1903), in: GSG 17, 151–155 und G. Simmel: »Frauenstudium an der Berliner Universität …« (Leserbrief vom 21. Dezember 1899), in GSG 17, 326–327. 66 1943 promoviert Schmalenbachs Tochter Cornelia (verh. Thévenaz; 1918–1999) in Basel im Fach Romanistik mit dem Thema Joseph Joubert. Seine geistige Welt (vgl. Cornelia Thévenaz-Schmalenbach: Joseph Joubert. Seine geistige Welt. Kundig: Genf 1956). Sie hatte 1943 den Schweizer Phänomenologen Pierre Thévenaz (1913–1955) geheiratet, der 1934 bis 1935 in Basel studierte. Thévenaz war 1946 bis 1948 Philosophieprofessor an der ETH Zürich, ab 1948 bis zu seinem frühen Tod 1955 an der Universität Lausanne. 67 Vgl. G. Simmel: Schulpädagogik, in: GSG 20, 311–472. 68 Vgl. G. Simmel: [Unterzeichner der] »Erklärung gegen die Besetzung philosophischer Lehrstühle mit Vertretern der experimentellen Psychologie« (März 1913), in: 65
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Simmels Formen der Vergesellschaftung dienen Schmalenbach als Ausgangspunkt seiner sozialphilosophisch-metaphysischen Untersuchungen um die Konzepte von Individualität, Einsamkeit und Substanz. Dabei ist für ihn auch der begriffsgeschichtlich arbeitende Soziologe Ferdinand Tönnies (1855–1936) wichtig, der mit Simmel gut bekannt war. Für Moog wie Schmalenbach ist Simmels lebensphilosophischer Zugriff auf die Geschichte als historisches Verstehen maßgeblich, der weiterführend die Frage stellt, welche Phänomenbereiche (bei Schmalenbach auch das religiöse Erlebnis) überhaupt als Gegenstände der Philosophie und ihrer Geschichtsschreibung in Frage kommen können. So wird Simmel für Moog und Schmalenbach v. a. als Geschichtsphilosoph und Phänomenologe wirksam, was auch erklärt, warum beide die Nähe zu Husserls Philosophie und seiner Schule suchen. Die Erweiterung der Modi des Philosophierens an ihren Schnittstellen zu Literatur und Kunst sowie deren ganzheitliche Verkörperung im Universalgenie ist für Moog mit Blick auf Geschichtsund Kulturphilosophie, für Schmalenbach bezüglich Metaphysik und Existenzphilosophie bedeutsam. Für beide schon von Jugend an Goethe-Begeisterte spielt Simmels Goethe (1913) eine prägende Rolle. Simmels Philosophie des Geldes (1900) wird von beiden in ihren Arbeiten konsequent ausgeblendet, was eine allgemeinere Tendenz der damaligen Philosophie war.
Was diejenigen Vielen, die nur bei Simmel gehört haben, von denen unterscheidet, die man Schüler nennen könnte, sind demnach zwei Sachverhalte: das kontinuierliche 69 Selbstbekenntnis, Schüler zu sein, und damit einhergehend die anerkennende Reflexion des Werkes. Beides trifft auf Moog und Schmalenbach zu. Im erweiterten Sinne und von der Forderung der Kopräsenz enthoben kann die Schülerschaft sich auch auf die nächste Generation erstrecken wie den o. g. Simmel-Forscher Michael Landmann. Wenn wir von der leiblichen
GSG 17, 117–179 und G. Simmel: »Philosophie und Psychologie« [1910], in: GSG 17, 336–340. 69 Dieser Zusatz ist deshalb wichtig, weil einige Hörer Simmels wie z. B. Georg Lukács und Ernst Bloch sich zeitweise als Simmel-Schüler gerierten, aber nach ihrer neomarxistischen Wende zu diesem Distanz gewinnen wollten.
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Hörerschaft aus weiterdenken, dann geht dies nur in der biographischen Verlängerung der Lebenslinien. Damit ist die persönliche Achse Simmel – Schmalenbach – Landmann angesprochen, die als Hintergrund über Landmanns Eltern die Nähe zum George-Kreis aufweist. Wichtig ist auch hier, dass sich der Schüler durch ein Bekenntnis zum Lehrer auszeichnet, das über eine Generation hinweg als doppeltes Bekenntnis gelesen werden muss: »Durch Herman Schmalenbach wurde ich Enkelschüler Georg Simmels.« 70 Der akademisch-familiäre Schulbegriff ermöglicht hier die verwandtschaftliche Relation zu einem Großvater, den man persönlich nie gekannt hat.
IV. Selbstbekenntnisse und biographische Relationen Während Moog in seinen knappen Lebensläufen seine Lehrer nur aufreiht, dabei aber gerade in demjenigen für Bewerbungen den toten Simmel entgegen der Chronologie stets an erster Stelle nennt (und erst danach seinen Doktorvater Karl Groos 71), ist Schmalenbachs Bekenntnis zu Simmel emphatisch. Im Lebenslauf für sein Habilitationsverfahren an der Universität Göttingen schreibt er: »Mein eigentlich philosophischer Lehrer ist Georg Simmel gewesen (vgl. meinen Nachruf in den Socialistischen Monatsheften 1919, S. 283 ff. 72). Früher literarischer Einfluss traf mich unter anderem von Edmund Husserl. Doch schloss ich mich stärker als an Zeitgenossen an die metaphysischen Klassiker der Philosophie, insbesondere an die Griechen (Vorsokratiker und Platon) an.« 73 Aus den wenigen erhaltenen Briefen zwischen Simmel und Schmalenbach geht hervor, dass sich die beiden näher kannten. 74 Sie standen nachweislich zwischen 1906 und 1914 miteinander in persönlichem Kontakt, was leicht fiel, da M. Landmann: »Herman Schmalenbach«, 81. Simmel schätzte Groos, vgl. G. Simmel an H. Rickert: Brief vom 3. November 1897, in: GSG 22, 265 f. 72 Vgl. H. Schmalenbach: »Georg Simmel« [Nachruf] Teil I, in: Socialistische Monatshefte 25. Jg., 52. Bd. (24. März 1919), 283–288; Teil II (19. Mai 1919), 482–485. 73 Vgl. H. Schmalenbach, »Lebenslauf Habilitationsakte«, in: Universitätsarchiv Göttingen 1920. 74 Vgl. G. Simmel an H. Schmalenbach: Brief vom 14. Januar 1914, in: GSG 23, 273; G. Simmel an H. Schmalenbach: Brief vom 15. Januar 1914, in: GSG 23, 275; G. Simmel an S. Schmalenbach: Brief vom 13. Februar 1914, in GSG 23, 298 und G. Simmel an H. Schmalenbach: Brief vom 4. Juli 1914, in: GSG 23, 343. 70 71
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Schmalenbach in jener Zeit primär in Berlin lebte, d. h. seit dem Darmstädter Abitur im Februar 1906 bis zum Kriegseinsatz 1915, nur unterbrochen durch zwei Semester Einschreibungen in Jena (Sommer 1908 und 1909) für die Promotion und ein Studienjahr in München 1909/1910, wo er v. a. bei Moritz Geiger, Max Scheler und Hans Cornelius hörte, 75 und auch zur Münchner Dependance des George-Kreise um Karl Wolfskehl Kontakt hatte. Der zunächst in Gießen studierende Moog folgte seinem Freund ein halbes Jahr später nach Berlin (WS 1906/1907) und blieb drei Semester; nach Promotion und Referendariat in Hessen forschte er dort wieder ab 1913 und traf sich belegbar mit Schmalenbach, der (mutmaßlich mit Moog) u. a. seine Postdoc-Zeit als Hörer von Benno Erdmann und Aloys Riehl verbrachte. Und von Simmel. Simmel hat Schmalenbach sogar Geld geliehen oder geschenkt. Dies geht aus einem Brief vom 4. Juli 1914 aus Straßburg hervor, in dem Simmel zu einem Leibniz-Text von Schmalenbach, geplant für die Zeitschrift Logos, Stellung nimmt: »Ich kann nicht verhehlen, daß der angegebene Umfang für die redaktionellen Verhältnisse des Logos etwas bedenklich ist.« 76 Zunächst zum Finanziellen: Schmalenbachs Geldsorgen blieben über die Jahre prekär, was v. a. daran lag, dass seine streng protestantische Mutter Emma, Erbin des väterlichen Vermögens, Geldzahlungen verweigerte. 77 Der Grund ist der gleiche wie auch bei seinen beiden Brüdern: Herman hatte im Dezember 1913 eine Jüdin geheiratet, die in Lodz geborene Musikerin Sala Müntz. Kennengelernt hatte er sie in ihrem Elternhaus als Schabbesgoi, d. h. als nicht-jüdische Arbeitskraft, die am Sabbat die für Juden untersagten Dienste verrichtete. 78 Dies muss im Münchner Studienjahr 1909/1910 gewesen sein. 79 Da Schmalenbach wie sein Vorbild lange Privatdozent blieb (erst mit 47 Jahren wurde er ordentlicher Professor) und sich seine Familie bald auf drei Kinder vergrößerte, war er immer wieder auf Geldzuwendungen angewiesen. Zum Fachlichen: Zu Schmalenbachs Münchner Zeit vgl. N. C. Karafyllis: Willy Moog (1881–1935), 497–505. 76 G. Simmel an H. Schmalenbach: Brief vom 4. Juli 1914, in: GSG 23, 343. 77 Vgl. die Belege bei M. Kruk: »Leben und Wirken Schmalenbachs«. 78 Schriftliche Mitteilung der Enkelin Sylvia Bodenheimer (Basel), 2018. 79 Familie Müntz wohnte in München, Trogerstr. 17 (Salas Bruder Chaim Müntz mit Ehefrau Magda) und 17a (Eltern Mordko Getzel und Rosa Müntz, geb. Danziger). Angaben laut beglaubigter Abschrift vom 28. Dezember 1937 (Privatbesitz) der Heiratsurkunde Nr. 1096 des Standesamts München II vom 6. Dezember 1913. 75
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Der von Simmel genannte Leibniz-Aufsatz wird nicht erscheinen. Vielmehr wird er zum Ausgangspunkt von Schmalenbachs Habilitationsschrift, die Moritz Geiger (1880–1937) und Georg Misch (1887– 1865) begutachten werden. Der zur Philosophie der Mathematik arbeitende Husserl-Schüler Geiger wird nach Simmels Tod Mentor Schmalenbachs; dieser wird ihm über einen Gastvortrag in Basel 1933 vermutlich zur Emigration in die USA verhelfen. 80 Misch, der sich um viele Nachwuchsleute kümmerte, hatte immer ein offenes Ohr für Schmalenbach und schätzte ihn sehr. Dort lernte auch Helmuth Plessner Schmalenbach kennen, den er wegen seiner rezitativen Gelehrsamkeit leicht abfällig den »Kuno Fischer des 20. Jahrhunderts« nennt; das Verhältnis wird sich später bessern. 81 Plessner spiegelt die damalige Sicht, aus der Schmalenbach seit seinem großen Buch als Philosophiehistoriker gilt, wogegen er lebenslang opponierte. Die über 600 Druckseiten starke Schrift trägt den kurzen Titel Leibniz (1921) und macht Schmalenbach schlagartig bekannt. Hier sehen wir auch in der Titelgebung eine Orientierung an Simmel, der etwa sein Goethebuch nur kurz Goethe (1913) genannt hatte. Simmel war also um 1914 in Schmalenbachs Leibniz-Arbeiten einbezogen und es wäre für die weitere Forschung lohnend zu untersuchen, ob beide ihr Leibniz-Bild darauf noch nuancierten. Tilitzki kann aussagen, dass Schmalenbach seine von Simmel geförderte Habilitation in Straßburg geplant hatte. 82 Landmann hat überliefert, dass Schmalenbach bereits seine Dissertation bei Simmel ablegen wollte, was formal in Berlin nicht möglich war, und dass er nur deshalb zu Eucken gegangen sei. 83 Freund Moog hat bei dem renommierten Karl Groos (1861– 1946), der als Philosoph zur Literarpsychologie arbeitete, 1909 reibungslos seine Promotion mit der Arbeit Das Verhältnis von Natur
Vgl. die Rekonstruktion in N. C. Karafyllis: Die Philosophen Herman Schmalenbach und Willy Moog, 49 f. 81 H. Plessner an J. König: Brief vom 11. November 1924, in: J. König/H. Plessner: Briefwechsel 1923–1933, hg. von H.-U. Lessing und A. Mutzenbecher. Alber: Freiburg/München 1994, 57–62, hier 60. 82 C. Tilitzki: Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, Bd. 1. Akademie-Verlag: Berlin 2002, 226. Die Darstellung Schmalenbachs ist quellengesättigt und daher zuverlässiger als die Erinnerungen von Landmann; Schmalenbachs Nähe zum Sozialismus bleibt genauer zu hinterfragen. 83 M. Landmann: »Erinnerungen an Simmel von Herman Schmalenbach«, 213. 80
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und Ich in Goethes Lyrik in Gießen abgelegt. 84 Für seine Habilitation wird er jedoch drei Anläufe brauchen. 85 Hinter Moogs Dissertationsthema verbirgt sich eine tiefere Begeisterung für Literatur, die um Person und Werk Goethes kreist und sich ebenso bei Schmalenbach findet. Beide schrieben schon als Teenager Gedichte. Schmalenbach war noch dazu Mitglied der schulischen Theatergruppe, in der er die dramatische Person spielte, die er am meisten bewunderte: Goethes Iphigenie.
Abb. 2: Der 15-jährige Schmalenbach (Mitte) in einer Schulaufführung als Iphigenie, 5. August 1901. 86 W. Moog: Natur und Ich in Goethes Lyrik. Eine literarpsychologische Analyse. Röther: Darmstadt 1909. 85 Versuche in Gießen und Halle scheiterten mit Themen zur griechischen Antike (davon liegt das erste zum Einheitsproblem bei Aristoteles sehr nah an Schmalenbachs Interessensgebieten) am Widerstand der Altphilologen und am Verdacht, als Privatdozent ›unabkömmlich‹ für den Krieg gestellt werden zu wollen, bis das wissenschaftssystematische Thema im Ausgang von Husserl 1919 in Greifswald den Erfolg brachte (Gutachter waren der spätere NS-Philosoph Hermann Schwarz und der Vorreiter einer Philosophie als ›Grundwissenschaft‹ Johannes Rehmke). Zu Details vgl. N. C. Karafyllis: Willy Moog (1881–1935), 540–630. 86 Kontext: Feier zur Einweihung des Neubaus der Grossherzoglichen Augustinerschule Friedberg. S/W-Fotografie (im Orig. gerahmt, ca. 54 � 43 cm), Privatbesitz. Abdruck mit freundl. Genehmigung von Sylvia Bodenheimer, Basel. In weiteren Rollen Thoas, Köngig der Thaurier (Ferdinand Vetter), Orest (Karl Meissinger), Pylades (Konrad Brachmann) und Arkas (Hermann Hechler). Angaben lt. Programmzettel, der Fotografie beiliegend. Schmalenbach ging bis 1903 auf die Augustinerschule Friedberg und wechselte dann auf das Neue Gymnasium in Darmstadt. 84
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Der besondere Stellenwert von Goethes Figur deckt sich mit den Erinnerungen Landmanns an Schmalenbachs Basler Zeit: »Die letzten Jahre waren für ihn schwer. Er, den Freunde einst, als er die Iphigenie vorlas, das ›Iphi-Genie‹ genannt hatten, verlor die frühere Faszination. Schon der letzte Teil seines Buches Geist und Sein (1938) stand nicht mehr auf der Höhe der beiden ersten, hervorragenden Teile, die auf viel frühere Eingebungen zurückgingen. 87 Er wollte ein phänomenologisches Buch Die Welt des Menschen schreiben, aber es gestaltete sich ihm nicht mehr.« 88 So sieht Landmann die GoetheBegeisterung als Motor für Schmalenbach ganzes philosophisches Arbeiten, denn für ihn galt: »Goethe gehöre als Dichter (wie Luther als homo religiosus) auch in die Geschichte der Philosophie […].« 89 Für Simmel war Iphigenie ebenfalls ein zentrales Motiv seines Denkens 90 und eine Verkörperung des individuellen Gesetzes in Form des klassischen Humanitätsideals. Beim Abitur gaben die Freunde als Studienwunsch Klassische Philologie an, Schmalenbach auch Germanistik und Kunstgeschichte. Und so kam es. Moog begann im April 1906 ein Philologie-Studium in Gießen, Kunstgeschichte und Germanistik wurden Nebenfächer. Für das zweite Semester folgte er im WS 1906/1907 Schmalenbach nach Berlin, der bereits direkt nach dem Abitur an die Wilhelms-Universität gegangen war. Sie lernten einen Simmel auf dem Höhepunkt seines Schaffens kennen, der zwar noch an seinem lange vorbereiteten Grundlagenwerk Soziologie (1908) feilte und dazu lehrte, aber »bereits der Soziologie zugunsten der Philosophie wieder den Rücken gekehrt hatte«. 91 Relativ frisch auf dem Markt waren Simmels Kant (2. Aufl. 1905), Kant und Goethe (1906), Schopenhauer und Nietzsche (1907) und die stark veränderte Fassung der Probleme der Geschichtsphilosophie (2./3. Aufl. 1905/1907). Der Einfluss aller vier Lektüren lässt sich in den Werken von Moog und Schmalenbach späDas gedruckte Buch trägt das Datum 1939. M. Landmann: »Herman Schmalenbach«, 86. 89 Ebd., 85. 90 Vgl. u. a. G. Simmel: »Werte des Goetheschen Lebens« [1923], in: GSG 20, 11–79, hier 70); G. Simmel: »Zur Philosophie des Schauspielers« [1923], in: GSG 20, 192– 219, hier 207) sowie in der Schulpädagogik, wo Simmel Goethes Iphigenie als einen fachübergreifenden Unterrichtsgegenstand im Sinne des Herbartianismus herausstellt (vgl. G. Simmel: Schulpädagogik, 323). 91 H.-P. Müller: Einführung, in: H.-P. Müller und T. Reitz (Hg.): Simmel-Handbuch. Suhrkamp: Berlin 2018, 11–90, hier 41. 87 88
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ter wiederfinden. Die besuchten Simmel-Vorlesungen von Moog waren laut Quelle im Archiv der HU Berlin: »Allgemeine Soziologie« (WS 1906/1907), »Einleitung in die Philosophie, mit Berücksichtigung der Philosophie der Gesellschaft und der Geschichte« (SoSe 1907), »Ethik und Probleme der modernen Kultur« (SoSe 1907) und »Philosophie des 19. Jahrhunderts, von Fichte bis Nietzsche und Maeterlinck« (WS 1907/1908). Wenigstens die letzte Vorlesung hörte er zusammen mit Schmalenbach, wie sich anhand von dessen Mitschriften zuordnen lässt. 92 Als Student besuchte Schmalenbach zudem Simmels »Philosophie der Kultur« und »Logik und Probleme der Philosophie der Gegenwart« (beide WS 1906/1907). Auch in den Jahren 1913 bis 1915 waren Moog und Schmalenbach zusammen in Berlin und miteinander in Kontakt. Moog arbeitete exzessiv am Goethe-Handbuch von Julius Zeitler 93, Schmalenbach an Vorstudien zu seinem Leibniz. Gemeinsam besuchten sie den ersten Kongress der Gesellschaft für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 1913, an dem auch Simmel teilnahm. Der Krieg zerreißt die Biographien und verzögert die Habilitationen; Simmels Tod kurz vor Kriegsende bedeutet für Schmalenbach, dass er nun offiziell niemals akademischer Schüler Simmels sein kann, was den glorifizierenden Nachruf in Socialistische Monatshefte (1919) verständlicher macht. Statt Straßburg zieht er zunächst Köln (bei Max Scheler) als Habilitationsort in Betracht, nimmt aber davon Abstand, u. a. auf Abraten seines Bruders Eugen, der dort als Ökonomieprofessor lehrt. So fällt die Wahl auf Göttingen.
V.
Rezeption und Entwicklungslinien
Für Moogs Philosophieren sind aus Simmels Schriften Goethe (1913) und Die Probleme der Geschichtsphilosophie (2. Aufl. 1905) am wichtigsten, ferner die große Soziologie (1908). Wie Schmalenbach in Göttingen und Basel 94 hat auch Moog das Fach Soziologie in Greifswald und in Braunschweig unterrichtet, und zwar dort sogar Vgl. G. Simmel: Kolleghefte, Mit- und Nachschriften, in: GSG 21, 11–1011. J. Zeitler (Hg.): Goethe-Handbuch, 3 Bde. Metzler: Stuttgart 1916–1918. Moog bearbeitete über 50 Lemmata, vgl. N. C. Karafyllis: Willy Moog (1881–1935), 685 f. 94 Vgl. die Vorlesungsmanuskripte der Jahre 1928–1943 in UB Basel, NL 106, Kiste VI, Nr. 19, Nr. 32 (Vorlesung »Prinzipien der Soziologie«, Basel Sommer 1943). Auch im Brief an Kurt Hirschfeld vom 27. November 1930 (Privatbesitz N. C. Karafyllis) 92 93
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dann noch, als ab 1928 der unter Moogs Dekanat berufene Soziologe Theodor Geiger (1891–1952) das Fach offiziell vertrat. 95 In den Vorlesungsankündigungen Moogs lässt sich zudem eine Verschiebung von »Ethik, Staats- und Gesellschaftsphilosophie« (Greifswald, SoSe 1926) hin zu »Ethik, Staats- und Kulturphilosophie« (Braunschweig, SoSe 1934) feststellen, die der 1933 erfolgten Zwangsemeritierung des SPD-Mitglieds Geiger und dem wohlwollenden Blick der Nazis auf das Lemma Kulturphilosophie geschuldet sein dürfte. Dass Moog trotz der Vorgabe der neuen Prüfungsordnung von 1933, nur noch deutsche Philosophie unter Absehung von deutsch-jüdischen Autoren zu unterrichten, gar nicht daran dachte, sein Idol Simmel zu verleugnen, sondern jetzt erst Recht in den Unterricht einfließen zu lassen, wird an der Vorlesung »Schopenhauer und Nietzsche« deutlich. Er hielt sie im Sommersemester 1934 erst- und im darauffolgenden Sommer letztmals. 96 Es gibt kaum ein Werk Moogs, in dem Simmels Geschichtsphilosophie nicht zitiert ist. Bereits in der Habilitationsschrift, die die Philosophie im Ausgang von Husserl systematisch als Allgemeinwissenschaft jenseits von Logizismus und Psychologismus zu entwerfen sucht, bringt Moog Simmel kritisch gegen Rickerts Konzept der Kulturwissenschaften in Anschlag. 97 Als er zum Jahreswechsel 1924/ 1925 auf das neue Philosophie-Ordinariat in Braunschweig gelangt, richtet er die bis heute bestehende Bibliothek ein und schafft alle Bücher Simmels an, mit Ausnahme der Philosophie des Geldes. Dafür kauft er von Simmels Kant und Goethe gleich zwei Exemplare, was auf ihre Bedeutung für die Hochschullehre hinweist. Die von Moog vor den Verbrennungen 1933 geretteten Bücher Simmels tauchen nach dem Krieg im Keller des Naturhistorischen Museums in Braunschweig wieder auf. Ein weiterer Widerstand Moogs gegen das nationalsozialistische Ansinnen, Simmels Philosophie unkenntlich zu machen, findet sich in seiner Prüfungstätigkeit. Eine Prüfungsakte aus dem Niedersächsischen Landes- und Staatsarchiv Wolfenbüttel belegt, dass Moog das Thema »Die geschichtsphilosophischen Grundanschauungen von Georg Simmel« für eine Examensarbeit im Fach erwähnt Schmalenbach seine Göttinger Soziologie-Vorlesung im laufenden Wintersemester. 95 Zur Berufung von Theodor Geiger vgl. N. C. Karafyllis: Willy Moog (1881–1935), 204 f. sowie Kap. 2.8. 96 Vgl. Anhang B in N. C. Karafyllis: Willy Moog (1881–1935), 692–696. 97 Vgl. W. Moog: Logik, Psychologie und Psychologismus, 118 f., 139.
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Erziehungswissenschaft vergeben hat. 98 Er tat dies 1931, als im Land Braunschweig bereits die NSDAP den Volksbildungsminister stellte und Moog wegen seiner pazifistisch-liberalen Grundhaltung schikaniert wurde. Da Moogs Absolventen planmäßig als Lehrerinnen und Lehrer an die Schule gingen, konnte er selbst keine akademische Schule aufbauen, zumal er jung den Freitod wählte. Moogs umfassende Würdigung Simmels auf elf Druckseiten finden wir in seinem Bestseller Die deutsche Philosophie des 20 Jahrhunderts von 1922. Dort wird Simmel eingeordnet unter dem Stichwort relativistische Kulturphilosophie, kontrastierend zu und direkt hinter Rudolf Eucken. Anders als dieser »Epigone des deutschen Idealismus«, der aus »der verwirrenden Fülle des modernen Lebens hinausstrebt ins Reich des Ewigen« stehe Simmel »ganz auf dem Boden dieses modernen Lebens« und sei ein »Vertreter modernen großstädtischen Geistes«. Simmels Arbeiten zeigten »eine eigene Stellungnahme zu den Problemen«, »bei denen mehr die Art der Auffassung, als das positive Resultat bedeutungsvoll ist. Eine Neigung zum Paradoxen ist dabei unverkennbar«. 99 Offenbar ist Moog selbst nicht wohl dabei, Simmel trotz dessen Eigenzuschreibung als Relativisten zu titulieren. Deshalb ergänzt er: »dieser Relativismus ist eigentümlicher Art. Simmel besaß eine starke Fähigkeit kritischer Analyse, die er Menschen, Zuständen, Kulturen wie philosophischen Systemen gegenüber anwandte, aber eben infolge dieses kritischen Indietiefegehens erblickte er die verschiedenen mehr oder weniger gleichwertigen Möglichkeiten, gewann er eine gewisse skeptische Haltung gegenüber allen dogmatisch sich widerstreitenden Ansichten, musste er es vermeiden, sich auf einen einzigen festen Standpunkt zu verlegen und ein letztes Absolutes anzuerkennen. Die unendliche Relativität des Lebens untersuchte er, und überall entdeckte er Relationen und Relatives, nirgends Absolutes.« 100 Die letzte Aussage ist verwunderlich, wusste doch Moog sehr genau, dass es für Simmel durchaus ein letztes Absolutes gab: die Totalität der Seele. Der Satz scheint eher darauf abzuheben, Simmels Kriegsschriften auszublenden, die der akribische Moog auch in der
Prüfling Gottschalk, Wilhelm (* 1908), Prüfungsjahr 1931, Nr. 368; vgl. zu Moogs Prüfungstätigkeit N. C. Karafyllis: Willy Moog (1881–1935), 380–416. 99 W. Moog: Die deutsche Philosophie des 20. Jahrhunderts in ihren Hauptrichtungen und ihren Grundproblemen. Enke: Stuttgart 1922, 77. 100 Ebd., 78. 98
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Bibliographie zu Simmel weglässt. Denn in jenen hatte Simmel das Absolute regelrecht beschworen und noch dazu Schmalenbach in einen persönlichen Konflikt zwischen Simmel und Friedrich Gundolf (1880–1931) gebracht, über den wir nichts Genaueres wissen. Wir wissen, dass Schmalenbach von Anfang an Kriegsgegner war, wie auch Moog. 101 Der George-Vertraute und Goethe-Kenner Gundolf, mit Schmalenbach befreundet, hatte sich in der Frankfurter Zeitung am 11. Oktober 1914 dafür ausgesprochen, zur geistigen Dringlichkeit des deutschen Standpunkts schweigen zu können, statt reden zu müssen. Darauf hatte Simmel in seiner Replik vom 16. Oktober 1914 kriegsaffirmierend geschrieben: »endlich sind wir wieder einmal in einer absoluten Situation«. 102 In einem grußlosen Brief an Simmel teilte Gundolf ihm unverzüglich diejenige Sicht mit, die wohl auch Schmalenbach vertrat: »ihr Leben opfern wertvolle Menschen nicht für einen Hügel, 103 sondern für den Sieg und eine Idee. Ein geopfertes, selbst relativ umsonst geopfertes Leben ist als heroische Tat selbst ein absoluter Wert; ein umsonst geschriebener Artikel […] ist auch kein Heroismus und hat also keinen Wert in sich. Das Absolute ist hier gewiss nicht im Aussprechen, sondern nur im stummen Sein.« 104 Mit Blick auf Schmalenbach tritt ein politisch-metaphysischer Gegensatz zu Simmel hervor. Er betrifft, wie Schmalenbach kritisch seinem kriegsenthusiastischen Schüler Otto Braun (1897–1918) schreibt, das den Griechen zweckentfremdet entlehnte Heroentum, das in seinem Verhältnis zum Absoluten von einigen deutschen Intellektuellen beschworen werde. 105 Für den stets vom Griechentum 101 Vgl. für Schmalenbach den Briefwechsel mit dem jungen Otto Braun (Auszüge in N. C. Karafyllis: Die Philosophen Herman Schmalenbach und Willy Moog, 33–35); für Moog u. a. sein Buch W. Moog: Kants Ansichten über Krieg und Frieden. FalkenVerlag 1917 (später dann Meiner: Hamburg 1917), das er bereits 1915 verlegt haben wollte. 102 G. Simmel: »Aufklärung des Auslandes« [1914], in: GSG 17, 119 f. hier 120. Simmels Beitrag erschien in der Frankfurter Zeitung am 16. Oktober 1914. Vorangegangen war von Friedrich Gundolf der Artikel »Tat und Wort im Krieg« (11. Oktober 1914). 103 Simmel hatte geschrieben, dass »hundert kostbare Existenzen sich aufs Spiel setzen, um einen kleinen Hügel in den Argonnen vielleicht einzunehmen«. Man solle deshalb nicht danach »fragen, ob wir hundert Flugblätter, Erklärungen: Briefe vielleicht umsonst schreiben« (G. Simmel: »Aufklärung des Auslandes«, 120). 104 F. Gundolf an G. Simmel: Brief vom 17. Oktober 1914, in: GSG 23, 425 f. 105 Auch Moog sieht früh die Zeichen der Zeit, wenn er 1912 angesichts des deutschen Wunsches nach monumentaler Größe seine Interpretation der Kriegshandlungen bei Homer dagegen setzt (vgl. W. Moog: »Die homerischen Gleichnisse«, in: Zeitschrift
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aus denkenden Schmalenbach betraf dies nicht nur die Haltung zum Krieg, sondern die metaphysische Kernproblematik seiner Philosophie (denn nur in der Metaphysik der Griechen, so Schmalenbach, bildeten Staat, Kunst und Seele noch eine gestalterische Einheit). 106 Der pazifistische Moog hatte bereits 1921 zu den Kriegsschriften deutscher Philosophen kritisch Stellung genommen. Sein Buch Philosophie erschien in der Reihe Wissenschaftliche Forschungsberichte, die einen Überblick über die zur Kriegszeit erschienene Literatur gab. Moog stellt hier nicht nur die Werke zusammen; sondern die ersten zehn Seiten widmet er unter der Überschrift »Der Krieg und die Philosophie« denjenigen Schriften, die den letzten Krieg selbst zum Thema haben, bis hin zu Büchern über Feldpostbriefe und über seelische Folgewirkungen des Fronteinsatzes. Er ermahnt die Philosophen, die neue Qualität dieses »Weltkrieges« in Zukunft auch fachlich zu würdigen: »Die erschütternden Ereignisse des Weltkrieges sind auch auf die Philosophie nicht ohne Einfluß geblieben. Aber so sehr auch bei manchem Einzelnen der neue Anblick brutaler Wirklichkeit geradezu eine prinzipielle Umwältzung seiner ganzen Lebens- und Weltanschauung hervorgerufen haben mag –, die wissenschaftliche Philosophie zeigt sich davon kaum berührt.« 107 Moog ist vom Krieg erschüttert, nicht von der Niederlage Deutschlands, über die er kein Wort verliert. Auch stört ihn die Deutschtümelei der Philosophie, die sich in den letzten Jahren weder für den angelsächsischen Pragmatismus (Moog nennt F. C. S. Schiller und William James), noch für den esprit Bergsons habe begeistern können (beides eine implizite Würdigung Simmels). Damit hat er bis auf Russland alle Siegermächte in Person von Philosophen erwähnt; es findet sich auch eine Bemerkung zum Geist Italiens (vielleicht auch eine Reminiszenz an Simmel). »Der Krieg gab den Anlaß, den deutschen Geist in der Philosophie scharf dem fremdländischen gegenüber zu stellen.« 108 Dabei hält er Simmel aus der Verunglimpfung von Bergsons Schriften heraus, denn um deren Rezeption in Deutschland hatte sich Simmel ja besonders verdient gemacht. Stattdessen bezieht er sein Argument der unsachlichen Auseinandersetzung mit dem Franzosen auf die
für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 7 (1912) 1, 104–128; 7 (1912) 2, 267– 302 und 7 (1912) 3, 353–371. 106 Vgl. u. a. H. Schmalenbach: »Henri Bergson«. 107 W. Moog: Philosophie. Perthes: Gotha 1921, 1. 108 Ebd., 2.
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kaum bekannte Schrift Die Wahrheit über Bergson (Berlin 1916) des Kieler Privatdozenten Baron Cay von Brockdorff (1874–1946). Dessen Vorwurf an Bergson, Feuilletonist statt Philosoph zu sein, hatte freilich von deutscher Seite ein ganz anderer prominent vertreten: Gerhart Hauptmann. 109 Moog findet in jüngerer Zeit weder den Kulturvergleich noch eine metaphysische Theorie zum Wesen des neuen Krieges ausgearbeitet. Kritisch betrachtet er die Kriegsschriften v. a. hinsichtlich ihrer Polemiken gegenüber der englischen Philosophie (Pragmatismus; Utilitarismus; Sensualismus im Anschluss an Locke), dem der deutsche Idealismus und seine Herleitung über Platon und Cusanus bis Kant heroisch gegenüber gestellt worden sei. 110 Angesichts von Simmels Der Krieg und die geistigen Entscheidungen (1917) 111 verfällt er in dieselbe Ratlosigkeit wie der Autor. 112 Eine Zertrümmerung innerer Werte durch den Krieg, eine vorläufige Aufgabe der Idee von Europa als geistige Einheit und den Niedergang der Kultur, die auch die Emotionalität des Einzelnen betreffe – all dies hatte Simmel, zum Teil ästhetisch überhöht, nachgezeichnet. Aber er stand nicht im Feld und diese lebenspraktische Trennlinie zur jüngeren Philosophen-Generationen betont Moog. Als an der Wirklichkeit des Krieges geformte Philosophie betont er deshalb die Schrift seines Greifswalder Kollegen und Husserl-Schülers Dietrich Mahnke, 113
109 Vgl. K. C. Köhnke unter Mitarbeit von Cornelia Jaenichen und Erwin Schullerus: Editorischer Bericht, in: GSG 17, 446–513, hier 468. Simmel war bei Abfassung seines von Moog nicht erwähnten Artikels vom 1. November 1914 (G. Simmel: »Bergson und der deutsche ›Zynismus‹« [1914], in: GSG 17, 121–123) durch Hauptmanns Kritik an Bergson vom 26. August 1914 (G. Hauptmann: »Gegen Unwahrheit« in: Berliner Tageblatt Nr. 431) inspiriert. 110 Bezug auf Hermann Cohen (Über das Eigentümliche des deutschen Geistes (Philosophische Vorträge, veröffentlicht von der Kantgesellschaft, Bd. 8), Reuther & Reichart: Berlin 1914), Kurt Sternberg (Der Kampf zwischen Pragmatismus und Idealismus in Philosophie und Weltkrieg. Reuther & Reichart: Berlin 1917), Wilhelm Wundt (Über den wahrhaften Krieg. Rede, gehalten in der Alberthalle zu Leipzig am 10. Sept. 1914. Kröner: Leipzig 1914) und Max Scheler (Der Genius des Krieges und der deutsche Krieg. Verlag der weißen Bücher: Leipzig 1915). 111 G. Simmel: Der Krieg und die geistigen Entscheidungen [1917], in: GSG 16, 7–58. 112 Moog, Philosophie, 3. Auf 73 findet sich die Würdigung von Simmels RembrandtBuch. 113 Mahnke ist wiederum Rezensent von Schmalenbachs Leibniz (vgl. D. Mahnke [Rezension]: Herman Schmalenbach: Leibniz, in: Kant-Studien 28 (1923) 1–2, 445– 448). Er leitet die Besprechung mit Hinweis auf die Kunstauffassung Gundolfs zu Goethes Schöpfertum ein.
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der das Konzept der Ewigkeit 114 in Anschlag bringt anlässlich des Entschlusses, für sein Vaterland gegebenenfalls sterben und sein Leben für Besseres hergeben zu wollen. 115 Denn so könne die Ich-gebundene Zeitlichkeit der Werte in eine Unsterblichkeit der Werte transzendiert werden. 116 Schmalenbach hingegen hält schon von der reinen Möglichkeit einer Wertbildung des Krieges Abstand und bringt den tiefen Gegensatz zu ihr biographisch in die Anschauung. Im Lebenslauf für sein Habilitationsverfahren 117 schreibt er, anders als die meisten, nicht karriereförderlich vom Dienst am Vaterland, sondern über die erfahrenen Zumutungen, u. a. in den feuchtkalten Schützengräben Frankreichs. »Eine noch tiefgreifende Unterbrechung erfuhr meine Arbeit durch meine Einberufung zum Heeresdienste Herbst 1915. Ich hatte im Frieden dem Landsturm ohne Waffe angehört, jetzt kam ich ohne Ausbildung als Armierungssoldat nach Nordfrankreich. Nach wenigen Wochen an schwerem Muskelrheumatismus erkrankt und seitdem nicht mehr recht verwendbar wurde ich im Frühjahr 1916 entlassen […]. Dann 118 wurde ich zum zweiten Male eingezogen, kam erst als Dolmetscher an das Kriegsgefangenenlager in Giessen, etwas später als Bibliothekar zum Kriegsministerium in Berlin. Während aller dieser Jahre war die Arbeit an meinem Leibniz naturgemäß so behindert, dass das umfangreiche Buch erst längere Zeit nach meiner Entlassung vom Heeresdienste, im Mai 1919, fertig wurde.« 119
Schon in seiner Mitschrift von Simmels Vorlesung »Philosophie der Kultur« (WS 1906/1907) hatte Schmalenbach notiert: »Die militärische Kultur vervollkommnete die Werkzeuge, doch verlor sie den einzelnen Menschen.« 120 Obwohl beide Simmel-Schüler – als solche können wir sie nun wohl bezeichnen – ihrem Lehrer für die Kriegsschriften innerlich verVgl. D. Mahnke: Der Wille zur Ewigkeit. Niemeyer: Halle 1917. Moog, Philosophie, 4. 116 Moogs Aufarbeitung relativiert die heutige Sicht von Hoeres, dem gemäß die damaligen Philosophen als »Helden des Wortes« kaum mit der »harten Wirklichkeit, […] dem Leiden, dem Dreck« des Krieges konfrontiert wurden (P. Hoeres: Der Krieg der Philosophen. Schöningh: Paderborn 2004, 587). 117 Datum der Göttinger Habilitationsurkunde (Privatbesitz) ist der 3. März 1920. 118 Herbst 1917. 119 H. Schmalenbach: Lebenslauf 1920 (Typoskript), 3. In: Habilitationsakte Schmalenbach, Universitätsarchiv Göttingen. 120 H. Schmalenbach: Mitschrift »Philosophie der Kultur (1906/07)«, in GSG 21, 557–571, hier 569. 114 115
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geben, haben sie eine sehr unterschiedliche Haltung zu Simmels metaphysischen Zuspitzungen im Spätwerk. Denn dort setzt Simmel das lebendige Individuelle und das Allgemeine in ein Verhältnis zum Absoluten. Moog übt starke Kritik am »Werkchen« (!) Lebensanschauung (1918), bei dem ihm Widersprüche im Verhältnis von Logik und Metaphysik auffallen und befindet, dass Simmel »das Leben einseitig unter existential-psychologischem Gesichtspunkt auffaßt und die logische oder ethische Betrachtungsweise in diese [sic] hineinschieben zu können meint«. 121 Mit Blick auf Simmels Konzeption des Todes wird auch klar, warum Moog Simmel generell »kein Absolutes« zuschreibt, denn: »Wenn der Tod selbst nicht eine positive, dem Leben entgegengesetzte ›Form‹ oder ›Idee‹ ist, so werden natürlich auch die Hypothesen Simmels über eine mögliche Art von Unsterblichkeit der Seele oder Seelenwanderung hinfällig.« 122 Auch mit seinem »individuellen Gesetz« nehme Simmel eine »unhaltbare Mittelstellung« »zwischen Erkenntnis und Erlebniswirklichkeit« ein, leiste aber wichtige Beiträge zur Abgrenzung von den Lebensphilosophien Diltheys und Rickerts. 123 Simmel dient Moog als Überleitung sowie als Taktgeber für sein nächstes Kapitel zu Philosophien der Lebensbewältigung als Nachwirkungen Schopenhauers und Nietzsches: »Simmels Philosophie ist zum guten Teil bereits Lebensanschauungsphilosophie«. 124 Anders Schmalenbach: Er sieht Simmel mit Blick auf Lebensanschauung als großen Metaphysiker, seinen eigenen Interessen gemäß, denn Simmel habe in »die Geheimnisse des schlechthin Absoluten« geblickt. 125 Der damalige Göttinger arbeitet an drei zentralen Baustellen Simmels weiter: der stets nur angedeuteten Leibniz-Auseinandersetzung, dem »Mangel eines besonderen Begriffes« für die »unzähligen Nüancen« der soziologischen »Formung« wie z. B. »persönliche Anhängerschaft und Schule« 126 (für eine davon schlägt Schmalenbach den mittelalterlichen Bund vor), und der Schärfung der Begriffe Individuum, Individualität und Individualisierung. Das schließt Simmels Unterscheidung von quantitativem und qualitati121 W. Moog: Die deutsche Philosophie des 20. Jahrhunderts, 86; zur Kritik vgl. ebd., 83–88. 122 Ebd. 86. 123 Ebd. 124 Ebd., 88. 125 H. Schmalenbach: »Georg Simmel« [Nachruf] Teil II, 287. 126 G. Simmel: Soziologie, 95.
