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CASSIRER-FORSCHUNGEN
CASSIRER-FORSCHUNGEN
Band 11
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
Massimo Ferrari
Ernst Cassirer Stationen einer philosophischen Biographie Von der Marburger Schule zur Kulturphilosophie
Aus dem Italienischen übersetzt von Marion Lauschke
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
Titel der Originalausgabe: Ernst Cassirer. Dalla scuola di Marburgo alla filosofia della cultura, Firenze 1996, Leo S. Olschki Editore Übersetzt und gedruckt mit Unterstützung der Alexander von HumboldtStiftung, der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) und des Dipartimento di Storia e Metodologie Comparate dell’ Università dell’ Aquila
Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar.
© Felix Meiner Verlag, Hamburg 2003. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Film, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: work : at : BOOK / Martin Eberhardt, Berlin. Druck: Strauss, Mörlenbach. Bindung: Schaumann, Darmstadt. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.
Inhalt
Vorwort zur deutschen Ausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VII
erstes kapitel Genese und Struktur des Erkenntnisproblems . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1
zweites kapitel Freiheit, Idee, Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
31
drittes kapitel Cassirer und die Kritik der Urteilskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
73
viertes kapitel Die Interpretation der Relativitätstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
99
fünftes kapitel Die Grundlegung der Geisteswissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
137
sechstes kapitel Symbol und Ausdruck. Die Leibnizschen Quellen der Philosophie der symbolischen Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
163
siebtes kapitel Logik des Ursprungs und Sprachphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
183
achtes kapitel Eine ›gefährliche‹ Bibliothek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
207
neuntes kapitel Davos 1929 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
249
zehntes kapitel Die Kulturphilosophie: Von der transzendentalen Methode zur anthropologischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
283
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
327
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
359
ABC
Vorwort zur deutschen Ausgabe
Im Oktober 1930 wies Ernst Cassirer in seinem Grußwort an den IV. Ästhetikkongreß in Hamburg darauf hin, daß die Goethesche Metapher der »wiederholten Spiegelungen« ein Bild, ein Symbol des menschlichen Lebens und dessen sei, was sich »in der Geschichte der Kunst und Wissenschaften mehrmals wiederholt hat und noch täglich wiederholt«1, aber auch auf die »gegenseitige Befruchtung der verschiedenen geistigen Gebiete« bezogen werden könne. Cassirer war sich im klaren darüber, daß er mit dem Goethezitat nicht nur ein Motto oder eine an die Teilnehmer des Kongresses gerichtete methodologische Anregung formulierte, denn in diesem Spiel der unendlichen Widerspiegelungen oder des unaufhörlichen Perspektivenwechsels, in dieser Betrachtungsweise, die sich entsprechend der Leibnizschen Monadologie je nach Standpunkt verändert, kommt das gesamte Werk Cassirers selbst in der Weite seines Horizontes und den vielfältigen Zugängen zu der vom Menschen konstruierten Welt zum Ausdruck: der Sprache wie der Kunst, des Mythos wie der Wissenschaft, der philosophischen Reflexion wie der poetischen Einbildungskraft. Nicht zufällig waren Goethe und Leibniz als ständige ›Begleiter‹ Cassirers von seinem philosophischen Debüt an bis zum Ende seiner Tätigkeit zwei unerschöpfliche Quellen der Philosophie der Formen und symbolischen Welten, des geistigen ›Perspektivismus‹, der verschiedene Standpunkte einnahm, ohne je den Sinn für die Einheit zu verlieren, jene Energie (eine andere Metapher, die über Wilhelm von Humboldt ebenfalls auf Leibniz zurückgeht), die jede Spiegelung in ein eigentliches Produzieren, eine wirklichkeitsbildende Tätigkeit verwandelt. Im Falle Cassirers, der stets auf der Notwendigkeit einer ›immanenten‹ Betrachtung der Lehren von Autoren der Vergangenheit insistiert hat, wäre es schlicht verfehlt, einen derartig entscheidenden Knotenpunkt unberücksichtigt zu lassen. Seine Attraktivität und ›Aktualität‹ liegen gerade in der Vielfältigkeit der »geistigen Gebiete« begründet, auf denen er sich betätigt hat, und die staunende Bewunderung heutiger Leser gilt seiner großen Souveränität im Umgang mit den verschiedensten ProbleVgl. Vierter Kongreß für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft (Hamburg, 7.–9. Oktober 1930), hg. von H. Noack, Beiheft zur »Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft«, XXXV, 1931, S. 13. Zu Goethe vgl. J. W. Goethe, Wiederholte Spiegelungen in Werke, Hamburger Ausgabe, hg. von E. Trunz, München 111989, XII, S. 323 (Cassirer hat die Stelle im Zitat leicht gekürzt). 1
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Vorwort zur deutschen Ausgabe
matiken und Disziplinen (von der Relativitätstheorie bis zur Linguistik, von der Philosophiegeschichte bis zur philosophischen Anthropologie, von der Gestaltpsychologie bis zur mythischen Vorstellungswelt). So ist es evident, daß jede Annäherung an das Cassirersche Werk auf der Höhe seines philosophischen Stiles zu erfolgen hat und jene Teilinterpretationen vermieden werden müssen, die einen nicht unwichtigen Grund für seine problematische Rezeptionsgeschichte in den letzten 50 Jahren darstellen.2 Man führe sich nur die verschiedenen Fäden vor Augen, die in der Cassirerschen Philosophie miteinander verflochten sind, um ein zugleich einheitliches und doch differenziertes Bild – gleichermaßen allgemein und scharf im Detail – entstehen zu lassen, was auch in Zeiten einer beginnenden »Cassirer-Renaissance« kein einfaches Unterfangen ist.3 Das Anliegen dieser Untersuchung, die einerseits an eine vorgängige Arbeit zu der Entwicklung Cassirers im Rahmen des Marburger Neukantianismus anknüpft4 und andererseits versucht, die wichtigsten Aspekte des späten Cassirer in einer Gesamtbetrachtung zu berücksichtigen, indem sie Werke und grundlegende Momente einer ununterbrochenen Tätigkeit umfaßt, die von den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts bis zu der späten Phase des Exils reicht, ist es, überkommene historiographische Schemata einer Revision zu unterziehen und zugleich der Goetheschen Metapher der virtuell unendlichen Spiegelungen treu zu bleiben. Selbstverständlich ist jeder Anspruch auf Vollständigkeit oder erschöpfende Behandlung bewußt von vornherein ausgeschlossen; und dies nicht nur, weil die gegenwärtig verstärkte Beschäftigung mit Cassirer bereits einige Werke allgemeineren Charakters hervorgebracht hat, die auf eine – wie auch immer fragliche – Synthese seiner Philosophie ausgerichtet sind, sondern vor allem, weil nun die Zeit gekommen scheint, einigen der großen Problemkomplexe der Cassirerschen Philosophie in ihrer (allzu häufig von den Interpreten verschleierten) komplexen Gestalt sowie ihrem (ebenfalls gewöhnlich zu wenig und mit großzügigen Einen Überblick über die Rezeption Cassirers bietet die hervorragende Übersicht von R. Lazzari, Cinquant’anni di studi su Cassirer in Ernst Cassirer cinquant’anni dopo, Sonderheft der »Rivista di storia della filosofia«, L, 1995, S. 889–921. Zur Rezeption Cassirers in Italien s. auch den Bericht von B. Centi, Die Cassirer-Forschung in Italien in Symbolische Formen, mögliche Welten – Ernst Cassirer, hg. von E. Rudolph und H. J. Sandkühler, »Dialektik«, 1995/1, S. 145–154. 3 Zu einer Rekonstruktion der seit dem Ende der 80er Jahre entstandenen »Cassirer-Renaissance« sei verwiesen auf M. Ferrari, La »Cassirer-Renaissance« in Europa, »Studi Kantiani«, VII, 1994, S. 111–139. Siehe auch, über das bereits erwähnte Dialektik-Heft hinaus, die Cassirer gewidmeten Sonderhefte der »Revue de Métaphysique et de Morale«, XCVI, 1992, S. 453–558, und der »Internationalen Zeitschrift für Philosophie«, I, 1992, S. 165–322. 4 Vgl. Il giovane Cassirer e la scuola di Marburgo, Milano 1988. 2
Vorwort zur deutschen Ausgabe
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Zugeständnissen an die Gemeinplätze erforschten) konkreten Kontext auf den Grund zu gehen. Eine Untersuchung des reifen Werkes Cassirers macht die Beschäftigung mit einigen regelmäßig wiederkehrenden Fragestellungen erforderlich: mit dem dauerhaften, problematischen Verhältnis zum Marburger Neukantianismus unter Berücksichtigung von Gedanken, die außerhalb des Horizontes Cohens und Natorps geblieben sind; mit der Betrachtung der ›Feldforschung‹ als Vorbereitung einer sich als Ausweitung der »Kritik der Vernunft« verstehenden »Kulturkritik»; mit der sich ständig vertiefenden Beschäftigung mit der Entwicklung des wissenschaftlichen Wissens und der ununterbrochenen Interpretation der philosophischen Tradition; mit der Öffnung auf die geschichtliche Welt hin, der ethisch-politischen Ausrichtung und dem unvorhersehbaren Fluchtpunkt einer an anthropologischen Erfordernissen orientierten Kulturphilosophie. Dies alles bildet nicht nur den ›Spiegel‹ einer zweifellos einzigartigen philosophischen Forschungsleistung, sondern steht in ständigem Rückbezug auf den Zustand der deutschen (aber nicht nur der deutschen) Philosophie in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, d. h. auf einen theoretischen Rahmen und ein intellektuelles Ambiente, das wir in seiner Gesamtheit und Komplexität noch längst nicht erfaßt haben. Zwischen dem Ersten Weltkrieg und 1933 (und schließlich seinem Tod am 13. April 1945) stand Cassirer nicht nur im Dialog mit den ›großen‹ Gestalten seines gesamten intellektuellen Abenteuers – von Platon bis Kant, von Descartes bis Leibniz, von Goethe bis Humboldt, von Cusanus bis Herder –, sondern nahm sich darüber hinaus allen wichtigen Problemen der zeitgenössischen Diskussion an, die von Einstein und Schlick, Reichenbach und Carnap, Heidegger und Bergson, Croce und Panofsky formuliert wurden. Vor allem zur Zeit der Weimarer Republik war Cassirer Protagonist einiger der bedeutendsten kulturellen Ereignisse der Epoche: vom engen Kontakt mit der »Bibliothek Warburg« in Hamburg seit Beginn der 20er Jahre bis zu der denkwürdigen Begegnung in Davos, bei der die Disputation mit Heidegger ein Zusammentreffen nicht nur zweier extrem verschiedener Philosophien, sondern zweier diametral entgegengesetzter Welten darzustellen schien. Und schließlich darf nicht vergessen werden, daß der bekanntere Cassirer – derjenige der Philosophie der symbolischen Formen – zugleich der Cassirer der großen ›historischen‹ Werke über die Renaissance und die Aufklärung ist, in denen nur schwerlich die unermüdliche Verteidigung eines immer stärker bedrohten Kosmopolitismus sowie eine Verteidigung der Vernunft zu überlesen sind, deren ethisch-politische Motivation offenkundig ist. Aus diesen beiden Motiven, wenn auch nicht ausschließlich hieraus, erhält
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Vorwort zur deutschen Ausgabe
die Cassirersche Forschungsleistung seines letzten Jahrzehntes ein schärferes Profil. Die dramatische Erfahrung der Flucht aus dem Deutschland Hitlers findet ihren Niederschlag in einer genauen Reflexion über das Schicksal und das Fundament der Kultur, über den Ort des Menschen in der Welt und seine Verantwortung für die Geschichte. Von einer derartig komplexen intellektuellen Erfahrung Rechenschaft zu geben, ohne sie auf die biographische Ebene zu verengen, aber auch ohne sie in einer abstrakten theoretischen Analyse zu isolieren, die den Kontakt zu der konkreten Dimension der ›Formen‹ verliert, in denen die menschliche Kultur zum Ausdruck kommt, ist gewiß kein einfaches Unterfangen, doch ist es wahrscheinlich der einzige Weg, Cassirer wirklich gerecht zu werden. In dem Versuch, diesen Weg einzuschlagen, möchten die folgenden Studien einige Momente der Cassirerschen Philosophie in der unverzichtbaren chronologischen Ordnung, aber auch unter Berücksichtigung von ›synchronen‹ Zusammenhängen und Themen beleuchten. Es wird folglich vor allem darum gehen zu zeigen, mit welchen Begrifflichkeiten und mit welchen Antworten Cassirer, herausgefordert durch die zeitgenössische Diskussion, einige Eckpunkte seines Denkens entwickelte: den systematischen Status der historiographischen Forschung, die Bedeutung der Geschichte des ›deutschen Geistes‹ von Leibniz bis Goethe, die Funktion der Begriffe der Form und des Symbols, das Erbe Kants aus der Perspektive der Kritik der Urteilskraft betrachtet, die epistemologische Diskussion der modernen Physik, die Grundlegung der ›Geisteswissenschaften‹, die Rolle des Mythos und der Formen des Weltverständnisses, die sich nicht mit der wissenschaftlichen Vernunft identifizieren lassen, die transzendentale Anlage einer Kulturphilosophie und schließlich die Auseinandersetzung mit der philosophischen Anthropologie und der Daseinsanalyse. Gewiß handelt es sich hier nicht um einen geschlossenen Rahmen, sondern vielmehr – um einen Ausdruck zu verwenden, den Cassirer schätzte – um ›Prolegomena‹ für eine Diskussion Cassirers, die sich auf einem Terrain bewegt, das sich noch adäquater bearbeiten läßt unter Berücksichtigung seines umfangreichen Nachlasses, dessen Publikation mit den vorbereitenden Arbeiten zu einem vierten Band der Philosophie der symbolischen Formen zum 50. Todestag Cassirer begonnen hat.5
Vgl. E. Cassirer, Nachgelassene Manuskripte und Texte, I, Zur Metaphysik der symbolischen Formen, hg. von J. M. Krois unter Mitwirkung von A. Appelbaum, R. Bast, K. Ch. Köhnke, O. Schwemmer, Hamburg 1995. Zu einer Übersicht über diesen Band sei ein Hinweis auf M. Ferrari, »Metafisica delle forme simboliche«. Note su Cassirer inedito in Ernst Cassirer cinquant’anni dopo, S. 809–837, erlaubt. 5
Vorwort zur deutschen Ausgabe
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Die in diesem 1996 zuerst auf italienisch erschienenen Band versammelten Studien gehören einer auch heute noch nicht abgeschlossenen Phase der Cassirer-Forschung an, in der auf die Notwendigkeit einer Gesamtbetrachtung des Cassirerschen Werkes hingewiesen worden ist, das in seinem Kontext und seiner Vielfältigkeit, die kaum auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen oder auf ein Grundmotiv zurückzuführen ist, betrachtet werden muß.6 Es handelt sich um eine Reihe von Forschungen, die aus verschiedenen Anlässen entstanden und doch miteinander durch die Intention verbunden sind, die Philosophie Cassirers in ihrem ursprünglichen Problemhorizont und innerhalb der philosophiehistorischen Epoche zu begreifen, aus der heraus sie entstanden ist. Selbstverständlich wird nicht der Anspruch erhoben, diesen zweifellos außerordentlich weit gesteckten Rahmen gänzlich zu ermessen, wohl aber derjenige, Cassirer sozusagen im Innern seiner ›philosophischen Werkstatt‹ aufzusuchen.7 In den letzten Jahren (von 1996 bis heute)
Ich beziehe mich vor allem auf die Monographie von J. M. Krois, Cassirer. Symbolic Forms and History, New Haven and London 1987; aber vgl. auch die Bände von G. Raio, Introduzione a Cassirer, Roma-Bari 1991; Th. Knoppe, Die theoretische Philosophie Ernst Cassirers. Zu den Grundlagen transzendentaler Wissenschafts- und Kulturtheorie, Hamburg 1992; H. Paetzold, Ernst Cassirer zur Einführung, Hamburg 1993 (vgl. diesbezüglich die berechtigten Vorbehalte von Thomas Knoppe im »Philosophischen Literaturanzeiger«, XLVI, 1993, S. 326–329); ders., Die Realität der symbolischen Formen. Die Kulturphilosophie Ernst Cassirers im Kontext, Darmstadt 1994; A. Graeser, Ernst Cassirer, München 1994, und schließlich H. Paetzold, Ernst Cassirer. Von Marburg nach New York. Eine philosophische Biographie, Darmstadt 1995. Wenig später erschienen und in einigen Aspekten meiner Arbeit verwandt ist die Sammlung von Studien E. W. Orths, Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie. Studien zu Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Würzburg 1996. 7 Einige Kapitel des vorliegenden Buches nehmen bereits veröffentlichte Untersuchungsergebnisse wieder auf, jedoch fast immer in substanziell veränderter Form. Zu Kap. 1 vgl. La genèse de »Das Erkenntnisproblem«. Le lien entre systématique et histoire de la philosophie in Ernst Cassirer. De Marbourg à New York, hg. von J. Seidengart, Paris 1990, S. 97–114; für Kap. 4 wurde teilweise zurückgegriffen auf Cassirer, Schlick e l’interpretazione ›kantiana‹ della teoria della relatività, »Rivista di filosofia«, LXXXII, 1991, S. 243–278; eine überarbeitete Fassung dieses Textes ist erschienen unter dem Titel Cassirer, Schlick und die Relativitätstheorie. Ein Beitrag zur Analyse des Verhältnisses von Neukantianismus und Neopositivismus in Neukantianismus. Perspektiven und Probleme, hg. von E. W. Orth und H. Holzhey, Würzburg 1994, S. 418–441; zum Kap. 5 vgl. Das Problem der Geisteswissenschaften in den Schriften Cassirers für die »Bibliothek Warburg« (1921–1923). Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte der »Philosophie der symbolischen Formen« in Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, hg. von H.J. Braun, H. Holzhey und E. W. Orth, Frankfurt am Main 1988, S. 114–133; zum Kap. 6 vgl. Leibnizische Quellen der »Philosophie der symbolischen Formen« Ernst Cassirers in Tradition und Aktualität, V. Internationaler Leibniz-Kongress, Vorträge, Hannover, Leibniz-Gesellschaft, 1988, S. 239–252; Kap. VII knüpft an die Untersuchung Logica 6
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Vorwort zur deutschen Ausgabe
haben viele neue Studien zu Cassirer das Bild, das wir von ihm haben, erweitert8 und sich wiederholt mit Themen, Autoren und Problemen auseinandergesetzt, die auch im Zentrum meines Buches stehen. Sie haben der Cassirer-Forschung (wie unter anderem die Reihe »CassirerForschungen« belegt, die 1995 im Meiner Verlag eröffnet worden ist) zu einer Solidität und Perspektivenvielfalt verholfen, die noch vor 10 Jahren nicht vorauszusehen gewesen wäre. In diesem Zusammenhang sind bedeutende Beiträge zur Wissenschaftsphilosophie Cassirers entstanden, das wichtige Verhältnis zwischen Cassirer und Goethe ist wiederholt diskutiert worden, verschiedentlich ist die Bedeutung der Kritik der Urteilskraft für den Cassirerschen Kantianismus hervorgehoben worden, und weiteres Material ist dem reichhaltigen Dossier, das von der Zusammenarbeit Cassirers mit der »Bibliothek Warburg« zeugt, hinzugefügt worden; die Kulturphilosophie und die anthropologische Philosophie des späten Cassirer sind auch unter dem Gesichtspunkt seiner Aktualität zur Bestimmung der »kulturellen Existenz des Menschen« und des pluralistischen Bewußtseins der Moderne untersucht worden, und schließlich (die Liste ist nicht annähernd vollständig) ist in bedeutenden Einzeluntersuchungen das Verhältnis zwischen Cassirer und Denkern wie Wilhelm von Humboldt, Dilthey, Simmel, Heidegger, Scheler, Carnap, Schlick, Husserl oder Konvergenzen, die zuvor vollständig im Schatten gestanden haben wie beispielsweise diejenige mit Max Weber, detailliert untersucht worden.9 All diesem schließt sich eine beträchtliche Sammdell’ origine e filosofia del linguaggio. Appunti sul linguaggio come forma simbolica in Ernst Cassirer in I filosofi della scuola di Marburgo, hg. von B. Antomarini, Sonderheft von »Il Cannochiale«, Januar-August 1991, S. 307–326, an sowie Ursprünge und Motive der Sprachphilosophie Ernst Cassirers in Symbolische Formen, mögliche Welten – Ernst Cassirer, S. 109–120; Kap. 8 stellt eine vollständige Überarbeitung von Ernst Cassirer e la »Bibliothek Warburg«, »Giornale critico della filosofia italiana«, LXV, 1986, S. 91– 130, dar; für Kap. 9 wurden große Teile des Materials verwendet, auf dem Cassirer e Heidegger. In margine ad alcune recenti pubblicazioni, »Rivista di storia della filosofia«, XLVII, 1992, S. 409–440, basiert. 8 Unter den Arbeiten allgemeinen Charakters, die kürzlich zu Cassirer erschienen sind, vgl. N. Janz, Globus symbolicus. Ernst Cassirer: un épistémologue de la troisième voie?, Paris 2001. 9 Vgl. beispielsweise die folgenden Beiträge: Von der Philosophie zur Wissenschaft. Cassirers Dialog mit der Naturwissenschaft, hg. von E. Rudolph und I. O. Stamatescu, Hamburg 1997 (Cassirer-Forschungen, Bd. 3); K.-N. Ihmig, Cassirers Invariantentheorie der Erfahrung und seine Rezeption des »Erlanger Programms«, Hamburg 1997 (CassirerForschungen, Bd. 2); ders., Grundzüge einer Philosophie der Wissenschaften bei Ernst Cassirer, Darmstadt 2001; T. A. Rickman, Einstein, Cassirer, and General Covariance – Then and Now, »Science in Context«, XII, 1999, S. 585–619; Ch. Schmitz-Rigal, Die Kunst offenen Wissens. Ernst Cassirers Epistemologie und Deutung der modernen Physik, Hamburg 2002 (Cassirer-Forschungen, Bd. 7); Th. Mormann, Critical Idealism
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lung von Studien zum Neukantianismus (insbesondere zur Marburger Schule) an, die berücksichtigt werden muß, wenn man sich dem Werk Cassirers nähern will, ohne die neukantischen Wurzeln zu vernachlässigen oder gar zu ignorieren, denen – dies ist eine der Grundthesen dieses Buches – auch der reife Cassirer der Philosophie der symbolischen Formen noch verbunden ist.10
Revisited – Recent Work on Cassirer’s Philosophy of Science in Alfred Tarski and the Vienna Circle. Austro-Polish Connections in Logical Empiricism, edited by. J. Wolenski and E. Köhler, Dordrecht/Boston/London 1998, S. 295–306. (Für die Neubewertung des erkenntnistheoretischen Neukantianismus Cassirers s. auch A. Richardson, Carnap’s Construction of the World: The Aufbau and the emergence of logical empiricism, Cambridge 1998, und M. Friedman, Reconsidering Logical Positivism, Cambridge 1999); B. Naumann, Philosophie und Poetik des Symbols. Cassirer und Goethe, München 1998; Ernst Cassirers Werk und Wirkung. Kultur und Philosophie, hg. von D. Frede und R. Schmücker, Darmstadt 1997; S. G. Lofts, Ernst Cassirer. La vie de l’esprit. Essai sur l’unité systématique de la philosophie des formes symboliques et de la culture, Leuven 1997; O. Schwemmer, Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne, Berlin 1997; R. M. Peplow, Ernst Cassirers Kulturphilosophie als Frage nach dem Menschen, Würzburg 1998; Simmel und Cassirer, hg. von W. Gessner, »Simmel Newsletter«, VI, 1996, S. 1–78; Ch. Möckel, »Leben« als Quell symbolischer Formen. Eine Auseinandersetzung Cassirers mit Simmel und Scheler, »Logos«, V, 1998, S. 355–386; ders., Die anschauliche Natur des ideierend abstrahierten Allgemeinen. Eine Kontroverse zwischen Edmund Husserl und Ernst Cassirer, »Phänomenologische Forschungen«, 2001, 1–2, S. 233–257; Cassirer-Heidegger. 70 Jahre Davoser Disputation, hg. von D. Kaegi und E. Rudolph, Hamburg 2002 (Cassirer-Forschungen, Bd. 9); M. Hänel, Problemgeschichte als Forschung: Die Erbschaft des Neukantianismus in Das Problem der Problemgeschichte 1880–1932, hg. von O. G. Oexle, Göttingen 2001, bes. S. 122 ff. Es sei ebenfalls hingewiesen auf eine Reihe Studien zur politischen Philosophie Cassirers und zu seiner Verortung in der politisch-ideologischen Diskussion der Weimarer Republik: s. vor allem H. J. Sandkühler, Republikanismus im Exil – oder: Bürgerrecht für den Philosophen Ernst Cassirer in Deutschland. Zum 50. Todestag Ernst Cassirers in Einheit des Geistes. Probleme ihrer Grundlegung in der Philosophie Ernst Cassirers, hg. von M. Plümacher und V. Schürmann, Frankfurt a. M. 1996, S. 13–36; Cassirers Weg zur Philosophie der Politik, hg. von E. Rudolph, Hamburg 1999 (Cassirer-Forschungen, Bd. 5); A. Bolaffi, Il crepuscolo della sovranità. Filosofia e politica nella Germania del Novecento, Roma 2002, S. 209–229. 10 Ich beziehe mich unter anderem auf die Sammelbände Conoscenza, valori e cultura. Orizzonti e problemi del neocriticismo, hg. von S. Besoli und L. Guidetti, Firenze 1997, und Sinn Geltung Wert. Neukantianische Motive in der modernen Kulturphilosophie, hg. von Ch. Krijnen und E. W. Orth, Würzburg 1998, sowie auf die kürzlich erschienene Monographie von U. Renz, Die Rationalität der Kultur. Zur Kulturphilosophie und ihrer transzendentalen Begründung bei Cohen, Natorp und Cassirer, Hamburg 2002 (Cassirer-Forschungen, Bd. 8). Zum Marburger Neukantianismus vgl. außerdem die Anthologie mit Texten von E. Cassirer, H. Cohen, P. Natorp, L’École de Marbourg, Paris 1998, und den Sammelband Hermann Cohen und die Erkenntnistheorie, hg. von W. Marx und E. W. Orth, Würzburg 2001. Allgemeiner zum Neukantianismus erlaube ich mir, über das Buch von M. Pascher, Einführung in den Neukantianismus, München
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Vorwort zur deutschen Ausgabe
Darüber hinaus wurde der Nachlaßausgabe, von der bereits zwei Bände erschienen und weitere in Vorbereitung sind,11 1998 die Hamburger Ausgabe der Werke Cassirers an die Seite gestellt, die ein unverzichtbares Werkzeug für das Studium des Cassirerschen Œuvres darstellt und ihn in den Rang eines Klassikers der Philosophie des 20. Jahrhunderts erhebt – eine Bedeutung, die ihm erst spät zuerkannt worden ist.12 Im Laufe weniger Jahre hat die Cassirer-Forschung große Fortschritte gemacht und die Philosophie Cassirers etwas mehr als nur eine »Renaissance« erlebt: Sie ist zu einem Partner der heutigen philosophischen Diskussion nicht nur im Bereich der deutschen oder allgemeiner der »kontinentalen« Philosophie, sondern auch der analytischen Tradition geworden, die über den standard view der eigenen Geschichte hinaus nach dem Verhältnis zwischen Vertretern der analytischen und der kontinentalen Philosophie fragt und bei Cassirer einen dritten, noch möglichen Weg zwischen den beiden durch Carnap und Heidegger vertretenen entgegengesetzten Alternativen entdeckt.13 Offenkundig ist dies nicht der Ort, die zahlreichen Fragen und oft bedeutenden Ergebnisse zu diskutieren, zu denen die Untersuchungen zu Cassirer gekommen sind, die nach der Erstausgabe meines Buches durchgeführt worden sind. Dennoch soll hervorgehoben werden, daß es mir aus zwei Gründen nicht opportun erschien, in die deutsche Ausgabe mehr oder weniger ausführliche Bezugnahmen auf die nach 1996 entstandene kritische Literatur (und die in der Zwischenzeit erschienenen Nachlaßtexte) zu integrieren. Der erste ist ein pragmatischer: Eine systematische Ergänzung hätte es erforderlich gemacht, bestimmte Teile neu zu schreiben und somit eine Arbeit zu beginnen, die außerordentlich langwierig hätte werden können und die zudem zu einer noch umfangreicheren Fassung geführt hätte, als es die ursprüngliche bereits 1997, hinaus, auf M. Ferrari, Introduzione al neocriticismo, Roma-Bari 1997 (französische Übersetzung mit dem Titel Retours à Kant, Paris 2001) zu verweisen. 11 Vgl. E. Cassirer, Nachgelassene Manuskripte und Texte, Bd. II: Ziele und Wege der Wirklichkeitserkenntnis, hg. Von K. Ch. Köhnke und J. M. Krois, Hamburg 1999 (der Band III zu Geschichte, Mythos erscheint demnächst, in Vorbereitung befinden sich weitere Bände zu Goethe und zur Kulturphilosophie). 12 Siehe dazu Th. Mormann, Neuere Literatur zur Philosophie Cassirers, »Zeitschrift für philosophische Forschung«, LIV, 2000, S. 447. Von den vorgesehenen 26 Bänden der Hamburger Ausgabe, hg. von Birgit Recki (Universität Hamburg), sind bislang (September 2002) die ersten 12 erschienen. 13 Vgl. insbesondere die Arbeit Michael Friedmans, A Parting of the Ways. Carnap, Cassirer, and Heidegger, Chicago and La Salle (Illinois) 2000, die den interessantesten Versuch darstellt, Cassirer positiv in die Diskussion zwischen »analytischer« und »kontinentaler« Philosophie einzuführen. S. auch Th. Mormann, Der begriffliche Aufbau der wissenschaftlichen Wirklichkeit bei Cassirer, »Logos«, IV, 1997, S. 269 f.
Vorwort zur deutschen Ausgabe
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war. Der zweite und gewichtigere Grund ist folgender: Ich bin überzeugt, daß die gegenwärtigen, oben nur kurz angedeuteten Ergebnisse der Cassirer-Forschung die Resultate, zu denen ich in dem vorliegenden Band gekommen bin, nicht in Frage stellen und sie sogar in vielen Hinsichten bestätigen. Anders und mit derjenigen Anmaßung gesagt, ohne die ein Autor niemals seine eigenen Ansichten und philosophischen Thesen veröffentlichen würde, habe ich keinen Grund zu glauben, daß die Interpretation der außerordentlichen philosophischen Leistung Cassirers, die auf den folgenden Seiten vorgetragen wird, im Lichte der neuesten Forschungsliteratur ungültig oder unbegründet erscheinen wird, wenngleich aus der heutigen Sicht gelegentlich anders akzentuiert, manches anders gefärbt oder die eine oder andere Perspektive teilweise modifiziert werden müßte. In jedem Fall jedoch gibt es gute Gründe dafür, den Band unverändert wieder vorzulegen, auch wenn jemand, der mit dem Studium Cassirers begönne, heute (im Vergleich mit wenigen Jahren zuvor) auf seinem Schreibtisch eine beeindruckende Menge an Forschungsliteratur anhäufen müßte und auch wenn – si parva licet – auch ich mich weiterhin kontinuierlich mit dem Werk eines Denkers beschäftigt habe, der endlich keine Randfigur der Philosophie des 20. Jahrhunderts mehr ist.14
14 Ich erlaube mir, insbesondere auf meine Aufsätze hinzuweisen: Scienze della cultura e scienze della natura in Ernst Cassirer, »Giornale critico della filosofia italiana , LXXV, 1996, S. 83–95; Über die Ürsprünge des logischen Empirismus, den Neukantianismus und Ernst Cassirer aus der Sicht der neueren Forschung in Von der Philosophie zur Wissenschaft. Cassirers Dialog mit der Naturwissenschaft, a. a. O., S. 93–131; Cassirer et l’empirisme logique: la discussion entre Cassirer et Schlick, »Etudes de Lettres«, LXXII, 1997, S. 31–46; Préface zu E. Cassirer, H. Cohen, P. Natorp, L’École de Marbourg, a. a. O., S. I–XXXII; Zur politischen Philosophie im Frühwerk Ernst Cassirers in Cassirers Weg zur Philosophie der Politik, a. a. O., S. 43–61; Introduzione zu E. Cassirer, Sostanza e funzione, Firenze 1999, S. VII–XXXVI; Préface zu E. Cassirer, Le problème de la connaissance dans la philosophie et la science des temps modernes, Bd. III, Les systèmes postkantiens, Paris 1999, S. I–XX; Sources for the History of the Concept of Symbol from Leibniz to Cassirer in Symbol and Physical Knowledge. On the Conceptual Structure of Physics, edited by M. Ferrari and I.-O. Stamatescu, Berlin-Heidelberg-New York 2001, S. 3–32; Begriffslehre und mythisches Denken bei Ernst Cassirer in Die Stellung des Menschen in der Kultur. Festschrift für Ernst Wolfgang Orth zum 65. Geburtstag, hg. von Ch. Bermes, J. Jonas, K.-H. Lembeck, Würzburg 2002, S. 197–212; Paul Natorp. »The Missing Link« in der Davoser Debatte in Cassirer-Heidegger. 70 Jahre Davoser Disputation, a. a. O., S. 215–233; Filosofia della cultura e filosofia dell’uomo: Cassirer e l’antropologia filosofica in L’uomo, un progetto incompiuto, Bd. I: Significato e attualità dell’antropologia filosofica, hg. von A. Gualandi, Sonderheft von »Discipline Filosofiche«, XII, 2002, S. 329–349; Was wären wir ohne Goethe? Motive der frühen Goethe-Rezeption bei Ernst Cassirer in Cassirer und Goethe. Neue Aspekte einer philosophisch-literarischen Wahlverwandtschaft, hg. von B. Naumann und B. Recki, Berlin 2002, S. 173–194; Ist Cassirer methodisch ge-
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Vorwort zur deutschen Ausgabe
Ich freue mich sehr, daß mein Buch in der angesehenen Reihe der »Cassirer-Forschungen« erscheint, und möchte dem Hamburger Verleger Manfred Meiner dafür danken, daß er die Veröffentlichung der deutschen Ausgabe ermöglicht hat. Dies wäre jedoch undenkbar gewesen ohne die großzügige finanzielle Unterstützung der Alexander von Humboldt-Stiftung, Bonn, der Evangelischen Studiengemeinschaft, Heidelberg, und des Dipartimento di Storia e Metodologie Comparate dell’Università dell’Aquila, denen ebenfalls mein herzlicher Dank gilt. Der Verlag Leo S. Olschki, bei dem die italienische Originalausgabe dieses Buches erschienen ist, hat großzügig die Rechte für die deutsche Übersetzung überlassen. Auch ihm sei gedankt. Gegenüber Enno Rudolph, der uns zu diesem Unternehmen ermutigt hat und mit dem ich in den vielen Monaten, die ich seit 1994 als Stipendiat der Humboldt-Stiftung in Heidelberg verbracht habe, so oft über Cassirer diskutiert habe, möchte ich etwas mehr als ein Gefühl der Dankbarkeit zum Ausdruck bringen. Darüber hinaus möchte ich allen meinen Freunden und Kollegen – in Deutschland, in Italien, in der Schweiz, in Frankreich und andernorts –, mit denen ich in stets fruchtbarem Austausch stand und von denen ich viel über Cassirer, aber nicht nur über Cassirer, gelernt habe, einzeln danken, aber die Liste wäre so lang, daß ich darauf verzichten und mich damit begnügen muß, daß sie als Autoren von Studien zu Cassirer in diesem Vorwort genannt sind. Es gibt jedoch eine Person, die ich erwähnen muß: Marion Lauschke, die Übersetzerin dieses Buches, die mit großer Sorgfalt und verblüffender Geschwindigkeit gearbeitet hat und mit der ich in einer Weise zusammenarbeiten konnte, die, glaube ich, beispielhaft ist. Es ist ihr Verdienst, daß der Leser heute dieses Buch in den Händen halten kann; und es ist offenkundig allein meine Schuld, wenn ihn das, was ich über den Philosophen der symbolischen Formen geschrieben habe, nicht zufriedenstellt. Milano, September 2002
sehen ein Neukantianer? in Der Neukantianismus und das Erbe des deutschen Idealismus, hg. von D. Pätzold und Ch. Krijnen, Würzburg 2002, S. 103–122.
erstes kapitel Genese und Struktur des Erkenntnisproblems
1. Als Cassirer im November 1901 sein Buch über Leibniz’ ›System‹ vorstellte, kündigte er als nächste Publikation eine Studie über die »Vorgeschichte der Vernunftkritik« an, welche die Entwicklung der mathematischen Naturwissenschaft im 18. Jahrhundert in ihrer historischen und theoretischen Kontinuität, d. h. die geistige Entwicklung ›von Leibniz zu Kant‹, beschreiben sollte.1 Dies war der erste Entwurf des Erkenntnisproblems in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, das nach einer grundlegenden Veränderung der ursprünglichen Anlage und fortschreitender Transformation in eine umfassende Untersuchung zum Problem der Erkenntnis in der Moderne bereits 5 Jahre später vollendet war. Dem ersten Band, erschienen 1906, folgte im Jahr darauf der zweite; beide wurden für die zweite Auflage 1911 überarbeitet. 1920 schloß sich bekanntermaßen ein dritter Band über die nachkantischen Systeme (dessen Vorarbeiten jedoch einige Jahre zurück reichen) an, und 1940 wurde schließlich ein vierter Band im schwedischen Exil beendet, der den gesamten Zeitraum von Hegels Tod bis zur Gegenwart abdeckt. Er erschien posthum 1950 in englischer Version, in deutscher Fassung 1957.2 Cassirer hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts sicherlich nicht im Sinn, ein derartig weitreichendes Werk zu schreiben. Tatsächlich war die Erforschung der »Vorgeschichte« des Kantischen Kritizismus, auf Vgl. E. Cassirer, Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen, Marburg 1902 (Nachdruck Darmstadt 1962), S. 11; ECW 1, S. 10. 2 Vgl. Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, 2., durchgesehene Auflage, 2 Bde., Berlin 1911 (Nachdruck Darmstadt 1974); ECW 2+3; Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, III, Die nachkantischen Systeme, Berlin 1920 (Nachdruck Darmstadt 1991); ECW 4; Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, IV, Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832–1932), Stuttgart 1957 (Nachdruck Darmstadt 1991); ECW 5: auf englisch erschienen als The Problem of Knowledge. Philosophy, Science, and History since Hegel, transl. by W. H. Woglom and Ch. Hendel, New Haven 1950 (mit einem Vorwort von Hendel, das über die Wechselfälle des Manuskripts Rechenschaft gibt). An dieser Stelle ist es, was die ersten beiden Bände des Erkenntnisproblems betrifft, nicht möglich, auf die nicht unwichtige Frage der Abweichungen der zweiten von der ersten Auflage einzugehen; es genügt jedoch, wenigstens an die auffälligste Veränderung zu erinnern, nämlich an die Elimination des langen, historisch-systematischen Exkurses über die antike Philosophie, mit der die Einleitung des ersten Bandes der Ausgabe von 1906 schließt (vgl. Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, I, Berlin 1906, S. 20–50; ECW 2, S. 504–533). 1
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die das Vorwort zu Leibniz’ System hinweist, in engeren Grenzen konzipiert. Dies geht aus einem Brief an Paul Natorp vom 26. November 1901 hervor, in dem Cassirer die Absicht bekundet, innerhalb kurzer Zeit (und vorzugsweise in einer Zeitschrift) zumindest diejenigen Teile zu veröffentlichen, die die Begriffe Raum und Zeit und das Problem der Antinomien betreffen.3 Aber bereits im Dezember 1902 – wie ein anderer Brief an Natorp bezeugt4 – füllte die Analyse der unmittelbaren Vorläufer der Kantischen Kritik der Vernunft und der mathematisch-naturwissenschaftlichen Probleme der Epoche bereits den umfangreichen, Von Newton bis Kant betitelten Teil, der später das siebte Buch des Erkenntnisproblems darstellte.5 Es war nun höchste Zeit, sich darüber klar zu werden, daß es nicht ausreichen würde, Kant aus der offenkundigen Isoliertheit innerhalb des vorgängigen philosophisch-wissenschaftlichen Diskurses zu befreien6, sondern daß es erforderlich sei, viel weiter zurückzugehen, bis zu den Ursprüngen der exakten Naturwissenschaft und des modernen Naturverständnisses. Dies sei eine unerläßliche Prämisse – schrieb Cassirer dann am 31. Juli 1905 an Natorp, als der erste Band des Erkenntnisproblems nahezu abgeschlossen war –, um das »logische Ideal« zu verstehen, das die Entwicklung der Philosophie und der Wissenschaft von der Renaissance bis zu Kant geprägt habe: ein immer umfangreicher werdendes Vorhaben, das notgedrungen bereits in zwei Bände unterteilt worden sei und sogar einen dritten, systematischen Band erforderlich gemacht habe, an dem Cassirer, wie er eingestand, noch lange würde arbeiten müssen.7 Doch auch dieser dritte, als Abschluß des Erkenntnisproblems geplante Teil hatte das unvorhergesehene Schicksal, sich in das Buch von 1910 über Substanzbegriff und Funktionsbegriff zu transformieren, jene imposante theoretische Studie, in der Cassirer sein Verständnis des Erkenntnisproblems definitiv umriß. Andererseits ist es sicher kein Zufall, daß der anfänglich angekündigte Titel für den ersten Band des Erkenntnisproblems in der Tat Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Versuch einer systematischen Darstellung der Entwicklung der neueren Philosophie lautete, während der zweite mit Der Begriff der Erfahrung im System der KantiDer Brief Cassirers ist in M. Ferrari, Il giovane Cassirer e la scuola die Marburgo, Milano 1988, S. 295 f. vollständig abgedruckt worden. 4 Ebd., S. 297 f. Für den Beginn der Arbeiten, die dann zum Erkenntnisproblem führten, vgl. auch T. Cassirer, Mein Leben mit Ernst Cassirer, Hildesheim 1981, S. 44. 5 Vgl. Das Erkenntnisproblem, II, S. 391–582; ECW 3, S. 329–488. 6 Ebd., S. 393; ECW 3, S. 329. 7 Der Brief Cassirers ist im Nachlaß Natorps in der Universitätsbibliothek Marburg unter der Signatur Hs 831 / 618 verwahrt und wird hier mit der freundlichen Genehmigung der Direktion der Bibliothek zitiert. 3
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schen Philosophie8 überschrieben werden sollte; und abermals 1905, im bereits zitierten Brief vom 31. Juli, vertraute Cassirer Natorp an, mit dem schließlich endgültigen Titel nicht zufrieden zu sein, da er seiner Meinung nach nicht geeignet sei, das Anliegen einer Studie zum Ausdruck zu bringen, die nicht so sehr als eine Betrachtung der Aufeinanderfolge einzelner Erkenntnistheorien zu charakterisieren sei, sondern vielmehr als eine eingehende Untersuchung des »spezifischen logischen Ideals«, welches der historischen Entwicklung zugrunde liege. Die relative Austauschbarkeit der Titel und die anfängliche Unentschiedenheit Cassirers offenbaren eine wesentliche Gleichartigkeit der Themen und in gewisser Weise die schrittweise Artikulation einer zugleich historischen wie systematischen Arbeit, ein harmonisches Zusammenwachsen von Interessen und Perspektiven, das gewiß typisch für die gesamte philosophische Arbeit Cassirers und von besonderer Relevanz für ein angemessenes Verständnis des Erkenntnisproblems ist.9 Auch im Lichte dieser ein wenig gewundenen Genese wäre es übereilt, das Erkenntnisproblem als eine traditionelle ›Philosophiegeschichte‹ zu betrachten oder gar als ein perfektes Handbuch, das jedoch leider durch die kantianische Hypothek belastet sei, von der der Autor sich nicht habe freimachen können. In Wirklichkeit ist das verbreitete Mißverständnis, Cassirer sei sic et simpliciter ein ›Philosophiehistoriker‹, die Frucht einer ebenso einseitigen wie hartnäckigen Interpretationsweise, die – aus Unkenntnis des typisch marburgischen Ansatzes, der im Erkenntnisproblem seinen reifsten Ausdruck findet – eine willkürliche Grenzlinie zwischen einem theoretischen Cassirer und einem mit historiographischen Analysen beschäftigten Cassirer gezogen hat.10 Émile Meyerson hatte daher Ich entnehme diese Notiz der Umschlagklappe von Cassirers Aufsatz Der kritische Idealismus und die Philosophie des »gesunden Menschenverstands«, Gießen 1906. 9 Diesbezüglich sollte auf die Beobachtungen, die sich in der Rezension der ersten beiden Bände des Erkenntnisproblems des ›Marburgers‹ Artur Buchenau finden, hingewiesen werden (vgl. »Kant-Studien«, XIV, 1909, S. 278–282); vor allem aber auf die umfängliche Rezension Walter Kinkels, erschienen in »Deutsche Literaturzeitung«, XXXII, 1911, Sp. 965–974, 1029–1036. Andererseits ist es kaum nötig zu betonen, das auch die großen theoretischen Werke Cassirers immer von »historischen Betrachtungen« durchzogen sind; vgl. in diesem Sinne die prägnante methodologische Formulierung in der Vorrede zur Philosophie der symbolischen Formen, III, Phänomenologie der Erkenntnis, Berlin 1929 (Nachdruck Darmstadt 91990), S. VIII; ECW 13, S. X. Zur notwendigen Verbindung von historischem und systematischem Denken bei Cassirer vgl. V. Gerhardt, Vernunft aus Geschichte. Ernst Cassirers systematischer Beitrag zu einer Philosophie der Politik in Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, S. 221, und P. Piovani, Filosofia e storia delle idee, Bari 1965, S. 28, 187. 10 Zum letzteren Aspekt vgl. P. Natorp, Kant und die Marburger Schule, »Kant-Studien«, XVII, 1912, S. 199 (siehe ebenfalls den Brief Natorps an Albert Görland vom 10. Juni 1912, veröffentlicht in H. Holzhey, Cohen und Natorp, II, Der Marburger Neukantianismus 8
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völlig recht, als er, beinahe als hätte er die Vielzahl der Mißverständnisse vorausgesehen, 1911 in seiner Rezension der ersten beiden Bände des Erkenntnisproblems den Schwerpunkt auf den von Cassirer eingeräumten Vorrang des »systematischen Gesichtspunktes« gegenüber dem bloß historischen legte. »Car le livre de M. Cassirer« – fügt Meyerson mit zu schnell in Vergessenheit geraten Worten hinzu – »n’est une histoire qu’en apparence. C’est au fond un livre systhématique, une oeuvre dominée par une théorie que l’auteur cherche précisement à étayer par l’étude de l’évolution philosophique et scientifique des temps modernes.«11 Auf der anderen Seite konstituiert das Verhältnis von ›Geschichte‹ und ›System‹ nicht nur eine durchgängige Perspektive, eine methodische Regel, an die Cassirer sich konstant hält, sondern es markiert auch die einzelnen Kompositionsphasen des Erkenntnisproblems, indem es den Grundriß und die Ausarbeitung der einzelnen Teile erhellt. Ein außerordentlich aufschlußreiches Beispiel geben in diesem Sinne die Entstehungsbedingungen des umfangreichen, den zweiten Band des Erkenntnisproblems abschließenden Kapitels über Kant, in dem jene charakteristische teleologische Orientierung des modernen Denkens sich vollendet, auf der häufig die Cassirer-Interpreten insistiert haben. 1906 unterbrach Cassirer die Vorbereitung des abschließenden Teils, um mit dem langen Artikel Kant und die moderne Mathematik, der 1907 in den »Kant-Studien« erschien, sowohl in der zeitgenössischen europäischen Diskussion um die Logistik und die Logik der Relationen von Russell und Couturat zu intervenieren, als auch vor allem in derjenigen um den ›Verriß‹ der Kantischen Philosophie, den Couturat 1904 in seinem Aufsatz über La philosophie des mathématiques de Kant präsentiert hatte.12 in Quellen, Basel-Stuttgart 1986, S. 411). In Italien ist dieses Mißverständnis durch die fragwürdige Entscheidung, die vier Bände des Erkenntnisproblems mit dem fehlleitenden Titel Storia della filosofia moderna zu veröffentlichen, befördert worden (zu dieser »mit subtiler und nicht zufälliger Untreue« getroffenen Entscheidung vgl. E. Garin, Introduzione a F. Saxl, La storia delle immagini, Bari 1965, S. XV; zum ›kommerziellen‹ Charakter dieses Titel vgl. ebenfalls P. Casini, Povertà dell’Illuminismo, »Intersezioni«, VI, 1986, S. 249, und allgemeiner P. Piovani, Filosofia e storia delle idee, S. 28, Anm. 41). Auch aus diesem Grunde bleibt eine genaue Rekonstruktion der Rezeptionsgeschichte der ›historischen‹ Werke Cassirers Desiderat: Die Tatsache, daß Cassirer seinen ersten Erfolg außerhalb Deutschlands im wesentlichen als ›Philosophiehistoriker‹ hatte, bleibt in mehr als einer Hinsicht ein für das Verständnis seines ›Erfolgs‹ oder, wenn man so will, seines Mißerfolgs in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, bestimmender Umstand. 11 É. Meyerson, L’histoire du problème de la connaissance de M. Cassirer, »Revue de Métaphysique et de Morale«, XIX, 1911, S. 100. 12 Vgl. L. Couturat, La philosophie des mathematiques de Kant, »Revue de Métaphysique et de Morale«, XII, 1904, S. 321–383 (später in Les Principes des Mathématiques, Paris 1905, S. 235–308), und E. Cassirer, Kant und die moderne Mathematik (Mit Bezug
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»Was meine Arbeit betrifft«, schrieb Cassirer am 3. Juni 1906 an Natorp, »so habe ich die Fortsetzung des ›Erkenntnisproblems‹ für einige Zeit ruhen lassen, da es mich drängt, ehe ich in der geschichtlichen Darstellung weiter gehe, über einige systematische Grundfragen zu grösserer innerer Klarheit zu gelangen. Ich beschäftige mich seit einiger Zeit wieder eingehender mit Studien zur Philosophie der Mathematik und bin in diesem Zusammenhang auch auf Couturats neues Buch über die ›Prinzipien der Mathematik‹ gekommen. Ich habe mich entschlossen, mich über dieses Werk ausführlich in den ›Kant-Studien‹ zu äußern, da es mir notwendig scheint, den heftigen Angriffen auf Kant, die hier von Seiten eines scharfsinnigen u. für die rein logische Grundlegung der Wissenschaften lebhaft begeisterten Mannes geübt werden, entgegenzutreten.«13 Das Kantkapitel des zweiten Bandes des Erkenntnisproblems und die Stellungnahme zu Russell und Couturat sind als komplementär zu betrachten: dieses ist eine ausführliche Vorstellung bzw. Interpretation des Kantischen Kritizismus, jenes eine im engeren Sinne theoretische Diskussion; beide Texte kommen in der Gestalt einer Kant-Interpretation überein, die die Entwicklung des transzendentalen Funktionalismus der modernen Wissenschaft vollendet und gleichzeitig Front macht gegen die »heftigen Angriffen« auf den Kritizismus durch die ›neue Logik‹ Couturats. Auf diese Weise findet auch die ›historische‹ Prüfung der Kantischen Lehre ihren Bezugspunkt sicherlich nicht in einer Untersuchung philologischen Typs – der Cassirer zumindest in dieser Phase extrem polemisch gegenüberstand14 –, sondern vielmehr in einer systematischen Orientierung, die in Kant »nicht sowohl das Ende als ein[en] dauernd neue[n] und fruchtbare[n] Anfang der Kritik der Erkenntnis« findet.15 Die historische Erforschung ist daher nur der Ausgangspunkt einer theoretischen Aufgabenstellung, die das »Problem« der Erkenntnis in Übereinstimmung mit dem Marburger Neukantianismus als ›unabauf Bertrand Russells und Louis Couturats Werke über die Prinzipien der Mathematik), »Kant-Studien«, XII, 1907, S. 1–49. 13 H. Holzhey, Cohen und Natorp, II, S. 347. 14 Vgl. in diesem Sinne einen Passus des Briefes Cassirers an Natorp vom 18. August 1901, der im Anhang zu Il giovane Cassirer e la scuola die Marburgo, S. 294, publiziert wurde; etwas differenzierter, wenn auch sicher nicht mit mehr Sympathie, wird dagegen die Bewertung der Kant-Philologie in Kants Leben und Lehre, Berlin 2 1921 (Nachdruck Darmstadt 1974), S. V f.; ECW 8, S. 7 f., ausfallen. Dies alles schließt sicherlich nicht aus, daß Cassirer die Ergebnisse der Kant-Philologie umfänglich verwendet hat, wie z. B. die häufige Bezugnahme gerade im Erkenntnisproblem auf die von Benno Erdmann herausgegebenen Kantischen Reflexionen (und zuweilen auf den Kommentar Hans Vaihingers) demonstrieren. 15 Vgl. Das Erkenntnisproblem, I, S. 14; ECW 2, S. 10.
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schließbare Aufgabe‹ konzipiert, mithin als einen kontinuierlichen Prozeß, der dennoch nicht in seiner reinen ›Geschichte‹ aufgeht.16 Der Versuch jedoch, den ›systematischen‹ Cassirer von dem gemeinhin als ›Philosophiehistoriker‹ bezeichneten Cassirer zu trennen, muß scheitern, nicht nur in bezug auf diesen spezifischen Aspekt oder auch nur auf einige Teile des Erkenntnisproblems beschränkt. Die konstante Orientierung des ›Systems‹ in der historischen Dimension, an der Historizität der Vernunft, die, sich wandelnd, ihre eigenen Formen ausbildet, stellt nicht nur ein neukantisches Vermächtnis dar, von dem Cassirer sich, wie viele gemeint haben, glücklicherweise später befreit habe. In Wirklichkeit handelt es sich um ein im Gesamtwerk Cassirers konstant vertretenes Thema, das er auch in den anderen beiden Bänden des Erkenntnisproblems stark zur Geltung bringt, wenn auch in einem gegenüber den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts bemerkenswert veränderten Problemzusammenhang. Es war »die Beschäftigung mit den systematischen Problemen der modernen Erkenntniskritik« – sagte Cassirer z. B. im Vorwort des dritten Bandes des Erkenntnisproblems im Oktober 1919 –, »durch die ich zuerst auf den Zusammenhang hingewiesen wurde, der zwischen der Philosophie unserer Zeit und der nachkantischen besteht«; und »in diesem Sinne« – ergänzte er wenig später – »verfolgen auch die Betrachtungen des folgenden Bandes […] ein zugleich historisches und systematisches Ziel.«17 Ohne Zweifel hatte sich das »Vorhaben« im Vergleich mit den ersten beiden Teilen des Erkenntnisproblems bereits erweitert, und die Aufmerksamkeit verschob sich von der privilegierten Achse des Verhältnisses Philosophie / Wissenschaft zu den Entwicklungen des spekulativen nachkantischen Denkens, in eine bis dahin vom Marburger Neukantianismus nicht erforschte Richtung; aber deshalb löste sich die historische Analyse noch nicht von ihren theoretischen Voraussetzungen oder zog sich auf eine ›neutrale‹, von systematischen Belangen unberührte Darstellung zurück. Außerdem betonte Cassirer 20 Jahre später abermals die Notwendigkeit der philosophischen Historiographie, nicht bei den Ideen als gesicherten oder historisch determinierten Fakten stehenzubleiben, sondern sich den Prinzipien, durch die sie gebildet wurden, zuzuwenden, d. h. ihrer Bedeutung »von einem systematischen Gesichtspunkt aus«: »Die Zeit der großen konstruktiven Entwürfe, in der die Philosophie hoffen durfte, das Ganze des Wissens mit einem […] zu systematisieren und zu organisieren, ist für uns dahin. Aber die Forderung der Synthesis 16
Für die Marburger Konnotation des Begriffs »Problem« vgl. z. B. P. Natorp, Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften, zweite, durchgesehene Auflage, Leipzig und Berlin 1921, S. 18. 17 Das Erkenntnisproblem, III, S. V; ECW 4, S. VII.
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oder Synopsis, der Überschau und Zusammenschau bleibt nach wie vor bestehen, und nur aus einer solchen Art des systematischen Überblicks läßt sich das wahre geschichtliche Verständnis der Einzelphänomene gewinnen.«18 Cassirer hat nicht einmal in der Schlußphase seiner wissenschaftlichen Betätigung die Gewißheit bezüglich der engen Verknüpfung von ›Historischem‹ und ›Rationalem‹ verloren, so sehr sich auch der letzte Band des Erkenntnisproblems in eine Richtung »recht entfernt von dem Plan, der anfangs die Orientierung des Werks bestimmt hatte«, bewegt hat.19 Stets blieb er überzeugt – um die suggestiven Worte der Philosophie der Aufklärung zu verwenden –, daß die Vernunft niemals die Bewegung der Geschichte von sich weisen könne, sondern in sie eintauchen müsse, um ihre eigene »Stetigkeit und Ständigkeit« zu behaupten.20 Im Namen dieser »Stetigkeit und Ständigkeit« hat Cassirer zwischen 1901 und 1940 die vier Bände seines bekanntesten und meist gelesenen Werkes komponiert; und im Grunde dreht sich das Werk seines gesamten philosophischen Lebens nicht nur um ein und denselben Schwerpunkt – die Entwicklung des Erkenntnisproblems –, sondern es ist vor allem durch ein einziges, richtungweisendes Prinzip inspiriert: das Anliegen, nicht nur ein »Geschichtswerk« in traditionellen Begriffen zu entwerfen, sondern vielmehr eine theoretische Analyse, die sich auf das historische Material stützt, um die wichtigsten Etappen einer fortschreitende Gewinnung der reinen transzendentalen Ebene der Vernunft zu bestimmen, die die Emanzipation des modernen Denkens von jeglicher Form von Substanzialismus gekennzeichnet haben.
2. Wer die ›Tradition‹ verstehen will, in der der Entwurf und die Struktur des Erkenntnisproblems sich entwickelt haben, kann nicht darauf verzichten, einen Schritt zurück in die Vergangenheit zu machen. 30 Jahre vor Leibniz’ System hatte Hermann Cohen eine Kant-Exegese begonnen, die die Marburger Interpretation der kritischen Philosophie initiierte, indem er klarstellte, daß man nicht von Kant sprechen könne, ohne offenzulegen, »welche Welt man im eigenen Kopfe trage«, oder vielmehr ohne systematische Verortung (»die systematische Parteinahme« – stellte er fest – »ist unvermeidlich«).21 Wie er schon in seiner Intervention in der berühmten Das Erkenntnisproblem, IV, S. 26; ECW 5, S. 21. So Pietro Rossi in seiner Rezension der italienischen Übersetzung der letzten beiden Bände des Erkenntnisproblems, erschienen in »Rivista di filosofia«, L, 1959, S. 103–107, 106. 20 E. Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, Tübingen 1932, S. 261. 21 H. Cohen, Kants Theorie der Erfahrung, Berlin 1871 (Nachdruck in Werke, I / 3, hg. vom Hermann-Cohen-Archiv, Hildesheim-Zürich-New York 1987), S. V. 18
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Kontroverse zwischen Adolf Trendelenburg und Kuno Fischer über die transzendentale Ästhetik vertreten hatte, muß für Cohen der Philosophiehistoriker nicht nur Historiker, sondern vor allem Philosoph sein, so daß – in Kantischen Begriffen – das »System« immer Vorrang vor der bloßen »Rhapsodie« hat.22 Sicherlich (und es ist bezeichnend, daß Cohen auf eben diesem Aspekt insistiert hat) kann der Vorrang des systematischen Elements niemals soweit gehen, der »philologischen Genauigkeit« Abbruch zu tun, da jedwede Interpretation nur unter dieser Voraussetzung einen Schritt vorwärts machen kann.23 Andererseits hat Cohen seine geringe Sympathie für eine philologische oder ›buchstabengetreue‹ Konzeption der Philosophiegeschichte nie verschwiegen, und er hatte stets etwas auszusetzen, sowohl an einer bloßen Erforschung der Quellen oder der historischen Verhältnisse als auch an der Kant-Philologie, die in Deutschland im Zuge des ›Zurück zu Kant‹ aufgekommen war.24 Tatsächlich wäre es schwierig, im Werk Cohens ein rein historiographisches Interesse auszumachen. Auch dort, wo die historische Darstellung eine wichtige Rolle spielt, wie 1883 anläßlich des Studiums der Infinitesimal-Methode, handelt es sich stets darum, eine »systematische Aufgabe historisch anzufassen«25, und damit um eine Perspektive, die die Philosophiegeschichte im engeren Sinne transzendiert.26 Auch deshalb Vgl. H. Cohen, Zur Kontroverse zwischen Trendelenburg und Kuno Fischer [ 1871 ], dann in Schriften zur Philosophie und Zeitgeschichte, I, hg. von A. Görland und E. Cassirer, Berlin 1928, bes. S. 269–275. Für die Unterscheidung von »System« und »Rhapsodie« vgl. Kritik der reinen Vernunft, A832 / B860. Vgl. ebenfalls, was Cohen 1873 in Die systematischen Begriffe in Kants vorkritischen Schriften nach ihrem Verhältnis zum kritischen Idealismus, später in Schriften, I, 280, schreibt. 23 Für diesen Aspekt vgl. die Vorrede zur ersten Auflage von Kants Theorie der Erfahrung, S. VII, und das interessante Zeugnis R. A. Fritzsches, Hermann Cohen. Aus persönlicher Erinnerung, Berlin 1922, S. 10. 24 Einige nicht unbedeutende Bemerkungen finden sich diesbezüglich zu Beginn des Aufsatzes von 1890 Zur Orientierung in den Losen Blättern aus Kants Nachlaß in Schriften, I, S. 432–437. Für die Polemik gegen die Kant-Philologie siehe Cohens Vorrede zu Kants Begründung der Ethik, Berlin 1877, S. III (= Kants Begründung der Ethik nebst ihren Anwendungen auf Recht, Religion und Geschichte, zweite, verbesserte und erweiterte Auflage, Berlin 1910, S. V). 25 H. Cohen, Das Prinzip der Infinitesimal-Methode und seine Geschichte, Berlin 1883 (Nachdruck in Werke, V, hg. vom Hermann-Cohen-Archiv, Hildesheim-Zürich-New York 1984), § 15, S. 11. 26 Vgl. auch Kants Theorie der Erfahrung, dritte Auflage, Berlin 1918 (Nachdruck in Werke, I / 1, hg. vom Hermann-Cohen-Archiv, Hildesheim-Zürich-New York 1987), S. 7 (auf diese Ausgabe wird sich – sofern nicht anders angegeben – im folgenden stets bezogen). Übrigens handelt es sich hier um einen Aspekt, den Cohen stets betont hat; und auch wenn er anerkannt hat, daß das Studium der Philosophie ein »historisches Interesse« befriedigt, hat er jedoch unverzüglich diese Dimension mit derjenigen des unverzichtbaren »systematischen Interesses« in Verbindung gebracht. (H. Cohen, 22
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hat Cohen die Philosophie – als objektive Verknüpfung der Ideen – nie mit dem philosophierenden ›Genius‹ identifiziert, und sei es auch der Genius Kants, denn das Individuum gehöre stets einer »Ordnung« an, von der es beherrscht werde, einer »Geistesgeschichte«, die weder in der Person noch im Werk aufgehe.27 Und genau in dieser Richtung hat Cohen seine einzige positive Würdigung Hegels formuliert, dessen »Fehler« nicht darin bestehe, die Philosophen als simple Akteure (wenn nicht gar als »Drahtpuppen«) des historischen Prozesses konzipiert zu haben, sondern darin, diesen Prozeß im Lichte einer »mythischen Macht der philosophischen Idee«, statt auf der Basis eines durch die Philosophie als Methode geleiteten »Ideals geschichtlicher Erkenntnis« verstanden zu haben.28 In der Tat ist das Charakteristische an Cohen (und an der Marburger Schule im allgemeinen) nicht nur die Inanspruchnahme der theoretischen Perspektive als Leitlinie der historischen Forschung, sondern vielmehr der Versuch, die historische Ebene innerhalb der methodischen Neubegründung des Transzendentalen zu gewinnen, die auf die »Erkenntniskritik«, d. h. die Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit des »Faktums der Wissenschaft«, hinausläuft.29 Von der zweiten Auflage von Kants Theorie der Erfahrung an hat Cohen den zentralen Kern dieser ›Historisierung‹ des Apriori beleuchtet, sei es, indem er die historischen Voraussetzungen der Kantischen Kritik, genauer der Linie, die bei Platon beginnt und über Leibniz und Descartes bis zu Kant selbst reicht, untersuchte,30 vor allem jedoch, indem er die »Komplikation« von Philosophie und Wissenschaft, das Enthaltensein der Philosophie in der Wissenschaft und den »latent« philosophischen Charakter der wissenschaftlichen Grundbegriffe hervorhob.31 Aus der Perspektive der transzendentalen Methode bedeutet dies, daß die mathematische Naturwissenschaft sich a priori (gemeint ist das ›metaphysische‹ Apriori Kants) an jenen Begriffen orientiert, die die transzendentale Untersuchung dann Einleitung mit kritischem Nachtrag zur »Geschichte des Materialismus« von F. A. Lange, dritte, erweiterte Auflage, Leipzig 1914 (Nachdruck in Werke, V, S. 8); vgl. außerdem Kants Begründung der Aesthetik, Berlin 1889, S. 5. Vgl. darüber hinaus E. Cassirer, Hermann Cohen und die Erneuerung der Kantischen Philosophie, »Kant-Studien«, XVII, 1912, S. 252. 27 Vgl. Kants Theorie der Erfahrung, S. 3, 8. 28 Ebd., S. 8 (diese Anmerkungen zu Hegel finden sich nur in der dritten Auflage von 1918). 29 Ebd., S. 108; vgl. außerdem Das Prinzip der Infinitesimal-Methode, §§ 8 f., S. 6 f. 30 Vgl. Kants Theorie der Erfahrung, S. 1–110. S. außerdem Einleitung mit kritischem Nachtrag, S. 58 ff. 31 Vgl. Kants Theorie der Erfahrung, S. 33 f., 95 f., 741.