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vem Individualismus ein, 127 genuin verortet jeweils im 18. und 19. Jahrhundert, was Schmalenbach so nicht teilt und daher weiter zurückgreift (u. a. auf Luther und Calvin). Dabei ist die Analyse der individuellen Frömmigkeit und des All-Einseins mit Gott substanziell, eine Verschränkung von Existenz- mit Religions-, Sozial- und Geschichtsphilosophie. Bereits direkt nach Simmels Tod, vielleicht schon kurz davor, entsteht Schmalenbach Aufsatz zur »Genealogie der Einsamkeit«, der verspätet 1919/1920 im Logos gedruckt wird. 128 Obwohl Simmel nicht genannt ist, scheint er überall durch, v. a. mit seiner soziologischen Ansicht, dass die Einsamkeit »in der Verneinung der Sozialität« bestehe und daher von der Gruppe aus zu denken sei. 129 Schmalenbach arbeitet Einsamkeit subjektmetaphysisch auf und setzt sie u. a. in Bezug zur »seelischen Frömmigkeit« des Dichters Sophokles, der eben deshalb die »seelische Nähe« zu Sokrates behaupten könne, was 1928 im Festschrift-Beitrag für Martin Buber wieder aufgenommen wird. 130 Die Einsamkeit mit Gott als Bedingung der Möglichkeit für zunächst Zweisamkeit und dann Sozialität ergibt die Signatur von Schmalenbachs Werk, das von allen Simmel-Schülern die tiefste Auseinandersetzung mit Simmels individuellem Gesetz gewagt hat. Das für die Renaissance typische Hochgefühl des Individuums, Individuum zu sein, generiert für Schmalenbach eine Epochenschwelle hin zu Leibniz. 131 In zwei Büchern hegt Schmalenbach seinen Leibniz zwischen weitere Epochenschwellen ein: die eine hin zum Materialismus markiert Hobbes, die andere das Mittelalter, das seinem Individualitätsverständnis gemäß nicht mit einem Personennamen im Buchtitel typisiert wird. 132 In der Perspektive, dass Schmalenbach bewusst an den Vakanzen Simmels arbeitet, ergibt es 127 Vgl. das vierte Kapitel in: G. Simmel: Grundfragen der Soziologie (Individuum und Gesellschaft) [1917], in: GSG 16, 59–149, hier 122–149; vgl. auch G. Simmel: »Die beiden Formen des Individualismus« [1901], in: GSG 7, 49–56. 128 H. Schmalenbach: »Die Genealogie der Einsamkeit«, in: Logos XIII (1919/1920), 62–96. 129 G. Simmel: Soziologie, 97. 130 H. Schmalenbach: »Das letzte Wort des Sokrates«, in: Aus unbekannten Schriften – Festgabe für Martin Buber zum 50. Geburtstag (Autorenkollektiv). L. Schneider: Berlin 1928, 30–36, hier 36. 131 H. Schmalenbach: »Individualität und Individualismus«, in: Kant-Studien 24 (1920) 1, 365–388. 132 Vgl. T. Hobbes: Das Naturreich des Menschen, übers. und hg. von Herman Schmalenbach. Frommann: Stuttgart 1923 sowie H. Schmalenbach: Das Mittelalter. Sein Begriff und Wesen. Quelle & Meyer: Leipzig 1926.
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zusätzlich Sinn, dass er sich nach der Metaphysik bei Leibniz mit Kants Religion beschäftigte; nicht nur mit der unter dem Stichwort Religionsphilosophie firmierenden Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793/1794), sondern auch mit den relevanten Teilen der Kritik der Urteilskraft, beide von Simmel stiefmütterlich behandelt. Simmel hatte sich an Kants Religionsauseinandersetzung in dem psychologisch gehaltenen »Beitrag zur Erkenntnistheorie der Religion« (1901) versucht, 133 der final kritisierte, was die Kirche aus der Religion gemacht habe, indem sie den Glauben als eine praktische Maxime moralisch ausgedeutet habe. Dafür hatte Simmel Kants Rationalismus mitverantwortlich gemacht. Mit dieser nur äußerlich gedachten Verkürzung war Schmalenbach nicht einverstanden. Betrachten wir dazu seine Vorstudie zum späteren Buch. Sie schließt mit den Worten, dass bei aller Kritik am kantischen System die Einsicht in den »religiösen Grund des kantischen Denkens überhaupt« wichtig bleibe. 134 Dieser Paukenschlag erklärt auch den Buchtitel Kants Religion (1929) – nicht etwa Kants Philosophie der Religion. Gegen Simmel, ohne ihn zu nennen, richten sich die folgenden Sätze Schmalenbachs: Mit dem religiösen Grund des kantischen Denkens, zuvorderst des Kategorischen Imperativs, »ist zugleich der Vorwurf entkräftet, dass Kant die Religion nur moralistisch und somit in ihrem wahren Wesen eigentlich garnicht begreife. Äußerlich scheint die Religion nur moralistisch begründet zu werden. Aber sie wird es, nachdem zuvor die Grundlegung der Moral in einer Weise erfolgt ist, die tatsächlich diese Moral nur als eine Stellvertretung für Religiöses kennzeichnet.« 135 Schmalenbach sieht Kants »Gefühl der Achtung vor dem Sittengesetz« als in Wahrheit »religiöses Erlebnis«. Zu dessen Hintergrund gehöre auch die »Erhabenheit« aus der Kritik der Urteilskraft, womit die Brücke zur Ästhetik geschlagen wird. Beim Auffinden religiöser Gefühlserlebnisse hilft Schmalenbach deren Charakterisierung in Das Heilige (1917) von Rudolf Otto, der sich wiederum auf Kants Schematismus bezieht, wenn er das Heilige als Apriori-Wertkategorie fasst.
133 Vgl. G. Simmel: »Beitrag zur Erkenntnistheorie der Religion« [1901], in: GSG 7, 9–20. 134 H. Schmalenbach: Die kantische Philosophie und die Religion (Arbeitshefte für den evangelischen Unterricht, H. 10). Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen 1926, 31. 135 Ebd.
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Das Grundproblem, das Schmalenbach schon seit seiner Dissertation beschäftigt, ist der Verlust an Metaphysik in den Philosophien seit Kant und damit auch das Aufgeben einer Philosophia universalis; so nennt er die ab 1939 von ihm edierte Buchreihe. In Leibniz würdigt er Simmel als Gestalter einer »geistesgeschichtlichen Gesamtschau«, für die dieser – neben Ferdinand Tönnies – erst die Grundlagen geschaffen habe. 136 Gemeint ist, dass Simmel konsequent gegen Dualismen wie z. B. Gemeinschaft/Gesellschaft, aber auch Sein/Sollen philosophiert habe, und zwar durch Inbezugnahme eines geschichtlichen Subjekts und seiner Werthaltung. Auch dort tritt Goethe als Modell für das Problem von »individueller Substanz« und metaphysischem Pluralismus auf. 137 Letztlich geht es Schmalenbach um die Wertgeladenheit des Logos in der Geschichte und wie sie sich mit einer Phänomenologie der Wahrnehmung und des Bewusstseins verbinden ließe. Davon zeugt v. a. Schmalenbachs letztes Werk: Geist und Sein (1939), 138 das mit seinem Titel wohl nicht zufällig gegen Heideggers Hauptwerk gerichtet ist. Während Schmalenbach also Simmels Soziologie metaphysisch zu fundieren trachtet, hätte Moog sie lieber als Kulturphilosophie ausgearbeitet gesehen. Denn obwohl Moog Simmel gerade in seinen soziologischen Schriften die größte Originalität attestiert (»sein Eigenstes«), kritisiert er dessen Soziologie, die man »doch enger mit der Philosophie in Beziehung setzen« müsse: »man wird philosophische, formale und allgemeine Soziologie nicht so abtrennen können, sondern gerade die unlösbare Durchdringung dieser Betrachtungsweisen auf soziologischem Gebiet erkennen müssen. Simmels Soziologie bleibt auch tatsächlich nicht in der Enge einer bloß formalen Methode befangen, sie wird vielmehr zu einer umfassenden Philosophie der Kultur.« 139 Moog denkt nicht zuletzt fachstrategisch und eingedenk der Psychologie und Pädagogik, die zunehmend Philosophielehrstühle verdrängten. Einig sind sich die Studienfreunde im positiven Urteil über Simmels Goethe-Buch. Die dargestellte biographisch-geschichtsphilosophische Typenlehre übernimmt Moog auch für die 136 H. Schmalenbach: Leibniz, viii. Weitere Hinweise auf Schriften Simmels ebd., 24, 39, 488, u. a. zu Simmels Rembrandt von 1916. 137 Ebd., 49. 138 Vgl. F. Ganser: Strukturen des Logos. Zur Phänomenologie des Bewusstseins bei Herman Schmalenbach. Peter Lang: Bern/Berlin u. a. 1995. Im Anhang findet sich eine Publikationsliste Schmalenbachs. 139 W. Moog: Die deutsche Philosophie des 20. Jahrhunderts, 81.
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historische Darstellung der Philosophie: »Das ›Leben der Philosophen‹ hat darum eine Bedeutung für die Geschichte der Philosophie, weil Geschichte der Philosophie selbst ein lebendiger Prozeß ist und weil im Leben der Philosophen schon ein philosophischer Sinn steckt. Dieses Leben ist ja nicht durch eine Zusammenstellung äußerer Daten gekennzeichnet, sondern durch die innere Wertrichtung, die sich in der ganzen Struktur des Lebens auswirkt.« 140 In seine bis zur 9. Auflage gelangende, zweibändige Geschichte der Pädagogik, die Moog in der Nachkriegsrezeption zum Pädagogikhistoriker machen wird, nimmt er Simmels postum edierte Vorlesungen über Schulpädagogik 141 auf. Er ordnet sie der geistesgeschichtlichen Pädagogik zu, »aber Simmel geht in eigener, ganz selbständiger Weise vor. Er will eine geistige Vertiefung praktischer Probleme […]«. 142 In einer bei damaligen Lehrern sehr bekannten Reihe (dem Handbuch für den Geschichtslehrer) gibt Moog im Eröffnungsband zudem zu erkennen, dass er auch die Aufsätze Simmels akribisch verfolgt hat, aus denen er die thematisch relevanten nun auswertet: »Das Problem der historischen Zeit« (1916) »Die historische Forschung« (1917/1918), und »Vom Wesen des historischen Verstehens« (1918), 143 der letzte ein Vortrag Simmels zur Lehrerbildung. Moog lobt die »scharfsinnigen und geistreichen Untersuchungen von Simmel«, der »wesentliche Kategorien und Formen des historischen Bewußtseins« bloßgelegt habe, gegen den »naiven Realismus« empirischer Historiker. Er schlussfolgert mit Simmel, dass nur die »geschichtsphilosophische Besinnung« zeigen kann, wie »das historische Bild doch eine besondersartige Formung der Wirklichkeit bedeutet und dem Leben als eine neue durch die Erkenntnis geschaffene Synthese gegenübersteht«. 144 Systematisch ordnet er den Geschichtsphilosophen Simmel Ernst Troeltsch einer- und Theodor Litt andererseits zu; diesen grenzt er mit Simmel und mit der Verbindung von W. Moog: Das Leben der Philosophen. Junker & Dünnhaupt: Berlin 1932, 1–3. Vgl. G. Simmel: Schulpädagogik. 142 W. Moog: Geschichte der Pädagogik, Bd. 2: Die Pädagogik der Neuzeit von der Renaissance bis zum Ende des 17. Jahrhunderts. Zickfeldt: Osterwieck 1928, 529. Auf 194 bibliographiert er Simmels Goethe (1913). 143 Vgl. W. Moog: »Geschichtsphilosophie und Geschichtsunterricht in ihren wichtigsten Problemen«, in: O. Kende (Hg.): Handbuch für den Geschichtslehrer, Bd. 1. Deuticke: Wien, Leipzig 1927, 1–187, hier 89–92. 144 Ebd., 92. Auf 89 der einmalige Lapsus Moogs, Simmels Die Probleme der Geschichtsphilosophie als solche der »Geschichtswissenschaft« zu zitieren. 140 141
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Geschichte und Leben als Sinngebung wiederum vom Skeptizismus Theodor Lessings ab.145 Für das Verständnis der Philosophie von Freund Schmalenbach sind Moogs Sätze zum Verhältnis von Soziologie und Geschichtswissenschaft wegweisend. Denn Gesellschaft sei eingedenk Simmel kein Gegenstand der Historik, sondern sie habe Relationen zu ihr, die erst in ihrer »Gestaltung nach spezifisch historischen Kategorien ein historischer Gegenstand« werden. 146
VI. Schluss: Schüler ohne Schule, aber Schüler eines formenden Lehrers Im Nachruf nennt uns Schmalenbach einen Grund, warum Simmel in der Fachphilosophie nicht die angemessene Anerkennung fand und damit eine mangelnde Voraussetzung für das Hinterlassen einer akademischen Schule. Denn der »Fachphilosoph« sei eher unfähig, den »Zauber Simmels ganz rein in sich aufzunehmen, da sich bei ihm die eigenen Überzeugungen mit ihrem kritischen Richtig- oder Nichtrichtigfinden dazwischendrängten.« 147 Simmel habe demgegenüber eine besondere Art der Vermittlung gehabt, er sei extrem einflussreich gewesen für diejenigen, die »philosophisch erregbar« und »wachen Geistes« waren. 148 – Simmel-Schüler zu sein bedeutete also das Vermögen zu besitzen, sich von der Philosophie anregen zu lassen und sie mit dem eigenen, auch außer-akademischen Schaffen gelingend zu verbinden. Dies geschah bei Simmels Schülern in Gestalt des Professors, aber auch der Schriftstellerin, der Lehrerin, des Künstlers und des Politikers. Nicht die mögliche Schule, sondern der formende Lehrer Simmel und der sich zu diesem bekennende Schüler stehen dabei im Fokus. Schmalenbachs Gedanken als Fazit genommen macht 145 Dass Moog Simmels postum edierte Schulpädagogik, die besonders auf den Geschichtsunterricht eingeht, im Buch nicht zitiert, deutet darauf hin, dass er sie bis 1927 nicht rezipiert hat. 146 Entsprechend sei mit Simmel und Alfred Vierkandt die Soziologie nicht als eine »enzyklopädisch-geschichtsphilosophische Wissenschaft, sondern als eine formale analysierende Wissenschaft« (ebd., 104) aufzufassen. Vierkandt hatte zeitgleich den Beitrag »Gesellschaftsphilosophie« für den von Moog herausgegebenen dritten Band der Jahrbücher der Philosophie verfasst (vgl. A. Vierkandt: »Gesellschaftsphilosophie«, in: W. Moog (Hg.): Jahrbücher für Philosophie, Bd. 3. E. S. Mittler & Sohn: Berlin 1927, 276–306). 147 H. Schmalenbach: »Georg Simmel« [Nachruf] Teil I, 283. 148 Ebd.
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es notwendig, dass wir Simmel als Philosoph gedenken, aber auf der vergeblichen Suche nach einer Schule jenseits der Fach-Philosophie wie überhaupt der Universität blicken müssen. Dies entbindet uns nicht von der wissenschaftlichen Verantwortung, nach vergessenen Schülern im Fach zu suchen. Dafür wiederum gilt es, Simmels Philosophie zunächst in ihrer systematischen Breite zu erforschen. Moog hat dies auf den Punkt gebracht: »Simmel hat auf die meisten jüngeren Philosophen irgendwie anregend gewirkt, auch wenn sie in systematischer Hinsicht ganz andere Wege gegangen sind.« 149 Blumenberg machte bezüglich der Schulenfrage auf Simmels Philosophie des Geldes aufmerksam; auf dasjenige Buch, das auch die jüngeren, sich zu Simmel bekennenden Philosophen weitgehend ignorierten. Denn der für die Herausstellung eines bewussten Verzichts auf Schulenbildung oft bemühte Satz aus Simmels Tagebuch »Ich weiß, daß ich ohne geistigen Erben sterben werde (und es ist gut so)« ist nach Blumenberg erst verstehbar, wenn man ihn mit dem Folgesatz zusammendenkt: »Meine Hinterlassenschaft ist wie eine in barem Gelde, das an viele Erben verteilt wird«. 150 Mit Geld gehe es bei Simmels Hinterlassenschaft um »reine Kraft«, deren Träger nur noch Symbol sei und die Frage nach der Provenienz des Erbes deshalb gar nicht mehr erlaube. 151 Im Bild bleibend: Die Suche nach einer Simmel-Schule bedeutet, Simmel und seine Philosophie nur in ihrer medialen Flüssigkeit, nicht aber in ihrer Materialität und Wertbindung für bare Münze nehmen zu wollen. Mit der im Tagebuch veranschaulichten Entsubstanzialisierung des Geldes transformierte Simmel selbst die personale Schule in die generationenübergreifende Wirkung seiner Lehre. Aufgrund der mittels der Geldanalogie erzielten absoluten Liquidität kann diese Lehre gar nicht mehr als nur seine kenntlich sein. Wir haben gesehen: Es sind die Inhalte, die Fächerzugehörigkeiten und die akademischen Qualifikationsarbeiten, an denen die Schulenzugehörigkeit gemeinhin festgemacht wird; all dies funktioniert bei Simmel nur bedingt. Für eine Simmel-Schule wäre die Frage nach der Wirksamkeit seiner Formenlehren lohnender und würde z. B. Philosophen mit Literaten oder Filmtheoretikern wie
W. Moog: Das Leben der Philosophen, 247 f. G. Simmel: »Aus dem nachgelassenen Tagebuche«, in: GSG 20, 261–296, hier 261. 151 H. Blumenberg: »Geld oder Leben. Eine metaphorologische Studie zur Konsistenz der Philosophie Georg Simmels« [1976], in: ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 2001, 177–192, hier 192. 149 150
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Siegfried Kracauer (1889–1966) ordnend verbinden, ohne eine Einordnung zu sein. Simmel hat demnach bewusst einen Preis gezahlt. Aber es handelte sich um einen Preis, eingedenk dem er hoffen durfte, dass er in Zukunft und befreit vom modernen Geldwirtschaftsdogma der ewigen Zirkulation wieder mit dem Wert vertauscht wird – ein Rücktausch im wertbildenden Moment der Geschichte, nicht zuletzt der Philosophiegeschichte.
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Schüler ohne Schule? Herman Schmalenbach und Willy Moog Simmel, Georg: »Stefan George. Eine kunstphilosophische Betrachtung« [1898], in: GSG 5, 287–300. Simmel, Georg: »Frauenstudium an der Berliner Universität …« (Leserbrief vom 21. Dezember 1899), in GSG 17, 326–327. Simmel, Georg: Philosophie des Geldes [1900], in: GSG 6, 7–716. Simmel, Georg: »Beitrag zur Erkenntnistheorie der Religion« [1901], in: GSG 7, 9–20. Simmel, Georg: »Die beiden Formen des Individualismus« [1901], in: GSG 7, 49–56. Simmel, Georg: »Stefan George. Eine kunstphilosophische Studie« [1901], in: GSG 7, 21–35. Simmel, Georg: »Weibliche Kultur« [1902], in: GSG 7, 64–83. Simmel, Georg: [Unterzeichner der Petition] »Gestattung bzw. Errichtung vollständiger Mädchengymnasien« (27. März 1903), in: GSG 17, 151–155. Simmel, Georg: Die Probleme der Geschichtsphilosophie. Eine erkenntnistheoretische Studie (1905/1907), in: GSG 9, 227–419. Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung [1908], in: GSG 11, 7–875. Simmel, Georg: »Der siebente Ring« [1909], in: GSG 12, 51–54. Simmel, Georg: »Philosophie des Abenteuers« [1910], in: GSG 14, 168–185. Simmel, Georg: »Philosophie und Psychologie« [1910], in: GSG 17, 336–340. Simmel, Georg: [Unterzeichner der] »Erklärung gegen die Besetzung philosophischer Lehrstühle mit Vertretern der experimentellen Psychologie« (März 1913), in: GSG 17, 117–179. Simmel, Georg: »Aufklärung des Auslandes« [1914], in: GSG 17, 119 f. Simmel, Georg: »Bergson und der deutsche ›Zynismus‹« [1914], in: GSG 17, 121–123. Simmel, Georg: Der Krieg und die geistigen Entscheidungen [1917], in: GSG 16, 7–58. Simmel, Georg: Grundfragen der Soziologie (Individuum und Gesellschaft) [1917], in: GSG 16, 59–149. Simmel, Georg: »Vom Wesen des historischen Verstehens« [1918], in: GSG 16, 151–179. Simmel, Georg: Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel [1918], in: GSG 16, 209–425. Simmel, Georg: »Es sind zwei Dinge …« [1918], in: GSG 17, 147. Simmel, Georg: Brief an Heinrich Rickert, 3. November 1897, in: GSG 22, 265 f. Simmel, Georg: Brief an Eugen Diederichs, 30. September 1913, in: GSG 23, 205 f. Simmel, Georg: Brief an Herman Schmalenbach, 14. Januar 1914, in: GSG 23, 273. Simmel, Georg: Brief an Herman Schmalenbach, 15. Januar 1914, in: GSG 23, 275. Simmel, Georg: Brief an Sala Schmalenbach, 13. Februar 1914, in GSG 23, 298. Simmel, Georg: Brief an Herman Schmalenbach, 4. Juli 1914, in: GSG 23, 343. Simmel, Georg: Schulpädagogik [1922], in: GSG 20, 311–472.
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Nicole C. Karafyllis Simmel, Georg: »Über Freiheit. Bruchstücke aus dem Nachlass« [1922], in: GSG 20, 80–115. Simmel, Georg: »Werte des Goetheschen Lebens« [1923], in: GSG 20, 11–79. Simmel, Georg: »Zur Philosophie des Schauspielers« [1923], in: GSG 20, 192– 219. Simmel, Georg: »Aus dem nachgelassenen Tagebuche«, in: GSG 20, 261–296. Simmel, Georg: Kolleghefte, Mit- und Nachschriften, in: GSG 21, 11–1011. Sternberg, Kurt: Der Kampf zwischen Pragmatismus und Idealismus in Philosophie und Weltkrieg. Reuther & Reichart: Berlin 1917. Thévenaz-Schmalenbach, Cornelia: Joseph Joubert. Seine geistige Welt. Kundig: Genf 1956. Tilitzki, Christian: Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, Bd. 1. Akademie-Verlag: Berlin 2002. Vernik, Esteban: »Recepción de Georg Simmel en Hispanoamérica«, in: Clemencia Tejeiro Sarmiento (Hg.): Georg Simmel y la Modernidad. Universidad Nacional de Colombia: Bogotá 2011, 29–48. Vierkandt, Alfred: »Gesellschaftsphilosophie«, in: Willy Moog (Hg.): Jahrbücher für Philosophie, Bd. 3. E. S. Mittler & Sohn: Berlin 1927, 276–306. Wisser, Richard: »Michael Landmanns Mainzer ›Lehr‹-Jahre. Ein Echo«, in: Klaus-Jürgen Grundner, Dieter Holz, Heinrich Kleiner und Heinrich Weiss (Hg.): Exzerpt und Prophetie: Gedenkschrift für Michael Landmann (1913– 1984). Königshausen & Neumann: Würzburg 2001, 17–31. Wundt, Wilhelm: Über den wahrhaften Krieg. Rede, gehalten in der Alberthalle zu Leipzig am 10. Sept. 1914. Kröner: Leipzig 1914. Zeitler, Julius (Hg.): Goethe-Handbuch, 3 Bde. Metzler: Stuttgart 1916–1918.
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Die erste Simmel-Rezeption in Frankreich 1894–1930 Olivier Agard
Die erste Rezeption von Simmel in Frankreich zwischen 1894 und etwa 1930 ist ein typischer Kulturtransfer, denn sie wird von Verschiebungen und produktiven Missverständnissen begleitet: Simmel wird innerhalb französischer Debatten instrumentalisiert. In jener Zeit bleiben in der Tat die Soziologie und die Philosophie in Deutschland und in Frankreich national geprägt, obwohl die Jahre vor 1914 auch durch Bemühungen gekennzeichnet sind, die internationale Kooperation zu fördern. Die Soziologie hat insbesondere sehr früh ein internationales Bewusstsein entwickelt, das in ihren Zeitschriften deutlich zum Vorschein kommt. Auch Simmel selbst hat sehr früh den Plan einer internationalen soziologischen Zeitschrift gehabt, aber René Worms ist ihm damals zuvorgekommen: Simmel veröffentlicht seinen ersten französischen Aufsatz – zum Thema der sozialen Differenzierung – 1894 in René Worms’ Zeitschrift Revue Internationale de sociologie. 1 Aber auch die Philosophen haben versucht, dieses internationale Bewusstsein zu entwickeln: Die Zeit vor 1914 ist die Zeit der großen internationalen philosophischen Kongresse. 2 Interessant bei der französischen Simmel-Rezeption bis 1930 ist, dass sie uneinheitlich ist und zwei deutlich verschiedene Phasen aufweist. Eine erste Phase dauert von etwa 1894 bis etwa 1900: Simmel wird hauptsächlich von den Soziologen wahrgenommen und soziologisch gedeutet. Eine zweite Phase dauert von etwa 1910 bis 1930, wobei die Rezeption nach dem Ersten Weltkrieg nur sporadisch ist: Die RezepG. Simmel: »La différentiation sociale« [1894], in: ders.: Gesamtausgabe, hg. von O. Rammstedt. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1989–2015 (im Folgenden GSG), Bd. 19: Französisch- und italienischsprachige Veröffentlichungen. Mélanges de philosophie relativiste, 9–26. 2 Vgl. F. Worms und C. Zanfi (Hg.): L’Europe philosophique des congrès à la guerre, in: Revue de métaphysique et de morale 84 (2014) 4; W. Feuerhahn und P. RabaultFeuerhahn (Hg.): La fabrique internationale de la science. Les congrès scientifiques de 1865 à 1945, in: Revue germanique internationale 12 (2010), 5–15. 1
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Olivier Agard
tion ist hier vorwiegend philosophisch. Diese verschiedenen Lektüren verweisen natürlich auf eine gewisse Spannung innerhalb von Simmels Denken, aber sie hängen auch eng mit der Struktur des philosophischen und soziologischen Feldes in Frankreich zusammen, zu der Simmel sozusagen quer steht. Auffallend ist, dass in Frankreich insbesondere nach 1900 eine Spannung zwischen Philosophie und Soziologie entsteht, die in Deutschland zumindest in dieser Form nicht besteht. Simmel wird also in Frankreich von zwei konkurrierenden, teilweise auch gegensätzlichen Projekten als Verbündeter eingesetzt. Ich möchte jene beiden Phasen beleuchten und einen Überblick über die zwei entsprechenden Lektüren bieten, die oft separat behandelt werden. Die Soziologen und Soziologiehistoriker interessieren sich vorwiegend für die erste Phase, diejenige der gescheiterten Zusammenarbeit mit Durkheim, und oft wird der Versuch unternommen, aus heutiger Sicht eine Vermittlung zu finden: Zu diesem Thema gibt es mehrere Beiträge, die auch die Rolle Dritter, wie zum Beispiel von Gabriel Tarde, beleuchten. 3 Zur zweiten Phase gibt es weniger Arbeiten: Immer noch bahnbrechend bleibt Gregor Fitzis Studie über Simmel und Bergson von 2002, die zwar auch auf die soziologische Rezeption um die Jahrhundertwende eingeht, aber auf die Wechselwirkung zwischen Bergson und Simmel fokussiert ist. 4 Hinzugekommen ist 2013 Caterina Zanfis Buch über die Bergson-Rezeption in Deutschland. 5 Um die teilweise widersprüchlichen Simmel-Lektüren in Frankreich zu verstehen, ist es wichtig, dass man den geistigen und politischen Kontext berücksichtigt. Um diese historische Kontextualisierung geht es in meinem Beitrag.
Zum Beispiel: C. Papilloud: »Simmel, Durkheim et Mauss. Naissance ratée de la sociologie européenne«, in: Revue du MAUSS 20 (2002) 2, 300–327; C. Rol: »Sur la psychologie sociale de l’hostilité, ou la dernière apparition de Georg Simmel sur la scène sociologique française«, in: L’Année sociologique 56 (2006) 1, 137–168; J. Bourgin: »Les échanges entre Émile Durkheim et Georg Simmel. Au tournant du siècle, un épisode méconnu de l’histoire de la sociologie«, in: Revue des sciences sociales de la France de l’Est 26 (1999), 159–165. 4 G. Fitzi: Soziale Erfahrung und Lebensphilosophie: Georg Simmels Beziehung zu Henri Bergson. UVK-Verl.-Ges.: Konstanz 2002. 5 C. Zanfi: Bergson et la philosophie allemande: 1907–1932. Armand Colin: Paris 2013. 3
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Die erste Simmel-Rezeption in Frankreich 1894–1930
I.
Der Kontext der 1890er Jahre
Im Frankreich der 1890er Jahre gilt die Republik als etabliert, denn sie besteht seit etwa 20 Jahren und hat die Krise des Boulangismus überlebt. Die großen Schulgesetze sind bereits in den 1880er Jahren verabschiedet worden. Gleichzeitig aber macht sich eine Enttäuschung breit. Der nun rechts stehende Nationalismus und der Sozialismus erscheinen als aufsteigende und bedrohliche Kräfte. Der rechte Nationalismus erfährt durch die Dreyfus-Affäre, die 1894 beginnt und 1899 ihren dramatischen Höhepunkt erreicht, ein Profil. Auch wenn sich schließlich die Demokratie durchsetzt, markiert die Affäre die Geburt einer neuen, offensiven Rechten, nämlich der Action Française. Gleichzeitig wird die Fortschrittsideologie zunehmend in Frage gestellt, zum Beispiel von Ferdinand Brunetière, der gegen den Positivismus polemisiert. Dekadenzdiskurse verbreiten sich, eine neue Mystik entsteht: 1891 veröffentlicht Frédéric Paulhan ein Buch mit dem Titel Le nouveau mysticisme. 6 Für viele Republikaner wird klar, dass die Republik ein soziales, solidarisches Projekt braucht, ein Projekt, dem eine republikanische Moral zugrunde liegen soll. 1896 erscheint Léon Bourgeois’ Buch Solidarité, in dem er seine solidaristische Philosophie vorstellt. Durkheims Soziologie und die dominierende Philosophie sehen ihre Aufgabe darin, die republikanische Moral wissenschaftlich zu begründen. Dies ist im Fall von Durkheim und den Durkheimiens ganz eindeutig. So erklärte Paul Lapie, ein Mitarbeiter Durkheims, das Jahr 1895 zum Jahr der Moral und kündigte an: »Hier on définissait la science: on construit aujourd’hui la morale sociale«. 7 Diese Arbeit an einer modernen, der neuen post-religiösen Zeit angepassten Moral ist auch ein offensichtlicher Anspruch der Revue de Métaphysique et de Morale (RMM), die 1893 gegründet wird. Nicht zufällig taucht das Wort ›Moral‹ im Titel der Zeitschrift auf. Indem sie sich gleichzeitig zur Metaphysik bekennt, grenzt sie sich vom Positivismus naturwissenschaftlicher Prägung ab. Vermutlich ging es darum, eine Alternative zu Theodule Ribots Programm in der Revue Philosophique zu bieten, in dem die Experimentalpsychologie einen großen Raum einnahm. Dieser idealistische Republikanismus grenzte sich
6 7
F. Paulhan: Le nouveau mysticisme. F. Alcan: Paris 1891. M. Fournier: Émile Durkheim: 1858–1917. Fayard: Paris 2007, 242.
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Olivier Agard
aber auch von den mystischen Tendenzen ab, die im Spiritualismus von Emile Boutroux zum Vorschein kamen, der in der Tat auf einer kosmologischen Vision der Schichten der Realität basierte. Es ging auch darum, die Grenzen eines eng gefassten Kritizismus zu sprengen: Die Philosophie sollte nicht nur Erkenntnistheorie sein, sondern auch Orientierungspunkte für die Gegenwart liefern, im Kontext einer geistigen Krise, deren bedrohlicher Charakter in der ersten Ausgabe der Zeitschrift betont wurde. Dort ist von blinden und schrecklichen Kräften die Rede, die aus der Tiefe der Gesellschaft kommen. Weder die Rückkehr in die Religion noch der Positivismus bieten eine Lösung, heißt es dann weiter: »Les conditions mêmes de l’équilibre intellectuel et moral manquant, les esprits se séparent et se dispersent; Les uns, désespérant de la pensée, retournent aux autels familiers, ou remontent le cours de la tradition et se réfugient – en songe – dans un christianisme très doux et très triste. Quelques-uns rêvent de révélations inouïes; d’autres s’enfoncent dans des études spéciales, se bornant à poursuivre machinalement la tâche commencée. Et cependant le sol de la société paraît près de se soulever sous l’action de forces aveugles et terribles«. 8 Aufgrund genau dieser anti-spiritualistischen und anti-mystischen Orientierung gab es damals noch eine faktische Allianz zwischen den Philosophen um die RMM und den Soziologen um Durkheim: Beide Kreise gingen in die Richtung einer rationalen Begründung der Moral. Durkheim und die Durkheimiens waren tatsächlich auch die einzigen Soziologen, die in der RMM veröffentlichten, was wohl dem Einfluss von Célestin Bouglé zu verdanken ist. Es ist also kein Zufall, dass Simmel dank der Vermittlung von Bouglé 1894 in der RMM den programmatischen Aufsatz »Le problème de la sociologie« veröffentlicht. 9 Darauf folgt 1896 der Aufsatz »Sur quelques relations de la pensée théorique avec les intérêts pratiques«. 10 Aus der Verbindung zu dem Philosophenkreis der RMM (Xavier Léon, Célestin Bouglé, Elie Halèvy) erklärt sich auch die Einladung zum ersten internationalen philosophischen Kongress in Paris um 1900. Bekanntlich nimmt Simmel jedoch nicht teil, und sein Vor-
8 Herausgeber der Revue de métaphysique et de morale: »Introduction«, in: Revue de métaphysique et de morale 1 (1893) 1, 1–5, hier 4. 9 G. Simmel: »Le problème de la sociologie« [1894], in: GSG 19, 27–36. 10 G. Simmel: »Sur quelques relations de la pensée théorique avec les intérêts pratiques« [1896], in: GSG 19, 46–65.
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Die erste Simmel-Rezeption in Frankreich 1894–1930
trag »De la religion au point de vue de la théorie de la connaissance« wird von Elie Halévy vorgelesen. 11 Entscheidende Differenzen zwischen dem Projekt der Philosophen und Durkheims Projekt werden trotz anfänglicher Konvergenzen schnell sichtbar. Diese Differenzen haben natürlich auch einen fachstrategischen Hintergrund: Durkheim will die Soziologie als eigenständige Disziplin etablieren. Es gibt aber auch sachliche Unterschiede: Die Philosophen der RMM gehen weiterhin vom Individuum als Moralsubjekt aus. Bei Durkheim steht jedoch nicht mehr das individuelle Gewissen im Mittelpunkt, sondern die kollektive Dynamik der Gesellschaft, die überindividuelle Werte und Verbindungen erzeugt, die Durkheim als Bedingungen der wahren Freiheit des Individuums ansieht. Durkheim betreibt im Unterschied zu den Philosophen eine entschiedene Soziologisierung des A priori und hebt die soziale Konstitution der Begriffe hervor. Es handelt sich bei den Durkheimiens jedoch nicht um eine einheitliche Gruppe, und es ist bekannt, dass zum Beispiel Bouglé eine Zwischenstellung zwischen Philosophie und Soziologie einnimmt.
II.
Simmel und die Durkheimiens: Die soziologische Simmel-Rezeption
Es ist mit Blick auf diesen Kontext einigermaßen verständlich, dass Simmel den Durkheimiens als Verbündeter erscheinen konnte, insbesondere, wenn man Simmels Theorie der sozialen Differenzierung berücksichtigt. Hinzu kommt, dass Simmel (in der Einleitung in die Moralwissenschaft) und Durkheim die soziale Entstehung der Moral rekonstruieren und beide auf ihre Weise für die Eigenständigkeit der Soziologie plädieren: Es gibt für beide eine soziologische Dynamik, die etwas anderes ist als die Dynamik der Natur, die Spencer in den Vordergrund gerückt hatte. In beiden Fällen wird diese Dynamik nicht von den Subjekten gesteuert: Die Gesellschaft ist etwas mehr als nur die Summe der Individuen. Diese Eigenständigkeit der sozialen Sphäre ist das Thema des Aufsatzes, den Simmel 1898 in der ersten Ausgabe der Année sociologique von Durkheim veröffentlicht: »Comment les formes sociales se maintiennent« (»Wie sich soziale G. Simmel: »De la religion au point de vue de la théorie de la connaissance« [1903], in: GSG 19, 117–128.
11
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Olivier Agard
Formen erhalten«). 12 Für beide Autoren gehen die Entwicklung einer objektiven Welt und die Herausbildung der Individualität miteinander einher: Individualität wird erst im Laufe der Entwicklung der Gesellschaft möglich. Am Anfang hat Durkheim also versucht, Simmel in das Projekt der Année sociologique einzubinden. Aber Simmels Text erschien ihm zu lang, und ohne sein Einverständnis kürzte er ihn. Er strich insbesondere eine Stelle über den Zionismus, weil er im Kontext der Dreyfus-Affäre nicht als Zionist gelten wollte. 13 Es ging aber auch um Grundsätzlicheres: Durkheim konnte natürlich nicht übersehen, dass es zwischen ihm und Simmel Divergenzen gab, die aus seiner Sicht gravierend waren, weil sie Durkheims Streitpunkt mit den Philosophen berührten, nämlich das Problem der Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft. Für Simmel gibt es zwar eine Eigenständigkeit des Sozialen, aber die sozialen Formen entstehen aus der dynamischen Wechselwirkung der Individuen, und ihre Psychologie spielt dabei eine Rolle, wie zum Beispiel später in seiner Theorie des Wertes in der Philosophie des Geldes deutlich wird, sodass für Durkheim dieser Ansatz zu individualistisch und individualpsychologisch blieb: Die Formen, von denen Simmel spricht, haben aus Durkheims Sicht keine wahre Festigkeit und Eigenständigkeit. Durkheim behauptet dagegen: »la société a sa manière d’être qui lui est propre«. 14 Ein anderer Punkt ist, dass Simmel auf der Suche nach einem A priori-Rahmen der gesellschaftlichen Erfahrung ist, diese transzendentale Fragestellung bei Durkheim aber fehlt. Hinzu kommt, dass bei Durkheim mit der Auffassung einer gesellschaftlichen Dynamik von kollektiven Vorstellungen ein kollektiver normativer Anspruch einhergeht, den es in dieser Form bei Simmel nicht gibt, was in der Einleitung in die Moralwissenschaft ganz deutlich ist, aber auch – mit Einschränkungen – in späteren Werken. Für Durkheim soll die Soziologie die Moral als Zement einer post-religiösen und modernen Gesellschaft begründen. Durkheim sieht die moderne Gesellschaft als einen Organismus, als eine solidarische Ordnung, die differenziert und komplex ist, aber er betont auch das Moment der Einheit, das eben in dieser kollektiven, republikanischen Moral zum
G. Simmel, »Comment les formes sociales se maintiennent« [1898], in: GSG 19, 66–106. 13 Vgl. O. Rammstedt: »Les Relations entre Durkheim et Simmel dans le contexte de l’affaire Dreyfus«, in: L’Année Sociologique 48 (1998) 1, 139–162. 14 É. Durkheim: Journal sociologique. PUF: Paris 1969, 162. 12
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Die erste Simmel-Rezeption in Frankreich 1894–1930
Vorschein kommt, selbst wenn er diese Einheit nicht unbedingt mit einem zentralisierten und starken Staat identifiziert. Fest steht, dass das Individuum seine Freiheit nur im Rahmen dieser solidarischen Ordnung, dieses kollektiven gesellschaftlichen Bewusstseins realisieren kann. 15 Für Simmel hingegen kann die Soziologie die Soziogenese der Moral und die Entwicklung des modernen Pflichtgedankens zwar rekonstruieren; sie ist aber nicht dazu da, den Inhalt dieser Moral zu bestimmen. Mir scheint, dass es Simmel insgesamt vielmehr darum geht, die Möglichkeit einer individuellen Kultur unter den Bedingungen der Moderne zu begründen. Denn die objektiven Formen, die die Gesellschaft erzeugt, machen zwar die individuelle Kultur möglich, stellen aber auch eine Bedrohung für das Individuum dar. Bei Simmel kommt also auch eine Sorge um das Individuum im Kontext der Massenkultur und der Großstadt zum Ausdruck. Auch wenn die subjektive Kultur erst innerhalb der sozialen Sphäre möglich wird, stellt die soziale objektive Welt zugleich potentiell eine Gefahr für die subjektive Kultur dar. Simmel steht in dieser Hinsicht in der Tradition einer deutschen Philosophie der Bildung, die er soziologisch ergänzt und den Bedingungen der modernen Gesellschaft anpasst. Da es ihm um individuelle Synthesen innerhalb einer differenzierten Gesellschaft geht, die sich nicht als Totalität auffassen lässt, ist seine Auffassung der Gesellschaft pluralistischer und weniger integrierend als diejenige von Durkheim: Daher spricht er lieber von Vergesellschaftung als von Gesellschaft. Durkheim identifiziert zwar auch Pathologien der Moderne, aber die Anomie ist im Grunde eine Erscheinung, die durch eine Entwicklung der integrierenden Solidarität innerhalb der Gesellschaft kompensiert werden kann. Bei Simmel ist das Problem eben nicht diese Anomie, sondern eher die Kluft zwischen subjektiver und objektiver Kultur, zwischen sozialer Struktur und individuellem Handeln, die ein Bedürfnis nach neuen Synthesen entstehen lässt, die sich im Individuum vollziehen. Es wurde bereits betont, dass die Durkheimiens keine einheitliche Gruppe sind, und in mancher Hinsicht steht Bouglé ursprünglich Simmel näher als Durkheim, 16 was die Auffassung der Gesell-
Zu dieser Form von Republikanismus vgl. J.-F. Spitz: Le moment républicain en France. Gallimard: Paris 2005, 283–355. 16 Zu Bouglé und Simmel vgl. C. Gülich: »Célestin Bouglé et Georg Simmel. Une correspondance franco-allemande en sociologie«, in: Mil neuf cent 8 (1990): Les correspondances dans la vie intellectuelle, 59–72. 15
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Olivier Agard
schaft betrifft, die er pluralistischer auffasst als Durkheim: 17 Wie bei Simmel erscheint bei ihm die Gesellschaft eher als ein offenes Netzwerk von Relationen. Bouglé hatte sich 1893/1894 in Deutschland aufgehalten und war vom deutschen Vereinsleben sehr beeindruckt gewesen, 18 vielleicht weil der französische Staat damals die Vereine noch als Gefahr ansah: Erst 1901 wird das Vereinsrecht wirklich liberalisiert. Bouglé greift aus diesem Grund sehr oft auf Simmels Theorie der Pluralisierung der sozialen Kreise zurück. Denselben Pluralismus findet man später in seinem Buch über die Werte (Leçons de sociologie sur l’évolution des valeurs), wo er die monolithische Auffassung einer einheitlichen, kollektiven Moral nuanciert und einen – allerdings relativ bescheidenen – Spielraum für die Pluralität der Ethossysteme innerhalb der Gesellschaft eröffnet. 19 Bouglé hatte sich am Anfang ausdrücklich vom Projekt einer Begründung der Moral durch die Soziologie distanziert, aber es wird im Laufe der Jahre klar, dass auch er normativ verfährt. Der moderne Egalitarismus, den der quantitative Individualismus mit sich bringt, ist für ihn eine Errungenschaft der modernen Gesellschaft, die unbedingt verteidigt werden muss. Seine Analysen sind von einem gesellschaftlichen Fortschrittsdenken geprägt, und er bekannte sich zum Solidarismus, auch wenn er eine eher liberale Variante dieses Solidarismus vertrat. Der Kontakt zwischen Bouglé und Simmel blieb förmlich bis zum Ersten Weltkrieg bestehen, aber eine Entfremdung fand im Grunde ab 1900 statt. Als die Perspektive einer Zusammenarbeit mit Durkheim sich nicht realisierte, ging Bouglé faktisch auf Distanz. Simmel veröffentlichte zwischen 1903 und 1912 nur zwei Aufsätze auf Französisch, und nicht in soziologischen Zeitschriften: Beim ersten Aufsatz handelte es sich um den schon erwähnten Text zur Religion, den Elie Halévy beim ersten internationalen philosophischen Kongress vorgelesen hatte und der in den Akten des Kongresses erschien. Es ist vielleicht übertrieben, diesen Text als ›anti‹-DurkheimText zu deuten, aber er zeugt von alldem, was Simmel von Durkheim trennt. Während die Religion für Durkheim die Urform der GesellZu Bouglé vgl. A. Policar: Célestin Bouglé: justice et solidarité. Michalon: Paris 2009; W. Logue: »Sociologie et Politique: Le Libéralisme De Célestin Bouglé«, in: Revue Française De Sociologie 20 (1979) 1, 141–161; J.-C. Marcel (Hg.): Sociologues en politique. Autour de Célestin Bouglé, in: Les Études Sociales 165 (2017) 1. 18 Vgl. J. Breton (= C. Bouglé): Notes d’un étudiant français en Allemagne. Lévy: Heidelberg/Berlin u. a. 1895, 133–136. 19 C. Bouglé: Leçons de sociologie sur l’évolution des valeurs. A. Colin: Paris 1922. 17
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Die erste Simmel-Rezeption in Frankreich 1894–1930
schaft als überindividuelle Verbindung darstellt, ist sie für Simmel das Ergebnis individueller Interaktionen: Sie entsteht aus der Dynamik der Wechselwirkungen, bevor sie dann zu einem Glaubenssystem und einer Institution wird. Der zweite Text, mit dem Titel »Quelques considérations sur la philosophie de l’histoire« erschien 1909 in der Revue internationale de synthèse. 20 1912 erschien dann erstmals in Frankreich ein Buch von Simmel, eine Textsammlung mit dem Titel Mélanges de philosophie relativiste. Simmel wurde nun vorwiegend als Philosoph und nicht mehr als Soziologe wahrgenommen, was auch damit zusammenhing, dass sich der geistig-politische Kontext seit den 90er Jahren grundsätzlich verändert hatte.
III. Der Kontext der 1900er Jahre Die Jahre 1900 bis 1914 erscheinen einerseits als ein demokratisches Jahrzehnt, in dem sich das Regime nach der Krise der Dreyfus-Affäre stabilisiert. Aber andererseits ist das Land geistig gespalten, wie zum Beispiel in den Diskussionen um das Gesetz über die Trennung von Staat und Kirche sichtbar wird. Dieses Gesetz ist in der Tat das Ergebnis eines hart umkämpften Kompromisses. Die Action Française entwickelt sich und avanciert zu einem wichtigen politischen und kulturellen, heute oft unterschätzten Aktor. So steht zum Beispiel die führende literarische Zeitschrift NRF der Action Française viel näher als der positivistischen Sorbonne. Im Bereich der Philosophie ist diese Zeit durch eine gewisse Erneuerung des Spiritualismus im Zeichen des Lebens gekennzeichnet. Es geht bei vielen Autoren darum, gegen den Positivismus, aber auch gegen einen eng gefassten Kritizismus, die Möglichkeit eines Zugangs zur Realität zu rechtfertigen und den abstrakten Geist mit der Fülle des Lebens zu versöhnen. Es ist eine Zeit der Kritik am so genannten ›Intellektualismus‹. Die Leistung der Naturwissenschaft wird dabei nicht verneint, aber sie wird oft relativiert: Die Wissenschaft dient der praktischen Beherrschung der Natur, aber sie soll nicht zum Modell aller Erkenntnis erhoben werden. ›Leben‹ wird zu einem Schlüsselwort der 1900er Jahre. Der Ausdruck ›Geistesleben‹ (›vie de l’esprit‹) wird zu einem
G. Simmel: »Quelques considérations sur la philosophie de l’histoire« [1909], in: GSG 19, 129–136.
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Modewort. Der Hauptvertreter dieser Tendenz ist Bergson, der die spiritualistische Definition der Freiheit als schöpferischer Freiheit und Kontingenz übernimmt und sie biologisch oder zumindest lebensphilosophisch begründet. Diese Freiheit wird als Potentialität des Lebens dargestellt, die sich im Menschen aktualisiert. Die Philosophie von Bergson erfuhr eine Resonanz, die man sich heute kaum vorstellen kann und der François Azouvi ein hochinteressantes Buch (mit dem Titel La gloire de Bergson / Bergsons Ruhm) gewidmet hat. 21 Isaac Benrubi, der sich bemühte, zwischen Bergson und den deutschen Philosophen zu vermitteln, und der eine Zeit lang an der deutschen Übersetzung von L’évolution créatrice gearbeitet hat, bemerkt zu Recht: »Das Lebenswerk Bergsons bildet den Kumulationsund Konzentrationspunkt sämtlicher Erneuerungsbestrebungen der gegenwärtigen Philosophie in Frankreich«. 22 Die Philosophie von Bergson erlaubte eine Relativierung des wissenschaftlichen Denkens im Sinne eines ›partiellen Pragmatismus‹ (›pragmatisme partiel‹), denn sie deutete die ›Intelligence‹ der Naturwissenschaft als praktische, pragmatische Funktion, während die ›Intuition‹ einen wahren Zugang zum Leben ermögliche. Der wissenschaftliche Konventionalismus von Eduard Le Roy ging in gewisser Hinsicht in dieselbe Richtung. Der Pragmatismus von William James wurde in jenen Jahren in der Tat in Frankreich intensiv rezipiert und als Kritik am Intellektualismus und Kritizismus verstanden. Aber auch der neukritizistische Pol wurde von diesem Geist der Zeit getroffen. Léon Brunschwicg entwickelte ein dynamisches Verständnis von Vernunft und übernahm die Formel vom Leben des Geistes. Er bekannte sich zu einer Form von Spiritualismus, den er aber als intellektualistisch kennzeichnete. Er setzte dem Pragmatismus von James Fichtes idealistische Auffassung des Handelns entgegen. Dieser Hinweis auf Fichte ist nicht zufällig, denn Fichte wurde in Frankreich – z. B. von Xavier Léon – als ein Jakobiner und ein Theoretiker der patriotischen und republikanischen Erziehung gelesen. 23 Durkheim, der damals als ein »Rationalist auf soziologischer F. Azouvi: La gloire de Bergson: essai sur le magistère philosophique. Gallimard: Paris 2007. 22 I. Benrubi: Philosophische Strömungen der Gegenwart in Frankreich. Meiner: Leipzig 1928, 406. 23 X. Léon: Fichte et son temps, Bd. 1: Établissement et prédication de la doctrine de la liberté. La vie de Fichte jusqu’au départ d’Iéna: 1762–1799. A. Colin: Paris 1922; Bd. 2: Fichte à Berlin: 1799–1813. A. Colin: Paris 1927. 21
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Grundlage« (Dominique Parodi) wahrgenommen wurde, lehnte den neuen anti-intellektualistischen Geist in der Philosophie ab. 24 Die Spannung zwischen Bergson und Durkheim erreichte damals ihren Höhepunkt. Bergson war aber in der akademischen Welt eher ein Außenseiter, dem es nicht gelang, in der positivistischen Sorbonne, wo Durkheim einflussreich war, Fuß zu fassen. Dieser widmete dem Pragmatismus kurz vor dem Ersten Weltkrieg eine Vorlesung, die auch gegen Bergson gerichtet war. Für Durkheim verkennt der Pragmatismus, dass es jenseits der unmittelbaren Realität eine metasubjektive Welt gibt, die Welt der Zivilisation: »Sie [die Wahrheit] ›fügt‹ tatsächlich der realen Welt eine neue Welt ›hinzu‹, die komplexer ist als alle anderen: die menschliche Welt, die soziale Welt. Durch sie wird eine neue Daseinsordnung möglich: nicht weniger als die Zivilisation«. 25 Durkheim, der Pädagogik an der Sorbonne unterrichtete, arbeitete weiterhin an der Definition einer laizistischen und kollektiven Moral und setzte seine Ansichten durch. In der Neuausgabe des Dictionnaire de pédagogie et d’instruction primaire entfielen die Artikel ›Bibel‹, ›Herz‹, ›Gebet‹, ›Protestantismus‹. Die republikanische Moral, die die Volksschullehrer verbreiten sollten, entfernte sich von ihren religiösen (eher protestantischen) Wurzeln. Wenn man zwischen den Zeilen liest, wird klar, dass Durkheims Polemik gegen den Pragmatismus auch einen politischen Hintergrund hat: Der Pragmatismus und der Bergsonismus erscheinen bei Durkheim und Brunschvicg als eine irrationalistische, also auch potentiell antirepublikanische Philosophie. In der Tat haben François Azouvi oder Antoine Compagnon gezeigt, dass die Rezeption des Bergsonismus bei den so genannten ›Antimodernes‹ besonders intensiv war, d. h. bei denjenigen, die dem republikanischen Fortschrittsoptimismus aus verschiedenen Gründen eher skeptisch gegenüberstanden. 26 Im Pragmatismus gibt es aus Durkheims Sicht keine Wahrheit mehr; die 24 Zitiert in: F. Paulhan [Rezension]: D. Parodi: Le problème Moral et la Pensée contemporaine, 1910, in: Revue philosophique de la France et de l’étranger 35 (1910) 2, 292–297, hier 292. 25 É. Durkheim: Pragmatisme et sociologie: cours inédit prononcé à la Sorbonne en 1913–1914. J. Vrin: Paris 1955, 187. »Elle [la vérité] ›ajoute‹ bien au réel un monde nouveau, plus complexe que tous les autres: le monde humain, le monde social. Par elle devient possible un nouvel ordre de choses: rien de moins que la civilisation« (ebd.). 26 A. Compagnon: Les antimodernes: de Joseph de Maistre à Roland Barthes. Gallimard: Paris 2005.
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›Dreyfusards‹ hatten aber im Namen der Wahrheit gekämpft: »[…] die Wahrheit ist eine Norm für das Denken, genau so wie das moralische Ideal eine Norm für das Verhalten ist«. 27 Durkheim ist jedoch vom Geist der Zeit nicht ganz unberührt: Er sieht neue Zeiten der kollektiven Efferveszenz voraus. Die Vorlesung zum Pragmatismus ist nicht nur polemisch: Durkheim betrachtet den Pragmatismus als Herausforderung, den traditionellen Rationalismus zu erneuern. Der Bergsonismus und die Durkheimsche Soziologie stellen also zwei Pole im geistigen Leben dar, die sich zunehmend ausschließen, obwohl sie in Paris nur von der Rue Saint-Jacques getrennt sind, da Bergson im Collège de France unterrichtet. Bouglé polemisiert in der Année sociologique gegen Joseph Wilbois, der sich in seinem Buch Devoir et durée. Essai de morale sociale (1912) an Bergson orientierte. 28 Bergson hatte seinerseits am Anfang des Jahrzehnts für Tarde Stellung genommen, weil er mit Tardes Kritik am Mechanismus und mit seinem Vitalismus einverstanden war. Ein Teil der intellektuellen Jugend wendet sich vom Positivismus ab und entwickelt eine Form von Kulturkritik. Emblematisch für diese Entwicklung ist die ambivalente Figur von Charles Péguy. Für Péguy, der sich gegen die laizistische Staatsreligion wendet, ohne jedoch ein Konservativer zu sein, ist Durkheim ein Großinquisitor. In zwei Büchern (L’Esprit de la nouvelle Sorbonne und Les Jeunes Gens d’aujourd’hui) versuchen Henri Massis und Alfred de Tarde, der Sohn des Soziologen, die These einer massiven Ablehnung der alten Sorbonne durch die Jugend zu begründen und stilisieren den ideologischen Konflikt zwischen Durkheim und Bergson zu einem Krieg der Generationen. In diesem Kontext muss Célestin Bouglé deutlich Farbe bekennen. 29 Das tut er in dem Kapitel, das er im Kollektivband La philosophie allemande au XIXe siècle von 1912 Simmel widmet. Dort bringt er Simmel mit Bergson, James und der anti-intellektualistischen Tendenz in Verbindung und erklärt dann, dass dieser Tarde näher steht als Durkheim, da die sozialen Formen für ihn nur eine provisorische Existenz haben und ihre É. Durkheim: Pragmatisme et sociologie, 197. »[…] la vérité est une norme pour la pensée, comme l’idéal moral est une norme pour la conduite« (ebd.). 28 C. Bouglé [Rezension]: J. Wilbois: Devoir et durée. Essai de morale sociale, 1912, in: L’Année sociologique 12 (1909–1912), 322–326. 29 Agathon (= H. Massis und A. de Tarde): L’esprit de la nouvelle Sorbonne: la crise de la culture classique, la crise du français. Mercure de France: Paris 1911; dies.: Les jeunes gens d’aujourd’hui: le goût de l’action, la foi patriotique, une renaissance catholique, le réalisme politique. Plon: Paris 1913. 27
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Grundlage die Wechselwirkung der Individuen ist, bei der es sich um ein psychologisches Phänomen handelt. 30 Simmel gehört also nun für Bouglé eindeutig in das andere Lager.
IV. Die philosophische Simmel-Rezeption Simmel wird nun hauptsächlich von den Philosophen gelesen. In einem Brief an Bouglé hatte er bereits 1899 bedauert, dass man ihn in Frankreich nur als Soziologen wahrnahm und nicht als Philosophen. Dieses Problem hing wohl nicht nur mit der Person Simmels zusammen. Die deutsche zeitgenössische Philosophie wurde in der Tat wenig wahrgenommen, auch von Experten der deutschen Philosophie, wie dem Philosophiehistoriker Emile Boutroux. Boutroux las zwar die deutschen philosophischen Zeitschriften, zitierte die Neukantianer, aber hauptsächlich aus der historischen Perspektive: Es ging ihm um die Probleme der Kant-Deutung, nicht um die theoretische Erweiterung und Erneuerung des Kantianismus, die Cohen oder Rickert vornahmen. Der französische Neukantianismus hat sich unabhängig vom deutschen Neukantianismus entwickelt. Die zeitgenössische deutsche Philosophie wurde kaum übersetzt. Die große Ausnahme im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ist Rudolf Eucken, von dem zwei Bücher übersetzt wurden: Le sens et la valeur de la vie (Der Sinn und Wert des Lebens), mit einem Vorwort von Bergson, 31 et Les grands courants de la pensée contemporaine (Geistige Strömungen der Gegenwart), mit einem Vorwort von Emile Boutroux. 32 Diese beiden Namen belegen, dass das Interesse für Eucken nicht vom neukantianischen und neukritizistischen Lager kam. Eucken stand in der Tat Boutroux deutlich näher als Bergson, weil er im Unterschied zu Bergson das Leben nicht biologisch definierte. Eucken war eigentlich kein Lebensphilosoph, insofern seine Noologie im Grunde eine neuidealistische Philosophie des schöpferischen Geistes ist, die mit dem französischen Spiritualismus Berührungspunkte hatte. Eucken hatte lobende Worte für Boutroux’sche Schichtenontologie. C. Bouglé: »Simmel«, in: Ch. Andler, V. Basch, J. Benrubi, C. Bouglé, V. Delbos, G. Dwelshauvers, B. Groethuysen, H. Norero (Hg.): La Philosophie allemande au XIXe siècle. F. Alcan: Paris 1912, 189–203. 31 R. Eucken: Le sens et la valeur de la vie. Alcan: Paris 1912. 32 R. Eucken: Les grands courants de la pensée contemporaine. Alcan: Paris 1911. 30
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Die philosophische Rezeption von Simmel hat etwas andere Akzente als die Eucken-Rezeption: Boutroux interessiert sich überhaupt nicht für Simmel, der auch bei Eucken meiner Kenntnis nach nicht vorkommt. Bergson ist derjenige, der sich um 1910 in Frankreich wirklich für die Übersetzung von Simmel einsetzt. Mit der Übersetzung beauftragte er eine seiner Studentinnen, Alix Guillain. Die Mélanges de Philosophie relativiste, die 1912 erschienen (auf das Adjektiv ›relativiste‹ komme ich gleich zurück), boten einen Überblick über Simmels Schaffen und umfassten Beiträge aus mehreren Schaffensperioden. 33 Es wurde mit diesem Band der Versuch gemacht, die Breite des Spektrums von Simmels Denken sichtbar zu machen und die Kohärenz dieses Denkens vorzustellen. Das französische Publikum machte mit diesem Buch die Bekanntschaft eines neuen Simmel, was Bergson zu verdanken war. Es gab in der Tat zwischen beiden Autoren viele Affinitäten und Kontakte, auf die ich hier nicht eingehen kann. Simmel hatte seinerseits von Bergson entscheidende Motive übernommen. Eine Idee, die aus meiner Sicht entscheidend für ihn wird und die er bei Bergson findet, ist die Vorstellung einer Selbsttranszendenz des Lebens, die im Leben selbst angesiedelt ist. Bergson hat 1908 Simmels Probleme der Geschichtsphilosophie aufmerksam gelesen und wahrgenommen. Er besaß auch eine Kopie der Kant-Vorlesungen, die er annotiert hat. 34 Beide Autoren kritisieren die abstrakte Allgemeinheit des Kant’schen Erkenntnissubjekts und werten die Individualität der Person auf. Die Gemeinsamkeit in der Intellektualismus- und Mechanismuskritik soll aber nicht über einen Unterschied hinwegtäuschen, der deutlich wird, wenn Simmel in Anlehnung an Bergson, aber auch in kritischer Distanz zu ihm, seine Metaphysik des Lebens entwickelt. Obwohl es in Frankreich auch einen zivilisationskritischen Diskurs gibt, ist Simmels Kulturdiagnose pessimistischer oder ambivalenter. Bei Bergson kann zwar das Übermaß an Intelligenz auch zu einer Erstarrung des Lebens führen, aber diese Erstarrung erscheint in l’Evolution créatrice nicht als ein tragisches Schicksal des Lebens: Es kann und soll ein neues Gleichgewicht zwischen ›Intelligence‹ und ›Intuition‹ gefunden werden. Die Intuition ist selbst eine Behauptung des Lebens. Das Leben tendiert immer wieder dazu, sich in der Materie zu versenken, aber im MenG. Simmel: Mélanges de philosophie relativiste: contribution à la culture philosophique, trad. de l’allemand par A. Guillain. F. Alcan: Paris 1912. 34 Vgl. G. Fitzi: Soziale Erfahrung und Lebensphilosophie, 233–237. 33
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schen leistet der ›élan vital‹ dem Determinismus der Materie Widerstand. Der Mensch als offenes Wesen ist in gewisser Hinsicht in der Lage, die tierische Lebensform zu transzendieren. Im Menschen erreicht das Leben den Punkt, wo es die Last der Materie, die gleichzeitig mit der Intelligenz entstanden ist und als Korrelat dieser Intelligenz erscheint, überwinden kann. Das setzt voraus, dass der Mensch wieder einen Bezug zum Leben findet. Für Bergson hat also der heutige Mensch die Wahl. Er kann sich mit der Intelligenz begnügen und mit der Umwelt, die er dadurch stabilisieren konnte, oder er kann versuchen, den ›Übermenschen‹ zu realisieren, aber das setzt voraus, dass er einen direkteren Zugang zum ›élan vital‹ findet, was nur durch das Pflegen der Intuition (als einer Synthese von Intelligenz und Instinkt) möglich ist. Für Simmel ist die Situation des modernen Menschen verwickelter, weil es eine dem Leben immanente Tragik gibt, die Bergson nicht sieht: Das Leben muss sich in Nicht-Leben verwandeln, d. h. in Formen, die sich gegen das Leben richten, die aber dann durch neue Formen oder aktualisierte Formen ersetzt werden können. Der Dualismus zwischen Intelligenz und Intuition wird der Objektivität der Kulturformen nicht gerecht. Den Begriff der ›Intuition‹ findet man deswegen in dieser Form bei Simmel nicht. Im Spätwerk erhält diese Tragik einen existentiellen Charakter, mit der Idee, dass der Tod dem Leben immanent sei, und das ist ein Gedanke, der Bergson recht fernliegt. Neben Bergson und den Bergsoniens gibt es in Frankreich aber eine zweite Strömung, die sich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg für Simmel interessiert, nämlich die kritizistische oder neukritizistische Strömung, die im Kreis der Revue de Métaphysique et de Morale stark vertreten ist. René Berthelot erwähnt zum Beispiel in seiner kritischen Studie zum Pragmatismus Simmel mit lobenden Worten. 35 Er bezeichnet den Autor der Einleitung in die Moralwissenschaft als den originellsten deutschen Philosophen. 36 Diese philosophische Tendenz des französischen Neukritizismus war bemüht, das A priori zu lockern (›assouplir‹, sagte man oft) und in gewisser Hinsicht zu historisieren. Das A priori sollte nicht mehr als Produkt
35 R. Berthelot: Un romantisme utilitaire; étude sur le mouvement pragmatiste, Bd. 1: Le Pragmatisme chez Nietzsche et chez Poincaré. F. Alcan: Paris 1911; Bd. 2: Le Pragmatisme chez Bergson. F. Alcan: Paris 1913; Bd. 3: Le Pragmatisme religieux chez William James et chez les catholiques modernistes. F. Alcan: Paris 1922. 36 R. Berthelot: Un romantisme utilitaire, Bd. 1, 183.
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einer statischen und ewigen Vernunft aufgefasst werden, sondern als ein Prozess, in dem die Kategorie des Denkens und die historisch sich wandelnden Realitäten interagierten. Diese Auffassung steht im Hintergrund der Histoire des Sciences als Geschichte des menschlichen Geistes, wie sie Léon Brunschvicg betrieb. Brunschvicg hat Simmel durchaus ernst genommen und ihn in seinen Büchern zitiert, auch wenn er mit ihm nicht einverstanden war. 37 Die Revue de Métaphysique et de Morale veröffentlicht 1912 und 1913 eine Reihe von Aufsätzen zu Simmel, aus denen ein Buch mit dem Titel Le relativisme philosophique chez Georg Simmel hervorgeht, das 1914 erscheint. 38 Die Bezeichnung als »relativisme« ist irreführend und darf nicht missverstanden werden. Sie hat in Frankreich nicht den dramatischen und provozierenden Unterton, den sie in Deutschland hatte: Die Historismus-Debatte ist zu diesem Zeitpunkt tatsächlich eine deutsche Diskussion. Das Wort ›relativiste‹ verweist aus der Sicht von Mamelet in die Richtung dieses gelockerten Neukritizismus, der das A priori als eine dynamische und wandelbare Relation umformulierte. Zwischen der Simmel-Interpretation der Bergsoniens und dieser neukritizistischen Deutung bestand nun eine gewisse Spannung. Mamelet war ehemaliger Schüler der Ecole Normale Supérieure und unterrichtete Philosophie am Gymnasium. 1929 veröffentlichte er ein Buch mit dem Titel L’idée positive de la moralité devant la critique philosophique, erhielt aber keine Stelle an der Universität. Mamelets Buch war der Versuch, Simmel als Alternative zum Positivismus von Durkheim einerseits, zum Mobilismus von Bergson andererseits darzustellen. Dass Victor Delbos das Vorwort schrieb, war mit diesem Ansatz kohärent. Delbos war ein KantSpezialist, der zu einem gewissen Spiritualismus neigte und der Matière et Mémoire in einem Aufsatz von 1897 aus dieser Perspektive gelesen hatte. 39 Im Einklang mit Mamelets Darstellung wird Simmel von Delbos als ein Autor dargestellt, der das A priori gelockert und die sich auf die Naturwissenschaft fokussierende Erkenntnistheorie Vgl. z. B. L. Brunschvicg: Le progrès de la conscience dans la philosophie occidentale, Bd. 2. Alcan: Paris 1927, 120. 38 A. Mamelet: Le relativisme philosophique chez Georg Simmel, préface de V. Delbos. F. Alcan: Paris 1914. 39 V. Delbos: »›Matière et mémoire‹ : essai sur la relation du corps à l’esprit, par Henri Bergson«, in: Revue de Métaphysique et de Morale 5 (1897) 3, 353–389; vgl. dazu J.-L. Vieillard-Baron: »Delbos et Bergson, un spiritualisme nouveau«, in: Revue philosophique de la France et de l’étranger 141 (2016) 3, 373–380. 37
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Kants auf neue Bereiche erweitert habe: die Geschichte, das wirtschaftliche Leben, das soziale Leben, das ästhetische Leben, das religiöse Leben. Diese Erweiterung wurde durch eine gewisse Psychologisierung des A priori möglich gemacht. Simmel gerate daher in die Nähe des Pragmatismus, aber unterscheide sich von den Pragmatisten dadurch, dass es für ihn weiterhin »innerliche Notwendigkeiten« gebe, die für das Denken und seine Anwendung konstitutiv sind. 40 Nach diesem Vorwort stellt Mamelet die Einleitung in die Moralwissenschaft als einen Versuch dar, die neuesten Ergebnisse der Psychologie, der Geschichtswissenschaft und der Soziologie mit dem allgemeinen Rahmen der Kantischen Erkenntnistheorie zu vereinen. Simmel zeige, dass der kategorische Imperativ seine Quelle nicht im Gewissen des Individuums, sondern in einer Dynamik der Gesellschaft habe. In Simmels erstem Buch wird aus Mamelets Sicht der Relativismus wie ihn Simmel verstand, bereits entworfen: Gegen einen dogmatischen Rationalismus wird der Akzent auf die Korrelation zwischen der allgemeinen und leeren Form der Pflicht und den konkreten sozialen und psychologischen Inhalten gelegt. Mamelet versucht an dieser Stelle auch, Brücken mit dem Spätwerk zu schlagen: Simmel thematisiere in der Einleitung bereits den Begriff des Lebens, denn die moralische Realität sei das sich schrittweise herausbildende und differenzierende Produkt des Lebens. Diese Moralität manifestiere sich zuerst im Leben der Gesellschaft, das sich dann in den Individuen differenziere. Diese Theorie der Differenzierung sei aber grundsätzlich von derjenigen der französischen soziologischen Schule verschieden. Simmels Ansatz sei deutlich psychologischer, während die Durkheimiens die Moralität von vornherein als objektive Tatsache betrachten. Mamelet hat an dieser Stelle sehr kritische Worte gegen den angeblichen französischen Soziologismus, der statisch denke und von einer »menschlichen Unwandelbarkeit« ausgehe. 41 Da Simmel die Entwicklung des Lebens als Quelle der Moralität in den Vordergrund rücke, berühre er sich mit dem Bergsonismus. Die Philosophie des Geldes stellt dann für Mamelet keinen Bruch dar, sondern verdeutlicht nur den Ansatz, der in der Einleitung in die Moralwissenschaft entworfen worden war. Mamelet legt großen Wert auf den Gedanken, dass der Relativismus, wie ihn Simmel V. Delbos: »Préface«, in: A. Mamelet, Le relativisme philosophique chez Georg Simmel, I–VI, hier III. 41 A. Mamelet: Le relativisme philosophique chez Georg Simmel, 49 f. 40
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versteht, nicht in Skepsis mündet. Er kommt dann auf Simmels KantDeutung zu sprechen und legt den Akzent auf die IntellektualismusKritik. Intellektualismus war wie gesagt ein Stichwort in der französischen Diskussion der Zeit. Das Kapitel über Simmels Epistemologie der Geschichte ist dann der Anlass zu einem zweiten Frontalangriff gegen die Durkheimiens. Die Offenheit dieses Angriffs zeugt von der wachsenden Spannung zwischen Soziologie und Philosophie in Frankreich. Interessant ist, dass es bei diesen Divergenzen nicht nur um erkenntnistheoretische Fragestellungen, sondern auch um politische Optionen geht. Aus Mamelets Sicht teilt die französische Soziologie mit dem Traditionalismus und dem Positivismus ein anti-individualistisches Vorurteil. Es gehe Durkheim darum, so Mamelet, die individuellen Initiativen im Bereich des sozialen und politischen Lebens zu bremsen. 42 Mamelet spielt eindeutig Simmels liberal-demokratische Einstellung gegen die organizistische Orientierung der Durkheimiens aus, was natürlich eine Karikatur ist, auch wenn in der Tat viele junge Durkheimiens zum Sozialismus neigten. Mamelet wird sich seinerseits nach dem Krieg eindeutig rechts engagieren und kann als rechtsliberal eingestuft werden. Mamelet verweist an dieser Stelle auch auf Tarde, wohlwissend, dass der Status des Individuums ein zentraler Streitpunkt zwischen Simmel und Tarde war. Mamelet betont aber, dass Simmels Liberalismus nicht mit demjenigen von Tarde identisch ist, denn für Tarde seien die sozialen Tatsachen letztlich individualpsychologische Tatsachen. Mit Durkheim teile Simmel hingegen die Absicht, die Soziologie von der Psychologie abzugrenzen: Simmel vermittele sozusagen zwischen Tarde und Durkheim, da die sozialen Formen letztlich nicht auf die individuelle Psychologie zurückzuführen seien. Simmels Soziologie scheint so für Mamelet die Grundlage eines sozialen Liberalismus zu liefern. Dabei legitimiert Simmel auch den Anspruch der Philosophie gegen den angeblichen soziologischen Dogmatismus, weil Simmel sich weigert, die Kategorien des Denkens zu soziologisieren: Die Grundlage seiner Soziologie bleibt eine kritizistische Erkenntnistheorie, für die die Begriffe immer nur Konstruktionen des Denkens und keine ontologischen Wahrheiten sind. Wenn Mamelet schließlich Simmels ästhetischen Relativismus behandelt, kommt er auch auf die Metaphysik des Lebens zu sprechen. Mamelets Ziel ist hier sehr klar: Es geht darum, Simmel von Bergsons Intuitionismus abzugrenzen: Das Leben sei bei 42
Vgl. ebd., 144–147.
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Simmel nur mittelbar zugänglich, im Spannungsfeld zwischen Materie und Form. Die Kunst eröffne eine metaphysische und realistische Perspektive, aber nicht, weil sie ein direkter Zugang zum Leben wäre, sondern weil ihre Produktion und Rezeption ein dynamischer Vorgang sei, der konstitutive Spannungen innerhalb der Seele sichtbar mache, jenseits der Schicht statischer Begriffe. Es gebe für Simmel keine unmittelbare Erkenntnis des Konkreten und keine geistige Intuition. Zwar sei bei Simmel ein Streben nach Einheit jenseits des Dualismus von Materie und Form spürbar, aber diese Einheit werde im Grunde nie erreicht. 43 Mamelets Versuch, kurz vor dem Krieg Simmel für das Projekt einer Erneuerung des französischen Kritizismus zu gewinnen, blieb vereinzelt. Neben der Tatsache, dass Mamelet in der Philosophie ein Außenseiter blieb, liegt ein Grund sicher darin, dass dieser Kritizismus gleich nach dem Krieg in eine Krise geriet, die auch mit einer Krise des republikanischen Modells verbunden war. Die neue Generation wandte sich der Phänomenologie zu und sah darin eine neue Grundlage für die Philosophie. Die deutsche Phänomenologie wurde oft durch junge Philosophen vermittelt, die aus Osteuropa stammten und sich in Deutschland aufgehalten hatten. Ein Beispiel dafür ist Georges Gurvitch. Am Ende der 1920er Jahre widmet er den neuen Tendenzen der Deutschen Philosophie eine Reihe von Aufsätzen, in denen Simmel nicht vorkommt. 44 Im Mittelpunkt steht die Phänomenologie. Die einzigen, die sich noch wirklich für Simmel interessieren, sind die Lebensphilosophen, die jedoch in der philosophischen Landschaft recht marginal sind. In Bernard Groethuysens Einführung in die deutsche Philosophie seit Nietzsche von 1926 wird Simmel ausführlich behandelt: Groethuysen war ein Simmel-Schüler und der Gefährte der Simmel-Übersetzerin Alex Gillain. 45 Er war jedoch im Verlag Gallimard tätig und nicht an der Universität. Seine Darstellung der zeitgenössischen Philosophie ist eindeutig lebensphilosophisch geprägt. Vier Philosophen werden im Buch vorgestellt (Nietzsche, Dilthey, Simmel und Husserl), und als der gemeinsame Nenner dieser Philosophien gilt die Kritik am Positivismus im Namen des Lebens. Vgl. ebd., 159–173. G. Gurvitch: Les Tendances actuelles de la philosophie allemande: E. Husserl, M. Scheler, E. Lask, N. Hartmann, M. Heidegger, préface de L. Brunschvicg. J. Vrin: Paris 1930. 45 B. Groethuysen: Introduction à la pensée philosophique allemande depuis Nietzsche. Stock: Paris 1926. 43 44
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Auch Jankélévitchs Darstellung von Simmels Philosophie in der Revue de Métaphysique et de Morale aus dem Jahre 1925 ist eindeutig lebensphilosophisch geprägt: Sie trägt den Titel Georg Simmel, philosophe de la vie und stellt eine Korrektur von Mamelets Darstellung von Simmel in derselben Zeitschrift dar, einer Darstellung, die unvollständig sei, weil sie das Spätwerk nicht berücksichtigen konnte. 46 Jankélévitch ist ein Anhänger von Bergson, dem er 1931 eine wichtige Monographie widmen wird. 47 Die Bergsoniens sind in dieser Phase die einzigen, die sich für Simmel interessieren. Sie werden aber immer weniger, weil sich die junge Generation allmählich von Bergson entfernt, der als ein bürgerlicher Philosoph gilt, der darüber hinaus im Ersten Weltkrieg dem Nationalismus anheimgefallen war. Laut Jankélévitch findet man bei Simmel durchaus eine positive Metaphysik des Lebens, die vom Einfluss der »Bergsonschen Romantik« (»romantisme bergsonien«) zeuge. 48 Das als Selbstranszendenz definierte Leben ist ein Absolutes jenseits der Trennung von Subjekt und Objekt. Jankélévitch verweist immer wieder auf Bergson und Guyau. Simmel nimmt aus seiner Sicht eine Zwischenstellung zwischen dem Krizitismus und dem Mobilismus des ›élan vital‹ ein. So kommt Jankélévitch im zweiten Teil des Textes auf die Frage des tragischen Charakters der Simmelschen Lebensphilosophie zu sprechen und erklärt, dass in der Tat zwei Auffassungen existieren: Bergson steht in der Tradition von Heraklit, während bei Simmel der Fluss des Lebens immer wieder unterbrochen wird, was damit zusammenhängt, das das Leben immer individuell ist. Simmel hat also zu Recht die Negation des Lebens im Leben selbst angesiedelt »La grande réforme de Simmel a consisté […] à intérioriser la négation de la vie«. 49 Simmel strebe also eine Synthese zwischen Leben und Idee an, er bewege sich in einem ›dritten Reich‹ zwischen Immanenz und Transzendenz. Jankélévitch charakterisiert am Ende seines Aufsatzes Simmels Denken als mobil, unruhig und nervös und verweist auf den abgeschlossenen Charakter der Tragödie der Kultur, die keine Ruhe
V. Jankélévitch: »Georg Simmel, philosophe de la vie«, in: Revue de Métaphysique et de Morale 32 (1925) 2, 213–257; ders.: »Georg Simmel, philosophe de la vie (suite et fin)«, in: Revue de Métaphysique et de Morale 32 (1925) 3, 373–386. 47 V. Jankélévitch: Bergson. Alcan: Paris 1931. 48 V. Jankélévitch: Georg Simmel, philosophe de la vie, 214. 49 V. Jankélévitch: Georg Simmel, philosophe de la vie (suite et fin), 380. 46
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oder Versöhnung zulässt. 50 Simmel sei kein Optimist, auch wenn er dem Leben vertraue. Jankélévitch konnte nicht wissen, dass diese Tragik des Lebens in Bergsons Spätwerk Les Deux sources de la morale et de la religion Eingang finden würde, denn in diesem Buch herrscht nicht mehr das optimistische Klima von L’Evolution créatrice. Das Leben hat nun ein doppeltes Gesicht: Die ›morale close‹ entspricht im Grunde auch einer Logik des Lebens, denn sie hat ihre Quelle im Instinkt: »Der Typus Gesellschaft, der als der natürlichere erscheinen wird, ist offenbar der instinktive Typus: Das Band, das sein Bienenvolk vereint, gleicht in viel höherem Maße dem Band, das die einander gleich- und untergeordneten Zellen eines Organismus zusammenhält«. 51 Das Leben ist nicht nur Offenheit und schöpferische Befreiung, sondern es hat auch eine defensive Tendenz zur mechanischen Erstarrung. Die kulturkritische Dimension von Simmels Denken wird also nun im Frankreich der Zwischenkriegszeit hörbar. Denn vor 1914 hatten weder Mamelet, noch die Durkheimiens noch die Bergsoniens die tragischen Aspekte der Simmelschen Kulturphilosophie wahrgenommen: Die Wörter ›tragique‹ oder ›tragédie‹ kommen in Mamelets Text überhaupt nicht vor, obwohl der Aufsatz »Der Begriff und die Tragödie der Kultur« bereits 1911 erschienen war. Die Simmelsche Vorstellung der Kultur hat eindeutig Spuren beim späten Bergson hinterlassen. Allerdings ist Scheler, dessen Ressentiment im Aufbau der Moralen übersetzt wird, 52 bei der jungen Generation erfolgreicher, weil Schelers lebensphilosophisch geprägte Kulturkritik auch eine phänomenologische Grundlage hat und eine radikale Kritik am Zivilisationsmodell des Liberalismus und Kapitalismus ermöglicht. Wenn man von Raymond Arons Buch von 1938 zur Kritischen Philosophie der Geschichte absieht 53 und von der (zweifelsohne wichtigen) Rezeption bei Julien Freund, die um die Thematik des Konfliktes kreist, 54 Vgl. ebd., 386. H. Bergson: Die beiden Quellen der Moral und der Religion, übers. von E. Lerch. Eugen Diederichs: Jena 1933, 21. 52 M. Scheler: L’Homme du ressentiment. Gallimard: Paris 1933. 53 R. Aron: Essai sur la théorie de l’histoire dans l’Allemagne contemporaine. La philosophie critique de l’histoire. J. Vrin: Paris 1938. 54 G. Simmel: Le conflit, trad. de l’allemand par S. Muller, préface de J. Freund. Circé: Paris 1995; vgl. zu dieser Rezeption S. Laurens: »Le Simmel de Freund. Sociologie d’une importation sélective«, in: D. Thouard und B. Zimmermann: Georg Simmel: Différenciation et réciprocité. CNRS Éditions: Paris 2017, 33–55. 50 51
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Olivier Agard
wird Simmel, so glaube ich, erst im Kontext der Post-Moderne wieder auf Interesse stoßen. Aber das ist ein ganz anderes Kapitel der Simmel-Rezeption.