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als Bedingungen der Möglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis erweisen wird, als die apriorischen Werkzeuge, die in der Geschichte seit Platon den kritischen Idealismus befördert haben.32 Der Weltgeist im Sinne Hegels erscheint so als von der Dynamik der Wissenschaft getragen: »Die Geschichte der wissenschaftlichen Vernunft« wird zum »Ideal aller Erkenntnis«, oder, wie Cohen an anderer Stelle sagt, die Philosophie hat ein »natürliches, eingeborenes Verhältnis« zur Geschichte der Wissenschaft.33 Die ›Dynamisierung des Apriori‹ wird als Ergebnis dieser historischen Betrachtung des ›Faktums der Wissenschaft‹ dann der Logik der reinen Erkenntnis anvertraut, in der das Wissen um die »geschichtliche Kontinuität«, welche für die »Kraft der Vernunft«34 charakterisierend sein soll, mit demjenigen um die historische Bedingtheit der Kategorien und Urteilsformen verknüpft wird: Weit davon entfernt, einen unbeweglichen Apparat darzustellen, unterliegen diese vielmehr jener »schöpferischen Selbständigkeit«, die sich im wissenschaftlichen Denken durchsetze.35 Und weil der Begriff bereits in Kants Theorie der Erfahrung nicht so sehr als letzte »Antwort«, sondern als immer »neue Frage« verstanden wird,36 bestehe die Aufgabe einer ›Logik der reinen Erkenntnis‹ nicht darin, das System der Urteile des reinen Denkens ein für alle Mal ›abzuschließen‹ und zu fixieren, sondern darin, es geschichtlich zu orientieren: »Neue Probleme« – konstatiert Cohen – »werden neue Voraussetzungen erforderlich machen.«37 Auch wenn sich darüber diskutieren läßt, inwieweit diese Programmatik in der Cohenschen Logik tatsächlich realisiert worden ist, ist nicht zu bezweifeln, daß die Marburger Schule sich in großen Teilen mit dem von Cohen unternommenen Versuch, eine systematische Betrachtung der Geschichte der Philosophie mit der Historizität des Transzendentalen zu verbinden, identifiziert hat.38 Dennoch wird sich bei Natorp und später 32
Ebd. S. 13 ff., 108 f. Ebd. S. 10. Vgl. außerdem Einleitung mit kritischem Nachtrag, S. 18 f. 34 Vgl. H. Cohen, Logik der reinen Erkenntnis, zweite Auflage, Berlin 1914 (Nachdruck in Werke, VI, hg. vom Hermann-Cohen-Archiv, Hildesheim-New York 1977), S. XI. 35 Ebd. S. 50. Vgl. ebenfalls S. 595: »Den Idealismus, mit dem wir die Logik der reinen Erkenntnis charakterisieren, verstehen wir vielmehr in geschichtlichem Sinne.« 36 Kants Theorie der Erfahrung, S. 661. 37 Logik der reinen Erkenntnis, S. 396 (und S. 586 f. für das Folgende). Vgl auch S. 76, wo Cohen von »unsere[ r ], an dem Werdefaktum der mathematischen Naturwissenschaft orientierte[ n ] Logik« spricht. 38 Zur Cohenschen Position ist immer noch erhellend S. Kaplan, Das Geschichtsproblem in der Philosophie Hermann Cohens, Berlin 1931, S. 1–22. Zu den systematischen Implikationen der Cohenschen ›Dynamisierungen‹ vgl. außerdem W. Marx, Transzendentale Logik als Wissenschaftstheorie. Systematisch-kritische Untersuchungen zur philosophischen Grundlegungsproblematik in Cohens ›Logik der reinen Erkennntis‹, Frankfurt am Main 1977. 33
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vor allem bei Cassirer eine entscheidend ›exoterische‹ Variante abzeichnen, in der die für Cohen typischen Aspekte abstrakter Systematizität einer fortschreitenden Korrektur unterzogen werden, sei es im Sinne einer besonderen Sensibilität für die methodologischen Probleme und die Entwicklung der deutschen Philosophiegeschichtsschreibung zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert, sei es im Sinne einer verstärkten Aufmerksamkeit auf den veränderlichen Charakter jenes ›Faktums der Wissenschaft‹, die Natorp und in noch größerem Ausmaß Cassirer in fruchtbarem Dialog mit der zeitgenössischen epistemologischen Diskussion entwickeln werden.39 Von diesem Gesichtspunkt aus stellt Natorp das wichtigste Bindeglied zwischen Cohen und Cassirer dar, zwischen einer reinen »kritisch-exegetischen Analyse« und einer ausgesprochen »historisch« orientierten Forschung.40 Von Beginn an erscheint die ›praktische‹ Historiographie Natorps trotz ihrer typisch marburgischen Themen in philologischer Hinsicht sehr viel geschulter und fruchtbarer bezüglich ihrer Resultate. Nicht zufällig wird Natorp sein erstes Buch über antike Philosophie, in dem die Diskussion der Quellen und die geschickte theoretische Konstruktion einander bedingen, das sich zudem polemisch von den Anhängern hegelianischer Geschichtsschreibung absetzt und sich bezeichnenderweise an August Boeckh orientiert, Hermann Usener widmen.41 Natürlich engagiert sich auch Natorp auf dem Gebiet einer systematischen Geschichtsschreibung, und gerade deshalb polemisiert er gegen einen Begriff der Geschichte als eine von einer ›überlieferungsgeschichtlichen‹ Forschung bloß zu erkundende Tradition.42 Es war seine 39
Einen wichtigen Platz innerhalb der Entwicklung der Historiographie des ›Marburger‹ Ansatzes nehmen auch die Werke von Kurd Lasswitz und Karl Vorländer ein (ganz abgesehen von den Beiträgen der jüngeren Generation von Albert Görland bis zum ›frühen‹ Nicolai Hartmann): vgl. K. Lasswitz, Geschichte der Atomistik vom Mittelalter bis Newton, Hamburg und Leipzig 1890 (Nachdruck Darmstadt 1963) und K. Vorländer, Geschichte der Philosophie, Leipzig 1903. Lasswitz z. B. schreibt: »Der systematische und der kritische Teil bilden [ … ] für den Verfasser eine Einheit und konnten in der Darstellung nicht getrennt werden« (Geschichte der Atomistik, I, S. VI). 40 A. Banfi, Concetto e sviluppo della storiografia filosofica in La ricerca della realtà, Firenze 1959, I, S. 145. 41 Vgl. P. Natorp, Forschungen zur Geschichte des Erkenntnisproblems im Altertum. Protagoras, Demokrit, Epikur und die Skepsis, Berlin 1884, S. V–VII. Zu dem Verhältnis zu Usener s. den langen Brief, den Natorp ihm am 20. Januar 1884 schrieb (vgl. H. Holzhey, Cohen und Natorp, II, S. 150 ff.). Die historisch-philologische Orientierung erklärt allerdings, warum Natorp gern präzisierte – wie er Görland schrieb – »nie Schüler [ Cohens ] im engeren Sinne gewesen« zu sein (ebd., S. 411). 42 Vgl. Forschungen zur Geschichte des Erkenntnisproblems im Altertum, S. 284 f.
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Arbeitsmethode, die den ›systematischen Eifer‹ Cohens zu dämpfen vermochte und die Aufmerksamkeit der deutschen akademischen Welt um die Jahrhundertwende auf sich zog (das bezeugt unter anderem die Beziehung zwischen Natorp und Wilhelm Dilthey).43 Andererseits konzentrierte auch Natorp seine ersten Bemühungen auf jenes ›Faktum der Wissenschaft‹, das Cohen zu Beginn der 80er Jahre als den eigentlichen ›Gegenstand‹ der Erkenntniskritik bezeichnet hatte. Das Buch über Descartes und die zeitgleichen Aufsätze über Galilei, Kopernikus und Leibniz stellen von diesem Gesichtspunkt aus den ersten Versuch dar, jene »Vorgeschichte des Kritizismus«, die der junge Cassirer zwei Jahrzehnte später im Erkenntnisproblem abschließend umreißen sollte,44 von allen Seiten zu beleuchten, und zwar durch eine Untersuchung, die nicht »Geschichtsconstruction«, sondern vielmehr »Geschichtsuntersuchung«45 sein will: keine von bloß »antiquarischer« Vorliebe für die Vergangenheit, durch den simplen Willen, die Geschichte zu wiederholen, diktierte Studie also, sondern vielmehr der Versuch, die »Gesetzmässigkeit« der Vergangenheit aufzufinden, dasjenige also, was sie uns »vom kritischen Gesichtspunkte« her, d. h. aus der Perspektive der von Cohen begonnenen Wiederbelebung der Transzendentalphilosophie, als gültig präsentiert.46 Im Dienste einer Aufgabe, die nicht historischer Art ist, einer »Geschichte der Erkenntnistheorie«, Vgl. H. Holzhey, Cohen und Natorp, I, Ursprung und Einheit, Basel / Stuttgart 1986, S. 13 f. Über seine Verpflichtung Cohen gegenüber äußert Natorp sich in Hermann Cohen als Mensch, Lehrer und Forscher, Marburg 1918, S. 7 (»Ich habe irgendwo gesagt: Nicht uns in den Geist der Zeiten, sondern den Geist der Zeiten in uns zu versetzen, sei die Aufgabe der Geschichte. Cohens Weise der Geschichtsbehandlung gibt davon das lebendigste Beispiel, das ich kenne.«). Zu dem Sachverhalt, der hier nur angerissen werden konnte, vgl. die gut dokumentierte und ausführliche Studie von K.-H. Lembeck, Platon in Marburg. Platonrezeption und Philosophiegeschichtsphilosophie bei Cohen und Natorp, Würzburg 1994, vor allem S. 167–250. Zum Verhältnis zwischen Natorp und Dilthey vgl. außerdem P. Natorp, Über Philosophie, Geschichte und Philosophie der Geschichte, »Historische Zeitschrift«, III, vol. C, 1908, S. 564–584 (zu Dilthey S. 565–574). 44 Vgl. P. Natorp, Leibniz und der Materialismus, aus dem Nachlaß hg. von H. Holzhey, »Studia Leibnitiana«, XVII, 1985, S. 3–14; Galilei als Philosoph. Eine Skizze, »Philosophische Monatshefte«, XVIII, 1882, S. 193–229; Die kosmologische Reform des Kopernikus in ihrer Bedeutung für die Philosophie, »Preussische Jahrbücher«, XLI, 1882, S. 355–375. Zur Bedeutung der frühen Werke Natorps vgl. auch E. Cassirer, Paul Natorp, »Kant-Studien«, XXX, 1925, S. 277 f., und jüngeren Datums, U. Sieg, Aufstieg und Niedergang des Marburger Neukantianismus. Die Geschichte einer philosophischen Schulgemeinschaft, Würzburg 1994, S. 158–174 (der ausgiebig Gebrauch von unveröffentlichtem Material macht). 45 P. Natorp, Descartes’ Erkenntnistheorie. Eine Studie zur Vorgeschichte des Kritizismus, Marburg 1882 (Nachdruck Hildesheim 1978), S. IV. 46 Vgl. Descartes’ Erkenntnistheorie, S. 120 f. 43
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die unbeeindruckt durch die Einwände eines »unphilosophischen Historismus« nur »Mittel, nicht Endzweck«47 sein will, ging es ihm darum, »die Geschichte der philosophischen Theorie der Erkenntnis mit der Geschichte der wissenschaftlichen Erkenntnis selbst derart in Verbindung zu setzen«, daß die echten Probleme von denjenigen getrennt werden, die eigentlich keine sind.48 Die ›Vorgeschichte‹ des Kritizismus, der ›kantische‹ und der ›marburgische‹ Descartes sowie der ›Philosoph‹ Galilei und der mehr transzendentalphilosophische als metaphysische Leibniz bilden eine Art historisch-systematische Etappe auf dem theoretischen Weg, den Natorp – zum Teil in Abweichung von Cohen – mit einer eigenständigen Reformulierung des Problems des ›Faktums der Wissenschaft‹ beschließen wird.49 Gerade weil Natorp trotz seiner Ähnlichkeit mit Cohen in den methodischen Voraussetzungen der konkreten historischen Realisierung der wissenschaftlichen Vernunft sehr viel näher ist, hebt er auch buchstäblich den wechselhaften, dynamischen und niemals abgeschlossenen Charakter des wissenschaftlichen factums hervor, indem er den ihm wesentlich besser entsprechenden Ausdruck fieri verwendet.50 Zweifellos wird in dieser terminologischen Veränderung auch der besondere Blickwinkel deutlich, unter dem Natorp die Cohensche Interpretation der Kantischen ›Theorie der Erfahrung‹ und seine transzendentale Methode betrachtet: Von allen Seiten soll der unendlich produktive, aktive, ständig vom platonischen Rhythmus der Unterscheidung und Vereinheitlichung gekennzeichnete Prozeß des Erkennens und der Objektivierung untersucht werden.51 Dieses theoretische Motiv hatte seine Rechtfertigung anfänglich gerade in der Erforschung der komplexen »Vorgeschichte« des Kantischen Kritizismus und der Geschichte der modernen Wissenschaft in ihrer Verflechtung mit der Entwicklung der Erkenntnistheorie, einem mächtigen historischsystematischen Knoten, den erst Cassirer mit seinen »vortrefflichen und echt historischen Untersuchungen« würde vollständig beleuchten können, indem er das Erbe seiner Lehrer antrat und erneut bearbeitete.52 47
Ebd., S. 163. Ebd., S. 162. 49 Zur eingehenderen Untersuchung der intellektuellen Biographie Natorps der letzten beiden Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts vgl. M. Ferrari, Il giovane Cassirer e la scuola di Marburgo, S. 71–114. 50 Vgl. z. B. Kant und die Marburger Schule, S. 200, und Die logischen Grundlage der exakten Wissenschaften, S. 14. 51 Vgl. besonders P. Natorp, Hermann Cohens philosophische Leistung unter dem Gesichtspunkte des Systems, Berlin 1918, S. 16 f., und Hermann Cohen als Mensch, Lehrer und Forscher, S. 21 f. 52 Die innovativere Position Cassirers im Vergleich mit derjenigen Cohens und 48
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3. Cassirer hat, wie bereits erwähnt, gleich nach Abschluß von Leibniz’ System die Arbeit an dem Projekt einer vertiefenden Untersuchung der Vorgeschichte im Sinne Natorps aufgenommen. Tatsächlich ist sein gesamtes erstes Buch unter dem Zeichen einer Art Marburger ›Orthodoxie‹ entstanden: in der Themenwahl (Leibniz und als historische Einleitung Descartes – beide Vertreter der klassischen ›Linie‹ des kritischen Idealismus),53 durch die entscheidende Verbindung mit dem Faktum der modernen Wissenschaft54 und schließlich durch das Herausstellen eines Leibnizschen ›Systems‹ selbst, auf das Cassirer die untereinander vermittelten kategorialen Strukturen und Zusammenhänge der verschiedenen von Cohen und Natorp ausgearbeiteten ›Grundlegungen‹ projizierte.55 Aber Leibniz’ System ist auch aus einem anderen Grunde der Marburger Schule verpflichtet: Es stellt ein Modell historischer Forschung von beträchtlicher Starrheit vor, das tief in systematischen Voraussetzungen verankert ist und sogar so weit geht, die Entwicklungsgeschichte des Leibnizschen Denkens auf der Grundlage eines Kriteriums, das Couturat als eine »bizarrerie« erscheint, sich jedoch in Wirklichkeit nur darauf beschränkt, eine methodische Regel Cohens genau zur Anwendung zu bringen, in das Schlußkapitel des Bandes zu verbannen.56 Andererseits bildet die Annahme einer wesentlichen Koinzidenz von logischer und historischer Ordnung (»Der logischen Ordnung der Begriffe entspricht die Folge, in der die Einzelmomente innerhalb der Gesamtentwicklung sich herausarbeiten«) das Fundament der Cassirerschen Darstellung und führt beispielsweise dazu, Descartes als eine historische Figur zu Natorps hat besonders E. Troeltsch hervorgehoben: Der Historismus und seine Probleme, Tübingen 1922 (Nachdruck Aalen 1961), S. 546. Zur Bedeutung der historischen Untersuchungen der Marburger Schule vgl. auch H. Dussort, L’école de Marbourg, Paris 1963, S. 138. 53 Vgl. Leibniz’ System, S. 1 f.; ECW 1, S. 1. Ähnliche Formulierungen finden sich bei H. Cohen, Logik der reinen Erkenntnis, S. 595 f. 54 Vgl. Leibniz’ System, S. XI; ECW 1, S. XII. 55 Zu diesem Aspekt vgl. M. Ferrari, Il giovane Cassirer e la scuola di Marburgo, S. 181–251. 56 Vgl. L. Couturat, Le système de Leibniz d’après M. Cassirer, »Revue de Métaphysique et de Morale«, XI, 1903, S. 84, und H. Cohen, Kants Theorie der Erfahrung, S. 11, sowie Leibniz’ System, S. 483–531; ECW 1, S. 433–476. Es ist kaum nötig, daran zu erinnern, daß die Polemik gegen die Entwicklungsgeschichte sich im Grunde gegen die von Kuno Fischer begründete historiographische Praxis richtet: Dieses Motiv radikaler Ablehnung hat der junge Cassirer von Cohen übernommen (vgl. H. Cohen, Die systematischen Begriffe in Kants vorkritischen Schriften, S. 279 f., und K. Fischer, Geschichte der neueren Philosophie, III, Kant’s Vernunftkritik und deren Entstehung, zweite, revidierte Auflage, Heidelberg 1869, S. XVI; zu Fischer s. auch die ergänzenden Bemerkungen der 5. Aufl. der Geschichte der neueren Philosophie, Jubiläumsausgabe, V, Immanuel Kant und seine Lehre, Heidelberg 1910, S. 624 f.).
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betrachten, die die quantitative Grundlegung der mathematischen Naturwissenschaft repräsentiert, während Leibniz hingegen eine andere, überlegene logische Dimension, will sagen die qualitative Grundlegung personifiziert. Mit einer möglicherweise unerwarteten Konzession an Hegel werden Descartes und Leibniz so »Begriffsbestimmungen« eines wesentlich logischen Verhältnisses.57 Wer hingegen zur Lektüre der ersten beiden Bände des Erkenntnisproblems übergeht, wird zweifellos bemerken, wieviel nuancierter, umsichtiger und gefälliger Cassirers Schreibstil in der Zwischenzeit geworden ist. Nicht umsonst war es – sehr viel mehr als Leibniz’ System (das Gegenstand einigermaßen harscher Kritik und Beurteilung war) – gerade diese eindrucksvolle Leistung, die ihm zu dauerhaftem Ansehen und weit verbreiteter Wertschätzung innerhalb der deutschen Kultur des frühen 20. Jahrhunderts verhalf, wie die Tatsache bezeugt, daß Cassirer sich schließlich, gefördert durch Dilthey, 1906 in Berlin mit den gewichtigen Analysen des Erkenntnisproblems habilitieren konnte und daß die zweite Auflage 1914 mit dem Kuno-Fischer-Preis der Universität Heidelberg eine bedeutende Auszeichnung erhielt.58 Dieses alles kann jedoch nicht das Vorurteil rechtfertigen, Cassirer habe sich nach dem peccatum juventutis seines Leibnizbuches endgültig von den Marburger Lehren entfernt, um den erfolgversprechenderen Weg eines ›Philosophiehistorikers‹ einzuschlagen. Es genügt, die bedeutende Einleitung des ersten Bandes des Erkenntnisproblems zu lesen, um die Kontinuitätslinie zu erkennen, die Cassirer mit dem Marburger Ansatz verbindet, mit der Idee also einer historischen und systematischen Erkundung des stets wandelbaren ›Faktums der Wissenschaft‹. Dieses ›Arbeitsprogramm‹, welches allerdings die einzige geschlossene Reflexion darstellt, die Cassirer den methodischen Voraussetzungen der Philosophiegeschichte gewidmet hat, hat er nicht einmal in den Jahren des schwedischen Exils aufgegeben. 59 Im Zentrum des Erkenntnisproblems findet man in der Tat keine Erkenntnistheorie als solche, sondern Erkenntnis, insofern sie sich Vgl. Leibniz’ System, S. 142–147, 531; ECW 1, S. 130–134, 476; vgl. außerdem G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie in Werke, hg. von E. Moldenhauer und K. M. Michel, Frankfurt am Main 1986, XVIII, S. 49. 58 Vgl. H. Blumenberg, Ernst Cassirers gedenkend bei Entgegennahme des KunoFischer-Preises der Universität Heidelberg 1974 in Wirklichkeiten, in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart 1981, S. 163. Zur Habilitation Cassirers und zu dem Urteil Diltheys vgl. T. Cassirer, Mein Leben mit Ernst Cassirer, S. 100, (sowie D. Gawronsky, Ernst Cassirer: His Life and His Work in The Philosophy of Ernst Cassirer, edited by P. A. Schilpp, New York 21958, S. 15 f.). 59 Vgl. vor allem den Schluß der Einleitung des Erkenntnisproblems, IV, S. 25 f.; ECW 5, S. 19 ff. 57
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historisch in der modernen wissenschaftlichen Forschung realisiert hat. Allein indem sie sich dieses veränderlichen ›Faktums‹ annimmt, kann die Geschichte der Vernunft wirklich über sich selbst Rechenschaft ablegen und den Begründern der mathematischen Naturwissenschaft die Bedeutung zurückgeben, die die traditionelle Philosophiegeschichtsschreibung ihnen abzusprechen neigt. Die Neuheit vieler Analysen Cassirers – wie auch immer man sie bewerten will – resultiert gerade daraus, daß er Galilei, Kepler, Newton oder Euler bezüglich des Entstehens des »modernen Begriffs der Erkenntnis« für genauso wichtig erachtet wie Campanella, Descartes oder Leibniz.60 Cassirer geht es darum, das Marburger Prinzip der Entwicklung und Veränderung des Faktums der Wissenschaft in der unauflöslichen Verbindung, in der es zur Erkenntniskritik steht, in seiner ganzen Fruchtbarkeit zu illustrieren und es in den Rang einer eigenständigen Forschungsleistung zu erheben: Der geschichtliche »Prozeß« ist demzufolge nicht sich selbst überlassen, nicht der Zufälligkeit einer simplen Abfolge anvertraut, sondern erscheint als ständig durch eine immanente Gesetzmäßigkeit dieses »modernen Systems der Erkenntnis« geleitet.61 Und für Cohen folgt daraus ebenso wie für Cassirer die Notwendigkeit, energisch die Kontinuität eines solchen Prozesses hervorzuheben; ist es doch die Kontinuität der Vernunft selbst, die garantiert, daß die wechselhafte Geschichte der Wissenschaft nicht die Universalität der »logischen Funktionen der Erkenntnis« zerstört und sie in einen unaufhaltsamen Relativismus hineinzieht.62 Einerseits insistiert Cassirer daher auf der historischen Dimension, denn »das ›Faktum‹ der Wissenschaft ist und bleibt seiner Natur nach ein geschichtlich sich entwickelndes Faktum«; andererseits will er nicht auf die Funktion des Apriori verzichten, welches jedoch als dynamische, wandlungsfähige kategoriale Struktur verstanden werden müsse, die in ihrer unvermeidbaren Teilhabe am »Leben der Erkenntnis« niemals wie bei Kant ein für allemal fixiert werden könne.63 Die Versöhnung dieser beiden Momente werde vor allem – mehr als durch eine Reflexion auf die letzten Prinzipien einer transzendentalen Theorie der Wissenschaft – durch den Begriff der Wissenschaftsgeschichte selbst erreicht, die Vgl. Das Erkenntnisproblem, I, S. 10; ECW 2, S. 8. Auf den Beitrag Cassirers zur Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts weist P. Rossi, I ragni e le formiche. Un’apologia della storia della scienza, Bologna 1986, S. 174 f., hin. 61 Das Erkenntnisproblem, I, S. 6; ECW 2, S. 5; zur »immanenten Logik der Geschichte« vgl. auch S. VII; ECW 2, S. XI. 62 Vgl. Das Erkenntnisproblem, I, S. 16; ECW 2, S. 13. Eine Kritik dieses Aspekts, der im allgemeinen Cassirers Hegelianismus zugeschrieben wird, findet sich bei J. Agassi, Towards an Historiography of Science, ‘s-Gravenhage 1963, S. 34 f. 63 Vgl. Das Erkenntnisproblem, I, S. 16 ff.; ECW 2, S. 13 ff. 60
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schon an sich die Idee »der Erhaltung einer allgemeinen logischen Struktur in aller Aufeinanderfolge besonderer Begriffssysteme« impliziere.64 Unter diesem Blickwinkel müsse sich die transzendentale Methode, wenn sie wirklich ihre Aufgabe erfüllen will, ständig am »Fortschritt der wissenschaftlichen Grundbegriffe« messen und könne sicher nicht bei einem ›toten‹ Gefüge kategorialer Strukturen stehenbleiben; anders gesagt: Das Apriori besitzt eine ihm eigentümliche Historizität.65 Dies stellt die Forderung nach einer tiefgreifenden Revision und »Dynamisierung« des Kantischen Erbes dar, und um es mit den Worten Diltheys zu sagen: »Das Leben der Geschichte ergreift auch die scheinbar starren und toten Bedingungen, unter welchen wir denken. Nie können sie zerstört werden, da wir durch sie denken, aber sie werden entwickelt.«66 Dennoch geht dieser entscheidende Problemkomplex für Cassirer nicht auf die von Dilthey erhobene Forderung, den »ganzen Menschen« anstelle eines abstrakten Subjekts der Erkenntnis zu rekonstituieren,67 zurück, sondern auf die Entwicklung, die die »idealistische Logik« durch das Werk Cohens vollzogen hat. »Die Urteilsformen« – so Cassirer – »bedeuten ihr nur einheitliche und lebendige Motive des Denkens, die durch alle Mannigfaltigkeit seiner besonderen Gestaltungen hindurchgehen und sich in der Erschaffung und Formulierung immer neuer Kategorien betätigen. Je reicher und bildsamer sich diese Variationen beweisen, um so mehr zeugen sie damit für die Eigenart und Ursprünglichkeit der logischen Funktion, aus der sie hervorgehen.«68 Die »systematische Aufgabe« der Philosophiegeschichte habe ihr Fundament in dieser beweglichen Selbstgewißheit, die die Vernunft in der Geschichte erlangt und ohne welche die Geschichte selbst sich auf ein »wirres und widerspruchsvolles Chaos« reduzieren würde. Zur Begründung der historischen Forschung bedürfe es daher »bestimmter sachlicher Prinzipien der Beurteilung«, Auswahlkriterien und »fester Ebd., S. 16. Den diesbezüglichen Überlegungen Th. Knoppes in Die theoretische Philosophie Ernst Cassirers, S. 49–61, ist völlig zuzustimmen, auch wenn sich darüber streiten läßt, ob es legitim ist, von einer philosophia perennis zu sprechen, die Cassirer zum Maßstab wähle (S. 61). 65 Vgl. Das Erkenntnisproblem, I, S. 14; ECW 2, S. 12. Vielleicht ist es nützlich, an dieser Stelle zu erwähnen, daß auf S. 17 der Einleitung im Kolumnentitel der Ausdruck »Das Apriori und seine Geschichte« verwendet wird. 66 W. Dilthey, Gesammelte Schriften, XIX, Grundlegung der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte, hg. von H. Johach und F. Rodi, Göttingen 1982, S. 44. 67 Siehe die berühmte Formulierung Diltheys in der Vorrede zur Einleitung in die Geisteswissenschaften in Gesammelte Schriften, I, hg. von B. Groethuysen, StuttgartGöttingen 1979, S. XVIII. 68 Das Erkenntnisproblem I, S. 18; ECW 2, S. 14 f. 64
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Gesichtspunkte«, damit »die historischen Erscheinungen, die für sich allein stumm sind, zu einer lebendigen und sinnvollen Einheit werden«.69 Obwohl die Geschichte des philosophischen Denkens und des wissenschaftlichen Wissens um stets neu aufkommende Probleme kreist, dürfe sich die historische Betrachtung nicht so sehr auf die Abfolge der einzelnen Theorien richten, sondern müsse die Kontinuitäten betrachten, die die Probleme der Erkenntnis miteinander verbinden;70 und in dieser Hinsicht stellen für Cassirer wie für Nicolai Hartmann die systematischen Probleme die wahren und eigentlichen »transzendentalen Bedingungen der Möglichkeit der Geschichte« dar.71 In diesem ›hermeneutischen Zirkel‹ ist es vor allem die Vernunft, die den Sinn der historischen ›Fakten‹ stiftet, für die ihrerseits die rationalen Strukturen nicht fest und unwandelbar sind, sondern dynamisch in der Begründung der Wissens. Die Zirkularität von Vernunft und Geschichte – es ist nicht ausgeschlossen, daß sie die Aufmerksamkeit Diltheys auf sich gezogen hat72 – bringt außerdem eine Annäherung Cassirers an Hegel mit sich, d. h. eine Annäherung an den idealistischen Begriff der Philosophiegeschichte, der den typischen Antihegelianismus des gesamten ›Zurück zu Kant‹ kontrastiert. Nicht umsonst war Eduard Zeller der Gegenstand der Cassirerschen Polemik, dessen stark auf historische 69
Ebd., S. 15; ECW 2, S. 12. Vgl. besonders Der kritische Idealismus und die »Philosophie des gesunden Menschenverstandes«, S. 34 f. Cassirer betont diesen Aspekt auch in Aristoteles und Kant, »Kant-Studien«, XVI, 1911, S. 431 f.; ECW 9, S. 468, und in Das Erkenntnisproblem, III, S. V; ECW 4, S. VII. 71 N. Hartmann, Zur Methode der Philosophiegeschichte [ 1909 ], dann in Kleinere Schriften, III, Vom Neukantianismus zur Ontologie, Berlin 1958, S. 14. Vgl. auch G. Gigliotti, Avventure e disavventure del trascendentale. Studio su Cohen e Natorp, Napoli 1989, S. 69, Anm. 59: »Das Problem besteht für die Marburger nicht darin, moderne Lösungen antiken Problemen zuzuschreiben, sondern in der Frage der Legitimität einer Kontinuität der Probleme.« Es muß jedenfalls daran erinnern werden, daß die Problemgeschichte, wie sie im Lichte des Marburger Transzendentalismus neu aufgeworfen wird, ein augenfälliges Erbe der philosophischen Historiographie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, von Fischer bis Windelband, ist: vgl. z. B. K. Fischer, Die beiden Kantischen Schulen in Jena, Stuttgart 1862, S. 20, und W. Windelband, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, fünfzehnte, durchgesehene und ergänzte Auflage, hg. von H. Heimsoeth, Tübingen 1957, S. VII (zu Fischer s. auch C. Cesa, Kuno Fischer e le sue introduzioni alla storia della filosofia moderna in La storia della filosofia come sapere critico. Studi offerti a Mario Dal Pra, Milano 1984, S. 684–700, der einige Verbindungslinien zwischen Cassirer und Fischer bezüglich der zentralen Bedeutung, die das Erkenntnisproblem für beide hatte, zieht). 72 Vgl. besonders, was Dilthey 1910 bezüglich der Zirkularität und der »gegenseitigen Abhängigkeit des Historischen und Systematischen« schreibt: W. Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in der Geisteswissenschaften in Gesammelte Schriften, VII, hg. von B. Groethuysen, Stuttgart-Göttingen 31961, S. 143 f., 146. 70
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Tatsachen bezogene Betrachtung der Philosophiegeschichte ihm ungeeignet erschien, Hegel wirklich gerecht zu werden. Denn wenn man sich auch vor einer »falschen apriorischen Konstruktion« hüten müsse, dürfe man dennoch nicht auf ein echtes »›Apriori‹ der Geschichte« verzichten, ohne welches der historische Prozeß versprengt und eines soliden roten Fadens beraubt wäre.73 Hiermit beabsichtigt Cassirer jedoch nicht eine bedingungslose Rehabilitierung Hegels: Die Hypostasierung eines ›Weltgeistes‹, der das metaphysische Substrat des historischen Prozesses abgibt, ist für Cassirer nicht akzeptabel und macht eine radikale methodische Umkehrung erforderlich, in der die Einheit der Geschichte vielmehr als eine »gedankliche Kontinuität«, als ein heuristisches »Postulat« zu verstehen ist, das uns bei der Untersuchung der besonderen Erscheinungen leitet.74 Auf diese Weise erscheint der Cassirersche Hegel in entscheidendem Maße durch die Forderung einer »Geschichte der reinen Vernunft« als zukünftige Ergänzung des ›Systems‹ modifiziert, wie Kant sie am Ende der Kritik der reinen Vernunft skizziert hat.75 Wie für Kant bleibt auch für Cassirer allein der »kritische Weg« für die Philosophie »noch offen«;76 und das nicht so sehr im Hegelschen Sinne eines bereits erfolgten Abschlusses der Philosophie, sondern im Sinne eines Philosophierens, das sich nach der »bloßen Idee von einer möglichen Wissenschaft, die nirgends in concreto gegeben ist«77, ausbildet. Im Lichte dieses telos der Vernunft entstehe das ›Philosophieren‹ aus der Geschichte der menschlichen Vernunft selbst, in deren »Archiven« nicht nur nach »zufälligen Meinungen« gesucht werde, sondern nach der Entwicklung durch Begriffe, die die Etappen – die »hauptsächlichsten Revolutionen« – des philosophischen Denkens der Menschheit skandiere: Eine Geschichte der Philosophie ist nicht möglich (so Kant in den Losen Blättern der Fortschritte der Metaphy73 Vgl. Das Erkenntnisproblem, I, S. 17 f.; ECW 2, S. 13 f. Von Zeller hat Cassirer hier die Einleitung in die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung, 5. Aufl. Leipzig 1892, S. 1–19, vor Augen. Um jedoch die Position des späteren Zeller zu verstehen, ist es notwendig, ebenfalls den programmatischen Artikel Die Geschichte der Philosophie, ihre Ziele und Wege, »Archiv für Geschichte der Philosophie«, I, 1888, S. 1–10, heranzuziehen (auf den Dilthey sich in kritischer Absicht bezieht in Archive der Literatur in ihrer Bedeutung für das Studium der Philosophie in Gesammelte Schriften, IV, Die Jugendgeschichte Hegels und andere Abhandlungen zur Geschichte des deutschen Idealismus, Stuttgart-Göttingen 31963, S. 555–575). 74 Das Erkenntnisproblem, I, S. 18; ECW 2, S. 13 f. 75 Vgl. Kritik der reinen Vernunft, A 852-6 / B 880-4. Cassirer bezieht sich auf diese Stelle in Die Philosophie der Aufklärung, S. XIII. 76 Vgl. Kritik der reinen Vernunft, A 856 / B 884. 77 Ebd., A 838 / B 866. Vgl. außerdem Logik Jäsche in Kant’s gesammelte Schriften, Berlin 1902 ff., IX, S. 25.
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sik), wenn nicht als »philosophische Geschichte der Philosophie« in rationalen Begriffen, als eine Art »philosophische Archäologie«.78 Eine solche Perspektive scheint Cassirer implizit wieder herzustellen. Sie ermöglicht die Assimilierung der Hegelschen Konzeption in dem Maße, in dem Hegel, auch wenn er zu einer anderen komplexen dialektischen Struktur der »Vernunft in der Geschichte« gelangt ist, mit Kant bezüglich des Projekts einer ›philosophierenden‹ Geschichte, einer systematischen Geschichte der Philosophie übereinkommt.79 Aber gleichzeitig mußte Cassirer alles das berücksichtigen, was sich seit Hegel – vom Einfluß der Hegelschen Schule bis zu den vielfältigen Reaktionen auf sie – auf dem Gebiet der philosophischen Geschichtsschreibung ereignet hatte. Die Kantische Vorstellung der »Gebäude in Ruinen«, mit denen die Vergangenheit aus der Perspektive der ›Revolution der Denkungsart‹80 übersät zu sein scheint, war nicht mehr adäquat, und es stellte sich indessen die unumgängliche Aufgabe, die interpretierenden Ausblikke, die Quellen, das neue Material, die Gesamtbetrachtung und die Einzelforschungen, die seit Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit beeindruckender Intensität entstanden waren, zu berücksichtigen. Betrachtet man das Festhalten an den methodischen Voraussetzungen marburgischer Provenienz und das Ziel einer nicht bloß ›historischen‹ Rekonstruktion, berücksichtigt man weiterhin den unbestreitbar innovativen Charakter und die Originalität des Erkenntnisproblems auch im Vergleich mit der Tradition, aus der es entstanden ist, so handelt es sich hier in gewisser Weise um eine couragierte Wette um die Möglichkeit – nach einem Ausdruck Kants –, das »Urbild der Beurteilung aller Versuche zu philosophieren« mit jener historischen und historiographischen Dimension zusammenzuführen, die unaufhaltsam nach Kant entstanden war.81 Welche sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnizens und Wolf’s Zeiten in Deutschland gemacht hat? in Kant’s gesammelte Schriften, XX, S. 340–343. S. hierzu auch die exzellente Studie von Y. Yovel, Kant et l’histoire de la philosophie, »Archives de philosophie«, XLIV, 1981, S. 19–41. Zum Problem der Gesichtsphilosophie bei Kant im allgemeinen findet sich eine ausführliche Dokumentation bei G. Micheli, Kant storico della filosofia, Padova 1980. 79 Zu dieser Übereinstimmung vgl. E. Garin, Kant e la storia della filosofia, »Rivista critica di storia della filosofia«, XXVI, 1971, S. 460 f., der auf der gemeinsamen Abhängkeit von der Historia Bruckers beharrt. Zum Verhältnis Hegels zur Geschichtsphilosophie des 18. Jahrhunderts s. auch K. Düsing, Hegel und die Geschichte der Philosophie, Darmstadt 1983, S. 22 ff. Zur Bedeutung Hegels für die philosophische Historiographie des Neukantianismus s. W. Windelband, Geschichte der Philosophie in Die Philosophie im Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Festschrift für Kuno Fischer, hg. von W. Windelband, Heidelberg 21907, S. 529–553. 80 Vgl. Kritik der reinen Vernunft, A 852 / B 880. 81 Ebd., A 838 / B 866. 78
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4. Ein aufmerksamer Vergleich des Erkenntnisproblems mit der deutschen (aber nicht nur der deutschen) Philosophiegeschichtsschreibung um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert wäre zweifellos lehrreich, sei es um die nicht seltenen Abhängigkeiten und Anleihen bei Cassirer aufzudecken, sei es vor allem, um die Eigentümlichkeit der Cassirerschen Untersuchungen im Vergleich mit denjenigen Diltheys oder Windelbands (um nur zwei repräsentative Namen zu nennen) zu beleuchten.82 Auf einem Punkt jedenfalls lohnt es sich zu insistieren: Gerade weil das Erkenntnisproblem nicht auf eine gewöhnliche ›Philosophiegeschichte‹ reduzierbar ist und weil es auf methodischen Voraussetzungen gründet, die an die Marburger Schule gebundenen sind, skizziert es eine historische Entwicklung des Erkenntnisproblems, welche ihre bestimmenden Impulse nicht aus Elementen erhält, die der reinen theoretischen Konstitution äußerlich sind: weder aus allgemeiner historischer Bedingtheit, noch aus dem Zusammenhang mit der Kultur einer Epoche und auch nicht schließlich aus dem »Leben«, von dem Dilthey sprach.83 Zweifellos ist das gleichzeitig die Stärke und der Schwachpunkt des großen Cassirerschen Werkes, sowenig man auch die vielen Korrekturen vernachlässigen darf, die Cassirer in der Folge in den Monographien zur Renaissance, zur Aufklärung und zum englischen Platonismus vorgenommen hat, welche auf der Ebene der Detailanalysen sehr viel nuancierter und vor allem darauf bedacht sind, den Reichtum der Philosophie als Kulturform zu erfassen, der zuvor durch die Konzentration auf das Erkenntnisproblem überschattet war. Auch in dieser späteren Phase seines historiographischen Schaffens war Cassirer sich jedoch des »Dilemmas« des Philosophiehistorikers wohl bewußt, der weder auf die »Fülle« der historischen 82
Für eine solche Gegenüberstellung, die leider noch immer Desiderat ist, finden sich nützliche Hinweise bei G. Cacciatore, Vita e forme della scienza storica. Saggi sulla storiografia di Dilthey, Napoli 1985 und A. Orsucci, Tra Helmholtz e Dilthey: filosofia e metodo combinatorio, Napoli 1992, S. 11–86. Zu Windelband vgl. auch W. K. Schulz, Wissenschaftsgeschichtliche Aspekte des historiographischen Ansatzes von Wilhelm Windelband, »Zeitschrift für philosophische Forschung«, XLV, 1991, S. 571–584. Für einen Überblick über die deutsche Philosophiegeschichtsschreibung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts s. L. Geldsetzer, Die Philosophie der Philosophiegeschichte im 19. Jahrhundert, Meisenheim am Glan 1968, bes. S. 81–114 (und unter einem besonderen Blickwinkel schließlich B. Centi, La storia della filosofia »come problema« nel pensiero di Wilhelm Wundt e Ernst Cassirer in La storia della filosofia come problema, a cura di P. Cristofolini, Pisa 1987, S. 111–176). 83 Für Cassirer hingegen (zumindest für den frühen Cassirer zu Beginn des 20. Jahrhunderts) finden »die verschiedenen geistigen Kulturmächte«, wenn sie auch zur Entwicklung der Erkenntnis beitragen, ihre Klärung – ihr »theoretisches Selbstbewußtsein« – gerade im Erkenntnisproblem: vgl. Das Erkenntnisproblem, I, S. V; ECW 2, S. IX.
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Wirklichkeit, noch auf die »logische Klarheit der Begriffe« verzichten kann; auch wenn er sich dann eindeutig, wenn auch nicht einseitig, auf die »Allgemeinheit eines systematischen Gesichtspunktes und einer systematischen Orientierung« konzentrierte.84 In diesem Sinne muß der »uneingestandene Hegelianismus«85 Cassirers besonders hervorgehoben werden, wenn er sich im Erkenntnisproblem mit dem Problem konfrontiert sieht, das bereits bei Hegel und in der Hegelschen Schule zentral gewesen ist; nämlich auf der Basis des zeitlichen Verlaufs und der »bunten Folge« sowie im Lichte einer immanenten Notwendigkeit, die der Geschichte der Philosophie den Charakter von »Wissenschaft« zuerkennt, einen Zusammenhang und Übergang der verschiedenen Momente der historischen Entwicklung zu konzipieren.86 Um dieses schwierige Problem zu lösen, hat Cassirer sich an einem dialektischen Prinzip orientiert, das sowohl die Kontraposition der verschiedenen »Epochen« der Erkenntnis (Cassirer spricht explizit von »dialektischem Widerspruch«87) als auch den begrifflichen Übergang von einer philosophischen Position zu einer anderen gerade auf der Grundlage der »inneren Dialektik«88 erhelle, die deren Überwindung rechtfertige. Die treibende Kraft einer solchen dialektischen Entwicklung sei dennoch nicht der Hegelsche ›Weltgeist‹ und auch nicht die triadische Bewegung der Idee, sondern die antinomische Spannung (im Sinne Kants), die in E. Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Leipzig und Berlin 1927 (Nachdruck Darmstadt 1987), S. 5; für die vorigen Zitate vgl. Idee und Gestalt. Goethe-Schiller-Hölderlin-Kleist, Berlin 21924 (Nachdruck Darmstadt 1971), S. 159; ECW 9, S. 389. Im übrigen weist Cassirer in seiner vielleicht faszinierendsten Monographie den Leser darauf hin, eine systematische Historiographie vorlegen zu wollen. Vgl. Die Platonische Renaissance in England und die Schule von Cambridge, Leipzig 1932, S. 18, Anm. 1. Für die Grenzen der Cassirerschen Historiographie (mit Bezug auf die auf italienisch erschienene Aufsatzsammlung Dall‘Umanesimo all‘Illuminismo) vgl. die Rezension Mario Dal Pras in »Rivista critica di storia della filosofia«, XXV, 1970, S. 457–462 (bes. S. 457). Zum Zusammenhang zwischen Philosophiegeschichte und Kulturgeschichte vgl. M. Martirano, Scienze della cultura e storiografia filosofica in Ernst Cassirer, »Archivio di storia della cultura«, III, 1990, S. 409–444. 85 Der Ausdruck stammt, wenn auch in einem anderen Kontext verwendet, von H.-G. Gadamer, Die philosophische Bedeutung Paul Natorps, dem Vorwort zu P. Natorp, Philosophische Systematik, hg. von H. Natorp, Hamburg 1958, unv. Nachdruck, Hamburg 2000, S. XVI. 86 Zu diesen Formulierungen vgl. die Vorrede zur Erstausgabe des Erkenntnisproblems, I, S. VII. Zur neuerlichen Bearbeitung des Zusammenhangs von logischer und historischer Entwicklung in der Historiographie hegelianischer Prägung vgl. C. Cesa, Figure e problemi della storiografia filosofica della scuola hegeliana 1831–1848 in Studi sulla sinistra hegeliana, Urbino 1972, S. 165. 87 Das Erkenntnisproblem, I, S. 5; ECW 2, S. 4. 88 Ebd., S. 301; ECW 2, S. 251. 84
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allen Phasen des modernen Denkens zwischen den ›kritischen‹ Motiven und dem ›dogmatischen‹ Rückfall entstehe, in denen von Cusanus an bereits jene Vorbereitung des Transzendentalen wahrzunehmen sei, die ihren »logischen Abschluß im System Kants«89 findet, jedoch durch eine gegenläufige Wendung hin zum Substanzialismus, zum Realismus der Sache und des Begriffs kontrastiert werde: eine Art »aberration« in Opposition zum latenten Kritizismus, wie Meyerson angemerkt hat.90 Das Erkenntnisproblem sowie generell alle ›historischen‹ Werke Cassirers bieten eine solche Fülle von Beispielen für diesen Rhythmus der ›dialektischen‹ Entwicklung, daß es schwierig ist, die aussagekräftigsten auszuwählen. So haben wir bei Marsilio Ficino den Widerspruch zwischen der kritischen Instanz seines Neuplatonismus und der Unfähigkeit, die Restbestände der Transzendenz aufzulösen,91 und es ist weiterhin Campanella, der sich auf rationale Prinzipien beruft, die seine sensualistische Erkenntnislehre hingegen entschieden negieren,92 oder bei Bruno findet sich die gleichzeitige Existenz eines immanentistischen Anspruchs und eines kontrastierenden Dualismus der Erkenntnisquellen,93 und schließlich ist es der finale Schachzug des Cartesischen Rationalismus angesichts des göttlichen Volontarismus, der die Autonomie der Vernunft vereitelt.94 Noch bezeichnender aber ist der nicht eliminierbare dialektische Gegensatz, den Cassirer in der gesamten Entwicklung des modernen Empirismus feststellt, der – wie schon Kant bemerkt hatte – jene Annahmen idealer Art nicht zu rechtfertigen vermöge, auf die er in offenkundigem Widerspruch zu den Prinzipien der empiristischen Philosophie selbst zurückgreifen müsse.95 Schon Bacon, bemerkt diesbezüglich Cassirer, bestreite die Leistung des Intellekts, ohne sich jedoch
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Ebd., S. 13; ECW 2, S. 11. Vgl. É. Meyerson, L’histoire du problème de la connaissance de M. Cassirer, S. 125. 91 Das Erkenntnisproblem, I, S. 96 ff.; ECW 2, S. 79 ff.; vgl. hierzu ebenfalls Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, S. 76. 92 Das Erkenntnisproblem, I, S. 253; ECW 2, S. 210 f. 93 Ebd., S. 290 f.; ECW 2, S. 242 f. 94 Ebd., S. 497; ECW 2, S. 413 f. 95 Vgl. Kritik der reinen Vernunft, A 854-855 / B 882-883. Mit diesem Thema beschäftigt sich Kant auch andernorts: vgl. bes. Metaphysik Volkmann in Kant’s gesammelte Schriften, XXVIII / 1, S. 375 (und s. G. Micheli, Kant storico della filosofia, S. 295 f.). Zum dialektischen Widerspruch, durch den die Geschichte des Empirismus gekennzeichnet sei, vgl. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, I, Die Sprache, Berlin 1923 (Nachdruck Darmstadt 1988), S. 78 f.; ECW 11, S. 75 f., und auch Philosophie der symbolischen Formen, III, S. 508 f.; ECW 13, S. 504 f. Auf dieser Art ›Widersprüche‹ insistiert nicht zufällig Hegel selbst in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie in Werke, XX, S. 83. 90
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der Versuchung durch den Begriff entziehen zu können;96 und noch augenfälliger werde der nie aufgelöste »Widerspruch« des Empirismus bei Gassendi, der die Unmöglichkeit aufzeigt, auf sinnlichem Wege Begriffe (wie den des Atoms) zu deduzieren, die der Erfahrung als Bedingung des empirischen Wissens vorausgesetzt werden müssen.97 In einen derartigen Widerspruch verwickele sich auch der radikalste der modernen Empiristen, Berkeley, dem die Unangemessenheit seiner theoretischen Mittel vollständig entgehe und der schließlich in einem absoluten Reich »stoffloser Wesenheiten« anlange (Cassirer spricht von einem »dialektischen Anstoß für die Fortbildung des Systems«).98 Zuletzt sei es Hume, der den definitiven »Zusammenbruch« des »sensualistischen Schemas« registriert, indem er die Unmöglichkeit evident werden lasse, jene geistige Einbindung des empirischen Datums zu rechtfertigen, die er selbst jedoch annehmen müsse.99 Hume teile dieses Schicksal mit dem typischen »Dilemma« des Positivismus im 19. Jahrhundert, auf das Cassirer ausführlich im letzten Band des Erkenntnisproblems zurückkommen wird: Hier wird durch die Ausdehnung des Anwendungsbereichs eines eng an Tatsachen gebundenen Erkenntnismodells auf die geschichtliche Welt die Widersprüchlichkeit, die Fakten vom »Rhythmus« des Denkens, das sie organisiert, trennen zu wollen, noch einmal bestätigt.100 Hieraus resultiere der Bruch – wie der Fall Hippolyte Taines dokumentiert – zwischen den streng positivistischen Prinzipien und der konkreten historiographischen Praxis, zu der die Prinzipien im Widerspruch stehen, so daß man gegen Taine dieselben Einwände erheben könne wie gegen Bacon;101 und hieraus erkläre sich auch – um ein anderes Beispiel zu geben – die Illusion Rankes, jede »Subjektivität« aus der historischen Erkenntnis Vgl. Das Erkenntnisproblem, II, S. 18; ECW 3, S. 13. Ebd., S. 35 ff., 44 f.; ECW 3, S. 27 ff., 34 f. 98 Ebd., S. 324–327; ECW 3, S. 270–273. 99 Ebd., S. 382 f., 387; ECW 3, S. 321 f., 325 f. Mit dieser Cassirerschen Humeinterpretation stimmt auch Natorp überein, vgl. P. Natorp, Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode, I, Objekt und Methode der Psychologie, Tübingen 1912, S. 146 f., der vom »Bankrott« des Sensualismus spricht. Es handelt sich hier um eine Einschätzung, die über Cassirer und Natorp bis zum § 23 der Krisis Husserls reicht. Dort wird Hume als der »Bankrott der objektiven Erkenntnis« betrachtet. (E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, hg. von W. Biemel (= Husserliana, VI), Haag, 1954, S. 90). Am Rande sei erwähnt, daß Husserl ein aufmerksamer (und bewundernder) Leser vor allem der ersten beiden Bände des Erkenntnisproblems war, wie aus einem Briefentwurf an Cassirer vom Oktober 1910 und aus einem folgenden Brief an Natorp vom 1. Februar 1922 hervorgeht (vgl. E. Husserl, Briefwechsel, V, Die Neukantianer, hg. von K. Schumann in Verbindung mit E. Schumann, Dordrecht-Boston-Lancaster 1993, S. 3, 147). 100 Das Erkenntnisproblem, IV, S. 15, 261; ECW 5, S. 8 f., 296 f. 101 Ebd., S. 260 f.; ECW 5, S. 295 f. 96 97
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eliminieren zu können, während hingegen gerade die Geschichtsschreibung zeige, daß die »teilnehmende« Aktivität des Subjekts »eine positive Bedingung« jeglicher Form objektiven Wissens sei.102 Die dialektische Entwicklung, die wie ein roter Faden die Bände des Erkenntnisproblems durchzieht, findet ihre Rechtfertigung weder in dem Hegelschen Postulat eines ›Weltgeistes‹ noch in der dialektischen Methode: Obwohl es eine dialektische Bewegung ist, die die Entwicklung der Philosophiegeschichte bestimmt und sie davor bewahrt, sich auf eine ›Litanei von Meinungen‹ zu reduzieren, handelt es sich dennoch um eine ›offene‹ Bewegung, einen ›unendlichen‹ Prozeß, der keinen Abschluß im Absoluten findet. In dieser Hinsicht muß betont werden, daß Hegel sich für Cassirer (wie für Natorp) in einen fundamentalen Widerspruch verwikkelt, weil die Hegelsche Dialektik – die das Absolute ans Ende einer langen Entwicklung setzt, die es in Wirklichkeit von Anfang an voraussetzt – schließlich jenen Dynamismus negiert, um sich als das zu behaupten, als was sie sich ursprünglich konstituiert hat: Die einzige Möglichkeit, einen solchen Widerspruch zu vermeiden, besteht folglich für Cassirer in der Selbstauflösung der dialektischen Methode im Namen der Dialektik selbst.103 Tatsächlich wird die Dialektik im Erkenntnisproblem im wesentlichen mehr in kantischer als hegelscher Perspektive als Prinzip teleologischer Orientierung der ›Geschichte des Apriori‹ verstanden oder, vom Cassirerschen Gesichtspunkt aus, als das Verfolgen der Entwicklung der Wissenschaft und der modernen Philosophie anhand jenes roten Fadens, den die reine ideelle Auflösung des Objekts in die Erkenntnisfunktionen darstellt. Im übrigen kann nach dem, was bereits bezüglich der Komplementarität von Erkenntnisproblem und Substanzbegriff und Funktionsbegriff gesagt wurde, sicherlich nicht erstaunen, daß das Grundmotiv der ersten beiden Bände des Erkenntnisproblems gerade in der Bestimmung des »Begriffs der Funktion [ … ] als logisches Vorbild«, als immanentes Telos des modernen Erkenntnisproblems besteht.104 Es handelt sich – und Cassirer erinnert beharrlich daran – um eine mühevolle Errungenschaft, die bei der Kritik der Renaissancephilosophie an den substanziellen Formen105 ihren Anfang nimmt, gefolgt wird von dem Kampf der modernen Wissenschaft um die Befreiung der Erkenntnis von der irrigen Annahme 102
Ebd., S. 238 f.; ECW 5, S. 270. Vgl. Das Erkenntnisproblem, III, S. 366 ff.; ECW 4, S. 351 ff. Zu dieser Art Hegelkritik vgl. auch P. Natorp, Kant und die Marburger Schule, S. 210–213. Zur Cassirerschen Hegelinterpretation siehe auch unten, S. 44 ff., 67–71, 96 f., 147 f. 104 Vgl. Das Erkenntnisproblem, I, S. 363; ECW 2, S. 303. 105 Ebd., S. 76; ECW 2, S. 63. 103
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einer Welt der Dinge unabhängig von jeder begrifflichen Voraussetzung, um die vollständige Autonomie der reinen Relationen gegenüber den sinnlichen Daten zu behaupten.106 Bei Cassirer eliminiert die befreiende Kraft der reinen ideellen Verhältnismäßigkeit in aufsteigender Bewegung des ›Erkenntnisprozesses‹ jeglichen Restbestand des Substanzialismus; und die Emanzipation, noch unvollendet in den klassischen Systemen des Empirismus,107 findet ihren mustergültigen Vorkämpfer – eine Art Hegelscher Heroe – vor allem in Galilei, dem Begründer des funktionalen Begriffs der Beziehung von Datum und rationaler Struktur, der den Weg für die Philosophie Descartes’ und Leibnizens ebnen wird.108 Es ist die moderne Wissenschaft, die folglich (nach dem von Cassirer häufig verwendeten Ausdruck) den »Vorrang« des Funktionsbegriffs vor dem Dingbegriff inauguriert, welcher die wahre historische ›Mission‹ der wissenschaftlichen Untersuchung der Natur und den Angelpunkt der »Erkenntniskritik« im typisch marburgischen Sinne ausmacht.109 Aber auf diese Weise fällt die Teleologie der Vernunft, die das Erkenntnisproblem leitet, mit dem zentralen Thema von Substanzbegriff und Funktionsbegriff zusammen: Der Funktionsbegriff als »allgemeine[s] Schema und [ … ] Vorbild, nach welchem der moderne Naturbegriff in seiner fortschreitenden geschichtlichen Entwicklung sich gestaltet hat«110, erweist sich als »eigentlicher systematischer Mittelpunkt«, der das wissenschaftliche Denken endgültig ›befreit‹ hat, indem er es zur vollständigen »Auflösung des ›Gegebenen‹ in die reinen Funktionen der Erkenntnis« 111 oder – wie Cassirer 1940 neuerlich bekräftigt – zum »Primat des Ordnungsbegriffs« geführt hat.112 Dennoch läßt sich die systematische Verbindung zwischen dem Erkenntnisproblem und Substanzbegriff und Funktionsbegriff nicht auf den Teleologismus reduzieren, der die deutsche neukantische Geschichtsschreibung von Windelband bis Bauch kennzeichnet.113 Genauer beVgl. Das Erkenntnisproblem, II, S. 15, 39; ECW 3, S. 10 f., 30. Ebd., S. 268 f.; ECW 3, S. 223 f. 108 Vgl. Das Erkenntnisproblem, I, S. 402; ECW 2, S. 335 f. 109 Ebd., S. 409, 417; ECW 2, S. 343, 349. 110 E. Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik, Berlin 1910, S. 27; ECW 6, S. 20. 111 Das Erkenntnisproblem, II, S. 762; ECW 3, S. 638. Vgl. auch Kant und die moderne Mathematik, S. 7; ECW 9, S. 42 f. 112 Das Erkenntnisproblem, IV, S. 59; ECW 5, S. 58. 113 Vgl. W. Windelband, Die Geschichte der neueren Philosophie in ihrem Zusammenhange mit der allgemeinen Kultur und besonderen Wissenschaften, II, Von Kant bis Hegel und Herbart, Leipzig 1907, S. 1–4 (1. Aufl. 1880); s. auch B. Bauch, Immanuel Kant, Berlin und Leipzig 31920, S. 8 (dies ist der Band V der Geschichte der Philosophie der »Sammlung Göschen«). Zu Kant als ›Krönung‹ der modernen 106 107
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trachtet strebt Cassirer danach, im geschichtlichen Werden und in seiner konkreten Phänomenologie eine präzise kategoriale Struktur aufzufinden: Die Kritik der traditionellen Theorie des Begriffs und der damit verbundene Entwurf einer Logik der Relationen oder die ausgiebige Prüfung der Begriffe von Zeit und Raum im Abschnitt Von Newton bis Kant, die in der marburgischen Lektüre der transzendentalen Ästhetik Kants gipfelt, geben aussagekräftige Beispiele ab. Analog dazu wäre auf den Gebrauch des begrifflichen Instrumentariums der Marburger Schule hinzuweisen, beginnend mit der platonischen Methode der Hypothesenbildung bei der mathematischen Fundierung der wissenschaftlichen Praxis114 bis zur Projektion des Subjekt-Objekt-Verhältnisses auf die historische Ebene in den Fußstapfen Natorps, im Sinne einer wechselseitigen Beziehung im Innern eines einzigen Prozesses der Herausbildung des subjektiven und des objektiven Poles.115 Wenn andererseits die ersten beiden Bände des Erkenntnisproblems die Position Cassirers von Substanzbegriff und Funktionsbegriff reflektieren, so verweisen auch der dritte und vierte Band – abgesehen von der Verschiedenheit der behandelten Themen und des nicht nur chronologischen Abstandes – kontinuierlich auf einen präzise bestimmten theoretischen Hintergrund, aus dem sie hervorgehen und der sie erhellt, ohne daß dadurch die Kontinuität aufgelöst werden würde. So geht es Cassirer zu Beginn der 20er Jahre darum, die offenen Probleme der nachkantischen Systeme aufzunehmen, die für ihn keineswegs an Bedeutung verloren haben und denen das große historische Verdienst zukommt, »daß sie den Problemkreis Kants und der kritischen Philosophie erweitert haben«. Im Hintergrund jedoch richtet sich die Aufmerksamkeit Cassirers bereits auf den Horizont der Geisteswissenschaften und auf die Themen, die dazu bestimmt sind, das Projekt einer ›Philosophie der symbolischen Formen‹ zu speisen.116 Ebenfalls läßt sich über den letzten Band des Erkenntnisproblems sagen, daß seine dem Anschein nach allzu selektive und geradezu ungeordnete Philosophie vgl. auch H. Cohen, Kants Theorie der Erfahrung, S. 35, und Cassirer selbst in Die Philosophie der Aufklärung, S. 177. 114 Vgl. Das Erkenntnisproblem, I, S. 316; ECW 2, S. 263: »Der Weg zur Natur führt durch die [gr: lÒgoi] in dem doppelten Sinn, in dem sie sowohl die Vernunftgründe wie die mathematischen Verhältnisse bedeuten.« An dieser Stelle muß ebenfalls auf die Erläuterung der Philosophie Platons in der ersten Ausgabe des Erkenntnisproblems, I, von 1906, S. 35–43 (bes. 40 f.); ECW 2, S. 518–527, 524 f., hingewiesen werden. 115 Vgl. Das Erkenntnisproblem, I, S. 204; ECW 2, S. 169, und Das Erkenntnisproblem, II, S. 558–582; ECW 3, S. 468–488. Bemerkenswert sind auch die Betrachtungen zu Reinhold im Erkenntnisproblem, III, S. 44 f.; ECW 4, S. 42 f. 116 Ebd., V, VII; ECW 4, S. VII, IX. Für eine detailliertere Betrachtung dieser Phase des Cassirerschen Denkens siehe unten, S. 137–161.