Literatur Agathon (= Henri Massis und Alfred de Tarde): L’esprit de la nouvelle Sorbonne: la crise de la culture classique, la crise du français. Mercure de France: Paris 1911. Agathon (= Henri Massis und Alfred de Tarde): Les jeunes gens d’aujourd’hui: le goût de l’action, la foi patriotique, une renaissance catholique, le réalisme politique, Plon: Paris 1913. Aron, Raymond: Essai sur la théorie de l’histoire dans l’Allemagne contemporaine. La philosophie critique de l’histoire. J. Vrin: Paris 1938. Azouvi, François: La gloire de Bergson: essai sur le magistère philosophique. Gallimard: Paris 2007. Benrubi, Isaac: Philosophische Strömungen der Gegenwart in Frankreich. Meiner: Leipzig 1928. Bergson, Henri: Die beiden Quellen der Moral und der Religion, übers. von Eugen Lerch. Eugen Diederichs: Jena 1933. Berthelot, René: Un romantisme utilitaire; étude sur le mouvement pragmatiste, Bd. 1: Le Pragmatisme chez Nietzsche et chez Poincaré. F. Alcan: Paris 1911; Bd. 2: Le Pragmatisme chez Bergson. F. Alcan: Paris 1913; Bd. 3: Le Pragmatisme religieux chez William James et chez les catholiques modernistes. F. Alcan: Paris 1922. Bourgin, Joëlle: »Les échanges entre Émile Durkheim et Georg Simmel. Au tournant du siècle, un épisode méconnu de l’histoire de la sociologie«, in: Revue des sciences sociales de la France de l’Est 26 (1999), 159–165. Bouglé, Célestin: Leçons de sociologie sur l’évolution des valeurs. A. Colin: Paris 1922. Bouglé, Célestin [Rezension]: Joseph Wilbois: Devoir et durée. Essai de morale sociale, 1912, in: L’Année sociologique 12 (1909–1912), 322–326. Bouglé, Célestin: »Simmel«, in: Charles Andler, Victor Basch, J. Benrubi, Célestin Bouglé, Victor Delbos, Georges Dwelshauvers, Bernard Groethuysen, H. Norero: La Philosophie allemande au XIXe siècle. F. Alcan: Paris 1912, 189–203. Breton, Jean (= Célestin Bouglé): Notes d’un étudiant français en Allemagne. Lévy: Heidelberg/Berlin u. a. 1895, 133–136. Brunschvicg, Léon: Le progrès de la conscience dans la philosophie occidentale, Bd. 2. Alcan: Paris 1927. Compagnon, Antoine: Les antimodernes: de Joseph de Maistre à Roland Barthes. Gallimard: Paris 2005.
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Die erste Simmel-Rezeption in Frankreich 1894–1930 Delbos, Victor: »›Matière et mémoire‹ : essai sur la relation du corps à l’esprit, par Henri Bergson«, in: Revue de Métaphysique et de Morale 5 (1897) 3, 353– 389. Delbos, Victor: »Préface«, in: Albert Mamelet, Le relativisme philosophique chez Georg Simmel. F. Alcan: Paris 1914, I–VI. Durkheim, Émile: Journal sociologique. PUF: Paris 1969. Durkheim, Émile: Pragmatisme et sociologie: cours inédit prononcé à la Sorbonne en 1913–1914. J. Vrin: Paris 1955. Eucken, Rudolf: Le sens et la valeur de la vie. Alcan: Paris 1912. Eucken, Rudolf: Les grands courants de la pensée contemporaine. Alcan: Paris 1911. Feuerhahn, Wolf und Pascale Rabault-Feuerhahn (Hg.): La fabrique internationale de la science. Les congrès scientifiques de 1865 à 1945, in: Revue germanique internationale 12 (2010), 5–15. Fitzi, Gregor: Soziale Erfahrung und Lebensphilosophie: Georg Simmels Beziehung zu Henri Bergson. UVK-Verl.-Ges.: Konstanz 2002. Fournier, Marcel: Émile Durkheim: 1858–1917. Fayard: Paris 2007. Groethuysen, Bernard: Introduction à la pensée philosophique allemande depuis Nietzsche. Stock: Paris 1926. Gurvitch, Georges: Les Tendances actuelles de la philosophie allemande: E. Husserl, M. Scheler, E. Lask, N. Hartmann, M. Heidegger, préface de Léon Brunschvicg. J. Vrin: Paris 1930. Gülich, Christian: »Célestin Bouglé et Georg Simmel. Une correspondance franco-allemande en sociologie«, in: Mil neuf cent 8 (1990): Les correspondances dans la vie intellectuelle, 59–72. Herausgeber der Revue de métaphysique et de morale: »Introduction«, in: Revue de métaphysique et de morale 1 (1893) 1, 1–5. Jankélévitch, Vladimir: »Georg Simmel, philosophe de la vie«, in: Revue de Métaphysique et de Morale 32 (1925) 2, 213–257. Jankélévitch, Vladimir: »Georg Simmel, philosophe de la vie (suite et fin)«, in: Revue de Métaphysique et de Morale 32 (1925) 3, 373–386. Jankélévitch, Vladimir: Bergson. Alcan: Paris 1931. Laurens, Sylvain: »Le Simmel de Freund. Sociologie d’une importation sélective«, in: Denis Thouard und Bénédicte Zimmermann: Georg Simmel: Différenciation et réciprocité. CNRS Éditions: Paris 2017, 33–55. Léon, Xavier: Fichte et son temps, Bd. 1: Établissement et prédication de la doctrine de la liberté. La vie de Fichte jusqu’au départ d’Iéna: 1762–1799. A. Colin: Paris 1922; Bd. 2: Fichte à Berlin: 1799–1813. A. Colin: Paris 1927. Logue, William: »Sociologie et Politique: Le Libéralisme De Célestin Bouglé«, in: Revue Française De Sociologie 20 (1979) 1, 141–161. Marcel, Jean-Christophe (Hg.): Sociologues en politique. Autour de Célestin Bouglé, in: Les Études Sociales 165 (2017) 1. Mamelet, Albert: Le relativisme philosophique chez Georg Simmel, préface de Victor Delbos. F. Alcan: Paris 1914. Papilloud, Christian: »Simmel, Durkheim et Mauss. Naissance ratée de la sociologie européenne«, in: Revue du MAUSS 20 (2002) 2, 300–327. Paulhan, Frédéric: Le nouveau mysticisme. F. Alcan: Paris 1891.
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Olivier Agard Paulhan, Frédéric [Rezension]: Dominique Parodi: Le problème Moral et la Pensée contemporaine, 1910, in: Revue philosophique de la France et de l’étranger 35 (1910) 2, 292–297. Policar, Alain: Célestin Bouglé: justice et solidarité. Michalon: Paris 2009. Rammstedt, Otthein: »Les Relations entre Durkheim et Simmel dans le contexte de l’affaire Dreyfus«, in: L’Année Sociologique 48 (1998) 1, 139–162. Rol, Cécile: »Sur la psychologie sociale de l’hostilité, ou la dernière apparition de Georg Simmel sur la scène sociologique française«, in: L’Année sociologique 56 (2006) 1, 137–168. Scheler, Max: L’Homme du ressentiment. Gallimard: Paris 1933. Simmel, Georg: Gesamtausgabe, hg. von Otthein Rammstedt. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1989–2015 (= GSG). Simmel, Georg: »La différentiation sociale« [1894], in: GSG 19, 9–26. Simmel, Georg: »Le problème de la sociologie« [1894], in: GSG 19, 27–36. Simmel, Georg: »Sur quelques relations de la pensée théorique avec les intérêts pratiques« [1896], in: GSG 19, 46–65. Simmel, Georg: »Comment les formes sociales se maintiennent« [1898], in: GSG 19, 66–106. Simmel, Georg: »De la religion au point de vue de la théorie de la connaissance« [1903], in: GSG 19, 117–128. Simmel, Georg: »Quelques considérations sur la philosophie de l’histoire« [1909], in: GSG 19, 129–136. Simmel, Georg: Mélanges de philosophie relativiste: contribution à la culture philosophique, trad. de l’allemand par Alix Guillain. F. Alcan: Paris 1912. Simmel, Georg: Le conflit, trad. de l’allemand par Sybille Muller, préface de Julien Freund. Circé: Paris 1995. Spitz, Jean-Fabien: Le moment républicain en France. Gallimard: Paris 2005, 283–355. Vieillard-Baron, Jean-Louis: »Delbos et Bergson, un spiritualisme nouveau«, in: Revue philosophique de la France et de l’étranger 141 (2016) 3, 373–380. Worms, Frédéric und Caterina Zanfi (Hg.): L’Europe philosophique des congrès à la guerre, in: Revue de métaphysique et de morale 84 (2014) 4. Zanfi, Caterina: Bergson et la philosophie allemande: 1907–1932. Armand Colin: Paris 1913.
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Community and Society: Early Phenomenology’s Appropriation of Georg Simmel’s Social Philosophy Antonio Calcagno
Though Edmund Husserl and Georg Simmel only had a brief correspondence, 1 scholars working in both sociology and philosophy have posthumously recreated possible links between the two thinkers’ ideas, noting affinities and substantial differences concerning method and their respective ideas about history, life and form. 2 But the relations between Simmel and phenomenology must not be confined simply to a Husserlian framework bolstered by Simmel’s direct and indirect relation with Husserl and his ideas, and the recognised transmitter of Husserl’s phenomenology to sociology Alfred Schutz, who engaged with and referred to Simmel’s foundational studies on the social world. 3 One finds within the phenomenological movement a broader reception of Simmel beyond the aforementioned framework. Perusing the philosophical works of early phenomenology, one uncovers numerous references to Georg Simmel. From Max Scheler’s discussion of Simmel’s ideas on love 4 to Edith Stein’s discussion of society and the role of the imagination in the construction of the E. Husserl: Briefwechsel, in: id.: Husserliana, Vol. 6, ed. by E. Schuhmann and K. Schuhmann. Springer: Dordrecht 1994, 401–414. 2 Cf. for example: G. Backhaus: »Georg Simmel as an Eidetic Social Scientist«, in: Sociological Theory 16 (1998) 3, 260–281; G. Backhaus: »Simmel’s Philosophy of History and Its Relation to Phenomenology: Introduction«, in: Human Studies 26 (2003) 2, 203–208; G. Backhaus: »Husserlian Affinities in Simmel’s Later Philosophy of History: The 1918 Essay«, in: Human Studies 26 (2003) 2, 223–258; Á. Takács: »Intentionality and Objectification: Husserl and Simmel on the Cognitive and Social Conditions of Experience«, in: Philosophy and Society 25 (2014) 2, 42–55; E. Weik: »Goethe and the study of life: a comparison with Husserl and Simmel«, in: Continental Philosophy Review 50 (2017) 3, 335–357. 3 A. Schutz: The Phenomenology of the Social World [1932], transl. by G. Walsh. Northwestern University Press: Evanston IL 1967. 4 M. Scheler: The Nature of Sympathy [1913] and Formalism in Ethics and NonFormal Ethics of Value [1913/1916], transl. by M. Frings and R. L. Funk. Northwestern University Press: Evanston IL 1973, 489–490; M. Scheler: The Nature of Sympathy [1913], transl. by P. Heath. Routledge: New York NY 2017, 112–114. 1
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Antonio Calcagno
social 5 to Edmund Husserl’s engagement with Simmel’s and Wilhelm Dilthey’s notion of life and its relation to subjectivity, 6 the dialogue between Simmel and early phenomenology is as substantial as it is rich. The relation of Simmel’s thought to the broader early phenomenological movement remains largely unexplored. This paper seeks to broaden scholarship on this front by focusing on the relation between Simmel and Stein, mindful of the fact that more work needs to be done on Simmel’s relation to other early phenomenologists, including Max Scheler, Gerda Walther, Alexander Pfänder, Dietrich von Hildebrand, and Else Voigtländer. In many respects, Stein was the phenomenologist who most closely mined Simmel’s work in order to develop her own social ontology. And though she accepts some of his key insights about the socialities of the mass, society and community, which draw upon Ferdinand Tönnies’ original distinctions, 7 there are also significant points of divergence between the two thinkers that open up the possibility of further philosophical speculation. Here, I would like to focus on one such point of contention, namely, the relationship between the individual, and society and community. Though both Stein and Simmel defend the primacy of the individual in sociality, the two philosophers differ in fundamental ways. One important difference lies in how they conceive of the relationship between the within and the without, the interior and the exterior: whereas Simmel maintains the distinction between the inside and the outside as constitutive of sociality, Stein upholds the primacy of the interior, conscious sense of sociality, ultimately never really positing a constitutive outside, though she recognises that external forces may affect the lived experience of sociality, especially the most intimate form of sociality, namely, community. If we accept Simmel’s position, then a significant challenge arises for the very possibility of an eidetic or even transcendental phenomenology of sociality. I argue here that Simmel’s con5 E. Stein: On the Problem of Empathy [1917], transl. by W. Stein. ICS Publications: Washington D.C. 1989, 112; E. Stein: Philosophy of Psychology and the Humanities [1922], transl. by M. C. Baseheart and M. Sawicki. ICS Publications: Washington D.C. 2000, 286–288, 314. Cf. also E. Stein: Einführung in die Philosophie [1991] (Gesamtausgabe, Bd. 8), ed. by C. M. Wulf. Herder: Freiburg/Basel a.o. 2004, 170–176. 6 Cf. A. Staiti: Husserl’s Transcendental Phenomenology. Nature, Spirit, and Life. Cambridge University Press: Cambridge UK 2014, 52–82. 7 F. Tönnies: Community and Society [1887], transl. by C. P. Loomis. Dover: Mineola NY 2011.
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Community and Society: Early Phenomenology’s Appropriation
cept of a constitutive outside severely compromises the Steinian idea of an eidetic sociality of sense and, by implication, a Husserlian transcendental subjectivity and intersubjectivity: Simmel challenges the very possibility of a constituting pure I of consciousness or subjectivity, for, in his account, the I is deeply conditioned by the duality of inside/outside as well as a personality dependent on outside, social formations and factors.
I.
Phenomenology and Social Ontology
Edith Stein develops a systematic social ontology that starts with empathy and intersubjectivity and moves to broader forms of sociality, including the mass, society, community and the state. Stein draws on Husserl for her treatment of empathy and intersubjectivity and she turns to Simmel to help her lay out the foundations of her broader social ontology. 8 In her work on empathy and her Philosophy of Psychology and the Humanities, we find a dialogue with Simmel on the precise nature of the mass, society and community. 9 She fundamentally accepts the tri-partite division of sociality as developed by Tönnies and refined by Simmel and others. Stein acknowledges that other sciences like politics, history, sociology, and psychology have empirical and positivistic accounts of social realities, but she maintains that these analyses only capture certain aspects while ignoring more basic, foundational aspects, including the very understanding of the sense or meaning of the objective nature or essence of these phenomena. For Stein and phenomenology in general, our consciousness contributes to the very nature of social realities, that is, part of what it is to be social lies in our minds, indeed the fundamental part. Social phenomena require that all participants in them possess some kind of conscious understanding of their sense or meaning, otherwise such phenomena hold no value for human beings, as they are meaningless. Meaning or meaning-making form a constitutive art of social objectivities.
A. Calcagno: Lived Experience from the Inside Out: Social and Political Philosophy in Edith Stein. Duquesne University Press: Pittsburgh PA 2014. 9 Cf. E. Stein: On the Problem of Empathy, 112; E. Stein: Philosophy of Psychology and the Humanities, 224, 252, 284–288, 314. 8
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Antonio Calcagno
I cannot undertake here a full exposition of Stein’s social ontology, but I would like to focus on her understanding of the mass, society, and community. Stein argued that the mass is distinguished by a low-level consciousness in which individuals largely imitate one another without much reflection or awareness; members of the mass do not treat one another as objects and do not display any sign of a unified or collective understanding. 10 Following thinkers such as Scheler and Theodor Lipps, she described this state of mind as herdmentality or psychic contagion. For example, if a baby begins to cry, the sound of its crying may affect a larger group of babies, all of whom may begin to cry in tandem. In this case, the larger group of babies is taken to have been placid and content before they began to cry together as a group. Here, the babies are understood as imitating one another without being fully aware of the reason for their crying. Stein also gives the example of the power of suggestion as marking a kind of mass contagion: »If you wanted to designate Bolshevism today as an infectious disease of the psyche, then you’d mean (at least in general) that the ideas of Bolshevism transmit themselves like pathogenic agents from one individual to another and intrude upon him ›suggestively.‹ On the whole, the dominant interpretation of suggestion is that it primarily has to do with the ›implanting‹ of ›notions‹ whose particularity it is to possess a lively sensory intuitedness and ›to generate a strong push toward activation.‹« 11
Society is marked by higher awareness insofar as the individuals that constitute the society are aware of certain things. Unlike a community, a society is usually founded and does not naturally grow out of specific relationships. Living in general proximity with one another, individuals in a society bond with one another by working together toward an objective end or purpose. 12 For example, the members of a banking society work together to achieve the ends of the bank, namely, profit. The relationships between the members of a society are directed and guided by the particular purpose of the given society. Though one can form deeper, more personal bonds with other members of a society, these bonds are not necessary for the society to function or thrive. They can, however, help the members achieve the society’s purpose in a more pleasant, amiable, or even more produc10 11 12
E. Stein: Philosophy of Psychology and the Humanities, 112–120, 241. Ibid., 244. Cf. ibid., 255.
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Community and Society: Early Phenomenology’s Appropriation
tive fashion. 13 It should be noted here that Stein’s understanding of society is not as developed as Simmel’s, as she privileges community more than society as fundamental for phenomenology, politics, and human life. For Stein, the highest and most intense form of sociality is community. She devoted much of the second part of her Philosophy of Psychology and the Humanities to this phenomenon, and often returned to it in the rest of her philosophical corpus: it is a key aspect of her thought. She analysed community as an intense social bond in which one lives in the experience of another (ineinandergreifen) in solidarity. Community relations are deeply personal, for in them, one grasps the meaning of living in and with another’s life as persons. 14 Contra Scheler and Walther, Stein argued that the experience of community must never be understood as an experience of fusion or identification (Einsfühlung) in which one experiences the deep oneness of a we-experience. 15 She maintained that the central and foundational role of the I can never be absorbed by identification with the views of a community. In a community, an individual not only understands what the sense or meaning of the lived experience is in general, but also lives the experience of the group. Stein gives the example of the death of a beloved troop leader. 16 The members of the troop are deeply affected by sadness and loss at their leader’s death. She claims not only that one can understand their sadness in general as well as the sadness of the troop’s individual members through empathy, but also that one can understand and experience the collective sadness of the troop.17 There are three distinct forms of sadness that arise in this communal experience: sadness in general, the sadness of individual troop members, and the collective sadness of the group as a whole. Each of these forms is distinct and is experienced differently as it shifts from smaller to larger, more encompassing social configurations. As Stein observes, »The individual lives, feels, and acts as a member of the community, and insofar as he does that, the community lives, feels, and acts in him and through him. But when he becomes conscious of his experiencing or reflects
13 14 15 16 17
Cf. ibid., 257–259. Cf. ibid., 262. Cf. ibid., 135. Cf. ibid., 134. Cf. ibid.
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Antonio Calcagno
upon it, the community does not become conscious of what it experiences, but, rather, he becomes conscious of that which the community experiences in him«. 18
In order to be able to experience a lived experience of community (Gemeinschaftserlebnis), the lived-body, psyche, and spirit must work together; they help to make the lived experience possible. In a collective, communal experience, one cannot speak of a collective or super-individual body because the community is constituted by individuals. Yet in order for there to be an experience of community, there must be some capacity for sensation because it is this that will allow the communal experience to presentify in consciousness. 19 Our basic capacity for sensation and the fact that sensations or sensory impressions (Empfindnisse) can impress themselves upon us, both actively and passively, make us aware of certain affects, emotions or sensations, such as pleasure or pain. 20 The experience of the collective sadness of the troop requires us to be able to receive the news of the leader’s death and to be affected by it; here, we are aware of a psychic causality. But, according to Stein, as individuated egos, we are incapable of true fusion or identification with others. The material-bodily and psychic individuation of the person, it seems, makes collective affectivity impossible. Aware of the problem produced by her insistence on strong ego individuation, she argued that it is fantasy or the imagination that projects into consciousness what it is for us to experience certain embodied affects and emotions on a collective level. She offered the example of the collective understanding of fairy tales: here, an individual can experience the collective sadness of a group of characters. 21 As she observes, »Insofar as the fantasy experience is a mental doing, and insofar as it is sense-filled, it can in principle reach beyond individuality. All sense is basically commonly accessible. And where I go along creating sense, where sense is constituted for me, it’s available there not only for me but for others as well, (which is to say that the sense can be re-effectuated by them) – and co-operation of a plurality of individuals is possible there too. Thus, it is quite possible that fantasy patterns, [in terms of] […] sense, are correlative to a communal experience. But as soon as you go on [to] the intuitive fulfill-
18 19 20 21
Ibid., 140. Cf. ibid., 145. Cf. ibid., 151. Cf. ibid., 150.
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Community and Society: Early Phenomenology’s Appropriation
ment of such a sense content, a set of merely private intuitions takes the place of the communal experience.« 22
It should be remarked here that Simmel too, in his fascinating 1908 »Exkurs über die Soziologie der Sinne«, also discusses the importance of the role of the bodily senses to build up society. 23 Joachim Fischer notes that important senses like seeing and hearing help build up certain behaviours and aesthetic sensibilities in individuals, which society, in turn, may try to regulate or control. 24 Whereas Simmel socialises the senses and, therefore, the body, Stein (and phenomenology in general) presents the body as being primarily marked by inwardness and immanence, for it has it proper sphere of ownness [Eigenheitssphäre]. Like the ego, the body is profoundly marked by its individuation, understood not as single but also as metaphysically indivisible, especially by outside forces. In addition to an embodied capacity for sensation and affectivity through the power of the representative imagination, lived experiences of community are also made possible by the structures of rationality, motivation, and will. In order to rationally and intelligibly grasp a communal experience, we need to be able to synthesise the relation between parts and wholes. Husserlian categorial acts, which allow one to synthesise, categorise, order, and structure the content of consciousness, are fundamental for us to be able to distinguish the I from the community group as well as parts from the whole. 25 Drawing from what was said earlier about the interrelation between psyche, reason, and freedom, we can see the importance of motivation insofar as certain motivated acts allow certain values, which can mobilise and shape a community, to emerge. For example, a community may share certain convictions about what is beautiful or good in art or food, etc. 26 Such a shared communal value may help form the community’s ethical framework, and it can certainly motivate particular social and ethical acts. Finally, acts of free will 27 allow the community Cf. ibid., 151. Cf. G. Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung [1908]. Duncker & Humblot: Berlin 51968, 483–493. 24 J. Fischer: »Simmels ›Exkurs über die Soziologie der Sinne‹ – Zentraltext einer anthropologischen Soziologie«, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 27 (2002) 2, 6–13. 25 Cf. E. Stein: Philosophy of Psychology and the Humanities, 151. 26 Cf. ibid., 169 f. 27 Cf. ibid., 191–193. 22 23
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Antonio Calcagno
to express higher, spiritual realities such as communal choice. For example, the community of law-givers and law-followers that constitute the Steinian state may issue a fiat enacting a certain law in the interest of the community’s safety. The individual member can understand the law in general, what it is for another to understand the law, and what it is for the communal group to enact and obey such a law of protection. Stein’s account of super-individual reality, including community and society, explains the mental aspect of our social lives. She emphasises two important elements in her analysis. First, the mental life of social structures like community require a building of sense or meaning that can be transmitted to and collectively grasped by others. Second, the building up of sense requires that persons constitutive of various social relationships be embodied and possess both psyche and spirit. Body, psyche and spirit work together in a unified fashion to help build the layers of coherence of sense that make social life possible. To live through and grasp a particular sociality, be it the mass, society, or community, one must be able to presentify and constitute the sense of the sociality in consciousness. The pure I, in and through its intersubjective, personal relations, ultimately constitutes the sense of the sociality lived. Husserl, as he moves from his Logical Investigations to his Ideas, maintains that sense making itself requires a transcendental foundation in the form of a constituting transcendental subject that draws upon both passive synthesis and the constitution or sense-giving of noesis and noema. For both Stein and Husserl, the undeniable foundation of the pure I, understood as an absolute zero point of orientation, remain unconditioned, especially by the dynamic Simmel established between the within and the without, the internal and the external, of sociality.
II.
Simmel on the Inside and Outside of the Social
Though the thought of Georg Simmel has often been read by scholars as championing the individual, 28 especially within the struggles of
Cf. D. N. Levine: »Introduction«, in: G. Simmel: On Individuality and Social Forms. Selected Writings, ed. and transl. by D. N. Levine. University of Chicago Press: Chicago IL 1971, ix–lxv.
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modern technological life, 29 it would be a mistake to understand his idea of individuality as either falling exclusively within the tradition of the autonomous subject of Kantian philosophy or the subject of the pure I of phenomenology, nor is it the absolute subject of freedom and rationality of German Idealism. In fact, Simmel’s concept of the individual can be described as enmeshing the subject within a series of relations, for example, social, individual, and human, that render the individual neither possibly conditioned by various relationships nor exclusively determined by them. To speak in more modal terms, Simmel’s individual is marked simultaneously by possibility, determination, and negation. Like society and history, the individual unfolds over time, never displaying an absolute essence or complete subjectivation by social forces. Perusing Simmel’s writings on the individual, one immediately grasps his decisive attempt to reject the reduction of all subjective determination to one factor or cause. We know, for example, that the individual is in society, relates to it, and is formed by it, but the individual also lies outside of society. Simmel observes, »The ›within‹ and the ›without‹ between individual and society are not two unrelated definitions but define together the fully homogeneous position of man as a social animal. His existence, if we analyze its contents, is not only partly social and partly individual, but also belongs to the fundamental, decisive, and irreducible category of a unity which we cannot designate other than as the synthesis or simultaneity of two logically contradictory characterizations of man – the characterization which is based on his function as a member, as a product and content of society; and the opposing characterization which is based on his functions as an autonomous being, and which views his life from its own center and for its own sake. Society consists not only of beings that are partially non-sociated, as we saw earlier, but also of beings which, on the one hand, feel themselves to be complete social entities, and, on the other hand – and without thereby changing their content at all – complete personal entities. And we do not deal here with two unrelated, alternative standpoints such as we adopt, for instance, when we look at an object in regard to either its weight or its color; for we are dealing with two elements that together form the unit we call the social being, that is, with a synthetic category.« 30 Cf. G. Simmel: »The Metropolis and Mental Life« [1903], in: id.: The Sociology of Georg Simmel, ed. and transl. by K. H. Wolff. The Free Press: Glencoe IL 1950, 409– 424. 30 G. Simmel: »How is Society Possible?« [1908], in: id.: On Individuality and Social Forms. Selected Writings, ed. and transl. by D. N. Levine. University of Chicago Press: Chicago IL 1971, 6–22, here 17 f. 29
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The within and the without mentioned above are constituent structures that define both individuality and sociality. Given Simmel’s early conviction, stemming from his work on Kant, that the overcoming of both nature and history lies in human freedom and creativity of spirit, 31 it is logically consistent that Simmel posit a view of individuality that is open to possible determination, but never in any absolute or fixed sense. He is cognisant of the force of time and change. The within and the without of sociation sometimes stand in a minimal relation to one another, but they also deeply condition one another. This relation has the possibility of producing: (1.) an individual with a distinct personality that stands out from others in society; (2.) a strong, unified community in which individuality is minimised for the sake of or because of the community; (3.) the possibility of the human versus the social; (4.) a dyadic and triadic minimisation of social forces; (5.) the tragic fate of an individual who helps create culture, understood as the creative freedom and imagination of that very individual, who then becomes subject to the exigencies and expectations of the very objectified culture s/he helped create. Each of these significant moments of Simmel’s thought expresses the deep interplay between the within and the without of sociality. And it is this dynamic of the within and the without that phenomenological accounts of sociality, at least the more traditional eidetic and transcendental ones developed by Stein and Husserl, do not admit. As we shall see, this oversight on the part of phenomenology has serious consequences, including the vain possibility of a phenomenological pure, absolute I of subjectivity that cannot account for the vicissitudes of both nature and history. Before we turn to a phenomenological account of sociality, I would like to unpack briefly the five moments cited above. Simmel argues that the individual is the crucial building block of society. He remains hesitant about claims about a natural drive to sociality, a position that the phenomenologist Gerda Walther maintains, 32 nor does he endorse the phenomenological claims about the co-givenness of others and, by phenomenological extension, some form of origi31 Cf. G. Simmel: »How is History Possible?« [1905], in: id.: On Individuality and Social Forms. Selected Writings, ed. and transl. by D. N. Levine. University of Chicago Press: Chicago IL 1971, 3–5, here 4 f. 32 Cf. J. Mühl: »Human Beings as Social Beings: Gerda Walther’s Anthropological Approach«, in: A. Calcagno (Ed.): Gerda Walther’s Phenomenology of Sociality, Psychology, and Religion. Springer: Dordrecht 2018, 71–84.
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nary sociality either in the transcendental sense of Husserl’s Paarung 33 or in the eidetic view of a personal intersubjectivity or human community, as is the case for Stein. Simmel defends the view that an individual may thrive with minimal social interaction, and we find examples of this in his studies of eighteenth- and nineteenth-century sociality. 34 Concerning the first moment of the possibility of a unique personality, Simmel argues that a personality, understood as consisting of unique, irreplaceable qualities, can emerge over time. It struggles to distinguish itself over and against what lies outside of it, namely, society and various forms of political rule. He remarks, »Society is a structure composed of unequal elements. The ›equality‹ toward which democratic or socialistic efforts are directed – and which they partly attain – is actually an equivalence of people, functions, or positions. Equality in people is impossible because of their different natures, life contents, and destinies. On the other hand, the equality of everybody with everybody else in an enslaved mass, such as we find in the great oriental despotisms, applies only to certain specific aspects of existence – political or economic aspects, for example – never to the total personality. For innate qualities, personal relations, and decisive experiences inevitably make for some sort of uniqueness and irreplaceability in both the individual’s self-evaluation and his interactions with others.« 35
Furthermore, the less the without of society is homogenised, that is, the more differentiated society is, the greater the chance that an individual personality will develop. Simmel argues, »Personality is not a single immediate state, not a single quality or a single destiny, unique as this last may be; rather it is something that we sense beyond these singularities, something grown into consciousness out of their experienced reality. This is so even if this retroactively generated personality, as it were, is only the sign, the ratio cognoscendi of a more deeply unitary individuality that lies at the determinative root of the diverse singularities, an individuality that we cannot become aware of directly, but only as the gradual experience of these multiple contents and variations. As long as psychic stimulations, especially the stimulations of sensation, occur only in small number, the ego is fused with them and stays latently embedded in them; it rises above them only to the degree that, precisely via Cf. E. Husserl: Cartesian Meditations: An Introduction to Phenomenlogy [1931], transl. by D. Cairns. Springer: Dordrecht 1977, 90–100. 34 G. Simmel: »Individual and Society in Eighteenth- and Nineteenth-Century Views of Life. An Example of Philosophical Sociology« [1917], in: id.: The Sociology of Georg Simmel, ed. and transl. by K. H. Wolff. The Free Press: Glencoe IL 1950, 58–84. 35 G. Simmel: »How is Society Possible?«, 18 f. 33
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a fullness of dissimilarity, it becomes clear to our awareness that the ego itself is common to all this variation. This is just the same as when a general concept cannot be abstracted out of single phenomena if we are familiar with only one or a few of their elaborations, but only if we know very many of them; and its abstractness and purity are all the greater as dissimilarity contrasts more distinctly with the generality. Now this alternation of the contents of the ego, which is what actually first poses the ego to consciousness as the stable pole in the play of psychic phenomena, is extraordinarily livelier within a large circle than it is for life in a narrower group. Stimulations of sensation, which are especially important for subjective ego consciousness, occur most where a highly differentiated individual stands amid other highly differentiated individuals, and where comparisons, frictions, and specialized relations release a profusion of reactions that remain latent in a narrower undifferentiated circle, but which in the larger circle, by virtue of their abundance and diversity, elicit the sensation of the ego as that which is absolutely ›one’s own‹.« 36
A society, however, can severely limit individuation, which brings us to our second moment. In Simmel’s analysis of communities marked by intense social bonds, one finds that individuality is sacrificed for the collective. One lives for the community. Furthermore, in large metropolitan societies one finds that individuality is levelled down for the sake of other efficiencies and needs and/or desires. Yet a highly differentiated society may also give rise to personality. The within and without of society come to determine the individual and society in possible beneficial and deleterious ways. Simmel writes, »Surely no one can fail to recognize that the style of modern life – precisely because of its mass character, its rushing diversity, its unboundable equalization of countless previously conserved idiosyncrasies – has led to unprecedented levelings of the personality form of life. But neither should one fail to recognize the countertendencies, much as these may be diverted and paralyzed in the joint effect that ultimately appears. Life in a wider circle and interaction with it develop, in and of themselves, more consciousness of personality than arises in a narrower circle; this is so above all because it is precisely through the alternation of sensations, thoughts, and activities that personality documents itself. The more uniformly and unwaveringly life progresses, and the less the extremes of sensate experience depart from an average level, the less strongly does the sensation of personality arise; but
G. Simmel: »Group Expansion and the Development of Individuality« [1908], in: id.: On Individuality and Social Forms. Selected Writings, ed. and transl. by D. N. Levine. University of Chicago Press: Chicago IL 1971, 251–293, here 291 f.
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the farther apart they stretch, and the more energetically they erupt, the more intensely does a human being sense himself as a personality.« 37
The third moment mentioned focuses on the distinction between the human and social. Simmel is deeply aware of Marxist and other sociological claims that privilege the conditioning and determining force of society. In such views, the individual is shaped from without by prevailing economic, historical and other material forces. Individuality may be flattened. But Simmel maintains a distinction between the human and the social. There are shared human qualities that lie outside of the social, ultimately resting within the realm of individual ethical possibility, for example, kindness, beauty and depth of thought. Though these values may be individual in form, they may also come to wider expression in humanity, as values of human existence. Simmel has in mind here certain virtues or human values that come to express themselves even in the strongest forms of external subjectivation. 38 Simmel’s discussion of the dyad and triad, the fourth moment listed above, also displays the working of the within and the without. Within a dyadic relation, the social bond may be intense. An intimacy develops between the members of the dyad, which may be classified as a community of solidarity. But the moment a third is introduced into the dyad, the intensity of the social bond may weaken. What lies outside the dyad reconfigures its very sociality. In an intense dyadic community, Simmel notes, individuality is very weak. But in differentiated societies, the outside force of the triadic structure comes to
Ibid., 290 f. Simmel notes, »Society is but one of the forms in which mankind shapes the contents of its life, but it is neither essential to all forms nor is it the only one in which human development is realized. All purely objective realms in which we are involved in whatever way logical cognition or metaphysical imagination, the beauty of life or its image in the sovereignty of art, the realms of religion or of nature – none of these, to the extent to which they become our intimate possessions, has intrinsically and essentially anything whatever to do with ›society‹. The human values that are measured by our greater or smaller stakes in these ideal realms have a merely accidental relation to social values, however often they intersect with them. On the other hand, purely personal qualities strength, beauty, depth of thought, greatness of conviction, kindness, nobility of character, courage, purity of heart have their autonomous significance which likewise is entirely independent of their social entanglements. They are values of human existence.« (G. Simmel: »Individual and Society in Eighteenthand Nineteenth-Century View of Life (An Example of Philosophical Sociology)«, 62).