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Analyse in Wirklichkeit eine komplexe Interpretation der großen wissenschaftlichen Ereignisse, die das 19. Jahrhundert bestimmt haben, bietet, das heißt der ungestümen Entwicklungen der Mathematik und der mathematischen Naturwissenschaft, des Entstehens der modernen Biologie und schließlich der Konsolidierung der Erforschung der geschichtlichen Welt. Diese zunehmende Verflechtung und Multiplikation der verschiedenen ›Wissensarten‹ stellt für Cassirer eine weitreichende Innovation dar, die die Funktion der Philosophie selbst und ihren ›Führungsanspruch‹ modifiziert.117 Daraus resultiert jedoch noch nicht eine Preisgabe des methodischen Prinzips, das den langen Weg durch das Erkenntnisproblem geleitet hat und darin besteht, sich ständig an einer Konzeption des Erkennens und der Wahrheit mit begrifflichen Instrumentarien zu messen, die nicht erst mit den kodifizierten philosophischen Theorien sondern in dem »geistigen Zentrum« entstehen, das sie belebt, und bei den geistigen Kräften, die die verschiedenen ›Fakten‹ der Wissenschaft gebildet haben.118 Daß all dies dann auf den über 2000 Seiten des Erkenntnisproblems zu Verzerrungen und willkürlicher Auswahl, ›Schnitten‹ und einseitigen Wertungen geführt hat, läßt sich nicht leugnen und muß hingegen deutlich herausgestellt werden; dennoch muß, über die Tatsache hinaus, daß Cassirer nie in einen naiven Teleologismus verfallen ist, betont werden, daß ihm die Risiken der systematischen Interpretation der Geschichte der Philosophie nicht nur bewußt waren, sondern ihn dazu veranlaßt haben, immer weiter zu präzisieren, innerhalb welcher Grenzen sie dennoch legitim sei. Der seit seiner Dissertation über Descartes vielmals wiederholte Grundsatz119, einen Autor nicht an Voraussetzungen zu messen, die ihm fremd sind, mußte für Cassirer (auch wenn viele Stellen bei ihm dazu im Widerspruch stehen) ein eigenes hermeneutisches Prinzip werden, ein Regulativ für mögliche Fragen und Antworten. In der Rezension des Buches Heideggers über Kant aus dem Jahre 1931 tritt dieser Aspekt vor allem dort deutlich hervor, wo Cassirer sich bemüht, das Recht (und die Notwendigkeit) einer systematischen Interpretation der Philosophie Kants anzuerkennen, unter der Bedingung jedoch, daß der Interpret kein »Usurpator« wird, was dann geschehe – so Cassirer –, wenn er mit einer willkürlichen Geste den Autor zwinge, »etwas zu sagen, was er nur deshalb ungesagt gelassen hat, weil er es nicht zu denken vermochte«.120 Das Erkenntnisproblem, IV, S. 24; ECW 5, S. 19. Ebd., S. 25; ECW 5, S. 20 f. 119 Vgl. Leibniz’ System, S. 34; ECW 1, S. 32. 120 E. Cassirer, Kant und das Problem der Metaphysik. Bemerkungen zu Martin Heideggers Kant-Interpretation, »Kant-Studien«, XXXVI, 1931, S. 17. 117 118
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Es ist richtig – wie Cassirer im Essay on Man einräumt –, daß der Prozeß der Interpretation unabschließbar ist und daß z. B. nicht nur ein Platon existiert, sondern ein verschiedentlich interpretierter Platon, und somit auch eine Interpretation (die Anspielung auf Natorp ist offensichtlich) möglich ist, die aus ihm einen ›Kantianer‹ macht; und es ist ebenso richtig, daß die Interpretation immer eine Überführung vom Impliziten ins Explizite darstellt.121 Aber all das läßt sich offenkundig nicht mit der von Heidegger favorisierten »Gewalt« in Einklang bringen und mit der Einladung – im Namen der durch eine »vorausleuchtende« Idee geleiteten Interpretation –, das »nicht Gesagte zu durchdringen«, um es zu zwingen, sich auszudrücken.122 Auch die systematische Interpretation (die ein Cassirer und Heidegger gemeinsames Gebiet darstellt) muß folglich ihre Grenzen kennen, da andernfalls das Implizite das Explizite vollständig übertönt; und sie muß ihrer Grenzen kennen trotz der bekannten Überzeugung Kants, daß man einen Autor besser verstehen muß, als er sich selbst hat verstehen können.123 Am Beispiel Heideggers hat Cassirer die Gefahr erkannt, daß die Interpretation die geschichtliche Wirklichkeit auflösen kann, was jedoch nicht der systematischen Interpretation als solcher anzulasten ist, sondern der Philosophie, auf die sie sich beruft, der »Perspektive«, durch die sie geleitet ist. Und während sich sein Interesse für das Problem der Geschichte und der historischen Erkenntnis intensivierte, mußte Cassirer gerade den Anspruch hervorheben, jenen ›Perspektiven‹ zu widersprechen, die dazu neigen, das historische Bewußtsein aus den Angeln zu heben oder gar die wissenschaftliche Vernunft zu kritisieren: so im Falle der Existenzphilosophie im allgemeinen, die Cassirer nicht zufällig, als er Karl Jaspers Descartes und die Philosophie diskutiert, beschuldigt, Fragen zu stellen, die nicht gestellt werden können, ohne die Prinzipien selbst umzukehren, an dem sich eine bestimmte philosophische Konstruktion nach einer eigenen inneren Logik orientiert.124 Vgl. An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture, New Haven and London 31972, S. 180. 122 M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, fünfte, vermehrte Auflage, hg. von F.-W. von Herrmann (= Gesamtausgabe, III), Frankfurt am Main 1991, S. 202. 123 Vgl. Kritik der reinen Vernunft A 314 / B 370: ein übrigens auch von Cohen sehr geschätzter Wahlspruch (vgl. Kants Theorie der Erfahrung, S. 346). Zum vorigen vgl. M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, S. 202; für die Abhängigkeit Heideggers von der neukantischen Auffassung der Philosophiegeschichte ist im Gedächtnis zu behalten, was der junge Heidegger in seiner Habilitationsschrift über Scotus schrieb: vgl. Frühe Schriften, hg. von F.-W. von Herrmann (= Gesamtausgabe, I), Frankfurt am Main 1978, S. 195 ff. 124 Vgl. E. Cassirer, Die Philosophie im XVIII. Jahrhundert, Paris 1939, S. 16. 121
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Und dennoch blieb der rote Faden auch der historischen Forschungen des späten Cassirer innerhalb dieser Grenzen immer an die Überzeugung gebunden, daß es notwendig sei, das universelle, typische Element auszumachen, durch welches das Besondere seine wahre Bedeutung erhellt – den unsichtbaren Schußfaden der historischen Textur: Das Einzelne ist durch das Allgemeine bedingt.125 Treu dem schon im ersten Band des Erkenntnisproblems umrissenen Ansatz, in dem er – in Hegelscher Terminologie – von der Klärung der Grundbegriffe des wissenschaftlichen Wissens als von einer Art »philosophischer Selbstbesinnung des Geistes«126 gesprochen hatte, hat Cassirer nie versäumt zu unterstreichen, daß die Geschichte der Philosophie, um sich aus dem »Labyrinth« der einzelnen Theorien zu befreien und über die einfache Feststellung oder bloße Beschreibung hinauszugelangen, »die gestaltenden Kräfte« der Entwicklung des Denkens »sichtbar machen« muß, indem sie – wie man in der Philosophie der Aufklärung lesen kann – eine wirkliche und eigentliche »Phänomenologie des philosophischen Geistes« entwirft. »Keine Behandlung der echten Philosophiegeschichte« – schließt Cassirer – »kann bloß-historisch gemeint und bloß-historisch orientiert sein. Denn der Rückgang auf die philosophische Vergangenheit will und muß stets zugleich ein Akt der eigenen philosophischen Selbstbesinnung und Selbstkritik sein.«127 Die »Kritik« im Sinne Kants mußte folglich die »Geschichte der reinen Vernunft« zu einer historischen »Phänomenologie« der Vernunft erweitern, aber ohne jeden Anspruch, das Telos der Rationalität in ein endgültiges Resultat einzuschließen. Das ›Problem der Erkenntnis‹ ist für Cassirer immer ein fieri, die »unendliche Aufgabe« der Philosophie und ihrer Geschichte – einer Geschichte, wie Cassirer im Essay on Man noch einmal präzisiert, indem er das leitende Prinzip bekräftigt, nach dem er sich seit dem ersten Band des Erkenntnisproblems gerichtet hatte, die nur aus der Feder eines »systematic thinker«128 fließen kann und die auch deshalb – aller Beschränkungen einer ›philosophischen Geschichte‹ der Philosophie, die uns heute fremd erscheinen kann, zum Trotz – noch einmal ihre Anziehungskraft unter Beweis stellt.
Vgl. zu letzterem Aspekt E. Cassirer, Descartes. Lehre – Persönlichkeit – Wirkung, Stockholm 1939 (Nachdruck Hildesheim 1978), S. 183 f. Für »die unsichtbaren Fäden der Textur« s. Die Philosophie der Aufklärung, S. XI. 126 Das Erkenntnisproblem, I, S. 3; ECW 2, S. 2. 127 Die Philosophie der Aufklärung, S. VI, XIII. 128 An Essay on Man, S. 187. 125
zweites kapitel Freiheit, Idee, Form
1. Die in dem Band Freiheit und Form von 1916 versammelten ›Studien zur deutschen Geistesgeschichte‹ nehmen einen herausragenden Platz innerhalb der intellektuellen Biographie Cassirers ein, auch wenn diesem so prächtigen Buch, das – gemeinsam mit den 1921 in Idee und Gestalt zusammengeführten Texten – eine Art ›Scharnier‹ zwischen dem frühen ›Marburger‹ Cassirer und dem späteren der ›Kulturphilosophie‹ darstellt, bis heute wenig Aufmerksamkeit geschenkt geworden ist.1 Und doch hatte Freiheit und Form in der damaligen deutschen Kultur einen bemerkenswerten Erfolg und wurde als das reifere Ergebnis einer ›Partitur‹ aufgenommen, die nach dem bereits vielversprechenden Auftakt des Erkenntnisproblems schließlich ein neues Motiv hervorgebracht hatte, das niemand zuvor mit einer solchen Meisterschaft angestimmt hatte: das Motiv einer ›lebendigen Geschichte‹.2 Schließlich ist, abgesehen von dem sicherlich nicht unbedeutenden Einfluß, den das Thema des Verhältnisses von ›Freiheit und Form‹ innerhalb der Forschung gehabt hat,3 daran zu erinnern, daß Friedrich Gundolf in dem Cassirerschen Text die Weiterentwicklung (und die Lösung) des von Dilthey in Das Erlebnis und die Dichtung formulierten Problems begrüßte, während es andererseits ein Forscher vom Format Ernst Troeltschs war, der Freiheit und Form (»dieses sehr kenntnisreiche, bedeutende und elegant geschriebene Buch«) trotz Bedenken prinzipieller Art gegen die Vorstellung eines ›deutschen Geistes ohne Mittelalter‹4 ausführlich diskutierte. Mit Freiheit und Form (und zum Teil mit Idee und Gestalt) beschäftigen sich vor allem K. Reichardt, Ernst Cassirer’s Contribution to Literary Criticism in The Philosophy of Ernst Cassirer, S. 661–688; D. R. Lipton, Ernst Cassirer. The Dilemma of a Liberal Intellectual in Germany 1914–1933, Toronto-Buffalo-London 1978, S. 35–69; G. Gigliotti, Libertà e forma. Ernst Cassirer interprete di Kant, »Cultura e scuola«, XVIII, 1979, n. 72, S. 88–109, und XIX, 1980, n. 73, S. 99–113; L. Lugarini, Critica della ragione e universo della cultura. Gli orizzonti cassireriani della filosofia trascendentale, Roma 1983, S. 97–101; H. Paetzold, Ernst Cassirer, S. 31–35. 2 H. Bahr, Über Ernst Cassirer, »Die neue Rundschau«, XXVIII, 1917, S. 1483–1499 (hier S. 1488). Vgl. außerdem die zwar ausführliche, aber im wesentlichen darstellende Rezension von Hans Lindau für die »Kant-Studien«, XXII, 1918, S. 125–134. 3 S. z. B. A. Korff, Geist der Goethezeit. Versuch einer ideellen Entwicklung der klassisch-romantischen Literaturgeschichte, I, Sturm und Drang, Leipzig 61962, S. 105 f. (1. Auflage 1923). 4 Vgl. hierzu E. Troeltsch, Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionsphilosophie in Gesammelte Schriften, IV, hg. von H. Baron, Tübingen 1925, S. 696 ff. (Wiederabdruck 1
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Zweites Kapitel
Tatsächlich trug zu der breiten Resonanz des Cassirerschen Werkes während der dramatischen Jahre des Ersten Weltkrieges auch die weit verbreitete Beschäftigung mit der Frage des ›Deutschtums‹ bei, d. h. mit der geistigen Mission Deutschlands und seiner Stellung innerhalb der europäischen Kultur. Cassirer selbst bekundete im Vorwort vom Juni 1916 ausdrücklich, einen entscheidenden Impuls zum Abschluß des Buches, das schon lange in Vorbereitung gewesen war, gerade durch die Ereignisse »der letzten Jahre« bekommen zu haben, die ein offensichtlich »abstraktes« Thema unmittelbar zu einem aktuellen und dringlichen Problem haben werden lassen. Er habe »mitten in den schwersten Kämpfen um das politisch-materiale Dasein des deutschen Volkes« verstehen und bestimmen wollen, welches der typische und grundlegende Zug des deutschen Geistes sei.5 Es können zudem wenig Zweifel daran bestehen, daß die Veröffentlichung von Freiheit und Form für Cassirer auch eine »ethisch-politische« Aufgabe darstellte. Dies wird aus den aufschlußreichen Erinnerungen seiner Frau Toni bezüglich Cassirers Position nach dem schicksalhaften 1. August 1914 deutlich.6 Der plötzliche Zusammenbruch einer sicher geglaubten Welt verunsicherte nicht nur grundlegend den vertrauensvollen Rationalismus Cassirers, sondern veränderte sein Heimatland bis zur Unkenntlichkeit und motivierte ihn, Trost zu suchen in einem Deutschland, das anders war als das der brutalen Kriegspropaganda: in der durch die kosmopolitische goethesche ›Bildung‹ symbolisierten deutschen Kultur, in der auch Benedetto Croce »während der trüben Tage des Weltkrieges [ ... ] Erleichterung und Erquickung« gefunden hatte.7 Weit entfernt von jeder Sympathie für den chauvinistischen und nationalistischen Sturzbach, der weite Teile der deutschen akademischen Welt im Namen der deutschen »Mission« mit sich gerissen der ursprünglich in der »Theologischen Literatur-Zeitung«, XVIII / XIX, 1917, Sp. 368–371 erschienenen Rezension) und Deutscher Geist und Westeuropa. Gesammelte kulturphilosophische Aufsätze und Reden, hg. von H. Baron, Tübingen 1925 (Nachdruck Aalen 1966), S. 232. Gundolf wird zitiert nach einem Brief an Cassirer vom 13. Oktober 1916, der unter der Signatur Uncat. Ms. Vault 464 in der Beinecke Rare Book and Manuscript Library der Yale University (New Haven) verwahrt wird. 5 Vgl. Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte, Berlin 1916 (Nachdruck Darmstadt 1975, hier S. XI; ECW 7, S. 388). Cassirer fährt fort: »Man mag diesen ›metaphysischen‹ Zug des deutschen Geistes rühmen oder schelten, bewundern oder verwerfen: Er gehört auf jeden Fall zu den bestimmenden und wirksamen Faktoren der deutschen Geschichte selbst, der an allen ihren großen Wendepunkten in irgendeiner Form herausgetreten und sichtbar geworden ist.« 6 Vgl. T. Cassirer, Mein Leben mit Ernst Cassirer, S. 113–120. 7 B. Croce, Goethe, Bari 41946, I, S. VII; hier zitiert nach der dt. Übersetzung von J. Schlösser, Zürich / Leipzig / Wien 1920, S. XIV. Zu Cassirer vgl. T. Cassirer, Mein Leben mit Ernst Cassirer, S. 119.
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hatte und in dem berühmten Aufruf des 4. Oktober 1914 unmittelbaren Ausdruck fand (»ohne den deutschen Militarismus« — hieß es unter anderem — »wäre die deutsche Kultur längst vom Erdboden getilgt«), betrachtete Cassirer das Feiern des preußischen Militarismus und das Ziel der imperialistischen Expansion mit Abneigung und ohne die Illusion, die viele bedeutende Persönlichkeiten (wenn auch jenseits von vulgärer propagandistischer Schwärmerei) hegten: daß der Krieg einen ›heiligen‹ Wert wiedergewinne und die Zukunft der westlichen Kultur von einem Sieg Deutschlands abhänge.8 Wie Gawronsky bemerkt, war Cassirer hingegen — in eher philosophischen als unmittelbar politischen Begriffen — bestrebt zu betonen, daß die geistige Welt Deutschlands trotz ihrer unbestreitbaren Eigentümlichkeit nicht aus dem Horizont der europäischen Kultur herausgelöst werden könne, in der sie entstanden sei und aus der sie sich in der Entwicklung ihrer eigentümlichen Funktion gespeist habe.9 Von diesem Gesichtspunkt aus ging es für ihn nicht darum, die kulturelle Besonderheit Deutschlands zu negieren oder von ihrer überragenden Bedeutung abzusehen, sondern darum zu zeigen, wie sein »geistiger Vorrang« mit der »Öffnung gegenüber den anderen europäischen Zivilisationen«10 konvergiere. Gerade deshalb wies Cassirer auf die Gefahren einer Blut-und-Boden-Ideologie hin, mit der das Aufkommen eines gewalttätigen antisemitischen Geistes so leicht einhergegangen war. Dies wird durch das Beispiel Bruno Bauchs gut belegt, auf dessen Haltung gegenüber dem »Begriff der Nation« und den damit zusammenhängenden Angriffen auf Cohen und das Judentum als fremdes Element in der deutschen Kultur Cassirer in einer Schrift aus dem Jahre 1916, die erst vor wenigen Jahren veröffentlicht wurde, äußerst bestimmt reagierte. Unter anderem widersprach er Bauch darin, daß die Ehre, die der deutschen Kultur gebühre, nur von der Tatsache abhänge, daß sie allgemeingültige Begriffe auszuarbeiten gewußt habe: »Nicht weil Zu dem Text des Aufrufs an die Kulturwelt vgl. Aufrufe und Reden deutscher Professoren im Ersten Weltkrieg, hg. von K. Böhme, Stuttgart 1975, S. 47 ff. (eine sehr nützliche Sammlung beeindruckender Dokumente). Vgl. außerdem L. Canfora, Intellettuali in Germania tra reazione e rivoluzione, Bari 1979, S. 5–75, das dem Einfluß der »Ideen von 1914« auf die deutsche akademische Welt nachgeht; zu diesem Aspekt vgl. vor allem das Kapitel über Die philosophischen Ideen von 1914, mit dem das Buch von H. Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland, München 21974, S. 171–235, schließt. 9 Vgl. Freiheit und Form, S. XVI; ECW 7, S. 393. Vgl. auch D. Gawronsky, Ernst Cassirer: His Life and His Work, S. 23. 10 M. Maggi, Universalismo e mondo tedesco nella »Kulturphilosophie« di Ernst Cassirer (Einleitung zu E. Cassirer, Sulla logica delle scienze della cultura, ital. Übers. von M. Maggi, Firenze 1979), S. XXXI. 8
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Zweites Kapitel
der Begriff der Freiheit, weil der Gedanke der ›Autonomie‹ ein spezifisch deutscher Begriff ist, erkennen wir in der Kantischen Ethik einen philosophischen Höhepunkt der deutschen Geistesbildung; – sondern weil er eine schlechthin allgemeingültige, über alle nationalen Schranken hinweggreifende Idee darstellt«.11 Genau aus diesem Grunde beginnt Freiheit und Form übrigens mit einem Bezug auf die von der Renaissance inaugurierte »Einheit, die über alle nationalen Schranken hinausgreift«, und ihr »freies weltliches Bildungsideal«. In den politischen Idealen der italienischen Renaissance, die klassisches Gedankengut wieder aufgreifen (das Cassirer wie Konrad Burdach bereits bei Dante und Petrarca entdeckt), in der französischen Renaissance, die mit Montaigne den Begriff der Persönlichkeit als »Lebensform« herausarbeitet, und schließlich in der religiösen Wiedergeburt Deutschlands, die in der lutheranischen Reformation kulminiert, erblickt Cassirer die Wurzeln einer neuen Kultur, die darauf ausgerichtet ist, die metaphysisch-ontologische Hierarchie des mittelalterlichen Kosmos im Namen der »geistigen Ideen« zu überwinden, deren Autonomie das Problem der deutschen Geistesgeschichte seit Luther und der Reformation darstellt.12 Im Nachvollzug dieses Zusammenwachsens ›geistiger Kräfte‹ bediente Cassirer sich offenkundig eines gleichermaßen leistungsfähigen wie groben Schemas, gegen das bereits Troeltsch zu Recht Einwände vorbrachte, da in der von Freiheit und Form gezeichneten deutschen Welt der »gotische Mensch« und die herausragende Bedeutung des religiösen Geistes fehle (der, wandte Troeltsch ein, stets im Hintergrund bleibe und E. Cassirer, Zum Begriff der Nation. Eine Erwiderung auf den Aufsatz von Bruno Bauch, »Bulletin des Leo Baeck Instituts«, XXXIV, 1991, S. 81 (s. auch den ausführlichen einführenden Aufsatz von U. Sieg, Deutsche Kulturgeschichte und jüdischer Geist. Ernst Cassirers Auseinandersetzung mit der völkischen Philosophie Bruno Bauchs. Ein unbekanntes Manuskript, S. 59–71); zum ›Fall Bauch‹ gibt es verschiedene Notizen aus erster Hand in dem Briefwechsel zwischen Cohen und Natorp und zwischen Cassirer und Natorp, vgl. H. Holzhey, Cohen und Natorp, II, S. 455–465 (vgl. ebenfalls H. Sluga, Heidegger’s Crisis. Philosophy and Politics in Nazi Germany, Cambridge-London 1993, S. 82–85). Zu den (wirklich erschütternden) Texten Bauchs vgl. Vom Begriff der Nation (Ein Kapitel zur Geschichtsphilosophie), »Kant-Studien«, XXI, 1917, S. 139–162, und vor allem den in »Der Panther«, IV, 1916, S. 742–746, publizierten Brief (mit einem schweren Angriff auf den »jüdischen Rationalismus Cohens« und der Anerkennung der »Deutschheit« Natorps). 12 Vgl. Freiheit und Form, S. 1–19; ECW 7, S. 1–21. Zu Burdach vgl. die zwei Vorträge von 1910 und 1913, die 1918 in Reformation-Renaissance-Humanismus abgedruckt wurden: vgl. diesbezüglich auch die exzellente Einleitung Cesare Vasolis in K. Burdach, Riforma Rinascimento Umanesimo. Due dissertazioni sui fondamenti della cultura e dell’arte della parola moderna, ital. Übers. von D. Cantimori, Firenze 21986, S. V–LXIV. 11
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von der Vernunft verdrängt werde, ohne Raum für tragische Konflikte zu lassen).13 Dennoch stehe diese Verflechtung von ›Kosmopolitismus‹ und ›Volksgeist‹, so Cassirer, der in seiner Begriffswahl hier dem Ansatz Friedrich Meineckes verpflichtet ist,14 in deutlicher Distanz zu der nationalistischen Begeisterung für das Deutschtum und dessen mit der europäischen Kultur unvereinbarem ›Genie‹, die eine damals weit verbreitete communis opinio im Rahmen einer typischen Gegenüberstellung von Kultur und Zivilisation mit dem abstrakten französischen Rationalismus und dem platten englischen Empirismus identifizierte. Andererseits unterschied sich Cassirer zugleich von seinen Marburger Lehrern Cohen und Natorp, die mit dem Ausbruch des Weltkrieges wiederholt entschieden für die besondere Aufgabe des Deutschtums in der verhängnisvollen Stunde, in der dieses seine schwierigste historische Prüfung zu bestehen hatte, eintraten.15 Für Cohen, seinen klassischen Positionen treu (die der Krieg jedoch nun virulent machte), ging es sowohl darum, die absolute Ausnahmestellung der deutschen Kultur im Rahmen der europäischen Kultur und in der Konsequenz »die Originalität einer Nation, mit der keine andere sich gleichstellen kann«16 zur Geltung zu bringen, als auch um die Notwendigkeit, daß das Deutschtum im jüdischen Messianismus eine unerschöpfliche Quelle seines ethischen Humanismus erkenne, der in Kant kulminiere, jedoch zurückgehe auf einen gemeinsamen griechischen Boden, aus dem gleichermaßen der deutsche Idealismus (von Cusanus bis Kant) wie das Judentum selbst hervorgegangen seien.17 Aus dieser Perspektive hob Cohen den deutschen ›Weg‹ zur Idee der Humanität, zum Ideal der Klassik bei Kant, Goethe und Schiller hervor, indem er ihn mit einem ethischen Sozialismus aus dem Geist der Propheten zusammenlaufen ließ. Er prognostizierte, daß nur ein deutscher Sieg die Zukunft des geistigen Lebens gewährleisten könne,18 und stimmte eine leidenschaftliche Hymne sowohl auf die AssiVgl. Deutscher Geist und Westeuropa, S. 234, und Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionsphilosophie, S. 697. 14 Vgl. F. Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, hg. von H. Herzfeld (= Werke, V), München 1962, S. 21. 15 Zur Haltung der Marburger Schule zum Weltkrieg vgl. die hervorragende Studie (die eine größere Resonanz verdient hätte) von T. R. Keck, Kant and Socialism: The Marburg School in Wilhelmian Germany, Michigan, Ann Arbor, University Microfilm International, 1975, S. 364–412. 16 H. Cohen, Über das Eigentümliche des deutschen Geistes [ 1914 ], dann in Schriften zur Philosophie und Zeitgeschichte, I, S. 568. 17 Vgl. den Beitrag über Deutschtum und Judentum von 1914, später abgedruckt in Jüdische Schriften, hg. von B. Strauß, Berlin 1924, II, S. 237–301 (bes. S. 257–264). 18 Vgl. Über das Eigentümliche des deutschen Geistes, S. 569 f. 13
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milation als auch auf den ›Primat‹ Deutschlands («in diesen Zeiten eines epochalen Völkerschicksals [ sind wir ] als Juden stolz darauf, Deutsche zu sein«) an.19 Seit dem Sommer 1914 beschritt Natorp einen anderen Weg. Im Ausgang von der Begeisterung für den Krieg und der Begrüßung seines Wertes für eine globale Erneuerung der menschlichen Kultur mündete dieser in den zwei Bänden des Deutschen Weltberufs von 1918 in den Entwurf einer veritablen eigenen ›Geschichtsphilosophie‹, in der die allgemeine deutsche Berufung in ein Gesamtbild des Ganges der Zivilisation eingeschrieben wurde, das — trotz unterschiedlichen Ausgangs — eher an Spengler als an den Kantischen Kritizismus denken läßt (Natorp gestand offen ein, »keineswegs ›wissenschaftliche‹ Hypothesen« aufgestellt zu haben).20 In Erwartung der »Morgenröte eines neuen Tages« wandte sich Natorp an die deutsche Seele (nicht umsonst ist Eckhart eine der Schlüsselfiguren des tendenziösen und phrasenhaften Buches Natorps) und unterstrich gleichzeitig — in einem alles andere als konzilianten Ton — ihre Sonderstellung unter den anderen ›Seelen‹ der europäischen Kultur: Nicht zu vergleichen sei sie mit der französischen, die vom Rationalismus beherrscht werde, der schon bei Descartes in einen platten Positivismus umgeschlagen sei (offensichtlich war schon viel Zeit verstrichen, seit der junge Natorp in der Cartesischen Philosophie die Antizipation und quasi die konsequenteste Bestätigung des Kantischen Idealismus entdeckt hatte); und nicht einmal mit der englischen, die von einem robusten ›faustischen‹ Schaffensdrang beherrscht werde und gerade deshalb von dem im wahrsten Sinne des Wortes ›faustischen‹ Volk erbarmungslos bekämpft werden müsse.21 Nur den Deutschen, schloß Natorp, komme die Aufgabe der geistigen Eroberung der Welt zu (mit dem Geist und für den Geist), weil nur die Deutschen sich zur »letzten[ n ] Einheit des Geistigen, die als solche über-endlich, über-positiv, über-rational, und das heißt: ideal sei«, erheben können.22 Deutschtum und Judentum, S. 277. P. Natorp, Deutscher Weltberuf. Geschichtsphilosophische Richtlinien, I, Die Weltalter des Geistes, Jena 1918, S. 21, 26. Zur Haltung Natorps zum Krieg vgl. H. Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland, S. 186 ff., und U. Sieg, Aufstieg und Niedergang des Marburger Neukantianismus, S. 424–437. Die ausführlichste Behandlung des Themas findet sich bei N. Jegelka, Paul Natorp. Philosophie Pädagogik Politik, Würzburg 1992, S. 111–142, der zwar sehr viel, auch unveröffentlichtes Material verarbeitet, jedoch eine problematische Gesamtwertung vornimmt. 21 Vgl. P. Natorp, Deutscher Weltberuf. Geschichtsphilosophische Richtlinien, II, Die Seele des Deutschen, Jena 1918, S. 22–27 (und S. 59–83 zu Eckhart und dem »deutschen Glauben«). 22 Ebd., S. 46. 19
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Von dem leidenschaftlichen und stellenweise fanatischen Deutschtum Cohens wie von Natorps ›mystischer‹ Vorstellung der deutschen Seele ist bei Cassirer keine Spur: Sein Text gehört ohne jeden Zweifel einer anderen Dimension an, die Cassirer gern einen anderen ›geistigen Kosmos‹ nannte. Das aber bedeutet nicht, daß Cassirer in Freiheit und Form dem deutschen Geist keine zentrale Funktion zuerkennen und sich auf eine reine, von der Gegenwart losgelöste Rekonstruktion von Ideen beschränken würde.23 Tatsächlich genügt es, den Schluß des Buches zu lesen, um festzustellen, daß auch Cassirer – in seinem eigentümlichen Stil und jener souveränen Zurückhaltung, die seinen zeitgenössischen Lesern so sehr gefielen – sich sehr wohl der zentralen Bedeutung der kulturellen Tradition Deutschlands bewußt war, die ihm nicht etwa eine bereits abgeschlossene Vergangenheit zu sein schien, in der er Zuflucht hätte finden könnte vor den »Kämpfen und Gegensätzen des unmittelbaren geschichtlichen Lebens«, sondern ein Erbe, das in der Gegenwart die Fähigkeit unter Beweis zu stellen habe, »die völlig neuen politischmateriellen Aufgaben, die seiner harren, zu bewältigen«.24 In diesem Sinne war die Diskussion um die Funktion und den Wert des Deutschtums dem Cassirerschen Kosmopolitismus und Humanismus durchaus nicht fremd, und auf diesem Gebiet scheint die Distanz zu Cohen (aber vor allem zu Natorp) auf den ersten Blick nicht unüberwindbar.25 Dennoch reicherte Cassirer seine Interpretation der deutschen Kultur, die die Marburger Schule von Anfang an unter dem Blickwinkel des Idealismus von Cusanus zu Leibniz und Kant betrachtet hatte und den vor allem Cohen auf die Entwicklung der Ästhetik bis zur ›Klassik‹ ausgedehnt hatte, mit neuem Material und erarbeitete neue Perspektiven.26 Für ihn blieb eine solche Interpretation, abgesehen von den politisch-ideologischen Konnotationen, die sie in den Kriegsjahren angenommen hatte, der Ausgangspunkt: aber, und das muß betont werden, nur der Ausgangspunkt. Weder die ›Grundzüge der Geschichtsphilosophie‹ Natorps 23
Das hob unter anderem ausgerechnet Natorp hervor, als er in einem Brief an Hans Vaihinger vom November 1916 bemerkte, daß auch Cassirer »für den deutschen Geist« und »gegen den Haß, den heute der Deutsche von aller Welt erfährt« Position bezogen habe (Cohen und Natorp, II, S. 461). 24 Freiheit und Form, S. 367 f.; ECW 7, S. 386 f. 25 Das dokumentiert unter anderem ein Brief Cassirers an Natorp vom 24. Juni 1918 anläßlich der Publikation des Deutschen Weltberufs (vgl. U. Sieg, Aufstieg und Niedergang des Marburger Neukantianismus, S. 507 f.). Es bleibt allerdings zu verifizieren, inwieweit Cassirers Freiheit und Form seinerseits teilweise Natorps Buch beeinflußt hat: Man denke nur an die Passagen, die Natorp im Deutschen Weltberuf Goethe gewidmet hat (Deutscher Weltberuf, II, S. 145–161). 26 Vgl. H. Cohen, Kants Begründung der Aesthetik, S. 6–91.
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noch der mit Kantischer Ethik verbundene Geist des jüdischen Prophetentums waren für Cassirer ein gangbarer Weg; im Gegenteil hielt er es für erforderlich, zu den Problemen zurückzugehen (und nicht etwa zum »Ergebnis«), die die »moderne geistige Kultur« in ihrer Entwicklung und ihrer grundlegenden Dialektik von Freiheit und Form beeinflußt haben, d. h. der Dialektik von zwei antithetischen Prinzipien, die vom Zeitalter der Reformation bis zu ihrer Versöhnung bei Kant und Goethe jede kulturelle Sphäre durchzogen haben – von der Religion bis zur ästhetischen Reflexion, von der Erkenntnis bis zur Poesie. Immer wieder stellte sich das Problem eines Strebens nach Autonomie, das seine Begrenzung in anderen Formen findet, die sich gleichermaßen zu behaupten trachten: ein Spiel von Beziehungen, Spannungen und Widersprüchen, die sich in ihrer »Fülle« jedem Versuch, sie auf eine einzige »Formel«27 zu reduzieren, entziehen. Im Hinblick auf die »gestaltenden Kräfte der geistigen Gesamtkultur« mußte Cassirer ein Bild der deutschen Geistesgeschichte präsentieren, das seinen Mittelpunkt nicht mehr nur bei Kant, sondern vor allem bei Goethe hatte;28 und in diesen beiden »Grundpotenzen der deutschen Geistesentwicklung« sammelte sich für Cassirer die authentische Bedeutung des Deutschtums als stets offenes Problem, das kein naturalistischer Begriff und weniger noch ein bereits erlangter und zu einem metaphysischen Wesen (oder einer mysteriös nachklingenden Seele) hypostasierter ›Besitz‹ sei, sondern eine »allgemeine geistige Aufgabe«.29 2. Anhand des Kapitels »Freiheitsidee und Staatsidee«, mit dem Freiheit und Form schließt, läßt sich diese Interpretation weiter stützen. Denn im Gegensatz zu der häufig vertretenen These bezüglich des späten Interesses Cassirers an politischer Philosophie (das vor allem in dem posthumen The Myth of the State zum Ausdruck komme) und seines ethisch-politischen Engagements im allgemeinen, das sich erst in der letzten Phase der Weimarer Republik entwickelt habe, ist es notwendig zu unterstreichen, daß die Probleme staatlicher Organisation und des Rechtsstaates, der Freiheit, des Verhältnisses zwischen Moral und Politik in der Cassirerschen Reflexion bereits in den Jahren des Ersten Weltkrieges – wenn auch in der Form einer reinen Ideengeschichte – klar zum Ausdruck kommen, allerdings in einer Richtung, die im folgenden sicher erweitert und vertieft, aber nicht widerrufen wurde.30 In dieser Hinsicht zeigte Vgl. Freiheit und Form, S. XII ff.; ECW 7, S. 389 ff. Ebd., S. XIV, XVII; ECW 7, S. 392, 394. 29 Ebd., S. 304; ECW 7, S. 320. 30 Dieser Aspekt ist von J. M. Krois, Cassirer. Symbolic Forms and History, New Haven and London 1987, bes. S. 165–171, nicht adäquat beleuchtet worden. Zu einigen 27 28
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sich Cassirer übrigens der Marburger Schule enger verbunden, als im allgemeinen angenommen wird, auch wenn es sich in seinem Fall nicht um einen direkten Einsatz für den ethischen Sozialismus des Marburger Neukantianismus handelte, sondern um eine Berufung auf ›progressive‹ Ideale von Gerechtigkeit, kollektiver und individueller Freiheit, die sich als Zentrum und Orientierung des ›menschlichen Handelns‹ im Kantischen Reich der Zwecke vereinen.31 Dieser Gesichtspunkt war schon an einigen Stellen in Leibniz’ System bestimmend, in dem die Leibnizsche civitas dei eindeutig kantisch-cohensche Züge trug und sich weniger als gegenwärtige Gemeinschaft der Geister denn als telos einer unendlichen Verwirklichung, als der ethische Gehalt des Rechts darstellte. Deutlicher noch hatte Cassirer diesen Aspekt in der von ihm herausgegeben Ausgabe der Schriften von Leibniz hervorgehoben, als er dessen metaphysischreligiösen Optimismus kommentierte und bemerkte, daß Gott nichts anderes bedeuten könne als »den Glauben an die Möglichkeit der fortschreitenden Verwirklichung des Sittlichen in der Natur und der Menschengeschichte«: Indem »wir an dem sozialen Fortschritt der Menschheit arbeiten, begründen wir damit erst die echte ›societas divina‹ «.32 Dies alles ist nicht bloß eine jugendliche Schwärmerei Cassirers. Nicht umsonst läßt er die »Rechtfertigung des Staates im Gedanken und durch den Gedanken«, die ihm für die deutsche Idee des Staates so charakteristisch erscheint, auch in Freiheit und Form auf Leibniz zurückgehen (aber auch auf die leibnizianische Tradition) und folglich auf das »neue Kul-
der im folgenden behandelten Themen hinsichtlich des ethisch-politischen Cassirers vgl. B. Henry, Libertà e mito in Cassirer, Napoli 1986. 31 Zur Tradition des ethischen Sozialismus marburgischer Prägung vgl. vor allem T. R. Keck, Kant and Socialism, S. 139–208; H. van der Linden, Kantian Ethics and Socialism, Indianapolis-Cambridge 1988, S. 197–240, und den Band Ethischer Sozialismus. Zur politischen Philosophie des Neukantianismus, hg. von H. Holzhey, Frankfurt am Main 1994. Immer noch nützlich ist auch die Anthologie Marxismus und Ethik. Texte zum neukantianischen Sozialismus, hg. von H. J. Sandkühler und R. de la Vega, Frankfurt am Main 1970. 32 In der Einleitung zum Abschnitt ›Metaphysische Schriften‹ des Bandes G. W. Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, hg. von E. Cassirer, Hamburg 31966, II, S. 120, 122 (erste Ausgabe 1904 und 1906). (Die Seitenzahlen der Neuausgabe von 1996 werden der besseren Vergleichbarkeit halber im folgenden in Klammern hinzugefügt: hier Hauptschriften I, S. CII). Vgl. außerdem Leibniz’ System, S. 440 f., 457 f.; ECW 1, S. 394 f., 410 f. Von einem Leibnizschen »Sozialismus« spricht tatsächlich C. J. [ Carl Jaentsch? ] in seiner Rezension von Cassirers Buch (vgl. Leibniz, »Die Grenzboten«, LXII, 1903, S. 78–87, 137–146, hier S. 145 f.); zum ›progressiven‹ Leibniz vgl. vor allem die Studie des ›Cohenianers‹ A. Görland, Der Gottesbegriff bei Leibniz. Ein Vorwort zu seinem System, Giessen 1907, S. 132 ff. (vgl. ebenfalls W. Kinkel, Leibniz in Grosse Denker, hg. von E. Aster, Leipzig 1911, II, S. 75 f.).
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turideal«, das nicht mehr auf einen quietistischen Glauben konzentriert ist.33 In diesem Prozeß kommt Leibniz das Verdienst zu, die Kategorie des Individuums innerhalb der naturrechtliche Tradition entwickelt zu haben, während die nachfolgende Verteidigung der unveräußerlichen Individualrechte vor allem bei Wolff für Cassirer die reinste Darstellung des »Humanitätsideals des 18. Jahrhunderts« ist, das sich mit der Französischen und Amerikanischen Revolution treffen sollte und in die »freie Gedankenwelt des deutschen Humanismus, [ ... ] [ die ] Welt Schillers und Wilhelm von Humboldts« einmündete.34 Mit ähnlichen Argumenten verteidigte Cassirer mehr als ein Jahrzehnt später die Weimarer Republik und versuchte zu zeigen, daß diese spezifisch deutsche ›Tradition‹ eine Legitimation des Rechtsstaates und eine naturrechtliche Verteidigung des Werts des Individuums enthalte, mithin kein Fremdkörper der ›deutschen Geistesgeschichte‹, sondern ein sie durchziehendes Element, eine ununterbrochene Linie sei, die bei der justitia universalis Leibnizens beginne und bis zu Kant, zu Fichte und sogar zum Beitrag eines Kritikers des Naturrechts wie Hegel und schließlich zur Französischen Revolution als »geistiger Morgenröte einer neuen Zeit« reiche.35 Im übrigen ist gerade dieser Zusammenhang des deutschen Denkens des späten 18. Jahrhunderts mit der Französischen Revolution ein Thema, mit dem Cassirer sich bereits in den Jahren der Abfassung von Freiheit und Form beschäftigt hat. Gleichzeitig insistiert er auf der Beziehung Rousseau-Kant (und auf einer normativen Interpretation des Gesellschaftsvertrags), die in späteren, bekannten Texten – von der Philosophie der Aufklärung bis zur Studie von 1932 über Rousseau36 – ins Zentrum der Aufmerksamkeit zurückkehren sollte. Bezüglich zweier Punkte scheint Cassirer jedoch bereits in Freiheit und Vgl. Freiheit und Form, S. 52, 309 ff.; ECW 7, S. 56, 325 f. Ebd., S. 316 f.; ECW 7, S. 332 f. Zu dem absolut zentralen Wert, den der Begriff der Humanität innerhalb der ethisch-politschen Ideale der Marburger Schule hat, vgl. H. Cohen, Ethik des reinen Willens in Werke, VII, hg. vom Hermann-Cohen-Archiv, Hildesheim-New York, 1981, S. 617–637. 35 Vgl. E. Cassirer, Wandlungen der Staatsgesinnung und der Staatstheorie in der deutschen Geschichte [ 1930 ], erstveröffentlicht im Ausstellungskatalog Enge Zeit. Spuren Vertriebener und Verfolgter der Hamburger Universität, hg. von A. Bottin unter Mitarbeit von R. Nicolaysen, Hamburg 1991, S. 161–169 (hier S. 165). In diese Linie fügen sich auch andere Schriften und Vorträge Cassirers Ende der 20er Jahre, vgl. vor allem den Vortrag vom 11. August 1928 über Die Idee der republikanischen Verfassung, Hamburg 1929, wieder abgedruckt in Symbolische Formen, mögliche Welten – Ernst Cassirer, S. 13–30. Zu diesen Texten Cassirers s. auch unten S. 251 ff. 36 Vgl. Die Philosophie der Aufklärung, S. 346–367, und Das Problem Jean-Jacques Rousseau, »Archiv für Geschichte der Philosophie«, XLI, 1932, S. 177–213, 479–513, jetzt in E. Cassirer, J. Starobinski, R. Darnton, Drei Vorschläge, Rousseau zu lesen, 33 34
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Form wenig Zweifel zu hegen (auch hier der Marburger Lehre, in primis Cohen, verwandt). Einerseits wird der »heroische« Begriff des Staates, den Kant bar jeder ›idyllischen‹ Illusion in enger Beziehung mit seiner Geschichtsphilosophie entwickelte, von Cassirer im Lichte der konstanten Spannung zwischen Legalität und Moralität präsentiert, kraft derer die letztere während des unendlichen Prozesses einer ›asymptotischen‹ Annäherung die noumenale Orientierung der ersten darstelle;37 andererseits verleihe gerade die regulative Dimension dem Naturrecht und dem Begriff des Gesellschaftsvertrages einen von einer unterstellten ›faktischen‹ Wirklichkeit klar unterschiedenen Status. Hier — unterstreicht Cassirer energisch — handele es sich vielmehr um eine Vernunftidee: »In diesem Sinne bezeichnet der Vertragsgedanke nicht die geschichtliche Vergangenheit, aus der der Staat sich her schreibt und von der er seine Legitimation entnimmt, sondern die Zukunft, in die er hinaus strebt. Er stellt gleichsam das Noumenon des Staates dar, indem er die intelligible Aufgabe ausspricht, der er sich, als empirisch-phänomenales Gebilde, fort und fort anzunähern hat.«38 Auf der Grundlage dieser Bestimmung der Natur und der Funktion des Staates in der »fortschreitenden Verwirklichung der Freiheit«, die Cassirer als eine Art transzendentale Übersetzung der Ideen der Französischen Revolution betrachtet,39 läßt sich auch verstehen, warum Freiheit und Form Fichte eine größere Bedeutung zuschreibt als Wilhelm von Humboldt. Für Cassirer, der hier offensichtlich von der Interpretation Meineckes beeinflußt ist, besteht die »Grenze« Humboldts — auch im Übergang von dem primitiven Begriff des Staates als ›Mechanismus‹ im berühmten Aufsatz von 1792 zur reiferen Perspektive der organischen Verbindung zwischen Staat und Nation — in der fehlenden Überwindung des »Pathos der ästhetischen Betrachtung« und folglich in der Unterbewertung der ethischen Dimension, die hingegen die »wahrhafte Vollendung des Staatsbegriffs des deutschen Idealismus« darstelle.40 Frankfurt am Main 1988, S. 7–78, hier S. 20–35; s. auch Kants Leben und Lehre, S. 398 f.; ECW 8, S. 358 ff., und Rousseau, Kant, Goethe, hg. von R. A. Bast, Hamburg, Meiner, 1991, S. 27–37. 37 Vgl. Freiheit und Form, S. 325; ECW 7, S. 341. 38 Ebd., S. 325 f.; ECW 7, S. 341 f. 39 Ebd., S. 327; ECW 7, S. 343 (aber zu diesem Thema hatte Cassirer sicher auch den Aufsatz von K. Vorländer, Kants Stellung zur französischen Revolution in Philosophische Abhandlungen. Hermann Cohen zum 70sten Geburtstag dargebracht, Berlin 1912, S. 247–269, vor Augen). 40 Freiheit und Form, S. 337; ECW 7, S. 354. Was Cassirer über Humboldt schreibt, ist zu vergleichen mit dem dritten Kapitel von Weltbürgertum und Nationalstaat, S. 40–57, wo Meinecke, trotz großer Sympathie für die ›Zuneigung‹ Humboldts zur
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Dies ist jedoch der notwendige Schritt, den Cassirer bei Fichte vollzogen sieht; und hier handelt es sich gewiß nicht um den Fichte, den die Propaganda des Pangermanismus und des Nationalstolzes schätzte, sondern vielmehr um die ethische Bedeutung der Philosophie Fichtes und seines Bestrebens, »den Staat der Zukunft, den Staat der Freiheit«41 zu skizzieren. Wichtiger als der flüchtige Hinweis auf »Fichtes Sozialismus«42 ist unter diesem Blickwinkel die Aufmerksamkeit, die Cassirer auf den wesentlich ›erzieherischen‹ Charakter des Staates bezüglich einer Vervollkommnung der menschlichen Gattung richtet. Es sind noch aufklärerische (und Lessingsche) Themen, die Fichte z. B. in der Vorlesung über die »Bestimmung des Gelehrten« von 1794 entwickelt;43 aber Cassirer zitiert, und dies ist nicht weniger bezeichnend, mit Vorliebe auch jenen Passus der Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, in dem Fichte dem bloß individuellen Ziel der privaten Befriedigung das kollektive der Kultur gegenüberstellt.44 Sicher sind Cassirer die Schwierigkeiten Individualität, seine Unfähigkeit betont, wirklich zu einem modernen Staatsbegriff zu gelangen: Deshalb spricht Meinecke u. a. von einer »unstaatlichen Ansicht vom Staate« (ebd., S. 177). Cassirer teilt mit Meinecke die Bewertung Humboldts als Figur des Übergangs und ungelöster Widersprüche, setzt jedoch den Akzent — und dies ist offenkundig die Differenz zu Meinecke und seiner Betrachtung des Staates als Versöhnung von Kraft und Geist — auf die Notwendigkeit einer ethischen ›Transkription‹, d. h. (in neukantischen Termini) einer Orientierung am Noumenon des Rechts und der staatlichen Sphäre. 41 Freiheit und Form, S. 347; ECW 7, S. 364. Zur Fichte-Renaissance, die um seinen 100. Todestag 1914 herum entstand und während der seine Philosophie zu einer ›Philosophie des Weltkrieges‹ wurde, vgl. H. Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland, S. 199–205. Paradigmatisch ist hierfür (obwohl es sich nur um ein Beispiel unter vielen möglichen handelt) der Vortrag Alois Riehls, den er am 23. Oktober 1914 in Berlin gehalten hat: 1813 – Fichte – 1914 (= Deutsche Reden in schwerer Zeit, VII), Berlin 1914; zu Fichte als Prophet des deutschen Volkes, als »Hoffnung der Menschheit« vgl. auch die drei Vorträge Husserls, Fichtes Menscheitsideal, jetzt in E. Husserl, Aufsätze und Vorträge (1911–1921), hg. von Th. Nenon und H. R. Sepp (= Husserliana, XXV), Dordrecht-Boston-Lancaster 1987, S. 267–293, S. 293. Es ist übrigens bezeichnend, daß Cassirer in seiner Antwort an Bauch unterstreicht, daß das »Germanentum« Fichtes der Reden an die deutsche Nation nicht verstanden werden darf als »die Feststellung und Sanktionierung einer einmal gegebenen Volkseigentümlichkeit«, sondern als eine » ›intelligible‹ Aufgabe« (Zum Begriff der Nation, S. 85). 42 Vgl. Freiheit und Form, S. 344; ECW 7, S. 361. 43 Vgl. J. G. Fichte, Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten in Gesamtausgabe, hg. von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, I / 3 (= Werke 1794–1796), hg. von R. Lauth und H. Jacob, Stuttgart-Bad Cannstatt 1966, bes. S. 42–68. 44 Vgl. Freiheit und Form, S. 344 f.; ECW 7, S. 361 f. Für die Fichtestelle s. Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters in Gesamtausgabe, I / 8 (= Werke 1801–1806), hg. von R. Lauth und H. Gliwitzky, Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, S. 309: »Der Zweck des isolirten Individuum ist eigner Genuß; und er gebraucht seine Kräfte, als Mittel
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nicht verborgen geblieben, die sich für das Denken Fichtes ergeben, wenn die ›Deduktion‹ des Rechts in die theoretische Konstruktion der »Wissenschaftslehre« eingeordnet wird, und generell scheint er vor allem die kantischen Aspekte des frühen Fichte zu schätzen (man denke nur an die Interpretation des Gesellschaftsvertrages im Beitrag von 1793, auf den Cassirer sich ausdrücklich bezieht).45 Aber auch beim späten Fichte findet Cassirer eine geistesverwandte Perspektive (wenn auch nicht auf der streng spekulativen Ebene), vor allem hinsichtlich des Ideals des Staates, der die Bildung fördert und den Zwang in ein Erziehungsmittel verwandelt, um das Individuum gänzlich »zur Freiheit« zu erheben.46 Am Grunde der politischen Philosophie Fichtes zeigt sich so stets ein Primat des Willens und des Tuns wirksam, der sich in der Ökonomie von Freiheit und Form als besonders bedeutsam erweist, vor allem weil er nichts anderes als eine deutliche Aufwertung des Sollens in antihegelianischer Funktion impliziert. Die »wahrhafte Realität« werde gerade durch die »unendliche Aufgabe des Sollens« konstituiert. Eine dogmatische Betrachtung des Seins und der Welt – so Cassirer – muß sich nun auflösen.47 Dem genaueren Blick könnte sich hier hinsichtlich der Bedeutung, die Cassirer dem ›progressiven‹ Fichte zuschreibt, eine nicht unwesentliche Abhängigkeit vom Sozialismus neukantischer Prägung von Lange bis Cohen, von Natorp bis zu Max Adler auftun.48 Andererseits scheint Fichte in Freiheit und Form – abgesehen von dem Abstand, den Cassirer, desselben: der Zweck der Gattung ist Cultur, und derselben Bedingung würdige Subsistenz: im Staate gebraucht jeder seine Kräfte unmittelbar gar nicht für den eignen Genuß, sondern für den Zweck der Gattung«. 45 Vgl. Freiheit und Form, S. 339; ECW 7, S. 356 f. 46 Ebd., S. 347; ECW 7, S. 364. 47 Ebd., S. 349; ECW 7, S. 367. Zum zukunftsorientierten Aspekt der Fichteschen Philosophie vgl. Zum Begriff der Nation, S. 86. 48 Von Fichte als erstem Anreger der Diskussion über die »soziale Frage« in Deutschland hatte bereits Lange am Schluß seines Hauptwerkes gesprochen (vgl. F. A. Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, hg. von A. Schmidt, Frankfurt am Main 1974, II, S. 993). Zu Natorp, der von Anfang an in Dialog stand mit diesem Fichte (vgl. N. Jegelka, Paul Natorp, S. 300, Anm. 185, und allgemeiner H. Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland, S. 194–198), genügt es, an ein recht spätes Werk zu erinnern wie Sozialidealismus. Neue Richtlinien sozialer Erziehung, Berlin 1920, mit zahlreichen Bezügen auf Fichte als ›Erzieher‹ und auf die Fichtesche Ethik. Aber auch Cohen vertrat noch in Deutschtum und Judentum, S. 282, daß, auch wenn Fichte vom theoretischen Gesichtspunkt her im Vergleich zu Kant einen Rückschritt darstelle, sein Verdienst nichtsdestotrotz darin bestehe, »daß er den in Kants Ethik latenten Sozialismus zur ausdrücklichen Entfaltung gebracht hat«. Vgl. ferner M. Adler, Fichtes Idee der Nationalerziehung. (Zum hundersten Todestage am 27. Januar 1914), »Der Kampf«, VII, 1913, S. 205–211.
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wie noch gezeigt werden soll, vom ethischen ›Monismus‹ Fichtes hält – den letzten wirklichen Widerstand gegen den Rückschritt des politischen Romantizismus Schellings oder Adam Müllers, der in vieler Hinsicht (wenn auch mit wichtigen Unterschieden) auch für den Hegelschen Begriff des Staates kennzeichnend ist, zu verkörpern.49 Aus den wenigen Seiten, die Cassirer Hegel widmet, geht auch durch die Gegenüberstellung von Fichte und Hegel ein Aspekt klar hervor, auf den das zugrundeliegende Interpretationsschema nicht nur von Freiheit und Form, sondern auch großer Teile der Rekonstruktion der Entwicklungen des nachkantischen Denkens, bezogen ist. Es ist einerseits die Unfähigkeit der Hegelschen Philosophie, zu einer wirklichen Versöhnung von ›Freiheit‹ und ›Form‹ zu gelangen, andererseits die Notwendigkeit, gegenüber dem dialektischen Panlogismus Hegels die Differenz von Sein und Sollen in aller Schärfe geltend zu machen. Denn wenn diese Differenz verschwindet, werden sowohl das Absolute Schellings, das zu einer Annullierung der regulativen Ebene Kants und Fichtes führt, als auch das Hegelsche Absolute, das am Ende die Bewegung die unerschöpfliche Dynamik der Freiheit ›abschließt‹, unvermeidbar. Gerade angesichts des politischen Hegels, der die Geschichte der Philosophie des 19. Jahrhunderts so stark beeinflußt hat, wurde für Cassirer deutlich, mit welcher Vehemenz Cohen in seiner drastischen Ausdrucksweise den »himmelweiten Unterschied« zwischen Kant und Hegel betont und sich gegen die Hegelsche Bestimmung des Verhältnisses zwischen Realem und Rationalem gestellt hat: »Kant würde sagen: was vernünftig ist, das ist nicht wirklich; sondern es soll wirklich werden«.50 Cassirer beruft sich nun auf Fichte und schreibt seinerseits: »Wenn für ihn [ Hegel ] die Vernunft kein bloßes Ideal eines Sollens, sondern die ›unendliche Macht‹ bedeutet, die sich in der Welt des Geschehens offenbart und in ihr nichts anderes als sich selbst offenbart – so wird in dieser Bestimmung, so erhaben sie scheint, doch die schlichte Einsicht verdunkelt, daß das Medium, durch das die Verwirklichung sich vollzieht, lediglich in der sittlichen Arbeit liegt, die die Individuen zu vollziehen haben. Die Kraft, die dieser Arbeit innewohnt, aber wird
49 Zu Schelling und Müller vgl. Freiheit und Form, bes. S. 352 f.; ECW 7, S. 370 f., wo der Akzent, wie vorauszusehen war, auf die Auflösung der Spannung zwischen Realem und Idealem fällt, durch die der Organizismus der Romantik sich auszeichnet. Dieses Bewertungskriterium ist übrigens das Schlüsselmotiv der kritischen Analyse der Philosophie Schellings im Erkenntnisproblem, III, vor allem S. 247 ff.; ECW 4, 237 ff. 50 H. Cohen, Ethik des reinen Willens, S. 331.
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abgestumpft, wenn ihr ein ›absolutes‹ Ergebnis vorgehalten wird, das der ›Weltgeist‹ als solcher in der Geschichte heraufführt.«51 Hegels Konzeption des Staates sei bezüglich der Verwirklichung der Freiheit gescheitert: Denn hier könne es nicht um ein statisches, sondern nur um ein dynamisches Gleichgewicht gehen. Es sei die Aufgabe der Freiheit, der Wirklichkeit zu mißtrauen, mit ihr im Widerstreit zu liegen und die »bestehende Staatsform«52 zu kritisieren. In Wirklichkeit beabsichtigte Cassirer nicht, die so erfolgreiche Floskel zu unterschreiben, die Hegel auf einen Philosophen des preußischen Staates reduzierte, obwohl dieser in gewisser Weise selbst für diese Vereinfachung verantwortlich ist: denn dem Staat einen absoluten Wert zuzusprechen und die Verwirklichung der Vernunft als eine geschlossene Totalität zu konzipieren bedeutet, die Spannung zwischen Sollen und Wirklichkeit, auf die Fichte zu Recht großen Wert legte, auf gefährliche Weise zu reduzieren. In diesem Sinne stellte Cassirer sich durchaus nicht auf die Seite von Meinecke: Die Anerkennung der sittlichen Macht des Staates und die Überwindung einer ›zweigeteilten‹ Welt stellt gegenüber Fichte keinen Fortschritt dar.53 Eher trifft sich Cassirer – gegen Ende der Weimarer Republik sowie im amerikanischen Exil – wieder mit dem Meinecke der Nachkriegszeit, der in der Analyse der ›Staatsraison‹ den großartigen Versuch Hegels, die krude machiavellische Macht in eine moralische Dimension zu heben, als »Legitimierung eines Bastards« bezeichnet hatte.54 Steht diese Einschätzung Meineckes in Zusammenhang mit seiner Desillusionierung gegenüber seinen früheren, konservativen Positionen und dem Vertrauen in die Linie ›von Hegel zu Bismarck‹, so akzentuiert Cassirer seinen Antihegelianismus vor allem in dem Mo-
Freiheit und Form, S. 366; ECW 7, S. 384 f. Ebd., S. 366; ECW 7, S. 385. In der Distanznahme von der Hegelschen Konzeption des Staates scheint Cassirer übrigens nicht unempfänglich gegenüber dem, was Hölderlin Hyperion im Dialog mit Alabanda hat sagen lassen: »Du räumst dem Staate denn doch zu viel Gewalt ein [ ... ] Immerhin hat das den Staat zur Hölle gemacht, daß ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte. Die rauhe Hülse um den Kern des Lebens und nichts weiter ist der Staat.« (F. Hölderlin, Hyperion in Sämtliche Werke, XI, Frankfurter Ausgabe, hg. von D. E. Sattler, Frankfurt am Main 1982, S. 614). Mit dieser These und mit der Differenz zwischen Hölderlin und Hegel bezüglich des Staates beschäftigt sich Cassirer in Hölderlin und der deutsche Idealismus, »Logos«, VII, 1917, S. 262–282, und VIII, 1918, S. 30–49, später in Idee und Gestalt, S. 113–155 (hier S. 153 ff.); ECW 9, S. 346–388; 386 f. 53 Vgl. F. Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, S. 242. 54 Vgl. F. Meinecke, Die Idee der Staatsraison in der neueren Geschichte, hg. von W. Hofer (=Werke, I), München-Wien 41976, S. 411. Auf diese Bemerkung lenkt Cassirer die Aufmerksamkeit in The Myth of the State, S. 122 f. 51
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ment, als die zweite deutsche Katastrophe ihn vor ein noch desolateres »Trümmerfeld« stellte als dasjenige, das Franz Rosenzweig gesehen hatte (ein Schüler Meineckes und leidenschaftlicher Anhänger Cohens, der von diesem Hegel herkam), der 1920 eine tiefgreifende Entmutigung bezüglich der Möglichkeit, noch »deutsche Geschichte«55 schreiben zu können, zum Ausdruck gebracht hatte. Aus diesem Grunde nahm der ›preußische‹ Hegel in The Myth of the State sehr viel mehr Raum ein. Cassirer hob den ›nietzscheanischen‹ Immoralismus hervor, der seine Geschichtsphilosophie beherrsche, und erblickte in ihm die beunruhigende Antizipation des modernen Totalitarismus, wenn auch die idealistische Konzeption des Staates etwas anderes sei als die Idolatrie des Staates. Die Kritik der eigenständigen Funktion der Sittlichkeit und die Verehrung der Macht haben Hegel – nach Cassirer – ein »tragisches Schicksal« beschert. Nichts anderes als die Überzeugung, daß die Göttlichkeit der Idee sich im Staat verkörpert, habe für den Beifall gesorgt, den die reaktionären und imperialistischen Ideologien erhielten.56 Dreißig Jahre nach Freiheit und Form nahmen die Reflexionen Cassirers über die Hegelsche Theorie des Staates notgedrungen einen besonders bitteren Ton an, ganz im Gegensatz zu der zuversichtlichen Perspektive, mit der das Buch von 1916 geschlossen hatte, völlig offen noch für die Hoffnung, daß die Vergangenheit der deutschen Geistesgeschichte sich in eine goethesche »produktive« Energie für die Gegenwart übersetzen lassen könne, in ein lebendiges Erbe für das Deutschtum als »unendliche Aufgabe«.57 Aber auch in den letzten Jahren seines Lebens kehrte Cassirer noch einmal zum »grundlegenden, inneren und unverwischbaren Gegensatz« zwischen Kant und Hegel zurück und blieb so im Grunde stets sich selbst treu.58 3. Wenn noch eine letzte Bestätigung der zentralen Bedeutung Leibnizens im Denken Cassirers erforderlich sein sollte, wären die Abschnitte aus Freiheit und Form, die dem Einfluß der Leibnizschen Philosophie auf die deutsche Kulturgeschichte bis hin zu Goethe gewidmet sind, zweifellos ein obligatorischer Bezugspunkt, zumal sie mit großer Eindringlichkeit die neue geistesgeschichtliche Perspektive dokumentieren, die diese 55 F. Rosenzweig, Hegel und der Staat, München und Berlin 1920 (Nachdruck Aalen 1982), I, S. XII. 56 Vgl. The Myth of the State, S. 263–276. 57 Vgl. Freiheit und Form, S. 367 f.; ECW 7, S. 385 ff. 58 Vgl. Hegel’s Theory of the State in Symbol, Myth, and Culture. Essays and Lectures of Ernst Cassirer 1935–1945, edited by D. Ph. Verene, New Haven and London 1979, S. 109.
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Übergangsphase des Cassirerschen Denkens kennzeichnet. Doch bereits in seinem Frühwerk über Leibniz hatte sich gezeigt, daß Cassirer sich der Bedeutung des vielgestaltigen Leibnizschen Werkes für die deutsche Kultur des 18. Jahrhunderts wohl bewußt war, indem er seine Fruchtbarkeit im Bereich der Ästhetik ebenso wie in der Geschichtsphilosophie aufzeigte: Von Baumgarten bis zu Hegel und Kant gebe es keine Linie, die sich nicht in irgendeiner Weise bis zu Leibniz zurückverfolgen ließe.59 Freiheit und Form hält an dieser ›Genealogie‹ fest, und doch erweitert und kompliziert sich die Perspektive und stellt das Bild des Leibnizschen ›Systems‹ wieder zur Diskussion, das Cassirer zu Beginn des Jahrhunderts als den Inbegriff der ›Grundlegungen‹ der verschiedenen Glieder eines einzigen »geistigen Kosmos« bezeichnet hatte. Nun jedoch schien sich auf der Basis desselben Materials der Schwerpunkt von der scientia generalis und der Dominanz der wissenschaftlichen Erkenntnis zu einer einheitlichen Sichtweise zu verschieben, die ihre Wurzeln hat im »Gesamtleben der Nation, in welchem seit der Epoche der Reformation die Probleme des ›Geistes‹ mit denen der ›Natur‹ in nächster Verknüpfung geblieben waren.«60 In dieser Perspektive, in der die Philosophie Leibnizens an die »allgemeine Geisteskultur« gebunden ist, erscheint nun auch der »Roman eines genialen Mannes« (nach dem berühmten Urteil Friedrichs des Großen über die Monadologie) als ein wirklich authentisches ›Organ‹ der neuen Epoche der deutschen Kultur: »Die Monadenlehre hat zum ersten Male in der Geschichte der neueren Philosophie die Kategorien der seelisch-geistigen Wirklichkeit allgemein bestimmt und von den Kategorien der mathematischen Naturerkenntnis geschieden. Hierin liegt ihr wesentliches Verdienst, das die besondere Gestalt des Leibnizschen Systems weit überdauert hat. Weder Lessing noch Herder noch Goethe sind Anhänger dieses Systems gewesen; aber sie alle verwandten, bewußt oder unbewußt, im Aufbau ihrer Weltbildes Formen, die hier zuerst geprägt worden waren. Leibniz hat nicht nur der deutschen Aufklärung, sondern auch der Epoche der klassischen Literatur und Philosophie gleichsam die Sprache und die geistigen Ausdrucksmittel geschaffen. Das ist die Leistung, die den eigentlichen Weltbegriff seiner Philosophie, im Gegensatz zu ihrem bloßen Schulbegriff, ausmacht und in der sie erst ihre volle geschichtliche Wirkung entfaltet hat.«61
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Vgl. Leibniz’ System, S. 447 ff., 458–472; ECW 1, S. 401 ff., 411–424. Freiheit und Form, S. 34; ECW 7, S. 37. Ebd., S. 40; ECW 7, S. 43.
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In dieser ›epochalen‹ Betrachtung der Leibnizschen Philosophie kommt zugleich eine neue interpretatorische Sensibilität zum Ausdruck, durch die Cassirer dem näher kommt, was einerseits Dilthey, andererseits Troeltsch zu Beginn des Jahrhunderts in zwei Aufsätzen, die Cassirer nicht zufällig in Freiheit und Form zitiert (und von denen er ausgiebig Gebrauch macht) vertreten haben. Leibniz hatte – nach Dilthey – nicht nur ein neues, einheitliches Lebensgefühl und eine Sichtweise der Kultur jenseits der Trennung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zum Ausdruck gebracht, sondern vor allem erstmals den Boden bereitet, auf dem das Denken Lessings, Herders und Goethes sich entfaltet haben, während die westliche Religiosität in der Theodicée den wichtigsten Orientierungspunkt der Epoche zwischen Reformation und Aufklärung gefunden hat.62 Troeltsch seinerseits wandte sich der Leibnizschen Religiosität zu, die er als Parallele zur Entwicklung des Pietismus las, um die grundlegende religiöse Orientierung des Leibnizschen Werkes zu unterstreichen. Er betrachtete Leibniz als Vorläufer Lessings und Kants und den Leibnizschen Idealismus als Ursprung und ersten Impuls der großen Zeit des deutschen Idealismus.63 Dilthey und Troeltsch stellten so ein Leibnizbild vor, das sich von dem vorrangig logisch-erkenntnistheoretischen stark unterschied, welches im Zentrum der Leibniz-Renaissance zu Beginn des Jahrhunderts und der Diskussion zwischen Cassirer, Russell und Couturat stand. Freiheit und Form versuchte nun jedoch eine Synthese auch mit diesem in die geschichtliche Welt vertieften Leibniz und wandte so die Ergebnisse, zu denen Cassirer in Leibniz’ System gekommen war, auf das Thema des »Grundgefühls der modernen Welt« an, das der Leibnizsche Rationalismus interpretierte, ohne die früheren Analyseergebnisse zu revidieren. Es handelte sich nicht um eine Reduktion Leibnizens auf eine metaphysisch-religiöse Perspektive (nach dem Vorschlag von Heinz Heimsoeth), sondern darum, ihn in die große geistige Bewegung einzufügen, die zum Kantischen sapere aude geführt hat, jedoch von Leibniz eingeleitet worden war, indem er die Autonomie der Vernunft gefordert hatte.64 Vgl. W. Dilthey, Leibniz und sein Zeitalter in Gesammelte Schriften, III, Studien zur Geschichte des deutschen Geistes, hg. von P. Ritter, Stuttgart / Göttingen 21959, S. 1–80. 63 Vgl. E. Troeltsch, Leibniz und die Anfänge des Pietismus in Gesammelte Schriften, IV, S. 488–531. 64 Vgl. Freiheit und Form, S. 28; ECW 7, S. 30; zu Leibniz als ›Vater‹ der deutschen Aufklärung vgl. auch Die Philosophie der Aufklärung, S. 160 ff.; zu dieser Interpretationslinie und zu ihren Vorgängern (von Zeller bis Windelband, aber auch von Dilthey bis Troeltsch) s. N. Merker, L’Illuminismo tedesco. Età di Lessing, Bari 21974, 62
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Cassirer spricht übrigens von einem »Pathos der reinen Erkenntnis«, das den reinsten, authentischsten Beitrag des Leibnizschen Denkens ausmache: Dieses Pathos durchdringe selbst den Begriff des Religiösen, und mit seinem »Enthusiasmus des Beweisens« löse er es in einen vernünftigen Optimismus auf, in das einzige »Wunder« der Vernunft, das den Glauben in ein unablässiges »Tun« transformiere, in einen geistigen Aktivismus, der mit einem »neuen Kulturideal« zusammentreffe, indem er jeden lutherischen Dualismus von Weltlichem und Göttlichem überwinde.65 Die »religiöse Energie«, die das Ganze durchdringt, ist jedoch nur der höchste Ausdruck jenes allgemeinen Dynamismus, den Cassirer als Angelpunkt der Leibnizschen Philosophie wählt und kraft dessen Natur und Geist, Äußeres und Inneres, Ich und Welt als ein einziger »Organismus der Vernunft« erscheinen, als ein continuum von Formen, in denen das Leben von einer organischen zu einer freien und bewußten Schöpfung wird, bruchlos und ohne ontologische Hierarchien, die die Einheit des Ganzen in Frage stellen oder der grundlegenden Autonomie des Individuums Gewalt antun.66 Vor allem ein exzessiver metaphysischer Rationalismus, der schließlich einen ›rechnenden‹ Gott konzipiert, welcher die beste der möglichen Welten wählt, sei es, der die Leibnizsche Konstruktion untergrabe, bemerkt Cassirer (wie bereits in Leibniz’ System): Aus dieser substanzialistischen Verhärtung kann nichts anderes als ein »ungelöster Gegensatz« zur Autonomie der geistigen Formen und dem Prinzip der Freiheit resultieren, ein Logizismus, aus dessen Knechtschaft sich die ethischen Postulate nicht mehr freikaufen lassen.67 S. 4 f. Zu Heimsoeth vgl. Leibniz’ Weltanschauung als Ursprung seiner Gedankenwelt. Zum 200. Todestage am 14. November 1916, »Kant-Studien«, XXI, 1917, S. 365–395. Zu den Einwänden, die Heimsoeth im Namen des ontologischen Rationalismus Leibnizens, der »nicht der Erkenntnislehre« als »gesicherten Boden« bedürfe, gegen Cassirer vorbringt, vgl. sein früheres Buch Die Methode der Erkenntnis bei Descartes und Leibniz, II, Leibniz’ Methode der formalen Begründung der Erkenntnislehre und Methodologie, Giessen 1914, bes. S. 196 f., 198, Anm. 1, 298, Anm. 1. Zu Dilthey und Troeltsch als Leibnizinterpreten und zu weiteren Aspekten, die hier nur angedeutet werden konnten, vgl. die grundlegende Studie von D. Mahnke, Leibnizens Synthese von Universalmathematik und Individualmetaphysik, Halle 1925 (Nachdruck Stuttgart-Bad Cannstatt 1964). Er schreibt explizit, daß in Freiheit und Form der Einfluß Troeltschs sichtbar sei (S. 546, Anm. 50). Für Mahnke ist es übrigens eher Freiheit und Form als Leibniz’ System, das den ›wahren‹ Leibniz präsentiert (S. 368). 65 Vgl. Freiheit und Form, S. 28 ff., 53 f.; ECW 7, S. 30 ff., 57 f. S. ebenfalls S. 55; ECW 7, S. 59: »Er [ Leibniz ] faßt das Sein von der Seite des Tuns, und er kennt es nur in der Form des Tuns.« 66 Ebd., S. 42–47; ECW 7, S. 45–51. 67 Ebd., S. 58 ff.; ECW 7, S. 62–65. Vgl. hierzu auch Leibniz’ System, S. 481; ECW 1, S. 432.
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Leibniz hat das folgende Zeitalter weit mehr durch seine Leitgedanken und Probleme als durch ihre ›systematische‹ Form beeinflußt. Über Nebenschauplätze der Leibnizschen Reflexion (wie die Ästhetik und die Geschichtsphilosophie) reichte der Einfluß bis zu Kant und zur ›Morphologie‹ Goethes und formt eine »stetige Linie«, die eine strenge historische »Kontinuität« abbildet.68 In Freiheit und Form wird diese ›Linie‹ vor allem in der »Entdeckung« der ästhetischen Form sichtbar, die nicht nur darin bestehe, daß das Allgemeine sich im Individuellen ausdrücken könne oder daß das Leibnizsche Konzept der Harmonie die Reflexion über das Schöne erschließe, sondern sie die generelle Formgebungsfähigkeit verkörpere, die ›Formung der Form‹ – man ist versucht zu sagen: als ›symbolische Form‹ –, die nicht ausschließlicher Besitz der künstlerischen Schöpfung sei: Sie sei nur ein Modus, in dem die Vernunft sich realisiert.69 Bereits Cohen hatte (in einem zwar nur beschränkt vergleichbaren Kontext) in der Leibnizschen Harmonie, im Ausdruck der Vielfalt in der Einheit, die Wurzel der gesamten deutschen Reflexion über die Ästhetik gesehen; und zumindest in diesem Punkt schien Cassirer sich nicht von seinem Lehrer abzusetzen (auch wenn er die Bedeutung Leibnizens anders akzentuiert).70 Die Aufmerksamkeit Cassirers richtet sich jedoch vor allem auf die in der tieferen Bedeutung der Leibnizschen Harmonie eingeschlossenen Möglichkeiten, die von Gottsched, den ›Schweizern‹ und auch von einem Leibnizianer wie Baumgarten nicht ausgeschöpft worden waren. Baumgarten war noch zu sehr auf die Reduktion der Ästhetik auf eine inferiore Logik fixiert, die jedoch Gefahr läuft, ihre Autonomie zunichte zu machen.71 Bei Leibniz Vgl. Freiheit und Form, S. 50, 63; ECW 7, S. 54, 67. Zu Recht hob Troeltsch in seiner Rezension von Freiheit und Form gerade diesen zentralen Punkt hervor: »Es handelt sich also um eine Formung der Form, der allgemeinen Vernunftform durch die besondere ästhetische Form.« (Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionsphilosophie, S. 698). 70 Vgl. H. Cohen, Kants Begründung der Aesthetik, S. 26–31. Abgesehen von den Betrachtungen, die sich bereits in Leibniz’ System über die Leibnizsche Ästhetik finden (und die, wie wir noch sehen werden, für den Begriff des Symbols eine wichtige Rolle spielen), lohnt es vielleicht, daran zu erinnern, daß Cassirer in seine Edition der Schriften Leibnizens nicht zufällig den Text Von der Weisheit aufgenommen hat (auf den sich auch Cohen in der eben genannten Referenzstelle bezieht), wo Leibniz sich zu dem Gefühl der Lust, der Schönheit, der Perfektion und dem Begriff der Harmonie prägnant äußert (vgl. Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, II, S. 491–496, bes. S. 493 (S. 649–653, 651: »Daraus siehet man nun, wie Glückseligkeit, Lust, Liebe, Vollkommenheit, Wesen, Kraft, Freiheit, Übereinstimmung, Ordnung und Schönheit aneinander verbunden«). 71 Vgl. Freiheit und Form, S. 80; ECW 7, S. 85. Zu Gottsched und den ›Schweizern‹ s. S. 66–74; ECW 7, S. 69–79, und Die Philosophie der Aufklärung, S. 446–453. 68 69
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hingegen steht das Ausdrucksverhältnis im Vordergrund, in dem das Geistige und das Sinnliche, die Seele und der Körper, das Allgemeine und das Individuelle kraft einer ›bildenden Energie‹ eine Vermittlung finden, die jeglichen Dualismus überwindet und aus den sinnlichen Zeichen die Darstellung einer geistigen Form werden läßt; und es ist dieser Weg, auf dem sich nach Cassirer der ›Platonismus‹ Shaftesburys mit der facultas characteristica Meiers, Lessing und später dem jungen Schiller der Philosophischen Briefe trifft.72 Wenn man sich die zahlreichen Passagen, die Cassirer mehr als 15 Jahre später in der Philosophie der Aufklärung diesem Kapitel der deutschen Kultur des 18. Jahrhunderts und der damit verbundenen Entwicklung der Geschichtsphilosophie widmen wird, vergegenwärtigt, ist es nicht schwierig, sich vorzustellen, daß die Kulturgeschichte Cassirers bereits auf der Ebene einer ›historischen‹ Analyse – typisch Cassirerscher Prägung – die begrifflichen Instrumente erprobt, die im Laufe weniger Jahre tatsächlich für die Grundlegung einer wahrhaften und eigenen Kulturphilosophie Verwendung finden sollten.73 Über die Bedeutung der Begriffe ›Form‹, ›Ausdruck‹ (aber auch ›Zeichen‹ und ›Symbol‹) hinaus, zu denen noch einmal zurückzukehren sein wird,74 muß hervorgehoben werden, daß einige der großen, von Cassirer studierten Autoren insofern eine ›symbolische‹ Funktion annehmen, als sie typische Probleme repräsentieren, die sich in die komplexe, durch die Spannung zwischen Freiheit und Form rhythmisierte Bewegung einfügen. Lessing ist in diesem Zusammenhang gewiß eine solche ›symbolische‹ Figur. In ihm spiegelt sich, so Cassirer, »in unvergleichlicher Weise die gesamte Bewegung des Gedankens wieder, aus der der neue Formbegriff hervorgeht«. In seiner Analyse der »Gesetzlichkeit des künstlerischen Schaffens« durchdringen das Problem der Freiheit und das der Form einander nach einer ursprünglichen Regel.75 Nicht so sehr der Lessing des Aufklärungskampfes ist es, der hier die Aufmerksamkeit Cassirers auf sich zieht, sondern der ›leibnizianische‹ Lessing im weiteren Sinne, der von der Einheit von Denken und Fühlen, von Denken und Handeln Vgl. Freiheit und Form, S. 81–91 (hier S. 87); ECW 7, 86–97, 92. Zum Einfluß Leibnizens auf den jungen Schiller s. auch S. 276 f.; ECW 7, S. 283 f. 73 In diesem Sinne ist es falsch, daß Freiheit und Form noch nicht auf die »Wende« der ›Kulturphilosophie‹ hindeutet, was H. Paetzold, Ernst Cassirer, S. 35, vertritt. Solange man den Begriff ›Wende‹ nicht als Umkehrung versteht, ist es evident, daß Cassirer in der deutschen Geistesgeschichte die Probleme verfolgt, die einer nicht rein historischen und genuin kulturellen Interpretation fähig sind. 74 S. unten S. 163–182. 75 Vgl. Freiheit und Form, S. 93; ECW 7, S. 99. 72
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ausgeht, folglich vom ›Weltbegriff‹ der Leibnizschen Philosophie.76 Und das bedeutet für Cassirer, entgegen der klassizistisch verstandenen Regel, »ein inneres Formgesetz, das mit dem Kunstwerk selbst entsteht und sich in ihm expliziert«, auszumachen und zur zentralen Bedeutung der Handlung auch für den Begriff der Kunst zurückzukehren.77 Etwas ähnliches läßt sich auch von Herder sagen, wenn man im Blick behält, daß Cassirer – lange vor seinen späten Beiträgen zur Geschichtsphilosophie oder dem zu Recht berühmten Kapitel zur historischen Erkenntnis der Philosophie der Aufklärung – ein verstärktes Interesse an der Bestimmung der Kategorien des historischen Verständnisses zeigt. Herder entwickelt diese Kategorien, indem er das Leibnizsche Erbe des Dynamismus und des Wertes des Individuellen mit einer Kritik des von der aufklärerischen Kultur hochgeschätzten universalistischen Modells kombiniert.78 Noch einmal geht es um das Problem, wie die dynamisch und organisch verstandene Form sich im Individuellen zeigt, wie die bildende Energie des Individuums sich als Monade gestaltet, jedoch nun in dem umfassenderen Leben der Geschichte und vor allem im Lichte eines »Geltungsgebietes«, das dem principium individui eine »neue Bedeutung« verleiht.79 Die konstante Ausrichtung auf das Individuelle und seine Erhebung zu einer Form stellt in der Cassirerschen Rekonstruktion den roten Faden dar, der, diverse Momente miteinander verbindend, im Grunde ein einziges Problem aufwirft. Aber gerade der Problemstatus (es stellt keine bereits gefundene Lösung dar) macht – nach einer typischen, bereits im Erkenntnisproblem ausgiebig erprobten Gedankenbewegung – eine wei76
Ebd., S. 96; ECW 7, S. 102. Zur Bedeutung Leibnizens für Lessing vgl. auch Cassirers sehr viel spätere Schrift Die Idee der Religion bei Lessing und Mendelssohn in Festgabe zum zehnjährigen Bestehen der Akademie für die Wissenschaft des Judentums, Berlin 1929, S. 24 f. 77 Freiheit und Form, S. 101; ECW 7, S. 107 f. 78 Ebd., S. 116–119; ECW 7, S. 123–128. 79 Ebd., S. 123 f.; ECW 7, S. 131. Die Bedeutung der Leibnizschen Metaphysik für die Erforschung der geschichtlichen Welt ist auch in Philosophie der Aufklärung, S. 306, unterstrichen worden; vgl. aber auch Descartes, Leibniz and Vico in Symbol, Myth, and Culture, S. 95–107. Zu Herder als »Kopernikus der Geschichte« s. außerdem Das Erkenntnisproblem, IV, S. 225–232; ECW 5, S. 254–262, und den kurzen Text aus dem Jahre 1941, veröffentlicht in E. Cassirer, L’idée de l’histoire. Les inédits de Yale et autres écrits d’exil, présentation, traduction et notes par F. Capeillères, Paris 1989, S. 121–128 (mit dem Vorwurf an Kant »den Verdiensten Herders nicht gerecht geworden« zu sein). Zu erinnern sei ebenfalls, daß die Interpretation Cassirers von Freiheit und Form bis zu seinem Aufklärungsbuch ›Schule‹ gemacht hat: Man denke nur daran (und dies ist ein sehr instruktives Beispiel) was Meinecke – wenn auch unter einer anderen Perspektive – 1936 über Leibniz und Herder schreiben wird: Die Entstehung des Historismus, hg. von C. Hinrichs (= Werke, III), München 1959, S. 27–45, 355–444.
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tere Synthese und Vermittlung erforderlich. Der Fokussierung des Individuellen muß in Tat eine parallele Ausrichtung auf das Typische korrespondieren: Eine Form ist nur dann eine wirkliche Form, wenn sie auch eine Gestalt, eine Struktur hat, in der die Freiheit der Kreativität sich mit dem dynamischen Zusammenhang versöhnt, der das Mannigfaltige koordiniert und organisiert. Historisch und vom Gesichtspunkt der Entwicklung der Ästhetik aus betrachtet, kommt diese zweite Forderung vor allem bei dem ›platonischen‹ Winckelmann zum Ausdruck;80 aber auch über Winckelmann hinaus ist die Frage, ob das Typische und das Individuelle in einer wechselseitigen Vermittlung zusammen bestehen können und, allgemeiner, ob Form und Freiheit danach streben können, ihre ursprüngliche Opposition aufzulösen, der Punkt, an dem die Analysen von Freiheit und Form zusammenlaufen: der Punkt also, an dem einerseits Kant, andererseits Goethe und beide vereint in dem neuen Problem, das sie repräsentieren – ›Kant‹ und ›Goethe‹ – die bei Leibniz beginnende »Gesamtlinie der deutschen Geistesentwicklung« beenden werden.81 4. 1907 hatte Cassirer den zweiten Band des Erkenntnisproblems damit beendet, daß er unterstrich, das Problem des Dinges an sich und, allgemeiner gesagt, das der Grenzen der Erfahrung finde seine wirkliche Explikation nur jenseits der »reinen theoretischen Betrachtung«, d. h. in der ethischen Dimension, in der der Eingang neuer Bewertungskriterien den Gegensatz von Kausalität und Freiheit aufzulösen gestatte. Auf dieser umfassenderen Ebene zeige sich die kritische Philosophie nun in ihrer wahren Natur als »Philosophie der Freiheit«, für die die Erkenntnis und die Sittlichkeit niemals auf eine externe Bedingtheit zurückzuführen seien, sondern in sich selbst, in ihrem eigenen autonomen Gesetz, ihr einziges wahrhaftes Fundament finden.82 Dieser Interpretationsperspektive, deren vielzählige Ähnlichkeiten mit derjenigen Cohens analytisch aufgezeigt werden könnten, blieb Cassirer lange treu;83 doch gerade von Freiheit und Form an setzt auch eine Art ›Befreiung‹ vom Marburger Kant ein, von dem Cassirer zwar viele, auch grundlegende Elemente bewahrt, sie aber in einem ›Ganzen‹ neu organisiert, das bereits wesentlich sein eigenes ist.84 Der Ansatz von Vgl. Freiheit und Form, S. 127–139; ECW 7, S. 135–148. Ebd., S. XIV f.; ECW 7, S. 392. 82 Vgl. Erkenntnisproblem, II, S. 759–763; ECW 3, S. 635–638. 83 Eine solche Nähe ist besonders evident in dem Aufsatz Cassirers von 1912, Hermann Cohen und die Erneuerung der Kantischen Philosophie, bes. S. 264–271; ECW 9, S. 130–136. 84 Für eine generelle Einordnung dieses Aspekts vgl. G. Gigliotti, Libertà e forma, S. 92 f. 80 81
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Freiheit und Form führte Cassirer schließlich dazu, den Zusammenhang zwischen Kant und der deutschen Kultur seiner Epoche, den bereits Cohen in verschiedenen Richtungen sondiert hatte, zu erweitern und zu vertiefen; dennoch handelte es sich im Unterschied zu Cohen nicht um eine ›historische‹ Einführung in das ›System‹ des Kritizismus, sondern um eine engere Verbindung und sogar um eine ›prästabilierte Harmonie‹ zwischen der Vernunftkritik und der in der Epoche der Klassik kulminierenden Geistesgeschichte: »In dem abstrakten Schema der Vernunftkritik fand die Zeit die Probleme benannt und gedeutet, mit denen sie in ihrem geistigen Dasein, sich selbst unbewußt, seit langem gerungen hatte. Die Form der kritischen Philosophie wurde ihr unmittelbar zum Ausdruck ihrer eigenen Lebensform. Niemals zuvor hatte die deutsche Geistesgeschichte diese Verknüpfung gekannt. Denn in Leibniz’ Geiste bestand zwar das Bewußtsein eines derartigen innerlichen Zusammenhanges, aber es blieb auf ihn selbst beschränkt, ohne sich seiner Zeit mitzuteilen. Mit Kant erst wird der ›Schulbegriff‹ der deutschen Philosophie wieder zum wahren ›Weltbegriff‹: Vom Mittelpunkt des reinen Denkens aus vollzieht sich eine neue Orientierung über die Gesamtheit der geistigen Wirklichkeit. Die logische Systematik weitet und vollendet sich zu einer allgemeinen Systematik des Kulturbewußtseins.«85 Die kritische Philosophie als Selbstbewußtsein und metatheoretische Reflexion über die (deutsche) Kultur, als Explikation ihrer latenten Voraussetzungen behält so für Cassirer 1916 das methodische Profil der Marburger Transzendentalphilosophie, wird jedoch zugleich stärker auf die Kultur hin orientiert, indem sie nicht nur an die objektivierten ›Fakten‹, sondern an das ›Tun‹ gebunden wird, dessen Ausdruck die geistige Kultur des Menschen ist. Dieser Vorrang des Tuns, des Handelns, des Schaffens durch Formen und formende Kräfte86 verschiebt folglich das Gravitationszentrum des Kantischen Kritizismus von der Kritik der Erkenntnis zur Spontaneität und Autonomie des Geistes. Die Erkenntnis ist nur eine mögliche Richtung dieser Spontaneität, und es ist die Kantische Lehre der Freiheit (»der Punkt, von dem aus auf das Ganze seiner Philosophie wie auf das Ganze der deutschen Bildung ein neues Licht fällt«)87, die es für Cassirer nun erforderlich macht, die historische Funktion des Kritizismus neu zu überdenken. Nicht umsonst schließlich wird die reifere Frucht dieser Anstrengung wenig später die Interpretation 85 86 87
Freiheit und Form, S. 142; ECW 7, S. 151. Ebd., S. 153; ECW 7, S. 162. Ebd., S. 143; ECW 7, S. 152.
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der Kritik der Urteilskraft in der Kantmonographie von 1918 sein, die den krönenden Abschluß des Weges bilden wird, der bei Freiheit und Form seinen Ausgang nimmt. Es resultiert daraus aber auch eine weitere Öffnung zu einer neuen Synthese von Natur und Kultur, von Individuellem und Allgemeinem, deren Wurzeln ideell zwischen Leibniz und Goethe verortet werden und deren tieferen Einfluß Cassirer in der Goetheschen Reflexion über die Morphologie und in der Ästhetik Schillers aufzeigt.88 Doch bereits in dem Buch von 1916 ist die Umstellung, die Cassirer vornimmt, indem er der Darstellung bzw. Interpretation der Kritik der reinen Vernunft diejenige der Kantischen Ethik voranstellt, signifikant. Die Autonomie und die Ursprünglichkeit der Vernunft bilden in diesem Profil eine Art gemeinsame Wurzel – oder Form – der unterschiedlichen Richtungen des Apriori, oder, wie Cassirer sagt, »Denken und Tun hängen in der reinen Spontaneität zusammen und weisen auf sie als ihre tiefste Wurzel zurück.«89 In der wechselseitigen Bedingtheit der Autonomie des Willens und des Gedankens, auf die Cassirer sich nicht zufällig häufig beruft,90 geht es nicht mehr darum, ein ›Gleichgewicht‹ zwischen ›Gliedern‹ eines ›Systems‹ herzustellen, sondern darum, in allen Kräften jenes Selbstverständnis der Vernunft zur Geltung zu bringen, das in der autonomen Form des Willens ohne irgendeine sinnliche Vermittlung besteht und damit quasi das Urbild der Vernunft darstellt.91 Aus diesem Grunde unterstreicht Cassirer im Namen des bereits erwähnten Primats des »Tuns« mit einer deutlich ›aktivistischen‹ Akzentuierung der ›Kopernikanischen Revolution‹, daß der Begriff der Freiheit nicht den Abschluß des Kantischen Systems darstelle, sondern seinen »Anfang und Ursprung«.92 Die Anerkennung des Primats der praktischen Vernunft in dieser besonderen Ausprägung impliziert von dem Moment an, in dem sich
Ebd., S. 170; ECW 7, S. 179 f. Zur Cassirerschen Interpretation der Kritik der Urteilskraft s. ausführlicher unten, S. 73–98. 89 Ebd., S. 167; ECW 7, S. 176. Cassirer fährt fort: »Die Notwendigkeit des Logischen wie die des Praktischen wird in einer ursprünglichen Selbstbestimmung der Vernunft gegründet. Alle Geformtheit – in welchem Gebiet sie uns immer entgegentritt – hat in einem ›Aktus der Spontaneität‹ ihren Ursprung. Alles Verbundene muß auf die Handlung des Verbindens, alle inhaltliche Struktur des Bewußtseins muß auf das reine Tun zurückgeführt werden.« Zur »genauesten Analogie« zwischen Gesetzlichkeit der Erkenntnis und ethischer Gesetzlichkeit vgl. auch Kants Leben und Lehre, S. 255; ECW 8, S. 231. 90 Vgl. Freiheit und Form, S. 157, 170; ECW 7, S. 166, 179 f. 91 Vgl. in diesem Sinne Kants Leben und Lehre, S. 263; ECW 8, S. 238. 92 Freiheit und Form, S. 156 f.; ECW 7, S. 165 f. 88
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für Cassirer die Funktion des Apriori vor allem mit der »Gesetzlichkeit des kulturellen Bewußtseins«93 verbindet, die Loslösung des ethischen Apriori aus der Verankerung in der Rechtswissenschaft, auf die die Cohensche Interpretation sich stützte. Dennoch existieren in diesem bereits stark veränderten Rahmen immer noch einige Schlüsselelemente des Marburger Kant fort. Dies gilt vor allem für die vermeintliche ›Leere‹ des moralischen Formalismus Kants, der in Wirklichkeit in einen bestimmten Gehalt umschlägt, wenn man in Rechnung stellt, daß das Subjekt, für das die gesetzliche Bestimmung gelten soll, der Mensch ist, dessen Begriff auf das Reich der Zwecke projiziert wird, auf die Realisierung der eigenen moralischen Persönlichkeit.94 Diese teleologische Orientierung – die »Autotelie«, von der Cohen sprach95 – bringt zugleich die Überwindung der ›dinglichen‹ Konzeption der noumenalen Ebene und die Transformation der transzendentalen Freiheit von einem intelligiblen Substrat oder Zustand in eine bloß regulative Idee mit sich, und das heißt in eine unendliche Aufgabe: »[ D ]ie Freiheit folgt nicht aus dem intelligiblen Substrat, sondern setzt und begründet, als ein erstes, durch sich selbst gewisses Datum erst dieses Sein selbst«.96 Auch hier hat man es also nicht mit Objekten, sondern mit dem Problem der Objektivität zu tun; und es ist die eigentümliche Objektivität des moralischen Gesetzes, die im Sollen besteht, in der Gesetzlichkeit des reinen Willens als spezifischer Gesetzlichkeit des sittlichen »Tuns«.97 Aber gerade weil auch auf diesem Gebiet der Bezugspunkt nie das Erzeugte, sondern die Erzeugungsbedingungen sind (das Wollen und nicht das Objekt des Willens), ist das ›Reich der Zwecke‹ gerade keine zweite ›Natur‹, die derjenigen, die Objekt der wissenschaftlichen Erkenntnis ist, an die Seite gestellt werden kann, sondern »ein neuer Gesichtspunkt«, eine weitere Richtung der Gesetzlichkeit der Vernunft.98 G. Gigliotti, Libertà e forma, S. 105. Vgl. Freiheit und Form, S. 147 f.; ECW 7, S. 156 f. 95 Vgl. H. Cohen, Kants Begründung der Ethik, S. 270. Cassirer kommentiert in Hermann Cohen und die Erneuerung der Kantischen Philosophie, S. 269; ECW 9, S. 135: »Ethisch selbständig und wertvoll ist nur dasjenige Handeln, das auf die Realisierung einer Gemeinschaft gerichtet ist, in welcher das einzelne Individuum, das ihr zugehört, ›jederzeit zugleich auch Zweck, niemals bloßes Mittel‹ ist.« 96 Freiheit und Form, S. 152; ECW 7, S. 161. Zur Interpretation des Noumenons als Grenzbegriff im reinen Marburger Sinne vgl. vor allem Kants Leben und Lehre, S. 230 f., 275; ECW 8, S. 209, 248 f., wo Cassirer die unheilvollen Konsequenzen hervorhebt, die die »Dunkelheit« Kants diesbezüglich für das Verständnis und die Entwicklung der kritischen Philosophie gehabt hat. 97 Vgl. Freiheit und Form, S. 148 f.; ECW 7, S. 157. 98 Ebd., S. 154; ECW 7, S. 163. 93 94
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Im Gegensatz zu manchen Interpretationen ›überlebt‹ in Freiheit und Form nicht nur ein Restbestand des ursprünglichen Neukantianismus Cassirers, sondern es kommt hier (und das macht die These einer späten ethischen Wende außerordentlich fraglich) die Cassirersche Interpretation der Kantischen Ethik zum Abschluß. Zudem gehen auch die Texte, die oft als Belege für sein ›verspätetes‹ Interesse an den ethischen Problemen angeführt werden – seien es die abschließenden Betrachtungen des Buches von 1937 über die Quantenmechanik oder die Axel Hägerström gewidmete Untersuchung von 1939 –, nicht über die Ergebnisse der Veröffentlichungen des Zeitraumes von 1916 bis 1918 hinaus.99 Es ist vor allem die ›aktivistische‹ Sprache, die den charakteristischen Einsatz besonders von Freiheit und Form ausmacht und die gelegentlich an Fichte denken läßt, jenen Fichte, der – wie bereits gezeigt wurde – eine nicht unbeträchtliche Anziehungskraft auf die Cassirersche Betrachtungsweise der »Idee des Staates« ausgeübt hat. Die Bedeutung dieser Fichteschen Komponente muß jedoch mit Vorsicht betrachtet werden. Denn unkritisch angenommen, könnte sie den Cassirerschen Begriff des Apriori massiv bedrohen. Und so ertönt hier – abermals typisch marburgisch – die Mahnung, vor dem Rückfall in einen »ethischen Monismus«100 auf der Hut zu sein. Dieser nämlich würde die Unterscheidung von Sein und Sollen annullieren und die Freiheit des Geistes selbst unbestimmt lassen.101 Der Fehler, den Cassirer bei Fichte ausmacht, ist ein Fehler Vgl. E. Cassirer, Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik, Göteborg, Högskolas Ärsskrift, 1937, das hier nach dem Nachdruck in Zur modernen Physik, Darmstadt 61987, S. 362 ff., zitiert wird. In dem der »modernen Philosophie« gewidmeten Kapitel von Axel Hägerström. Eine Studie zur schwedischen Philosophie der Gegenwart, Göteborg, Högskolas Ärsskrift, 1939, S. 56–83, bekräftigt Cassirer übrigens – gegen eine von Hägerström vertretene Form von ›Emotivismus‹ – den in funktionalem Sinne objektiven Charakter der Moral: »Die Frage ist, ob es auch im Gebiet des Willens jene Möglichkeit der Einheitssetzung gibt, die für alle theoretische Erfahrung die eigentliche, konstitutive Voraussetzung bildet.« (S. 75) Und er fügt hinzu (nachdem er cohenianisch die Ethik zur »Lehre vom Menschen« bestimmt hat): »Die Idee einer ›Einheit des Willens‹ bezeichnet freilich nichts, was unmittelbar verwirklicht ist; sie ist gewissermassen nur der ›unendlich-ferne Punkt‹, auf den wir die Rechtserfahrung und die soziale Erfahrung beziehen.« (S. 79) Zur vorgeblich ›ethischen Wende‹ vgl. H. Paetzold, Ernst Cassirer, S. 161 ff., (der seinerseits die von J. M. Krois, Ernst Cassirer: Symbolic Forms and History, S. 152 ff. mit mehr Fingerspitzengefühl vertretene These wiederholt). 100 Das Erkenntnisproblem, III, S. 197; ECW 4, S. 190. 101 Wie Cassirer in seinem Kantbuch bemerkt, können die »ethische Zukunft« Fichtes und Schillers und die Überzeugung, daß nur das »Tun« Licht auf die theoretische Aktivität werfen kann, nicht dazu führen, die »Unterscheidung« – den Dualismus – zwischen Idee und Erfahrung, zwischen Sein und Sollen vergessen zu machen (vgl. Kants Leben und Lehre, S. 274, 280, 286; ECW 8, S. 248, 253, 258. Zu 99
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theoretischer Natur, durch den schließlich die ethische Dimension selbst auf dem Spiel steht. Er besteht darin, diese Unterscheidung nicht berücksichtigt zu haben. Das Resultat ist schließlich eine Logifizierung der Ethik und eine Ethisierung der Logik, mit dem paradoxen Ergebnis, am Ende den focus imaginarius, auf den hin die Erfahrung sich orientieren muß, zu einem Objekt verkehrt zu haben, zu einem Absoluten, von dem der Sinn der Erfahrung ausstrahlt.102 Trotz fichtescher ›Einfärbungen‹ bleibt Cassirer in Freiheit und Form daher vollständig der Perspektive Kants verpflichtet: Anstatt sich den Lösungen des nachkantischen Idealismus anzunähern, müsse man stets zum ursprünglichen Ansatz zurückkehren, der zwar ergänzt, jedoch nicht ›überwunden‹ werden könne. Und auch aus diesem Grunde bleibt die Schillerlektüre Cassirers der Polemik Cohens gegen eine »bequeme Verhältnisbestimmung zwischen Kant und Schiller« eingedenk und unterstreicht, daß Schillers Position – die Projektion des Ethischen auf das Ästhetische – weder eine ›Verweichlichung der Ethik durch die Ästhetik‹ sei noch notwendigerweise bei Fichte einmünden müsse, sondern vor allem gegen jede ›monistische‹ Gefahr an der Kantischen Forderung der Unterscheidung festhalte.103 Diese Interpretation konnte niemanden zufriedenstellen, der – wie Richard Kroner in seinem berühmten Buch – vor allem darauf aus war, die Vorwärtsbewegung und ›Überwindung‹ von Kant zu Schiller, von Schiller zu Fichte und weiter zu Schelling zu verfolgen.104 Cassirer jedoch war überzeugt, daß sich eine andere ›Bewegung‹ aufzeigen lasse und daß auch die unverzichtbaren historischen Belege hierfür nicht fehlen. Dies zeigt das Beispiel Heinrich von Kleists, dieser »Unterscheidung« vgl. auch H. Cohen, Ethik des reinen Willens, S. 83: »[ ... ] erst Sein, dann Sollen; nicht erst Sollen, dann Sein. Aber auch nicht etwa Sein allein; so wenig als Sollen allein. Logik und Ethik gehören von Anfang an zusammen.« 102 Das Erkenntnisproblem, III, S. 208; ECW 4, S. 200. Zu dieser Fichteschen Verkehrung des Verhältnisses zwischen Erfahrung und regulativer Ebene vgl. die ausführliche Diskussion Cohens in Kants Begründung der Ethik, S. 288–306. 103 Vgl. Die Methodik des Idealismus in Schillers philosophischen Schriften in Idee und Gestalt, S. 81–111; ECW 9, S. 316–346, und Freiheit und Form, S. 295–302; ECW 7, S. 311–318. Die Bemerkung Cohens findet sich in Kants Begründung der Ethik, S. 326; die ausführlichste Diskussion der traditionellen Gegenüberstellung Kant-Schiller aus marburgischer Sicht findet sich bei K. Vorländer, Kant-Schiller-Goethe, Leipzig 21923, S. 55–118. Die Rezeption Schillers im Neukantianismus, zumindest von Lange an, verdiente eine detailliertere Untersuchung und würde ein eigenes Kapitel zur Interpretation der Geistesgeschichte ausmachen, deren Erbe und Erneuerer zugleich Cassirer war. 104 Vgl. R. Kroner, Von Kant bis Hegel, Tübingen 1921–1924 (hier zitiert nach dem Nachdruck von 1961), II, S. 49 f., Anm. 1 (mit Bezug auf den Schiller-Aufsatz von Cassirer in Idee und Gestalt).
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dessen Weg von der Bestimmung des Menschen Fichtes bis zur eindeutig von Kant geprägter Ethik im Prinzen von Homburg in Cassirers Augen eine ausgesprochen emblematische Bedeutung hat.105 Offenkundig handelt es sich weder bei Kleist noch bei Schiller, Goethe oder Humboldt um eine Adaption des ›Schulbegriffs‹ der Kantischen Lehre. Vor allem ihre Entwicklung zu einer »lebendigen geistigen Macht«, wodurch sie »unmittelbar und konkret in das Leben der Nation« eingreifen konnte, stellte für Cassirer den obligatorischen Bezugspunkt dar; und ein solcher sollte sie bleiben, auch als eine andere große »Macht« bereits auf die Bühne der deutschen Geistesgeschichte getreten war – diejenige Goethes.106 5. »Wir wären heute nicht das, was wir sind, ohne Goethe«. Diese Formulierung Meineckes, mit der das große Kapitel über Goethe in der Entstehung des Historismus beginnt, könnte ohne Schwierigkeiten auch Cassirer zugeschrieben werden.107 Vor allem jedoch wäre Cassirer nicht der, ›der er ist‹, wenn sein langes, ununterbrochenes Verhältnis zu Goethe ihn nicht so weit beeinflußt hätte, daß sein ›Stil‹ zu denken und derjenige Goethes – zumindest von einem bestimmten Moment an – ununterscheidbar geworden wären und somit, um es mit Goethe zu sagen, nicht einfache »Nachahmung«, auch nicht »Manier«, sondern eben gerade »Stil« geworden wäre.108 In diesem Sinne ist leicht verständlich, warum Cassirer – von Freiheit und Form an bis in die letzte Phase seines Lebens – nicht nur stets auf das Werk Goethes zurückgekommen ist, sondern häufig sozusagen ›durch Goethe‹ gesprochen hat, und dies in einer Weise, die dem Hilfsmittel nicht unähnlich ist, das Thomas Mann in Lotte in Weimar glänzend zur Anwendung bringt – ein Buch, über das Cassirer nicht zufällig 1945 einen beeindruckenden und einzigartig sympathetischen Aufsatz schreiben wird.109
Vgl. Heinrich von Kleist und die Kantische Philosophie in Idee und Gestalt, S. 157– 202 (bes. S. 166–178, 196, 200, 202); ECW 9, S. 389–435, 396–409, 428, 432, 434 f. 106 Vgl. Kants Leben und Lehre, S. 288; ECW 8, S. 260, und für das vorige Heinrich von Kleist und die Kantische Philosophie, S. 202; ECW 9, S. 434 f. Zum Bild der Philosophie Kants, die mit den Problemen und dem Geist seiner Zeit verwoben ist, s. die schöne Studie W. von Humboldts, Über Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung in Werke, hg. von A. Flitner und K. Giel, II, Schriften zur Altertumskunde und Ästhetik. Die Vasken, Darmstadt 41986, S. 375–378, (das auch Cassirer vor Augen hatte). 107 Vgl. F. Meinecke, Die Entstehung des Historismus, S. 445. 108 J. W. Goethe, Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil in Werke, XII, S. 30– 34 (und vgl. Freiheit und Form, S. 196; ECW 7, S. 208 f.; es handelt sich um einen Text, auf den Cassirer sich häufig, auch an anderer Stelle, bezieht.) 109 Vgl. Thomas Manns Goethe-Bild. Eine Studie über »Lotte in Weimar«, »The Ger105
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Zweifellos müßte die komplexe Beziehung Cassirers zu Goethe – zu der es leider, trotz der verbreiteten Anerkennung ihrer Bedeutung, kaum bedeutende Arbeiten gibt – in einen größeren Kontext eingeordnet werden, der nicht nur Cassirer in den Blick nähme, sondern allgemeiner das Zurück zu Goethe. Eine Rückkehr zu Goethe forderte seinerzeit auch Simmel und war damit charakteristisch für die Goetherezeption in der Philosophie um die Wende zum 20. Jahrhundert, vor allem im Neukantianismus und in der Lebensphilosophie.110 Es war eine ›kulturelle Atmosphäre‹, die Cassirer in einem späten (unveröffentlichten) Text, den er 1940 in Schweden über den jungen Goethe geschrieben hatte, einfing. In diesem Text kommt Cassirer kurz sowohl auf die Erschöpfung der Goethephilologie (mit ihren Verdiensten, aber auch mit ihren Abnutzungserscheinungen), die bis zum Ende des vergangenen Jahrhunderts vorgeherrscht hatte, zu sprechen als auch auf die neuen Impulse, die sie durch die 1887 begonnene Veröffentlichung der großen Weimarer Sophien-Ausgabe erhalten hatte. Diese Ausgabe hatte Cassirer als Hochzeitsgeschenk bekommen, und sie begleitete ihn auf seiner gesamten intellektuellen Odyssee als Wahrzeichen der goetheschen Bildung und ständige Lichtquelle auch in den dunklen Jahren des Exils.111 In diesem Dialog nun mit Goethe ist es nicht schwierig, die eine oder andere Ähnlichkeit mit dem, was – um nur zwei signifikante Namen zu nennen – Dilthey und Simmel über das Werk Goethes geschrieben haben, zu entdecken, um die Einordnung Cassirers in die Interpretationslinie, die von Dilman Review«, XX, 1945, S. 166–194, nun auch in Geist und Leben. Schriften zu den Lebensordnungen von Natur und Kunst, Geschichte und Sprache, hg. von E. W. Orth, Leipzig 1993, S. 123–165. 110 Vgl. G. Simmel, Kant und Goethe. Zur Geschichte der modernen Weltanschauung, Leipzig 31916, S. 22. Zur generellen Einordnung der Goethe-Rezeption im frühen 20. Jahrhundert ist immer noch sehr nützlich H. Kindermann, Das Goethebild des 20. Jahrhunderts, Darmstadt 21966, vgl. auch K. R. Mandelkow, Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers, München 1980. Zu Cassirer und Goethe vgl. J. M. Krois, Cassirer: Symbolic Forms and History, S. 176–180, und die ausführliche Einführung Renato Pettoellos in E. Cassirer, Goethe e il mondo storico. Tre saggi, ital. Übers. von R. Pettoello, Brescia 1995, S. 7–44. Von besonderer Bedeutung sind die Arbeiten zu Cassirer und Goethe von J. M. Krois, Y. Mori, H. G. Dosch, B. Naumann und Th. Knoppe in Kulturkritik nach Ernst Cassirer, hg. von E. Rudolph und B.O. Küppers, Hamburg 1995, S. 297–408. 111 Vgl. E. Cassirer, Der junge Goethe, S. 2 ff. (es handelt sich um ein Typoskript mit dem Datum Göteborg, 2. Oktober 1940, das in der Beinecke Rare Books and Manuscripts Library der Yale University unter der Signatur Ms. 204, Box 41, Folder 807 verwahrt wird). Vgl. auch T. Cassirer, Mein Leben mit Ernst Cassirer, S. 84 ff.; zu erwähnen ist ein Manuskript von circa 500 Seiten mit dem Titel Goethe’s geistige Leistung, das eine Reihe von Vorträgen aus Lund, 1941, enthält. Es wurde 1991 gefunden und wird im Band XI der Nachlaß-Ausgabe Cassirers veröffentlicht.
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theys Das Erlebnis und die Dichtung zum Buch Simmels von 1913 reicht, plausibel zu machen. Nicht umsonst bezieht sich Cassirer in Freiheit und Form ausdrücklich auf beide, während ansonsten Verweise auf Literatur zu Goethe selten sind.112 Andererseits muß unterstrichen werden, daß sich die Goethelektüre Cassirers von der Diltheyschen und Simmelschen unterscheidet (und noch offenkundiger von den mit irrationalistischen Motiven Nietzsches und Stefan Georges versetzten ›neoromantischen‹ oder ›ästhetisierenden‹ Lektüren), sei es, weil Goethe deutlich – jenseits aller ›metaphysischer‹ Isolierung – in die »geistig-geschichtliche Atmosphäre« der »Bildungsgeschichte des 18. Jahrhunderts« eingegliedert wird,113 sei es vor allem, weil Cassirer stets der Kontinuitätslinie KantSchiller-Goethe treu blieb, die bereits für den Marburger Neukantianismus einen Fixpunkt darstellte.114 Es ist interessant zu beobachten, wie das von Dilthey hervorgehobene Thema des Verhältnisses von Leben und Dichtung bei Goethe – Dichtung als »Ausdruck des Erlebens« und das Verständnis des Lebens im Ausgang vom Leben selbst in seiner Fülle und Harmonie115 – bei Cassirer eine andere Färbung erhält. Für ihn gründen Leben und Werk in einer Einheit. Vor allem jedoch wird in der Objektivierung der Dichtung der »innere Prozeß« enthüllt, dessen Resultat das Lebens ist.116 Um es mit Vgl. Freiheit und Form, S. 229, 249; ECW 7, S. 243, 264. Zu Dilthey vgl. natürlich den Aufsatz über Goethe und die dichterische Phantasie, enthalten in Das Erlebnis und die Dichtung, Göttingen 151970, S. 124–186 (1. Aufl. 1905); zu Simmel vgl. Goethe, Leipzig 21917. Eine erste Diskussion dieser Beiträge und derjenigen Cassirers findet sich in H. Kindermann, Das Goethebild des 20. Jahrhunderts, S. 60–64, 79–84, 178, 209–211 (s. auch S. 89–96 zu Gundolfs Goethe, das 1916 zeitgleich mit Freiheit und Form erschien). Ein Hinweis (wirklich nur ein Hinweis) auf Gundolf findet sich in dem Aufsatz Cassirers zu Goethes Pandora (enthalten in Idee und Gestalt, S. 10; ECW 9, S. 244). Von einem gewissem Interesse sind darüber hinaus die Briefe Gundolfs an Cassirer, die zum Teil bereits erwähnt wurden, aus denen ein starkes Interesse Gundolfs an den Cassirerschen Goethe-Arbeiten und sogar die Überzeugung einer wesentlichen Übereinstimmung zwischen den beiden Interpretationen hervorgeht. 113 E. Cassirer, Goethe und die geschichtliche Welt. Drei Aufsätze, Berlin 1932 (Nachdruck Hamburg 1995), S. 32. 114 Von dieser »kontinuierlichen Reihe« geht das 1906 erstveröffentlichte Buch K. Vorländers, Kant-Schiller-Goethe, S. XII, aus, (ein Buch, das, wenn auch ein wenig kleinkrämerisch, die grundlegenden Materialien für eine derartige Interpretation enthält und das Cassirer dennoch, vielleicht gerade wegen dieses ›propädeutischen‹ Charakters, nicht zitiert hat). 115 Das Erlebnis und die Dichtung, S. 126 f., 184 (vgl. auch S. 14 f., 162, 176). 116 Vgl. Freiheit und Form, S. 172; ECW 7, S. 182. Cassirer ist hier näher denn je an Simmel, der bemerkt hatte: »sein Schaffen schien ihm [ Goethe ] von dem Erleben nicht getrennt, weil schon sein Erleben ein Schaffen war« (Goethe, S. 19). In diesem Sinne vgl. auch Freiheit und Form, S. 171; ECW 7, S. 181: »Die künstlerische Gestaltung 112
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der Faustdichtung auszudrücken – fährt Cassirer fort –, ist es nicht der Gehalt des Lebens, sondern sein »Formgesetz«117; und in diesem Sinne, auf ›Marburger‹ Art, handelt es sich nicht darum, von einer unberührten Subjektivität auszugehen, sondern viel mehr darum, von der objektiven Realisierung aus den Sinn des Lebens wiederzugewinnen, der sonst ungreifbar bliebe. Andererseits könnte dies als eine Variante des Grundverständnisses der ›kritischen Psychologie‹ Natorps begriffen werden, wonach die Erkenntnis des Ichs immer einer objektiven Vermittlung bedarf und das Subjekt-Objekt-Verhältnis nur von einer beweglichen Korrelation aus zu konzipieren ist.118 Bei Goethe erfolgt diese objektive Vermittlung durch die Form, und sein gesamtes Werk als Dichter und Naturforscher erscheint Cassirer unter dem Zeichen des »Reiches der Form«, das sich Goethe mit dem ›epochalen‹ Ereignis der Italienischen Reise erschließt, aber sich dennoch bereits in der frühen Lyrik – wie Cassirer später präzisieren wird – als »der Wille zur Form« abzeichnet, der für Goethe insgesamt charakteristisch ist. Ein Übergang vollzieht sich vor allem von der Form als Ausdruck subjektiver Energien des Lebens zur »Form des objektiven Werdens«, zur »Idee«.119 Cassirer setzt den Akzent nicht nur in Freiheit und Form auf den dynamischen Charakter der Form: Sie stellt keinen »überhimmlischen Ort« dar, sondern versenkt sich in die »Dynamik des Lebens«. Es ist nicht so sehr eine Gestalt (ein Begriff, der einen Verlust von Beweglichkeit anklingen läßt), sondern vielmehr eine Form, die stets mit der menschlichen und natürlichen Wirklichkeit verbunden bleibt und die Goethe in einem Vers, den Cassirer sehr gemocht hat, poetisch fixiert hat: eine »geprägte Form, die lebend sich entwickelt«.120 folgt nicht auf das Leben, um es, als ein übrigens Fertiges und Abgeschlossenes, noch einmal im ›Bilde‹ zu wiederholen, sondern sie ist ein bestimmender Faktor im Aufbau des Lebens selbst.« 117 Ebd., S. 259; ECW 7, S. 274. 118 Vgl. P. Natorp, Allgemeine Psychologie, S. 60–90. Ein Anhaltspunkt für diese ›Marburger‹ Goetheinterpretation kann in dem kurzen Text Goethes von 1823 gesehen werden, wo es heißt: »Hiebei bekenn’ ich, daß mir von jeher die große und so bedeutend klingende Aufgabe: ›erkenne dich selbst‹, immer verdächtig vorkam, als eine List geheim verbündeter Priester, die den Menschen durch unerreichbare Forderungen verwirren und von der Tätigkeit gegen die Außenwelt zu einer innern flachen Beschaulichkeit verleiten wollten. Der Mensch kennt nur sich selbst, insofern er die Welt kennt [ ... ] Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf.« (Bedeutende Fördernis durch ein geistreiches Wort in Werke, XIII, S. 38. 119 Vgl. Freiheit und Form, S. 197, 200; ECW 7, S. 209 f., 212. Vgl. darüber hinaus Der junge Goethe, S. 14, 25. 120 Vgl. J. W. Goethe, Urworte. Orphisch. Dämon in Werke, I, S. 359. Es ist interessant zu beobachten, daß Cassirer die Verse Goethes erstmals in seinem Kommentar zur
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Gerade weil sie nicht ›leer‹ ist und nicht von der ›Materie‹ getrennt betrachtet werden kann, enthüllt die Goethesche Form für Cassirer all ihr Potential für das Verständnis der Wirklichkeit im allgemeinen (und nicht nur als künstlerische Form), insofern ihr ›Wesen‹ sich in einen »Prozeß« auflöst. Der Begriff der Form kann sich nicht anders als in ihrem Werden zeigen und ist Ursprung nur in dem Sinne von etwas, das fließt, nicht als unbeweglicher Anfang.121 Analog dazu setzt sich andererseits das Allgemeine, das in der Form zur Existenz kommt – die Form ist nie ein reines Objekt der Kontemplation, sondern ein Tun –, dem Individuellen nicht entgegen, sondern begreift es in sich ein als »konkretes Symbol«. So wie Goethe sein eigenes Leben symbolisch interpretierte (nach der Idee, die einem ›autobiographischen‹ Werk wie Dichtung und Wahrheit zugrunde liegt), ist das Individuelle generell als das Medium zu verstehen, in dem das »Typische« zum Ausdruck kommt. In Goetheschen Begriffen bedeutet dies vor allem, daß »die wahre Symbolik« jene ist, in der das Besondere das Allgemeine nicht als seinen Schatten repräsentiert, sondern als »lebendig-augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen«.122 Daß Cassirer von den morphologischen Schriften Goethes und seinem kühnen Entwurf der Urpflanze fasziniert war, kann an diesem Punkt nicht mehr besonders verwundern, auch wenn sein Interesse heute vielleicht verständlicher erscheint als zur Zeit der Veröffentlichung von Freiheit und Form, als an Goethe als ›Wissenschaftler‹ noch viele Zweifel bestanden, die sich nur langsam (und teilweise dank Cassirer) wieder auf ein gerechtfertigtes Maß reduzierten.123 In der Goetheschen Morphologie und der Idee der Urpflanze (nach dem berühmten Diktum Schillers nicht als Erfahrung, sondern als Idee) erblickte Cassirer nicht zu Unrecht ein »Urelement« des Goetheschen Werkes: den Ort, an dem sich der Dichter Leibnizschen Monadologie zitiert (vgl. Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, II, S. 437, Anm. 482 (S. 71*, Anm. 484)). Für das vorige vgl. Idee und Gestalt, S. 17, 22 f.; ECW 9, S. 251, 257 ff., und Freiheit und Form, S. 220, 247; ECW 7, S. 233f, 262; in diesem Kontext ist auch an das zu denken, was Cassirer bezüglich des Verhältnisses zwischen Goethe und Platon schreibt: Goethe und die geschichtliche Welt, S. 103–148. 121 Vgl. Freiheit und Form, S. 258; ECW 7, S. 273 (und auch Goethe und die geschichtliche Welt, S. 49). 122 J. W. Goethe, Maximen und Reflexionen, hg. von M. Eckers, Frankfurt am Main 1976, S. 67 f. (Nr. 314). Vgl. Freiheit und Form, S. 200, 214; ECW 7, S. 212, 227, und Goethe und die geschichtliche Welt, S. 59 f. 123 Einige nützliche Informationen diesbezüglich finden sich bei H. Kindermann, Das Goethebild des 20. Jahrhunderts, S. 251 ff. Zur Revision nicht weniger Vorurteile soll zumindest auf die Studien hingewiesen werden, die in Goethe and the Sciences: A Reappraisal, edited by F. Amrine, F. J. Zucker and H. Wheeler, Dordrecht-Boston 1987, versammelt sind, und auf das schöne Buch von P. Giacomoni, Le forme e il vivente. Morfologia e filosofia della natura in J. W. Goethe, Napoli 1993.