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condition previously intense and intimate social relations. Simmel observes, »That a third thus added to the two persons of a group interrupts the most intimate feeling, is significant for the more delicate structure of the groupings of two; and it is valid in principle that even marriage, as soon as it has led to a child, is sometimes undermined. It is worthwhile substantiating this with a few words in order to characterize the affiliation of two members.« 39
We come now to the fifth and last moment or example of the structuring force of the within and the without, namely, the tragedy of culture. 40 One of Simmel’s most moving and powerful reflections, the tragedy of culture consists of dialectic that firmly places the human being between freedom and constraint: the tragedy of culture fates the human being to be in an in-between (the xu of Plato) space, the in-between of the within and the without. An individual personality, in her creative freedom and imagination, produces certain objects, be it in literature, art, philosophy, religion and/or politics. The cultural object produced is taken up by society and communicated and further objectified. Societal objectification of a cultural object, in turn, may usher in new collective standards, expectations or rules, which bend back to structure the freedom and personality of the individual who first brought forth the object of culture. Societal cultural objectification, which lies outside the realm of the free spontaneous individual, comes to eventually determine the interior (the within) of the individual creative personality, both good and bad, it should be added. For Simmel, one can never escape, hence the tragedy, this dialectic of subjective and objective culture. Simmel writes that the evolution of culture places the subject outside of itself. Each individual can bring her/his contribution to the reserve of objective cultural content without worrying about the world of all the other contributors: this reserve acquires a certain colouration in a cultural epoch, and from its interior, a qualitative limit as well. Yet at the same time, it never acquires a quantitative limit. 41 Indeed, an epoch can be marked inG. Simmel: Sociology: Inquiries into the Construction of Social Forms [1908], Vol. 1, ed. and transl. by A. J. Blasi, A. K. Jacobs and M. Kanjirathinkal. Brill: Leiden 2009, 103. 40 Cf. G. Simmel: »The Concept and Tragedy of Culture« [1911], transl. by M. Ritter and D. Frisby, in: id.: Simmel on Culture, ed. by D. Frisby and M. Featherstone. Sage: London, Thousand Oaks CA a.o. 1997, 55–75. 41 Cf. ibid., 64–66. 39
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wardly by societal cultural production, both quantitatively and qualitatively. The five moments expressing the within and without constitutive of both social and individual life demonstrate how Simmel conceived of sociality, not only as they subjectivate and determine individuals but also how they make possible the growth and rise of free, creative acts in individuals that, in turn, may affect society. One can see in Simmel a reluctance to accept the modern predilection for a foundational autonomous subject, favouring a more dynamic model of subjectivity or individuality that becomes in and through the playing out of a constitutive structure of relationality marked by a within and a without, an inside and an outside. His view ultimately challenges the early Steinian phenomenological view, even though it claims to draw on Simmelian forms of sociality.
III. Philosophical Implications If we accept Simmel’s analysis, and I think he has shown the validity of his arguments in the five moments discussed above, can we rightly claim that there is some absolute ego of consciousness that resists being affected by the within and the without of sociality, the pure ego of phenomenology? If anything, the purity and absoluteness of the constituting phenomenological ego is called into doubt. The ego can certainly be shaped and formed by its relations within and without various multiplex forms of sociality, but this does not mean that its knowledge of these relationships is somehow compromised or impure. In fact, what allows an individual to grasp the nature of social relationships is precisely the outside, which contrasts and differs from the inside of particular social bonds. The playing out of inside and outside places the ego in different positions and shows forth different perspectives that are lived and grasped by individuals, communities and societies. Perhaps Simmel’s understanding of the relation between individual and community/society as being by a marked flow between an inside and an outside concomitant with his idea of the possibility of a strong personality emerging in a collective culture could be used to thicken the understanding of the important Stellungnahme (literally, the taking of a position or stance) that launches all phenomenological investigation and helps us prepare the field for the manifestation of 433 https://doi.org/10.5771/9783495824009 .
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the work of the pure ego. The position we need to take to begin any phenomenological investigation may be influenced by the intensity or weakness of the relation between society and the individual, the inside and the outside. A phenomenological investigation then becomes conditioned by this kind of relation, which seems a reasonable thing to assume, given that all philosophical speculation and research is conditioned by historical and material circumstances. Moreover, if Simmel is correct, then the purity and the absoluteness of the phenomenological ego must be abandoned; rather, what we have is a phenomenological ego that is constituted by taking a certain intentional stance in consciousness vis-à-vis the contents of consciousness. This ego is capable of following the lived experience of conscious content while concomitantly acquiring objective insights into the content’s manifest essence. The supposed irreducibility and absoluteness of the pure ego, understood as a kind of condition for the possibility of conscious experience arising, is not necessary. The force of the objectivities that thrust themselves upon our own consciousness is sufficient enough to awaken our inside, phenomenological stance to what objectively calls from the outside. A second and more important philosophical implication of Simmel’s position comes to bear on the precise nature of individuality. Is there a part of our individuality that resists social structuration and formation? As we saw above, for Stein and Husserl, the pure I is what is shared universally and is irreducibly present. This does not exist for Simmel. But both Simmel and Stein maintain that a personality helps individuate a person and is present in persons ab initio, though the former has a less essentialistic and more socially structured view of personality than the latter. Nonetheless, both philosophers maintain that personality is a basic structure of individuality. Simmel creates a space within a culture for the manifestation of an individual personality, but this personality merges in conjunction with the deep structure of a culture, its restrictions, intensities of social bonds, the qualities of its specific culture. Though Stein admits that a culture can influence a culture and vice versa, there is a personal core (Persönlichkeitskern) that is constitutive of every individual. 42 This core is so highly individuated that it can never be absorbed by any super individual reality, as we saw above: the individual truly remains singular and indivisible at its core, which means that it possesses an inner 42
Cf. E. Stein: Philosophy of Psychology and the Humanities, 313, 281, 294.
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realm or some part of its interiority that can resist the outside, something which Simmel’s social theory would resist. He sees a porous and mutually influencing relation between society and the individual, the inside and the outside. If one examines Stein’s later, post-phenomenological thinking one finds a highly developed discussion of an interiority that is deeply intimate and eternal, a place where God and humans can engage one another. What lies within us and what can resist the outside for the phenomenologists is the pure, rational, subjectively individuated I, the I of reason, phenomenologically reduced. Stein’s commitment to this view of the I places her squarely within the Enlightenment, whereas Simmel may be read as a post-Enlightenment thinker, who accepts rationality and the life of spirit, but is mindful not to purify and essentialise it. Sadly, history has shown what can happen to the ego with the purity of reason, especially if we take into account the views of thinkers like Adorno, Horkheimer, and Viktor Frankl on the barbarism of reason. Ultimately, what Simmel challenges phenomenology to do is to be mindful of the historical social forces that have structured the very possibility of its own philosophical project. The search for a foundation, the ground of the pure I and the possibility of a completely rational, scientific individual and practitioner, must be abandoned, making way for a deeply social and historical understanding of reason and individuality.
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Aura und Nervosität Gérard Raulet
Die ausdrücklichen Bezüge Benjamins auf Simmel sind zahlreich, aber vereinzelt. 1 Im Verzeichnis der von ihm gelesenen Bücher erwähnt Benjamin zwei Schriften: »Das Problem der historischen Zeit« und »Die Mode«. 2 Damit ist schon eindeutig umrissen, in welcher Spannung die Beschäftigung mit Simmel sich allgemein abspielt. Das aber ist bekannt. Ausgerechnet die Seiten, die der Zeit des Studiums, zwischen 1912 und 1916, und vermutlich der Lektüre von Simmel entsprechen, sind leider verloren. Wenn aber aus der Sekundärliteratur geschlossen werden kann, dass die Verwandtschaft zwischen Benjamin und Simmel auf mehr beruht als auf Äußerlichkeiten des Stils oder der Themenwahl, neigen jetzt die gründlichsten neueren Publikationen 3 dazu, den Unterschied zu bestätigen, den die Zeitgenossen – in erster Linie Bloch und Adorno – sofort herausgestellt hatten und aufgrund dessen sie im Gegensatz zu einer inzwischen unübersichtlich gewordenen geschwätzigen essayistischen Literatur Denkparadigmata einander entgegenstellten und aneinander prüften. Belegt ist unter anderem, dass Benjamin Simmels Goethe (1913) schon zur Zeit der Abfassung seines Wahrverwandtschaften-Essays gelesen hatte. Hinzu kommt später, neben vielen Exzerpten im Passagenwerk, vor allem die vereinzelte Stelle im Baudelaire-Buch, die Adorno aufgreift, um Benjamins »Simmelschen« Denkstil zu kritisieren, und im Essay über die Baudelaireschen Motive ein längeres Zitat aus der Soziologie von 1908, das er einer französischen Übersetzung von Schriften Simmels unter dem Titel Mélanges de philosophie relativiste entnimmt. Einen Überblick über die Belege und Spuren von Benjamins ununterbrochener Beschäftigung mit Simmel gibt M. Mičko im ersten Kapitel seiner Studie Walter Benjamin und Georg Simmel. Harrassowitz: Wiesbaden 2010, 23–50. 2 W. Benjamin: Verzeichnis der gelesenen Schriften, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. von R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser, unter Mitwirkung von T. W. Adorno und G. Scholem. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1972–1999 (im Folgenden GS), Bd. 7– 1, 437–476. 3 Namentlich die schon erwähnte und sehr ausführliche Arbeit von M. Mičko: Walter Benjamin und Georg Simmel. 1
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Gérard Raulet
Dass sich Benjamin bezüglich seiner Schuld gegenüber Simmel so diskret verhält, mag damit zu tun haben, dass er im Kreuzfeuer dieses epistemologischen Umbruchs stand, zu dem er erst im Begriff war, beizutragen. Um diesen Komplex zu illustrieren, braucht man nur auf die Stelle im Baudelaire-Buch zu verweisen, die Adorno aufgreift, um in einem Brief an Benjamin vom 10. November 1938 die drei Fragmente, die Benjamin ihm geschickt hat (Die Bohème, Der Flaneur, Die Moderne) einer unerbittlichen Kritik zu unterziehen und den einzigen ausdrücklichen Bezug Benjamins auf Simmel zum Anlass zu nehmen, um Simmels und Benjamins Denkweise als »impressionistisch« anzuprangern: »Panorama und Spur, Flaneur und Passagen, Moderne und Immergleiches ohne theoretische Interpretation – ist das ein Material, das geduldig auf Deutung warten kann?« 4 Adorno tadelt den Mangel an dialektischer Vermittlung der phänomenologisch dargelegten Beobachtungen mit dem »Gesamtprozess«, ja die Ersetzung der Dialektik durch Physiognomik. 5 Implizit bezweifelt er, dass Simmels Reflexionen und umso mehr noch Benjamins Denkweise eigentlich zur Soziologie gehören. Sie stellen vielmehr eine Art von Kulturphilosophie dar, die in Form einer Phänomenologie der Moderne durchgeführt wird. 6 Sobald nun Adorno Benjamin aus diesem Grund angreift, nimmt Bloch ihn in Schutz. Er hatte ja selber Benjamins Nähe zu Simmel in seiner Rezension von T. W. Adorno an W. Benjamin: Brief vom 10. November 1938, in: T. W. Adorno und W. Benjamin: Briefwechsel 1928–1940, hg. von H. Lonitz. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1994, 364–374, hier 365. 5 Etwa an folgender Stelle: »Fürchten Sie nicht, ich möchte etwa dem das Wort reden, daß in ihrer Arbeit die Phantasmagorie unvermittelt überlebe oder daß die Arbeit gar selber phantasmagorischen Charakter annehme. Aber die Liquidation kann in ihrer wahren Tiefe nur dann gelingen, wenn die Phantasmagorie als objektiv geschichtsphilosophische Kategorie und nicht als ›Ansicht‹ von Sozialcharakteren geleistet wird. […] Ihre Solidarität mit dem Institut, über die keiner froher sein kann, als ich es bin, hat Sie dazu bewogen, dem Marxismus Tribute zu zollen, die weder diesem noch Ihnen recht anschlagen. Dem Marxismus nicht, da die Vermittlung durch den gesellschaftlichen Gesamtprozeß ausfällt und der materiellen Enumeration abergläubisch fast eine Macht der Erhellung zugeschrieben wird, die niemals dem pragmatischen Hinweis sondern allein der theoretischen Konstruktion vorbehalten ist.« (Ebd., 366, 369) 6 Vgl. E. S. Goodstein: »Phänomenologie der Kultur und der Paradigmenwechsel in den Geisteswissenschaften«, in: W. Geßner und R. Kramme (Hg.): Aspekte der Geldkultur. Neue Beiträge zu Georg Simmels Philosophie des Geldes. Scriptum: Magdeburg 2002, 29–62. 4
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Aura und Nervosität
Einbahnstraße positiv hervorgehoben. 7 In seinem langen Schreiben vom 18. Dezember 1934 weist Bloch darauf hin, dass »ich die Anzeige der Einbahnstraße schon 1929 geschrieben, Ihnen vor Druck vorgelegt habe; eine Katastrophe ergab sich damals nicht«. 8 Dieser Brief enthält einen doppelten Seitenhieb auf Adorno, der »wegen des Absatzes ad Einbahnstraße eine mit Feindschaft endende Entfremdung« prophezeit hatte, weil er – so schreibt Bloch – völlig verkenne, was die geistige Verwandtschaft zwischen Benjamin und ihm ausmacht: nämlich ihre gemeinsame hohe Schätzung von Simmels impressionistischem Stil, von seinem Sinn fürs Nebensächliche, Kleine und Unscheinbare. Bloch schreibt: »Wie fern mir Wiesengrund Ihrem Gefühlsleben in dieser Sache zu stehen scheint, dafür ist übrigens ein Satz in seinem Brief ein Zeuge besonderer Art. Er bezeichnet es als besondere, ja ganz unerhörte Kränkung Ihrer, daß ich die Einbahnstraße in einigem Zusammenhang mit Simmel genannt habe (Lockerung des systematischen Zusammenhangs betreffend). Nun mag Wiesengrund (sonst ein Freund der Impressionisten, bis zum letzten empiriokritizistischen Pinscher herab) von Simmel halten, was er will: ich erinnere mich bestens, daß Sie wie ich eine größere Unangemessenheit sich denken können, als mit diesem Mann auf einer Seite (und in wie losem Zusammenhang) genannt zu werden.« 9
Über diese Verstärkung hat sich Benjamin nicht wirklich gefreut, aber er scheint noch mehr an der Bezeichnung seiner Denkart als »surrealistisch« Anstoß genommen zu haben 10 als an der Verbindung mit Simmel, zu welcher er sich nicht ausdrücklich – weder negativ noch positiv – geäußert hat. Das ist merkwürdig genug. Man kann nicht ausschließen, dass zunächst Blochs ambivalentes Lob, dann Adornos 7 Vgl. E. Bloch: »Revueform in der Philosophie«, in: Vossische Zeitung, 1. August 1928. 8 E. Bloch an W. Benjamin: Brief vom 18. Dezember 1934, in: E. Bloch: Briefe 1903– 1975, Bd. 2, hg. von K. Bloch, J. R. Bloch, B. Schmidt, A. Frommann, H. Gekle und I. Jens. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1985, 658–659, hier 658. 9 Ebd. 10 Dafür gibt es leicht nachzuvollziehende Gründe: Er war seit seinem Surrealismusaufsatz von 1929 bemüht, seine Einschätzung der surrealistischen Bewegung und die Erwartungen, die er in sie gelegt hatte, gründlich zu revidieren. Gerade in den Aufsätzen des Jahres 1934 zieht er unter diese Hoffnungen einen Schlussstrich – wenn er auch den weiteren Werdegang der Bewegung, von Breton und Bataille weiterverfolgt. Ihr stellt er aber die Frage, die nun für ihn im Vordergrund steht: die Frage nach ihrer Fähigkeit, eine Widerstandsstrategie gegen den Faschismus zu begründen. Also mag er die Einreihung in den Surrealismus desto ungerechter empfunden haben.
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harter Angriff ein Problem berührt haben, dessen sich Benjamin voll bewusst war und das Bloch auf etwas brutale Weise in dem barock konstruierten Sammelband Erbschaft dieser Zeit zum Ausdruck gebracht hat: Das neuere soziologische Denken muss es mit Erfahrungs- bzw. Erlebnisformen aufnehmen, denen weder die empirische Denkart noch das herkömmlich marxistische Raster gerecht begegnen können. Bei aller Berücksichtigung der »Zerstreuung« neigt Bloch selbst in Erbschaft dieser Zeit eher dazu, die Spannung vorschnell durch die fast mechanistische Anwendung des dialektischen Modells von »Montage unmittelbar, Montage mittelbar« auflösen zu wollen. Jedenfalls lässt er nun die Notwendigkeit eines neuen Herangehens an die gesellschaftlichen und kulturellen Phänomene gelten, obwohl er vorher – wiederum einer etablierten Legende entgegen – von Simmel nicht viel hielt, wie aus dem Briefwechsel eindeutig hervorgeht. Aus Blochs Stellungnahme über Benjamin und aus Adornos Stellungnahme geht jedenfalls eindeutig hervor, dass beide einen Mangel an Dialektik kritisieren. Simmel ist dabei keineswegs eine positive Bezugsfigur, sondern nur die negative Folie, die zur Abgrenzung dient. Diese Zweifel scheint Benjamin ernst genommen zu haben. Sie haben ihn aber nicht daran gehindert, in seinem zweiten Essay über Baudelaire dasselbe Zitat aus Simmels Soziologie an exponierter Stelle wiederaufzunehmen und im Briefwechsel mit Adorno 1939 daran festzuhalten. 11 Seine Antwort ist in dem Brief vom 9. Dezember 1938 an Adorno enthalten. Adornos Kommentar habe ihm »einen Stoß versetzt«, ja der Boden drohe ihm »unter den Füßen wegzusinken«. 12 In einem grundsätzlichen Punkt seien sie sich doch einig – »Gottseidank gibt es da einen Ast, an den ich mich klammern kann, und er scheint mir aus gutem Holz« – und das ist die Theorie des Warenfetischismus, mit dem freilich nicht zu unterschätzenden Unterschied (den Benjamin als »fruchtbare Spannung« verstanden wissen will), dass Adorno den Akzent auf den »Konsum des Tauschwerts« lege, während er eher von der »Einfühlung in die Warenseele« Vgl. W. Benjamin an T. W. Adorno: Brief vom 23. Februar 1939, in: T. W. Adorno und W. Benjamin: Briefwechsel 1928–1940, 402–407, hier 405 und W. Benjamin an T. W. Adorno: Brief vom 6. August 1939, in: T. W. Adorno und W. Benjamin: Briefwechsel 1928–1940, 411–413, hier 412. 12 W. Benjamin an T. W. Adorno: Brief vom 9. Dezember 1938, in: W. Benjamin: Gesammelte Briefe, Bd. VI: 1938–1940, hg. von C. Gödde und H. Lonitz. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 2000, 181–191, hier 181 f. 11
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spreche. An keiner anderen Stelle hat sich Benjamin so entschieden auf den Kern der marxistischen Lehre bezogen und zugleich verweigert, das »Simmelsche Moment« seines Denkens zu widerrufen. Er verteidigt es als »eine asketische Disziplin« und »eine methodische Vorkehrung«. »Wenn Sie von einer ›staunenden Darstellung der Faktizität‹ sprechen«, erwidert er, »so charakterisieren Sie die echt philologische Haltung. […] Das Verwundern, so schreiben Sie in Ihrem Kierkegaard, meldet ›die tiefste Einsicht über das Verhältnis von Dialektik, Mythos und Bild an‹. Es könnte mir vielleicht nahe liegen, auf diese Stelle mich zu berufen.« 13 Im Mittelpunkt der Antwort steht die Interpretation des Flaneurs, die ich auch im Folgenden zum Angelpunkt meiner Darstellung machen werde. 14 Damit verbindet er »die Kritik des Begriffs der Masse, wie die moderne Großstadt sie sinnfällig macht« – ich werde sie auch ernst nehmen, vor allem weil er betont, dass »an ihrem Ende Hugo, nicht Baudelaire« steht. 15 Es geht um eine tiefgreifende Veränderung des Wesens der Menge und ihrer Bedeutung als Schlüssel zur richtigen Bewertung der »Moderne«. Diese Veränderung spielt im Verhältnis Benjamins zu Simmels Prämissen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Und es ist auch nicht zu unterschätzen, dass das Ende des Briefes sich auf die Einschätzung des Jazz und des Films bezieht: eine Bewertung der neuen ästhetischen Ausdrucksformen, bei der Benjamin sich als technisch, wenn auch nicht ästhetisch vorbehaltloser Befürworter der neuen ästhetischen Produktivkräfte erweist. Wenn man also nicht auf der Oberfläche bleibt, sind die Beziehungen Benjamins zu Simmel – verbunden mit seiner äußersten Diskretion darüber – eher ein Problem (ein epistemologisches und ein politisches) als eine Fundgrube, aus der man unendlich schöpfen kann, um »Verwandtschaften« darzustellen. Obwohl dieser Ansatz nicht absolut bahnbrechend ist, möchte ich hier diesem epistemologischen und politischen Problem nachgehen und zu diesem Zweck von dem Komplex ausgehen, der immer wieder der Begründung der VerEbd., 184. »Darum löst diese Theorie des Flaneurs – auf deren Verbesserungsfähigkeit in einzelnen Punkten ich weiter unten zu sprechen komme – im wesentlichen das ein, was mir seit langen Jahren als eine Darstellung des Flaneurs vorgeschwebt hat.« (Ebd., 183) »Den Schwerpunkt einer solchen Veröffentlichung [des Essays in der Zeitschrift für Sozialforschung] würde ich in der Theorie des Flaneurs erblicken, die ich als einen integrierenden Teil des ›Baudelaire‹ ansehe« (ebd., 187). 15 Ebd. 13 14
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wandtschaften unterstellt wird: der Wahrnehmung und Verarbeitung des Erfahrungswandels, den beide Autoren als »Moderne« bezeichnen. Um im Rahmen eines Beitrags diese ganze Fragestellung nicht wieder aufrollen zu müssen, gehe ich von einem Gegensatz aus, der sie meines Erachtens zusammenfasst: Aura und Nervosität.
I. Entgegen einem verbreiteten Gemeinplatz besteht der Gegensatz zwischen Benjamin und Simmel nicht in der Bejahung des technischen Fortschritts beim ersteren und dessen Verwerfung beim letzteren. Die Großstadt ist für Simmel ein Ort des Tempos und der Vielfalt wirtschaftlicher und kultureller Verhältnisse. Er interessiert sich für die Frage, wie die Menschen mit diesen Herausforderungen umgehen, in einer Weise, die im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen keineswegs negativ konnotiert ist. Infolge der Lösung von traditionellen Bindungen erweitern sich für ihn im großstädtischen Kontext die Handlungsspielräume der Menschen. »Es scheint, als ob der moderne Mensch für die Einseitigkeit und Einförmigkeit seiner arbeitsteiligen Leistung sich nach der Seite des Aufnehmens und Genießens hin durch die wachsende Zusammendrängung heterogener Eindrücke, durch immer rascheren und bunteren Wechsel der Erregungen entschädigen wolle.« 16
Ebenso wenig kann man Benjamin irgendeine Sehnsucht nach einem vergangenen auratischen Alter unterstellen, wiewohl dieses in seinen frühen Abhandlungen über die Sprache, aber mit einem »transzendentalen« Status grundlegend ist. In dem Essay über »Die Aufgabe des Übersetzers« heißt es: »[W]enn der Sinn eines Sprachgebildes identisch gesetzt werden darf mit dem seiner Mitteilung, so bleibt ihm ganz nah und doch unendlich fern, unter ihm verborgen oder deutlicher, durch ihn gebrochen oder machtvoller über alle Mitteilung hinaus ein Letztes, Entscheidendes. Es bleibt in aller Sprache und ihren Gebilden außer dem Mitteilbaren ein Nicht-Mitteilbares, ein, je nach dem Zusammenhang, in dem es angetroffen wird, Symbolisierendes oder Symbolisiertes.« 17 G. Simmel: »Berliner Gewerbe-Ausstellung«, in: Die Zeit, 25. Juli 1896, 59–60, hier 59. 17 W. Benjamin: »Die Aufgabe des Übersetzers« [1921], in: GS 4–1, 9–21, hier 19. 16
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Der Gegensatz zwischen einem auratischen und einem post-auratischen Zeitalter hat vor allem idealtypischen Wert. Er hat seinen Schwerpunkt in der Deutung der jeweils gegenwärtigen Erfahrung, oder eben des Erfahrungsverlusts. Zwar meidet Benjamin insgesamt die lebensphilosophische Inspiration von Simmels Denken, aber dessen grundlegender Dualismus bleibt wirksam im Gegensatz der Aura zur Erstarrung der Formen: Die Aura stellt sich der Verdinglichung als ein Hauch von Leben und Seele entgegen, der gegen ihre verdinglichte Erscheinung eine darüber hinausweisende potenzielle symbolische Bedeutung aufrechterhält. In den zwischenmenschlichen Verhältnissen ermöglicht die Aura nicht bloß eine Distanzierung, die die Welt und die Anderen schlechtweg erträglich macht. Ihre Wirkung geht weit darüber hinaus, indem sie die Naturgeschichte sozialisiert und als Schaltstelle fungiert zwischen einer unzufriedenen Kultur und einer Natur, die aus diesem Grund zu einem naturwüchsigen Mythos zu werden droht. Diese Vermittlungsfunktion kann sehr verschiedene Formen annehmen, eine davon wird im Essay »Über einige Motive bei Baudelaire« folgendermaßen beschrieben: »Die Erfahrung der Aura beruht also auf der Übertragung einer in der menschlichen Gesellschaft geläufigen Reaktionsform auf das Verhältnis des Unbelebten oder der Natur zum Menschen. Der Angesehene oder angesehen sich Glaubende schlägt den Blick auf. Die Aura einer Erscheinung erfahren, heißt, sie mit dem Vermögen belehnen, den Blick aufzuschlagen.« 18
Hier wird also die Naturgeschichte wieder zur menschlichen Geschichte, das Erstarrte und Leblose wird menschlich gerettet – wie sensibel die so wiederhergestellte Beziehung auch sein mag. 19 Nichtsdestoweniger besteht kein Zweifel darüber, dass Benjamin den Verlust der Aura keineswegs durch die Wiederherstellung einer Distanz überwinden, sondern eben viel eher durch die Bewältigung der Chocks überbieten will. Die Ästhetik des Chocks, die er unter anderem im Kunstwerkaufsatz entwirft, soll verstanden werden als W. Benjamin: »Über einige Motive bei Baudelaire« [1939], in: GS 1–2, 605–653, hier 646 f. 19 Selbstverständlich ist die Mimesis das Konzept, das darüber hinausgeht; vgl. G. Raulet: »Mimesis. Über anthropologische Motive bei Walter Benjamin – Ansätze zu einer anthropologischen kritischen Theorie«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 64 (2016) 4, 581–602. 18
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eine ästhetische Politik, die darauf zielt, den verdinglichten Weltzusammenhang und die entsprechenden Herrschaftsverhältnisse zu durchbrechen. Zu diesem Zweck stellte für Benjamin die moderne Kunst ein politisches Potential dar, das Bloch in Experimentum mundi folgendermaßen zusammengefasst hat: »[…] in den Bildern surrealistischer Montage, wo ohnehin die Nähe und die Ferne, die Ferne in die Nähe einsprechen möchte, gibt es freilich eine versuchte Verbindung des scheinbar Vordergründigen mit dem Nebenbei, in dem gerade die wichtigste Nachricht über das Sujet der Sache enthalten sein könnte. Denn eben das Vordergründige des Allernächsten ist keineswegs unwichtig, vielmehr soll es gerade wegen seines Gewichts aus der Schädlichkeit des allzu nahen Raums herausgedreht werden.« 20
In seinem Essay »Soziologische Ästhetik« gibt hingegen Simmel von den ästhetischen Strömungen ein völlig anderes Bild. Er relativiert die Gegensätze zwischen ihnen und stellt diese als den Niederschlag eines Oszillierens der Erfahrung zwischen zwei Polen dar, so dass der Naturalismus und der Symbolismus einander nicht eigentlich als eine Kunst der brutalen Nähe im Gegensatz zu einer Kunst der idealisierten Ferne widersprechen: »Im Naturalismus, in seinem Gegensatz zu aller eigentlichen ›Stilisirung‹, scheint zunächst die Nähe der Objekte zu überwiegen. Die naturalistische Kunst will aus jedem Stückchen der Welt seine eigene Bedeutsamkeit herausholen, während die stilisierende eine vorgefaßte Forderung von Schönheit und Bedeutsamkeit zwischen uns und die Dinge stellt. […] Dennoch entbehrt auch der Naturalismus nicht eines sehr feinen Reizes der Fernwirkung der Dinge, sobald wir auf die Vorliebe achten, mit der er seine Gegenstände im alltäglichen Leben, im Niedrigen und Banalen, sucht.« 21
Ihr Verhältnis nimmt aber dann so differenzierte Formen an, dass Simmel dazu kommt, den anfänglichen Gegensatz umzukehren: »Denn für sehr empfindliche Seelen tritt die eigenthümliche Entfernung des Kunstwerkes von der Unmittelbarkeit der Erfahrung gerade dann besonders hervor, wenn das Objekt uns ganz nahe steht. Für weniger zartes Empfinden bedarf es, um es diesen Reiz der Distanz kosten zu lassen, einer E. Bloch: Experimentum mundi. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1975, 17; vgl. G. Raulet: Natur und Ornament. Luchterhand: Darmstadt/Neuwied 1986, 19 f. 21 G. Simmel: »Soziologische Ästhetik« [1896], in: ders.: Gesamtausgabe, hg. von O. Rammstedt. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1989–2015 (im Folgenden GSG), Bd. 5, 197–214, hier 209 f.; vgl. gleichlautend G. Simmel: Philosophie des Geldes [1900], in: GSG 6, 7–716, hier 659. 20
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größeren Ferne des Objektes selbst: stilisirt-italienische Landschaften, historische Dramen; je unkultivirter und kindlicher das ästhetische Gefühl ist, desto phantastischer, der Wirklichkeit ferner, muß der Gegenstand sein, an dem das künstlerische Bilden zu seinem Effekt kommt. Feinere Nerven bedürfen dieser gleichsam materiellen Unterstützung nicht.« 22
Das Basispostulat bleibt freilich erhalten: »Man kann vielleicht sagen, daß das Kunstgefühl der Gegenwart im Wesentlichen den Reiz der Distanz stark betont, gegenüber dem Reiz der Annäherung.« 23 Aber man hat es mit einem gleichsam anthropologischen Oszillieren zu tun, das von der besonderen Nervosität des modernen Menschen nur gesteigert und exponiert wird. Auf dieser Grundlage setzt Simmel seine Darstellung fort: Der moderne Mensch hat ein besonderes Bedürfnis nach Erregungen, das zu abstrakte, fernliegende oder symbolische Darstellungen nicht stillen können. Die psychologische Grundlage des modernen Lebens »ist die Steigerung des Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht«. 24 »Der Mangel an Definitivem im Zentrum der Seele treibt dazu, in immer neuen Anregungen, Sensationen, äußeren Aktivitäten eine momentane Befriedigung zu suchen; so verstrickt uns dieser erst seinerseits in die wirre Halt- und Rastlosigkeit, die sich bald als Tumult der Großstadt, bald als Reisemanie, bald als die wilde Jagd der Konkurrenz, bald als die spezifisch moderne Treulosigkeit auf den Gebieten des Geschmacks, der Stile, der Gesinnungen, der Beziehungen offenbart.« 25
Am vitalistischen Maßstab dieses Arguments gemessen – »die aktiv aneignenden Energien [weisen] große Fehlbeträge auf« 26 – nimmt allerdings die Demonstration eine paradoxe Wendung: »An mehr als einem Punkte unserer Kultur macht sich diese Tendenz auf Distanzirung beherrschend fühlbar«. 27 Es handelt sich sogar um die vorherrschende Tendenz, die Simmel auf die Funktion eines »Generalnenners« zurückführt, die das Geld in der modernen Gesellschaft als Ersatz eigentlicher Gesellschaftlichkeit übernommen hat: Alles in
Ebd., 210. Ebd. 24 G. Simmel: »Die Großstädte und das Geistesleben« [1903], in: GSG 7, 116–131, hier 116. 25 G. Simmel: Philosophie des Geldes, 675. 26 G. Simmel: »Soziologische Ästhetik«, 211. 27 Ebd., 212. 22 23
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allem überwiegt die Berührungsangst, die Repulsion durch Hyperästhesie, 28 nach dem Modell der Geldabstraktion. »So scheinen [sic] sehr mannichfaltige Erscheinungen der modernen Kultur einen tiefen psychologischen Zug gemeinsam zu haben, den man in abstrakter Weise als die Tendenz zur Distanzvergrößerung zwischen den Menschen und seinen Objekten bezeichnen kann und der auf ästhetischem Gebiet nur seine deutlichsten Formen gewinnt.« 29
Deshalb denunziert Simmel unablässig die Stilsuche: »Was den modernen Menschen so stark zum Stil treibt, ist die Entlastung und Verhüllung des Persönlichen, die das Wesen des Stiles ist. Der Subjektivismus und die Individualität hat sich bis zum Umbrechen zugespitzt, und in den stilisierten Formgebungen, von denen des Benehmens bis zur Wohnungseinrichtung, liegt eine Milderung und Abtönung dieser akuten Personalität zu einem Allgemeinen und seinem Gesetz.« 30
Was dadurch in Frage gestellt wird – egal ob man in den Kategorien der Simmelschen Geldphilosophie denkt, oder in jenen Benjamins, die der Marx’schen Theorie der Warenform näherstehen –, ist eine Produktionsweise, die zwischen dem Menschen und seiner Welt eine Distanz schafft und den Menschen um die Unmittelbarkeit seiner Erfahrungen bringt. Die Welt des Geldes, meint Simmel, gibt den Dingen eine eigenartige Färbung, ja sie entfärbt sie. 31 Für Benjamin bewirkt die verdinglichte Warenwelt eine quasi-religiöse Distanzierung, die Marx im Kapital folgendermaßen charakterisiert hat: »Um daher eine Analogie zu finden, müssen wir in die Nebelregion der religiösen Welt flüchten. Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eigenem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand. Dies nenne ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden.« 32
Das Dilemma, um welches Benjamins und Simmels Reflexionen kreisen, ist kein anderes als dasjenige, mit welchem die Expressivität uns heute konfrontiert und zu dessen Bewältigung das Habermas’sche
Ebd., 211. Ebd., 213. 30 G. Simmel: »Das Problem des Stils« [1908], in: GSG 8, 374–384, hier 382. 31 G. Simmel: »Die Großstädte und das Geistesleben«, 122. 32 K. Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1, in: K. Marx und F. Engels: Werke, Bd. 23. Dietz Verlag: Berlin 1962, 86. 28 29
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kommunikative Handeln, wie ich es seit Jahren betone, keine gewachsenen Mittel bereitstellt. Indem sie es viel eher umgeht, bejaht sie einen versöhnenden Kulturkompromiss, das heißt eine kapitalistische Kultur, mit der man sich versöhnen kann, wenn man sich darin schickt, in ihrem Rahmen und unter den von ihr bestimmten Bedingungen versöhnliche gesellschaftliche Formen einzurichten. Wenn hingegen – trotz des anthropologischen Oszillierens seiner Reflexionen – eine »aktivistische Lektüre« von Simmel möglich ist, dann dürfte sie von Benjamins Ästhetik des Chocks versucht worden sein, die sich insofern als wirklich avantgardistisch erweist, als dass sie die Koordinaten der Simmelschen Ästhetik sprengt und viel weiter geht als der Naturalismus es je gewagt hat.
II. Wie weit geht Simmel selbst in dieser Richtung? Einige seiner Formulierungen zeigen, dass er die moderne Erfahrung durchaus als eine Konfrontation mit Chocks versteht: Die verstandesmäßige Reaktion des modernen Menschen auf die Anforderungen der Außenwelt sind »ein Präservativ des subjektiven Lebens gegen die Vergewaltigung der Großstadt«. 33 Eine krude Formel, an die er unmittelbar Reflexionen über die Rolle des Geldes anschließt. Als »unbarmherzige Sachlichkeit« 34 charakterisiert er diese: »Geldwirtschaft aber und Verstandesherrschaft stehen im tiefsten Zusammenhange. Ihnen ist gemeinsam die reine Sachlichkeit in der Behandlung von Menschen und Dingen«. 35 Die neue Kultur erfasst er in seinen Reflexionen zum Großstadtleben und in seinen Ausstellungsrezensionen unter dem Gesichtspunkt der Zerstreuung und der Unbeständigkeit. Die Aspekte, die er hervorhebt, stimmen mit den Themen überein, die Benjamin in seinem Exposé »Paris, die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts« und in Teilen von Einbahnstraße in den Vordergrund gestellt hat. So die temporäre Ausstellungsarchitektur: Die Ausstellungsgebäude »tragen durchaus den Charakter einer Schöpfung für die Vergänglichkeit […] – so formt hier der Reiz und Duft der Vergänglichkeit einen 33 34 35
G. Simmel: »Die Großstädte und das Geistesleben«, 118. Ebd., 119. Ebd., 118.
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eigenen Stil.« 36 Während Simmel ihnen aber aus diesem Grund jeden monumentalen Wert abspricht, neigt Benjamin dazu, in den architektonischen Experimenten der großen Weltausstellungen die in die Zukunft weisenden technischen Innovationen zu betonen und darin eben einen neuen Monumentalstil zu sehen. Das ist insgesamt der Sinn der ersten Abschnitte seines Exposés. In Simmels Interpretation der modernen Schöpfungen bewirkt viel eher die Brutalität der Beschleunigung ihr Gegenteil: eine Art von Alltäglichkeit der Ruinen-Nostalgie. Darin nimmt das Oszillieren zwischen zwei Anziehungen seinen Ursprung: zwischen der Anziehung durch die unmittelbare Nähe und der umgekehrten Anziehung durch die Ferne. Simmel begnügt sich aber nicht damit, diese Verhältnisse zu psychologisieren, wenn nicht gar zu anthropologisieren. Er neigt dazu, sie zu ontologisieren. Der Herd dieses Kampfes ist bei ihm »das Individuum« – ein Herd des Widerstandes »gegen die Übermächte der Gesellschaft, des geschichtlich Ererbten, der äußerlichen Kultur und Technik des Lebens«. 37 Mit diesen Worten hebt der Aufsatz »Die Großstädte und das Geistesleben« an, ohne dass man eigentlich wüsste, woher dieses idealtypische Individuum (»der Typus großstädtischer Individualitäten« 38) seine Realität bezieht: Ist es eine konkrete Person, oder eine Allegorie – »die letzterreichte Umgestaltung des Kampfes mit der Natur, den der primitive Mensch um seine leibliche Existenz zu führen hat«, wie Simmel selber sagt. 39 Benjamin hingegen »soziologisiert« entschieden die Fragestellung, indem er an die Stelle dieses schemenhaften »modernen Menschen«, der die kollektive Allegorisierung eines mythischen Individualsubjekts zu sein scheint, schlicht und einfach die Masse setzt. Dieses diskursive Moment verdient es, genau bewertet zu werden. Bei aller scheinbaren (und sicher gewollten) Brutalität tritt es ein epochales Erbe an, das es gegen Simmels oszillierende Diagnosen eben massiv geltend macht. Es handelt sich nämlich um nichts Geringeres als um die Wiederaufnahme des Gestus, den Marx den allzu raffinierten Gedankengängen der »Heiligen Familie« entgegengesetzt hatte.