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Goethe und der Naturforscher Goethe – in dieser symbolischen Gestalt124 – unter der gemeinsamen Obhut einer »bildenden Kraft« treffen, die jede Härte bricht, die im Identischen das Veränderliche entdeckt, die im Besonderen die Regel erkennt und die in der Pendelbewegung zwischen Idee und Erfahrung den Rhythmus des Lebens pulsieren läßt, den Goethe »die ewige Systole und Diastole, die ewige Synkrisis und Diakrisis, das Ein- und Ausatmen der Welt, in der wir leben, weben und sind«, nennt.125 Daß Goethe dann auf dieser eher methodologischen als ›naturphilosophischen‹ Basis auf die Kritik der Urteilskraft Kants stoßen mußte, erschien Cassirer nahezu unvermeidlich: Was sonst ist die Urpflanze, wenn nicht ein regulatives Prinzip, die Idee einer Form, die uns »im Labyrinth der wirklichen Pflanzenformen« führen soll?126 Aber genauso wichtig ist Cassirer der Zusammenhang, der in diesem Sinne zwischen Goethe und Leibniz besteht: Die Mannigfaltigkeit und die Kontinuität der lebendigen Formen, ihre unausschöpfliche Verflechtung und ihr unendlicher Dynamismus sind in Wirklichkeit nicht denkbar ohne den leibnizianischen Hintergrund;127 und so scheint Cassirer jene »innigste Verwandtschaft« zwischen Goethe und Leibniz zu verstehen, die Mahnke später veranlaßt hat, von einer Reihe ›Variationen‹ eines einzigen »musikalischen Themas« zu sprechen, das beide im Namen der harmonischen Einheit des Universums angestimmt haben.128 Goethe selbst hatte einmal das Leben als »die rotirende Bewegung der Monas um sich selbst«129 bezeichnet. Cassirer entdeckte nun in dieser Vgl. Freiheit und Form, S. 114; ECW 7, S. 121, und Goethe und die geschichtliche Welt, S. 73. 125 Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil in Werke, XIII, S. 488. Vgl. außerdem Freiheit und Form, S. 227, 241, 245; ECW 7, S. 240 f., 256, 259. 126 Goethe und die mathematische Physik in Idee und Gestalt, S. 49; ECW 9, S. 282 (und vgl. Freiheit und Form, S. 238; ECW 7, S. 252). Zu Goethe und der Kritik der Urteilskraft s. unten S. 93–98. 127 Vgl. Freiheit und Form, S. 247; ECW 7, S. 261 f. 128 Vgl. D. Mahnke, Leibniz und Goethe. Die Harmonie ihrer Weltansichten, Erfurt 1924, S. 8, 11, 32, 68–71. Die Linie Leibniz-Goethe wird später auch B. Bauch, Goethe und die Philosophie, Tübingen 1928, hervorheben, der in Goethe die Vollendung der durch Leibniz inaugurierten »großartigen Synthese« von Universellem und Individuellem, von Allgemeinem und Besonderem sieht (S. 5, 16, 21 und passim). Bauch hat Freiheit und Form sehr geschätzt, seine Perspektive ist jedoch von derjenigen Cassirers weit entfernt, denn entsprechend seiner Interpretation des Transzendentalen sieht er den Endpunkt des von Leibniz und Goethe zurückgelegten Weges bei Hegel (S. 26); außerdem führt der auf die ›Deutschheit‹ Goethes gesetzte Akzent (S. 7) dazu, Goethe als den ›Seher‹ der Individualität des deutschen Volkes und seiner »Bestimmung« zu rühmen (S. 33). 129 Maximen und Reflexionen, S. 80 (Nr. 391); vgl. Freiheit und Form, S. 177 f.; ECW 7, S. 188. 124
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Leibnizschen Sprache und im Goetheschen Motiv der Metamorphose der lebendigen Formen einen einzigartig fruchtbaren ›Perspektivismus‹. Das Urphänomen des Lebens, das wir nicht erklären können, ohne den geheimen Kern nur wieder zu bestätigen, läßt sich erst in seinen Brechungen lesen, in den »wiederholten Spiegelungen«, in denen es sich manifestiert: und zwar nicht als ein einfacher Reflex, sondern als ein aktives Sich-Ausstrahlen.130 Dies betrifft auch den Begriff der Wahrheit: Goethe schreibt hierzu, daß »jeder seine eigene Wahrheit haben [ kann ], und es ist doch immer dieselbige«131. Abermals kommt hier ein ›Pluralismus‹ Leibnizscher Prägung zum Ausdruck, den Cassirer schätzen mußte, denn ›sein‹ Problem war inzwischen das einer Analyse der »Grundformen des Weltverständnisses überhaupt« und folglich dasjenige einer »Mannigfaltigkeit von Betrachtungsweisen« geworden.132 Gerade aus diesem Grunde läßt sich die Bedeutung Goethes – dieses Goethes – für die Entwicklung des Cassirerschen Denkens auf dem Weg zur Philosophie der symbolischen Formen (nicht zufällig als eine Formenlehre konzipiert, als eine »Morphologie« des Geistes) nicht genug betonen.133 Bereits in Freiheit und Form hatte Cassirer übrigens hervorgehoben, daß die Idee der Metamorphose nicht nur das Leben der Natur betreffe, sondern auch das des Geistes. Auch hier handelt es sich um einen Prozeß, der sich – nach einem Ausdruck Goethes – durch »Polarität« und »Steigerung« vollzieht, ohne daß ein transzendentes Ziel vorherbestimmt wäre. Deshalb verbinden sich Freiheit und Form trotz ihres Gegensatzes hier in einer Wechselbeziehung,134 und Goethe wurde Zu letzterem vgl. vor allem Goethe und die geschichtliche Welt, S. 63. Auf die Bedeutung der Metapher der »wiederholten Spiegelungen« ist bereits oben hingewiesen worden (vgl. oben S. VII und Anm. 1; allgemeiner zum Bild des Spiegels vgl. Freiheit und Form, S. 267; ECW 7, S. 282 f.; Thomas Manns Goethe-Bild, S. 131, und auch Goethes Idee der Bildung und Erziehung, »Pädagogisches Zentralblatt«, XII, 1932, S. 340–358 (jetzt in Geist und Leben, S. 94–122, hier S. 98). Zu diesen Themen sei auch auf N. Janz, Les métaphores optiques dans la »Philosophie der symbolischen Formen« d’Ernst Cassirer, »Etudes de Lettres«, janvier-mars 1993, S. 129–143, verwiesen. 131 Maximen und Reflexionen, S. 49 (Nr. 198). Vgl. Freiheit und Form, S. 249; ECW 7, S. 264. 132 Goethe und die mathematische Physik, S. 70, 72; ECW 9, S. 304, 306. Zum Goetheschen Wahrheitsbegriff und zu seinem Verhältnis zu Leibniz vgl. auch G. Simmel, Goethe, S. 20–49, und D. Mahnke, Leibniz und Goethe, S. 28 (der Verbindungen zur Husserlschen Phänomenologie herstellt). 133 Die ›morphologischen‹ Elemente bei Cassirer haben verschiedentlich hervorgehoben S. Veca, Elementi di morfologia. Saggio su Cassirer, »Il Pensiero«, XIV, 1969, S. 35–70; E. Paci, La presa di coscienza della biologia in Cassirer in Idee per un’enciclopedia fenomenologica, Milano 1973, S. 456–464, und G. Raio, Introduzione a Cassirer, S. 40 (vgl. auch unten, S. 310–311). 134 Vgl. Freiheit und Form, S. 242 f.; ECW 7, S. 257. 130
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für Cassirer der »ideelle Mittelpunkt« der deutschen Geistesgeschichte.135 Die Goethesche Versöhnung von Natur und Geist, von Freiheit und Form hat nicht nur eine geistesgeschichtliche Bedeutung, sondern zeigt sich in ihrer ganzen philosophischen Dimension unter der Fragestellung, was Goethe einerseits für die kritische Philosophie Kants und andererseits für die folgende Entwicklung des idealistischen Denkens bedeuten könnte. In anderen Worten: Was bedeutet die zentrale Einsicht in eine »bildende Kraft«, die menschliche Welt und natürliche Welt vereint, für das ›Verständnis‹ der Welt, für eine Philosophie, die »allgemeinste und umfassendste Theorie der geistigen Formen« sein will?136 Anstatt sich über die Gegensätzlichkeit der ›Weltanschauungen‹ Kants und Goethes auszulassen, auf der Simmel bestand, und über die Lösung, die ein solcher Gegensatz im »metaphysischen Zentrum« des Lebensbegriffs finden müßte,137 blickte Cassirer vor allem auf das, was Kant und Goethe vereint: d. h. auf das Organisationsvermögen der Vernunft und die »synthetische Einheit des Geistes«, die sich von den begrifflichen Unterscheidungen Kants bei Goethe in den Ausdruck einer »Lebensform« transformiert.138 Ob diese Versöhnung von Kant und Goethe im Namen der Synthese und insbesondere über die vermittelnde Funktion der Kritik der Urteilskraft tatsächlich so einfach zu leisten ist, wie Cassirer anzunehmen scheint, ist anzuzweifeln. Dennoch soll nicht vergessen werden, daß es sich für Cassirer um ein legitimes Vorgehen handelte, unter anderem deshalb, weil der Kant, der sich mit Goethe treffen sollte, bereits ein Kant ist, der auf dieselbe Weise wie Goethe in Anspruch genommen wird, nämlich auf der Basis einer konstruktiven und produktiven Sichtweise des Denkens, die ihre Wurzeln eher noch als bei Kant und Goethe in der neukantischen Tradition hat, aus der Cassirer kommt.139 Die Beharrlichkeit, mit der Cassirer sich auf die Funktion der »produktiven Einbildungskraft« Goethes und die Funktion der ›Dynamik‹ des
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Ebd., S. XIV; ECW 7, S. 391. Goethe und die mathematische Physik, S. 73; ECW 9, S. 307. Zu der zentralen Bedeutung der bildenden Kraft (und mit explizitem Bezug auf Cassirer) vgl. auch F. Meinecke, Die Entstehung des Historismus, S. 506. 137 Vgl. G. Simmel, Kant und Goethe, S. 115 ff. 138 Freiheit und Form, S. 252 f.; ECW 7, S. 267 f. Zu der Abkehr Goethes von seinem Jahrhundert als Jahrhundert der Analyse vgl. Goethe und die geschichtliche Welt, S. 34 ff. Zur Verortung Goethes auf dem »kritischem Boden« entgegen der Interpretation Simmels vgl. auch P. Natorp, Deutscher Weltberuf, II, S. 157 f. 139 Zu dem »genetischen Blick« bei Goethe vgl. auch, was Cassirer in dem kurzen Text Kant und Goethe (1924), jetzt enthalten in Rousseau, Kant, Goethe, S. 104, schreibt. 136
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Denkens bezieht, die der unablässigen Bewegung des Wirklichen folgen muß, sowie der Versuch, bei Goethe eine funktionelle Begriffslehre aufzufinden, verweisen auf eine Anerkennung der ›erzeugenden‹ Leistung des Denkens, die im Zentrum von Substanzbegriff und Funktionsbegriff steht.140 Andererseits setzt das Bild der Kantischen Erkenntnistheorie, das in Freiheit und Form entsteht, überwiegend auf einen ›holistischen‹ Primat der Form der Erfahrung vor der Erfahrung selbst: Der reine Verstand überwindet jeglichen Restbestand an Passivität sowie jede prinzipielle Verschiedenheit zwischen dem Datum und der kategorialen Ebene und konstituiert sich als ›Geist‹, als konstruktive Energie, die die »Selbstgesetzgebung der Erkenntnis« feiert.141 Aus diesen beiden konvergierenden Momenten entsteht jenes kantisch-goethesche (aber in Wirklichkeit Cassirersche) Geflecht, das vor allem im Aufsatz über Goethe und die mathematische Physik zu der Fusion des Kantischen Transzendentalen mit dem ›Sehen‹ Goethes führt oder zur erkenntnistheoretischen Neubewertung des bekannten Diktums Goethes, nach dem »alles Factische schon Theorie ist«, d. h. der Wiederaufnahme eines Ansatzes, der in jedem »Blick in die Welt« einen Akt theoretischer Interpretation sieht.142 Diesem eigentümlichen Verhältnis zwischen Kant und Goethe korrespondiert jedoch zugleich die Gegenüberstellung von Goethe und Hegel. Die unendliche Offenheit und Beweglichkeit der Goetheschen Morphologie steht der Hegelschen Vorstellung entgegen, die die »Umwandlung der Momente der Entwicklung in Momente eines logischen Prozesses« oder in ein »einförmiges begrifflich-dialektisches Schema« in den Mittelpunkt stellt.143 In Cassirers Perspektive ist Goethe der Kantischen Unterscheidung von Schranken und Grenzen, die darin besteht, die Suche nach der Einheit unbegrenzt auszudehnen und dennoch an der Idee (im regulativen Sinne) eines unerforschlichen Residuums fest-
Vgl. Freiheit und Form, S. 212 ff.; ECW 7, S. 225 f., und Goethe und die mathematische Physik, S. 40–51; ECW 9, S. 273–284. 141 Freiheit und Form, S. 166; ECW 7, S. 176 (vgl. auch S. 159; ECW 7, S. 168: »Nur wenn und soweit wir die Erfahrung von Anfang an als ein ›Ganzes‹, d. h. als einen Inbegriff denken, der an bestimmte durchgängige Grundsätze gebunden ist, aus denen er nicht heraustreten kann, ist es möglich und sinnvoll, von einem ihrer Teile auf einen andern zu schließen.«). 142 Für letzteren Aspekt vgl. Zur Farbenlehre, S. 317, und für das vorige Maximen und Reflexionen, S. 116 (Nr. 575). Zu den betreffenden Goethestellen vgl. Freiheit und Form, S. 236, 241; ECW 7, S. 250, 255 f., und Goethe und die mathematische Physik, S. 46; ECW 9, S. 279. 143 Freiheit und Form, S. 256; ECW 7, S. 271. 140
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zuhalten, näher als dem logisch-metaphysischen ›Abschluß‹ Hegels.144 Diese Differenz ist kaum überzubewerten. Sie schreibt sich tief in die Reflexionen über die »keineswegs erledigt[ en ] Probleme« ein, die in der Entwicklung des nachkantischen Denkens zu Tage gefördert worden sind. Cassirer widmet sich ihnen wenig später, im Zeitraum zwischen dem Buch von 1916 und dem 1919 beendeten dritten Band des Erkenntnisproblems – übrigens in einem bereits von der Hegel-Renaissance sowie von dem problematischen Verhältnis zwischen ›Neukantianismus‹ und ›Neuhegelianismus‹ gekennzeichneten Kontext.145 Bereits vor der Publikation des dritten Bandes des Erkenntnisproblems ist der Aufsatz über Hölderlin in »Logos« erschienen, der den Antihegelianismus Cassirers ausführlich dokumentiert. Cassirer setzt hier der hegelianischen »Logodizee« den »Rhythmus« des Lebens (ein von Dilthey verwendeter Begriff) entgegen, der in der Dichtung Hölderlins Ausdruck finde: Das Gegengewicht zur Begriffsdialektik Hegels und seiner Auflösung des Individuellen im Universellen bilde die tragische »Dialektik des Gefühls« Hölderlins, für die es keine Versöhnung gebe und die dennoch die Endlichkeit und die Individualität ›rette‹.146 Diese Differenz 144
Ebd., S. 257; ECW 7, S. 272. Vgl. Das Erkenntnisproblem, III, S. V; ECW 4, S. VII. Cassirer hatte eine erste Auseinandersetzung mit der jüngsten Debatte über die Beziehungen zwischen Neukantianismus und Neuhegelianismus begonnen in Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik, »Jahrbücher der Philosophie«, I, 1913, S. 29–35 (nun in Erkenntnis, Begriff, Kultur, hg. von R. A. Bast, Hamburg 1993, S. 39–46, und ECW 9, S. 169–175). Im darauffolgenden Jahr antizipierte Cassirer die dann im Erkenntnisproblems entwickelte Interpretationslinie; vgl. Die Grundprobleme der Kantischen Methodik und ihr Verhältnis zur nachkantischen Spekulation, »Die Geisteswissenschaften«, I, 1914, S. 784–787, 812–815; ECW 9, S. 201–216. Für die Einordnung dieses Textes ist es nötig, den Vortrag Windelbands vom 25. April 1910 in Heidelberg vor Augen zu haben: Die Erneuerung des Hegelianismus, später in Präludien, Tübingen 61919, I, S. 273–289 (obwohl Cassirer nicht daraus zitiert), und den Aufsatz von E. von Aster, Neukantianismus und Hegelianismus. Eine philosophische Parallele in A. Pfänder (Hg.), Münchener Philosophische Abhandlungen. Theodor Lipps zu seinem 60. Geburtstag gewidmet von früheren Schülern, Leipzig 1911, S. 1–25 (den Cassirer hingegen bereits 1913 kannte). Für die Diskussion zwischen Neukantianismus und Neuhegelianismus bleibt nützlich (auch wenn bezüglich nicht weniger Bewertungen fraglich) das Buch von H. Levy, Die Hegel-Renaissance in der deutschen Philosophie mit besonderer Berücksichtigung des Neukantianismus, Charlottenburg 1927 (bes. S. 30–50 über die Marburger Schule). Vgl. darüber hinaus die pointierte Studie H. Holzheys, Hegel im Neukantianismus. Maskerade und Diskurs in I filosofi della scuola di Marburgo, S. 9–27 (wenig ergiebig ist hingegen der ältere Beitrag von G. Körber, Der Marburger Logismus und sein Verhältnis zu Hegel, »Archiv für Geschichte der Philosophie«, N. F. XXIII, 1917, S. 189–202). 146 Vgl. Hölderlin und der deutsche Idealismus, S. 147–155; ECW 9, S. 379–388. Diese Studie müßte eigentlich gründlicher untersucht werden, auch bezüglich der Analyse 145
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schließlich ist nicht von nur beschränkter Bedeutung, sondern betrifft – über Hölderlin hinaus – das Verhältnis zwischen Kant und dem nachkantischen Idealismus insgesamt, das Cassirer bereits in dem Aufsatz in »Logos« als »Gegensatz« bezeichnet.147 In diesem Sinne mußte das, was Richard Kroner als »immanente Notwendigkeit des Fortschrittes« erschien, der ›von Kant bis Hegel‹ führt, in den Augen Cassirers die Gestalt einer gebrochenen Linie annehmen, die nur dann wieder zusammengefügt werden könnte, wenn man von der inhaltlichen Reichhaltigkeit der idealistischen Systeme zu dem methodischen Ansatz Kants zurückkehrte.148 In dieser Hinsicht stellen die kritischen Schlußfolgerungen Cassirers am Ende des langen Kapitels über Hegel im Erkenntnisproblem das aussagekräftigste Dokument dessen dar, was in Freiheit und Form noch implizit geblieben war. Hier nämlich erweitert sich das für den gesamten Antihegelianismus von Trendelenburg an typische Motiv der Ablehnung der dialektischen Methode zu einer allgemeinen Entgegensetzung von kritischer und spekulativer Methode, von kritischer Funktion der Vernunft und absolutem Idealismus, der in seiner Konstruktion des Realen ständig drohe, sich in einen simplen »absoluten Empirismus« Cassirers des 1917 von Rosenzweig veröffentlichten Ältesten Systemprogramms sowie der Beziehungen zwischen Hölderlin und Schelling (dem Cassirer die Autorschaft des Systemprogramms zuschreibt). Für die Geschichte der Interpretationen der Quellen dieses berühmten und viel diskutierten Textes vgl. Mythologie der Vernunft. Hegels »ältestes Systemprogramm« des deutschen Idealismus, hg. von Ch. Jamme und H. Schneider, Frankfurt am Main 1984. 147 Hölderlin und der deutsche Idealismus, S. 142; ECW 9, S. 374. 148 Vgl. R. Kroner, Von Kant bis Hegel, I, S. 31. Kroner bemerkte zu Recht, »Die Kantianer haben in den Spekulationen der Nachfolger [ Kants ] höchstens die Bereicherung an Stoffgebieten anerkannt, welche der Idealismus durch sie erfahren hat – sie haben aber die Methodik Kants als die allein strenge und zuverlässige behauptet« (ebd., I, S. 26 f.). Zur Position Cassirers dies betreffend s. auch die ausführliche Diskussion bei G. Lasson, Kritischer und spekulativer Idealismus, »Kant-Studien«, XXVII, 1922, S. 1–58, nach dem Cassirer nicht verstanden habe, daß der spekulative Idealismus eine notwendige Entwicklung des kritischen Idealismus und in diesem bereits potentiell enthalten sei (vgl. S. 12, 38, 49, 54, 58). Lasson entgeht dennoch, daß die Erfahrung, die sich in den Wissenschaften und den ›Fakten der Kultur‹ manifestiert, auf der die Marburger und Cassirersche Interpretation des Transzendentalen gründet, es gerade zuläßt, der Philosophie die exklusive und absolute Rolle streitig zu machen, die für Lasson die einzig mögliche ist (ebd., S. 52 f.). Von diesem Gesichtspunkt aus ist es auch nicht richtig, daß die »Systematik« der apriorischen Funktionen und ihre ›zirkuläre‹ Verbindung (»keine [ ist ] die erste und keine die letzte [ ... ] weil sie sich alle korrelativ durchdringen«), deren methodologischen Aspekt Cassirer gegen den spekulativen Typ der Deduktion der Begriffe a priori aus einander zur Geltung bringt, sic et simplicter mit der Funktion der Vernunft im Sinne Hegels identifiziert werden muß (ebd., S. 53–54, vgl. Das Erkenntnisproblem, III, S. 369–371; ECW 4, S. 354–357).
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Zweites Kapitel
zu verkehren.149 Dem Abschluß des dynamischen Prozesses durch ein Absolutes müsse entgegengetreten werden, indem die Natur der Idee als »unabschließbare Arbeit« und nicht als bereits »gegeben« betrachtet werde und indem die Erfahrung von einer metaphysischen Notwendigkeit befreit und von einem methodischen Gesichtspunkt aus beleuchtet werde. Der Vernunft müsse eine andere Funktion zugesprochen werden als diejenige, aus ihr die »Mannigfaltigkeit der Kulturformen abzuleiten«, denn die Einheit der Vernunft manifestiere sich vor allem im Aufweis der Richtungen, in denen die Kultur sich in ihrem unendlichen Fortschreiten eigenständig entwickele.150 Jedoch – fährt Cassirer fort – sei es gerade die Hegelsche Forderung gewesen, die Etappen dieses Prozesses logisch abzuleiten, indem das organische Entstehen in den Gliedern eines logischen Entstehens komprimiert werde, an der Goethe sich besonders gestoßen habe und die ihn davon überzeugt habe, daß es sich hier bloß um einen Scherz und Sophisterei handeln könne. Auch wenn es sich in Wirklichkeit um die völlig logische Konsequenz der Prämissen des Hegelschen Systems handelte, seiner Forderung nämlich, dasjenige, was vom methodischen Gesichtspunkt aus stets getrennt gehalten werden müsse – das Ideale und das Reale, dessen Korrelation nicht die Aufhebung des einen zugunsten des anderen bedeuten könne –, in eine »metaphysischen Identität« aufzulösen.151 So stellt sich Goethe in der ›Gigantomachie‹ zwischen Kant und Hegel auf die Seite Kants; und das heißt in die Linie ›von Kant bis Goethe‹ (oder besser ›von Leibniz bis Goethe‹), in die Linie der Klassik und der Humanitätsidee also, in die Cassirer auch sich selbst einordnet, und nicht in diejenige des spekulativen Idealismus – was vor allem eine Art ›Urbanisierung‹ war, aber sicher nicht der Versuch, den lapidaren Satz Cohens aufzuheben: »[ D ]er deutsche Idealismus ist der Idealismus Kants«.152 Verständlich wird nun, warum Freiheit und Form mit gutem Recht innerhalb Das Erkenntnisproblem, III, S. 369 f.; ECW 4, S. 354 ff. Ebd., S. 372 f.; ECW 4, S. 357 f. Es sollte angemerkt werden, daß diese Kritik Cassirers in Grundzügen wieder aufnimmt, was bereits Natorp in Kant und die Marburger Schule, S. 211 ff., gegen Hegel vorgebracht hatte. 151 Vgl. Das Erkenntnisproblem, III, S. 375 ff.; ECW 4, S. 361 ff. In diesem Zusammenhang ist jedoch ebenfalls erhellend, was Cassirer bezüglich der Distanzierung Goethes von Schelling und seiner »begrifflichen ›Konstruktion‹ « schreibt (ebd., S. 270; ECW 4, S. 260). 152 Über das Eigentümliche des deutschen Geistes, S. 546. Zur Opposition gegen den spekulativen Idealismus und Hegel im Namen Kants, Goethes, Humboldts und der Idee der humanitas wird Cassirer noch im späten Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie, Göteborg 1939, S. 16 ff., 28, jetzt auch in Erkenntnis, Begriff, Kultur, S. 247 f., 261, zurückkommen. 149
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Freiheit, Idee, Form
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der Entwicklung der reifen Philosophie Cassirers einen Punkt darstellte, hinter den es kein Zurück mehr gab, und in welchem Sinne die Betrachtung Goethes durch Kant und Kants durch Goethe einen Referenzpunkt von größter Bedeutung bildete. Auch deshalb nahm Cassirer die Goethesche Selbstbeschreibung auf, der sein dichterisches Schaffen im Alter nicht so sehr als Werk eines »Meisters« der Deutschen, sondern als das ihres »Befreiers« betrachtete. Und wenn den suggestiven Metaphern Cassirers Glauben geschenkt werden darf, so kann man sagen, daß es gerade diese Goethesche ›Befreiung‹ war, die den Ausgangspunkt seiner folgenden Entwicklung darstellte, die »produktive Energie«, die ihn antrieb, sein intellektuelles Abenteuer fortzusetzen.153
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Vgl. J. W. Goethe, Noch ein Wort für junge Dichter in Werke, XII, S. 360.
fünftes kapitel Die Grundlegung der Geisteswissenschaften
1. Mit dem Ruf an die Universität Hamburg im Juni 1919 begann eine außerordentlich fruchtbare Periode des philosophischen Werdegangs Cassirers. Die junge hanseatische Institution, welche am Ende des Krieges als Ausdruck eines tiefen Bedürfnisses nach kultureller Erneuerung gegründet worden war, bot dem bereits berühmten Philosophen auf dem Höhepunkt seines Schaffens das erste Mal eine Stelle als Ordinarius, die ihm lange Zeit verwehrt geblieben war. Hier begann eine neue Etappe seines intellektuellen Abenteuers, das sich zunehmend auf die Welt des Geistes und der Kultur konzentrierte, auf die Formen des Wirklichkeitsverständnisses, die während der Hamburger Zeit ihre systematische Ausführung in der Philosophie der symbolischen Formen fanden.1 »[ M ]eine Studien in letzter Zeit« – schrieb Cassirer an William Stern kurz nachdem er an die neue Universität übergesiedelt war – »[ haben sich ], während sie sich früher vor allem auf die Kritik der mathematischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnis bezogen, hauptsächlich der philosophischen Grundlegung der Geisteswissenschaften zugewendet [ … ]«2 Das bedeutsamste Zeugnis dieser Aufmerksamkeit gegenüber den Geisteswissenschaften, die für den Beginn seines Schaffens in Hamburg kennzeichnend war, ist der Anfang der Zusammenarbeit Cassirers mit den Wissenschaftlern im Umfeld der »Bibliothek Warburg«, jenem »singulären Dossier des Unentdeckten«, das Cassirer erstmals 1920 – von Fritz Saxl geführt – besichtigte.3 In der prächtigen Bibliothek Aby Warburgs realisierte die Anordnung der Bücher auch visuell die unauflösliche Verflechtung von Philosophie und Religion, von Wissenschaft und Magie, die den beschwerlichen
Zum Beginn der Hamburger Zeit vgl. T. Cassirer, Mein Leben mit Ernst Cassirer, S. 121 ff. (und auch H. Paetzold, Ernst Cassirer, S. 46 ff.). 2 Der Brief, der das Datum 30. Mai 1919 trägt, wird in der Universitätsbibliothek Hamburg verwahrt (Sign.: Lit. Arch. 1974 / 3959, 1) und wurde bereits zitiert in M. Ferrari, Das Problem der Geisteswissenschaften in den Schriften Cassirers für die »Bibliothek Warburg« S. 114. (Daß der Empfänger William Stern ist, ist leicht aus dem Kontext zu erschließen). Zu Stern sei darauf verwiesen, was Cassirer in William Stern. Zur Wiederkehr seines Todestages, »Acta Psychologica«, V, 1940, S. 1–25, schreibt. 3 Vgl. H. Blumenberg, Wirklichkeiten, in denen wir leben, S. 165. Zu der Zusammenarbeit Cassirers mit der »Bibliothek Warburg« und zum folgenden vgl. ausführlicher unten, S. 207–24. 1
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Fünftes Kapitel
Weg der menschlichen Kultur zwischen den beiden immer wieder auftauchenden Polen »Athene« und »Alexandria« charakterisiert. Für Cassirer stellte die Hamburger Bibliothek jedoch vor allem eine Aufgabe dar, die auf der Basis des philosophischen Instrumentariums der Marburger Tradition des Neukantianismus gelöst werden mußte. Jene vielfältigen Zeugnisse des menschlichen Denkens mußten als »Fakten« aufgefaßt und ihre Möglichkeitsbedingungen vom Gesichtspunkt der transzendentalen Methode aus begriffen werden.4 Aus diesem Grunde unterstrich Cassirer in seinem Vortrag Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, mit dem er 1923 den Zyklus der »Vorträge der Bibliothek Warburg« eröffnete, daß das in der Bibliothek versammelte Material die systematische Aufgabe einer Grundlegung der verschiedenen Bereiche der menschlichen Kultur und der verschiedenen Formen über die rein historische Dimension hinaus verweise: Nur so sei eine wahre und eigentliche »Synopsis des Geistigen« möglich;5 und in dieser Weise berührte sich in den frühen 20er Jahren das unermeßliche Material, das Warburg gesammelt hatte und Saxl umsichtig verwahrte, mit dem neuen philosophischen Ansatz Cassirers, der bereits den Plan einer »philosophische Grundlegung der Geisteswissenschaften« (wie er Stern schrieb) und einer »›Formenlehre‹ des Geistes« entworfen hatte, in der jede Form des Wirklichkeitsverständnisses ihre eigene methodische Begründung finden sollte.6 Die Wurzeln des Cassirerschen Interesses für das Problem der Geisteswissenschaften reichen jedoch sehr viel weiter zurück. Schon in seinem Jugendwerk über Leibniz, das sich auch in dieser Perspektive als ein grundlegendes Werk für den späten Cassirer erweist, hatte die methodische Begründung der Geisteswissenschaften ihre erste Kontur in der Skizzierung der Monade gefunden, die eine Erweiterung des Begriffs des Individuums von der Sphäre des Lebens und der Natur auf die moralische Person ermöglicht und aus der Spontaneität des Bewußtseins das leitende Prinzip auch der geistigen Realität macht.7 Cassirer zeigte, daß die Leibnizsche Ethik eine auf den Zweckbegriff konzentrierte Sicht der menschlichen Welt darstellt: Staat, Recht, Gesellschaft und Geschichte Zu diesem Ansatz vgl. z. B. Kants Leben und Lehre, S. 166; ECW 8, S. 150: »[ … ] die Philosophie [ bleibt ] auf das gegebene Ganze der geistigen Kultur als notwendigen Ausgangspunkt hingewiesen; aber sie will es nicht mehr als gegeben hinnehmen, sondern sich seinem Aufbau und die allgemeingültigen Normen, die ihn beherrschen und leiten, verständlich machen«. 5 Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, S. 171. 6 Vgl. Philosophie der symbolischen Formen, I, S. V; ECW 11, S. VII. 7 Vgl. Leibniz’ System, S. 423 ff.; ECW 1, S. 379 ff. 4
Die Grundlegung der Geisteswissenschaften
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– kurz: der gesamte Problembereich der Geisteswissenschaften – finden ihre wahre Fundierung im Sollen, in der Gesetzmäßigkeit des moralischen Bewußtseins, das seinerseits die Voraussetzung der ästhetischen Sphäre ist.8 In Leibniz’ System wird die Gesetzmäßigkeit des Erkennens mit der Gesetzmäßigkeit des moralischen Handelns vermittelt und die Fruchtbarkeit des Begriffs der Monade als transzendentales Prinzip der Geisteswissenschaften erläutert. Es ist bezeichnend, daß Cassirer sich bereits hier auf Vicos Scientia nuova beruft, dessen ›Metaphysik des menschlichen Geistes‹ hinsichtlich einer autonomen Begründung der »neueren Geschichtsphilosophie« mit der Leibnizschen Kritik an der Cartesischen Substanz verglichen wird.9 Abgesehen von der Bezugnahme auf Vico ist eine wesentliche Affinität zur Perspektive Cohens in dieser ersten Cassirerschen Annäherung an die Geisteswissenschaften mehr oder weniger evident.10 In Leibniz’ System bildet die Ethik tatsächlich das kritische Fundament der Geisteswissenschaften. Sie zeichnet sich vor allem als die spezifische ›Logik‹ aus, die jene benötigen. Es ist dieses Kernproblem, das seit dem Beginn der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts bis zur Logik der reinen Erkenntnis und zur Ethik des reinen Willens die gesamte Cohensche Reflexion durchzieht. Indem er die Kantische Theorie der Erfahrung auf Gebiete ausweitete, die von der mathematischen Naturwissenschaft unterschieden sind, stellte sich für Cohen das Problem, für welches Faktum die Ethik die Begründung abgeben könne, und allgemeiner, welches die »Culturerscheinungen« seien, die dazu bestimmt sind, eine Funktion analog zu derjenigen einzunehmen, die die mathematische Physik für die Kritik der Erkenntnis erfüllt. Zwar stellte sich diese Frage in der ersten Auflage von Kants Begründung der Ethik noch nicht, doch ab 1881 sollte sie Cohen wiederholt beschäftigen; zuerst hinsichtlich der Identifikation desjenigen ›Faktums‹, auf das die Ethik sich bezieht,11 mit der Religion und später – in Kants Begründung der Aesthetik – hinsichtlich der 8
Ebd., S. 443–472; ECW 1, S. 397–424. Ebd., S. 447 f.; ECW 1, S. 401 f. Zur ›Präsenz‹ Vicos bei Cassirer vgl. vor allem D. Ph. Verene, Vico’s Science of Imaginative Universals and the Philosophy of Symbolic Forms in Giambattista Vico’s Science of Humanity, edited by G. Tagliacozzo and D. Ph. Verene, Baltimore and London 1976, S. 311–317, (der jedoch die Bedeutung Vicos für die Cassirersche Philosophie überschätzt). 10 Auf eine solche Affinität lenkt auch E. Troeltsch die Aufmerksamkeit in seiner Rezension von Leibniz’ System in »Theologische Literaturzeitung«, XXIX, 1904, Nr. 23, Sp. 639–643 (bes. Sp. 642 f.). 11 Vgl. H. Cohen, Biographisches Vorwort (1881) in F. A. Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, Iserlohn und Leipzig 1887, S. XI. 9
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Fünftes Kapitel
Grundlegung der Geisteswissenschaften innerhalb des transzendentalen Gebiets der ethischen Gesetzmäßigkeit. Anstatt die Themen der Diltheyschen Einleitung einfach nur wieder aufzunehmen, versuchte Cohen, den transzendentalen Status der sciences morales zu bestimmen, jedoch ohne einen Bruch mit den Naturwissenschaften zu postulieren:12 Für Cohen nimmt die Ethik eine Begründungsfunktion an, da die Freiheit, als Idee der Humanität und der Sittlichkeit, das »Erkenntnisprincip« der Geisteswissenschaften darstellt, d. h. derjenigen Wissenschaften, die sich mit »der Geschichte des Geistes, der Sitten, der Menschheit« beschäftigen, der Geschichte der Menschen, die sich im Staat, im Recht und in der Religion realisiert.13 Erst im ›System der Philosophie‹ des frühen 20. Jahrhunderts wird dieser Problemkomplex seine definitive Ausformulierung finden. In der Logik der reinen Erkenntnis werden die Geisteswissenschaften in einen einheitlichen methodischen Zusammenhang mit den Naturwissenschaften gestellt;14 und zwar in dem Sinne, daß das reine Denken im Hinblick auf die Begründung der Geisteswissenschaften ein Netz von »Dispositionen« bereitstellt, ohne dadurch schon ihren Inhalt und ihre spezifische Thematik zu antizipieren. »Gemeinsam aber ist allen Geisteswissenschaften mit der mathematischen Naturwissenschaft die Voraussetzung«, schreibt Cohen, »daß das Denken festgeprägte, unveränderliche Erzeugnisse zu geben und zu sichern vermag«.15 Auf dieser Basis besteht die begründende Funktion der Ethik darin, als ihren Bezugspunkt jenes Faktum der Geisteswissenschaften anzunehmen, das Kant noch nicht denken konnte, dem jedoch innerhalb der logischen Fundierung dieselbe Funktion wie der Naturwissenschaft zukommt. Die Ethik als »Lehre vom Menschen« bildet folglich die Logik der Geisteswissenschaften »nach deren positiven, eigenen Grundlagen«.16 Hieraus abgeleitet konstruiert Cohen zugleich eine »Analogie«, auf deren Grundlage die »Rechtswissenschaft« für die Geisteswissenschaften das Analogon zur Mathematik darstellt, während die Geschichts- und Gesellschaftswissenschaften ihrerseits das
Vgl. Kants Begründung der Aesthetik, S. 98: »Die Geisteswissenschaften sind moralische Wissenschaften, soweit sie nicht in ihren Methoden und Hilfsmitteln von Mathematik und Naturwissenschaft geleitet und inhaltlich erfüllt werden.« Doch Cohen fährt fort: »Insofern die sittlichen Ideen auf die Naturwesen der Menschen zur Anwendung kommen, haben alle Wissenschaften, auch die moralischen, in ihren Grundlagen und ihrem Material an den Naturwissenschaften Antheil.« 13 Ebd., S. 133. 14 Vgl. Logik der reinen Erkenntnis, S. 15. 15 Ebd., S. 44. 16 Ebd., S. 253. Vgl. auch S. 42–45, 312 ff., 607. 12
Die Grundlegung der Geisteswissenschaften
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Analogon der mathematischen Naturwissenschaften darstellen.17 Doch Cohen betont, daß Analogie nicht Gleichheit bedeutet: Es handele sich vor allem um eine strukturelle Korrespondenz, um ein Begründungsmodell, das die Verschiedenheit der Inhalte und die Konvergenz der Methoden zur Voraussetzung habe. Auf dieser methodischen Konvergenz beruhe die spezifische Einheit von Logik und Ethik, von der aus dann die systematische Grundlegung der Ästhetik erfolge.18 Zu diesem grundlegenden Punkt kehrt Cohen noch einmal 1913 in einem kurzen Aufsatz über Die Geisteswissenschaften und die Philosophie zurück. Hier wird jeglicher Dualismus von Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften im Namen der Einheit ihrer Prinzipien, die sich später als die Einheit der Erkenntnis in der Artikulation ihrer Methoden herausstellen wird, zurückgewiesen: »Das Wesen des Geistes bewährt sich in der Erkenntnis, welche die Grundlage und den Leitfaden jeder Wissenschaft bildet.« Die Logik und die Ethik – die wahren »Kraftquellen der Philosophie« – bilden die Einheit des Geistes, und nur von diesem Gesichtspunkt aus stelle sich das Problem der Geisteswissenschaften. Einerseits sei es erforderlich, die transzendentale Begründung der Geisteswissenschaften in der methodischen Verknüpfung der Logik mit der Ethik zu leisten. Andererseits werde man eine Wissenschaft (im Singular) des Geistes voraussetzen müssen: »Die Wissenschaften vom Geiste haben zur Voraussetzung die Wissenschaft vom Geiste.«19 Wie man sieht, unterscheidet sich die Position, die Cohen gegenüber einem der großen Themen der deutschen philosophischen Diskussion um die Jahrhundertwende einnimmt, beträchtlich sowohl von derjenigen Diltheys, der Cohen übrigens nie sympathisch war, als auch von derjeni-
Ebd., S. 299, 465; vgl. auch Ethik des reinen Willens, S. 65 f., 228 f. Es ist daran zu erinnern, daß Cohen nur schrittweise dieses komplexe Geflecht der ›faktischen‹ Referenzialität der Ethik skizziert hat, wie man im Vergleich der ersten Auflage der Logik der reinen Erkenntnis (1902) mit der zweiten (1914) und im Hinblick auf die Ethik von 1904 sieht. Besonders in den beiden Abschnitten der Logik, auf die soeben hingewiesen wurde, fehlte anfänglich der Bezug auf das »Analogon«, das die Rechtswissenschaft hinsichtlich der Mathematik darstellt. Wichtig für eine Rekonstruktion der Cohenschen Überlegungen in dieser Richtung ist auch der lange Abschnitt über die »Anwendung der ethischen Prinzipien«, der in der zweiten Auflage (1910) von Kants Begründung der Ethik, S. 371–557, ergänzt wird. Den faktischen Bezugspunkt der »Rechtswissenschaft«, der hier nur angedeutet wurde, umreißt präzise G. Gigliotti, Ethik und das Faktum der Rechtswissenschaft bei Hermann Cohen in Ethischer Sozialismus, S. 166–184. 18 Vgl. Ethik des reinen Willens, S. 83–108. 19 H. Cohen, Die Geisteswissenschaften und die Philosophie, dann in Schriften zur Philosophie und Zeitgeschichte, I, S. 520–526. 17
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Fünftes Kapitel
gen des südwestdeutschen Neukantianismus, die in der Logik der reinen Erkenntnis Gegenstand einer unterschwelligen, aber dennoch deutlichen Kritik ist.20 Andererseits hatte Cohen weder die Intention, eine »eigentliche Theorie der Geisteswissenschaften«21 zu formulieren, noch zeigte er sich direkt interessiert an der Diskussion um die Methoden der Geschichtsund Gesellschaftswissenschaften, die gerade in den Jahren, in denen die Logik der reinen Erkenntnis und die Ethik des reinen Willens erschienen, lebhaft geführt wurde. Sein Problem war die ›Wiederbegründung‹ der Kantischen Ethik und der Aufweis ihrer »Anwendbarkeit« auf die geschichtliche Welt sowohl hinsichtlich jener Teleologie der Freiheit, um die Kants Begründung der Ethik kreist, als auch hinsichtlich des Begriffs der Autonomie und der transzendentalen Bestimmung des Begriffs der Person, der wiederum das Zentrum der Ethik des reinen Willens darstellt und von dem sich die Vorherrschaft der Rechtswissenschaft ableitet.22 Wenn man den Weg verstehen will, den Cassirer zu Beginn der 20er Jahre bereits zurückgelegt hatte, darf man das Cohensche Erbe nicht vernachlässigen, das er, als ihm die Fundierung der Geisteswissenschaften in der Ethik unangemessen schien (auch wenn man noch in Freiheit und Form Anklänge daran vernehmen kann)23, sowohl überwindet als auch in gewisser Weise transformiert: Die »Wissenschaft vom Geiste«, auf die Cohen sich 1913 beruft, wird für Cassirer in der Philosophie der symbolischen Formen zu jener ›Morphologie‹ werden, die sich – als transzendentale Theorie der geistigen Formen – zumindest anfänglich zur Aufgabe macht, die unverzichtbare Voraussetzung der einzelnen Wissenschaften des Geistes zu konstituieren. Von diesem Gesichtspunkt aus teilte Cassirer mit dem Marburger Neukantianismus in seiner späten Phase weiterhin das Wissen um die wachsende Bedeutung der Wissenschaften der menschlichen Welt und war ebenso wie seine Lehrer vollständig davon überzeugt, daß es nicht möglich sei, sich »der entscheidendsten Frage seiner Epoche, dem Überdenken des Vernunftmodells, das die Kulturwissenschaften in die Wege geleitet haben«, zu entziehen.24 Wenn dieses
Vgl. Logik der reinen Erkenntnis, S. 76 f., wo auf den »Fehler« hingewiesen wird, eine autonome Logik der Geschichtswissenschaft zugrunde legen zu wollen. 21 H. Holzhey, Cohen und Natorp, I, S. 325. Vgl. auch die ausführliche Rekonstruktion E. Winters, Ethik und Rechtswissenschaft. Eine historisch-systematische Untersuchung zur Ethik-Konzeption des Marburger Neukantianismus im Werke Hermann Cohens, Berlin 1980, S. 238 ff. 22 Eine ausführliche Untersuchung dieser verschiedenen Aspekte bietet A. Poma, La filosofia critica di Hermann Cohen, Milano 1988, S. 116–142. 23 Vgl. Freiheit und Form, S. 154, 157, 167; ECW 7, S. 163, 166, 176. 24 G. Gigliotti, Avventure e disavventure del trascendentale, S. 197. 20
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Thema nun bei Cohen bereits umfänglich präsent war; und wenn, wie vor allem einige Schriften zwischen 1911 und 1912 zeigen, auch Natorp von der Notwendigkeit überzeugt war, die transzendentale Methode um der grundlegenden Einheit des Logos willen als Einheit der diversen ›Logiken‹ (des Seins und des Sollens, welches die Logik der Wissenschaften der menschlichen Welt: Geschichte, Ökonomie, Recht und Soziologie ist) auch auf die »sogenannten Geisteswissenschaften« auszudehnen,25 kann es sicherlich nicht erstaunen, daß auch Cassirer begann, sich dieses wirklich »entscheidenden« Themas anzunehmen. Cassirer näherte sich diesem Problem schließlich in einer Reihe von Studien, in denen sich – von Freiheit und Form über die Kantmonographie von 1918 bis zu den in Idee und Gestalt versammelten Aufsätzen – das Problem der geistigen Welt, ihrer Formen und ihrer Geschichte, aber besonders ihre eigentümliche Gesetzmäßigkeit, die sich weder auf die Dimension der Erkenntnis reduzieren läßt, noch zu ihr in Widerspruch steht, mehr und mehr durchsetzte – kurz: das Problem einer eigenen ›Logik‹ der Geisteswissenschaften und des Verhältnisses zwischen »Natur« und »Geist«.26 2. Cassirer zeichnete den ersten Entwurf zu dieser Thematik erstmals 1921 in einem Hamburger Vortrag zur Begriffsform im mythischen Denken, der 1922 als erster Band der »Studien der Bibliothek Warburg« publiziert wurde.27 Er berief sich nicht nur zufällig auf Cohen, sondern ging unmittelbar von dessen Logikbegriff aus. In der kritischen und idealistischen Tradition ist unter dem Terminus ›Logik‹ ›transzendentale Logik‹ oder genauer ›Logik der wissenschaftlichen Erkenntnis‹ zu verstehen, die historisch mit der klassischen Marburger ›Linie‹ zu identifizieren ist, die von Platon über Descartes und Leibniz bis zu Kant führt. Das Motto des Cusanus’, das Cohen so sehr gefiel (»Nihil certi habemus in nostra scientia nisi nostram mathematicam«), verdichtet prägnant dieses für die moderne idealistische Philosophie charakteristische Verständnis der Logik, d. h. des auf der Basis der transzendentalen Methode vom ›Faktum‹ der mathematischen Wissenschaft ausgehenden Idealismus. Zweifellos, betont Cassirer, ist es das bleibende Verdienst Cohens, diese »Entwicklungslinie« sowohl in historischer als auch in systematischer Hinsicht
Vgl. P. Natorp, Philosophie. Ihr Problem und ihre Probleme, S. 93 ff.; s. außerdem Kant und die Marburger Schule, S. 216. 26 Vgl. in diesem letzteren Sinne die Betrachtungen zu Leibniz und dem Erbe des Zeitalters der Reformation in Freiheit und Form, S. 34; ECW 7, S. 36 f. 27 Vgl. E. Cassirer, Die Begriffsform im mythischen Denken, Leipzig 1922, jetzt in Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, S. 1–69. 25
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verdeutlicht zu haben: Für Cohen ist die Logik in völliger Übereinstimmung mit diesen Voraussetzungen Logik der reinen Erkenntnis oder Logik der mathematischen Naturwissenschaft.28 Der offenkundig unbedingten Anerkennung seines Marburger Lehrers läßt Cassirer jedoch besonders signifikante Zurückhaltung folgen: »Weit schwieriger« – schreibt er und hebt eine Lücke in der von Cohen gezogenen historisch-systematischen Linie hervor – »stellt sich von Anfang an das Verhältnis zwischen der Logik als ›allgemeiner Wissenschaftslehre‹ und dem System der ›Geisteswissenschaften‹ dar«.29 Cassirer weist abermals darauf hin, daß der erste moderne Denker, der um die Komplexität dieses Verhältnisses gewußt habe, Vico gewesen sei, dessen Scientia Nuova ihm als der kühne Versuch erscheint, »das Problem einer allgemeinen Logik der Geisteswissenschaften, die gleichwertig neben jener der Mathematik und der Naturwissenschaften steht«, zu entwerfen.30 Nun ist es einigermaßen evident, daß diese Rückwendung von Cohen zu Vico als unterschwellige Kritik Cassirers an Cohen interpretiert werden kann; vor allem ist es jedoch kein Zufall, daß Cassirer, nachdem er in gewisser Weise die Logik der reinen Erkenntnis Cohens der von Vico skizzierten allgemeinen Logik der Geisteswissenschaften gegenübergestellt hatte, einen zentralen Punkt streift: Cassirer wußte genau, daß das Problem der Grundlegung der Geisteswissenschaften bei Cohen eine präzise Lösung im Bereich der Ethik gefunden hatte. Tatsächlich schien die Cohensche Lösung 1921 bereits an Plausibilität verloren zu haben, sei es, weil das Problem der Begründung der Kulturwissenschaften sich Cassirer allmählich als dasjenige einer Systematik der ›geistigen Energien‹ stellte, sei es, weil der ›faktische‹ Hauptbezugspunkt Cohens (die Rechtswissenschaft) bereits »dem Ganzen der symbolischen Formen« gewichen war: der »Vielgestaltigkeit«, in der Mythos und Kunst, Erkenntnis und Sprache ihr »Weltverständnis« zum Ausdruck bringen.31 Darüber hinaus wurde das noch gänzlich dem 19. Jahrhundert verhaftete Modell, welches die Ethik als die eigentliche Wissenschaft des Menschen betrachtete, von der Forschergeneration, der Cassirer angehörte, grundsätzlich in Frage gestellt, und zwar gerade hinsichtlich der Grundlegung der Geisteswissenschaften, deren logisch-me-
Ebd., S. 4. Für das Diktum des Cusanus vgl. z. B. Kants Theorie der Erfahrung, S. 41, und Logik der reinen Erkenntnis, S. 32. 29 Die Begriffsform im mythischen Denken, S. 5. 30 Ebd., S. 5 f. 31 Vgl. Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, S. 108 ff.; ECW 10, S. 112 ff., und Goethe und die mathematische Physik, S. 65–73; ECW 9, S. 299–307. 28
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thodologische Struktur durch Abkehr von dem priviligierten Verhältnis zur ethischen Dimension sichtbar gemacht werden sollte.32 Aber auch innerhalb der bereits im Niedergang befindlichen Marburger Schule wurde der Cohensche Ansatz einem Revisionsprozeß unterzogen, wie man zum Beispiel an der Berliner Rede, die Natorp 1918 Cohen zu Ehren kurz nach dessen Tod hielt, sehen kann. Natorp diskutierte ausführlich die Funktion und Ausweitung der Cohenschen Logik, speziell ihre Unzulänglichkeit zur Begründung der Geisteswissenschaften: Wenn es innerhalb des Cohenschen Systems die Ethik ist, die die Begründung der Geisteswissenschaften ermöglicht, scheint der Schluß unvermeidbar zu sein, daß das Begründungsgebiet der Logik der reinen Erkenntnis auf die mathematische Naturwissenschaft beschränkt bleibt, sich einer analogen Funktion gegenüber anderen Zweigen des Wissens verschließt und so ein Residuum von Szientismus aufs Spiel setzt.33 Sicherlich, bekräftigte Natorp, ist die Logik für Cohen die »Voraussetzung« der Ethik und der Ästhetik; aber gerade darin besteht ihre Grenze, denn »Voraussetzung ist noch nicht Grundlegung«.34 Natorp hält eine bloße »Koordination« von Logik und Ethik für eine ›schwache‹ Ausprägung des Systems. Dennoch erkennt er an – und hier handelt es sich um eine Bewertung, in der eine typische Forderung des späten Natorp zur Geltung kommt –, daß in dem »Grundgesetz der Wahrheit« der Ethik eine authentische logische Grundlegung Gestalt annimmt. Diese besteht in einer ›Letztbegründung‹ der einzelnen transzendentalen Grundlegungen, einer Grundlegung der Grundlegungen, die die Merkmale einer »allgemeinen Logik« als »Einheitszusammenhang alles Gedachten nach seiner gesetzmäßigen Verfassung« hinsichtlich einer Perspektive annimmt, die von der unabgeschlossenen Allgemeinen Psychologie von 1912 aus in die Erforschung des Logos selbst als »allgemeiner Kategorienlehre« mündete.35 Vgl. z. B. die 1920 verfaßten Schriften von K. Sternberg, Der Neukantianismus und die Forderung der Gegenwart, S. 404 f., und A. Baeumler, Kritizismus und Kulturphilosophie, S. 420 f.; vgl. darüber hinaus G. Gigliotti, Dalle facoltà alle forme. Introduzione al concetto di volontà in Cohen (als Einleitung zu H. Cohen, Etica della volontà pura), S. VIII. 33 Zu dem (wenn auch verdeckten) Szientismusvorwurf vgl. Hermann Cohens philosophische Leistung unter dem Gesichtspunkte des Systems, S. 14, 23, und auch Hermann Cohen als Mensch, Lehrer und Forscher, S. 19 f. 34 P. Natorp, Hermann Cohens philosophische Leistung unter dem Gesichtspunkte des Systems, S. 24. 35 Vgl. P. Natorp, Selbstdarstellung in Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, hg. von R. Schmidt, I, Leipzig 1921, S. 157 ff., und Allgemeine Logik (unveröffentlichtes Manuskript) in Erkenntnistheorie und Logik im Neukantianismus, S. 228 (der Text geht auf 1918–1919 zurück). Für das vorige vgl. Hermann Cohens philosophi32
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Über diese Entwicklungen des Natorpschen Denkens um 1918–1919 war Cassirer umfassend informiert, wie ein Brief vom 8. September 1919 belegt, in dem er sich besonders am Projekt einer »allgemeinen Logik« interessiert zeigte. (»Ich hoffe«, fügte Cassirer hinzu, »auch für eine eigene systematische Arbeit, in der ich jetzt drin stecke, daraus viel zu lernen«).36 Dies bedeutet nicht, daß Cassirer mit dem vom späten Natorp eingeschlagenen Weg einverstanden gewesen wäre, der sich trotz des gemeinsamen Anliegens, das »System der Kategorien« als »unendlich offen« zu konzipieren, von dem Cassirerschen Entwurf einer Kulturphilosophie immer weiter entfernt hatte.37 Die Kritik Natorps an der Cohenschen Verbindung von Logik, Ethik und Geisteswissenschaften schien jedoch bei ihm nicht ohne Echo zu bleiben. Cassirer arbeitete an demselben Problemkomplex und hatte bereits »eine Erweiterung des Begriffs der Logik« zu einer »allgemeinen Logik« im Sinn, die, indem sie sich als »Lehre vom Denken überhaupt‹ « qualifiziere, die Totalität der geistigen Formen38 theoretisch legitimieren und zurückgehen könne zur ursprünglichen Einheit der »Welt des Geistes«, die bereits Natorp mit seiner ›kritischen Psychologie‹ zu gewinnen versucht hatte.39 Dennoch sind diese Themen in den frühen 20er Jahre bei Cassirer noch in der Entwicklungsphase. Insbesondere die Überlegungen zum transzendentalen Status der Geisteswissenschaften und ihrer Fundierung im Lichte eines erweiterten Logikbegriffs bilden den Ausgangspunkt der Problematik der ›symbolischen Formen‹: einer Problematik, die später das Eingangsproblem überlagern oder transformieren wird, so daß in der Folge die Genese der Philosophie der symbolischen Formen und ihr Verhältnis zur Marburger Hinterlassenschaft in den Schatten tritt.40 Daß auch Cassirers Problem zu Beginn darin bestand, zu einer angemessenen Begründung der Kulturwissenschaften zu gelangen, ist einigermaßen sche Leistung unter dem Gesichtspunkte des Systems, S. 24 f., 28 ff., und Hermann Cohen als Mensch, Lehrer und Forscher, S. 26. 36 Der Brief wird mit der Signatur Hs 831 / 662 im Nachlaß Natorps in der Marburger Universitätsbibliothek verwahrt: Auch er ist bereits zitiert worden in Das Problem der Geisteswissenschaften in den Schriften Cassirers für die »Bibliothek Warburg«, S. 131, Anm. 26. 37 P. Natorp, Vorlesungen über praktische Philosophie, S. 22. Zum späten Natorp vgl. Cassirer, Paul Natorp, S. 295. 38 Vgl. Die Begriffsform im mythischen Denken, S. 7 f. 39 Vgl. zu diesem Aspekt noch einmal Paul Natorp, S. 289 ff. 40 Zur Cassirerschen Grundlegung der Geisteswissenschaften vgl. vor allem L. Lugarini, Critica della ragione e universo della cultura, S. 110–115, und G. Wolandt, Vom Geltungsbegriff zum Symbolbegri ff. Cassirers Beitrag zur Grundlegung der Kulturwissenschaften in Idealismus und Faktizität, Berlin 1971, S. 145–158.
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evident, wenn man die Eingangspassagen des Vortrags von 1921 über Die Begriffsform im mythischen Denken liest. Er umreißt hier zügig den status quaestionis, indem er die wichtigsten Etappen, die die Behauptung der Geisteswissenschaften im 19. Jahrhundert charakterisiert haben, Revue passieren läßt: auf der einen Seite die Hegelsche Forderung, die »Totalität des geistigen Lebens« zu erfassen, und auf der anderen die nachhegelsche Diskussion über das Verhältnis von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften sowie über den Status historischer Erkenntnis. Derartige kritische Rückbesinnungen gehörten zur Tagesordnung der deutschen philosophischen Diskussion. Gerade zu Beginn der 20er Jahre wurde sie durch das Werk von Denkern (von Erich Rothacker bis Ernst Troeltsch), mit denen Cassirer zweifellos vertraut war, erstmals historisch behandelt, während andererseits das Klima der Hegel-Renaissance eine flexiblere Auseinandersetzung mit Hegel und dem nachkantischen Denken erforderte, als es bislang innerhalb der Marburger Schule üblich war.41 In Übereinstimmung mit dem, was er kurz zuvor im dritten Band des Erkenntnisproblems geschrieben hatte, gestand Cassirer auch bei dieser Gelegenheit der Hegelschen Philosophie das Verdienst zu, »die konkrete Totalität des geistigen Lebens« erfaßt zu haben; gleichzeitig jedoch wies er den starren metaphysischen Schematismus der dialektischen Methode zurück.42 Zwar handelte es sich hier nicht um eine besonders originelle Kritik, und es wäre nicht sonderlich schwierig, die Herkunft eines solchen Urteils aufzuzeigen. Die Dringlichkeit jedoch, mit der Cassirer die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit der »Totalität« der geistigen Formen im Lichte des Dynamismus, eines unaufhörlichen Procede-
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Zu Troeltsch vgl. besonders die Darstellung bzw. Diskussion der Philosophie Rickerts, (der sich der kritischen Analyse der Hegelschen Dialektik anschließt) in Der Historismus und seine Probleme, S. 150–160, 221–277; bekanntlich arbeitete Troeltsch hier Beiträge um, die bereits zwischen 1919 und 1922 erschienen waren. Zu Toeltsch ist auch seine Rezension des dritten Bandes des Erkenntnisproblems zu erwähnen, in der er am Ende erklärte, mit seinen Studien über den Historismus eine Art Pendant (ein »sehr viel bescheideneres« präzisierte er) bieten zu wollen zu dem »monumentalen Werk Ernst Cassirers«, in dem leider das Problem der Geschichte nicht berücksichtigt worden sei (vgl. »Theologische Literaturzeitung«, XLVI, 1921, Sp. 160 f.). 1920 war hingegen die erste Auflage von Rothackers Einleitung in die Geisteswissenschaften erschienen, die sich bezeichnenderweise zwischen dem anfänglichen Tribut an die Hegelsche Philosophie als »Beispiel für die Rolle einer Geistesphilosophie innerhalb der Geisteswissenschaften« und der Lehre Diltheys in der Vermittlung durch die historische Schule bewegte (zitiert nach der 2. Aufl., Tübingen 1930, S. 7, 8–37, 253–277). 42 Vgl. Die Begriffsform im mythischen Denken, S. 6.
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res, das in der ›unendlichen Aufgabe‹ der Idee seine Entsprechung findet, einforderte, verrät seine inzwischen zentrale theoretische Beschäftigung: Den ›objektiven Geist‹ in der Vielfalt seiner Inhalte und jenseits seiner Erstarrung innerhalb der Hegelschen Dialektik einer methodischen Klärung und transzendentalen Begründung zu unterziehen ist Gegenstand der geisteswissenschaftlichen Erforschung.43 Aber gerade deshalb erweist sich eine methodische Beschränkung auf die Erklärung der historischen Erkenntnis nach Ansicht Cassirers als völlig unzureichend für eine befriedigende Lösung dieses zentralen Problems. Der Versuch des südwestdeutschen Neukantianismus, die Logik der historischen Erkenntnis herauszuarbeiten, bzw. ›idiographisches‹ und ›nomothetisches‹ Verfahren methodologisch zu unterscheiden, könne zwar methodisch berechtigt sein, lasse jedoch »den Gegenstand« dieser Erkenntnisform »noch völlig unbestimmt«.44 Diese Bedenken sind besonders bezeichnend: Nicht anders als Cohen und Natorp wies auch Cassirer (und hier handelt es sich um ein Thema, auf das bereits in Substanzbegriff und Funktionsbegriff hingewiesen worden ist)45 jede Gegenüberstellung von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften, von individualisierender und generalisierender Methode in der Überzeugung zurück, daß die verschiedenen »Richtungen« des »kulturellen Bewußtseins« durch ihre Gesetzmäßigkeit verbunden seien, eine Gesetzmäßigkeit, die Cassirer seinerseits nicht auf die Cohensche Dreiteilung von Logik, Ethik und Ästhetik (oder jene des späten Natorp von Theorie, Praxis und Poiesis) beschränkte, sondern auf die Formen der Sprache, der ästhetischen Phantasie und des mythischen Denkens ausdehnte: auf eine Pluralität von Formen, deren differenzierte Einheit – in einer Art Vermittlung zwischen Cohen und Natorp – durch den Bezug auf die
43 Vgl. Philosophie der symbolischen Formen, III, S. VI f.; ECW 13, S. VIII f., und vor allem Das Erkenntnisproblem, III, bes. S. 377; ECW 4, S. 362 f. Hier ist nicht der Ort, ein weiteres Mal auf die Beziehung Cassirer-Hegel zu sprechen zu kommen, mit der sich bereits die vorangegangenen Kapitel beschäftigt haben; aber für den Zusammenhang, der hier betrachtet wird, ist es vielleicht hilfreich, daran zu erinnern, daß die Kodifizierung des Gegensatzes vom Reichtum des geistigen Lebens und der Starrheit der dialektischen Methode bei Hegel gerade von Dilthey stammt (der im übrigen in der Kritik der Hegelschen Dialektik explizit von Trendelenburg Gebrauch machte), vgl. W. Dilthey, Die Jugendgeschichte Hegels in Gesammelte Schriften, IV, S. 3, 229 f. Eine ähnliche Bewertung findet sich bei E. Rothacker, Einleitung in die Geisteswissenschaften, S. 9, 11. 44 Vgl. Die Begriffsform im mythischen Denken, S. 6. 45 Vgl. Substanzbegriff und Funktionsbegriff, S. 293 ff.; ECW 6, S. 240 ff., wo Cassirer Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung von Rickert vor allem hinsichtlich der funktional-relationalen Theorie des Begriffs diskutiert.
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›Fakten‹ der Kultur einerseits und andererseits durch die »allgemeine Logik«, die die gemeinsame Fundierung darstellt, gesichert ist. Cassirer positionierte sich folglich in beträchtlicher Distanz zu Windelband und Rickert, die übrigens in dem Vortrag von 1921 nicht ausdrücklich erwähnt wurden (auch wenn es offensichtlich ist, daß Cassirer sich auf sie, speziell auf Windelband, bezog); auch wahrt er Distanz zu Dilthey und der Diltheyschen Unterscheidung von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften, die Cassirer in diesem Zusammenhang nicht einmal in Erwägung zu ziehen scheint.46 Diese knappe Erörterung der Debatte über den Status der Wissenschaften der menschlichen Welt wird in den wesentlichen Zügen, obzwar mit einigen Variationen, auch in den späteren Werken von Zur Logik der Kulturwissenschaften bis zum Essay on Man wieder aufgenommen. Als Cassirer sich 1942 erneut und ausführlicher mit Windelband und Rickert auseinandersetzte, stützte er sich explizit auf die kritische Analyse, die Troeltsch in Der Historismus und seine Probleme vorgelegt hatte. Insbesondere hob er die durch Rickert erzielten Fortschritte gegenüber der ersten Formulierung des von Windelband aufgeworfenen Problems hervor. Jedoch abgesehen von der (diesmal ein wenig herzlicheren) Anerkennung der Verdienste der südwestdeutschen Schule um eine rein methodische Klärung der gesamten Diskussion um die Geisteswissenschaften bekräftigte Cassirer, daß die Windelbandsche Unterscheidung zwischen den individualisierenden Begriffen der Geschichtswissenschaften und den nomothetischen Verfahren der Naturwissenschaften zu einfach sei: so einfach, daß sie Rickert zu einer vollständigen Umarbeitung der gesamten Fragestellung hinsichtlich einer Unterscheidung, in der der Bezug zu den Werten bestimmend wird, veranlaßte. Dennoch – ergänzt Cassirer – werden die Werte entweder aus der Geschichte abgeleitet oder gründen sich auf metaphysische Annahmen. In beiden Fällen scheine das Grundproblem auf Voraussetzungen zurückgeführt zu werden, denen es gerade entgegenzutreten gelte. Rickert gelinge es nicht, einen anderen Ausweg zu finden.47 In Wirklichkeit, stellte Cassirer andernorts klar und distanzierte sich damit noch einmal von Windelband und Rickert, haben
46 Eine indirekte Kritik an Dilthey (in der sein Schüler Frischeisen-Köhler angegriffen wird) findet sich dagegen in der Übersicht bzw. Diskussion Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik von 1913, S. 27–32; ECW 9, S. 159–164, wo der Wert und die Bedeutung des Erlebnisses in Frage gestellt wird. 47 Vgl. Zur Logik der Kulturwissenschaften. Fünf Studien, Göteborg 1942 (Nachdruck Darmstadt 61994), S. 36 f. Zur Rickertkritik, allerdings auch hier an Hand von Troeltsch durchgeführt, s. auch An Essay on Man, S. 196.
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alle Wissenschaften einen ›nomothetischen‹ Charakter,48 und in diesem Sinne ist es nicht möglich, einen Gegensatz zwischen Allgemeinem und Besonderem zu konstruieren, da sich in jeder Form von Urteil beide wechselseitig implizieren, d. h. eine »synthetic unity« bestehe.49 Daher muß nach Cassirer herausgestellt werden, daß diese Art Unterscheidungen dem Problem einer Logik der Geschichtswissenschaften verhaftet bleiben, ohne das Problem ihres Gegenstandes auch nur zu berühren. Die Klärung der Strukturen der Formen, in denen sich die Tätigkeit des Geistes ausdrückt, sei im Vergleich mit der methodologischen Rechtfertigung der einzelnen Wissenschaften, die solche Formen zu ihren eigenen Forschungsgebieten erheben, vorrangig.50 Diese These der relativen Kontinuität der Überlegungen Cassirers findet eine weitere Bestätigung in der Tatsache, daß Cassirer zwischen den frühen 20er Jahren und dem Anfang der 40er Jahre diese Einschätzung nicht einmal bezüglich des Werkes Diltheys, zu dem er sich (wenn überhaupt) nur sehr knapp äußert, zu verändern scheint. Er blieb, obwohl es sich mehr und mehr als unzutreffend herausstellte, dem Klischee verhaftet, daß die besten Arbeiten des fragmentarisch und unvollständig gebliebenen Werkes Diltheys subtile Untersuchungen wesentlich historischen Charakters seien.51 Jedoch auch dort, wo Cassirer eine Bewertung der theoretischen Leistung Diltheys versucht, wird der Verdacht eines beharrlichen Psychologismus und übertriebener positivistischer Sympathien kaum durch die allgemeine Anerkennung gemildert, daß er später der Verführungskraft des »Faktischen« im Namen einer »Kritik der historischen Vernunft« und eines scharfsinnigen Verständnisses der wirklichen Erfordernisse einer Logik der Geisteswissenschaften widerstanden habe: »Statt einen neuen ›gegenständlichen‹ Aufbau zu versuchen«, schrieb Cassirer 1939, »ging [ Dilthey ] von dem Begriff des ›Erlebnisses‹ aus; und er suchte in einer neuen ›geisteswissenschaftlichen Psychologie‹, die sich auf diesen Begriff stützt, die Grundlegung der Geisteswissenschaft zu vollziehen. Die Logik der Geisteswissenschaften wird einen anderen Weg einschlagen müssen. Aber die Tatsache, dass es eine solche Logik gibt Vgl. die Vorlesungen (auch von 1942) über The Philosophy of History in Symbol, Myth, and Culture, S. 128. 49 Vgl. An Essay on Man, S. 186. 50 Ebd., S. 176. 51 Eine gut belegte Darstellung der Diltheyrezeption ist F. Rodis und H. U. Lessings Einleitung zu den Materialien zur Philosophie Wilhelm Diltheys, hg. von F. Rodi und H. U. Lessing, Frankfurt am Main 1984, S. 7–41 (und siehe ebenfalls F. Bianco, Introduzione a Dilthey, Roma-Bari 1985, S. 179 ff.). 48
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und geben muss, ebenso wie sie für die mathematische und für die naturwissenschaftliche Erkenntnis besteht, scheint mir keinem Zweifel zu unterliegen; und Diltheys eigene Untersuchungen über die Struktur der historischen Wisenschaft stellen einen sehr wichtigen und sehr wesentlichen Beitrag zu ihr dar.«52 Und doch war Cassirer dem späten Dilthey möglicherweise näher, als auch nur eine einzige Äußerung durchscheinen läßt, obwohl das Diltheysche Problem des Verständnisses der menschlichen Welt etwas anderes war als die Cassirersche Ausweitung der Transzendentalphilosophie zu einer ›Kulturkritik‹. Verschieden in den Wurzeln und ihren Entwicklungen scheinen die Perspektiven Diltheys und Cassirers dennoch in der Absicht übereinzukommen, die Objektivierungen des Geistes durch die Formen, in denen der Mensch sich im Medium der Kultur ausdrückt, begreifen zu wollen.53 Die »geistigen Formen«, die das Verstehen der Welt ermöglichen, sind für Cassirer seit dem Vortrag über das mythische Denken und in Übereinstimmung mit dem, was er am Ende der Schrift über die Einsteinsche Relativitätstheorie vertreten hatte, ja gerade »Organ[ e ] des Weltverständnisses und gleichsam der ideellen Weltschöpfung«, jede in ihrer eigentümlichen Charakteristik von der wissenschaftlichen Erkenntnis unterschieden.54 In jeder geistigen Form manifestiere sich eine typische »Gestaltgebung«,55 und von solch ›schöpferischer‹ Natur sei auch das mythische Denken. Dieses wird hier jedoch noch nicht im Lichte des Begriffs der symbolischen Form verstanden, da ausgehend von seiner charakteristischen Form der Begriffsbildung, seinem Objektivationsmodus, und gestützt durch die Untersuchungen in Substanzbegriff und Funktionsbegriff der »Vorrang« des Gesetzesbegriffs vor dem Dingbegriff wieder eingesetzt wird. Auch im mythischen Denken ist der Begriff nicht Axel Hägerström. Eine Studie zur schwedischen Philosophie der Gegenwart, S. 113 f. (vgl. auch Formen und Formwandlungen des philosophischen Wahrheitsbegriffs, S. 339). 53 Eine positivere Bewertung Diltheys findet sich in diesem Sinne in den Aufzeichnungen zu den Basisphänomenen, wo die Vorbehalte Cassirers gegenüber dem Erleben und dem Verstehen die Übereinstimmung mit Dilthey bezüglich des »Grundproblems« des »schöpferischen Tuns«, das sich im kulturellen Werk manifestiert (vgl. Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 160–165), nicht verhindern. Zu Cassirer und Dilthey – solange eine zusammenfassende Studie, die besonders wünschenswert wäre, noch auf sich warten läßt – vgl. R. A. Makkreel, Wilhelm Dilthey and the Neo-Kantians: The Distinction of the Geisteswissenschaften and the Kulturwissenschaften, »Journal of History of Philosophy«, VII, 1969, S. 423–440 (bes. S. 434 ff.). 54 Vgl. Die Begriffsform im mythischen Denken, S. 7. 55 Ebd., S. 9. 52
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das Produkt einer Ähnlichkeit der Dinge, sondern »die Vorbedingung« für das Setzen einer Ähnlichkeit zwischen ihnen.56 Cassirer verdeutlicht noch einmal, daß es nicht darum gehe, die mythische Begriffsform auf eine Variante der wissenschaftlichen zu reduzieren; ebensowenig gehe es jedoch darum, dem mythischen Denken das Fehlen einer ihm eigentümlichen logischen Form zu unterstellen. Im Gegenteil: Die ihm eigene »Gesetzlichkeit« und Organisation innerhalb eines Komplexes von Kategorien zeigen deutlich, daß der Begriff der Logik selbst weiter zu fassen sei, denn aus einer gemeinsamen Wurzel, derselben schöpferischen Funktion der »Arbeit des Geistes«, gehen verschiedene Modalitäten und Bereiche hervor.57 Der produktive, gesetzmäßige Charakter der geistigen Objektivierungen, der soeben im Ausgang von der Begriffsthematik und folglich aus der Perspektive von Substanzbegriff und Funktionsbegriff skizziert worden ist, sollte wenig später im Hinblick auf eine systematische Untersuchung der symbolischen Formen weiterentwickelt werden.58 Bereits 1923 wird Cassirer in dem Aufsatz Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, dessen Titel nicht zufällig auf Dilthey anspielt, das Konzept der symbolischen Form als solches zum Thema machen und einen Überblick – eine »allgemeine Typik« – über den »Rhythmus« der Entwicklung der symbolischen Formen (von der Sprache über die Kunst zur wissenschaftlichen Erkenntnis) wagen.59 Auch definiert er mit immer präziseren Begriffen die wahre Natur jener ›Gegenstände‹, mit denen sich die Geisteswissenschaften beschäftigen. Es sind Objektivierungen des Geistes, die ihren Ursprung in der geistigen Produktion haben, »verschiedene Äußerungen« – wie er sich 1923 im ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen auszudrücken pflegt – »ein und derselben geistigen Grundfunktion«, einer ›Formgebung‹ und damit Objektivierung als autonomer »Energie des Geistes«, eines Geistes, der in diesem Prozeß seine eigene »Selbstoffenbarung« verfolgt.60 Angesichts dieser unerschöpflichen geistigen Aktivität gewinnt das Problem der Geisteswissenschaften einen neuen Horizont, bzw. zeigt sich als solches 56
Ebd., S. 10. Ebd., S. 18, 60. 58 Auf die Kontinuität, die die Theorie des Begriffs und die Philosophie der symbolischen Formen verbindet, lenkt Cassirer selbst die Aufmerksamkeit im späten Aufsatz von 1938 Zur Logik des Symbolbegriffs, jetzt in Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, S. 223. 59 Vgl. Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, S. 183, 187. 60 Philosophie der symbolischen Formen, I, S. 8 f.; ECW 11, S. 6 f. 57
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am Horizont des Cassirerschen Denkens (im Aufsatz von 1923 erscheint der Terminus ›Geisteswissenschaften‹ nur ein einziges Mal, nämlich im Titel). In der Tat geht es nicht nur darum, eine methodologische Analyse der Strukturen der einzelnen Wissenschaften der menschlichen Welt durchzuführen, sondern darum, einen Schritt zurückzugehen zu einer ›Wissenschaft des Geistes‹ (im Singular), wie Cohen sich ausdrückte. Es ist für Cassirer der Anspruch einer philosophia prima, die sich, strikt dem transzendentalen Ansatz verpflichtet, dem großen Thema – in dieser Hinsicht nicht so weit von Dilthey entfernt – des geistigen Ausdrucks und des Weltverstehens im Rahmen einer systematischen Untersuchung der symbolischen Formen widmet, d. h. all dem, so Dilthey, »worin der Geist sich objektiviert«.61 3. Im Vorwort zum ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen weist Cassirer darauf hin, daß seine Untersuchungen ihren Ausgang von dem Versuch genommen haben, die Ergebnisse, zu denen er in Substanzbegriff und Funktionsbegriff gelangt war, auch für den Bereich der Geisteswissenschaften fruchtbar zu machen. Im Verlauf der Arbeit jedoch, fügt er hinzu, habe sich »die allgemeine Erkenntnistheorie in ihrer herkömmlichen Auffassung und Begrenzung« nach und nach für die »methodische Grundlegung der Geisteswissenschaften« als unzulänglich erwiesen. Daher habe sie sich einer »prinzipiellen Erweiterung« unterziehen und schließlich in eine Reflexion über die »Grundformen des ›Verstehens‹ « transformieren müssen.62 1923, am Ende einer theoretischen Wegstrecke, die weniger linear verlaufen ist, als man gewöhnlich annimmt, zeigte sich die Grundlegung der Geisteswissenschaften für Cassirer als unauflöslich gebunden an die Notwendigkeit einer »Philosophie des Geistes«,63 einer »allgemeinen Systematik der symbolischen Formen«64, einer » ›Formenlehre‹ des Geistes«,65 einer »philosophischen
W. Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, S. 148: »Alles, dem der Mensch wirkend sein Gepräge aufdrückt, bildet den Gegenstand der Geisteswissenschaften [ … ] [ A ]lles, worin der Geist sich objektiviert hat, [ fällt ] in den Umkreis der Geisteswissenschaften«. Zur »Wissenschaft des Geistes« vgl. auch E. W. Orth, Zum Zeitbegriff Ernst Cassirers in Studien zum Zeitproblem in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, hg. von E. W. Orth (= »Phänomenologische Forschungen«, VIII), Freiburg-München 1982, S. 87, der auf Husserl und Dilthey verweist, jedoch Cohen vernachlässigt. 62 Philosophie der symbolischen Formen, I, S. V; ECW 11, S. VII. 63 Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, S. 171. 64 Ebd., S. 174. 65 Philosophie der symbolischen Formen, I, S. V; ECW 11, S. VII. 61
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Systematik des Geistes«66 und schließlich einer »allgemeinen Philosophie der Geisteswissenschaften«67, die der konkreten Arbeit der einzelnen Wissenschaften der menschlichen Welt ihre systematische Grundlegung sichern können.68 In all diesen Formulierungen wird der Philosophie der symbolischen Formen – eher als Arbeitsprogramm verstanden, denn als geschlossenes Gebäude – die Aufgabe der transzendentalen Fundierung jenes ›Faktums‹ der Geisteswissenschaften zugewiesen, das historisch gesehen nicht von der Kantischen kritischen Analyse habe berücksichtigt werden können, jedoch von der gesamten nachkantischen Philosophie zunehmend ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt worden sei.69 Das leitende Prinzip der transzendentalen Methode – bei einem gesicherten Faktum zu beginnen, um von dort aus zu seinen Möglichkeitsbedingungen zu gelangen – blieb für Cassirer das grundlegende methodische Instrument, das, zwar in den Fußstapfen der wichtigsten Lehren Cohens, jedoch innerhalb eines »Problemzusammenhangs«, der über Cohen hinausging, den Horizont einer neuen Grundlegung erschließen sollte, indem es vor allem hinsichtlich einer »allgemeinen Theorie der geistigen Ausdrucksformen« zur Anwendung gebracht wurde.70 Die methodische Legitimation der Geisteswissenschaften verbindet sich so mit dem Anspruch, die gestaltenden Energien der geistigen Objektivierungen, die Strukturen der symbolischen Organisation zu erfassen: Es geht mit anderen Worten darum, die Kantische »Revolution der Denkart« auf die formgebende Tätigkeit des Geistes auszudehnen, die sich in der Sprache wie im Mythos, in der Kunst wie in der Erkenntnis als wirksam erweist.71 Im Verlauf dieser eindrucksvollen systematischen Arbeit verschiebt sich das gesamte Projekt Cassirers in entscheidender Weise. Das Problem der Grundlegung der Geisteswissenschaften fällt mit der Klärung der Gesetzmäßigkeiten der verschiedenen Formen der Objektivierung und Konstitution von Welt zusammen, die nur als solche – als objektivierte Formen – zum Thema der einzelnen Wissenschaften der Kultur werden können. Deshalb geht es bei Cassirer weniger darum, eine ›Kritik der historischen Vernunft‹ zu entwerfen, als darum, die Vernunftkritik im Kantischen Sinne als »Kritik der Kultur« zu konzipie66
Ebd., S. 14; ECW 11, S. 12. Ebd., S. 9; ECW 11, S. 7. 68 Vgl. Philosophie der symbolischen Formen, II, Das mythische Denken, Berlin, 1925 (nachfolgend werden die Seitenzahlen des Nachdrucks Darmstadt 1991 sowie ECW 12 angegeben, nach dem zitiert wird). 69 Vgl. Zur Logik des Symbolbegriffs, S. 228 70 Philosophie der symbolischen Formen, I, S. V, 12; ECW 11, S. VII. 71 Ebd., S. 9 ff.; ECW 11, S. 7 ff. 67
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ren.72 Als die drei Bände der Philosophie der symbolischen Formen bereits abgeschlossen waren, hat Cassirer quasi als nachträgliche Rechtfertigung diesen Aspekt erläutert: »The historian, philologist, linguist, ethnologist, and the investigator of myth and history of religion are involved with the forms of culture. But here philosophy must go a step further back and, as it were, push forward into a new and deeper layer of questioning. Starting with such forms it must go back and ask about the performativ powers, about the type of spiritual functions and energies which have produced and made possible these shapes of the human spirit.«73 In vielleicht noch klarerer Form kehrt derselbe Gedanke 1939 in der Schrift über Hägerström wieder: »Wir müssen die Formwelt der Sprache, der Kunst, der Religion, des Rechts u. s. f. als solche verstehen, wenn wir in den Sinn der einzelnen sprachlichen, künstlerischen, religiösen Gebilde eindringen wollen. Eine der wesentlichen Aufgaben der Philosophie ist es, diese Leistung zu vollbringen, und damit von den ›Tatsachen‹ der Geisteswissenschaften zu ihren ›Prinzipien‹, zu den ›Bedingungen ihrer Möglichkeit‹ zurückzudringen. Die Begründung für diese Anschauung habe ich in meiner ›Philosophie der symbolischen Formen‹ zu geben versucht [ … ]«74 Aus diesem Grunde blieb die unlösbare Verflechtung der Philosophie der symbolischen Formen mit der Reflexion auf die »Prinzipien« der Kulturwissenschaften eines der großen Themen, auf die Cassirer immer wieder, auch in der letzten Phase seines Philosophierens, zurückkam. Gerade in dem Vortrag zum linguistischen Strukturalismus, den er wenige Tage vor seinem Tod gehalten hat, widmete Cassirer – im Versuch, den wissenschaftlichen Status der Linguistik zu erörtern – der großen Diskussion über das Verhältnis zwischen Geistes- und Naturwissenschaften noch einmal einige Überlegungen und bemerkte mit einem gewissen Skeptizimus, daß diesbezüglich noch keine Lösung gefunden worden sei, da die jeweiligen Vertreter in zwei Lagern getrennt geblieben seien. Offensichtlich war Cassirer davon überzeugt, daß der Grund dafür ein falscher Ausgangspunkt war. In der Tat insistierte er auf der Notwendigkeit, den Terminus »Geist« jeglicher substanzialistischer Konnotation zu entkleiden, ihn somit von der Gegenüberstellung zu »Natur« zu befreien und vorrangig in rein funktionaler Bedeutung zu verstehen, d. h. als Terminus, »for all those functions which constitute and build up the 72 73 74
Ebd., S. 11; ECW 11, S. 10. The Concept of Philosophy as a Philosophical Problem, S. 56. Axel Hägerström, S. 114 f.
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world of human culture«.75 Von diesem Standpunkt aus wird verständlich, warum Cassirer häufig, vor allem in dieser späten Phase, den Begriff ›Kulturwissenschaften‹ verwendete, den bereits Rickert (in Auseinandersetzung mit Dilthey) geprägt hatte, um die metaphysischen Implikationen des Begriffes ›Geist‹ zu umgehen, welcher zudem in implizitem Gegensatz zu ›Natur‹ steht.76 Abgesehen von der teminologischen Frage war es evident, daß nur eine ›funktionale‹ Konzeption des Geistes einen Bruch zwischen Natur und Kultur, zwischen exakten Wissenschaften und Humanwissenschaften verhindern konnte, da ihre Einheit nicht im Ausgang von der Reproduktion einer bestimmten Realität wiedergefunden werden konnte, sondern von den »Richtungen der Objektivierung«, von den symbolischen Medien, die den Menschen von der Welt trennen, um ihn »noch fester mit ihr zu verbinden«.77 Doch auch ein anderer Grund veranlaßte Cassirer in der späten Phase seines Exils dazu, die Unterscheidung zwischen Natur und Kultur und den begrifflichen Status der Kulturwissenschaften noch einmal zu überdenken. Durch das Studium der Wahrnehmung und des Ausdrucksphänomens im dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen, das eine weitreichende »Erweiterung« des »Grundkonzepts von Theorie« mit sich brachte, hatte Cassirer, die Vogelperspektive der »Philosophie des Geistes« integrierend und korrigierend, ein neues Gebiet erschlossen. Es stellte sich nun heraus, daß bereits im Vorstellungsprozeß der Wahrnehmung und der Anschauung »echte theoretische Formmomente und Formmotive« wirksam sind.78 In dieser Rückkehr nach ›unten‹, in der sich das durch die Gestaltpsychologie ›kontaminierte‹ Echo der ersten transzendentalen Deduktion Kants vernehmen läßt, wandte Cassirer sich der primären Ebene der sinnlichen Erfahrung zu, die noch zu Beginn der 20er Jahre im Rahmen der Konstitution einer »allgemeinen Logik« der geistigen Welt ins Abseits gedrängt schien. Nun hingegen zeigte sich auch in der gelebten Erfahrung der Wahrnehmung eine Mitbeteiligung von ›Theorie‹ oder eine nicht-anschauliche Bedeutung, die konkret zum Ausdruck kommt und die auch das unmittelbare Verhältnis zur Welt mit »symbolischer Prägnanz« auflädt.79 E. Cassirer, Structuralism in Modern Linguistics, »Word«, I, 1945, S. 114; dt. Übersetzung Strukturalismus in der modernen Linguistik in Geist und Leben, S. 337. 76 Vgl. H. Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, Tübingen 71926, S. XI. Zur Zweckmäßigkeit des Ausdrucks Kulturwissenschaften s. auch P. Natorp, Philosophie. Ihr Problem und ihre Probleme, S. 103. 77 Vgl. Zur Logik der Kulturwissenschaften, S. 25, 30. 78 Philosophie der symbolischen Formen, III, S. V; ECW 13, S. VII. 79 Ebd., S. 222–237; ECW 13, S. 218–233. 75
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Im Ausgang von dieser Beobachtung stellte Cassirer im zweiten Kapitel von Zur Logik der Kulturwissenschaften erneut die Frage nach der Differenz von Natur und Kultur, von der Wahrnehmung der Dinge und der Wahrnehmung von Ausdruck, und konstatierte im Bereich der Dialektik zwischen ›Ich‹ und ›Du‹ einen Primat des Ausdrucks und des Verständnisses seiner Bedeutung, der am Ende Dilthey möglicherweise näher kommt, als auf den ersten Blick zu erwarten war. Cassirer vertritt nun die Ansicht, daß wir uns im Bereich des menschlichen Lebens und der Kulturformen stets »aktiven Ausdrucksformen« gegenüber finden.80 Die Wahrnehmung eines äußeren Gegenstandes (aliud) sei grundlegend verschieden von derjenigen der geistigen Realität des Menschen (alter), in der das Ich einen sinnhaften Bezug zu einem Du herstelle: Die Kultur sei seit der mythischen Vorstellung der Welt von der Natur und dem ›physischen‹ Ding unterschieden, nicht weil sie von ihnen absehen könnte, sondern weil sie sich als eine ›sinnvolle‹ Welt konstituiere.81 Die Kultur wissenschaftlich zu erforschen, bedeute also, einen Begriffsapparat zur Verfügung zu haben, der sich – weit davon entfernt, sich auf individualisierende Begriffe oder Wertbegriffe zu reduzieren –, vor allem durch seine Funktion, ›Typen‹ zu charakterisieren, auszeichne; und in dieser Hinsicht seien die »Stilbegriffe« die eigentlichen Begriffe der Kulturwissenschaft, d. h. Begriffe, die Formen und nicht Ursachen bestimmen, Strukturen und nicht singuläre Ereignisse.82 Die Kultur sei somit eine Gesamtheit von Formen; der Mensch selbst bewege sich in einem Universum von Formen und verstehe diese Formen durch andere Formen: »Diese Formen sind unendlich-differenziert, und doch entbehren sie nicht der einheitlichen Struktur. Denn es ist letzten Endes ›derselbe‹ Zur Logik der Kulturwissenschaften, S. 51. Ebd., S. 43: »[ Im Kulturobjekt erscheint ] eben das Physische selbst in einer neuen Funktion.[ … ] Dieses Erscheinen eines ›Sinnes‹, der nicht vom Physischen abgelöst ist, sondern an ihm und in ihm verkörpert ist, ist das gemeinsame Moment aller jener Inhalte, die wir mit dem Namen ›Kultur‹ bezeichnen.« Diese »phänomenologische Untersuchung« (wie Cassirer sie nennt, der allerdings hier den Physikalismus Carnaps diskutiert) hat einige Ähnlichkeit mit dem, was bereits Rickert bezüglich der Unterscheidung von Objekten, die sich wahrnehmen lassen, und Objekten, die sich verstehen lassen, als Fundament der Differenz von Natur und Kultur vertrat (vgl. Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, S. 19 f.). Andererseits soll darauf hingewiesen werden, daß die zeitgleichen Reflexionen über Basisphänomene, in denen die Kritik am Physikalismus Carnaps ausführlich entwickelt wird, sei es im Namen der Unersetzbarkeit der »Dimension« des Ausdrucks, sei es im Namen des Verhältnisses, das die Philosophie »mit allen Formen des ›Weltverstehens‹ « eingehen muß, den Hintergrund dieser Überlegungen zu Beginn der 40er Jahre darstellen (Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 118 f.). 82 Vgl. Zur Logik der Kulturwissenschaften, S. 56 ff. 80 81
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Mensch, der uns in tausend Offenbarungen und in tausend Masken in der Entwicklung der Kultur immer wieder entgegentritt.«83 Aber gerade diese Bezugnahme auf die Selbstoffenbarung des Menschen in der Kulturentwicklung zeigt einen Problemkomplex an, der seit den 30er Jahren auf eine neue Weise die Cassirersche Reflexion über die Kulturwissenschaften bereicherte, indem die Geschichte in der doppelten Bedeutung des Wortes thematisch wurde – auch wenn Cassirer nicht klar zwischen Realgeschichte und ›Wissenschaft‹ der Geschichte, d. h. res gestae und historia rerum gestarum unterscheidet.84 Zweifellos ist es ein Interesse, das sich auch unter dem Einfluß der drohenden ›Krise der Kultur‹ entwickelt hat und dessen ethisch-politische Motivierung im Rahmen der Kulturphilosophie des späten Cassirers leicht nachzuzeichnen wäre. Ebenfalls verrät schließlich die Einführung der Geschichte in den ›geistigen Kosmos‹ der symbolischen Formen, die im Essay on Man vollzogen wird, die Notwendigkeit, das Verhältnis zwischen den symbolischen Formen nicht nur in ihrem Struktur- und Funktionszusammenhang, sondern auch im Lichte ihres Entstehens von einem anderen Blickwinkel aus zu betrachten (der in großen Teilen hinsichtlich seiner Grundlagen nicht geklärt worden ist).85 Sicherlich wurde Cassirer dadurch nicht zu einem ›Historisten‹, etwa im Sinne einer »Revolution« gegen die unbewegliche naturrechtsphilosophische Vernunft, die Meinecke in der Geburt des Historismus als Entdeckung der unaussprechlich schöpferischen Energie des Individuums hatte begrüßen wollen.86 Möglicherweise blieb sein Bezugspunkt Goethe oder die Betrachtung der Geschichte als ein »ewig Neues« des Geistes, der man sich nicht zuwendet, um die Vergangenheit zu bewundern, sondern um auf die Zukunft gerichtet produktiv zu sein.87 In jedem Fall jedoch scheint ein roter Faden das Kapitel der Philosophie der Aufklärung über die »Eroberung der geschichtlichen Welt«, in dem nicht ohne Bezug auf Dilthey (und Troeltsch) eine Aufwertung des ›Historismus‹ der Aufklärung vorge83
Ebd., S. 76. Vgl. diesbezüglich Th. Göller, Ernst Cassirer über Geschichte und Geschichtswissenschaft, »Zeitschrift für philosophische Forschung«, XLV, 1991, bes. S. 225, 227, 237. Zum Problem der Geschichte bei Cassirer vgl. auch die scharfsinnige Studie von N. Rotenstreich, Cassirer’s Philosophy of Symbolic Forms and the Problem of History, »Theoria«, XVIII, 1952, S. 155–173, (auf die sich hier insbesondere bezogen wird). 85 Eine erste Spur des Interesses Cassirers für die Geschichte und das »historische Bewußtsein« gegen Ende der 20er Jahre ist dokumentiert in Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 83–90. 86 Vgl. F. Meinecke, Die Entstehung des Historismus, S. 1, 13. 87 Vgl. Goethe und die geschichtliche Welt, S. 13. 84
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nommen wird, der im Gegensatz zu seiner Abwertung in der Romantik steht, und den Schlußteil des vierten Bandes des Erkenntnisproblems zu verbinden, der die »Grundrichtungen der historischen Erkenntnis« untersucht und sich damit auf ein Gebiet begibt, das bis dahin von Cassirer nicht erforscht worden war. Cassirer tritt nun in einen Dialog mit der Diltheyschen Hinterlassenschaft und mit dem Werk Meineckes ein, vor allem jedoch mit Autoren (von Herder bis Humboldt, von Ranke bis Niebuhr) und Themen jenes Historismus, den Cassirer zumindest gegen den geläufigen Vorwurf des Relativismus verteidigt.88 Wenn auch spät und durch leidvolle Erfahrung motiviert wurde sich Cassirer doch der besonderen Bedeutung des durch die Erkenntnis der geschichtlichen Welt (des Verständnisses des Menschen in seinen tausend Offenbarungen) repräsentierten ›Faktums‹ bewußt, das über weite Strecken die Diskussion um die Geisteswissenschaften seit ihren Ursprüngen im 18. Jahrhundert beschäftigt hatte und immer von neuem die Frage aufwarf, welches »le type logique de la connaissance historique« sei.89 Während der Suche nach einer Antwort auf diese Frage war möglicherweise Simmel, der mit besonders ›cassirerschen‹ Akzenten die historische Erkenntnis als »Umgestaltung« unserer »synthetischen Energien« verstanden hatte, im Hintergrund präsent.90 Vor allem aber wurde Vgl. Die Philosophie der Aufklärung, S. 263–312, und Das Erkenntnisproblem, IV, S. 223–328; ECW 5, S. 253–257; zum Urteil über den Historismus s. S. 327 f.; ECW 5, S. 255 ff. Zu dem Verhältnis Cassirers zu Dilthey und Meinecke bezüglich des Geschichtsbegriffs der Aufklärung vgl. auch P. Rossi, La ›rivalutazione‹ dell’Illuminismo e il problema del rapporto con lo storicismo, »Rivista critica di storia della filosofia«, XII, 1957, S. 146–174. Meinecke hatte die Philosophie der Aufklärung positiv rezensiert, aber die »undramatische« Darstellung Cassirers beklagt (vgl. »Historische Zeitschrift«, CIXL, 1934, S. 582–586); Cassirer seinerseits begrüßte in Die Entstehung des Historismus die Bewertung des 18. Jahrhunderts als Wiege des modernen historischen Bewußtseins (vgl. Das Erkenntnisproblem, IV, S. 225; ECW 5, S. 253). Eine pointierte Darstellung der Position Cassirers, die die entsprechenden Partien des Erkenntnisproblem einbezieht, steht noch aus, auch bezüglich ihrer Fähigkeit, die Welt der deutschen Kultur mit der großen europäischen (vor allem französischen) Historiographie des 19. Jahrhunderts zu verbinden (vgl. die genaue Annotierung C. Cesas, Nota introduttiva zu H. Schnädelbach, La filosofia della storia dopo Hegel. I problemi dello storicismo, ital. Übers. von G. Moretto, Napoli 1990, S. 16, Anm. 23). 89 E. Cassirer, La philosophie de l’histoire in L’idée de l’histoire, S. 59. Vgl. auch Die Philosophie der Aufklärung, S. 268. 90 Vgl. G. Simmel, Die Probleme der Geschichtsphilosophie, München und Leipzig 41922, S. 76. Dieser Passus ist um so signifikanter, wenn man berücksichtigt, daß Simmel wenig später die von Ranke entworfene Begrifflichkeit der historiographischen Unpersönlichkeit in die Diskussion bringt, die auch Cassirer im Erkenntnisproblem, IV, S. 239; ECW 5, S. 270 f., analysiert. Zu einem Vergleich Cassirer-Simmel diesbe88
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(auch als Bewertungskriterium) die Lehre Humboldts und (in einer stark antihegelianisch geprägten Perspektive) die heuristische Funktion der Idee, der Form virulent, die die singulären Ereignisse innerhalb einer organischen Gesamtheit organisiert: »[ D ]as Auffassen des Geschehenen [ muß ] von Ideen geleitet seyn«.91 Und das impliziert andererseits, das Diktum Goethes zu favorisieren, nach dem jedes Faktum immer schon Theorie ist, und somit auch in der historischen Erkenntnis den Vorrang der »ideal reconstruction« gegenüber der »empirical observation« anzuerkennen.92 Indem er die Geschichte als »symbolic universe« mit einem »anthropomorphical character« und nicht physisch konzipierte, d. h. als eine sinnhafte Wirklichkeit, die entziffert werden muß und in der der Mensch sich selbst erkennt,93 gelangte Cassirer – vielleicht überraschend – zu einem hermeneutischen Primat der Interpretation und knüpfte so an viele Motive der Diskussion um die historische Erkenntnis von Dilthey bis Simmel an, die zuvor im Schatten gestanden hatten. Nicht nur wäre die Vergangenheit ohne Interpretation sinnlos, nicht nur geht die Interpretation der Symbole stets dem Zusammentragen der Fakten voraus und gehört allgemein das historische Wissen in den Bereich der Hermeneutik und nicht den der Naturwissenschaft,94 sondern »[ w ]ithout a historical hermeneutic, without the art of interpretation contained in history, human life would be a very poor thing«, denn »history is a rebirth of life that without its continual effort would vanish and lose its vital force«.95 Aber auch mit dieser späten Anerkennung der Geschichte als »organon« der Konstruktion von »our human universe«96 läßt sich die ›Hermeneutik‹ Cassirers nicht einfach in das mare magnum der zeitgenössischen Hermeneutik integrieren. Sie stellt im Gegenteil weniger eine Variante als eine Alternative dar, und dies nicht nur aufgrund der Bedeutung, die züglich sind die zwei späten Aufsätze Das Problem der historischen Zeit (1916) in G. Simmel, Brücke und Tür, hg. von M. Landmann, Stuttgart 1957, S. 43–58, und Die historische Formung (1917–1918) in Fragmente und Aufsätze, hg. von G. Kantorowicz, München 1923 (Nachdruck Hildesheim 1967), S. 147–209, heranzuziehen. 91 W. von Humboldt, Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers in Werke, hg. von A. Flitner und K. Giel, I, Schriften zur Anthropologie und Geschichte, Darmstadt 31980, S. 595. Zu Humboldt, den Cassirer sehr viel stärker vor Augen hatte, als durch Zitationen deutlich wird, vgl. Das Erkenntnisproblem, IV, S. 245–249; ECW 5, S. 277–282. 92 An Essay on Man, S. 174, 185. 93 Ebd., S. 175, 201 ff. 94 Ebd., S. 179 f., 195 f. 95 Symbol, Myth, and Culture, S. 139. 96 An Essay on Man, S. 206; vgl. darüber hinaus Symbol, Myth, and Culture, S.139.
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sie der wissenschaftlichen Erkenntnis des kulturellen Universums des Menschen beimißt,97 sondern auch weil die gesamte Konstruktion der Philosophie der symbolischen Formen im Grunde von der dargelegten Theorie ihren Ausgang nimmt: von der Notwendigkeit, die Gegenüberstellung von Naturwissenschaften und Kulturwissenschaften im Wissen darum zu überwinden, daß der Erkenntnisprozeß immer auch ein ›Verstehen‹ ist, wie das ›Verstehen‹ im Gegenzug immer eine Art Erkennen ist. ›Verstehen‹ und ›Erkennen‹ sind nur verschiedene Momente eines einzigen Problems, des Problems der ›Bedeutung‹ und des ›Ausdrucks‹.98 So schrieb Cassirer um 1940 in seinen Aufzeichnungen zu den Basisphänomenen: »die Erkenntnistheorie ist im Grunde nichts anderes als eine Hermeneutik des Erkennens«.99
Noch im Essay on Man, S. 207 vertritt Cassirer: »Science is the last step in man’s mental development and it may be regarded as the highest and most characteristic attainment of human culture.« 98 Vgl. Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik und Denkpsychologie, S. 82. 99 Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 165. Zur Erkenntnistheorie der Kulturwissenschaften ist bezeichnenderweise auch der Text eines Vortrags (mit dem Datum »April 1941«) betitelt, der unter der Signatur Ms. 208, Box 52, Folder 1058 in der Beinecke Rare Books and Manuscripts Library, Yale, verwahrt wird. Zu den hermeneutischen Lesarten Cassirers sei auf M. Ferrari, La ›Cassirer-Renaissance‹ in Europa, S. 119 f., verwiesen. 97
sechstes kapitel Symbol und Ausdruck. Die Leibnizschen Quellen der Philosophie der symbolischen Formen 1. Zwar sind nicht mehr viele Cassirer-Forscher bereit, das Zeugnis Gawronskys, nach dem der erste Entwurf einer Philosophie der »symbolischen Formen« sich Cassirer 1917 während einer Straßenbahnfahrt offenbart hat, wörtlich zu nehmen, doch hat das wiedererwachende Interesse an der Philosophie der symbolischen Formen nicht zu signifikanten Fortschritten in der Analyse der Ursprünge und Quellen des Symbolbegriffs in der Philosophie Cassirers geführt. Tatsächlich sind viele Quellen und der theoretische Kontext, in dem sie zu lesen sind, noch völlig unentdeckt; wenig ist bislang unternommen worden, um – über die Häufigkeit der Zitationen und die nicht immer eindeutig interpretierbaren Anspielungen von Cassirer selbst hinaus – die Kontinuitätslinien und tieferen Beweggründe zu bestimmen, welche die Grundidee der symbolischen Form nicht mehr als eine plötzliche ›Entdeckung‹ erscheinen lassen, sondern sie als den Endpunkt eines sehr viel verschlungeneren theoretischen Weges erkennbar machen.1 Besonders eine Quelle scheint auch im Hinblick auf ihre durchgängige Präsenz im Gesamtwerk Cassirers von einzigartiger Wichtigkeit zu sein: die Leibnizsche Reflexion auf die Funktion der Symbole innerhalb der menschlichen Erkenntnis und die damit verbundene Untersuchung der Strukturen des Ausdrucks.2 Nicht zufällig betont Cassirer auf den Unzureichend ist beispielsweise der Beitrag von D. Ph. Verene, Cassirer’s »Symbolic Form« in I filosofi della scuola di Marburgo, S. 289–305, der einseitig auf dem Bezug zu Hegel und der hegelianischen Tradition insistiert (vgl. auch A. Graeser, Ernst Cassirer, S. 33–40). Für das oben Gesagte vgl. außerdem D. Gawronsky, Ernst Cassirer: His Life and his Work, S. 25, (dem H. Paetzold, Ernst Cassirer, S. 45, 84, folgt). Ein vager Hinweis auf die von Gawronsky erzählte Episode findet sich auch bei T. Cassirer, Mein Leben mit Ernst Cassirer, S. 119. 2 Auf die Bedeutung von Leibniz für die Cassirersche Konzeption des Symbols hat schon H. Levy hingewiesen in La filosofia di Ernst Cassirer, »Giornale critico della filosofia italiana«, XV, 1934, S. 249, 260 f.; vgl. auch C. H. Hamburg, Symbol and Reality. Studies in the Philosophy of Ernst Cassirer, The Hague 1956, S. 23–27, und den leider nicht weiterentwickelten Hinweis Verenes in einer Anmerkung zu Symbol, Myth, and Culture, S. 101, Anm. 7: »Leibniz is a central figure throughout Cassirer’s thought [ … ] Cassirer’s interest in Leibniz runs throughout his works, including possibly a relationship between the conception of the monad and Cassirer’s conception of the symbol«. Die in diesem Kapitel vertretene Interpretation wurde erstmals formuliert in Il giovane Cassirer e la scuola di Marburgo, vgl. S. 282–286, und ausführlicher 1988 in dem Beitrag Leibnizische Quellen der »Philosophie der symbolischen Formen« Ernst 1
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Sechstes Kapitel
einführenden Seiten des ersten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen die außerordentliche philosophische Bedeutung der Leibnizschen characteristica universalis, die – ausgehend von der Grundlegung des Infinitesimalkalküls – der »Zeichengebung« im allgemeinen eine besondere Bedeutung zuweisen konnte, indem sie zeigte, daß »die Logik der Sachen, d. h. der inhaltlichen Grundbegriffe und Grundbeziehungen, auf denen der Aufbau einer Wissenschaft beruht«, von der Logik der Zeichen nicht getrennt werden kann. Für Leibniz, ergänzt Cassirer, ist das Zeichen »keine bloß zufällige Hülle des Gedankens, sondern sein notwendiges und wesentliches Organ«: Es dient nicht »der Mitteilung eines fertig gegebenen Gedankeninhaltes«, sondern ist »ein Instrument, kraft dessen dieser Inhalt selbst sich herausbildet und kraft dessen er erst seine volle Bestimmtheit gewinnt. Der Akt der begrifflichen Bestimmung eines Inhalts geht mit dem Akt seiner Fixierung in irgendeinem charakteristischen Zeichen Hand in Hand. So findet alles wahrhaft strenge und exakte Denken seinen Halt erst in der Symbolik und Semiotik, auf die es sich stützt.«3 Dieser dem großen Leibnizschen Projekt der characteristica gezollte Tribut ist nicht selten beim reifen Cassirer zu finden, besonders häufig aber in den Jahren, in denen er seine Philosophie der symbolischen Formen vollendete. Als »Vertreter der positiven Bedeutung der symbolischen Formen«4 habe Leibniz – nach dem Urteil Cassirers – nicht nur als erster die dann von der modernen symbolischen Logik vollständig entwickelte Richtung diskutiert, d. h. den allgemeinen Umsturz der Beziehungen zwischen Logik und Mathematik, der das wissenschaftliche Denken zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert beherrscht hat.5 Vor allem jedoch hat er den Begriff des Symbols zu seiner vollen philosophischen Dignität erhoben, indem er ihn, wie Cassirer im dritten Band Cassirers (s. oben S. XI, Anm. 8); im Anschluß ergab sich die Gelegenheit, die Studie A. G. Raneas, Zeichen, Symbol, Begriff: Die Leibniz-Rezeption in der Cassirerschen Zeichentheorie in Geschichte und Geschichtsschreibung der Semiotik. Fallstudien, hg. von K. D. Dutz und P. Schmitter, Münster 1986, S. 303–316, einzusehen, der teilweise dieselben Schlüsse zieht. Eine weitere Bestätigung erfolgte dann durch K.-N. Ihmig, Symbol und Begriff bei Ernst Cassirer in »Wort und Dienst«, N. F., XXII, 1993, S. 189 ff. Einige vergleichbare Erwägungen finden sich ebenfalls bei D. Pätzold, Cassirers leibnizianische Begriffslehre als Grundlage seiner kulturhistorischen Symboltheorie in Symbolische Formen, mögliche Welten – Ernst Cassirer, vgl. S. 97–108. 3 Philosophie der symbolischen Formen, I, S. 18; ECW 11, S. 16. 4 So in einer auf die Zeit zwischen 1921 und 1927 datierbaren Aufzeichnung, veröffentlicht in Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 269. 5 Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie, S. 3, außerdem Philosophie der symbolischen Formen, III, S. 54 f.; ECW 49 ff.
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der Philosophie der symbolischen Formen schreibt, »zum geistigen Fokus, zum eigentlichen Brennpunkt der intellektuellen Welt« werden ließ.6 In diesem Sinne hat das Symbolproblem, das Cassirer 1927 (Friedrich Theodor Vischer paraphrasierend) als einen »gestaltwechselnden Proteus«7 bezeichnet, und allgemeiner das Hauptproblem des Ausdrucks eines »›Geistigen‹ durch ›sinnliche Zeichen‹ und ›Bilder‹ vermittelt«, in Leibniz einen obligatorischen Bezugspunkt.8 Seit Leibniz’ System hat Cassirer seine Aufmerksamkeit auf den Symbolbegriff und seine Funktion innerhalb der Leibnizschen Ästhetik als Ausdruck des Selbstgefühls der Persönlichkeit gerichtet. Für Leibniz – liest man im ersten Buch Cassirers – sei die Kunst eine »reine Symbolik des Gefühls«, und daher spiele der Begriff des Symbols eine entscheidende Rolle: Während das Symbol im Bereich der Logik ein bloß »technisches Instrument« darstelle, das am Ende des logischen Kalküls neuerlich durch den Bedeutungsgehalt, der ihm zukomme, ersetzt werden müsse, werde es hingegen auf dem Gebiet des künstlerischen Ausdrucks zum Brennpunkt der ästhetischen »Konzentration« des Universums und finde seine Rechtfertigung im Prinzip der »Repräsentation« oder besser im Ausdruck des Mannigfaltigen in der repräsentierenden Einheit (multorum in uno expressio), worauf die ästhetische Harmonie begründet ist.9 In diesem Zusammenhang bezieht Cassirer sich auf zwei wichtige Leibnizsche Texte: einerseits auf den kurzen, aber dichten Quid sit idea (auf den, wie wir sehen werden, Cassirer mit größerer Aufmerksamkeit im zweiten Band des Erkenntnisproblems zurückkommen wird) und andererseits auf den Paragraphen 61 der Monadologie, in dem Leibniz schreibt, daß »les composés symbolisent aves les simples« – ein Abschnitt, den Cassirer seinerseits kommentiert und betont, »daß die
6
Ebd., S. 54. Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie, S. 1. 8 Der Begriff der symbolischen Form, S. 174. 9 Vgl. Leibniz’ System, S. 464–467; ECW 1, S. 416–419. Zu dem Ausdruck multorum in uno expressio vgl. beispielsweise den Brief Leibniz’ an Des Bosses vom 11. Juli 1706: »cum perceptio nihil aliud sit, quam multorum in uno expressio, necesse est omnes Entelechia seu Monades perceptione praeditas esse, neque ulla naturae Machina seu Entelechia propria caret«: G. W. Leibniz, Die philosophischen Schriften, hg. von C. I. Gerhardt, Berlin 1875–1890 (Nachdruck Hildesheim 1960–1961), II, S. 311. Vgl. außerdem das Specimen inventorum de admirandis naturae Generalis arcanis in Die philosophischen Schriften, VII, S. 317, auf das Cassirer sich in Leibniz’ System, S. 465, Anm. 2; ECW 1, S. 417, Anm. 230 bezieht. Eine ausführliche Analyse des Begriffs der Repräsentation in der Leibnizschen Philosophie bietet A. Lamarra, Il concetto di rappresentazione in Leibniz. Dall’algebra alla metafisica, »Bollettino del Centro di Studi Vichiani«, XXI, 1991, S. 41–57. 7
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Beziehungen, die sich von einfachen Substanzen aussagen lassen, ihr Gegenbild in bestimmten Grundbeziehungen der Erscheinungen haben, sie somit das wahrhafte Sein darstellen und symbolisch wiedergeben«.10 Dieses Zitat der Monadologie, sicher eine vorrangige Quelle für den Cassirerschen Begriff der Symbolisierung, verwendete er wenige Jahre später erneut im Kommentar zum ersten Band der Schriften Leibniz’, die er 1904 herausgegeben hat (jedoch, um genau zu sein, bereits 1903 fertiggestellt hatte). In einer Anmerkung zur Erklärung einer Passage des Briefwechsels zwischen Leibniz und Clarke führt Cassirer das Verhältnis zwischen der Welt der einfachen Substanzen und dem Reich der Phänomene an. Um dieses eigentümliche Verhältnis zu charakterisieren, das als symbolischer Ausdruck zu verstehen ist, verwendet Cassirer erstmals den Terminus »symbolische Form«, der später eine entscheidende Bedeutung in seinem philosophischen Werk annehmen wird: »Die sinnliche Welt der Phänomene ist zwar kein ›Abbild‹ der einfachen Monaden, dennoch finden sich in ihr gewisse Verhältnisse und Beziehungen wieder, die den Grundrelationen, die wir in den einfachen Elementen denken, in bestimmter Weise entsprechen und sie gleichsam in symbolischer Form darstellen: ›les composés symbolisent aves les simples‹. So kann z. B. die Tatsache, daß jede Einwirkung, die auf einen Punkt des materiellen Universums ausgeübt wird, sich ins Unendliche fortsetzt und schließlich in jedem einzelnen seiner Teile im bestimmten Maße nachwirkt, als Sinnbild der allgemeinen idealen Abhängigkeit und Zusammengehörigkeit dienen, die zwischen allen Gliedern des ›intellegiblen‹ Universums herrscht.«11
Leibniz’ System, S. 466; ECW 1, S. 418, (Hervorhebung M. F.). Zu dem Abschnitt der Monadologie vgl. Die philosophischen Schriften, VI, S. 617. Den Ausdruck »les composés symbolisent avec les simples« geben Cassirer und Buchenau im Deutschen wieder durch »Das Zusammengesetzte aber bildet hierin das Einfache symbolisch nach«, vgl. G. W. Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, II, S. 449 (614). 11 G. W. Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, I, S. 173, Anm. 114 (19*, Anm. 117). Auf diesen Cassirerschen Kommentar habe ich erstmals 1986 während einer Zürcher Tagung zu Cassirer (und darauffolgend in Il giovane Cassirer e la scuola die Marburgo, S. 249) hingewiesen. Im Anschluß daran hat dieses erste Vorkommnis des Terminus ›symbolische Form‹ Eingang in die Literatur zu Cassirer gefunden, wenn auch nicht immer mit explizitem Hinweis auf die Urheberschaft einer Entdeckung, der nicht nur philologischer Wert zukommt (vgl. A. Graeser, Cassirer, S. 11, und dagegen J. M. Krois, Problematik, Eigenart und Aktualität der Cassirerschen Philosophie der symbolischen Formen, sowie E. W. Orth, Operative Begriffe in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, beide in Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, S. 36, Anm. 11, S. 45, 69, Anm. 71). 10
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Sicher hat der Begriff der ›symbolischen Form‹ hier weder die Bedeutung noch den Umfang, den er in den Überlegungen des späten Cassirers annehmen wird; und dennoch wäre es nicht gerechtfertigt, diesen wichtigen Schritt Cassirers außer acht zu lassen, um so weniger als er sich – wie wir gesehen haben – in den weiteren Kontext der Analyse einiger Schlüsselbegriffe des Leibnizschen Denkens (Ausdruck, Repräsentation, Symbol) einordnet, auf die Cassirer auch in den folgenden Jahren zurückkommen wird. Im übrigen gewann Cassirer, nachdem er in Leibniz’ System die Fruchtbarkeit des Symbols im Bereich der Ästhetik umrissen hatte, bereits in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts allmählich den nicht ausschließlich ›technischen‹ Wert der Symbolisierung auch für die Sphäre der Erkenntnis zurück, wie vor allem die Einleitung und der Kommentar zu den Leibnizschen Hauptschriften dokumentieren.12 Es ist nicht ausgeschlossen, daß La logique de Leibniz von Couturat einen gewissen Einfluß auf diese Veränderung der Perspektive gehabt hat, denn Couturat hat nachdrücklich auf die »caractéristique« als »l’organe ou l’instrument de la raison« und auf die Funktion des Gebrauchs der Symbole, d. h. auf »la pensée symbolique« als unverzichtbares Instrument des wissenschaftlichen Denkens hingewiesen.13 Cassirer hat diesen Teil der Logique de Leibniz besonders geschätzt, auch wenn er sich deutlich von der analytischen, formallogischen Interpretation Couturats distanzierte. Er bekräftigte dagegen seine Sicht der Leibnizschen Logik als eine transzendentale Logik, als eine Lehre wissenschaftlicher Prinzipien der objektiven Erkenntnis.14 Aber zweifellos tragen gerade die Auseinandersetzungen mit Couturat (und unter anderen Gesichtspunkten mit Russell) sowie die Fortsetzung der Diskussion um die Leibnizsche Logik bis zur Auseinandersetzung über die ›Logistik‹, in die Cassirer 1907 mit Kant und die moderne Mathematik eingriff, in gewisser Hinsicht dazu bei, So z. B. unterstreicht Cassirer in der Erläuterung von analysis situs und der ›geometrischen Charakteristik‹ den Anspruch, die immantente Gesetzmäßigkeit der geometrischen Figuren, die aus einer Vielzahl von Punkten im Raum hervorgehen, symbolisch auszudrücken. G.W. Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, I, S. 8 (XX f.). Vgl. ebenfalls S. 4 (XVIII) und 337, Anm. 279 (46*, Anm. 282). Zu dem ursprünglichen Zusammenhang des Leibnizschen Begriffs des Ausdrucks mit der mathematischen Sprache vgl. A. Lamarra, Il concetto di rappresentazione in Leibniz, S. 54 f. 13 Vgl. L. Couturat, La logique de Leibniz d’après des documents inédits, Paris 1901 (Nachdruck Hildesheim-Zürich 1985), S. 101 f. Vgl. ebenfalls Cassirers späten Aufsatz Newton und Leibniz, S. 384. 14 Vgl. Leibniz’ System, S. 541ff; ECW 490 ff. Vgl. außerdem Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, II, S. 94 f. (I, LXVIII). 12
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ihn von der zentralen Bedeutung der Zeichen und Symbole nicht nur als technische Mittel der Erkenntnis, sondern als wahre und eigene ›Vehikel‹, durch die sich das begriffliche Denken realisiert, zu überzeugen.15 In dieser Richtung wird der wirklich entscheidende Schritt durch das Leibniz gewidmete Kapitel des Erkenntnisproblems (in erster Auflage 1907 erschienen) vollzogen.16 Obwohl er auch an dieser Stelle eine von derjenigen Couturats verschiedene Interpretation der Leibnizschen Logik vertritt, nach der der logische Algorithmus sich immer mit dem »wirklichen Gehalt des Wissens« füllen muß, und er damit aus der Logik eine Theorie der ›Produktion‹ der Gehalte objektiver Erkenntnis (im typisch marburgischen Sinne) macht,17 erkennt Cassirer nun die konstitutive Funktion der Symbole im Erkenntnisprozeß an: »Zwischen unseren Ideen und dem Inhalte, den sie ›ausdrücken‹ wollen« – schreibt Cassirer – »braucht keinerlei Verhältnis der Ähnlichkeit zu bestehen. Die Ideen sind nicht die Bilder, sondern die Symbole der Realität; sie ahmen nicht ein bestimmtes objektives Sein in all seinen einzelnen Zügen und Merkmalen nach, sondern es genügt, daß sie die Verhältnisse, die zwischen den einzelnen Elementen dieses Seins obwalten, in sich vollkommen repräsentieren und sie gleichsam in ihre eigene Sprache übersetzen.«18 Um diese Überlegungen zu stützen, zitiert Cassirer ausgiebig das Leibnizsche Quid sit idea, einen Text, der, wie bereits gezeigt worden ist, in Leibniz’ System nur indirekt und nur in Bezug auf die Ästhetik angeführt wurde: »Den Ausdruck einer Sache«, schreibt Leibniz, »nennt man etwas, in dem Strukturen (habitudines) existieren, die mit den Strukturen der SaZu dieser Auseinandersetzung sei verwiesen auf M. Ferrari, Il giovane Cassirer e la scuola di Marburgo, S. 257 ff. Es soll jedoch auch daran erinnert werden, daß Couturat sich in seiner Rezension von Leibniz’ System über die mangelnde Cassirersche Durchdringung der Leibnizschen Logik, speziell der Kombinatorik und der Charakteristik, beklagte (vgl. L. Couturat, Le système de Leibniz d’après Cassirer, S. 97). Zur Bedeutung des logischen Symbolismus bei Leibniz und zum mangelnden Verständnis seiner logischen Theorien bei Cassirer vgl. auch B. Russell, Recent Work on the Philosophy of Leibniz, »Mind«, XII, 1903, S. 180f, 188, 191. Übrigens hat ausgerechnet Russell in seinem 1900 erschienenen Buch die Aufmerksamkeit auf Leibniz’ Begriff des Ausdrucks gerichtet. Es wurde von Cassirer umgehend im Anhang von Leibniz’ System diskutiert: vgl. B. Russell, A Critical Exposition of the Philosophy of Leibniz, London 21937, § 75, S. 131 ff. 16 Um Mißverständnisse zu vermeiden, sei daran erinnert, daß dieses Kapitel (vgl. Das Erkenntnisproblem, II, S. 126–190; ECW 3, S. 101–157) gegenüber der ersten Auflage des Werkes (Berlin 1907, II, S. 47–101) keine Veränderungen erfahren hat. 17 Vgl. Das Erkenntnisproblem, II, S. 138; ECW 3, S. 111. 18 Ebd. S. 167; ECW 3, S. 137. 15
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che korrespondieren. Aber es gibt verschiedene Arten des Ausdrucks; so drückt zum Beispiel das Modell einer Maschine die Maschine selbst, so drückt eine ebene perspektivische Zeichnung einen dreidimensionalen Körper, ein Satz einen Gedanken [ und Wahrheit ], ein Zeichen eine Zahl, eine algebraische Gleichung einen Kreis oder eine andere geometrische Figur aus: und allen diesen Ausdrücken ist dies gemeinsam, daß wir aus der bloßen Betrachtung der Verhältnisse des Ausdrucks zur Kenntnis der entsprechenden Eigenschaften der auszudrückenden Sache zu gelangen vermögen. Hieraus geht hervor, daß es nicht notwendig ist, daß Ausdruck und Sache einander ähnlich sind; sofern nur eine gewisse Analogie aller Verhältnisse gewahrt ist.«19 Dieses ist vielleicht die prägnanteste Formulierung der Theorie des Ausdrucks, die Leibniz hinterlassen hat; auch wenn sie an zahlreichen anderen Stellen, die Cassirer gut bekannt waren, ebenfalls vorkommt.20 Im Briefwechsel mit Arnauld zum Beispiel heißt es: »Eine Sache drückt eine andere aus, wenn eine konstante und geregelte Beziehung zwischen dem, was sich von der einen und dem, was sich von der anderen ausdrücken läßt, besteht.«21 Ebenso hält sich Teofilus in den Nouveaux essais bei dem besonderen Typ von Ähnlichkeit auf, den der Ausdruck oder die »Ordnungsbeziehung« darstellt, und führt das Beispiel der genauen Beziehung zwischen etwas, das projiziert wird, und seiner Projektion an.22 In der späteren Phase des Leibnizschen Denkens hingegen verbindet sich die reine ›erkenntnistheoretische‹ Bedeutung des Ausdrucks mehr und mehr mit den metaphysischen Implikationen, und zwar von dem Augenblick an, in dem die individuelle Substanz das ganze Universum G. W. Leibniz, Quid sit idea in Die philosophischen Schriften, VII, S. 263 f. Man bemerke, daß Quid sit idea nicht in den von Cassirer und Buchenau herausgegeben Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie enthalten ist. (Da der zweite Band, wie bereits erwähnt worden ist, 1906 erschienen ist, hätte der Text eigentlich in den ersten Abschnitt des ersten Bandes, der Schriften zur Logik und Methodologie versammelt, aufgenommen werden müssen.) Daher nehme ich an, daß die Neubewertung von Quid sit idea an die Entwicklung des Cassirerschen Denkens, das hier nachzuzeichnen versucht worden ist, gebunden ist. (Cassirer läßt in seiner Übersetzung das hier in [ ] eingefügte »und Wahrheit« aus.) 20 Zur Leibnizschen Theorie des Ausdrucks vgl. vor allem M. Mugnai, Astrazione e realtà. Saggio su Leibniz, Milano 1976, S. 38–61; M.A. Kulstad, Leibniz’ Conception of Expression, »Studia Leibnitiana«, IX, 1977, S. 56–76; M. Ghio, Il concetto di espressione in Leibniz e nella tradizione platonico-cristiana, Torino 1979, S. 95–121. Wichtige Präzisierungen finden sich auch bei F. Piro, Varietas identitate compensate. Studio sulla formazione della metafisica di Leibniz, Napoli 1990, S. 163–173. 21 G. W. Leibniz, Die philosophischen Schriften, II, S. 112. Der Abschnitt findet sich ebenfalls in den Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, II, S. 233 (425). 22 G. W. Leibniz, Nouveaux essais sur l’entendement humain, S. 131 (109). 19
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je nach ihrer eigenen Perspektive ausdrückt und die Monade wesentlich durch ihre Fähigkeit zu repräsentieren charakterisiert wird.23 Dennoch ist es, trotz seiner Sympathie für den Leibnizschen Perspektivismus, weniger dieser Aspekt, von dem Cassirer vor allem angezogen war, sondern vielmehr die Angewiesenheit des Denkens auf Zeichen, Symbole oder Charaktere, durch die nicht nur die individuellen Merkmale und Eigenschaften des Objekts der Repräsentation zusammengefaßt, sondern vor allem Verhältnisse festgestellt werden können, die mit den objektiven Verhältnissen übereinstimmen. Diese harmonische Übereinstimmung ist besonders im Dialogus von 1677 hervorgehoben worden (wiedergegeben in den von Cassirer herausgegebenen Hauptschriften), in dem Leibniz erklärt, daß die »willkürliche« Natur der Charaktere, auf die man zurückgreifen muß, um zu denken und zu argumentieren, nichts daran ändert, daß die Beziehungen (oder »Verhältnisse«) zwischen denselben die Grundlage der Wahrheit sind.24 Der Gebrauch der Vernunft ist unauflöslich an den Gebrauch der Charaktere gebunden: »Jedes menschliche Denken vollzieht sich mittels bestimmter Zeichen oder Charaktere«.25 Auch das Abstrakte, selbst der reinste intellektuelle Akt ist immer auf den Zeichengebrauch angewiesen, der den idealen Beziehungen erst eine sinnliche Form gibt.26
Vgl. z. B. §§ 59, 66 und 62 der Monadologie in Die philosophischen Schriften, VI, S. 616 f. 24 Vgl. Die philosophischen Schriften, VII, S. 190 ff., und Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, I, S. 15–21 (3–8), wo Leibniz unter anderem feststellt: »Denn wenngleich die Charaktere als solche willkürlich sind, so kommt dennoch in ihrer Anwendung und Verknüpfung etwas zur Geltung, was nicht mehr willkürlich ist: nämlich ein Verhältnis, das zwischen ihnen und den Dingen besteht, und damit auch bestimmte Beziehungen zwischen all den verschiedenen Charakteren, die zum Ausdruck derselben Dinge dienen. Und dieses Verhältnis, diese Beziehung ist die Grundlage der Wahrheit. Denn sie bewirkt, daß, ob wir nun diese oder andere Charaktere anwenden, das Ergebnis doch stets dasselbe bleibt oder daß wenigstens die Ergebnisse, die wir finden, äquivalent sind und in bestimmtem Maße einander entsprechen. Irgendwelcher Charaktere bedarf man wohl stets zum Denken.« 25 G. W. Leibniz, Die philosophischen Schriften, VII, S. 204. 26 G. W. Leibniz, Extrait du Dictionaire de M. Bayle article Rorarius in Die philosophischen Schriften, IV, S. 541. Vgl. ebenfalls Nouveaux essais, S. 43 (39): »Denn kraft einer bewunderungswürdigen Ökonomie der Natur können wir keinen abstrakten Gedanken haben, der nicht irgend etwas Sinnliches – und wären es auch nur sinnliche Zeichen wie Buchstaben und Laute – bedürfte; wenngleich zwischen bestimmten willkürlichen Zeichen und bestimmten Gedanken keine notwendige Verknüpfung besteht.« 23
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2. Im Erkenntnisproblem kommt diese »fruchtbare« Leibnizsche Perspektive vollständig zur Geltung. Die Theorie des Ausdrucks und des Symbols – unterstreicht Cassirer – ermögliche es, eine bloß reproduktive Sicht der Erkenntnis zu überwinden: Erkennen bedeute nicht, die gegebene Realität zu ›kopieren‹, sondern vor allem, die Dinge auf der Grundlage von idealen Verhältnissen mit einer Bedeutung zu versehen, die mittels der Zeichen und Symbole zum Ausdruck komme. Die Ideen beziehen sich auf die Objekte, aber sie beschränken sich nicht darauf, sie in ihren unveränderlichen Eigenheiten abzubilden; und gerade deshalb läßt sich behaupten, daß Leibniz bereits jenseits jedes ›dogmatischen‹ Begriffs des Objekts steht und einen funktionalen Begriff von Erkenntnis antizipiert.27 Auf dieser Grundlage stellt Cassirer zugleich einen erhellenden Vergleich zwischen Leibniz und der symbolischen Konzeption der Erkenntnis von Heinrich Hertz an – eine andere eminent wichtige Quelle für den Cassirerschen Symbolbegriff, die hier erstmals quasi zur Unterstützung der Leibnizschen Position herangezogen wird. Hertz macht geltend, daß die im Prozeß wissenschaftlicher Erkenntnis sich vollziehenden geistigen Operationen zwar nicht schon zu den Dingen hinführen, wohl aber zu ihren Symbolen oder vielmehr zu den Beziehungen der Symbole untereinander. In Analogie geht es bei Leibniz (oder zumindest bei dem Leibniz des Quid sit idea) nicht darum, den Charakteren die Aufgabe zuzuweisen, »die Dinge in ihren konkreten Einzelheiten abzubilden und sich in ihrer unendlichen Mannigfaltigkeit zu verlieren«, sondern sie vor allem darauf zu beschränken, »uns ihren intelligiblen Wahrheitsgehalt zu versinnlichen«.28 Von Leibniz bis zu Hertz werde somit über die Vermittlung einer funktionalen Konzeption des Verhältnisses zwischen Denken und Realität die erkenntniskritische Bedeutung der Symbole sichtbar: »Die echte Wirklichkeit« – schreibt Cassirer – »kann nicht auf einmal ergriffen und abgebildet werden, sondern wir können uns ihr nur in immer vollkommeneren Symbolen beständig annähern. Noch einmal tritt somit die zentrale Bedeutung dieses Begriffs für das Ganze der Leibnizischen Lehre deutlich heraus. Der Wert, den der Gedanke der allgemeinen Charakteristik für das System besitzen muß, bestimmt sich nunmehr
Vgl. Das Erkenntnisproblem, II, S. 168; ECW 3, S. 138. Zum Funktionalismus der Leibnizschen Theorie des Ausdrucks in einer derjenigen Cassirers verwandten Richtung vgl. M. Mugnai, Astrazione e realtà, S. 40 (oder auch M. A. Kulstad, Leibniz’s Conception of Expression, S. 62). 28 Vgl. Das Erkenntnisproblem, II, S. 168, Anm. 1, S. 170; ECW 3, S. 138, Anm. 140, S. 139. 27
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genauer. Es ist kein Zufall, der uns dazu drängt, die Verhältnisse der Begriffe durch Verhältnisse der ›Zeichen‹ zu ersetzen; sind doch die Begriffe selbst ihrem Wesen nach nichts anderes als mehr oder minder vollkommene Zeichen, kraft deren wir in die Struktur des Universums Einblick zu gewinnen suchen.«29 Tatsächlich werden die Leibnizsche Lehre und die Verbindung Leibniz-Hertz hier subtil mit der Marburger Perspektive der Produktivität des reinen Denkens verbunden, das nicht so sehr übereinstimmt mit der empirischen Welt der ›Fakten‹ – und sei es auch nur über eine unvermeidliche Ungleichartigkeit in jedem Typ von »Isomorphismus« –, sondern sie vielmehr im transzendentalen Sinne kraft der schöpferischen Funktion der Erkenntnis konstituiert: Es ist, mit anderen Worten, das Verhältnis, das für Cassirer die relata erzeugt.30 Und doch läßt sich gerade vor diesem Leibnizschen Hintergrund, der an die typischen Cassirerschen Forderungen angepaßt wurde, die Hartnäckigkeit verstehen, mit der Cassirer in den folgenden Jahren immer wieder auf die entscheidende Vermittlung der Symbole in der wissenschaftlichen Begriffsbildung zurückkommt oder, wenn man so will, auf den Umstand, daß eine wirklich kritische Konzeption der Erkenntnis nicht auf das in Quid sit
29
Ebd., S. 187. Zur »erzeugenden Relation« vgl. z. B. Philosophie der symbolischen Formen, III, S. 409; ECW 13, S. 402; zur Funktion der Erkenntnis vgl. die Einleitung Cassirers zu den Neuen Abhandlungen über den menschlichen Verstand, Leipzig 1915, S. XX (22). Daß Cassirer in dieser Weise Leibniz eine rigorose antiempiristische (und historisch somit gegen Locke gerichtete) Position unterstellt, bemerkt zu Recht K. Jacobi, Bemerkungen zum Verständnis der Leibniz’schen »Nouveaux Essais sur l’Entendement humain«. Anläßlich des Nachdrucks der von Cassirer besorgten Ausgabe, »Studia Leibnitiana«, V, 1973, S. 215–218 (jedoch spezifischer zum ›konstatierenden‹ statt ›konstituierenden‹ Charakter des Urteils bei Leibniz und in Auseinandersetzung mit Cassirer vgl. Y. Beleval, Leibniz critique de Descartes, Paris 1960, S. 146). Andererseits muß gesagt werden, daß die Reduzierung von Hertz im Sinne des Cassirerschen ›Symbolismus‹ zu einer ›Neutralisierung‹ des Realismus der Dinge zu führen scheint, die so von Hertz nicht vollzogen wird. Vgl. H. Hertz, Die Prinzipien der Mechanik in neuem Zusammenhang dargestellt, Leipzig 1894 (Nachdruck Darmstadt 1963), S. 2, 9, 28, 48, 159 f. In diesem Sinne ist das ›Kantische‹ in Hertz, auf dem Cassirer bestanden hat, in Wirklichkeit näher an demjenigen Alois Riehls als an demjenigen der Marburger Schule. Im allgemeinen bleibt zwischen Cassirer und Hertz eine Differenz, die derjenigen analog ist, die zwischen einem durch den »logischen Idealismus« gefilterten Leibniz und einem Leibniz besteht, der, wie wir gesehen haben, in Quid sit idea von Strukturen spricht, die »mit den Strukturen der auszudrückenden Sache korrespondieren«. Dadurch erweist er sich im Grunde Hertz näher (und vielleicht ist es mehr als eine Kuriosität, daß ein tausend Meilen von Cassirer entfernter Denker wie Giovanni Vailati schon 1905 einen signifikanten Vergleich von Leibniz und Hertz anstellte: Vgl. Scritti, Firenze-Leipzig 1911, S. 622). 30
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idea enthaltene Leibnizsche ›Programm‹ verzichten kann. So liest man z. B. auf den einführenden Seiten der zweiten Auflage des Erkenntnisproblems: »Die Begriffe der Wissenschaft erscheinen jetzt nicht mehr als Nachahmungen dinglicher Existenzen, sondern als Symbole für die Ordnungen und funktionalen Verknüpfungen innerhalb des Wirklichen.«31 Und beinahe zeitgleich findet in Substanzbegriff und Funktionsbegriff die Position Duhems besondere Beachtung, nach der erst die Ersetzung des »rohen Faktums« durch das »mathematische Symbol« den Beginn des wirklich wissenschaftlichen Begreifens anzeigt.32 Um den Ausdruck Duhems zu gebrauchen, den Cassirer nur 10 Jahre später explizit verwenden wird, bedeutet dies also für die Erkenntnis der physischen Realität, daß »les faits d’experience […] doivent être transformer et mis sous forme symbolique«.33 Natürlich darf man nicht vernachlässigen, daß zwischen den Formulierungen in Substanzbegriff und Funktionsbegriff und der definitiven Zuspitzung des Begriffes der ›symbolischen Form‹ noch mehr als zehn Jahre vergehen; aber es ist bedeutsam, daß die typisch Leibnizsche Thematik der Charaktere und des durch Symbole ausgedrückten Gedankens in den Schriften Cassirers nach 1910 weiterhin präsent ist. Speziell dieses Thema wird in Freiheit und Form besonders betont, wo neben dem schon bekannten Motiv der Phänomene, die symbolisch die Beziehungen zwischen Substanzen ausdrücken34, der geschichtlichen Wirkung des Leibnizschen Begriffs der Charaktere als mit geistiger Bedeutung versehenen sinnlichen Elementen eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird.35 Das Erkenntnisproblem, I, S. 3; ECW 2, S. 2 f. Dieser Passus war in der ersten Auflage 1906 nicht enthalten. 32 Vgl. Substanzbegriff und Funktionsbegriff, S. 195–198; ECW 6, S. 161 f.: »Das Symbol« – fügt Cassirer hinzu – »besitzt ein vollgültiges Korrelat nicht in irgendwelchen Bestandteilen der Wahrnehmung selbst, wohl aber in dem gesetzlichen Zusammenhang, der zwischen ihren einzelnen Gliedern besteht. Dieser Zusammenhang aber ist es, der sich immer deutlicher als der eigentliche Kern der empirischen ›Wirklichkeit‹ selbst enthüllt.« 33 P. Duhem, La théorie physique, S. 298. Cassirer referiert diesen Passus Duhems ausführlich in Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, S. 88, Anm. 28; ECW 10, S. 90, Anm. 118. Die Bedeutung des Duhemschen Begriffs ist erstmalig von E. W. Orth, Zur Konzeption der Cassirerschen Philosophie der symbolischen Formen, S. 180 (und kürzlich auch von A. Graeser, Ernst Cassirer, S. 11) unterstrichen worden. 34 Vgl. Freiheit und Form, S. 49; ECW 7, S. 53: »Allgemein gilt innerhalb der Leibnizschen Lehre der Gedanke, daß die Verhältnisse in den ›Phänomenen‹ die Verhältnisse in den ›Substanzen‹ symbolisch ausdrücken und wiedergeben«. 35 Ebd. S. 76; ECW 7, S. 81 (mit Bezug auf den »Leibnizianismus« Baumgartens): »Die Charaktere sind ihrem bloßen Inhalt nach ein Sinnliches, das aber kraft der Beziehungen, die wir in ihnen denken, eine bestimmte geistige Bedeutung und 31
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Dieses geschieht in Übereinstimmung mit der wiederholten Betonung des »Ausdrucks«verhältnisses, das die traditionelle Entgegensetzung von körperlich und geistig, von ›Außen‹ und ›Innen‹ oder einfacher von Zeichen und Begriff in eine Wechselbeziehung auflöst.36 Andererseits fügen sich genau in diese leibnizsche »Linie« nicht nur die Hauptprobleme der deutschen Ästhetik des 18. Jahrhunderts, sondern vor allem auch die Sprachphilosophie, die von Hamann und Herder bis zum großen Beitrag Wilhelm von Humboldts für die Cassirersche Erforschung der Sprache als symbolischer Form zu Beginn der zwanziger Jahre einen konstanten Bezugspunkt bildet und die abermals in Leibniz ihren Anfang und ihre eigentliche Inspiration findet.37 Auf diese Weise macht »die methodische Zusammengehörigkeit« der Zeichentheorie und der Theorie der objektiv-logischen Beziehungen38 in der Leibnizschen characteristica universalis einen beträchtlichen Teil des theoretischen Instrumentariums Cassirers aus, mit dem er an die systematische Erforschung der Struktur der ›symbolischen Formen‹ geht. Nicht umsonst stammen viele Überlegungen, die im ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen bezüglich des Symbols und seiner Funktion zu lesen sind, von Leibniz (Cassirer sagt dies häufig explizit) oder gehen auf die Leibnizsche Perspektive zurück, stets natürlich in der speziellen Cassirerschen Interpretation, die aus ihnen – wie Dietrich Mahnke festgestellt hat – jeglichen Rest metaphysischen Substanzialismus entfernt und demgegenüber die ›funktionalistischen‹ Implikationen betont.39 Dennoch wäre es schwierig, die Cassirerschen Überlegungen zum Zeichen als »erstem Stadium und erstem Beleg der Objektivität« und zu der wesentlichen Funktion, die ihm bei der Konstitution der Bedeutung und der Gesamtrepräsentation des Mannigfaltigen zukommt, zu lesen, ohne in irgendeiner Weise auf diesen Leibniz zu Allgemeingültigkeit gewinnt. Damit nimmt innerhalb des reinen Rationalismus selbst der methodische Grundgegensatz eine neue Wendung: Das Sinnliche ist nun nicht mehr der bloße Stoff, der im Erkennen überwunden und in die reine Gedankenform aufgehoben werden soll, sondern es wird ein, vom Standpunkt unseres Wissens, unentbehrliches Mittel, um die Verhältnisse der Begriffe selbst zu übersehen und zu bezeichnen.« 36 Ebd., S. 82, 85, 87, 277 f.; ECW 7, S. 87, 90, 92, 293 ff. 37 Zu weiteren Details dieses Aspekts vgl. unten S. 187 ff. 38 Vgl. abermals Freiheit und Form, S. 87 f.; ECW 7, S. 92 f. 39 Vgl. D. Mahnke, Leibnizens Synthese von Universalmathematik und Individualmetaphysik, S. 359 ff. In eine ähnliche Richtung gehen auch die Beobachtungen von K. Jacobi, Bemerkungen zum Verständnis der Leibnizschen »Nouveaux Essais sur l’Entendement humain«. Anläßlich des Nachdrucks der von E. Cassirer besorgten Ausgabe, S. 211.