G. Simmel: »Berliner Gewerbe-Ausstellung«, 66. G. Simmel: »Die Großstädte und das Geistesleben«, 116. 38 »[…] der Typus des Großstädters, der natürlich von tausend individuellen Modifikationen umspielt ist« (ebd.). 39 Ebd. 36 37
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Zugleich tritt die Masse an die Stelle des Lebens. Die Lebensphilosophie wird verabschiedet und behauptet wird ein in dieser Funktion noch nicht anerkanntes Subjekt: Was Simmel, wie wir noch sehen werden, als »Gewühl« bezeichnet, wird bei Benjamin als Masse zum (wie auch immer paradoxen) Subjekt der Geschichte. Es ist die Masse, die laut dem vierten Abschnitt der ersten Fassung und laut dem übereinstimmenden 5. Kapitel der zweiten Fassung des Kunstwerkaufsatzes die Führung übernimmt und die sich anschickt, alle neuen technischen Produktionsmittel zu verwenden, um sich die Dinge näher zu bringen und sie zu beherrschen. Man muss also schon hier ein deutliches Signal setzen und einen ersten Abgleich der Verwandtschaften oder gar Übereinstimmungen zwischen Benjamin und Simmel machen. Es gibt in Simmels Essay »Soziologische Ästhetik« einen Satz, den Benjamin hätte schreiben können: »Jede Kunst«, schreibt Simmel, »stiftet […] eine Entfernung von der Unmittelbarkeit der Dinge, sie läßt die Konkretheit der Reize zurücktreten und spannt einen Schleier zwischen uns und sie, gleich jenem feinen bläulichen Duft, der sich um ferne Berge spinnt.« 40 Die fast übereinstimmende Passage ist im vierten Abschnitt der ersten Fassung des Kunstwerkaufsatzes zu finden – sie unterscheidet sich freilich durch den raschen Übergang von Überlegungen über Kunst (Simmels Vorzugsgebiet) zur Frage der Masse: »Was ist eigentlich Aura? Ein sonderbares Gespinst aus Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag. An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft – das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen. An der Hand dieser Definition ist es ein Leichtes, die besondere gesellschaftliche Bedingtheit des gegenwärtigen Verfalls der Aura einzusehen. Er beruht auf zwei Umständen, welche beide mit der zunehmenden Ausbreitung und Intensität der Massenbewegungen auf das Engste zusammenhängen.« 41
Masse und Menge sind per se soziologische Kategorien. Aber die Menschenmenge bei Baudelaire oder bei Simmel und die Masse bei Benjamin bedeuten nicht ein- und dasselbe. Mit Recht betont Marian Mičko, dass Benjamin »in seiner ersten Baudelaire-Studie […] in der G. Simmel: »Soziologische Ästhetik«, 209; vgl. gleichlautend: G. Simmel: Philosophie des Geldes, 658 f. 41 W. Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Erste Fassung)« [1935], in: GS 1–2, 431–469, hier 440. 40
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Beschreibung der Masse eine größere Zurückhaltung als in seiner zweiten Studie [bewies]«. 42 Baudelaire und Simmel spiegeln nach Benjamin eine Übergangsphase wider. Am äußersten Ende der Großstadtentwicklung steht aber – und zwar schon im ersten BaudelaireEssay – der Großstädter von Edgar Poes Novelle »Der Mann in der Menge«: »einer, dem es in seiner eigenen Gesellschaft nicht geheuer ist«. 43 Es ist kein Zufall, wenn an dieser Stelle im ersten BaudelaireEssay das Thema des reflektorischen Verhaltens 44 auftaucht, das im zweiten Essay, in Verbindung mit dem Freudschen Begriff des Reizschutzes, grundlegend sein wird. Man kann den Eindruck haben, dass Benjamin auf diesen Seiten den Flaneur von Baudelaire und den Großstädter von Poe gleichsetzt. Ich bin der Meinung, dass es nicht der Fall ist. Benjamin sagt ja ausdrücklich: »Poes Beschreibung dieser Figur ist frei von der Konnivenz, die Baudelaire ihr entgegenbrachte.« 45 Im »Peintre de la vie moderne« sagte Baudelaire vom Flaneur im Gegensatz zu Poe: »La foule est son élément.« Im Lichte dieses Gegensatzes ist es sicher kein Zufall, wenn Benjamin im »Paris des Second Empire« Baudelaires Auffassung der Großstadt mit Worten definiert, die sich auf Simmel anwenden lassen, und wenn er diesen dadurch auf der Baudelaireschen Seite ansiedelt: »Die gesellschaftlichen Erfahrungen, deren Niederschlag in seinem Werke zu finden ist, sind freilich nirgends am Produktionsprozeß – geschweige in seiner vorgeschrittensten Form, dem industriellen – gewonnen, sondern allesamt auf weiten Umwegen. Diese aber liegen in seiner Dichtung am hellen Tage. Die wichtigsten dieser Umwege sind die Erfahrungen des Neurasthenikers, des Großstädters und des Kunden.« 46
Die Masse ist der berufene Adressat der postauratischen Werke. Die Destruktion der Aura entspricht einer Desindividualisierung, die alles, Menschen wie Dinge, dem Massendasein ausliefert: Dies ist der Sinn von Benjamins Betonung der Einmaligkeit der auratischen Erfahrung. Die Masse stellt eine blinde Lebenskraft dar, die sich aus der Macht der neuen technischen Produktivkräfte nährt. Für das In-
M. Mičko: Walter Benjamin und Georg Simmel, 317. W. Benjamin: »Das Paris des Second Empire bei Baudelaire« [1938], in: GS I–2, 511–604, hier 550. 44 Vgl. ebd., 556. 45 Ebd., 550. 46 W. Benjamin: Aufzeichnungen zu »Das Paris des Second Empire bei Baudelaire«, in: GS I–3, 1169. 42 43
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dividuum bedeutet das Massendasein ein Aufgehen in einem undifferenzierten Ganzen, das sowohl die Beziehungen zwischen den Individuen als auch ihr Verhältnis zu den Dingen verändert. Die Masse verschlingt das Werk, während der Kunstliebhaber sich umgekehrt in das Werk einfühlte: »Die zerstreute Masse […] versenkt das Kunstwerk in sich; sie umspielt es mit ihrem Wellenschlag, sie umfängt es mit ihrer Flut.« 47 Das Verhältnis zu den Dingen überhaupt – wobei die Kunstwerke keine Ausnahmen bilden – nimmt im Wesentlichen die Form des Konsums an, sie wird zur Möglichkeit, sich zu einem beliebigen Zeitpunkt irgendein Ding anzueignen, das durch die Reproduzierbarkeit erreichbar nahe gemacht wird. Die Marx’sche bzw. Lukács’sche Herkunft von Benjamins Argument setzt voraus, dass die Masse als blindes Subjekt sich zu einem selbstbewussten Agenten entwickelt. Dies aber ist alles andere als von vornherein abgemacht. Denn ihr Wahrnehmungs- und Erfahrungsmodus ist eben die Zerstreuung. Aus diesem Grund kann die Masse auf keinen Fall mit dem Marx’schen Proletariat als kollektivem Subjekt der Geschichte wetteifern. Dem theoretischen Konzept zufolge soll sie gemäß derselben Logik zum Selbstbewusstsein gelangen, die auch dem Durchbruch der objektiven Prozesse zugrunde liegt, aus welchen die Verdinglichung der Erfahrung und die Aura des Warenfetischismus folgen. Benjamin setzt deshalb durchaus konsequent auf die Zusage zur Technik und auf eine Ästhetik des Chocks, aus welcher die paradoxe Subjekt-Figur des »zerstreuten Kritikers« hervorgehen soll: ein Subjekt, dessen Selbstbewusstsein paradoxerweise aus dem Prozess entstehen soll, der alle zusammenhängende und dauerhafte Erfahrung zerstört. Dies ist die Strategie des »positiven Barbarentums«. Mit dem Simmelschen Denkrahmen ist sie nicht mehr vereinbar: Die Kategorien der Nähe und der Ferne werden durch einen neuen Faktor übertrumpft, der kein ästhetisches Oszillieren mehr zulässt: die »Tendenz einer Überwindung des Einmaligen jeder Gegebenheit durch deren Reproduzierbarkeit«. 48 Was sich hier abspielt, ist ein epochaler epistemologischer Bruch. Der Simmelsche Ansatz erscheint als ein Hindernis, das überwunden, oder vielmehr radikal überboten werden muss, um die überlieferten W. Benjamin: Aufzeichnungen zum Kunstwerk-Aufsatz, in: GS I–3, 1043. W. Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, 440.
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Denkweisen zu verabschieden und erst recht der Herausforderung der modernen Erfahrungsformen zu begegnen. Es ist in dieser Hinsicht bedeutend, dass Benjamin auf die Aura wieder in seiner »Kleinen Geschichte der Photographie« eingegangen ist: Die Aura ist in seinen Augen nicht mehr ein bloß ästhetisches Problem, bei dem es nur um die Vor- und Nachteile einer kognitiven oder ästhetischen Erfahrung der Welt geht, wie es noch bei Simmel der Fall gewesen sein mag: Es geht um eine tiefgreifende Veränderung der technischen Erfahrungsmedien. 49
III. Die unerbittliche Konsequenz des positiven Barbarentums bleibt freilich ebenso experimentell wie die ideale Avantgarde, die es nach Benjamin verkörpern sollte. Der dialektischen Subtilität von Simmels Analysen steht Benjamin in nichts nach. Er gibt nur deren vitalistische Grundlage und das ganze Pathos der »ermatteten, zwischen Hypersensibilität und Unempfindlichkeit schwankenden Nerven« auf und kommt auf anderen Wegen zu dem Schluss, dass die Ästhetik des Chocks nur die Hälfte der Antwort darstellt. 50 Auch ihm kommt es auf die modernen Manifestationen der ungelösten Spannung zwischen der Aura und ihrer Zerstörung an. Darin besteht die Revision, der er sie im zweiten Baudelaire-Essay unterzieht. Damit ist aber auch nicht gemeint, dass er sie widerrufen hätte: Sie stellt viel eher, zusammen mit dem Moment der Distanzierung, einen der beiden Pole seiner ästhetisch-soziologischen Phänomenologie der kulturellen Ausdrucksformen der Moderne dar. Im Strom der unaufhaltsamen Teleologie der Produktivkräfte, die zum zerstreuten Kritiker führen soll, schlägt sich die Spannung im Schwebezustand der sogenannten »Dialektik im Stillstand« nieder – das macht zugleich die Wirklichkeit und den phantasmagorischen Charakter dieser Erscheinungsformen aus. Als Beispiele solcher Schwebezustände lassen sich die zugleich post- und neoauratischen öffentlichen Räume erwähnen, die auf der Schwelle vom ausgehenden 19. Jahrhundert zum 20. Jahrhundert entstehen und die zugleich nach hinten und Vgl. W. Benjamin: »Kleine Geschichte der Photographie« [1931], in: GS II–1, 368– 385, hier 378. 50 G. Simmel: »Soziologische Ästhetik«, 214. 49
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nach vorne blicken: In ihnen umgibt sich die Warenwelt mit einem Schein von Stil und Vertraulichkeit, der ihre aggressive, bis in die unmittelbarste Nähe dringende Hegemonie ausgleicht. Was die »Dialektik im Stillstand« bezeichnet, ist gerade das momentane Innehalten der Dialektik zwischen dem Eindringen in die Nähe, das Nervosität bewirkt, und der Distanzierung, die diese Nervosität erträglich macht. Für die moderne Erfahrung ist diese Dialektik, und nicht bloß die Zerstörung der Aura, konstitutiv. Also ist die moderne Erfahrung, die Benjamin insbesondere bei seiner Beschäftigung mit Baudelaires Lyrik durchschaut hat, im hohen Maße paradox bzw. ambivalent: Auf der einen Seite bedeutet sie einen Stillstand, mit dem Verhärtung und Verdinglichung einhergehen, auf der anderen Seite ist aber dieser Stillstand auch der Augenblick einer potenziellen Entscheidung oder Vermittlung. Dieser Ambivalenz entspricht die Figur der Allegorie, die Benjamin schon im Trauerspielbuch als Schlüssel identifiziert hatte: Die Herausforderung, mit der es Benjamins letzte Geschichtsphilosophie aufnimmt, zielt darauf, sie zu bewältigen. Daraus erklärt sich ihr Spagat zwischen zwei Strategien: sich entweder der Chocks zu bedienen, um den Ausnahmezustand der Entscheidung aufzugreifen, oder aber die Allegorie dadurch zu übertrumpfen, dass das symbolische Band zwischen der Erscheinung und dem Sinn, der ihr innewohnen soll, enger geschnürt wird, damit der Willkürlichkeit ihrer Verbindung ein Ende gesetzt werde. Wie ich im Folgenden zeigen möchte, hat Benjamin – nicht ohne Widersprüche – aus der Theorie der unwillkürlichen Erinnerung die Lösung zu machen versucht. Was in Frage steht, ist nichts anderes als die Rettung des Subjekts und seines Vermögens, den Ort seiner Erfahrung zu besetzen. Die spannungsvolle Paradoxie des Unternehmens kommt in den Zitaten von Gedichten Baudelaires, die Benjamin heranzieht, zum Ausdruck: »Un éclair… puis la nuit! Fugitive beauté / Dont le regard m’a fait soudainement renaître, / Ne te verrai-je plus que dans l’éternité?« 51 Erfahren wird die Aura im flüchtigen Augenblick eines Chocks, der zugleich ihren Entzug bewirkt. Die Baudelairesche Passantin tritt unversehens aus der Masse und dem Straßenlärm hervor, bevor sie ebenso plötzlich darin wieder aufgeht. Nichtsdestoweniger schnürt der Augenblick dieses Erscheinens und Verschwindens einen symbolischen Bezug, der über das Massendasein hinausweist: »Ail51
Zitiert in W. Benjamin: »Über einige Motive bei Baudelaire«, 622.
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leurs, bien loin d’ici! trop tard! jamais peut-être! / Car j’ignore où tu fuis, tu ne sais où je vais / O toi que j’eusse aimée, ô toi qui le savais!« 52 Auch Simmel hat die moderne Persönlichkeit durch das Spiel von Erscheinen und Verschwinden charakterisiert. »Die Labilität des modernen Individuums«, kommentiert Florence Vinas, »seine Unschlüssigkeit in Sachen des Stils und des Lebensmodus, die Vielfältigkeit der psychischen Erlebnisse, als deren Sitz es sich erweist, signalisieren eine und dieselbe Unfähigkeit, eine Identität aufzubauen. Es passt sich durch ›Einfühlung‹ an die umgebende Welt an.« 53 Zu den Typen, die dieser Charakterisierung entsprechen, gehört bei Simmel in erster Linie die Kokette: »[Der Kokette] ist es eigen, durch Abwechslung oder Gleichzeitigkeit von Entgegenkommen und Versagen, durch symbolisches, angedeutetes, ›wie aus der Ferne‹ wirksames Ja- und Neinsagen, durch Geben und Nichtgeben, oder, platonisch zu reden, von Haben und Nichthaben, die sie gegeneinander spannt, indem sie sich doch wie mit einem Schlage fühlen läßt – es ist ihr eigen, durch diese einzigartige Antithese und Synthese Gefallen und Begehren zu wecken.« 54
In seinem Essay »Über die Verführung« (De la séduction) spricht Jean Baudrillard ganz in demselben Sinn von dem »Aufblitzen einer Präsenz« und von einer »eklipseartigen Ästhetik des Erscheinens und Verschwindens«. 55 Die Kokette ist ein Fin de siècle- oder Second Empire-Typus. Sie hätte als solche bei Benjamin durchaus unter den anderen Typen der Moderne Eingang finden können. Benjamin zielt aber nicht nur auf das Spiel von Gefallen und Begehren, sondern auf das Erwachen daraus. Offensichtlich gibt er sich mit der Ambivalenz und dem Alternieren nicht zufrieden, worin sich Simmels Analyse hingegen gefällt. Benjamins Typen sind ja in der Regel weniger kokett: Prostituierte, Lumpensammler. Freilich bietet das Manuskript 1801 eine Art Synthese, indem es zwischen den Prostituierten und den Girls der Revuen kaum noch einen Unterschied macht: In beiden Ebd. F. Vinas: »›Entre oui et non‹ : Simmel, philosophe de l’âme moderne«, in: G. Simmel: La Parure et autres essais, übers. und hg. von M. Collomb, P. Marty und F. Vinas. Éditions de la MSH: Paris 1998, 16–29, hier 23. 54 G. Simmel: »Psychologie der Koketterie« [1909], in: GSG 12, 37–50, hier 38. Zur Kokette vgl. die Interpretation von F. Vinas (in: G. Simmel: La Parure et autres essais, 24), die auf Baudrillard verweist. 55 J. Baudrillard: De la séduction. Denoël: Paris 1988, 118. 52 53
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Fällen wird die Käuflichkeit inszeniert, die Warenform exponiert, so dass das Girl die Züge der Prostituierten annimmt, die auf handwerkgeschäftlicher Ebene den Gebrauchswert ihres Körpers verkauft, und der Koketten, die dessen Gebrauch zugleich in Aussicht stellt und entzieht (und dadurch – wie man gut marxistisch hinzufügen darf – den Tauschwert erhöht). 56 Hier sei nur eine von vielen Äußerungen Simmels über die käufliche Liebe zitiert, die sich genau auf dieses Phänomen bezieht: »So bestimmt nicht nur der Reiz eines käuflichen Dinges den Preis, den wir dafür zahlen mögen: sondern dass ein Preis dafür gefordert wird, dass sein Erwerb nicht etwas Selbstverständliches, sondern nur mit Opfern und Mühen Gelingendes ist – das macht uns unzählige Male erst das Ding reizvoll und begehrenswert.« 57 Bei einem der modernen Typen nimmt aber dieses Spiel der Öffnung und des Ausweichens eine extrem nervöse Form an: nämlich beim Flaneur, den Benjamins Manuskript anschließend erwähnt. Der Flaneur »pariert« die Chocks auf den Trottoirs, seinesgleichen sind der Fechter und der Spieler.
IV. In der Simmel-Literatur wird sehr ausgiebig über die Frage disputiert, ob Simmel ein soziologischer Flaneur ist. 58 Wenn Benjamins Charakterisierung des Flaneurs zugrunde gelegt wird, muss die Antwort entschieden negativ ausfallen. In einem Punkt sind sich Benjamin und Simmel einig: Der vorwiegende Modus der Wahrnehmung zwischen Menschen, die aufeinander eingehen, ist nicht das Gehör, sondern das Gesicht. Gerade darauf bezog sich, wie man sich erinnert, die von Adorno herausgegriffene Stelle aus der Baudelaire-Studie. 59 W. Benjamin: Aufzeichnungen zu »Der Flaneur«, in: GS I–3, 1158. G. Simmel: »Psychologie der Koketterie«, 257. 58 D. Frisby: Sociological Impressionism: A Reassessment of Georg Simmel’s Social Theory. Heinemann: London 1981; zur Debatte vgl. u. a. D. Weinstein und M. A. Weinstein: »Georg Simmel: Sociological Flâneur Bricoleur«, in: D. Frisby (Hg.): Georg Simmel. Critical Assessments, Bd. 2. Routledge: London 1994, 126–139. 59 »In engsten Zusammenhang mit solchen materialistischen Exkursen, bei denen man nie ganz die Befürchtung los wird, die man um einen Schwimmer hegt, der mit mächtiger Gänsehaut ins kalte Wasser sich stürzt, gehört der Appell an konkrete Verhaltensweisen wie hier die des Flaneurs oder später die Stelle über das Verhältnis von Sehen und Hören in der Stadt, die nicht ganz zufällig ein Zitat von Simmel heran56 57
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Diese Stelle war den Seiten von Simmels Soziologie über das Verhältnis von Sehen und Hören in der Stadt entnommen. Trotz Adornos Einwände nahm sie Benjamin in seinem späteren Essay »Über einige Motive bei Baudelaire« wieder auf. 60 Die Kontexte, in welchen das Zitat angeführt wird, sind bei genauem Hinsehen grundverschieden. Im ersten Baudelaire-Essay schließt sich Benjamin der Simmelschen Analyse der »Beunruhigung besonderer Art« 61 an, die der zunehmende Vorrang des Gesichts zuungunsten des Hörens und vor allem des Einander-Zuhörens beim Großstadtmenschen verursacht: »Vor der Ausbildung der Omnibusse, Eisenbahnen und Straßenbahnen im 19. Jahrhundert, waren Menschen überhaupt nicht in der Lage, sich minuten- bis stundenlang gegenseitig anblicken zu können oder zu müssen, ohne mit einander zu sprechen. Der moderne Verkehr gibt, was den weit überwiegenden Teil aller sinnlichen Relationen zwischen Mensch und Mensch betrifft, diese in noch immer wachsendem Maße dem bloßen Gesichtssinne anheim und muß damit die generellen soziologischen Gefühle auf ganz veränderte Voraussetzungen stellen.« 62
Im Essay »Über einige Motive bei Baudelaire« tritt an die Stelle der Simmelschen Beunruhigung das Motiv des »sichernden Blicks«: Es ist der Blick »des Raubtiers, das nach Beute Ausschau haltend zugleich sich sichert. So ist die Hure, auf die Passanten achtend, zugleich auf der Hut vor den Polizeibeamten«. 63 Hier ist eine ganz andere Verwaltung der Chocks am Werk. Die Strategien des Zynikers oder des Blasierten reichen nicht mehr hin: Es geht um physische Gefahr und um die Abwehr des Traumas, das sie bewirkt – um Reizschutz. Muße ist ausgeschlossen: »Der sichernde Blick enträt der träumerischen Verlorenheit an die Ferne« – in anderen Worten: der Aura. 64 Diese radikale Veränderung betrifft auch den Flaneur. Sein Blick unterscheidet sich von der Beschreibung der Erfahrung am Anfang der zieht. Bei all dem ist mir nicht recht geheuer.« (T. W. Adorno an W. Benjamin: Brief vom 10. November 1938, in: T. W. Adorno und W. Benjamin: Briefwechsel 1928– 1940, 367) 60 Vgl. W. Benjamin: »Das Paris des Second Empire bei Baudelaire«, 540 und W. Benjamin: »Über einige Motive bei Baudelaire«, 650. 61 W. Benjamin: »Das Paris des Second Empire bei Baudelaire«, 539. 62 Vgl. G. Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung [1908], in: GSG 11, 7–875, hier 727. 63 W. Benjamin: »Über einige Motive bei Baudelaire«, 649. 64 Ebd., 650.
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»Philosophie der Mode«: Dort erklärt Simmel, dass der Mensch von Anbeginn an ein dualistisches Wesen ist, was ihn in Tun und Erkennen freilich nicht behindert, sondern ihn befähigt, die Welt immer mehrseitig zu erfahren und »an jedem Punkte des Daseins eine Mehrheit von Kräften [zu] fühlen«. 65 Mit dieser »Schwingung unserer Seele zwischen […] Polen« ist nicht bloß die besondere Einstellung der Mode zur Welt (oder der Welt zur Mode), sondern eine anthropologische Verfassung überhaupt gemeint. 66 Dieses flottierende Sehen steht im krassen Gegensatz zum überwachen Blick der Prostituierten, oder des Fechters und des Spielers – beide nach einem Coup lauernd –, ja auch des Benjaminschen Flaneurs. Schon in seiner Interpretation von Baudelaires Gedichten hebt Benjamin diesen Aspekt hervor: Der öffentliche Verkehr des modernen Menschen nimmt die Form eines »Duells« bzw. eines Gefechts an. 67 Dabei ist aber auch noch Folgendes zu betonen: Der Baudelairesche und Simmelsche Flaneur taucht in der Menge unter, aber er ringt zugleich um seine Individualität. Innerhalb der Menge gibt der Kampf um soziale Differenzierung nicht nach – ganz im Gegenteil: Die großstädtischen Lebensverhältnisse spornen viel eher das Bedürfnis nach Differenzierung an: »Denn die gegenseitige Reserve und Indifferenz, die geistigen Lebensbedingungen großer Kreise, werden in ihrem Erfolg für die Unabhängigkeit des Individuums nie stärker gefühlt, als in dem dichtesten Gewühl der Großstadt, weil die körperliche Nähe und Enge die geistige Distanz erst recht anschaulich macht«. 68 Natürlich erlaubt die Großstadt eine vormals unbekannte Anonymisierung des sozialen Umgangs; aber das ist zugleich wieder nicht, was der Großstadtmensch wünscht: Er will das Untertauchen in der Stadt zugleich als Wiederbehauptung seiner Freiheit. So vollzieht sich die Bewegung der Moderne gemäß dem Grundbegriff von Simmels soziologischem Programm: als eine Wechselwirkung des Kollektiven und des Individuellen sowie der soziologischen und psychologischen Prozesse in beiden Sphären – »Interaktionsformen, […] die stets reziproke Handlungen sind, in denen sich also spezifische Wechselwirkungen entfalten, und soziale oder psycho-soziale Typen«. 69
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G. Simmel: »Philosophie der Mode« [1905], in: GSG 10, 7–37, hier 9. Ebd. W. Benjamin: »Über einige Motive bei Baudelaire«, 615 f. G. Simmel: »Die Großstädte und das Geistesleben«, 126. E. Vernik: »Die Frage nach dem urbanen Raum bei Simmel und ihre Spuren bei
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Bei Benjamin geht die Erfahrung der Großstadt bis zum Verlust der Erfahrung und zur »Auslöschung des Ichs«: bis zur »Verwischung der Spuren des Einzelnen in der Großstadtmenge«. 70 Sicher gibt es auch bei Simmel einen Verlust der Erfahrung, den er insb. auf den Einfluss der Geldkultur zurückführt: »Der Begriff des Marktpreises für Werte, die ihrem Wesen nach jede Schätzung außer der an ihren eigenen Kategorien und Idealen ablehnen, ist die vollendete Objektivierung dessen, was der Zynismus in subjektivem Reflex darstellt. Die andere Bedeutung der Nivellierung, die nicht sowohl die Verschiedenwertigkeit, als die Verschiedenartigkeit der Dinge trifft – indem die zentrale Stellung des Geldes das Interesse an das ihnen Gemeinsame, im Gegensatz zu ihrer individuellen Ausbildungshöhe, heftet – findet ihren personalen Ausdruck in der Blasiertheit. Während der Zyniker sich durch das Wertgebiet doch noch zu einer Reaktion bewegen läßt, wenn auch in dem perversen Sinn, daß er in der Bewegung der Werte von oben nach unten einen Lebensreiz findet, ist der Blasierte, seinem – freilich nie ganz realisierten – Begriffe nach, den Unterschieden des Wertempfindens überhaupt abgestorben, er fühlt alle Dinge in einer gleichmäßig matten und grauen Tönung, nicht wert, sich dadurch zu einer Reaktion, insbesondere des Willens, aufregen zu lassen. […] In der Regel gelten erschöpfende Genüsse als die Ursache der Blasiertheit, und mit Recht, indem die allzustarken Reize schließlich alle Reaktionsfähigkeit aus den Nerven herauspumpen.« 71
Aber während Simmel die erste Gefahr der großstädtischen Kultur darin sieht, dass das Individuum »sich innerlich völlig atomisieren und in eine ganz unausdenkbare seelische Verfassung geraten« würde, wenn er nicht reserviert reagierte und auf alle Einladungen der anderen einginge, hält Benjamin die Möglichkeit einer solchen Zurückhaltung für physisch unmöglich. 72 Der Flaneur kann nicht mehr mit seinen eigenen Nerven, noch mit den Nerven der anderen spielen, indem er eine Schildkröte durch die Passanten hindurch an der Leine führt – »großstädtische Extravaganzen«, 73 wie Simmel sagt, sind nicht mehr an der Tagesordnung. 74 Benjamin«, in: R. Buchenhorst und M. Vedda (Hg.): Urbane Beobachtungen. Walter Benjamin und die neuen Städte. Transcript: Bielefeld 2010, 73–86, hier 75. 70 W. Benjamin: »Das Paris des Second Empire bei Baudelaire«, 546. 71 G. Simmel: Philosophie des Geldes, 334 f. Fast gleichlautend in G. Simmel: »Die Großstädte und das Geistesleben«, 121 f. 72 G. Simmel: »Die Großstädte und das Geistesleben«, 122. 73 Ebd., 128. 74 Daraus folgt, dass die Atomisierung an der Tagesordnung ist. Dies weist auf die
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V. Wenn also die Nervosität den gemeinsamen Nenner von Simmels und Benjamins Herangehensweise an die modernen Kulturformen bildet, so ist es eine ganz andere Art von Nervosität, die bei Benjamin den Umgang mit der großstädtischen Umgebung regiert. Das »positive Barbarentum« treibt das von Simmel festgestellte Vermögen des Menschen, »den Gefahren oder Leiden einer Situation durch quantitative Exaggerierung ihres Inhaltes abzuhelfen« zum Äußersten und stößt zugleich auf die Grenzen dieser Strategie. 75 Für Simmel ist »das Wesen der Moderne überhaupt […] Psychologismus, das Erleben und Deuten der Welt gemäß den Reaktionen unseres Inneren und eigentlich als einer Innenwelt, die Auflösung der festen Inhalte in das flüssige Element der Seele, aus der alle Substanz herausgeläutert ist, und deren Formen nur Formen von Bewegungen sind«. 76 Damit – mit diesem Psychologismus, der in Impressionen aufgeht – war Benjamin am wenigsten bereit sich abzufinden. Und das betrifft sowohl die allzu große Nähe als auch die vorgetäuschte Distanz, die Reserviertheit, ja die Blasiertheit als »eigentliche Anpassungserscheinung, […] in der die Nerven ihre letzte Möglichkeit, sich mit den Inhalten und der Form des Großstadtlebens abzufinden« sehen. 77 Das Übermaß an Unmittelbarkeit nimmt bei Benjamin physische und geradezu pathologische Formen an – im Kunstwerkaufsatz ist es vom Chirurgen personifiziert, dessen Seziermesser die Einfühlung ersetzt. Benjamin zeigt sich durch die unmittelbare Nähe fasziniert und entwickelt zugleich eine tiefe Berührungsangst, die sich in einer Wendung niederschlägt, von der er sowohl in seinen Schriften als auch in seinem Briefwechsel ziemlich häufig Gebrauch macht: »auf den Leib rücken«. Es ist der Ausdruck, den er auch in EinbahnDiagnosen von Adorno und von Deleuze und Guattari über die Schizophrenie als Schicksal des modernen Ichs. Marian Mičkos insistenter Deutungsversuch, der die »Eigenaktivität der modernen Individuen« in Benjamins Modell hineinlesen will, greift deshalb fehl. Das Benjaminsche Subjekt klammert sich nicht mittels solcher Kompromissstrategien an seiner Identität fest; es gibt sie vielmehr ganz auf, um aus der Masse als »massives Subjekt« aufzuerstehen. Dass dieses Denkmodell gescheitert ist, ändert nichts an dem Umstand, dass es von Benjamin gedacht wurde. 75 G. Simmel: Philosophie des Geldes, 336. 76 G. Simmel: »Rodin (mit einer Vorbemerkung über Meunier)« [1911], in: ders.: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais [1911], in: GSG 14, 330–348, hier 346. 77 G. Simmel: »Die Großstädte und das Geistesleben«, 122.
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straße verwendet, um die Aggression durch die Reklamen zu beschreiben – Baudelaires »betäubende Strasse«. Bei Simmel bildet sich »mit der sich verfeinernden Zivilisation« eine gesteigerte Sensibilität. 78 Bei Benjamin werden nicht nur die Nerven gereizt: angegriffen wird der Leib selbst. Werden bei Simmel die »Chocs« sogar ein alternatives Mittel, den Aggressionen der modernen Lebensbedingungen standzuhalten – neben der Blasiertheit, die umgekehrt »die ganze objektive Welt entwertet« 79 –, so büßen sie bei Benjamin weitgehend diesen raffinierten nervösen Charakter ein: Sie werden materialistisch grob, es handelt sich unmissverständlich um physische »Chocks«. 80 Es sind in erster Linie die »tausend Stöße«, die der Passant in der Menge erleidet. 81 Der radikale Unterschied zwischen Benjamin und Simmel lässt sich an den psychologischen Ansätzen ausmachen, die sie jeweils mobilisieren. Die »dramatische Steigerung des Nervenlebens« (Simmel) war damals ein modisches Thema. Simmels Vortrag »Die Großstädte und das Geistesleben«, den er im Rahmen eines Zyklus der GeheStiftung im Vorfeld der Dresdener Städteausstellung von 1903 hielt, entsprach zwar nicht ganz den Erwartungen der Veranstalter: Es ging in ihm weniger um die Großstadt als Produktionsstätte ersten Ranges als um deren Einfluss auf das Geistesleben der Großstädter. Aber in letzterer Hinsicht stimmte er gerade mit dem Zeitgeist überein. Das ist bekannt und bedarf hier keiner ausführlichen Erinnerung mehr. Nicht nur sind die damaligen Veröffentlichungen, vor allem halbwissenschaftlicher oder populärer Art – was schon an sich ein Zeichen der Zeit ist – geradezu unzählbar, 82 sondern auch die Bücher und akaG. Simmel: Soziologie, 734. Ebd. 80 Ich teile diesbezüglich überhaupt nicht die Differenzierungen zwischen den beiden Baudelaire-Essays, die Marian Mičko vornimmt (vgl. M. Mičko: Walter Benjamin und Georg Simmel, 282). Ich habe eher den Eindruck, dass diese Nuancen dazu dienen, die Nähe Benjamins zu Simmel plausibel zu machen, während ich hier das Ziel verfolge, den Unterschied so deutlich wie möglich zu umreißen. 81 W. Benjamin: »Das Paris des Second Empire bei Baudelaire«, 563. 82 Um nur einige zu nennen: M. Canitz: Nervosität und Nervenkrankheiten. Ihre Ursachen, Verhütung und naturgemäße Heilung. Carl Cnobloch: Leipzig 1892. A. Eulenburg: »Die Nervosität unserer Zeit«, in: Die Zukunft 16 (1896), 302–318; ders.: »Nervenhygiene in der Großstadt«, in: Die Woche 4 (1902), 265–275. O. Dornblüth: »Verhütung der Nervosität«, in: Die Gartenlaube 28 (1898), 468–471; W. Hellpach: Nervosität und Kultur. Räde: Berlin 1902; ders.: Die geistigen Epidemien. Rütten & Loening: Frankfurt a. M. 1906; ders.: Technischer Fortschritt und seelische 78 79
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demischen Arbeiten, die sich mit dieser Fragestellung, insb. in Verbindung mit der Großstadt-Problematik, beschäftigt haben, sind mittlerweile zu einem Gemeinplatz geworden. Ich werde mich also hier nicht wieder auf diesen Topos als solchen einlassen. An den wissenschaftlichen Versuchen der Zeit gemessen sind Simmels psychologische Thesen, obwohl er gerade das Wesen der Moderne im Psychologismus sieht, ausgesprochen vage, um die von der kapitalistischen Produktionsordnung bewirkten Pathologien einigermaßen klinisch zu umreißen: Neurasthenie, Überempfindlichkeit, »Blasiertheit« gegenüber Dingen. 83 Man muss viel Nachsicht aufbringen, um die Reflexionen des Aufsatzes »Die Großstädte und das Geistesleben« über die größere Fähigkeit der Kinder der Großstadt, gegenüber neuen Reizen blasierter zu reagieren, 84 für mehr zu halten als den Reflex eines großbürgerlichen Berliner Salongesprächs. Jeder, der Dickens, Victor Hugo, ja gar Eugène Sue gelesen hat, weiß das, und man fragt sich, worin die soziologische Reflexion über die literarischen Darstellungen hinausgeht, wenn ihr einziges Verdienst darin besteht, sie bloß implizit zu wiederholen, ohne sie weiter zu begründen. Adornos Kritik an Benjamin und Simmel behält hier wenigstens in Bezug auf Simmel Recht. Gegenüber Benjamin erweist sie sich hingegen als ungerecht, denn dieser hat – zumindest im zweiten Baudelaire-Essay – einen entscheidenden theoretischen Fortschritt gemacht. Während Simmels Psychologismus die Oberflächenerscheinung seines Vitalismus ist, vollzieht Benjamin, wie ungelenk auch immer, 85 durch seinen Gesundheit. C. Marhold: Halle 1907. Etc. Der Umstand, dass Simmel seinen Vortrag, im Gegensatz zu vielen anderen Aufsätzen, zu Lebzeiten nicht in eine seiner Aufsatzsammlungen oder gar in seine Soziologie von 1908 aufnahm, mag mit diesem populärwissenschaftlichen Kontext zu tun haben. Die einzige Druckfassung erschien damals im Jahrbuch der Gehe-Stiftung; zu diesem Problem vgl. D. Frisby: »Georg Simmels Großstadt: eine Interpretation«, in: L. Musner (Hg.): Cultural Turn: Zur Geschichte der Kulturwissenschaften. Turia und Kant: Wien 2001, 65–86. 83 Zum Thema Nervosität und zu einer umfassenden Bestandsaufnahme der medizinischen Ansätze sowie der kulturellen Prägnanz vgl. J. Radkau: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler. Carl Hanser: München/Wien 1998. 84 Vgl. G. Simmel: »Die Großstädte und das Geistesleben«, 121. 85 Vgl. G. Raulet: »Chockerlebnis, mémoire involontaire und Allegorie. Zu Benjamins Revision seiner Massenästhetik im Essay ›Über einige Motive bei Baudelaire‹«, in: Zeitschrift für Kritische Theorie 2 (1996), 5–28; wiederaufgenommen in: ders.: Positive Barbarei. Kulturphilosophie und Politik bei Walter Benjamin. Verlag Westfälisches Dampfboot: Münster 2004, 151–171, hier 156–159. Ich drücke zwar Vor-
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Rückgriff auf Freud den Übergang vom Leben zum Unbewussten und gibt dadurch der von Adorno getadelten phänomenologischen Beschreibung der modernen Kulturphänomene ein Fundament: Die Kulturgeschichte vollzieht sich weitgehend in der phantasmagorischen Ordnung, und das heißt in der Ordnung der Phantasmata. Im zweiten Baudelaire-Essay fasst Benjamin die Chocks, denen der moderne Mensch ausgesetzt ist, als psychophysische Stimuli, die ein reflektorisches Verhalten auslösen. Dieses Verhalten beschreibt er im Anschluss an Freud und an Theodor Reik als »Reizschutz«, d. h. als einen Vorgang, durch welchen die äußeren Angriffe von der Oberfläche des Bewusstseins radiert werden. Freud benutzt dafür das Bild des Wunderblocks. Man mag gegen die Überbetonung des reflektorischen Verhaltens Bedenken hegen und sogar meinen, dass sie mit dem Rückgriff auf die Psychoanalyse im Widerspruch steht. Vor allem aber ist die wissenschaftliche Metapher des Reizschutzes mit dem semantischen Gehalt des Fechtens kongruent – und dies ist vermutlich der Beweggrund von Benjamins willkommener Einführung des psychoanalytischen Paradigmas.
VI. Der von Adorno unterschätzte, radikale Unterschied zwischen Simmel und Benjamin besteht also in ihrem völlig verschiedenen Umgang mit den modernen Erfahrungsmodi: Ambivalenz, Zweideutigkeit der Begierde und Alternieren des Lebenstriebs bei Simmel, »Dialektik im Stillstand«, aber nichtsdestoweniger Dialektik bei Benjamin. An zwei zentralen Begriffen kann man diesen Unterschied festmachen: dem Fragment und der Spur. Dazu hat sich Simmel in seiner »Soziologischen Ästhetik« geäußert: Er sieht in beidem den Ausdruck unseres »vielseitigen Anregungsbedürfnisses«. 86 Bei aller behalte gegen Benjamins Freud-Lektüre aus, aber ich teile überhaupt nicht die Behauptung Michael Makropoulos’ (der sich auch Marian Mičko anschließt), Benjamin habe sich in seinen Erläuterungen zum Reizschutz eher an Simmel als an Freud orientiert; vgl. M. Makropoulos: »Subjektivität zwischen Erfahrung und Erlebnis. Über einige Motive bei Walter Benjamin«, in: G. Raulet und U. Steiner (Hg.): Walter Benjamin. Ästhetik und Geschichtsphilosophie. Peter Lang: Bern 1998, 69–81, hier 75. In meinem Aufsatz zeige ich außerdem, wie Benjamin seine Differenzierung von drei Formen von Gedächtnis auf seine Freud-Lektüre gründet – s. hierzu weiter unten. 86 G. Simmel: »Soziologische Ästhetik«, 211.
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Aura und Nervosität
Berührungsangst braucht nämlich die moderne Seele Reizmittel – eine Funktion, die das Fragment sehr gut erfüllt, indem es ein Spiel mit Distanz und Gegenwart darstellt: »Daher nun auch der jetzt so lebhaft empfundene Reiz des Fragmentes, der bloßen Andeutung, des Aphorismus, des Symbols, der unentwickelten Kunststile. Alle diese Formen, die in allen Künsten heimisch sind, stellen uns in eine Distanz von dem Ganzen und Vollen der Dinge, sie sprechen zu uns ›wie aus der Ferne‹, die Wirklichkeit giebt sich in ihnen nicht mit gerader Sicherheit, sondern mit gleich zurückgezogenen Fingerspitzen.« 87
Es fällt nun auf, dass bei Benjamin die Definition der Spur gleichsam der umgekehrte Abdruck der Aura ist: Die Spur ist nicht die »einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag«, sondern die »Erscheinung einer Ferne, so nah das sein mag, was sie hervorruft. In der Spur werden wir der Sache habhaft […]«. 88 So aufgefasst löst sich die Spur nicht in der Nervosität einer zugleich überreizten und abgestumpften Psyche auf. Sie bleibt eine symbolische Erfahrung, wenn auch in der fragmentarischen und verdinglichten Form der Allegorie, und sie steht zu dem ihr innewohnenden Sinn in demselben Verhältnis wie die menschliche Sprache zum Nicht-Mitteilbaren. Trotz der Grenzen, die seiner Psychologisierung der modernen Nervosität anhaften, bleibt Simmels Diagnose freilich als Diagnose relevant: Die Moderne zeitigt nervöse, ja sogar neurotische Wahrnehmungs- und Erfahrungsformen, die sich zudem als geschichtlich handlungsunfähig erweisen. Bloch hat sicher Recht, wenn er darin die »Hilflosigkeit« sieht, »womit der bürgerlich Betrachtende sich zum Jetzt und Hier der ihn umgebenden Gegenwart begreifend« verhält. 89 Bloch ist nicht immer so brutal, trotz des mechanischen Klapperns der Dialektik in Erbschaft dieser Zeit (Montage unmittelbar, Montage mittelbar etc.). Aber es geht um dialektische Vermittlung, und darin hat er Recht. Entgegen dem vorschnellen Urteil Adornos teilt Benjamin diese Sorge. Sie bildet sogar genau besehen den Kern seines Werks: Bis zu seinen letzten Entwürfen verfolgt er das Ziel einer dialektischen Vermittlung der modernen Erfahrungsfragmente bzw. -spuren und des geschichtlichen Prozesses. Im Gegensatz zu Blochs marxistischem Köhlerglauben schafft er es aber nicht mehr, diese Ebd. W. Benjamin: Das Passagen-Werk, in: GS V in zwei Teilbänden, hier V–1, 560 [M16a,4] (»Der Flaneur«). 89 E. Bloch: Experimentum mundi, 19. 87 88
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Gérard Raulet
Bruchstücke und Impressionen in den Mainstream einer trotz allem zielgerichteten fortschrittlichen Geschichtsentwicklung einzuschreiben. Noch in dem letzten Versuch, den Thesen »Über den Begriff der Geschichte«, bleiben sie unversöhnte Dimensionen, die sich auch noch in der spannungsvollen Verschränkung zweier Denkmuster niederschlagen: einem messianischen Modell, das dem Augenblick den Vorrang gibt, und einem apokalyptischen Modell, das eher auf das Telos ausgerichtet ist. Grundsätzlich handelt es sich auch um den Gegensatz zwischen dem Ansatz des positiven Barbarentums und des Chocks auf der einen Seite, demjenigen der Baudelaireschen Motive auf der anderen. 90 Von der Konkurrenz der beiden Ansätze zeugt die späte Revision, der Benjamin seine Utopie einer »haptischen« Erfahrung unterzogen hat. 91 Sie betrifft zwei Angelpunkte von Benjamins Denken: seine Theorie der Erfahrung und seine Theorie des Gedächtnisses. Erstere beruht auf dem Gegensatz von Erfahrung und Erlebnis. Die Erfahrung entspricht einer erfolgreichen Auflösung des Widerspruchs zwischen den Alltagswahrnehmungen und Erregungen und der Permanenz eines umfassenden Sinnes. »Was die Erfahrung vor dem Erlebnis auszeichnet«, schreibt Benjamin in einer Aufzeichnung für sein Baudelaire-Buch, »ist, daß sie von der Vorstellung einer Kontinuität, einer Folge nicht abzulösen ist«. 92 Sie steht insofern im Widerspruch zur modernen Erfahrungsarmut, die aus dem Verlust der Tradition und der zunehmenden Reduktion der kollektiven Erfahrung auf das private Erlebnis folgt. Die unmittelbare Augenblicklichkeit der sinnlichen Erfahrungen ersetzt den Bezug auf einen tiefer gelegenen Sinn. Die Theorie der unwillkürlichen Erinnerung bildet im Kontext der Revision der Chock-Ästhetik einen Versuch, dieser Herausforderung der modernen Erfahrungsformen gerecht zu werden. Es handelt sich zunächst um einen individuellen Gegenzug, deren Problematik eben in seiner kollektiven Erweiterung besteht. In die »mémoire involontaire« hat Benjamin große Hoffnungen gesetzt: Sie sollte als Und hier stimme ich wiederum mit der Entgegensetzung der beiden BaudelaireEssays überein, der ich schon 1996 meinen Aufsatz »Chockerlebnis, mémoire involontaire und Allegorie. Zu Benjamins Revision seiner Massenästhetik im Essay ›Über einige Motive bei Baudelaire‹« gewidmet habe. 91 Vgl. G. Raulet, »Chockerlebnis, mémoire involontaire und Allegorie«. 92 W. Benjamin: Aufzeichnungen zu »Über einige Motive bei Baudelaire«, in: GS I–3, 1183. 90
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Aura und Nervosität
Denkmodell zugleich den Gegensatz von Erfahrung und Erlebnis und die Alternative von Chock und Allegorie überwinden helfen. In den Aufzeichnungen zum Baudelaire-Buch betont er: »Die mémoire involontaire ist der Erfahrung zugeordnet, nicht dem Erlebnis. (Freud!)«. 93 Selbstverständlich ist der nachdrückliche Bezug auf Freud entscheidend. Er verweist auf den Versuch des zweiten Baudelaire-Essays, durch den Rekurs auf Freud festeren Fuß zu fassen – wodurch sich Benjamin natürlich unvermeidlicher Weise die Problematik des individuellen und kollektiven Unbewussten zuzieht. Der Versuch hat nichtsdestotrotz zunächst höchst positive Folgewirkungen: Er begründet eine Differenzierung zwischen drei (und nicht, wie man so oft liest, zwei) Erinnerungsformen: Erinnerung, Gedächtnis, Eingedenken. Die Erinnerung, die mit Erfahrung und Tradition verbunden ist, ist von dem modernen Erlebnis, das in aufeinander folgenden Chocks besteht, zerstört worden. Zugleich hat sich die kollektive Bedeutung der Erinnerung aufgelöst. Wenn sie überhaupt noch überlebt, dann im unbewussten Gedächtnis. Nur das Eingedenken ist in der Lage, das, was sich ins Gedächtnis geflüchtet hat, zu vergegenwärtigen. Es hält die Zeit auf und knüpft an den vergangenen Sinn eines Ereignisses: Es hält, wie Benjamin in Bezug auf Baudelaires Motive des Spleens und der »vie antérieure« sagt, »die auseinandergesprengten Bestandstücke echter historischer Erfahrung in Händen«. 94 Es findet insbesondere an Feier- und Gedenktagen statt. Obwohl diese von der Zeit »losgelöst« sind, lösen sie sich nicht in bloßen Erlebnissen auf, sondern stellen auf gleichsam kultische Weise den Zusammenhang der Tradition wieder her, aber das tun sie – und darin besteht ihre besondere Bedeutung –, indem sie den Fluss der homogenen Zeit unterbrechen, die eine leere Zeit ist und mit der Kontinuität der Tradition nicht verwechselt werden darf. Weil diese nur durch die Unterbrechung der linearen Zeitlichkeit restauriert werden kann, erscheint das Eingedenken als die einzige Form von Gedächtnis, die mit den Momentaufnahmen der Chocks wetteifern kann. Sie stellt eine positive Form der »Jetztzeit« dar. Benjamin sieht sie in zwei literarischen Unternehmungen am Werk, die ihn beide ebenso wenig befriedigen: bei Proust, dem er vor-
93 94
Ebd. W. Benjamin: »Über einige Motive bei Baudelaire«, 643.
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Gérard Raulet
wirft, über die mythische Suche einer privaten Identität nicht hinauszukommen, und bei den »correspondances« von Baudelaire. Deren synästhetischer Charakter – »Les parfums, les couleurs et les sons se répondent« – bietet im Gegensatz zur Zerstreuung der Erlebnisse und zur Überforderung der Sinne das Modell einer Erfahrung, die wieder sinnvoll und reichhaltig wäre. Sie bleibt aber ausdrücklich – dem Titel »Spleen und Ideal« gemäß – ein Ideal, bestenfalls eine Allegorie im Benjaminschen Sinn. Die correspondances bilden bestenfalls für den modernen Menschen die »Erinnerung« an eine Erfahrung, die vor der modernen Zersetzung anzusiedeln ist und die Benjamin aus diesem Grund als »vorgeschichtlich« bezeichnet. 95 Sie steht aber deshalb auch außerhalb der Zeit. Die Thesen »Über den Begriff der Geschichte« zeugen von Benjamins hartnäckigem Versuch, sie – und also auch das Eingedenken – in eine nicht bloß nostalgische Geschichtskonzeption einzubeziehen: Dieser Konzeption zufolge würden sie dann inmitten der modernen Erfahrungsbedingungen die literarische Miniatur einer messianischen Rettung der Erfahrung darstellen. Darauf beziehen sich der Anhang B der sog. Thesen, der sich auf die Torah bezieht, und die noch explizitere Variante in den Manuskripten: »Jede Sekunde [ist] die kleine Pforte, durch die der Messias treten kann. Die Angel, in welcher sie sich bewegt, ist das Eingedenken.« 96 Aura und Nervosität, Nähe und Ferne: Im Unterschied zum Simmelschen Ansatz nimmt Benjamins Umgang mit dieser Problematik viel dramatischere dialektische Formen an. Auf der einen Seite bleibt die Distanzierung, ja sogar das Vergessen – wie es bei Freud und Proust der Fall ist –, die wie auch immer paradoxe konstitutive Bedingung echter Erfahrung. Zugleich aber bedarf das Eingedenken selbst sinnlicher Anregungen – der »leiblich-natürlichen Behelfe des Eingedenkens«. 97 Die Fin de siècle-Nervosität von Simmels Ansatz wird – und das muss gegen Adornos Urteil festgehalten werden – dezidiert überwunden, aber ohne dass Benjamin imstande wäre, ihr eine konsistente Geschichtsphilosophie entgegenzusetzen, die den beiden von ihm bekämpften Komplexen, d. h. sowohl der Krise der
Ebd., 639. W. Benjamin: Anmerkungen zu »Über den Begriff der Geschichte«, in: GS I–3, 1252. 97 W. Benjamin: Das Passagen-Werk, in: GS V in zwei Teilbänden, hier V–1, 490 [KI,1]. 95 96
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Aura und Nervosität
teleologischen marxistischen Lesung als auch der Hilflosigkeit des bürgerlichen Beobachters entgehen kann.
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V. Ausblick
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Simmels Zukunft Elizabeth Goodstein
Einhundert Jahre nach seinem Tod bleibt Georg Simmels Denken nach wie vor lebendig. Sein geistiges Erbe wird in der Zukunft weiterhin neue Perspektiven eröffnen und, wie er schrieb, die unerkennbare Provenienz von erneuten Denkstrategien bleiben. 1 Leider, wie Sie alle wissen, ist Simmels Wirkungsgeschichte weniger eine des Erinnerns als vielmehr eine des Vergessens. Bezeichnenderweise scheint »Der Philosoph Georg Simmel« die erste philosophische Konferenz seit Simmels Tod zu sein, die sich dezidiert mit seinem Vermächtnis beschäftigt. Häufig sind seine Beiträge nicht nur vernachlässigt, sondern auch verleumdet oder entstellt worden, oftmals sogar von Intellektuellen, die er nachhaltig beeinflusst hat. Nur zu oft sind Simmels Ideen aus ihrem Kontext gerissen worden und wurden seine Worte als Beleg für Ideen missbraucht, die er selbst ablehnte. Die Simmel-Forschung hat lange Zeit Schwerstarbeit geleistet und vieles aus dem Weg geräumt, so dass diese Tagung zu einem echten Wendepunkt werden kann, um, wie ich hoffe, endlich die oft zu vorzeitig beschworene Simmel-Renaissance zu feiern. 2 Vgl. G. Simmel: »Aus dem Nachgelassenen Tagebuche« [1923], in: ders: Gesamtausgabe, hg. von O. Rammstedt. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1989–2015 (im Folgenden GSG), Bd. 20, 261–296, hier 261. Der vorliegende Beitrag beruht auf dem öffentlichen Abendvortrag, den die Autorin am 26. September 2018, genaue einhundert Jahre auf den Tag und die Stunde genau nach Georg Simmels Tod, im Saal der Design-Sammlung Schriefers an der Bergischen Universität Wuppertal gab. Der Text wurde sprachlich überarbeitet und mit dem üblichen wissenschaftlichen Apparat versehen. Für ihre Mitareit und Unterstützung danke ich Klaus van den Berg, der den Vortrag ins Deutsche gebracht und bei der Umarbeitung sehr geholfen hat, und Petra Coronato, die auch zur Berarbeitung des Aufsatzes vieles beigetragen hat. 2 Während der vergangenen Jahrzehnte haben zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler keine Zeit und Mühe gescheut, um das Fundament für die zukünftige Simmel-Forschung zu legen. Wir schulden Otthein Rammstedt und all den Kollegen, deren unermüdliche Arbeit in der Georg Simmel Gesamtausgabe verkörpert ist, sowohl unseren Dank als auch Hochachtung vor der Wissenschaftlichen Leistung. Ich 1
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Elizabeth Goodstein
Als Simmel im September 1918 starb, nur wenige Wochen vor dem Ende des Ersten Weltkrieges, war er ein renommierter Philosoph. Er war ein erfolgreicher Intellektueller, der in der Öffentlichkeit präsent war und eine Art von Ruhm genoss, die heute nicht mehr vorstellbar ist. Simmels oftmals schwierige Schriften waren schon in viele Sprachen übersetzt worden und wurden von vielen Fachrichtungen rezipiert. Er schrieb für und wurde von einer breiten, literarisch gebildeten Öffentlichkeit gelesen, die in dieser Form nicht mehr existiert. Seine Aufsätze wurden in Zeitschriften mit großen Auflagen gedruckt; seine Vorlesungen und Vorträge zogen Hörer aus Deutschland und dem Ausland an; sein anspruchsvolles Werk Hauptprobleme der Philosophie, herausgegeben als Jubiläumsausgabe der erfolgreichen Sammlung Göschen, wurde innerhalb von nur zehn Wochen 13.000 mal verkauft. 3 In Anbetracht des gegenwärtigen Niveaus des öffentlichen Diskurses über ernsthafte Zeitfragen (von philosophischen Fragen ganz abgesehen) sollte uns Simmels Erfolg zu denken geben. Auf jeden Fall darf man sagen, dass wir alle froh wären, zehn ebenso brillante wie einflussreiche Seiten zu schreiben wie Simmels kurze Rede »Die Großstädte und das Geistesleben« aus dem Jahre 1903. Georg Lukács’ doppelbödige Eloge auf seinen ehemaligen Lehrer als »zweifellos die bedeutendste und interessanteste Übergangserscheinung in der ganzen modernen Philosophie« verzerrt das Bild von Simmels großem öffentlichen Einfluss als Denker. 4 Mit Sicherheit war Simmel in vielerlei Hinsicht ein Mann des 19. Jahrhunderts, der es, zum Beispiel, als selbstverständlich annahm, dass theologische, metaphysische und ethische Fragen Angelegenheiten der social sciences bleiben sollten. Auf der anderen Seite war er ein Mann der Moderne, kein Traditionalist. Aus heutiger Sicht war er ein politisch Progressiver, der die sich in den Kinderschuhen befindenden Sozialbewegungen unterstützte und, in seiner weltlichen Einstellung zum möchte auch meine persönliche Trauer zum Ausdruck bringen, dass Klaus Christian Köhnke, Rüdiger Kramme und Don Levine nicht an der Tagung teilnehmen konnten – aber auch meine Freude darüber, dass Wera Köhnke mit dabei war. 3 Vgl. G. Simmel an E. Husserl: Brief vom 19. Februar 1911, in: GSG 22, 940 f., hier 940. Innerhalb eines Jahrzehnts waren 37.000 Exemplare der Hauptprobleme im Druck (vgl. R. Kramme und O. Rammstedt: Editorischer Bericht, in: GSG 14, 461– 480, hier 476). 4 G. Lukács: Erinnerungen an Simmel, in: K. Gassen und M. Landmann (Hg.): Buch des Dankes an Georg Simmel. Briefe, Erinnerungen, Bibliographie. Zu seinem 100. Geburtstag am 1. März 1958. Duncker & Humblot: Berlin 1958, 171–176, hier 176.
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Simmels Zukunft
Philosophieren, eine Inspiration für eine Reihe von radikaleren Denkern war. Simmels Werke zeigten den Weg für Arbeiten von großer theoretischer und disziplinärer Vielfalt auf. In seinen wegweisenden Bestrebungen, das zu bewahren und zu fördern, was er philosophische Kultur nannte, offenbarte er den theoretischen Stellenwert alltäglicher Phänomene wie Geschlecht, Stadtleben, Mode und thematisierte die Rolle der Technologie in der Gesellschaft – Theoreme, die, dank der Vermittlung seiner Studenten und Interpreten, heute zu etablierten Forschungsbereichen geworden sind. In einer Zeit der Krise innerhalb und außerhalb der Universität brauchen wir jedoch weniger eine angemessenere Kanonisierung Simmels, als einen Versuch, sein Bild in einer Umdeutung von Lukács’ »Übergangserscheinung« neu zu erfassen. Simmel hatte eine inter- und transdisziplinäre Wirkung auf die Philosophie, Soziologie und Anthropologie, auf die Kunstgeschichte, Ästhetik und Kritische Theorie, aber auch auf die Literatur und die Bildenden Künste ausgeübt. Als ein Denker an der Schwelle zur modernen Welt, ein liminaler Denker, dessen Philosophieren der Zementierung in Fachrichtungen vorausgeht, die unsere Denkweisen über die Forschung und Künste determinieren (was ich in meinem Buch disciplinary imaginary nenne), legt Simmel die Grenzen offen, die wir erst jetzt im Begriff sind zu erkennen, als ein eingeengtes Verständnis von Kultur, Wissen und dem Denken selbst. 5 Deshalb ist die Frage nach Simmels Zukunft ein, im Sinne Nietzsches, genealogisches Unterfangen, das eine erneute Wahrnehmung der Möglichkeiten unserer eigenen Gegenwart und Zukunft fördern kann. Durch seine Texte vermittelt, funktioniert die Erinnerung an Simmel als ein Exemplum, wie man unser zukünftiges Bemühen lenken kann, um anders zu denken und dadurch der theoretischen Sackgasse unserer Gegenwart zu entgehen. In einer Zeit, in der man oftmals über die Tendenzen der Politik, die Situation an unseren Universitäten und das Schicksal unseres Planeten verzweifeln könnte, werden die Beschränkungen, die Schwächen des akademischen Philosophierens und der dominanten Verfahren der Kritik immer offenbarer. Wie wir wissen, kämpfte Simmel unermüdlich und gleichzeitig an vielen Fronten gegen die Professionalisierung des Denkens: gegen seine Aufteilung in disziplinäre Fächer und das ängstliche PatrouillieE. Goodstein: Georg Simmel and the Disciplinary Imaginary. Stanford University Press: Stanford CA 2017.
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ren an den Grenzen, die dieser Aufteilung folgten sowie gegen die Verwechslung von Strenge mit Systematik und Wiederholbarkeit. Indem wir zu Simmel zurückkehren, können wir Denkwege erschließen, die wir im 20. Jahrhundert nicht gegangen sind. Wie ich hier skizzieren werde, setzte sich Simmel schon mit der Frage der Zukunft der Philosophie auseinander, und die von ihm aufgezeigten Denkstrategien können immer noch zu theoretischen Erneuerungen führen. Angesichts der entmutigenden historischen und politischen Herausforderungen müssen wir danach streben, das Verständnis der öffentlichen Bedeutung von philosophischer Reflexion und Kulturtheorie zu vertiefen und zu erweitern, und hierfür bieten uns Simmels Schriften Mittel, Strategien und Inspiration. Simmels Œuvre und sein noch nicht fachdisziplinär normierter Ansatz des Philosophierens verweisen auf ein Bild der gelebten Wahrheit und die Vorstellung eines anderen Denkens, worin Vielfältigkeit und Differenzen, Vieldeutigkeit und Perspektiven bekräftigt werden, ohne dem Nihilismus zu verfallen. Es ist Simmels immer noch radikale Überzeugung, »die zeitgeschichtliche Auflösung alles Substantiellen, Absoluten, Ewigen, in den Fluß der Dinge, in die historische Wandelbarkeit, in die nur psychologische Wirklichkeit« werde »nur dann vor einem haltlosen Subjektivismus und Skeptizismus gesichert, wenn man an die Stelle jener substantiell festen Werte die lebendige Wechselwirksamkeit von Elementen setzt«, und von dieser neuen Art von Fundament ausgehend, »die Zentralbegriffe der Wahrheit, des Wertes, der Objektivität« selbst »als Wechselwirksamkeiten, als Inhalte eines Relativismus« umdenkt. 6 Die philosophische Bedeutung von Simmels metaphysischem Relativismus wird bis heute oft unterschätzt oder missverstanden. Seine eigene Verteidigung seines Wahrheitsbegriffes und dessen Grund in der »unendliche[n] Relativität« in einem Brief an Heinrich Rickert aus dem Jahre 1916 bleibt bemerkenswert: »Was ich unter R[elativismus] verstehe, ist ein durchaus positives metaphyisches Weltbild u. so wenig Skeptizismus, wie der physische R[elativismus] von Einstein oder Laue.« 7
G. Simmel: »Fragment einer Einleitung« [1958], in: GSG 20, 304 f., hier 304. Zu den Kontroversen über Herkunft und Datierung dieses zuerst in K. Gassen und M. Landmanns Buch des Dankes veröffentlichten Textes, vgl. E. Goodstein: Georg Simmel and the Disciplinary Imaginary. 7 G. Simmel an H. Rickert: Brief vom 15. April 1916, in: GSG 23, 636–639, hier 638. 6
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Simmels Zukunft
Ich möchte nun über Simmels Zukunft in diesem größeren Zusammenhang nachdenken: Was kann uns Simmels Œuvre im 21. Jahrhundert anbieten und ermöglichen? Ich denke, es ist angebracht, dass wir Simmels eigenes, sich veränderndes Verständnis seines Vermächtnisses zur Orientierung nehmen. Ich habe am Anfang schon auf das vielzitierte Motto »Aus dem nachgelassenen Tagebuche« angespielt, das erst nach seinem Tode veröffentlicht wurde. »Ich weiß«, beginnt er, »daß ich ohne geistigen Erben sterben werde (und es ist gut so)«. Dann, mit einer aufschlussreichen und theatralischen Geste, vergleicht Simmel sein Vermächtnis mit einer »Hinterlassenschaft in barem Gelde«, das in der folgenden Generation wegen dessen eigener Fruchtbarkeit unsichtbar geworden ist: weil es angelegt wurde, um viele unterschiedliche »Erwerb[e]« zu finanzieren. 8 Schon 1923, als diese Zeilen von Gertrud Kantorowicz in Fragmente und Aufsätze veröffentlicht wurden, war die Tragweite von Simmels Beobachtung deutlich. 9 Obwohl er immer eine gewisse Gefolgschaft hatte, ist die Erkennbarkeit seiner geistigen Erben über die Jahre schwieriger geworden, nicht zuletzt, weil allzu oft die Spuren seines Kapitals immer mehr verhüllt, ja absichtlich von seinen Studenten und Lesern verschleiert wurden. Vor allem soll Simmels Einschätzung uns daran erinnern, dass in seinem Werk noch viel Kapital steckt, das wir zurückgewinnen können, um in unsere eigene Zukunft neu zu investieren. Simmels tiefsinnige Metapher vom »bare[n] Gelde« zeigt die Bedeutung der fachlichen Organisation der Wissenschaft im 20. Jahrhundert für sein Erbe auf. Nicht nur ist seine Wirkung, verstreut in verschiedene »Erwerb[e]« bzw. unterschiedliche Fächer, tatsächlich unerkennbar geworden. Es ist für uns heute auch sehr schwierig, nachvollziehen zu können, was Simmel unter der Aufgabe des Philosophierens verstanden hat. Da sein schon damals unzeitgemäßes Verständnis des Philosophierens eng mit seinem Ruhm als Pädagoge und der fächerübergreifenden Rezeption seines Werkes verknüpft ist, lohnt es sich, unsere Aufmerksamkeit auf diese Konstellation zu richten, um uns von seinem Vorbild inspirieren zu lassen. Bleiben wir also einen Augenblick bei der Frage, was Simmel am Ende einer so G. Simmel: »Aus dem Nachgelassenen Tagebuche«, 261. Vgl. G. Simmel: »Aus dem Nachgelassenen Tagebuche«, zuerst erschienen in: G. Simmel: Fragmente und Aufsätze aus dem Nachlaß und Veröffentlichungen der letzten Jahre, hg. von G. Kantorowicz. Drei-Masken-Verlag: München 1923, 1–45.
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Elizabeth Goodstein
langen und produktiven Karriere zu jener melancholischen Äußerung über seine Nachwirkung veranlasste. Dabei sollten wir es vermeiden, Simmel als tragische Figur zu betrachten. Wie oft er auch immer missverstanden und übergangen wurde, seine Affirmation im nachgelassenen Tagebuch, dass er »ohne geistigen Erben sterben werde«, sagt viel darüber aus, wie Simmel seinen Platz in der Geistesgeschichte und wie er die Geschichte der Philosophie verstand. Simmels eigentümliches, nicht-akademisches Selbstverständnis lässt sich vielleicht am besten in dem anschaulichen Bild des Philosophen als dem »Abenteurer des Geistes« einfangen. »Der Abenteurer«, so schrieb er 1910, »behandelt das Unberechenbare des Lebens so, wie wir uns sonst nur dem sicher Berechenbaren gegenüber verhalten.« In einer beiläufigen Nebenbemerkung, die Simmel im letzten Jahr seines Lebens hinzufügte, als er die zweite Ausgabe seiner Essaysammlung Philosophische Kultur vorbereitete, schrieb er: »Darum ist der Philosoph der Abenteurer des Geistes. Er macht den aussichtslosen, aber darum noch nicht sinnlosen Versuch, ein Lebensverhalten der Seele, ihre Stimmung gegen sich, die Welt, Gott, in begriffsmäßige Erkenntnis zu formen. Er behandelt dies Unlösbare, als wäre es lösbar.« 10 Das Verfolgen dieses letztlich aussichtslosen (wenn auch sinnvollen) utopischen Versuches, das Leben als ein Objekt des Wissens zu begreifen, erzeugt das (immer provisorische) geistige Hochgefühl des philosophischen Abenteurers: das Erfahren einer Form von Kohärenz und Einheit inmitten des Lebensflusses. Wo dies gelingt, vermittelt Simmels Schreiben diese Begeisterung des Denkens. In einer Zeit der sich schnell ausbreitenden neuen Praxen des Erkennens, innerhalb und außerhalb der Universität, fasste Simmel Wandel selbst als philosophisches Objekt auf. Folgen wir seinem Beispiel, dürfen wir seine Entwicklung als Schriftsteller und Denker als eine Reihe von intellektuell-geistigen Abenteuern verstehen, als ein anhaltendes Bestreben, innovative Denkstrategien zu erfinden, neue Denkwege zu erschließen, um die Welt immer neu zu interpretieren. Dieser modernistische Stil des Philosophierens ging aus Simmels
G. Simmel: »Das Abenteuer« [1910], in: GSG 14, 168–185, hier 175. »Das Abenteuer« wurde zuerst 1910 veröffentlicht und in die Essaysammlung Philosophische Kultur aufgenommen, die Bemerkung über den Philosophen als »Abenteurer des Geistes« wurde jedoch erst 1918 in die zweite Ausgabe eingefügt (vgl. Varianten zu G. Simmel: »Das Abenteuer« [1910], in: GSG 14, 492 f., hier 493).
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Simmels Zukunft
Denken des Sozialen hervor, zu einem Zeitpunkt, als die noch unbestimmten Grenzen zwischen Philosophie und Soziologie und allgemeiner, die zwischen Geistes- und Sozialwissenschaften, gerade erst im Begriff waren, ihre Konturen anzunehmen. Wie wir alle wissen, war Simmels Universitätskarriere alles andere als einfach. Für Köhnke, der von einem »Leidensweg« spricht, ist es gerade die Originalität, die Simmel zu einem Klassiker machte, aber auch schnell zu beruflichen Schwierigkeiten führte: »Georg Simmels intellektuelles Profil, seine Werke und seine Persönlichkeit, die schlechterdings nicht zum Anforderungprofil des Nachwuchses der deutschen Universitätsphilosophie der Jahrhundertwende passten: sein extremer Individualismus, seine Themen, äußerst kritische und transdisziplinäre Behandlungsweise, bevorzugte Darstellungsmedien, fachlichen Schwerpunkte und Lehrform, Argumentationsweisen und Denkstil haben ihn nicht für ein philosophisches Ordinariat empfohlen.« 11
Es ist eine der traurigen Wahrheiten der Geistesgeschichte, dass Universitäten den intellektuellen Neuerungen oft feindlich gegenüberstehen. Wie viele unkonventionelle Anwärter auf einen akademischen Beruf machte Simmel bittere Erfahrungen. Wenn an Simmel zurecht als einen der Begründer der Soziologie erinnert wird, wird doch seine Innovationskraft oftmals in einer Weise aufgefasst, die sich auf den Kampf reduziert, eine sich im Anfangsstadium befindende Fachrichtung zu etablieren. Allerdings soll nicht vergessen werden, dass Simmel, indem er Soziologie betrieb (oder vielleicht präziser, sich mit einer Art der Theoriebildung beschäftigte, die darauf ausgerichtet war, die intellektuellen Grundlagen der Soziologie zu sichern), in erster Linie versuchte, eine Spezialisierung zu etablieren, die ihm die institutionelle Anerkennung innerhalb der Philosophie bringen sollte, der Fachrichtung, in der er ausgebildet und offiziell zugelassen war. Auch wenn die Beiträge zur Soziologie zu seinen einflussreichsten Arbeiten zählen, hatten seine theoretischen Bemühungen nicht die gewünschte Wirkung in seinem eigenen Fach – eher im Gegenteil. Ein Brief vom Juli 1898, geschrieben im Kontext des ersten, nicht erfolgreichen Versuches zum außerordentlichen Professor ernannt zu werden, zeigt uns schon, wie Simmels Vorstellung seiner Zukunft sich, angesichts der Konflikte und Herausforderungen, die K. C. Köhnke: Der junge Simmel in Theoriebeziehungen und sozialen Bewegungen. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1996, 20 f.
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ihm begegneten, auf eine stoische Haltung schließen lassen. Immer noch Privatdozent, mitten in der Arbeit an seinem vierten Buch, der großangelegten Philosophie des Geldes, reflektierte er bereits sein intellektuelles Vermächtnis. In Anspielung auf seinen programmatischen Aufsatz aus dem Jahre 1894, schrieb er an Georg Jellinek: »Ich bin völlig fest überzeugt, daß das Problem, das ich der Soziologie gestellt habe, ein neues u. wichtiges Erkenntnißfeld eröffnet.« Jedoch das Fehlen von Nachfolgern, die in der Lage waren, Simmels Entwurf auszuführen, führte dazu, dass er selbst erst noch zeigen musste, dass »die Lehre von den Formen der Vergesellschaftung als solche« wirklich eine neue synthetische Grundierung für ein neues Fachgebiet war. Da er die Alternative, »junge Leute […] an ein Gebiet zu fesseln, das nicht offiziell anerkannt ist«, ein Gebiet, das weder institutionelle Strukturen noch eine professionelle Perspektive innerhalb der etablierten Wissenschaften hatte, als ein »Mißbrauch [s]einer persönlichen Macht« betrachtete, sah er sich verpflichtet, die »Ausführbarkeit und Fruchtbarkeit« seiner Vision zu zeigen und »aus diesem Grunde wissenschaftlicher Moral […] im Lauf der Zeit eine große Soziologie zu schreiben«. 12 Simmel legte großen Wert auf seine wissenschaftliche Verantwortung. Wie er Jellinek gegenüber betonte, sein Vorhaben sei ihm »nur durch die Umstände oktroyirt, u. liegt durchaus nicht in meinen wissenschaftlichen Neigungen u. Anlagen. Meine Natur ist vielmehr pfadfinderisch als anbauend, u. mancherlei ganz andre Gebiete locken mich seit lange[m], meinen Wegen auf ihnen nachzuspüren; sehr viel Fruchtbareres u., wie ich glaube, Werthvolleres könnte ich auf diesen leisten, als wenn ich eine ausführliche Soziologie schreibe, deren weitere Theile doch prinzipiell nichts Neues bringen können u. zu der mich nur die wissenschaftliche Konsequenz meiner einmal aufgestellten Behauptungen u. Forderungen verpflichtet.« 13
Simmel akzeptierte seine Verantwortung als Gründervater, aber seine eigene Konstitution, die er eine pfadfinderische Natur nannte, und die Überzeugung einer Verpflichtung gegenüber der Soziologie kam, wie er es hier schon 1898 beschrieb, einem »fast tragische[n] Verhängniß« gleich und schien die Früchte seiner Arbeit über viele Jahre hinaus zu verbittern. 14 12 13 14
G. Simmel an G. Jellinek: Brief vom 13. Juli 1898, in: GSG 22, 297–299, hier 298 f. Ebd., 299. Ebd.
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Simmels Zukunft
Ehe er ein Jahrzehnt später sein großes Buch über die Soziologie abschloss, war auch längst klargeworden, dass seine Hoffnung, sich in seinem Fach, der Philosophie, durch die Entwicklung einer innovativen Soziologie zu etablieren, grandios fehlgeschlagen war. Seine Qualifikation als Philosoph wurde deswegen wiederholt in Frage gestellt, und damit einhergehend kursierten immer wieder Verleumdungen seiner politischen Haltung. Als Jude war Simmel von vornherein ein Außenseiter. 15 Seine unkonventionelle und innovative Art des Philosophierens, wozu auch seine bahnbrechenden Beiträge zur werdenden neuen Disziplin der Soziologie gehörten, hat seinen beruflichen Chancen wohl eher geschadet als genutzt. Er erlebte immer wieder institutionelle Niederlagen bei seinen Versuchen, auf der nächsten Stufe der akademischen Leiter Fuß zu fassen und sah sich, trotz seines internationalen Ansehens und seiner zahlreichen Veröffentlichungen, gegenüber anderen, die weit weniger geleistet hatten, immer wieder übergangen. Man könnte dazu noch viel sagen und diskutieren; ich möchte hier nur kurz darauf zurückblicken, um die damit verbundene Verwandlung seines Verständnisses der Philosophie (und die Aussichten auf seine professionelle Zukunft) in den vorausgehenden Jahren zu skizzieren. Im Jahre 1894 war Simmel dabei, seine Vorstellung von der Soziologie zu verbreiten, vor allem durch Übersetzungen des Aufsatzes »Das Problem der Sociologie« und dessen Veröffentlichung in vielen internationalen Zeitschriften. 16 Im Februar desselben Jahres machte er seine vielzitierte Aussage gegenüber Celestin Bouglé, »daß ich mich ganz u. gar soziologischen Studien widme«. 17 Ein proto-positivistischer Grundsatz leitete ihn in diesen frühen Arbeiten: die Überzeugung, dass die Philosophie selbst obsolet werde, dass die Zeit sich in einer schlichten »Überwindung der individualistischen Anschauungsart« befinde und »die Wissenschaft vom Menschen […] Wissenschaft von der menschlichen Gesellschaft geworden« ist. 18 Aber schon in einem Brief vom Juni 1895, in dem er Bouglé nochmals vergeblich bat, »[m]einen kleinen Aufsatz über das Problem der Soziologie zu berücksichtigen«, erwähnte Simmel auch eine
Zu der komplexen Frage der Selbst- und Fremdzuschreibung einer jüdischen Identität Simmels vgl. K. C. Köhnke: Der junge Simmel, 122–149. 16 G. Simmel: »Das Problem der Sociologie« [1894], in: GSG 5, 52–61, hier 52. 17 G. Simmel an C. Bouglé: Brief vom 15. Februar 1894, in: GSG 22, 111 f. 18 G. Simmel: »Das Problem der Sociologie«, 52. 15
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Psychologie des Geldes. 19 Nach Köhnke ist dies die »früheste überlieferte Erwähnung der Arbeit an dem später ›Philosophie des Geldes‹ betitelten Werk«. 20 Simmels Begriffswelt, sein Selbstverständnis als Denker, war bereits im Wandel. Ab 1898, dem Jahr also, in dem der erste Versuch, ihn zum Extraordinarius in Berlin zu benennen, fehlschlug, sprach er nurmehr von einer Philosophie des Geldes und war schon dabei, wie im oben zitierten Brief an Jellinek, sich von seiner einst gesuchten Identifizierung mit der Soziologie zu distanzieren. Am Ende des folgenden Jahres, im Dezember 1899, lehnte Simmel Bouglés Einladung ab, einen Vortrag über die deutschen Sozialwissenschaften während des Soziologischen Kongresses in Paris zu halten, der gleichzeitig mit der Weltausstellung im Jahre 1900 an der Sorbonne stattfinden sollte. »Sie dürfen doch nicht vergessen«, schrieb er, »dass die Sciences Sociales nicht mein Fach sind. Meine Soziologie ist ein ganz spezialistisches Fach, für das es ausser mir keinen Vertreter in Deutschland giebt, u. den übrigen Sozialwissenschaften […] stehe ich nur als Laie gegenüber«. 21 Ehe er nochmals die Treue zur wissenschaftlichen Moral beschwörte, die er Jellinek gegenüber ausgedrückt hatte, fügte Simmel etwas hinzu, das er in verschiedenen Varianten in den kommenden Jahren wiederholen würde: »Es ist mir überhaupt einigermaassen schmerzlich, dass ich im Ausland nur als Soziologe gelte – während ich doch Philosoph bin, in der Philosophie meine Lebensaufgabe sehe u. die Soziologie eigentlich nur als Nebenfach treibe. Wenn ich erst einmal meine Verpflichtung gegen diese damit erfüllt haben werde, dass ich eine umfassende Soziologie publizire […] werde ich wahrscheinlich nie mehr auf sie zurückkommen.« 22
Im folgenden Absatz kündigte Simmel die baldige Erscheinung der Philosophie des Geldes an, die sein letztes – im herkömmlichen Sinne – systematisches Werk sein sollte, mit dem Zusatz, dass sie »eine Philosophie des ganzen geschichtlichen u. sozialen Lebens zu sein strebt«. 23 C. Bouglé hatte gerade seine eigene Aufsatzserie über die Sozialwissenschaften in Deutschland für die Buchveröffentlichung überarbeitet (vgl. C. Bouglé: Les sciences sociales en allemagne. Les méthodes actuelles. Félix Alcan: Paris 1896). 20 K. C. Köhnke: Editorische Bemerkung zu: G. Simmel an C. Bouglé: Brief vom 22. Juni 1895, in: GSG 22 (2008), 150–153, hier 152. 21 G. Simmel an C. Bouglé: Brief vom 13. Dezember 1899, in: GSG 22, 342 f., hier 342. 22 Ebd. 23 Ebd. 19
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Simmels Zukunft
Diese Formulierung, die Simmels neuen Ehrgeiz für die moderne Philosophie unterstreicht, deutet auf eine Bestrebung hin, die in einem ziemlichen Widerspruch zu seiner Selbsteinschätzung als »pfadfinderisch« zu stehen scheint. Lassen Sie mich einen Augenblick bei dieser Spannung verweilen, die uns dann wieder zu seiner Soziologie (und in mehrfacher Hinsicht zu Simmels Zukunft) zurückführen wird. In der Vorrede zur Philosophie des Geldes kontrastiert Simmel sein Vorhaben mit dem Bestreben nach dem »abstrakten philosophischen Systembau«, das sich auf »Distanz [zu] den Einzelerscheinung [en], insbesondere des praktischen Daseins« hält. Inspiriert vom künstlerischen Verfahren, das »ein einzelnes, eng umschriebenes Problem setzt«, um es ins Allgemeine zu erweitern, fasst er Geld auf nur als »Mittel, Material, oder Beispiel für die Darstellung der Beziehungen, die zwischen den äußerlichsten, realistischsten, zufälligsten Erscheinungen und den ideellsten Potenzen des Daseins, den tiefsten Strömungen des Einzellebens und der Geschichte bestehen«. 24 Das Geld, als »die substanzgewordene Relativität selbst« erfasst, leitet ein dezidiert modernistisches Philosophieren ein, das die konventionellen Auffassungen des philosophischen Wissens und der Beweisführung explizit ablehnt und stattdessen die Einheit seiner Untersuchungen »in der darzutuenden Möglichkeit, an jeder Einzelheit des Lebens die Ganzheit seines Sinnes zu finden« versucht. 25 Simmels Denken der gelebten Komplexität verweilt an der Schwelle zwischen Philosophie und Soziologie oder genauer zwischen den Geistes- und Kulturwissenschaften. Durch die relativistische Methode, er nennt sie eine »Praxis des Erkennens«, die den Gegenständen und Phänomenen in ihrer Relativität entspricht, zeigt Simmel an den verschiedensten Beispielen der kulturellen und sozialen Erscheinungen immer wieder die metaphysische Bedeutung des Geldes als gleichzeitigem Träger und »Symbol der wesentlichen Bewegungsformen« der »geistigen Welt«, d. h. Kultur, auf. 26 Seine Leser werden in die verschiedensten »Erscheinungsreihen« eingeleitet und durch die phänomenologische Erfahrung der vielfältigen, komplementären, aber auch widersprüchlichen Denkreihen und Beweisführungen zur Reflexion über die Soziogenese von Werten und Bedeutung über24 25 26
G. Simmel: Philosophie des Geldes [1900], in: GSG 6, 7–716, hier 12. Ebd., 134, 12. Ebd., 12 f.
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haupt gebracht, und damit zum Erkennen eines »Kulturprozesses«, an dem wir in unserem Tun und Denken alle teilnehmen. 27 In diesem Sinne wird seine Philosophie des Geldes eine anti-substantialistische »Philosophie des ganzen geschichtlichen u. sozialen Lebens«. 28 Um es anachronistisch auszudrücken: für den reifen Simmel müssen die Sozial- und Geisteswissenschaften radikal interdisziplinär sein, weil die Bedingung der Möglichkeit einer systematischen Untersuchung menschlicher (sowohl individueller als auch überindividueller) Existenz eine konstitutive Vielfalt von Deutungsperspektiven ist. Eine pluralistische Auffassung des Nachdenkens über das Kultur- und Geistesleben geht mit einer relativistischen Ausweitung oder Umformung der dialektischen Tradition und mit einem erweiterten Begriff der Formung als einem historisch-kulturellen Prozess einher, der schon in der Philosophie des Geldes seinen Ausdruck findet und für Simmel bis in die späte Lebensphilosophie hinein zentral bleibt. Simmels Philosophie des Geldes ist, sozusagen selbstredend, ein philosophisches Werk. Nachweislich hat dessen wirkungsgeschichtliche Einordnung als klassische Soziologie der Moderne dessen Leistungen eher verdeckt als hervorgehoben, auch wenn seine philosophische Tiefe und philosophischen Perspektiven eine stets sich erneuernde Quelle der soziologischen Theoriebildung bleibt. Aber letztendlich ist es irreführend, Simmel entweder als Soziologen, der auch philosophierte, zu bezeichnen, oder als einen Philosophen, der zur aufstrebenden Disziplin der Soziologie beigetragen hat. Beide Perspektiven projizieren eine Professionalisierung und Institutionalisierung der Fachrichtungen in die Vergangenheit, die zu Simmels Lebenszeit gerade erst im Begriff waren, sich zu konstituieren. Der Impetus zur Disziplinierung stand im Gegensatz zu Simmels Denkstil, eine Eigenschaft, die ebenso verdächtig für die akademischen Kollegen wie anziehend für die breite Öffentlichkeit war. Gerade die betonte Liminalität seines Denkens hat viel Potential für die Zukunft; aber um dies wahrzunehmen, müssen wir versuchen, uns von dem eigenen disziplinären Wahrnehmungs- und Denkhorizont zu befreien, um uns in eine Situation zurückzuversetzen, in der die Spaltung von Soziologie und Philosophie ebenso wie die hochentwickelte Spezialisierung der Fachrichtungen, die uns heute zur zweiten Natur geworden ist, noch nicht stattgefunden hatte. Kurz: Um 27 28
Ebd., 272, 245. G. Simmel an C. Bouglé: Brief vom 13. Dezember 1899, 342.