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rekurrieren;40 ein Leibniz, der beständig dann herbeizitiert wird, wenn zu zeigen ist, wie die scientia generalis auf die characteristica universalis verwiesen bleibt,41 und der zudem als eine unbezweifelbare Autorität angeführt wird, wenn es – den Meditationes de cognitione, veritatis et ideis folgend – darum geht, daß die menschliche Erkenntnis eine endliche und als solche dem intellectus archetypus entgegengesetzte symbolische Erkenntnis und daher notwendig an Bilder und Zeichen gebunden ist.42 Aber dieses freie »Reich der Symbole«43, auf das die Erkenntnis verwiesen ist, erscheint Cassirer gleichzeitig als der mächtigste ›moderne‹ Impuls, den Leibniz als Erbschaft hinterlassen hat: nicht nur, wie bereits gezeigt worden ist, aufgrund der Fruchtbarkeit der Leibnizschen logischen Forschungen für die Entwicklung der modernen symbolischen Logik, sondern vor allem, weil der grundlegend schöpferische Charakter des mathematisch-logischen Symbols die Möglichkeit bietet, über das bloße Datum hinauszugehen, indem er »die synthetische Kraft des Bewußtseins überhaupt« im Zentrum der characteristica universalis erhellt.44 In dieser Hinsicht erblickt Cassirer in der Leibnizschen Position eine originäre Auflösung des Gegensatzes von Sinnlichem und Intelligiblem, in der das Sinnliche das unabdingbare Medium der Erkenntnis bleibt, und zwar insofern, als es den Status eines durch den intellectus ipse geleiteten Symbols annimmt; und auch hier zeigt sich die Korrelation von Allgemeinem und Besonderen, auf Grund derer das Allgemeine nur durch seine Manifestation im Besonderen begriffen werden kann, welches seinerseits wiederum nur in bezug auf das Allgemeine gedacht werden kann.45 Dieser Aspekt tritt mit großer Klarheit in der Leibnizschen Konzeption der Mathematik und besonders der Zahl von dem Moment an hervor, in dem für ihn die Zahl zum ›Prototyp‹ des reinen Denkens wird.46 Während Kant – bemerkt Cassirer bezeichnenderweise – die Zahl als Schema der Größe konzipiere, verfolge Leibniz, hierin sehr viel ›moderner‹, eine rein logische Begründung der Zahlenreihe, weit entfernt von der noch rein ›quantitativen‹ Perspektive der mathesis Vgl. Philosophie der symbolischen Formen, I, S. 22; ECW 11, S. 20. Vgl. Philosophie der symbolischen Formen, III, S. 334; ECW 13, S. 328. 42 Vgl. Philosophie der symbolischen Formen, I, S. 50, 72; ECW 11, S. 48, 68. Für den Leibnizschen Text vgl. Die philosophischen Schriften, IV, S. 422–426, und Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, I, S. 22–29 (9–15). 43 Philosophie der symbolischen Formen, III, S. 333; ECW 13, S. 327. 44 Vgl. Philosophie der symbolischen Formen, I, S. 46; ECW 11, S. 44. 45 Ebd., S. 18; ECW 11, S. 16. 46 Vgl. Philosophie der symbolischen Formen, III, S. 402; ECW 13, S. 395 f. 40 41
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universalis Descartes’ und in Richtung auf eine scientia de qualitate in genere, die ihr Zentrum in einer Logik der Relationen finde.47 Die Vorstellung der Sinnlichkeit als eine autonome Quelle des Bewußtseins scheint somit überwunden, und das klassische Kantische Problem präsentiert sich bei Leibniz kraft der grundlegenden Funktion des Symbols bei der Konstitution des vinculum substantiale zwischen Logik und Mathematik in einer weniger »schwierigen« und »komplexen« Form: »Betrachtet man den methodischen Gegensatz, der damit gegeben ist, vom Standpunkt der modernen Mathematik – so muß man sagen, daß diese letztere nicht auf dem von Kant, sondern auf dem von Leibniz gewiesenen Weg weitergeschritten ist.«48 So erscheint der Leibnizsche Rationalismus weniger dem Formalismus Hilberts als vielmehr einer produktiven Konzeption der Vernunft verwandt, die durch das ›reine Denken‹ im Sinne des Marburger Neukantianismus inspiriert ist; und in dieser transzendentalen Perspektive, einer Relationenlogik wissenschaftlicher Objekte, sind die »symbolischen Charaktere« – wenn sie nicht als bloße, aus ihrer ›bedeutenden‹ Dimension herausgelöste Zeichen verstanden werden – ein unabdingbares »Werkzeug«, ohne das die »ursprüngliche und selbständige Funktion der Vernunft« sich nicht erfüllen könnte.49 3. Diese Überlegungen zum Symbol als Medium der wissenschaftlichen Erkenntnis überkreuzen sich im Spätwerk Cassirers permanent mit dem weiter gefaßten Thema des geistigen Ausdrucks als Grundlage jeder Form von Wirklichkeitsverständnis. Nicht zufällig kommt das allgemeine ›Programm‹ der Philosophie der symbolischen Formen im Hinblick auf das Leibnizsche Problem des Verhältnisses von Allgemeinem und Besonderem und die Überwindung der metaphysischen Opposition von mundus sensibilis und mundus intelligibilis in der Perspektive einer Ausweitung der ›Allgemeinen Charakteristik‹ auf alle Formen der Produktion und des geistigen Ausdrucks besonders zur Geltung. »Der Gehalt des Geistes« – so Cassirer 1923 – »erschließt sich nur in seiner Äußerung; die ideelle Form wird erkannt nur an und in dem Inbegriff der sinnlichen Zeichen, deren sie sich zu ihrem Ausdruck bedient. Gelänge es, einen systematischen Überblick über die verschiedenen Richtungen dieser Art des Ausdrucks zu gewinnen – gelänge es, ihre typischen und durchgängigen Züge sowie deren besondere Abstufungen und innere Unterschiede aufzuweisen, so wäre damit das Ideal der ›all47 48 49
Ebd., S. 403–412; ECW 13, S. 397–406. Ebd., S. 55, 422, 425; ECW 13, S. 3, 416, 418. Ebd., S. 450 f.; ECW 13, S. 444 f.
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gemeinen Charakteristik‹, wie Leibniz es für die Erkenntnis aufstellt, für das Ganze des geistigen Schaffens erfüllt. Wir besäßen alsdann eine Art Grammatik der symbolischen Funktion als solcher, durch welche deren besondere Ausdrücke und Idiome, wie wir sie in der Sprache und in der Kunst, im Mythos und in der Religion vor uns sehen, umfaßt und generell mitbestimmt würden.«50 Sicher reicht eine einfache ›Kontamination‹ der Leibnizschen characteristica für eine systematische Begründung der verschiedenen Formen des geistigen Ausdrucks noch nicht aus; und es ist notwendig zu ergänzen, daß gerade der Begriff des Ausdrucks, der schon in sich mehrdeutig ist, Cassirer mit anderen philosophischen Richtungen des frühen 20. Jahrhunderts in Europa, von Dilthey zu Husserl und zu Croce, in Kontakt bringt.51 Das ändert jedoch nichts daran, daß er sich in diesem ›programmatischen‹ Zusammenhang ausdrücklich auf Leibniz bezieht, auch wenn er ihn an die eigenen Bedürfnisse anpaßt und ihn gewissermaßen als starkes ›Paradigma‹ benutzt. Andererseits hatte Cassirer sich wenig früher, in der Studie zur Relativitätstheorie, schon einmal auf Quid sit idea bezogen, um zu verdeutlichen, wie »der idealistische Wahrheitsbegriff«, auf
Philosophie der symbolischen Formen, I, S. 18 f.; ECW 11, S. 16 f. In bezug auf Dilthey genügt es, an die Rolle zu erinnern, die »Ausdruck« in dem »Zusammenhang« zwischen »Leben« und »Verstehen« spielt, der für die Geisteswissenschaften zur Grundlage wird (vgl. Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, S. 87). Es ist schwierig, nicht an Dilthey zu denken, wenn Cassirer schreibt, daß das »Verstehen von Ausdruck« dem »Wissen der Dinge« vorgängig sei (Philosophie der symbolischen Formen, III, S. 74). Außerdem müßte man sich auf die erste der Husserlschen Logischen Untersuchungen (einen Text, dem Dilthey bekanntermaßen »epochale« Bedeutung zusprach) beziehen, vgl. E. Husserl, Logische Untersuchungen, II, hg. von U. Panzer (=Husserliana, XIX / 1); The HagueBoston-Lancaster 1975, S. 30–110. Cassirer diskutiert Husserl auch in dieser Hinsicht in Philosophie der symbolischen Formen, III, S. 228–232. Zu den Differenzen zwischen Husserl und Cassirer diesbezüglich vgl. Ch. Möckel, Symbolische Prägnanz – ein phänomenologischer Begriff? Zum Verhältnis von Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen und Edmund Husserls Phänomenologie, »Deutsche Zeitschrift für Philosophie«, XL, 1992, S. 1056. Was schließlich Croce betrifft, vgl. z. B. diesen Passus der Estetica come scienza dell’espressione e linguistica generale, Bari 111965, S. 11: »ogni vera intuizione o rappresentazione è, insieme, espressione. Ciò che non si oggettiva in una espressione non è intuizione o rappresentazione, ma sensazione e naturalità. Lo spirito non intuisce se non facendo, formando, esprimendo. Chi separa intuizione da espressione, non riesce più a congiungerle«. (»Jede wahre Anschauung oder Vorstellung ist zugleich Ausdruck. Alles, was sich nicht in einem Ausdruck objektiviert, ist nicht Anschauung oder Vorstellung, sondern Empfindung, Natur. Der Geist kommt ohne eine Tätigkeit, ein Formgeben, ein Ausdrücken zu keiner Anschauung. Wer die Anschauung vom Ausdruck trennt, wird die beiden nie wieder verbinden können.«) 50 51
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dessen Grundlage das Bewußtsein sich von einem bloßen Bildausdruck, der die Wirklichkeit ›kopiert‹, in einen »reinen Funktionsausdruck« transformiert habe, in der Leibnizschen individuellen Monade, die ein »gemeinsames Universum und eine gemeinsame Wahrheit« ausdrückt, seine erste Grundlage gefunden habe; und hier – ergänzt Cassirer – habe Kant angesetzt, obzwar er sich von all den »metaphysischen Voraussetzungen«, die noch die Leibnizsche Perspektive belastet hätten, befreit habe.52 Auf diese Weise muß die Entwicklung vom Substanzbegriff zum Funktionsbegriff der Erkenntnis notgedrungen – so wird Cassirer 1927 bekräftigen – durch den Leibnizschen Begriff der »Repräsentation« oder vielmehr den der Zuordnung von idealen Bestimmungen hindurchgehen: »Diese Reduktion auf die Urteils- und Aussagesphäre schafft das »Bild«, wie es in den naiven »Abbildtheorien« genommen zu werden pflegt, zum Symbol um«.53 Zweifellos hat Cassirer nicht nur bei Leibniz die begründende Funktion der »Repräsentation« für die reine »Präsenz« der Vorstellung im Bewußtsein gefunden, wie man z. B. – um eine besonders wichtige Quelle zu nennen – an der Allgemeinen Psychologie Natorps sehen kann.54
Vgl. Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, S. 48 f.; ECW 10, S. 48 f. Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik und Denkpsychologie, S. 120. Kurz zuvor hatte Cassirer, auch mit Bezug auf Leibniz, vertreten: »Denn der Funktionsbegriff hat eben darin seine Bedeutung und seine Stärke, daß er an irgendwelche ›Gleichartigkeit‹ der Elemente, die er verknüpft und zusammenschließt, nicht gebunden ist. Was er leistet, ist eine Zuordnung von Bestimmungen, die im übrigen durch nichts anderes als durch eben das Gesetz der Zuordnung selbst miteinander verbunden zu sein, die keinerlei ›Gleichheit‹ oder ›Ähnlichkeit‹ miteinander aufzuweisen brauchen. So sind in der analytischen Gleichung einer Kurve reine Lagebestimmungen durch Zahlbestimmungen ausgedrückt und in ihnen vollständig repräsentiert« (S. 119 f.). Es ist bezeichnend, daß die Überlegungen Cassirers unmittelbar seiner kritischen Auseinandersetzung mit der Allgemeinen Erkenntnislehre Schlicks vorangehen, in der der Begriff der Zuordnung eine nicht weniger bedeutende Rolle spielt: nur daß Schlick (hierin Hertz und Helmholtz sehr viel näher als Cassirer) die zentrale Bedeutung der »Zuordnung« in der Beziehung zwischen Begriffen, Zeichen und äußerer Wirklichkeit erblickt, während Cassirer ihm – im Grunde gestützt auf den Leibnizschen Ausdruck – einen Rückfall in den »Fiktionalismus« spiegelbildlich zu seinem Realismus vorwirft (ebd., S. 126). Vgl. hierzu (jedoch ohne Bezug auf Leibniz) die genauen Anmerkungen von T.A. Rickmann, Conditio sine qua non? ›Zuordnung‹ in the early Epistemologies of Cassirer and Schlick, S. 61. 54 Vgl. P. Natorp, Allgemeine Psychologie, S. 54–58 (s. auch die weiteren Ausführungen Natorps zu Leibniz, S. 141 ff.). Zur vollständigen Übereinstimmung Cassirers mit dem von Natorp betonten »Primat der Beziehung« vgl. Philosophie der symbolischen Formen, III, S. 236, Anm. 1; ECW 13, S. 231 f., Anm. 145. Zum Problem der Repräsentation siehe auch Substanzbegriff und Funktionsbegriff, S. 373–378; ECW 6, S. 303–307. 52 53
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Dennoch ist es ebenso offensichtlich, daß der Leibnizschen Theorie des Ausdrucks weiterhin eine besondere Bedeutung für das Projekt der ›symbolischen Formen‹ als einer Ausweitung der symbolischen Ausdrucksfunktion des Bewußtseins auf alle »Erzeugnisse der geistigen Kultur« zukommt: Auch hier handelt es sich in der Tat darum, »die passive Welt der bloßen Eindrücke, in denen der Geist zunächst befangen scheint, zu einer Welt des reinen Ausdrucks umzubilden«.55 Und in diesem Sinne stellt das Symbol das Werkzeug dar, durch welches das Bewußtsein (wie die Leibnizsche Monade) potentiell das Ganze beinhalten kann, indem es die verschiedenen Einzelinhalte zu einer von der konkret-sinnlichen Beschränkung fortschreitend freieren Form verbindet.56 An diesem Punkt wird man auch verstehen können, warum Cassirer vor allem im dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen mit solcher Intensität auf das echte »Ursprungsphänomen« des geistigen Ausdrucks zurückkommen wird,57 und zwar auf einen »gemeinsamen Boden« der »Ausdrucksfunktion« oder auf den Leibnizschen Bezug nicht auf die res, sondern auf ihre Repräsentationen (die notae rerum), die für Cassirer die verschiedenen symbolischen Formen des Mythos, der Kunst, der Sprache und der wissenschaftlichen Erkenntnis konstituieren.58 Am Grund der Objektivierungen der Kultur und des Wissens zeige sich daher »dieselbe fundamentale Leistung« des Geistes, die es ermögliche, von der untersten Sphäre der Wahrnehmung an in der einzelnen Repräsentation eine allgemeine Bedeutung wiederzuerkennen.59 In diesem Kontext ist es um so bedeutsamer, daß Cassirer, indem er die »Ausdrucksfunktion« auf ihren niedrigsten und ursprünglichsten Philosophie der symbolischen Formen, I, S. 12; ECW 11, S. 10. Ebd., S. 44 f.; ECW 11, S. 42 f. 57 Zur expliziten Bezeichnung des Ausdrucks als Urphänomen im Goetheschen Sinne vgl. Philosophie der symbolischen Formen, III, S. 102, 108; ECW 13, S. 98, 104, und Das Symbolproblem, S. 9. 58 Vgl. Philosophie der symbolischen Formen, III, S. 53 f., 95; ECW 13, S. 49 f., 91. 59 Ebd., S. 136, 57; ECW 13, S. 130, 52. Es ist bemerkenswert, daß Cassirer an dieser Stelle erklärt, die Kantische Dreiteilung von Sinn, Einbildungskraft und Verstand anläßlich des Symbolproblems noch einmal zu durchdenken. Zusammengefaßt scheint es so, als verliefe der Weg Cassirers von diesem zu jenem und nicht umgekehrt: »Jene ursprünglichen Erkenntnisquellen, auf welchen nach der Kritik der reinen Vernunft die Möglichkeit einer Erfahrung überhaupt beruht: Sinn, Einbildungskraft und Verstand erweisen sich somit, unter dem Gesichtspunkt des Symbolproblems betrachtet, in einer neuen Weise aufeinander bezogen und miteinander verknüpft.« Übrigens läßt sich eine derartige Perspektive im Lichte einer typisch marburgischen Überwindung des Kantischen Dualismus von Sinnlichkeit und Verstand plausibel machen, da die symbolische Funktion sich leichter mit dem Leibnizschen Symbolismus als mit dem transzendentalen Schematismus Kants verbinden läßt. 55 56
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Ebenen untersucht, relativ ausführlich das Verhältnis von Körper und Seele problematisiert und, wenn es stimmt, daß es sich nicht um eine Beziehung von ›Dingen‹, zwischen hypostasiertem ›Innen‹ und ›Außen‹, sondern um eine rein »symbolische Relation« handelt, zu einer gewissermaßen leibnizianisch gefärbten Lösung kommt: Es geht somit, wie Cassirer bereits 20 Jahre früher vertreten hat, um die Überwindung jeglichen metaphysischen Dualismus, die sich im Namen der reinen Übereinstimmung zwischen der Einheit des repräsentierenden Bewußtseins und den repräsentierten Inhalten vollzieht.60 Aber hier ist noch mehr gesagt: Cassirer schreibt explizit, daß der im letzten Band der Philosophie der symbolischen Formen formulierte Begriff der »symbolischen Prägnanz«, demgemäß jede unmittelbare sinnliche Erfahrung immer von einem nicht anschaulichen ›Sinn‹ durchdrungen ist, eine Wiederaufnahme des Leibnizschen Ausdrucks »praegnans futuri« darstelle: dies aber nicht nur dem Wortlaut nach, sondern vor allem deshalb, weil Leibniz nach Cassirer mit diesem Begriff zu verdeutlichen suche, daß das Verhältnis von Zukunft und Gegenwart kein quantitatives, im Sinne einer Summe der Teile sei, sondern daß die Zukunft in der Gegenwart wie eine ›Gestaltqualität‹ enthalten sei, die nicht analytisch reduzierbar sei, sondern als symbolischer Prozeß das Bewußtsein kontinuierlich durchströme.61 Auch aus dieser Perspektive ist die Philosophie der symbolischen Formen reich an Leibnizschen Nachklängen, Echos jedoch – und dies ist nicht überflüssig zu betonen – eines ›funktional eingebundenen‹ Leibniz’, d. h. eines bewußt von der Cassirerschen Perspektive geprägten Leibniz’. Dennoch sollte unterstrichen werden, daß Leibniz gewiß nicht die einzige Quelle Cassirers ist, und zweifellos sind die Einflüsse, die in der berühmten, wenn auch allzu allgemeinen Definition der symbolischen Form als »jede Energie des Geistes [ … ] durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft wird und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird«,62 zusammentreffen,
Ebd., S. 108–121, bes. 117; ECW 13, S. 104–117, 113. Vgl. ebenfalls Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, II, S. 81–122 (I, S. LXV–CIII). In diesem Punkt scheint Cassirer weitgehend von der Art und Weise beeinflußt zu sein, in der schon Kant – in seiner Antwort auf Eberhard – die Leibnizsche prästabilierte Harmonie interpretiert hatte: vgl. Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll, S. 249 f. 61 Vgl. Philosophie der symbolischen Formen, III, S. 235; ECW 13, S. 231. Für den Leibnizschen Ausdruck praegnans futuri vgl. den Brief von Leibniz an Des Bosses vom 7. September 1711 in Die philosophischen Schriften, II, S. 424: »nam omnia in rebus quodammodo praestabilita sunt, et praeteritum est praegnans futuri«. 62 Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, S. 175. 60
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nicht ausschließlich auf die characteristica universalis zurückführbar. Wie viele Cassirer-Interpreten festgestellt haben und wie Cassirer nicht verhehlt hat, erhielt er wichtige Impulse für seine Symbolphilosophie aus anderen Quellen, und zwar vor allem durch die epistemologische Tradition von Helmholtz, Hertz und Duhem, auf die Cassirer des öfteren zurückkommt;63 und später – abgesehen von Hegel, Vischer oder der romantischen Ästhetik – auch durch Kant, aber vor allem durch Goethe und die Sprachphilosophie Humboldts.64 Dennoch kann nicht geleugnet werden, daß es Leibniz gewesen ist, der das Interesse Cassirers in die Richtung einer Philosophie des Symbols gelenkt hat, und deshalb lohnt es sich, detaillierter auszuführen, in welchem Ausmaß z. B. bei Kant und bei Humboldt eine Leibnizsche Vorlage wirksam gewesen ist: im Kantischen Denken in der cognitio symbolica und der facultas signatrix, (und allgemeiner in der ›Präsenz‹ des Symbolbegriffs), im Humboldtschen Entwurf in der auf die energeia gestützten sprachlichen Vermittlung und dem unaufhörlichen Dynamismus des Geistes. All dies bestätigt, was Cassirer einmal bezüglich des Symbols als Ergebnis eines historischen Prozesses beschrieben hat: es würde nämlich durch seine Funktion in Vgl. vor allem Philosophie der symbolischen Formen, I, S. 5 f.; ECW 11, S. 3, und III, S. 25 ff.; ECW 13, S. 23 ff. Erkenntnisproblem nebst den Grenzfragen der Logik und Denkpsychologie, S. 81 f., und Das Erkenntnisproblem, IV, S. 110–122; ECW 5, S. 119–134 64 Zu Humboldt vgl. z. B. Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, S. 176. In diesem Text bezieht sich Cassirer auf Goethe als Wendepunkt in der Geschichte des Symbolbegriffs; weiterhin werden erwähnt Schelling, Hegel und Vischer (ebd., S. 175). Von der relativen Häufigkeit her zu urteilen, mit der (ab Freiheit und Form) die Goethesche Definition des Symbols aus der Maxime 314 auftaucht (vgl. oben, S. 63 und Anm. 122), ist Goethe bei Cassirer stets präsent, auch wenn er keine ausführliche Interpretation des Symbolbegriffs Goethes gibt; selbiges läßt sich, abgesehen von Vischer, zu dem später zurückzukehren sein wird, von der romantischen Ästhetik nicht sagen (einige Hinweise in diese Richtung gibt G. Pochat, Der Symbolbegriff in der Ästhetik und Kunstwissenschaft, Köln 1983, S. 128–135). Was Kant betrifft (abgesehen von dem Hinweis in der folgenden Anmerkung), ist die Diskussion einigermaßen komplex: Sicherlich verwundert die Tatsache, daß Cassirer, wie wir bereits gesehen haben, den § 59 der Kritik der Urteilskraft nicht kommentiert; bezeichnend ist hingegen (wie E. W. Orth, Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen und ihre Bedeutung für unsere Gegenwart, »Deutsche Zeitschrift für Philosophie«, XL, 1992, S. 120, angemerkt hat) der Abschnitt des Erkenntnisproblems, II, S. 757; ECW 3, S. 633, in dem Cassirer die Realität des Kantischen transzendentalen Objekts als von »rein symbolischer Bedeutung« interpretiert, was unter anderem – mit Bezugnahme auf »Von der Typik der reinen praktischen Urteilskraft« – durch den Hinweis auf die Rolle des Symbols innerhalb der Kritik der praktischen Vernunft erhellt wird (vgl. Freiheit und Form, S. 154; ECW 7, S. 163, und Kritik der praktischen Vernunft in Kant’s gesammelte Schriften, V, S. 70). 63
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Sechstes Kapitel
den verschiedenen philosophischen Disziplinen besser beschrieben als durch irgendeine abstrakte Definition.65 Zumindest in diesem Kontext könnte die lex continui einiges Recht beanspruchen und wäre möglicherweise in der Lage, eine zu großen Teilen noch ausstehende Begriffsgeschichte zu erhellen; in jedem Fall war sie Cassirer sicherlich gegenwärtig, und vielleicht ist es gerade diese untergründige Herkunft, sind es diese profunden Leibnizschen oder neoleibnizschen Anregungen, durch die er sich noch viele Jahre nach der Niederschrift von Leibniz’ System verpflichtet fühlte, den Autor der Monadologie, sein unerschöpfliches, mit »prophetischer Sicherheit« begabtes »Genie« zu loben.66
Das Symbolproblem, S. 1. Vgl. auch A. Lamacchia, La »cognitio symbolica«. Un problema dell’ermeneutica kantiana in Percorsi kantiani, Bari 1990, S. 54–97, und J. Trabant, Traditionen Humboldts, Frankfurt am Main 1990, S. 69–93. Von einer facultas signatrix spricht Kant in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht in Kant’s gesammelte Schriften, VII, §§ 38–40, S. 191–196. Cassirer verweist darauf in der Philosophie der symbolischen Formen, III, S. 245; ECW 13, S. 241. 66 Vgl. Leibniz und Jungius in Beiträge zur Jungius-Forschung, Hamburg 1929, S. 25 f. Für den ›Neoleibnizianismus‹ innerhalb der neukantischen Marburger Tradition vgl. H. Holzhey, Die Leibniz-Rezeption im »Neukantianismus« der Marburger Schule in Beiträge zur Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte von Gottfried Wilhelm Leibniz, S. 289–300. 65
siebtes kapitel Logik des Ursprungs und Sprachphilosophie
1. In den (nicht besonders zahlreichen) Schriften, die Cassirer dem Werk Hermann Cohens gewidmet hat, ist es schwierig, eine explizite Stellungnahme gegenüber dem Begründer der Marburger Schule zu finden. Der Beitrag Cohens zur »Erneuerung der Kantischen Philosophie«, die Konzeption der Philosophie als System und die Religionsphilosophie im Verhältnis zur Ethik und zur Geschichte werden konzise und gelegentlich außerordentlich sympathetisch dargestellt. Fast immer wird jedoch – über das Treuebekenntnis zur transzendentalen Methode hinaus – die Absicht deutlich, ein besonders abgerundetes Profil zu bieten, das von der Persönlichkeit und der intellektuellen Statur des Marburger Lehrers geprägt ist und nicht von dem Bedürfnis, mit seinem Denken ›abzurechnen‹, das »nicht mit Unrecht«, wie Cassirer in einem Vortrag 1920 bemerkte, »als eines der schwierigsten systematischen Lehrgebäude unserer Zeit« gilt.1 Und doch ist es von zentraler Bedeutung, daß Cassirer – abgesehen von der Zurückhaltung, mit der er die philosophische Position Cohens behandelte, was allerdings zu der irrigen Überzeugung geführt hat, daß das reife Werk Cassirers bereits nichts mehr mit dem Cohenschen ›System‹ zu tun habe – ausgerechnet in der Philosophie der symbolischen Formen die komplexe Art der Ablösung von Cohen begründet: »Hermann Cohens System der Philosophie«, so läßt sich an einer Stelle im Vorwort zum ersten Band lesen, die vielleicht die kritischste ist, die Cassirer je geschrieben hat, »[ das ] die Logik, die Ethik und Ästhetik und zuletzt die Religionsphilosophie als selbständige Glieder behandelt, [ geht ] auf die Grundfragen der Sprache aber nur gelegentlich und im Zusammenhang mit den Grundfragen der Ästhetik [ ein ].«2 Denselben Fehler, fügt Cassirer hinzu, habe auch Benedetto Croce gemacht, für den E. Cassirer, Hermann Cohen, »Korrespondenzblatt des Vereins zur Gründung und Erhaltung einer Akademie für die Wissenschaft des Judentums«, I, 1920, S. 2; ECW 9, S. 503 ff. Vgl. außerdem Hermann Cohen und die Erneuerung der Kantischen Philosophie, bes. S. 273; Hermann Cohen. 1842–1918, »Social Research. An International Quarterly of Political and Social Science«, X, 1943, S. 219–232, und Hermann Cohen. Worte gesprochen an seinem Grabe am 7. April 1918, »Neue Jüdische Monatshefte«, II, 1918, S. 347–352 (später in H. Cohen, Schriften zur Philosophie und Zeitgeschichte, I, S. IX–XVI); ECW 9, S. 487–493. 2 Philosophie der symbolischen Formen, I, S. VII; ECW 11, S. IX. 1
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Siebtes Kapitel
– wie auch für Cohen – das Problem des sprachlichen Ausdrucks vollständig dem ästhetischen Ausdruck untergeordnet sei. Der moderne philosophische Idealismus entferne sich bei Croce wie bei Cohen somit von dem von Wilhelm von Humboldt vorgezeichneten Weg, dem hingegen das Verdienst zukomme, die Sprache in den Rang »einer selbständige[ n ], auf einem eigenen eigentümlichen Gesetz beruhende geistige ›Form‹« erhoben zu haben. Sicherlich, bemerkt Cassirer weiter, ließe sich, was die Reduktion der Sprache auf die Ästhetik betrifft, Croce zustimmen, wenn man unter der letzteren nicht den speziellen Bereich des künstlerischen Ausdrucks verstünde, sondern ganz allgemein den Ausdruck des Geistes als eigenes Gebiet einer ›Philosophie der symbolischen Formen‹; in diesem Falle jedoch müßte die Sprache »als wahrhaft selbständige und ursprüngliche Energie des Geistes« behandelt und nicht auf ein anderes Glied des philosophischen Systems reduziert werden. Dort, wo diese Identifikation tatsächlich vollzogen werde (dies sei bei Cohen der Fall) oder sogar als für die Konstitution einer ›Philosophie des Geistes‹ unumgänglich betrachtet werde (und dies sei der Fall bei Croce und Vossler), gerate die Sprache in die Gefahr, ihre eigene Funktion als ein »Brennpunkt des geistigen Seins, in dem sich Strahlen ganz verschiedenartiger Herkunft vereinen und von dem Richtlinien nach allen Gebieten des Seins ausgehen« zu verlieren.3 Die Position Cassirers gegenüber Croce verdiente größere Aufmerksamkeit, auch unter Berücksichtigung der kritischen Bemerkungen, die Cassirer andernorts über den Neoidealismus Croces sowie über die Grundlagen seiner Ästhetik gemacht hat.4 Hier soll jedoch vor allem hervorgehoben werden, daß die Anfechtung der »Identität von Lingu3
Ebd., S. 121 f.; ECW 11, S. 121 f. Cassirer schließt: »Soll die Sprache als eine wahrhaft selbständige und ursprüngliche Energie des Geistes erwiesen werden, so muß sie in das Ganze dieser Formen eingehen, ohne mit irgendeinem anderen schon bestehenden Einzelglied desselben zusammenzufallen – so muß ihr bei aller systematischen Verknüpfung, die sie mit der Logik und Ästhetik eingeht, eine ihr eigentümliche Stelle in diesem Ganzen zugewiesen und damit ihre ›Autonomie‹ gesichert werden.« 4 1913 diskutierte Cassirer die Logica Croces in Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik, vgl. Erkenntnis, Begriff, Kultur, S. 43–47; ECW 9, S. 172–176, ausgesprochen kritisch. Was die Ästhetik betrifft, besonders bezüglich der Negation der Kunstgattungen durch Croce, vgl. hingegen Zur Logik der Kulturwissenschaften, S. 118–121. Dieser Text Cassirers wurde von Croce negativ rezensiert in »Critica« (vgl. B. Croce, Discorsi di varia filosofia, Bari 1945, II, S. 251–256); Croce hatte sich bereits vorher (1912) polemisch von Cohens Aesthetik des reinen Gefühls distanziert (vgl. Conversazioni critiche, serie prima, Bari 41950, S. 22–28; s. darüber hinaus Nuovi saggi di estetica, Bari, 51969, S. 168). Cohen seinerseits hatte gerade in seiner Aesthetik die Ästhetik Croces verurteilt und sie wegen ihrer Loslösung von der begrifflichen Ebene und von der Erkenntnis als »romantisch« abgestempelt (vgl. H. Cohen, Aesthetik
Logik des Ursprungs und Sprachphilosophie
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istik und Ästhetik« durch Croce5 in Wirklichkeit eine präzise Kritik an dem ›philosophischen System‹ Cohens impliziert. Noch bedeutsamer erscheint diese Annäherung Croces und Cohens ex negativo, wenn man sich vor Augen führt, daß sie ausgerechnet zu Beginn der Philosophie der symbolischen Formen erfolgt, quasi zur Besiegelung des neuen Ansatzes, den Cassirers bezüglich des bereits von Cohen und Natorp für sich beanspruchten Projekts der Kulturphilosophie verfolgt und den er nun jedoch im Rahmen einer Neuproblematisierung der Marburger Transzendentalphilosophie angesichts der Wirklichkeit der kulturellen ›Fakten‹ zur Anwendung bringt, die die Philosophie der symbolischen Formen begründen will, indem sie die »Grammatik« ihres Verständnisses bereitstellt.6 Aus diesem Grunde muß auf das tatsächliche Ausmaß und die Implikationen der Abwendung von Cohen ausführlicher eingegangen werden, und zwar über die übliche – und in der Cassirerliteratur weit verbreitete – Feststellung einer ›Erweiterung‹, ›Ausweitung‹ oder einer größeren ›Sensibilität‹, die das Werk Cassirers gegenüber der neukantischen Strenge seiner Marburger Lehrer und besonders Cohens kennzeichnen würde, hinaus. Dies ist zwar nicht zu bestreiten, läuft jedoch Gefahr, das Gewicht der theoretischen Probleme, mit denen Cassirer sich in den 20er Jahren beschäftigte, zu unterschätzen, denn noch bewegte er sich – trotz Innovationen oder Verschiebungen – im Kielwasser derjenigen Problematik, die Cohen mit der Thematisierung der Ursprungsfrage primär erforschte.7 Unter dieser Perspektive ist es angebracht, von den Äußerungen Cohens selbst zum Problem der Sprache auszugehen, und zwar nicht nur auf dem Gebiet der Ästhetik, sondern vor allem in der Behandlung der Logik der reinen Erkenntnis, d. h. in demjenigen Text, in dem die Grundlegung des ›Systems der Philosophie‹ erfolgt. Das Verhältnis zwischen Logik und Sprache wird hier im wesentlichen auf der Ebene des Verhältdes reinen Gefühls, Bd. 1, S. 30–33). Zu einigen dieser Themen vgl. die Studie von B. Henry, Cassirer e Croce – Un possibile confronto, »Archivio di storia della cultura«, VI, 1993, S. 115–137. 5 Vgl. Estetica come scienza dell’espressione e linguistica generale, S. 153–166. 6 Vgl. Philosophie der symbolischen Formen, I, S. 19; ECW 11, S. 17. 7 Zur Verbindung zwischen Cassirer und Cohen vgl. Th. Knoppe, Die theoretische Philosophie Ernst Cassirers, S. 173–185. Insbesondere zur Sprachphilosophie Cassirers ist das Buch Th. Göllers, Ernst Cassirers kritische Sprachphilosophie, Würzburg 1986 (auf das hier des öfteren Bezug genommen wird) eine der wenigen Arbeiten, die sich ausgiebig mit dem transzendentalen Status der Cassirerschen Untersuchung beschäftigen. Als allgemeine Einführung in die Cassirersche Problematik ist immer noch nützlich W. M. Urban, Cassirer’s Philosophy of Language in The Philosophy of Ernst Cassirer, S. 401–441.
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nisses zwischen Logik und Grammatik behandelt, und zwar im Zusammenhang einer deutlichen Distanzierung von der Reduktion der Logik auf formale Logik. Cohen bezieht sich vor allem auf Aristoteles, auf den er die »Entstellung« der Konzeption der Logik als »allgemeine Grammatik« zurückgehen läßt, die eine Verkehrung des Zusammenhangs von Vernunft und Sprache mit sich bringt und zur Folge hat, daß die Sprache (verstanden als ein natürliches Geschehen) die Funktion einer Quelle der Vernunft erhält. So weit Cohen geneigt ist, die gesamte Bedeutung des sprachlichen Ausdrucks der Strukturen der Vernunft (und der logos ist nichts anderes als die Beziehung Vernunft-Sprache) anzuerkennen, ist es nach seinem Urteil erforderlich, die Aristotelische Perspektive umzudrehen und sie ihres formalistischen und psychologistischen Vorurteils zu entkleiden: »[ D ]er Gehalt der Sprache«, schreibt Cohen konzise, »ist der Inhalt der Vernunft. Die Formen dieses Inhalts aber, das sind letztlich die Erkenntnisse.«8 In diesem Sinne müsse die Logik der reinen Erkenntnis stets auf die reine Erkenntnis als Fundament der wissenschaftlichen Erkenntnis, in erster Linie der mathematischen Naturwissenschaft, ausgerichtet sein: Nur diese eigentümliche transzendentale Verortung bewahre sie vor dem Risiko, in der Grammatik verankert zu werden und folglich die Sprache als ihr Fundament zu betrachten. Aus diesem Grunde weist Cohen auf der anderen Seite – er distanziert sich somit von Kant – die Interpretation des Urteils als Artikulation des Verhältnisses zwischen Subjekt und Prädikat zurück. Denn was das Urteil fundiert, seien vor allem »Grundformen«, »Grundrichtungen« des reinen Denkens, d. h. die dem Urteil »immanenten« und aus ihrer Abhängigkeit von der Rede befreiten Kategorien.9 Die Autonomie der Logik als Logik der reinen Erkenntnis bei Cohen verdankt sich in entscheidendem Maße seiner Vernachlässigung der Grammatik und des sprachlichen Ausdrucks.10 Cohen modifizierte diesen Gesichtspunkt auch in der Aesthetik des reinen Gefühls von 1912 nicht, in der die Überlegungen zur Sprache als »Ausdrucksbewegung des Denkens« und zu ihrer ästhetischen Funktion als Ausdruck des Gefühls die Verortung der sprachlichen Proposition (in ihrer logischen Vorgängigkeit gegenüber dem Wort) in bezug auf den Gedanken unberührt lassen: Sie ist in der Tat ›feststehend‹ und
Logik der reinen Erkenntnis, S. 14 f. Ebd., S. 46 f., 52 (und S. 98 zu dem Fehler, das Urteil im Lichte seiner grammatikalischen Form zu konzipieren). Zur Wiederaufnahme der Urteilsproblematik durch Cohen und seiner Differenzierung gegenüber Kant sei verwiesen auf H. Holzhey, Cohen und Natorp, I, S. 92 ff. 10 Vgl. Logik der reinen Erkenntnis, S. 143. 8 9
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veranschaulicht die Bewegung des Gedankens nicht als Repräsentation, sondern als logische Struktur des Gedankens, die sich als »Vereinigung« »Sonderung« und »Erhaltung« darstellt.11 Unter diesem Blickwinkel ist die Behandlung des Problems der Sprache für Cohen der Reflexion über die Artikulation des reinen Denkens in der Überzeugung untergeordnet, daß das, was für die Logik der Erkenntnis und der Sprache selbst bedeutsam sein könne, gerade jenes ›Mehr‹ sei, das die Sprache zu einer Manifestation der Vernunft erhebe. Daraus resultiert eine Übereinstimmung mit Kant oder zumindest eine mögliche (aber traditionellere) Kantinterpretation: Auch bei Kant scheint die fehlende Berücksichtigung der Sprache auf dem Gebiet der kritischen Reflexion und in erster Linie in der Kritik der reinen Vernunft weniger ein ›Mangel‹ als das Ergebnis einer Entscheidung für die kritische Dimension der Vernunft gegenüber ihrer Reduktion auf Sprache zu sein, d. h. auf ein Mittel, durch das die Vernunft sich ausdrückt.12 Davon unterscheidet sich die Position Cassirers gewiß. Seine Aufmerksamkeit auf die Artikulation der Vernunft im sprachlichen Ausdruck und auf den »logical aspect of human speech«13 führt nicht nur zur Einbindung der Sprache in die transzendentalphilosophische Reflexion, sondern auch zu einer Wiederaufnahme einer von der Kantischen unterschiedenen Denktradition, die bezeichnenderweise mit derjenigen Argumentation zugunsten der Sprache identifiziert werden kann, die bereits Hamann und Herder Kant entgegengesetzt hatten. Genau genommen findet sich, abgesehen von der Publikation der Unvorgreiflichen Gedanken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der teutschen Sprache in der Ausgabe der Hauptschriften Leibnizens14, im Werk Cassirers vor Freiheit und Form, wo er beginnt, sich im Ausgang von Leibniz und der leibnizianischen Tradition, vor allem jedoch von Herder und Vgl. Aesthetik des reinen Gefühls, Bd. 1, S. 359 ff. Zu dieser Interpretation vgl. den Schluß, den M. Riedel zieht: Vernunft und Sprache. Grundmodell der transzendentalen Grammatik in Kants Lehre vom Kategoriengebrauch in Urteilskraft und Vernunft. Kants ursprüngliche Fragestellung, Frankfurt am Main 1989, S. 44–60. Zu Problemen dieser Art findet sich eine breite Diskussion (mit verschiedenen Ansätzen) in M. Capozzi, Kant on Logic, Language and Thought in Speculative Grammar, Universal Grammar and Philosophical Analysis of Language, edited by D. Buzzetti and M. Ferriani, Amsterdam-Philadelphia 1987, S. 97–147. 13 Structuralism in modern Linguistics, S. 101; dt. Übersetzung Strukturalismus in der modernen Linguistik in Geist und Leben, S. 320. 14 Vgl. G. W. Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, II, S. 519– 555, wo Leibniz mit einer quasi programmatischen Aussage beginnt: »Es ist bekannt, daß die Sprach ein Spiegel des Verstandes [ … ]« (S. 519) (672). 11
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Hamann, dem Problem der Sprache zu nähern, keine Behandlung der Sprache. Nicht einmal in seiner Ausgabe der Nouveaux Essais (erschienen 1915) widmet Cassirer der Sprache besondere Aufmerksamkeit, die doch eine so zentrale Rolle in der Auseinandersetzung Leibnizens mit Locke spielte.15 Das ändert jedoch nichts daran, daß gerade Leibniz den Ausgangspunkt der neuen Orientierung der Cassirerschen Reflexion während der Zeit des Ersten Weltkrieges darstellt, nicht nur – wie bereits gezeigt wurde – auf Grund seiner Bedeutung für die deutsche Kulturgeschichte und die Ausbildung der ›Geisteswissenschaften‹, sondern auch wegen des Impulses, den die Sprachphilosophie durch die konstante Wechselbeziehung von ›Begriff‹ und ›Zeichen‹, ›Vernunft‹ und ›Sprache‹ bei Leibniz im Lichte der Theorie des Ausdrucks erhält.16 In Freiheit und Form wird dieser Aspekt nur am Rande behandelt; wenn man jedoch im Blick behält, was Cassirer in dem kurzen Abriß der Sprachphilosophie im ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen sagt, ist es nicht schwierig zu bemerken, daß es gerade Leibniz ist, der für die zentrale Bedeutung des philosophischen Problems des sprachlichen Ausdrucks als unauflöslich verbunden mit der »allgemeinen Logik«17 Pate steht. Zweifellos konzentriert sich die Aufmerksamkeit Cassirers weder hier noch an anderer Stelle auf die Analyse der komplexen Beziehungen zwischen natürlichen Sprachen und der characteristica universalis bei Leibniz und nicht einmal auf die enorme Leistung Leibnizens als empirischer Forscher im Bereich der Geschichte der Sprachen. Das schließt jedoch nicht aus, daß Cassirer bei Leibniz eine Art ›Denkstil‹ entdeckt, der besonders fruchtbar ist für die Betonung des sprachlichen Ausdrucks als Erweiterung und ›sinnlicher‹ Bereicherung des traditionellen Rationalismus. Die Leibnizsche Lehre der Charaktere wird so – trotz des nicht vollständig gebannten Risikos, den besonderen Gehalt der Sprache der abstrakten Allgemeinheit der allgemeinen Charakteristik zu opfern – für das Projekt der Philosophie
Vgl. diesbezüglich E. Cassirer, Einleitung in G. W. Leibniz, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, S. V–XXV (XI–XXXI), in der sich auf S. XXV (XXX) nur ein flüchtiger Hinweise auf die Leibnizsche Sprachforschung findet. Bereits im Erkenntnisproblem, II, S. 415–421; ECW 3, S. 349–354, hatte Cassirer sich mit dem Zusammenhang »Vernunft und Sprache« bei durch Leibniz beeinflußten Autoren wie Lambert und Ploucquet beschäftigt und mit einem flüchtigen Hinweise auf die Sprachursprungsschrift Herders geschlossen. Es handelt sich hier jedoch um einen Exkurs, der mehr durch die Vollständigkeit der Darstellung als durch ein eigenes theoretisches Interesse motiviert ist. 16 Vgl. Freiheit und Form, S. 278; ECW 7, S. 294. 17 Philosophie der symbolischen Formen, I, S. 69; ECW 11, S. 66. 15
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der symbolischen Formen assimilierbar, denn »jedes sinnliche Symbol [ ist ] der Träger einer rein geistigen Bedeutung«.18 Der Leibniz gezollte Tribut bringt jedoch auch eine besondere Aufmerksamkeit für die leibnizianische ›Tradition‹ mit sich, die die Diskussion des 18. Jahrhunderts durchzieht und bis zu Wilhelm von Humboldt reicht. Bereits in Freiheit und Form hat Cassirer sich diesbezüglich mit Hamann und Herder beschäftigt. Zwar bezieht er sich, wenn er auf den ›Magus des Nordens‹ zu sprechen kommt, nicht explizit auf dessen kryptische Schriften über die Sprache, doch zitiert er die Metakritik über den Purismus der reinen Vernunft und betrachtete auch die Studie Rudolf Ungers über die Sprachtheorie Hamanns, um dann rasch zum Beitrag Herders und zur Diskussion des 18. Jahrhunderts über den Ursprung der Sprache überzugehen.19 Die Bedeutung der ›Linie‹ Hamann-Herder oder, um genauer zu sein, der Entwicklung vom Leibnizschen Begriff der Analogie über den Begriff der Form bei Shaftesbury und die ›symbolische‹ Auflösung des Wirklichen bei Hamann bis zu Herders Sprachursprungsschrift, wird so betont: Dort sei die freie geistige Formung schließlich in der Lage, die Antithese von den Theorien des göttlichen Ursprungs der Sprache (inklusive derjenigen Hamanns) und den konventionalistischen Interpretationen, die sie hingegen auf einen Komplex arbiträrer Zeichen reduzieren, der eine Welt bereits existierender ›Dinge‹ beherrschen soll, aufzulösen. Mit Herder, unterstreicht Cassirer, ist die Sprache nicht mehr als die »Kopie« von etwas an sich bereits Bestimmten konzipiert, sondern als »ursprünglicher Ausdruck«, als »Lebensvorgang«, in dem 18
Ebd., S. 71 ff.; ECW 11, S. 68 f. Zur Kritik dieser Bewertung Cassirers und einer ausführlicheren Behandlung dessen, was hier nur angerissen werden konnte, vgl. A. Heinekamp, Natürliche Sprache und allgemeine Charakteristik bei Leibniz in Leibniz’ Logik und Metaphysik, hg. von A. Heinekamp und F. Schupp, Darmstadt 1988, S. 354 ff. 19 Vgl. Freiheit und Form, S. 108–127; ECW 7, S. 114-135. Durch das Buch Ungers (Hamanns Sprachtheorie im Zusammenhang seines Denkens. Grundlegung zu einer Würdigung der geistesgeschichtlichen Stellung des Magus in Norden, München 1905) konnte Cassirer ausreichende Informationen über die Sprachphilosophie Hamanns erhalten (vgl. bes. S. 126-254); schließlich hatte Unger (was für Cassirer nicht ohne Bedeutung ist) den »konstitutiven« Charakter des Symbols für die Hamannsche Konzeption der Sprache (vgl. S. 144 f.) sowie die Funktion des Wortes für die Offenbarung des Göttlichen »in symbolischer Gestalt« hervorgehoben (S. 143, Hervorh. von M. F.). Zu den »vulkanischen« (ein Ausdruck Cassirers) Seiten über die Sprache Hamanns vgl. J. G. Hamann, Sämtliche Werke, hg. von J. Nadler, III, Wien 1951, S. 286, 284. Dort finden sich in der Metakritik über den Purismus der reinen Vernunft Sätze wie : »Laute und Buchstaben sind [ … ] reine Formen a priori«, oder den berühmten: »[ … ] die Sprache, das einzige erste und letzte Organon und Kriterion der Vernunft«.