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Simmel zu verstehen, müssen wir die Grenzen des eigenen disciplinary Imaginary erkennen. Mir geht es hierbei nicht darum, Simmel für das Fach Philosophie zu beanspruchen. Selbstverständlich haben Simmels praktische und theoretische Beiträge zur Gründung der modernen Sozialwissenschaften den Philosophen geprägt, lange noch, nachdem er den Standpunkt des Reduktionismus und des »extreme[n] Soziologismus« seines frühen Werkes aufgegeben hatte. 29 Ganz wurde er die Bestrebung nie los, seine Auffassung von der Soziologie als Wissenschaft (genauer, als Wissenschaft der Formen der Vergesellschaftung) zu verbreiten. Bis er jedoch seine selbstauferlegte Verpflichtung mit dem Buch Soziologie von 1908 erfüllt hatte, war seine Auffassung der Disziplin längst seinem erweiterten Verständnis des Philosophierens untergeordnet. Letztendlich beendete Simmel sein soziologisches Opus hastig, wohlgemerkt, in der Hoffnung, seine Chancen einer Berufung auf die zweite Professur in Philosophie an der Universität Heidelberg zu verbessern. Am 23. Dezember 1907, fast ein Jahrzehnt nach dem oben zitierten Brief, schickte Simmel ein weiteres Schreiben an Jellinek, in dem er sein Selbstverständnis als Wegbereiter der Soziologie zwar wieder zum Ausdruck bringt, die Auswirkungen seines experimentellen Verfahrens aber eher nüchtern einschätzte: »Ich gebe dieses Buch mit sehr schwerem Herzen heraus […]. Denn da es ein allererster Anfang ist, sich an keine Tradition u. bestehende Technik anschließt – so wird vieles an ihm unvollkommen, tastend, irrend sein; […] es ist ein geringer Trost, daß ein Buch, dessen Prinzip keine Vorgänger hat, nicht so vollkommen sein kann wie eines, das sich einer schon existirenden Wissenschaft einordnet u. nach bereits bewährter Methode arbeitet.« 30
Die Einsamkeit seines geistigen Weges ist spürbar, genauso wie das bleibende Gefühl der Selbstaufopferung um der wissenschaftlichen Ehre willen. Sobald das Buch fertiggestellt war, meinte Simmel, »die soziologische Existenz meines Lebens wird damit abgeschlossen sein u. ich werde seinen Rest ganz der Philosophie widmen, in der ich mir einrede noch einiges zu sagen zu haben u. der mein Herz doch ganz anders als der Soziologie angehört«. 31
29 30 31
G. Simmel: »Goethes Individualismus« [1913], in: GSG 12, 388–416, hier 391. G. Simmel an G. Jellinek: Brief vom 23. Dezember 1907, in: GSG 22, 597 f. Ebd., 598.
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Simmels Entwicklung muss im weiteren Kontext der Veränderungen an den wissenschaftlichen Institutionen, Fragestellungen, und Forschungsweisen in seiner Zeit verstanden werden. Aber wenn wir uns an seiner Zukunft orientieren wollen, brauchen wir einen genealogischen Blick. Die modernen Sozial- und Kulturwissenschaften kann man nicht auffassen als das Ergebnis von Versuchen, ein bestehendes Studienobjekt zu verstehen. Der laufende Prozess, neue Denkstrategien und Kategorien von Phänomenen des kollektiven Lebens des Menschen zu erzeugen, erfolgte in medias res, als Teil eines sozialen, geschichtlichen, kulturellen, politischen und konzeptionellen Prozesses der Erfindung, der reflektierte und auf Veränderungen hin reflektiert wurde, die in vollem Gange waren, und gemäß ihrer Natur halfen, das Objekt erst zu entwickeln (das Soziale, die Gesellschaft, die Kultur), das die neuen Wissenschaften untersuchten. Statt zu versuchen, Simmel mithilfe heutiger Erzählstrukturen in unsere Fächer einzusortieren, sollten wir uns bei ihm (wie auch bei Freud, Weber und anderen großen Vordenkern der modernen Sozialwissenschaften und Kulturtheorie) der Mehrdeutigkeit und Undurchsichtigkeit eines Denkens öffnen, das noch nicht in der Sicherheit der Gewissheit über die Bedeutung oder gar die Natur seines Objektes verfestigt ist. Mit anderen Worten: falls wir Simmels Zukunft denken wollen, müssen wir das Abenteuerliche an seinem Denken hervorheben. Wir sollten aufhören, aus der heutigen Perspektive nach Spuren von disziplinären Anbauten zu suchen, und uns stattdessen an seiner Selbstbeschreibung als »pfadfinderisch« orientieren. Statt seine philosophischen und soziologischen Beiträge zu untergliedern, um ihn weiter durch Einreihung in die jeweils eigene Fachvorgeschichte zu kanonisieren, sollten wir uns an seinen Freiheiten als Denker, an das Experimentelle in seinem Schreiben orientieren. Bei ihm, wie überhaupt bei den Vorgängern, die nur als solche in die Geschichte der Fachrichtungen eingeschrieben sind, sollten wir uns, der Zukunft wegen, an dem immer noch Ungedachten orientieren. So müssen wir, zum Beispiel, versuchen zu berücksichtigen, dass Simmel seine soziologischen Untersuchungen der Formen der Vergesellschaftung in Aussicht auf eine Professur in der Philosophie zu Ende schrieb – eine Professur, die er freilich nicht bekam. Obwohl das einleitende Kapitel jener sogenannten Großen Soziologie entsprechend dem Titel des Aufsatzes aus dem Jahre 1894 mit »Das Problem der Sociologie« überschrieben ist, handelt es sich 488 https://doi.org/10.5771/9783495824009 .
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tatsächlich um eine radikale Neufassung. Damals betrachtete Simmel es als evident, dass »die Wissenschaft vom Menschen […] Wissenschaft der menschlichen Gesellschaft geworden« ist, und die Frage war, wie man das moderne sozialwissenschaftliche Studium des kulturellen, psychologischen, und historischen Lebens des Menschen organisieren sollte. 32 Im Jahre 1908 insistierte Simmel wieder auf der Notwendigkeit der neu belebten und modernisierten philosophischen Reflexion angesichts der Herausforderung, die menschliche Existenz in Abwesenheit von transzendentalen Absicherungen zu denken. In der Neufassung kommen Simmels selbstreflexiver, philosophischer Relativismus und sein feines Gespür für die Bedingtheit und Kontingenz jeder analytischen Perspektive überall zum Ausdruck. »Es gibt«, betont er dort, »niemals schlechthin Gesellschaft, […] denn es gibt keine Wechselwirkung schlechthin«. 33 Der »Allgemeinbegriff Gesellschaft« habe nur dank der »Hypostasierung einer bloßen Abstraktion« eine »scheinbar selbständige historische Realität« bekommen. 34 Aber, »wie man mit dem Begriff des Lebens nicht recht vorwärts kam, solange die Wissenschaft ihn als ein einheitliches Phänomen von unmittelbarer Realität ansah«, müsse man, um voranzukommen, die analoge Hypostasierung absetzen und sich mit den einzelnen Prozessen, woraus die Vergesellschaftung besteht, beschäftigen. 35 Im Jahre 1908 ist Simmels Ausgangspunkt nicht mehr »die Überwindung der individualistischen Anschauungsart« in der Moderne, sondern die historisch neu entstandenen Erkenntnisinteressen. 36 Die wissenschaftlichen Ansprüche der Soziologie seien »die theoretische Fortsetzung und Abspiegelung der praktischen Macht, die im neunzehnten Jahrhundert die Massen gegenüber den Interessen des Individuums erlangt haben«. 37 Simmel präsentiert die Soziologie nicht mehr als die Erbin der Philosophie. Stattdessen verkündet er die Einsicht: »Der Mensch ist in seinem ganzen Wesen und allen Äußerungen dadurch bestimmt, daß er in Wechselwirkung mit an-
G. Simmel: »Das Problem der Sociologie«, 52. G. Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung [1908], in: GSG 11, 7–875, hier 24. 34 Ebd. 35 Ebd., 24 f. 36 Ebd., 52. 37 Ebd., 14. 32 33
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dern Menschen lebt« und dies muss »zu einer neuen Betrachtungsweise in allen sogenannten Geisteswissenschaften führen«. 38 Wohlgemerkt: Bereits als das Phänomen der Massengesellschaft aufkommt, sieht Simmel diese kulturelle Veränderung als einen Paradigmenwechsel, eine Umwälzung der geltenden Rhetorik und Erklärungsmuster, die nicht nur in der Sprache der Wissenschaft, sondern auch in der Organisation menschlicher Selbstreflexion überhaupt spürbar wird. So seien alle Erklärungen von »historischen Erscheinungen« nunmehr an den Wechselwirkungen zwischen Individuen und der »Verkörperung der sozialen Energien in Gebilden orientiert, die jenseits des Individuums stehen und sich entwickeln«. 39 Damit nimmt Simmel auf eine immer noch bemerkenswerte Weise bereits vorweg, was später als Krise des Subjekts bzw. der Meta-Erzählstruktur der Moderne verstanden wurde. Simmels Begriff Gebilde ist philosophisch und historisch höchst interessant. Zwei Zitate aus der Philosophie des Geldes verweisen auf dessen Bedeutung. »Sprache, Sitte, Recht, Religion, kurz allen grundlegenden Lebensformen, die in der Gruppe als ganzer entstehen und herrschen«, schreibt Simmel, sind »sicher als inter-individuelle Gebilde entstanden […] als Wechselwirkung zwischen den Einzelnen und den Vielen.« 40 In seiner Auffassung der kulturellen Lebensformen als historisch entstandenen, symbolischen Kristallisierungen, bedient er sich eines Begriffs, der von Herder in die Philosophie eingeführt und, auch sehr wichtig für Simmel, in Goethes Naturphilosophie weitergeführt wurde. Aber Simmel war kein Romantiker. Für ihn ist Geld das »äußerlichste, weil jenseits aller Qualitäten und Intensitäten stehende Gebilde des Geistes«. 41 Simmels Gebrauch des Begriffs Gebilde hat mit einem starren Formbegriff wenig gemeinsam, auch wenn einige Zweige der Soziologie ihn durch eine Gleichsetzung mit dem Begriff Strukturen auf sehr folgenschwere Weise missverstanden haben. Andererseits sind die Resonanzen für jene, die sich in der Kritischen Theorie auskennen, wohl spürbar, mehr noch, wenn wir bedenken, dass Simmel häufig auch den Begriff Konstellation benutzt.
38 39 40 41
Ebd., 15. Ebd. G. Simmel: Philosophie des Geldes, 88 f. Ebd., 299.
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Was Simmel als ausgereiften Denker interessierte, war ein antidogmatisches Philosophieren, das dennoch nicht abstrakt blieb. Dieses Denken war nicht nur allen empirischen Forschungszweigen gegenüber offen, sondern auch jenseits der Grenzen von Theorie und Ästhetik und ihrer Trennung angesiedelt; ein Denken, dem es um »die Einheit der Denkbewegung« und »die Art ihrer Form« ging, wie er es in Philosophische Kultur formulierte. 42 Simmels Auffassung der Form ging also wesentlich über deren Anwendung in seinem »ganz spezialistische[n] Fach« einer Soziologie, als dessen einziger Vertreter er sich sah, hinaus. 43 Seine Auffassung der Form als »lebendige Wechselwirksamkeit« und der Formung als Werden im Kulturprozess trennte nicht die sozialen von philosophischen (d. h. ethischen, ästhetischen, metaphysischen) Fragen; stattdessen strebte er danach, alte Fragen über Wissen, Wahrheit und Identität für die moderne Welt neu zu stellen. 44 Simmel bietet uns also weder eine Philosophie noch eine Soziologie der Moderne, sondern eine modernistische Denkpraxis, die das experimentelle und explorative, das abenteuerliche Aufsuchen und Untersuchen von Neuem in seine Lehr- und Schreibweise integrierte. Auch wenn seine Moderne offenbar nicht, oder nicht mehr, die unsere ist, bleibt noch sehr viel Kapital in seinem Projekt des relativistischen Philosophierens. Im März 1908, als die anfangs sicher scheinende Berufung nach Heidelberg zu scheitern drohte, empörte sich Simmel gegenüber Jellinek, dass er mit dem (leicht antisemitisch klingenden Urteil) als »nur kritisch« verleumdet werde. 45 »Ich glaube nicht, daß es ein, bloßer Kritik abgewandteres u. positivere[s], auf das Verständniß von Geschichte u. Leben gerichteteres Buch geben kann, als die Philosophie des Geldes.« 46 Und weiter: In der Lehre würde er sich ausdrücklich nur der »positiven Darstellung dessen, was ich für wahr u. gut halte widme[n]. Ein Student, der ein Semester bei mir gehört hat, u. das nicht begriffen hat, ist entweder böswillig oder völlig verständnißlos.« 47 Im Hinblick auf Simmels Zukunft bleibt noch zu bedenken, dass seine durchaus stimulierende und konstruktive Art des PhilosoG. Simmel: »Einleitung« [1911], in: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais [1911], in: GSG 14, 162–167, hier 162, hier 165. 43 G. Simmel an C. Bouglé: Brief vom 13. Dezember 1899, 342. 44 G. Simmel: »Fragment einer Einleitung«, 304. 45 G. Simmel an G. Jellinek: Brief vom 18. März 1908, in: GSG 22, 613 f., hier 614. 46 Ebd., 613. 47 Ebd., 614. 42
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phierens, seine vielseitige und vielschichtige modernistische Denkpraxis immer wieder so tiefgehend missverstanden wurde, dass er, in einer direkten Abwandlung eben dieser nachlässige Leseart, noch heute als unsystematisch missverstanden und seine phänomenologischen Auslegungen der kulturellen Erscheinungsreihen als unkritische Beschreibungen angegriffen werden können. Die Geringschätzung seines Denk- und Schreibstils hängt, meines Erachtens, mit der Schwierigkeit zusammen, ein relativistisches Philosophieren zu erfassen, das sich der Disziplinierung jeder Art entzieht. In den verbleibenden Jahren, bevor er endlich den langersehnten Ruf erhielt und Anfang 1914 nach Straßburg übersiedelte, zogen Simmels Vorlesungen in Berlin weiterhin zahlreiche Hörer an; auch seine Essays, die er in Zeitschriften und Zeitungen publizierte, bescherten ihm ein immer breiteres Publikum. Sein Bestseller Hauptprobleme der Philosophie erschien 1910; bereits 1911 erfolgte die schon erwähnte Essaysammlung mit dem Titel Philosophische Kultur – ein Unterfangen, das Kants kosmopolitischen Begriff der Philosophie als Weltbegriff umgestaltete. 48 Es ist diese breite öffentliche Wirkung, die, um mit Jürgen Habermas zu sprechen, »die Wahrnehmungsweise, die Themen, den Schreibstil einer ganzen Intellektuellengeneration verändert« hat und »uns de[n] kulturkritische[n] Simmel auf eigentümliche Weise fern und nah zugleich« macht. 49 In seiner Einleitung zu Philosophische Kultur legt Simmel sein modernistisches Konzept der Philosophie dar, das die Vereinigung derart heterogener Themen rechtfertigt, indem der Schwerpunkt auf dem Denkprozess und nicht auf den Inhalten oder Ergebnissen liegt. Das Wesentliche an der Philosophie sei, »eine bestimmte geistige Attitüde zu Welt und Leben, eine funktionelle Form und Art, die Dinge aufzunehmen und innerlich mit ihnen zu verfahren«. 50 Philosophieren auf eine moderne Art heißt, die Unabhängigkeit dieser »geistigen Attitüde« von allen besonderen Ansprüchen zu bejahen. »Solche Trennung zwischen der Funktion und dem Inhalt, dem lebendigen
Simmel spielt in dem zuvor bereits angegebenen Brief an Husserl explizit auf Kants kosmopolitischen Begriff der Philosophie an (vgl. G. Simmel an E. Husserl: Brief vom 19. Februar 1911, 941). 49 J. Habermas: »Georg Simmel über Philosophie und Kultur. Nachwort zu einer Sammlung von Essays« [1983], in: ders.: Texte und Kontexte. Suhrkamp: Frankfurt a. M., 1991, 157–169, hier 157, 161. 50 G. Simmel: »Einleitung«, 162. 48
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Vorgang und seinem begrifflichen Ergebnis bedeutet eine ganz allgemeine Richtung des modernen Geistes.« 51 In methodischer Hinsicht orientierte sich Simmel nicht bloß an einem Verfahren der kritischen Selbst-Reflexivität, das man, im historischen Sinne, als modern identifiziert. Die moderne geistige Attitüde in den Vordergrund zu stellen, ermöglicht ein philosophisches Verfahren, das eine tiefe Wesensverwandtschaft mit der literarischen und kulturellen Moderne aufzeigt, in dem die Form sozusagen als Sein zurückkehrt, damit »man den metaphysischen Trieb, den Prozeß oder die Geisteshaltung, die ihm entfließen, als einen Charakter oder einen Wert erfassen« könne. 52 Die Befreiung von der herkömmlichen Orientierung auf »gegenständliche[] Probleme[]« und Resultate gewährt ein neues, historisch und kulturell selbst-reflexives, ein performatives und modernistisches Philosophieren. 53 Form und Inhalt auf diese Weise zu unterscheiden, erschließt neue Arten von Objekten und gibt immer wieder von Neuem Anlass zu Reflexionen, welche die Philosophie anreichern, und die, unter anderem, zu dem führen, was wir heutzutage in den Geistes- und Kulturwissenschaften Theorie nennen. »Begreift man das Funktionelle, die Einstellung, Tiefenrichtung und Rhythmik des Denkprozeßes als das, was diesen zum Philosophischen macht, so sind seine Gegenstände von vornherein unbegrenzt.« 54 Das Bestimmen der »Denkart oder Denkform« als das vereinigende Element ermöglicht eine neue Art von philosophischer Darstellung, welche »die inhaltlich heterogensten Untersuchungen« in eine prismatisch, modernistische Einheit fasst. Philosophische Kultur wird durch ein Denk- und Schreibverfahren realisiert und produziert, das nicht auf konstante Wahrheiten zielt, sondern auf die delikate Fluktuation des Denkens selbst und dadurch ein selbstreflexives, auf Erfahrung beruhendes, gelebtes »Bedürfniß nach Philosophie als ›Weltbegriff‹« evoziert. 55 Simmels Konzept der philosophischen Kultur war weder abstrakt noch idealistisch; es beschrieb das anti-systematische Philosophieren, das er schon längst performativ verbreitet hatte. In seinem methodologischen Vorwort zu Philosophische Kultur skizzierte er
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Ebd. Ebd., 163. Ebd. Ebd. G. Simmel an E. Husserl: Brief vom 19. Februar 1911, 941.
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den Denkstil, der die philosophische Bedeutung der verschiedensten Aspekte von Kultur und Erfahrung offenlegte. Er bestand darauf, dass die Philosophie der Welt gerecht werden muss, mit dem Reichtum und der Vielfalt der Erlebnisse anfangen und selbst die »flüchtigsten und isoliertesten Oberflächenerscheinungen des Lebens« umfassen muss. 56 Kein einziger »metaphysischer Grundbegriff« könne genügen: »Soll der philosophische Prozeß wirklich von der universellen Breite des Daseins ausgehen«, muss er »in unbegrenzt viele Richtungen laufen« und in eine Vielfalt von letztlich inkommensurablen metaphysischen Perspektiven münden. Simmels modernistisches, betont performatives Philosophieren, seine selbst-relativierende Praxis als Autor, mit den sich ständig verändernden Perspektiven, seinen Dissonanzen, den widersprüchlichen Positionen innerhalb einer Beweisführung, den disparaten Themen und konkurrierenden Beweisarten – dies alles gehörte zu seiner Methode, philosophische Kultur zu vermitteln. Sein Schreiben inszeniert die »auf keine Absolutheit festgelegte Bewegtheit des Geistes […], die in sich selbst metaphysisch ist«. 57 Die Bewegtheit des philosophischen Lebens ist die Liebe zur Weisheit, wo Weg und Ziel nicht zu trennen sind. Simmels Relativismus betont die Vielfältigkeit der verkörperten Welterfahrung und lenkt die Aufmerksamkeit auf die Rolle der impliziten, vermittelten und gelebten Wissens- und Wertgebilde. Was hier auf dem Spiel steht, ist nichts weniger als »die ganz prinzipielle Wendung von der Metaphysik als Dogma sozusagen zu der Metaphysik als Leben oder als Function«. 58 Das heißt, eine Wendung, vom Philosophieren als Suche nach Substanzen oder Grundlagen, hin zu einer Betonung der Form und des Prozesses des Theoretisierens selbst als einer kultivierten Weltbeziehung und der »Einheit der Denkbewegung« als Anfang allen Philosophierens. 59 Durch das Kultivieren dieser Art von Selbstreflexivität, in welcher das denkende Subjekt äußerst bewusst, jedoch hochgradig distanziert von seinen eigenen metaphysischen Intuitionen und Überzeugungen ist, entsteht eine modernistische Form des philosophischen Denkens. Eine solche »Akzentverlegung der Metaphysik« ist in diesem Sinne »die Bedin56 57 58 59
G. Simmel: »Einleitung«, 163. Ebd., 164. Ebd., 165. Ebd.
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gung einer ›philosophischen Kultur‹ in einem weiteren und modernen Sinne«, die »in einem durchgehenden geistigen Verhalten zu allem Dasein« besteht. 60 Simmels Bestrebung nach geistiger Erneuerung war nicht bloß theoretisch oder literarisch. Am Tag nach der »letzten[n] Besiegelung« seiner Berufung nach Straßburg in Januar 1914 schrieb Simmel an Heinrich Rickert: »Es ließe sich vielleicht eine südwestdeutsche Ecke philosophischer Kultur herstellen, wenn wir möglichst viele Studenten bewegen können, zwischen den drei Universitäten, d. h., Straßburg, Freiburg u. Heidelberg, zu kursieren« und dies als einen philosophischen »Bildungsgang« etablierten. 61 Leider hat der Krieg diese Hoffnung, dass es irgendwann möglich würde, »den Begriff der ›philosophischen Kultur‹ zu erweitern u. eine gewisse, philosophisch orientierte Kooperation dieser Universitäten auch in den benachbarten Fächern einzuleiten«, unmöglich gemacht. 62 Mit seiner Berufung nach Straßburg nähern wir uns Simmels Lebensende. Sozusagen im Exil von Berlin seit Anfang März 1914 war Simmel inmitten der größten Ereignissen seiner Zeit gelandet, in einer Stadt, die bald zur Festung Straßburg ernannt wurde. Zu dieser Zeit und an diesem Ort machte er sich wieder andere Gedanken über die eigene Zukunft. Simmel erfuhr den ›Großen Krieg‹ unmittelbar als einen epochalen Wendepunkt im europäischen Leben, einschließlich der öffentlichen Entfremdung von seinen französischen Kollegen. Im März 1915 vertraute er Margarete Susman an: »Seit dem Krieg ist meine Fantasie gelähmt, jeder Gedanke ist von der Schwere des deutschen und des europäischen Schicksals so beladen, daß er nicht vorwärts kommt.« 63 Im Juli schrieb er anderen Freunden: »Als ich zum letzten Mal von dem Berliner Katheder herunterstieg, wußte ich: Es ist vorbei! Ich wußte, daß die Hochebene des Lebens, auf der ich so lange gegangen war, sich nun langsam abwärts neigen würde – wußte es ohne Klage. […] Aber der Krieg hat einen Punkt gesetzt, wo ich vorläufig ein Semikolon erwartete. Ich bin überzeugt, daß eine neue Weltperiode beginnt […] u. daß ich zur alten gehören werde. Gewiß glaubte ich, mit manchem in die Zukunft hineinzuwirken; aber die Welt hat eine Wendung Ebd. G. Simmel an Heinrich Rickert: Brief vom 28. Januar 1914, in: GSG 23, 284 f., hier 284. 62 Ebd. 63 G. Simmel an M. Susman: Brief vom 5. März 1915, in GSG 23, 489 f., hier 490. 60 61
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genommen, in der die von mir mit vorbereitete Zukunft, aller Wahrscheinlichkeit nach, nicht liegt. Das ist das persönlich Schwere dieser Zeit […], [d]aß mein Tun u. Denken sich in eine Zukunft hineinstreckte, die nicht Gegenwart werden wird«. 64
Simmels Spätwerk steht somit unter dem Stern der Unerfüllbarkeit. Indem er das Philosophieren, das er in den Vorkriegsjahren entwickelt hatte, weiterführte, rang er darum, eine Denkperspektive zu vermitteln, die er selbst zugleich als unzeitgemäß empfand. Simmel hatte schon lange erkannt, dass die Menschen gemeinschaftlich eine Welt schufen, die sie individuell als lebensfeindlich empfanden. Seine Analyse der Antinomien des kulturellen Prozesses, die in einer komplizierten Verbindung zum historischen Materialismus steht, wird in seinem Spätwerk immer nuancierter, wo sie mit einer philosophischen Darstellung der historischen Kulturentwicklung als Teil eines umfangreichen Lebensprozesses verbunden wird. Indem er seine Arbeit für eine Zukunft, die keine Perspektive hatte, im Namen der philosophischen Kultur weiterführte, rang Simmel mit der Bedeutung seines Lebens. Seine philosophische Position vertiefte sich während des Krieges. Simmels hellsichtiges Bewusstsein von der schweren Bedeutungskrise des europäischen Lebens, und somit der welthistorischen kulturellen Bedeutung des ›Großen Krieges‹, förderten anscheinend eine Art von Beschaulichkeit, eine stoische Akzeptanz der historischen Notwendigkeit dessen, was er eindringlich als die Destruktion der kulturellen Welt erfuhr, die seinem Leben Bedeutung gegeben hatte. In den letzten vier Jahren seines Lebens, in denen er unter den Bedingungen des Krieges und, ganz konkret, unter den Bedingungen einer Garnisonsstadt arbeitete, produzierte Simmel eine Reihe von Essays und Vorlesungen, durch die er danach strebte, seine Einsichten der Öffentlichkeit zu vermitteln – ein Bestreben, das in dem schönen, tiefen Werk aufging, das er als letzte Weisheit beschrieb. 65 Simmel vollendete seine Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel (1918), als er aufgrund seiner Krankheit schon dem Tode nahe war, das Morphin verweigernd, bis das Buch abgeschlossen war. Er, der unter solchen schwierigen persönlichen Bedingungen und umgeben vom Kriegsgeschehen, das Ende seiner eigenen Welt sah, folgte G. Simmel an A. und I. Jastrow: Brief vom 13. Juli 1915, in: GSG 23, 534 f. Vgl. G. Simmel an H. Graf von Keyserling: Brief vom 6. August 1918, in: GSG 23, 995 f., hier 996.
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Nietzsches Beispiel und rang diesem Ende noch einmal Hoffnung ab. Seine Betrachtungen über die Transzendenz des Lebens erschlossen ihm die Möglichkeit, einen Sinn in der Sterblichkeit zu erkennen; sein Konzept des individuellen Gesetzes verortet ethisches Handeln innerhalb der Fragmentierung und Ernüchterung der post-theologischen Existenz; seine Vision vom kulturellen Leben als einer sich selbst-überwindenden Schöpfung affirmiert den Menschen in einer Welt, frei von beständigen Wahrheiten und Werten. Indem er der Philosophie eine neue Praxis des Erkennens eröffnet, einen Denkstil, der den Mangel an endgültigen Grundlagen akzeptiert, indem er die Tiefe des täglichen Lebens offenlegt, baut Simmel die dialektische Tradition aus, während er sie gleichzeitig destabilisiert. Am Ende jedoch war er im Begriff, noch eine andere Zukunft vorzubereiten als jene, die er sich vorgestellt hatte: das Vorwegnehmen, Vordenken und Wegbereiten für die kulturelle und kritische Theorie als die desillusionierte Erbin der Philosophie. Simmels selbstreflexives Engagement im modernen Leben, in dem die Kenntnis der Form immer untrennbar ist von Differenz und Konflikt, Vielfältigkeit und Vieldeutigkeit, bleibt ein wichtiges Vorbild. Simmels bewusster Versuch, die Relativität der Perspektiven zu bejahen, machen ihn zu einem außergewöhnlichen Denker, für den die eigene Liminalität eine positive Bedingung für eine Theorie der phänomenalen Komplexität der Welt wurde. Wir dürfen jedoch weder seine Methoden noch seine Anschauungen ohne Vorbehalte übernehmen. Als philosophischer Abenteurer dachte Simmel die alten Fragen neu und regte neue Fragen an, behielt aber dabei seine kosmopolitische, selbstreflexive Skepsis gegenüber der Möglichkeit von endgültigen Antworten. Sein modernistischer Denkstil bleibt ein Modell philosophischer Innovation und seine Themen und Problemstellungen sind erstaunlich zeitgemäß geblieben. Doch eben weil die Welt seit langem eine Wendung genommen hat, in der die von ihm »mit vorbereitete Zukunft, aller Wahrscheinlichkeit nach, nicht liegt«, kann die Frage von Simmels theoretischer Bedeutung nicht im Sinne von Korrektheit oder der heutigen Anwendbarkeit seiner Ideen gestellt werden. 66 Gerade die Unzeitgemäßheit seines Werkes verdient besondere Aufmerksamkeit, da sie uns herausfordert, eine Zukunft zu denken, die nicht geworden ist, eine Zukunft, in der die Spaltung 66
G. Simmel an A. und I. Jastrow: Brief vom 13. Juli 1915, 535.
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von Philosophie, Sozial- und Kulturwissenschaften nicht stattgefunden hätte und in der seine Hoffnung auf eine philosophische Kultur sich hätte erfüllen können.
Literatur Bouglé, Célestin: Les sciences sociales en allemagne. Les méthodes actuelles. Félix Alcan: Paris 1896. Goodstein, Elizabeth: Georg Simmel and the Disciplinary Imaginary. Stanford University Press: Stanford CA 2017. Habermas, Jürgen: »Georg Simmel über Philosophie und Kultur. Nachwort zu einer Sammlung von Essays« [1983], in: ders.: Texte und Kontexte. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1991, 157–169. Köhnke, Klaus Christian: Der junge Simmel in Theoriebeziehungen und sozialen Bewegungen. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1996. Köhnke, Klaus Christian: Editorische Bemerkung zu: Georg Simmel an Celestin Bouglé: Brief vom 22. Juni 1895, in: GSG 22 (2008), 150–153. Kramme, Rüdiger und Rammstedt, Otthein: Editorischer Bericht, in: GSG 14, 461–480. Lukács, Georg: Erinnerungen an Simmel, in: Gassen, Kurt und Landmann, Michael (Hg.): Buch des Dankes an Georg Simmel. Briefe, Erinnerungen, Bibliographie. Zu seinem 100. Geburtstag am 1. März 1958. Duncker & Humblot: Berlin 1958, 171–176. Simmel, Georg: Gesamtausgabe, hg. von Otthein Rammstedt. Suhrkamp: Frankfurt a. M. 1989–2015 (= GSG). Simmel, Georg: »Das Problem der Soziologie« [1894], in: GSG 5, 52–61. Simmel, Georg: Philosophie des Geldes [1900], in: GA 6, 7–716. Simmel, Georg: »Das Abenteuer« [1910], in: GSG 14, 168–185. Simmel, Georg: »Einleitung« [1911], in: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais [1911], in: GSG 14, 162–167. Simmel, Georg: »Goethes Individualismus« [1913], in: GSG 12, 388–416. Simmel, Georg: »Aus dem Nachgelassenen Tagebuche« [1923], in: GSG 20, 261– 296. – zuerst erschienen in: Georg Simmel: Fragmente und Aufsätze aus dem Nachlaß und Veröffentlichungen der letzten Jahre, hg. von Gertrud Kantorowicz. Drei-Masken-Verlag: München 1923, 1–45. Simmel, Georg: »Fragment einer Einleitung« [1958], in: GSG 20, 304 f. Simmel, Georg: Brief an Célestin Bouglé, 15. Februar 1894, in: GSG 22, 111 f. Simmel, Georg: Brief an Célestin Bouglé, 13. Dezember 1899, in: GSG 22, 342 f. Simmel, Georg: Brief an Edmund Husserl, 19. Februar 1911, in: GSG 22, 940 f. Simmel, Georg: Brief an Anna und Ignaz Jastrow, 13. Juli 1915, in: GSG 23, 534 f. Simmel, Georg: Brief an Georg Jellinek, 18. März 1908, in: GSG 22, 613 f. Simmel, Georg: Brief an Georg Jellinek, 13. Juli 1898, in: GSG 22, 297–299. Simmel, Georg: Brief an Georg Jellinek, 23. Dezember 1907, in: GSG 22, 597 f.
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Simmels Zukunft Simmel, Georg: Brief an Herman Graf von Keyserling, 6. August 1918, in: GSG 23, 995 f. Simmel, Georg: Brief an Heinrich Rickert, 28. Januar 1914, in: GSG 23, 284 f. Simmel, Georg: Brief an Heinrich Rickert, 15. April 1916, in: GSG 23, 636–639. Simmel, Georg: Brief an Margarete Susman, 5. März 1915, in GSG 23, 489 f.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Olivier Agard ist Professor für deutsche Ideengeschichte an der Universität Paris-Sorbonne (Paris IV). Seine Forschungsschwerpunkte sind: Ideengeschichte im 20. Jahrhundert, insbesondere der Weimarer Zeit, Kulturkritik-Diskurse in Literatur und Philosophie, Lebensphilosophie und philosophische Anthropologie. Matthieu Amat ist Erster Assistent für moderne und zeitgenössische Philosophie an der Philosophischen Fakultät der Universität Lausanne. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Kulturphilosophie, Soziologie, Bildungsphilosophie, Theorien des objektiven Geistes, Wertetheorie, Neukantianismus, Relativismus. Antonio Calcagno ist Professor im Department of Philosophy and Religious Studies am King’s University College in London, Ontario (Kanada). Seine Forschungsschwerpunkte sind: Zeitgenössische europäische Philosophie, mittelalterliche Philosophie, Philosophie der Renaissance, soziales und politisches Denken, Gemeinschaft und Intersubjektivität. Gregor Fitzi ist Privatdozent und Co-Direktor des »Centre for Citizenship, Social Pluralism and Religious Diversity« an der Universität Potsdam. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Klassische Soziologie, Geschichte der Soziologie, Politische Soziologie, Philosophische Anthropologie, Soziale Folge neuer Technologien (Robotik). Willi Goetschel ist Professor für Deutsche Literatur und Philosophie am Department of Germanic Languages and Literatures, University of Toronto (Kanada). Seine Forschungsschwerpunkte sind: Beziehungen zwischen Philosophie und Literatur, Philosophie der Aufklärung und des Idealismus, Deutsch-Jüdische Kultur, Kritische Theorie, moderne Theorien von Differenz, Anderssein und Alterität. 501 https://doi.org/10.5771/9783495824009 .
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Elizabeth Goodstein ist Professor of English and the Liberal Arts am Emory College of Arts and Science (Atlanta, USA). Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Theorien der Moderne und moderner Subjektivität in europäischer Literatur und Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts, Beziehungen von Geschichte und Identität, Sprache und Erfahrung in interdisziplinärer Perspektive. Austin Harrington ist Lektor und Lehrender an der University of Leeds (UK). Seine Forschungsschwerpunkte sind: Klassische und gegenwärtige Soziologie, Soziologie der Kunst und Literatur, Soziologie der Religion, Soziologie der europäischen Ideengeschichte. Gerald Hartung ist Professor für Philosophie mit den Schwerpunkten Kulturphilosophie und Ästhetik an der Bergischen Universität Wuppertal. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Theorie und Praxis der Philosophiegeschichtsschreibung, philosophische Anthropologie, Kultur- und Religionsphilosophie sowie deutsch-jüdische Geistesgeschichte. Nicole C. Karafyllis ist Professorin für Philosophie mit dem Schwerpunkt Wissenschafts- und Technikphilosophie an der TU Braunschweig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Wissenschafts- und Technikphilosophie, Phänomenologie und Lebensphilosophie, Ambivalenz und Ambiguität der Technik für den modernen Menschen, Leben und Werk der Philosophen Willy Moog, Hermann Schmalenbach und José Gaos. Heike Koenig ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Kulturphilosophie und Ästhetik an der Bergischen Universität Wuppertal. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Kulturphilosophie (insbes. Ernst Cassirer), philosophische Anthropologie, philosophischer Pragmatismus (insbes. John Dewey), Bildungsphilosophie. Georg Lohmann ist em. Professor für Praktische Philosophie an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Moralphilosophie, Menschenrechte, Politische Philosophie, Karl Marx.
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