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sich die »seelischen Energien« der Erkenntnis entfalten und kraft derer das Zeichen und der Gehalt einem gemeinsamen »Ausdrucksmoment« angehören.20 Die Bedeutung dieser ›Linie‹ geht vollends aus dem historischen Bild hervor, das der erste Band der Philosophie der symbolischen Formen zeichnet, mit dem unter anderem der Zusammenhang Leibniz-Shaftesbury-Hamann-Herder wieder in den Blick gerät, jedoch auch die Übereinstimmung zwischen Hamann und Vico.21 An dieser Stelle legt Cassirer nicht nur nahe, die Sprachphilosophie Herders im Lichte der Kantischen Teleologie zu betrachten, und macht schließlich bei Herder den Wendepunkt aus, der die Konzeption der Sprache als ›Organismus‹ einführt, sondern er zeichnet vor allem einen beispielhaften Verlauf nach, in dem eine fortschreitende Erweiterung des ursprünglich Leibnizschen Ansatzes im großen Werk Wilhelm von Humboldts mündet.22 Gewiß läßt Cassirer auch den Beitrag der empiristischen Schulen zur Diskussion des Problems der Sprache im 17. und 18. Jahrhundert nicht außer acht; dennoch unterstreicht er (in einem offenkundig einseitigen Urteil), daß der Empirismus, obwohl sehr verdienstvoll im Vorantreiben der konkreten Freiheit und Form, S. 126 f.; ECW 7, S. 133 f. (»Wie die Poesie, so ist daher die Sprache [ … ] nicht als Kopie und Abdruck eines Vorhandenen, sondern als Entfaltung und Ausdruck seelischer Energien zu verstehen [ … ] Die Sprache [ ist nicht ] Nachahmung, sondern [ … ] ursprüngliche und notwendige Schöpfung«). Ähnliche Betrachtungen, stets mit Bezug auf Herder, finden sich auch in Philosophie der symbolischen Formen, I, S. 257–260; ECW 11, S. 261–266. Als erste Annäherung an den Problemzusammenhang Herders, dem Cassirer, wie im folgenden gezeigt wird, eine gewisse Aufmerksamkeit widmet, s. J. G. Herder, Sprachphilosophische Schriften, hg. von E. Heintel, Hamburg 1975. 21 Vgl. Philosophie der symbolischen Formen, I, S. 87; ECW 11, S. 84 f. Andere moderne Quellen (darunter vor allem Cusanus) sind von Cassirer beleuchtet worden in Die Bedeutung des Sprachproblems für die Entstehung der neueren Philosophie in Festschrift Meinhof. Sprachwissenschaftliche und andere Studien, Hamburg 1927, S. 507–514 (jetzt in Geist und Leben, S. 274–286). 22 Vgl. Philosophie der symbolischen Formen, I, S. 90; ECW 11, S. 88, mit Bezug auf die Sprache als »Zweckmäßigkeit ohne Zweck« im Sinne der Kritik der Urteilskraft Kants. Zu dem Zusammenhang Humboldt-Leibniz vgl. bes. S. 103 f.; ECW 11, S. 102; zu letzterem Punkt s. die interessante Analyse J. Trabants, Traditionen Humboldts, S. 69–93 (und S. 104–108 für die »Herder-Tradition«). Zur Bedeutung Leibnizens für Humboldt vgl. auch T. Borsche, Sprachansichten. Der Begriff der menschlichen Rede in der Sprachphilosophie Wilhelm von Humboldts, Stuttgart 1981, S. 156–170 (und allgemeiner die Aufsätze von R. H. Robins, Leibniz and Wilhelm von Humboldt and the History of Comparative Linguistics, und T. Borsches, Die Säkularisierung des tertium comparationis. Eine philosophische Erörterung der Ursprünge des vergleichenden Sprachstudiums bei Leibniz und Humboldt, beide in Leibniz, Humboldt and the Origins of Comparativism, edited by T. de Mauro and L. Formigari, AmsterdamPhiladelphia 1990, S. 87–102, 103–118). 20
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Erforschung der Sprachen, durch seine sensualistische Erkenntnislehre keine wirkliche Grundlegung des philosophischen Problems der Sprache für sich beanspruchen könne.23 Der obligatorische Bezugspunkt sei hingegen die komplexe Verflechtung zwischen dem Leibnizschem Erbe und der (hier nicht explizit angeführten) Goetheschen Konzeption der Morphologie: Die daraus entstandene Synthese von Philosophie, Sprachphilosophie und besonderer Sprachforschung sei bei Humboldt gegeben, einem Autor, ohne den – entgegen der gewöhnlich nur geringen Aufmerksamkeit für diese Beziehung – weder die Sprachreflexion Cassirers angemessen verstanden werden kann, noch seine Überzeugung, daß die Sprache – wie auch die anderen geistigen Grundfunktionen – ihre eigene philosophische Aufklärung nur »innerhalb eines Gesamtsystems des philosophischen Idealismus« finden könne.24 2. Der Name Wilhelm von Humboldts war der Tradition des Marburger Neukantianismus nicht fremd; jedoch war er in Wirklichkeit nur zu Beginn seiner Geschichte präsent, als der junge Cohen, noch ›Herbartianer‹, unter dem Einfluß Steinthals seine Aufmerksamkeit auf jene Sprachwissenschaft richtete, die in der Folge, wie bereits gezeigt wurde, für die Ausarbeitung der Logik der reinen Erkenntnis eine untergeordnete Rolle spielte.25 Cassirer (der 1928 Herausgeber der Jugendschriften Cohens wurde) kannte dieses Kapitel der Sprachphilosophie des 19. Jahrhunderts sehr gut und verwendete in kritischer Absicht auch die Arbeiten Steinthals sowie die an die Völkerpsychologie und an Wilhelm Wundt gebundene Sprachforschung im allgemeinen. Der Rahmen jedoch, in den sich die ›Humboldtrenaissance‹ einfügt, in der Cassirer zugleich Protagonist und Teilnehmer ist, läßt sich leichter mit den Beiträgen Eduard Sprangers oder mit dem von der Sprachwissenschaft vollzogenen »entscheidenden Schritt vom Positivismus zum Idealismus« verbinden.26 Und doch bleibt, abgesehen von dem auf den ersten Blick
Vgl. Philosophie der symbolischen Formen, I, S. 73 ff.; ECW 11, S. 70–73. Ebd., S. IX; ECW 11, S. XI. 25 Vgl. vor allem H. Cohen, Die dichterische Phantasie und der Mechanismus des Bewußtseins [ 1869 ], später in Schriften zur Philosophie und Zeitgeschichte, I, S. 199 ff. Eine Untersuchung dieses Aspekts bietet G. Gigliotti, Avventure e disavventure del trascendentale, S. 25–32. 26 Vgl. Philosophie der symbolischen Formen, I, S. 108–123; ECW 11, S. 106– 112, wo Cassirer das ›Manifest‹ K. Vosslers, Positivismus und Idealismus in der Sprachwissenschaft. Eine sprachphilosophische Untersuchung, Heidelberg 1904, vor Augen hat (zu Humboldt vgl. hier S. 94). Aber zu Vossler und der berechtigten Forderung, »den entscheidenden Schritt vom Positivismus zum Idealismus« in 23 24
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schwerlich zu rekonstruierenden Bruch, zu klären, wie die Grundlegung der ›Phänomenologie der sprachlichen Form‹, obwohl sie nicht mehr aus der Psychologie Herbartscher Prägung schöpfte, die die ›Dynamisierung‹ des Apriori durch den frühen Cohen motiviert hatte, hier dennoch einen zentralen Punkt wieder aufnahm, und zwar die Bestimmung der Sprache – mit den Worten Steinthals – als »Energie des Bewußtseins«, als »geistige Produktion«. Auch in diesem Fall handelte es sich weniger darum, Psychologie und Transzendentalphilosophie gegenüberzustellen, sondern darum, ein aus dem Gebiet der Psychologie hervorgegangenes Problem auf der Ebene der Transzendentalphilosophie erneut umzuschreiben und zu verwandeln.27 Der Cassirersche Humboldt jedenfalls ist bereits 1920 im Aufsatz Die Kantischen Elemente in Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie vollends bestimmt, in dem Cassirer in nahezu programmatischer Form die tieferen Gründe seiner gegen Ende des Krieges ausgereiften systematischen Annäherung an die Sprachphilosophie umreißt.28 Cassirer beginnt mit der Betonung, daß die ›kopernikanische Wende‹ Kants – im Marburger Sinne einer Grundlegung der verschiedenen eigenständigen der Sprachwissenschaft zu vollziehen, vgl. auch Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, S. 172. Für einige kurze Anmerkungen zum ›Schicksal‹ Humboldts und seiner ›Wiederentdeckung‹ im Zuge der ›idealistischen Renaissance‹ vgl. L. Formigari, La logica del pensiero vivente. Il linguaggio nella filosofia della Romantik, Roma-Bari 1977, S. 113 f. Ebenfalls zu berücksichtigen sind die Aufsätze E. Sprangers, W. v. Humboldt und Kant, »Kant-Studien«, XIII, 1908, S. 57–129, und J. Stenzels, Die Bedeutung der Sprachphilosophie W. von Humboldts für die Probleme des Humanismus, »Logos«, X, 1921, S. 261–274. 27 Vgl. H. Steinthal, Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft, Berlin 1871, S. 90. Allgemeiner zu Cassirers Philosophie der symbolischen Formen als Wiederaufnahme der vom jungen Cohen im Einklang mit der ›Völkerpsychologie‹ bearbeiteten Themen s. den Hinweis H. Dussorts, L’école de Marbourg, S. 71, Anm. 2; zu Cohen und der Dynamisierung des Apriori vgl. auch L. Bertolini, Apriori e storia negli scritti giovanili di Hermann Cohen, »Rivista di storia della filosofia«, XLI, 1986, S. 265–281, und vor allem G. Gigliotti, »Apriori« e »trascendentale« nella prima edizione di Kants Theorie der Erfahrung di H. Cohen, »Studi Kantiani«, V, 1992, S. 47–69. 28 Vgl. E. Cassirer, Die Kantischen Elemente in Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie in Festschrift für Paul Hensel, Greiz in V. 1923, S. 105–127 (jetzt in Geist und Leben, S. 236–273, aus dem im folgenden zitiert wird). In der Erstausgabe von Idee und Gestalt (Berlin 1921, S. 69) verweist Cassirer bereits auf diese Arbeit über Humboldt und gibt als Datum der Veröffentlichung der Festschrift für Hensel 1920 an; die Veröffentlichung wurde dann jedoch verschoben, und in der zweiten Auflage von Idee und Gestalt, S. 64; ECW 9, S. 303, Anm. 53, korrigiert Cassirer in der Tat die Datumsangabe. Auf ein intensives Studium der Sprachphilosophie (»Vor allem habe ich mich auch eingehend mit Sprachphilosophie befasst«) bezieht Cassirer sich in einem Brief an William Stern vom 30. Mai 1919, der bereits oben, S. 137, Anm. 2, erwähnt wurde).
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Realisierungen der Vernunft – eine beträchtliche Lücke offenbart habe, als das Gebiet der Sprache als eine ›geistige Schöpfung‹ offenkundig wurde, die innerhalb der gesamten Kantischen Systematik keinen Platz gefunden habe.29 Von diesem Gesichtspunkt aus erscheint die ›Metakritik‹ Hamanns und vor allem Herders Cassirer als vollkommen legitim,30 was jedoch nichts daran ändert, daß der Geist und die Methode der Kantischen Philosophie gleichermaßen tiefgreifend »die Form der Sprachphilosophie« verändern mußte, als sich mit Humboldt die Hamannsche und Herdersche Konzeption der Sprache »als Organon, als ein lebendiges Werkzeug der Vernunft wie der Vernunftkritik« erwies, und die Transzendentalphilosophie der Sprache somit nicht als Widerlegung, sondern als Erweiterung und Vertiefung der ›kopernikanischen Wende‹ begründet wurde.31 Auf der Übernahme der »methodischen Strenge« des kritischen Idealismus durch Humboldt insistiert Cassirer energisch (jedoch auch mit einer gewissen Einseitigkeit), indem er sich im wesentlichen auf drei grundlegende Aspekte bezieht: in erster Linie auf die kritische Auflösung des traditionellen Objektbegriffs und des Verhältnisses Subjekt-Objekt; in zweiter Linie auf das Verständnis der sprachlichen Ausdrucks als »Arbeit des Geistes«, als Tätigkeit der freien »Produktivität des Geistes«; und schließlich auf den ›genetischen‹ Charakter – jedoch im Sinne einer nicht mehr psychologischen, sondern transzendentalphilosophischen Genese der sprachlichen Schöpfung.32 Diese drei Aspekte sind miteinander verflochten, denn die Überwindung des dogmatischen Begriffs des Objekts verbindet sich bei Humboldt mit der allgemeineren Perspektive einer Objektivierung, die durch die Sprache erfolgt. Während der kritische Objektbegriff für Kant um das Urteil kreist, fordert Humboldt hingegen die Situierung der ursprünglich synthetischen Funktion auf der Ebene des Satzes.33 Andererseits, bemerkt Cassirer, verhindert die produktiVgl. Die Kantischen Elemente in Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie, S. 239. 30 Ebd., S. 240 f., 249–252 (wo Cassirer unter anderem in Herder den Vermittlungspunkt zwischen der Hamannschen Konzeption der Sprache und der Anerkennung der »Kraft der Reflexion« kantischer Herkunft sieht). 31 Ebd., S. 241. Zu Humboldt und Herder s. J. Trabant, Traditionen Humboldts, S. 106 f. 32 Vgl. Die Kantischen Elemente in Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie, S. 259, 270 f.; zur transzendentalen Genese der Sprache vgl. auch Philosophie der symbolischen Formen, I, S. 104; ECW 11, S. 102 f. 33 Vgl. Die Kantischen Elemente in Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie, S. 256 f. (»Was hier von Kant als Leistung des Urteils beschrieben wird: das ist, wie Humboldt dartut, im konkreten Leben des Geistes nur durch die vermittelnde 29
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ve Tätigkeit des Geistes jedes mögliche Mißverständnis der kritischen Lehre im Sinne der Trennung oder Entgegensetzung von ›Form‹ und ›Materie‹: Im Gegensatz dazu basiere die Humboldtsche Konzeption auf der »allgemeingültigen Gesetzlichkeit des Erzeugens selbst«, wodurch die Sprache jeglichen ›dinglichen‹ Restbestand überwinde und sich als Lebensform bestätige (und ihrer Reduktion zu einer Seinsform entgegengesetzt sei). Daher rührt der Ausspruch Humboldts, den Cassirer so sehr schätzte und quasi zur Devise seiner philosophischen Forschung erhob, nach dem die Sprache nicht ergon, sondern energeia ist.34 Dieser ›vitale‹ Impuls sei der Motor der transzendentalen Genese der Sprache oder besser ihrer durch die Gesetzmäßigkeit der sprachlichen Form gelenkten Entwicklung. In der sprachlichen Form komme die Freiheit des Geistes zum Ausdruck, eine Freiheit, die darin bestehe, sich selbst das Gesetz zu geben und zugleich »die Sphäre des Notwendigen als ihr [ … ] Korrelat« zu schaffen.35 Cassirer hebt die ›strukturellen‹ Aspekte der Sprache deutlich hervor, jedoch aus der Sicht eines dynamischen Strukturalismus, der allenfalls die Lektion der Goetheschen Morphologie gelernt hat. In diesem Sinne ist der Kantianismus Humboldts kein ›Schulkantianismus‹, sondern die Ausweitung der kritischen Problematik in Richtung einer »konkreten Betrachtung des geistigen Lebens« im Lichte der Vermittlung von Universalität und Individualität, auf die Cassirer – an Hand der Leistung der Sprache möglich. Die Objektivierung im Gedanken muß durch die Objektivierung im Sprachlaut hindurchgehen.«) S. auch Philosophie der symbolischen Formen, I, S. 102 f.; ECW 11, S. 101 ff. 34 Vgl. Die Kantischen Elemente in Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie, S. 259 f., 266 (»[ … ] Humboldt [ hat ] den Grundirrtum, der die Auffassung der kritischen Erkenntnislehre immer wieder erschwert hat, den Irrtum, daß in ihr eine selbständige ›Form‹ einem für sich bestehenden ›Stoff‹ nachträglich angefügt und aufgedrängt werde, nicht geteilt.«). S. auch W. von Humboldt, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts in Werke, III, Schriften zur Sprachphilosophie, S. 418: »[ Die Sprache ] ist kein Werk (Ergon), sondern eine Thätigkeit (Energeia). Ihre wahre Definition kann daher nur eine genetische seyn. Sie ist nemlich die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den articulirten Laut zum Ausdruck des Gedankens fähig zu machen«. Vgl. außerdem P. Giacomoni, Formazione e trasformazione. »Forza« e »Bildung« in Wilhelm von Humboldt e la sua epoca, Milano 1988, S. 182–198. 35 Die Kantischen Elemente in Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie, S. 262. Zur Gesetzmäßigkeit und zur transzendentalen Genese der sprachlichen Form vgl. auch, was Cassirer 1922 in Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, S. 178–182, schreibt. Obwohl exzessiv ihrer ›romantischen‹ Konnotationen bereinigt, wird die transzendentale Genese der Sprache bei Humboldt von Cassirer großenteils überzeugend dargestellt (vgl. auch J. Trabant, Traditionen Humboldts, S. 106; entgegengesetzter Ansicht, jedoch ohne grundlegende Argumente, ist hingegen A. Graeser, Ernst Cassirer, S. 200, Anm. 13).
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Kritik der Urteilskraft – zumindest seit der Kantmonographie von 1918 die Aufmerksamkeit gerichtet hat.36 Cassirer meint, der Humboldtschen Sprachphilosophie eine Modellfunktion zusprechen, sie als ein wirkliches und eigenes transzendentales Paradigma begreifen zu können. Sie stellt den eigentlichen theoretischen Rahmen dar, in den Cassirer das im Laufe des 19. Jahrhunderts von der Sprachforschung (und nicht nur der Sprachforschung, wie die ausgiebige Verwendung der ethnologischen Forschungen positivistischer Herkunft belegt) ans Tageslicht beförderte Material integriert, und dennoch gibt er ein komplett negatives Urteil über die philosophischen Annahmen ab, auf die diese Forschungen sich gestützt haben.37 Die herausragende Bedeutung Humboldts für die Sprachphilosophie Cassirers wird nicht nur durch die Häufigkeit belegt, mit der Texte Humboldts herangezogen werden (man denke nur an die häufig zitierte Einleitung zum KawiWerk) sondern vor allem durch die Verwendung eines im weiteren Sinne Humboldtschen Schemas. Dies führt im Ausgang von einer holistischen Konzeption der Sprache und ihrer Konstitution einer globalen Weltansicht zu einer ›teleologischen‹ Interpretation der Entwicklung der Sprachen und gipfelt im Übergang »vom substanzialen Ausdruck zum reinen Beziehungsausdruck«, in dem der Primat des »rein beziehentlichen Denkens« – im Namen Humboldts – den Cassirerschen Triumph der Funktion über die Substanz feiert.38 36
Zu diesem Aspekt, auf den bereits oben, S. 73 ff., eingegangen worden ist, vgl. Kants Leben und Lehre, bes. S. 384; ECW 8, S. 346, und Das Erkenntnisproblem, III, S. 1–16; ECW 4, S. 1–15. Zum Problem »jene[s] Ideal[s] eines Konkret-Allgemeinen, mit welchem die gesamte nachkantische Spekulation ringt« bei Humboldt s. vor allem Die Kantischen Elemente in Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie, S. 254 (zu den Sprachen als Organismen bzw. Ganzheiten in einem ausgesprochen kantischen Sinne vgl. z. B. W. von Humboldt, Ueber das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung in Schriften zur Sprachphilosophie, S. 2 f., 10). Bezüglich des Verhältnisses Humboldts zur Goetheschen Morphologie vgl. schließlich die scharfsinnigen Beobachtungen Cassirers in Structuralism in modern Linguistics, S. 115 f.; dt. Übersetzung Strukturalismus in der moderen Linguistik in Geist und Leben, s. 339 ff.; zu Humboldt und dem Strukturalismus vgl. auch Essay on Man, S. 121. 37 Vgl. Philosophie der symbolischen Formen, I, S. 108–123; ECW 11, S. 106–112. Nicht umsonst wird Cassirer im ›programmatischen‹ Artikel von H. Basilius, NeoHumboldtian Ethnolinguistics, »Word«, VIII, 1952, S. 95–105, wiederholt erwähnt. Eine genaue Überprüfung der Verwendung des sprachlichen und ethno-linguistischen Materials seitens Cassirers wäre besonders wünschenswert, vor allem, weil es stets durch den Cassirerschen Gesichtspunkt ›orientiert‹ wird und nicht selten den Eindruck macht, eher als Beweis einer vorgefaßten These vorgelegt zu sein, denn als eigenständiges empirisches Gesamtergebnis (vgl. hierzu die Betrachtungen Th. Göllers, Ernst Cassirers kritische Sprachphilosophie, S. 134 f.). 38 Vgl. z. B. Philosophie der symbolischen Formen, I, S. 286 ff.; ECW 11, S. 255–258.
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Dennoch muß auch noch ein anderes zentrales Element hervorgehoben werden. Nach Cassirer besteht die eigentliche Bedeutung des Humboldtschen Werkes in der Anwendung der transzendentalen Methode auf jenes von Kant völlig vernachlässigte Faktum der Sprache: »Der Grundgedanke der transzendentalen Methode: die durchgängige Beziehung der Philosophie auf die Wissenschaft, die Kant im Hinblick auf die Mathematik und die mathematische Wissenschaft durchgeführt hatte«, so Cassirer, »erschien jetzt in einem ganz neuen Gebiet bewährt.«39 Diese ›Marburger‹ Lektüre Humboldts zeugt somit von einer Kontinuität, zugleich jedoch von einem offenkundigen Bruch mit den Lehrern Cassirers. Auf der einen Seite geht es in der Tat darum, die unausschöpfbare Fruchtbarkeit der transzendentalen Methode als Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit der ›Fakten‹ der Kultur noch einmal unter Beweis zu stellen: auch jenes objektiven Faktums – Cassirer wird dies in Davos gegenüber Heidegger bekräftigen –, durch das sich die menschliche Kommunikation vollzieht und das der Grundlegung von einem transzendentalen Gesichtspunkt aus bedarf, indem gefragt wird, wie jener Vollzug möglich sei.40 Zugleich geht es darum, die quaestio juris auch auf Kulturgebieten zu stellen, die die neukantische Tradition vernachlässigt (oder nur flüchtig behandelt) hat, und so im Ausgang von der Sphäre des sprachlichen Ausdrucks den Schwerpunkt des ›Systems‹ von einer in sich abgeschlossenen Einheit zur Pluralität der objektiven Verwirklichungen des Geistes zu verschieben.41
Besonders müßte jedoch die Abhängigkeit Cassirers von Humboldt bezüglich der Sprache als Ausdruck der »reinen Beziehungsformen« oder der höheren (und rein ›bedeutenden‹) Stufe der Sprache untersucht werden (ebd., S. 280 ff.; ECW 11, S. 280 ff.); vgl. darüber hinaus W. von Humboldt, Ueber das Entstehen der grammatischen Formen und ihren Einfluss auf die Ideenentwicklung in Schriften zur Sprachphilosophie, S. 49 ff. 39 Philosophie der symbolischen Formen, I, S. 107; ECW 11, S. 106. 40 Vgl. Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger in M. Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, S. 295: »Aber ich frage nach der Möglichkeit des Faktums Sprache. Wie kommt es, wie ist es denkbar, daß wir uns von Dasein zu Dasein in diesem Medium verstehen können?« 41 Eine Aufmerksamkeit auf das Problem der Sprache findet sich schließlich wieder beim späten Natorp, sei es in den Vorlesungen über praktische Philosophie, S. 250 f., sei es in der posthum erschienenen Philosophischen Systematik, § 108, S. 386 ff., wo Natorp bereits Heideggers Unterwegs zur Sprache vorwegzunehmen scheint, anstatt sich der Perspektive Cassirers anzuschließen. Cassirer seinerseits hat dieses späte Interesse Natorps hervorgehoben und richtig in Beziehung gesetzt zu einem Passus der Allgemeinen Psychologie, S. 99 (vgl. Philosophie der symbolischen Formen, III, S. 64 f.; ECW 13, S. 59f, und vor allem Paul Natorp, S. 296 f.).
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Von letzterem Gesichtspunkt aus scheint Cassirer gegenüber Cohen dieselbe Position einzunehmen, die Humboldt (der Humboldt Cassirers) gegenüber Kant eingenommen hatte: Bei Kant (oder bei Cohen) muß begonnen, dann jedoch ein Weg eingeschlagen werden, der dem kritischen Denken bislang fremd geblieben war, jedoch bereits von Hamann und Herder (für Cassirer jedoch vor allem von Humboldt) deutlich gewiesen worden ist. Im übrigen kann das, was Cassirer bezüglich der unzulänglichen Gliederung des Systems des Kantischen Idealismus in seiner Beschränkung auf die drei Grundrichtungen der Erkenntnis, des ethischen Willens und des künstlerischen Schaffens vertritt, als eine implizite Kritik an Cohen verstanden werden, denn Cohen hatte sich – nicht anders als Kant – mit dem Problem der Sprache als eigenständigem Glied des ›geistigen Kosmos‹ nicht auseinandergesetzt und blieb so der Kantischen Dreiteilung von Logik, Ethik und Ästhetik verhaftet, (der in der Folge die Religionsphilosophie hinzugefügt wurde). Cassirer distanzierte sich davon in seinem Aufsatz über Goethe und die mathematische Physik von 1921 unmißverständlich: »Auch diese Dreiteilung«, bemerkt Cassirer, »erschöpft indessen nicht den gesamten Inbegriff der geistigen Energien und enthält nicht alle charakteristischen Gliederungen und Besonderungen. Wir brauchen, um dies zu zeigen, nur auf die Welt der Sprache, als bezeichnendes und prägnantes Beispiel, zu verweisen. Seit Wilhelm von Humboldts Grundlegung der allgemeinen Sprachphilosophie hat sich die kritische ›Revolution der Denkart‹ auch auf diesem Gebiet durchgesetzt. Die Sprache erscheint jetzt nicht mehr als ›Ergon‹, sondern als ›Energeia‹; nicht mehr als die bloße Wiedergabe eines Vorhandenen, sondern als eine reine Funktion, kraft deren wir uns die Welt von innen her aufbauen und ihr eine bestimmte geistige Prägung geben.«42 Gemeinsam mit der subtilen ›Vervollständigung‹ Kants durch Humboldt und der Ausbildung eines systematischen Interesses an der Sprachphilosophie erhellen diese Überlegungen bestens den theoretischen Problemkomplex, der sich Cassirer zu Beginn der 20er Jahre zur Lösung darbot, als die Treue zur transzendentalen Methode Cohens schwieriger wurde und sich angesichts der Notwendigkeit, die Transzendentalphilosophie auf neue Wissensgebiete auszudehnen, transformierte. Humboldt wurde nun zu einem Verbindungsglied von außerordentlicher Bedeutung, da die so signifikante Vorstellung einer dem ergon entgegengesetzten energeia dem Cassirerschen Bedürfnis, die Bedingungen der
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Idee und Gestalt, S. 68; ECW 9, S. 302.
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Möglichkeit kultureller Erfahrung nicht nur hinsichtlich ihrer abstrakten kategorialen Struktur, sondern in ihrer aktiven Konstitution als der der verschiedenen geistigen Objektivierungen immanente Energie zu fassen, entgegenzukommen schien. Dies entsprach einer Perspektive, die das Faktum des Cohenschen Ansatzes mit dem fieri, das Natorp umtrieb, verband.43 Gleichzeitig war es abermals Humboldt, der Cassirer an Hand der dritten Kantischen Kritik eine entschiedene Rückkehr zu jenem »fruchtbaren Bathos der Erfahrung« nahelegte, die Humboldt ebenfalls in völliger Übereinstimmung mit der Kantischen Philosophie vollzogen hatte.44 Dies geschah in der Perspektive einer ›Phänomenologie der sprachlichen Form‹, die sich von der ›Tiefe‹ der sinnlichen Unmittelbarkeit an artikuliert, um sich dann zur ›Höhe‹ der reinen Theorie, zur unendlichen Aufgabe des Wissens aufzuschwingen.45 Es handelte sich, mit anderen Worten, nicht um ein Verlassen der transzendentalen Perspektive der Gesetzmäßigkeit, sondern darum, sie durch die Beleuchtung ihres immanent teleologischen Charakters von der wissenschaftlichen Gesetzmäßigkeit zu unterscheiden.46 Dies war durch den undogmatischen ›Kantianismus‹ Humboldts möglich. Der stetige Weg der symbolischen Funktion von der »untersten Stufe der geistigen Skala«47 bis zum abstrakten Denken wurde noch einmal zurückgelegt,48 indem auf die erste transzendentale Deduktion Kants zurückgegriffen und zugleich in der Sprache eine Analogie zum Kantischen Schema ausgemacht wurde, die als Möglichkeit verstanden wurde, die »intellektuellen Vorstellungen« durch die sprachliche Benennung »sinnlich« zur Darstellung zu bringen.49 Vgl. z. B. P. Natorp, Kant und die Marburger Schule, S. 200. Vgl. Philosophie der symbolischen Formen, I, S. 102; ECW 11, S. 100. 45 Ebd., S. 129; ECW 11, S. 126 f. 46 S. die interessante Gegenüberstellung Cassirers von positivistischem Szientismus der ›New Grammarians‹ und dem Geist des modernen Strukturalismus in Essay on Man, S. 123 f. 47 Philosophie der symbolischen Formen, I, S. 270; ECW 11, S. 270. 48 Ebd., S. 280; ECW 11, S. 280. 49 Ebd., S. 152; ECW 11, S. 150. Zum Problem der ›subjektiven Deduktion‹ vgl. vor allem Philosophie der symbolischen Formen, III, S. 10 ff.; ECW 13, S. 8 ff. Es soll jedoch hervorgehoben werden, daß Cassirer von dem Kantischen Begriff des Schemas einen eher freien Gebrauch macht, der vor allem in dem Text, auf den soeben hingewiesen wurde, auf die Möglichkeit hindeutet, zwischen der intellektuellen und der sinnlichen Ebene durch räumliche Benennungen zu vermitteln. Tatsächlich gibt es eine genaue Untersuchung des möglichen Verhältnisses zwischen dem transzendentalen Schematismus und der Sprache seitens Cassirers nicht. (Zu dieser Frage vgl. einige Hinweise bei J.-P. Peters, Cassirer, Kant und Sprache, Frankfurt am Main-Bern-New York 1983, S. 83–102). 43 44
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3. In der Sprachphilosophie Cassirers hat man entweder eine »Transformation der Transzendentalphilosophie«, die dennoch in dem SubjektObjekt-Verhältnis und der Kantischen Synthesis der Apperzeption gefangen geblieben sei, oder eine »transzendentale Semantik« und eine »semiotische Theorie des Geistes« entdecken wollen, die sich bezeichnenderweise mit Peirce treffe: jedoch leider, ohne gebührend sowohl der Bedeutung Humboldts als auch der Verbindung, die sie – trotz Brüchen und Innovationen – auch in der Philosophie der symbolischen Formen weiterhin zum Marburger Neukantianismus hält, Rechnung zu tragen, die gewiß nicht auf eine vermeintliche Treue gegenüber einem alles umfassenden Bewußtseinsidealismus reduziert werden kann.50 Tatsächlich stellt die Distanzierung Cassirers vom ›philosophischen System‹ Cohens keinen Bruch mit der Funktion der transzendentalen Methode dar und impliziert auch keinen Widerruf in toto des typisch marburgischen Themas des reinen Denkens und des Ursprungs: Sie ist vielmehr – wie Wolfgang Marx bemerkt hat – eine »fruchtbare Operationalisierungen zulassende Variante«51. Wenn es einen Aspekt des Cohenschen Denkens gibt, den Cassirer nie in Zweifel gezogen hat, ist es die Forderung – die Cohen als »Methode der Reinheit« bezeichnet hat –, das Denken nicht von den Dingen abhängen zu lassen und sich von diesem realistischen Vorurteil Vgl. diesbezüglich K.-O. Apel, Transformation der Philosophie, II, Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, Frankfurt am Main 1976, S. 188 f., 353, und H. Paetzold, Die Realität der symbolischen Formen, S. 21–37. Paetzold erkennt die Bedeutung Humboldts für Cassirer an, ist jedoch überzeugt, daß Cassirer eine »Transformation« der Transzendentalphilosophie vornimmt (S. 21 f., 35), die ihn dazu führt, eine »semiotische Theorie des Geistes« auszuarbeiten (S. 33). Diese These, die zum Teil an Apel und an zahlreiche Arbeiten von Krois anknüpft, in denen der Zusammenhang Cassirer-Peirce hervorgehoben wird, (vgl. zuletzt Semiotische Transformation der Philosophie: Verkörperung und Pluralismus bei Cassirer und Peirce in Symbolische Formen, mögliche Welten – Ernst Cassirer, S. 61–72), bleibt vage, gerade weil sie, anstatt Cassirer aus dem inneren historischen und theoretischen Zusammenhang heraus zu diskutieren, ihn auf eine entferntere Richtung projiziert und nicht nur Humboldt umgeht, sondern auch die Marburger Kantinterpretation, die sich mit diesem Humboldt trifft (und aus diesem Grunde wäre größere Vorsicht angebracht bei der Annäherung Cassirers an den linguistic turn der Philosophie des 20. Jahrhunderts, vor allem an Wittgenstein und Russell, was D. Marcondes, Language and Knowledge in Cassirer’s Philosophy of Symbolic Forms, »Internationale Zeitschrift für Philosophie«, I, 1992, S. 259, nahelegt). Zum Verhältnis Humboldt-Cassirer vgl. K. Neumann, Ernst Cassirer: Das Symbol in Grundprobleme der großen Philosophen, hg. von J. Speck, Philosophie der Gegenwart, II, Göttingen 1973, S. 138 f., und P. Caussat, Entre Humboldt et le structuralisme: la philosophie du langage d’Ernst Cassirer in Ernst Cassirer. De Marbourg à New York, S. 233–248. 51 W. Marx, Cassirers Philosophie – ein Abschied von kantianisierender Letztbegründung? in Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, S. 82. 50
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zu emanzipieren, um zu zeigen, daß die Dinge »nur scheinbar gegeben [ sind ]«, tatsächlich aber von der Erkenntnis ›produziert‹ werden.52 Die Grundidee der Cohenschen Logik der reinen Erkenntnis – resümierte Cassirer 1906 – könne in der Überzeugung zusammengefaßt werden, daß jede Art des Seins in Wirklichkeit »erst ein Produkt und ein Ergebnis [ ist ], das die Operationen des Denkens und ihre systematische Einheit zur Voraussetzung hat«53. Nicht nur ist die Logik der reinen Erkenntnis folglich eine transzendentale Logik – eine Logik des Gegenstandes und der Bedingungen seiner Möglichkeit –, sondern der Gegenstand selbst kann niemals aufgrund seiner naiven realistischen Auffassung begriffen werden, d. h. als etwas, auf dessen Kopieren und Reproduzieren das Denken sich beschränken müßte: Er ist vor allem das Produkt einer intellektuellen Operation, einer gestaltenden und transformierenden Handlung des Geistes.54 Auch als Cassirer das Projekt einer »allgemeinen Logik der Geisteswissenschaften« konzipierte, das auf alle Formen des geistigen Weltverständnisses ausgerichtet ist,55 geriet dieser fundamentale Problemkomplex – der Komplex des Ursprungs, des Ursprünglichen – nicht in Vergessenheit. Dies ist vielfach (sogar durch Identifikation des Ursprungs mit einem bewegungslosen, ontologisch verstandenen Fundament) behauptet worden. Denn er wird vielmehr reformuliert, nicht mehr sub specie des ›reinen Denkens‹, sondern im Lichte der unendlichen Produktivität des Geistes, seiner ›Formgebung‹ und seiner Konstitution der Wirklichkeit der Kultur, indem er der Welt das Siegel der eigenen freien energeia aufprägt.56 In diesem Sinne geht es nicht nur um eine ›quantitative‹ Ausweitung der Cohenschen Logik, sondern um die ›qualitative‹ Veränderung
Vgl. vor allem Ethik des reinen Willens, S. 93. Der kritische Idealismus und die Philosophie des »gesunden Menschenverstandes«, S. 32, Anm. 1; ECW 9, S. 33, Anm. 61. Nicht anders wird Cassirer fast 40 Jahre später bekräftigen, daß das ›Prinzip des Ursprungs‹ für Cohen die Unmöglichkeit einer Wirklichkeit außerhalb des Denkens, seiner Prinzipien und Bedingungen bedeute: »the human mind is active in all its functions« (Hermann Cohen. 1842–1918, S. 226). Aber auch in dem Vortrag vom 1920, auf den bereits hingewiesen wurde, unterstreicht Cassirer: »Dem Denken darf nichts als gegeben gelten, was es nicht aus sich selbst, aus seinem Prinzp hervorgebracht hat und was es [ nicht ] demgemäß aus diesem Prinzip zu begreifen vermag« (Hermann Cohen, S. 6; ECW 9, S. 504). 54 Zu dieser Argumentation, die einen topos in der gesamten Reflexion Cassirers darstellt, vgl. z. B. Das Erkenntnisproblem, I, S. 1 f.; ECW 2, S. 1 f. 55 Vgl. Die Begriffsform im mythischen Denken, S. 5 ff. 56 Zur Bedeutung des »Ursprungs« bei Cohen und seiner Unterscheidung von einem ›letztbegründenden Prinzip‹ vgl. G. Edel, Kantianismus oder Platonismus? Hypothesis als Grundbegriff der Philosophie Cohens in I filosofi della scuola di Mar52 53
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der transzendentalen Methode, die auf die Individuation ›invarianter‹ Stukturen der Erfahrung abzielt. Dies geschieht nicht so sehr, indem diese in ihrer reinen kategorialen Funktionalität isoliert, sondern indem sie in ihrer ›phänomenologischen‹ Dimension der historisch determinierten Formen der Kultur auffaßt werden, jedoch ohne deshalb die Differenz zwischen der Struktur der Vernunft und ihrer Manifestation auf der Ebene der Sprache zu nivellieren, weil in diesem Fall die Sprache nicht eine symbolische Form sein könnte, sondern ein reines, bereits formiertes ›Faktum‹ werden würde.57 Auch auf der Ebene der Sprache können die Dinge folglich nicht als ›gegeben‹, als bereits in ihrer Bestimmtheit konstituiert begriffen werden: Die tiefere Bedeutung der Sprache als innere Form im Sinne Humboldts besteht für Cassirer in der kontinuierlichen »Arbeit des Geistes«, mit der der Geist aus dem Klang ein Wort macht und so den Dingen der Welt einen Sinn gibt, indem er eine symbolische Vermittlung zwischen dem Menschen und dem Gegenstand herstellt.58 Die Sprache – unterstreicht Cassirer – »folgt niemals einfach dem Zuge der Eindrücke und Vorstellungen, sondern tritt ihm mit selbständiger Aktion gegenüber: Sie unterscheidet, wählt und richtet und schafft vermöge solcher Stellungnahme erst bestimmte Zentren, bestimmte Mittelpunkte der objektiven Anschauung selbst.«59 Durch die Sprache erhält die Welt für uns einen Sinn, der sich in räumlicher und zeitlicher Gliederung artikuliert, sich als gegenständliche Wirklichkeit von der Wirklichkeit des Ichs unterscheidet und so jener Polarität von Subjektivem und Objektivem Raum gibt, die nie unmittelbar gegeben ist, sondern stets nur ein Resultat ist.60 Die Gegenstände, wird Cassirer noch 1932 bekräftigen, sind nicht vor burgo, S. 59–87, und ders., Die Entkräftung des Absoluten. Ursprung und Hypothesis in der Philosophie Hermann Cohens in Neukantianismus. Perspektiven und Probleme, S. 329–342. 57 Zur Bedeutung der Unterscheidung von forma formans und forma formata vgl. Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 18. 58 Vgl. Philosophie der symbolischen Formen, I, S. 256; ECW 11, S. 256. Vgl. auch den schönen Passus bei W. von Humboldt, Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, S. 434, den Cassirer nicht zufällig in Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, S. 176 zitiert, in dem die berühmte Definition der ›symbolischen Form‹ gegeben wird (»Wie der einzelne Laut zwischen dem Gegenstand und den Menschen«, sagte unter anderem Humboldt, »so tritt die ganze Sprache zwischen ihn und die innerlich und äußerlich auf ihn einwirkende Natur. Er umgibt sich mit einer Welt von Lauten, um die Welt von Gegenständen in sich aufzunehmen und zu bearbeiten.«) 59 Philosophie der symbolischen Formen, I, S. 278; ECW 11, S. 278. 60 Ebd., S. 212 ff.; ECW 11, S. 212 ff.
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ihrer Benennung da, sondern werden erst zu solchen durch ihre Benennung: Name und Ding ›konkreszieren‹, und der Name ist der eigentliche »Kristallisationspunkt für die Mannigfaltigkeit der Vorstellungen«. Alles Handeln des Menschen und nicht nur sein erkennender Bezug auf die Wirklichkeit setzt die Sprache voraus, so wie die Idee nicht vor der Sprache, sondern in der Sprache existiert.61 Andererseits liest man in einer Notiz zum geplanten vierten Band der Philosophie der symbolischen Formen: »Der Name ist der Ursprung der Ding-Kategorie«62. Im Gegensatz zu Cohen sucht Cassirer den Ursprung auf der sprachlichen Ebene. Das veranlaßt ihn, den Ursprung auch als Ursprung der Kultur, als transzendentale Genese der symbolischen Formgebung zu konzipieren. Er reicht zurück bis zu ihrer Verflechtung mit dem Mythos, zu der »gemeinsamen Wurzel« von Sprache und Mythos, zu ihrem unauflöslichem Verhältnis am Anfang der menschlichen Kultur.63 Jedoch sowohl in der mythischsprachlichen Betrachtungsweise der Welt als auch in der Formulierung der abstrakteren Relationsbegriffe der wissenschaftlichen Erkenntnis scheint die Sprache auch auf der untersten Stufe der »symbolischen Prägnanz« und nicht nur auf der ›höchsten‹ des reinen Funktionalismus der modernen Wissenschaft den stets ursprünglichen Charakter des Geistes zu bezeugen, sein ständiges Sich-Setzen als »allgemeine symbolische Form«, als Ausdruck einer Bedeutung, die nicht aus der Welt hervorgeht, sondern der Welt Sinn gibt.64 Unter diesem Blickwinkel stellt sich die Sprachphilosophie Cassirers gegenüber Cohen nicht nur als Bruch und nicht einmal ausschließlich als Erweiterung der Kulturphilosophie dar, sondern vielmehr als Versuch, die Frage nach dem Ursprung auf anderen Wegen zu beantworten. Zwar ist die Sprache ein ›Faktum‹, dessen Möglichkeitsbedingungen ermittelt werden sollen, aber dennoch stellt sie auch die unverzichtbare Ebene Vgl. E. Cassirer, Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt in Bericht über den XII. Kongress der deutschen Gesellschaft für Psychologie, Jena 1932, S. 134–45, später in Symbol, Technik, Sprache, S. 121–51 (hier S. 126, 129, 134 ff., 150, Zitat S. 130). 62 Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 232 (es handelt sich um einen Passus, der bereits durch J.-P. Peters, Cassirer, Kant und Sprache, S. 163, bekannt wurde). Ähnliche Formulierungen finden sich in der Philosophie der symbolischen Formen, III, S. 141 f.; ECW 13, S. 135 f. 63 Vgl. E. Cassirer, Sprache und Mythos, Leipzig-Berlin 1925, später in Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, S. 145, und An Essay on Man, S. 109. 64 Vgl. Philosophie der symbolischen Formen, I, S. 124–148; ECW 11, S. 122–146. Vgl. auch (unter vielen Texten, die man erwähnen könnte) Zur Logik der Kulturwissenschaften, S. 14: »Es ist [ … ] das Sprachbewußtsein, das erwachende Symbolbewußtsein, das in dem Maße, wie es selbst erstarkt und wie es sich erweitert und klärt, auch der Wahrnehmung und Anschauung seinen Stempel aufdrückt.« 61
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für den Aufbau der Wirklichkeit dar und ist in den Prozeß der Kultur als unendlich produktive energeia verwoben, die sich niemals im ergon erschöpft. (Die Erzeugung, hätte Cohen gesagt, kann niemals mit dem Erzeugten zusammenfallen). Es ist schließlich jene »Arbeit des Geistes«, die sich auch im Innern der anderen symbolischen Formen vollziehen muß – von der Erkenntnis bis zum Mythos – und ohne die es nicht möglich wäre, die erste Stufe der Objektivierung, die »gegenständliche Bestimmung« zu erreichen.65 In diesem Sinne könnte man sagen, daß, wenn für Cohen »dem Ursprung nichts gegeben sein darf«66, für Cassirer etwas ähnliches für die Sprache gelte: Nichts ist gegeben, was nicht Wort ist, was – mit Humboldt – nicht durch die sprachliche Aussage strukturiert oder nicht durch die Sprache mit Sinn erfüllt ist. Schließlich ist auch die Welt der Wahrnehmung nur durch die sprachliche Bestimmung orientiert und organisiert,67 so daß das symbolische Bewußtsein aufhört, seine konstitutive Funktion der Ordnung der Wirklichkeit zu erfüllen, wenn es von Aphasie befallen wird.68 Wie bereits für Humboldt ist auch für Cassirer »die Sprache mit dem Menschen gegeben [ … ], und vor ihr [ kann ] nichts Menschliches gedacht werden [ … ]«69 Im Ausgang von Cohen und unter Verwendung von Kategorien und Argumentationsmodellen, die eine weitere ›Dynamisierung‹ des theoretischen Bestandes der Marburger Schule bewirkten, aber auch auf der Basis der kopernikanischen Wende Kants über Leibniz und Humboldt erweiterte Cassirer den Marburger Ansatz, indem er zeigte, daß das Problem des Ursprungs an Bedeutung gewinnt und radikalisiert werden Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 70. Auf die vorrangige Funktion der sprachlichen Objektivierung im Prozeß der Erkenntnis geht Cassirer besonders ein in The Influence of Language upon the Development of Scientific Thought, S. 326. Zum Verhältnis Sprache-Mythos ist z. B. ein Passus in Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 235, hervorzuheben, wo Cassirer bemerkt, daß der Übergang von der expressiven zur repräsentativen Phase im mythischen Denken ohne die »entscheidende Mitwirkung der Sprache« unmöglich wäre. Auf die besondere Funktion der Sprache im Komplex der symbolischen Formen hat Th. Göller in Zur Frage nach der Auszeichnung der Sprache in Cassirers Philosophie der symbolischen Formen in Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, S. 147, die Aufmerksamkeit gelenkt; s. auch H. Cersovsky, Ernst Cassirers Philosophie der Kultur, Inaugural-Dissertation, Regensburg, 1976, S. 124 f., der richtig die paradigmatische Funktion der Sprache auch für die anderen symbolischen Formen und den sprachlichen Charakter, der alle symbolischen Formen durch die ›Pervasivität‹ der Sprache verbindet, hervorhebt. 66 Logik der reinen Erkenntnis, S. 36. 67 Vgl. An Essay on Man, S. 136. 68 Vgl. die Analysen Cassirers zur »Pathologie des Symbolbewußtseins« in Philosophie der symbolischen Formen, III, S. 238 ff.; ECW 13, S. 234 ff. 69 W. von Humboldt, Über Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung, S. 374. 65
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kann, wenn es auf die Ebene der Sprache transponiert wird. In diesem Punkt hätte Cassirer, auch wenn er Heideggers emphatisches Bestehen auf dem Ursprung nicht teilen würde, ihm möglicherweise zustimmen können: »Die Sprache ist nicht nur ein Werkzeug, das der Mensch neben vielen anderen auch besitzt, sondern die Sprache gewährt überhaupt erst die Möglichkeit, inmitten der Offenheit von Seiendem zu stehen. Nur wo Sprache, da ist Welt.«70 Dennoch gibt es bei Cassirer im Unterschied zu Heidegger keine Sehnsucht nach der Sprache als »Haus des Seins« oder »Sage«, von der mysteriöserweise die menschliche Sprache abhängen soll: Im Gegenteil, gerade die ontologische Verkehrung durch Heidegger (und im Anschluß durch Gadamer) in offensichtlicher Polemik gegen die Sprache als »symbolische Form« Humboldtscher und Cassirerscher Provenienz kennzeichnet die Differenz zur Perspektive Cassirers.71 Die Thesen Heideggers oder Gadamers zur »ursprünglichen Sprachlichkeit des menschlichen In-der-Welt-Seins«72 scheinen eine Art ›ontologischen‹ Rückfall gegenüber der Sprachphilosophie Cassirers (und Humboldts) darzustellen. Hier ist sie bereits ihrer vielfältigen Verflechtungen mit der Kulturphilosophie beraubt und im wesentlichen unter dem Blickwinkel der ursprünglichen Verwurzelung der Sprache betrachtet – zuerst in der transzendentalen Struktur des Daseins73 und dann im ›Gebenden‹ des Logos, im Es gibt des Wortes.74 Aber gerade gegenüber der hermeneutischen Verabsolutierung der Sprache (»Wer Sprache hat, ›hat‹ die Welt«)75 stellen die Analysen Cassirers des Verhältnisses zwischen Sprache und Mythos, Sprache und wissenschaftlicher Begriffsbildung, Sprache und M. Heidegger, Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, hg. von F.-W. von Herrmann (= Gesamtausgabe, IV), Frankfurt am Main 1981, S. 37 f. 71 Vgl. M. Heidegger, Unterwegs zur Sprache, hg. von F.-W. von Herrmann (= Gesamtausgabe, XII), Frankfurt am Main 1985, S. 156 ff. Ein polemischer Hinweis auf die Sprache als symbolische Form findet sich in Sein und Zeit, hg. von F.-W. von Herrmann (= Gesamtausgabe, II), Frankfurt am Main 1977, § 34, S. 216. Bemerkenswert ist jedenfalls die Tatsache, daß die Kritik Heideggers an Humboldt (und in unlauterer Weise auch an Cassirer) auf einer Vorstellung von Humboldt basiert, die – bezüglich der Betonung der Verbindung Humboldt-Leibniz – noch der Interpretation Cassirers verpflichtet zu sein scheint, wenn auch unter Vorzeichenwechsel und unter Zurückweisung einer Konzeption der Sprache als Ausdruck der geistigen Energie des Menschen (vgl. Unterwegs zur Sprache, S. 9 und 254 ff.). Auf viele dieser Themen bezieht sich auch Gadamer, unter anderem mit größerer Sensibilität gegenüber Humboldt und in gewisser Hinsicht auch gegenüber Cassirer: vgl. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode in Gesammelte Werke, I, Tübingen 1986, S. 408 ff. 72 Ebd., S. 447. 73 Vgl. Sein und Zeit, § 34, S. 220. 74 Vgl. Unterwegs zur Sprache, S. 182. 75 Wahrheit und Methode, S. 457. 70
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Kunst, zwischen der Welt der Wahrnehmung und der sprachlichen Aussage, zwischen der Sphäre der raum-zeitlichen Wirklichkeit und der Sphäre des Ichs eine Alternative dar, da für Cassirer die Sprache – auch in ihrer absolut grundlegenden Funktion – »nicht allein steht« und sich von Anfang an mit den anderen ›Potenzen‹ des Geistes verbindet.76 Schließlich sollte man auch nicht vergessen, daß Cassirer das Problem des Seins in ein sprachliches Problem auflöst, indem er den »Ausdruck des ›Seins‹ als eine reine transzendentale Beziehungsform« versteht, die ihre Rechtfertigung in der »logische[ n ] Synthesis« der Kopula als sprachlicher Bestimmung der Urteilshandlung findet.77 Und war dies im Grunde nicht (Cassirer weist ausdrücklich darauf hin) ein entscheidender Schritt in die bereits von Kant eingeschlagene Richtung, d. h. in die Richtung desjenigen, der die Philosophie aufgefordert hatte, »auf den stolzen Namen der Ontologie« zu verzichten, um einer bescheideneren »Analytik des Verstandes« Platz zu machen?78
In Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 75 f., ist eine solche »Potenz« diejenige der Produktion von Kunstwerken; andernorts scheint der vorrangige Zusammenhang derjenige mit dem Mythos oder mit der sinnlichen Wahrnehmung im Aufbau der Erkenntnis zu sein: Dieses Oszillieren jedoch beweist in jedem Fall, daß die Sprache die Funktion gegenständlicher Bestimmung in allen Formen der Kultur und in Zusammenhang mit ihnen annimmt (zu diesem engen Zusammenhang vgl., was den Mythos betrifft, auch The Myth of the State, S. 22). 77 Vgl. Philosophie der symbolischen Formen, I, S. 293 f.; ECW 11, S. 293 f. 78 Kritik der reinen Vernunft, A 247 / B 303. 76
achtes kapitel Eine ›gefährliche‹ Bibliothek
1. Das Zeugnis der Erinnerung Fritz Saxls an den ersten Besuch Cassirers in der Hamburger Bibliothek Aby Warburgs ist allgemein bekannt. Der Philosoph der ›symbolischen Formen‹, der Erforscher des Mythos, der Sprache und der Verflechtung der verschiedenen Gebiete der menschlichen Kultur war erst kurz zuvor dem Ruf an die gerade gegründete hanseatische Universität gefolgt, und hier, in einer Atmosphäre voller Erwartungen und Hoffnungen auf Erneuerung, im Kontakt mit Kollegen wie Erwin Panofsky, Karl Reinhardt und Carl Meinhof, nahm er die Arbeit auf, aus der heraus die Philosophie der symbolischen Formen entstand. Zu Beginn der Hamburger Zeit hörte Cassirer von der prächtigen Bibliothek Warburgs und hatte die Gelegenheit, sie unter der kundigen Führung Saxls zu besichtigen: »a memorable day« für die zukünftige Forschungseinrichtung. »This library«, habe Cassirer gesagt, »is dangerous. I shall either have to avoid it altogether or imprison myself here for years. The philosophical problems involved are close to my own, but the concrete historical material which Warburg has collected is overwhelming.«1 Das war 1920. Warburg hatte Hamburg und seine Studien für eine Kur in Kreuzlingen am Bodensee verlassen müssen, wo er jahrelang gegen das finstere Übel kämpfte, das seinen Geist mit quälenden Phantasmen besetzte und ihn in seiner außerordentlichen, rastlosen Sensibilität zermürbte. Saxl, dessen erste Begegnung und anschließende Bekanntschaft mit Warburg bereits auf die Jahre vor dem Weltkrieg zurückging, hatte den Auftrag erhalten, die Bibliothek zu leiten, und sollte nicht nur den gewohnten Erwerb von Texten und seltenen Dokumenten, die in den Regalen nach einer so einzigartigen wie genialen Aufgabenkonzeption des Kulturhistorikers angeordnet wurden, fortführen, sondern sie in ein lebendiges Diskussions- und Studienzentrum verwandeln, das ideell sowie konkret mit der jungen Universität verbunden war, von der die intellektuelle Elite Hamburgs sich neue kulturelle Impulse versprach.2 1 F. Saxl, Ernst Cassirer in The Philosophy of Ernst Cassirer, S. 47 f. Zur Hamburger Zeit und zur »Entdeckung der Bibliothek Warburg [ … ], in der [ Cassirer ] einen Schatz nach dem anderen zu Tage förderte«, vgl. T. Cassirer, Mein Leben mit Ernst Cassirer, S. 121 ff. 2 Zur Geschichte der Bibliothek Warburg vgl. F. Saxl, The History of Warburg’s Library in E. H. Gombrich, Aby Warburg. An Intellectual Biography, London 1970, S. 325–338.
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Achtes Kapitel
Es war das Verdienst Saxls, daß nach kurzer Zeit sowohl die Vortragsreihen als auch die breit angelegten Studien (»Vorträge« und »Studien« der »Bibliothek Warburg«) entstanden waren, die viel dazu beitrugen, der Öffentlichkeit eine Vorstellung von der in der Bibliothek geleisteten Arbeit zu vermitteln, was bis dahin großenteils den verstreuten Beiträgen Warburgs oblegen hatte. Auch in Abwesenheit ihres Gründers bildete sich so um das »geistige Zentrum« der Hamburger Bibliothek ein in der europäischen Kultur zwischen den zwei Kriegen möglicherweise einzigartiges Studienzentrum, eine »Arbeitsgemeinschaft«, wie Cassirer sie in dem Warburg gewidmeten Band Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance bezeichnete.3 Bei der Eröffnung der »Vorträge« umriß Saxl die Aufgabenbereiche, die sich die »Gemeinschaft« der Forscher in den Fußstapfen Warburgs zu erarbeiten vorgenommen hatte: die häufig verborgenen und unvorhersehbaren Zusammenhänge auszumachen, die von der Überlieferung und Transformation der antiken Kultur in den nachfolgenden Kulturen Zeugnis geben, und »Ausdruck und Wesen« dieses Einflusses zu erforschen, indem sie auch über die Epoche der Renaissance hinausging, die Warburg als vorrangiges Forschungsgebiet gewählt hatte. Das Nachleben der Antike, ihre Wiederkehr und ihre Renaissance: dies war der Leitfaden ihrer Forschung.4 Saxl führte als Beispiel die antike Darstellung der Venus und ihre ›Wanderung‹ in den mittelalterlichen Texten an, bei der sich ihre ursprüngliche Bedeutung verändert hatte, ihre Wiederkehr in den beunruhigenden astrologischen Zusammenhängen der Fresken im Palazzo Schifanoja, deren Rätsel Warburg gelöst hatte, sowie schließlich in der ›apollinischen‹ Variante Raffaellos. Saxl zeigte so Wege auf, die Warburg nicht beschritten hatte, und dies nicht nur aufgrund der geringeren Aufmerksamkeit, die er
3 Vgl. Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, S. X. In dem Brief an Warburg anläßlich seines 60. Geburtstags schrieb Cassirer: »In stiller und beharrlicher Arbeit hat die Bibliothek Warburg seit drei Jahrzehnten das Material für die geistesgeschichtliche und für die kulturgeschichtliche Forschung bereitzustellen gesucht. Aber sie hat zugleich mehr als dies getan, indem sie uns mit einer Eindringlichkeit, wie selten zuvor, die Maxime vor Augen gestellt hat, unter der diese Forschung stehen muß. In ihrem Aufbau und in ihrer geistigen Struktur hat sie den Gedanken der methodischen Einheit und des methodischen Zusammenschlusses aller Gebiete und aller Richtungen der Geistesgeschichte verkörpert.« 4 Vgl. F. Saxl, Die Bibliothek Warburg und ihr Ziel, »Vorträge der Bibliothek Warburg«, I, 1921–1922, S. 1–10. Nahezu zeitgleich hatte Saxl eine detailliertere und gut dokumentierte Präsentation der Forschungen Warburgs in Rinascimento dell’antichità. Studien zu den Arbeiten A. Warburgs, »Repertorium für Kunstwissenschaft«, XLIII, 1922, S. 220–272, vorgelegt, in der er unter anderem abermals auf die mittelalterliche Überlieferung der »Bilder der Götter« einging (S. 228 ff.).
Eine ›gefährliche‹ Bibliothek
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dem Mittelalter als Bindeglied gewidmet hatte, sondern vor allem, weil Warburg bei dem ›dionysischen‹ Moment stehengeblieben war und nie die Geschichte der ›apollinischen‹ Befreiung geschrieben hatte. Gerade diese Zusammenhänge geben, so Saxl, den Horizont der Warburgschen Recherchen zu erkennen, die von Burckhardt, Nietzsche und Usener beeinflußt seien, einer Trias, die bereits für sich genommen ein Sinnbild für die Spannungen und Polaritäten sei, die die Arbeit des Hamburger Historikers bestimmten. Bei allen zeichne sich der Konflikt zwischen der »dionysischen Mimik« und der »apollinischen Architektonik« ab, der in der Frührenaissance, einer auf kein abstraktes Schema reduzierbaren Epoche, die unaufhörlich von vitaler Fülle pulsierte, ausgetragen wurde. Hieraus sei das Bedürfnis nach einer neuen Methode der Kunst- und Kulturgeschichte erwachsen, die geeignet wäre, Forschungen voranzubringen, die die festgefahrenen Spuren verlassen und noch unbetretenes Gebiet erforschen, um als »Synopse«, die Warburg viele Jahre zuvor als eine Art ›verheißenes Land‹ seiner Tätigkeit betrachtet hatte, ein lebendiges Geflecht von Religion und Philosophie, Kunstgeschichte und Kulturgeschichte in Szene zu setzen.5 Die Bibliothek, die Cassirer unter der »hilfsbereiten und sachkundigen« Anleitung Saxls6 besuchte, war folglich nichts anderes als ein getreues Spiegelbild dieses außerordentlichen intellektuellen Abenteuers: ein Spiegel, in dem Cassirer gewissermaßen den Kreis seiner damaligen historischen und systematischen Interessen reflektiert sah. Es handelte sich jedoch nicht nur um eine oberflächliche Übereinstimmung. Sicher läßt sich darüber diskutieren, ob das Arrangement der Bücher und Themengebiete der Bibliothek Warburg eine Gliederung der verschiedenen symbolischen Funktionen präfigurierte, die Cassirer in den folgenden Jahren nachzeichnete. Die Aufstellung der Regale war immerhin alles andere als zufällig und für Cassirer darüber hinaus keine »bloße Sammlung von Büchern, sondern [ … ] eine Sammlung von Problemen«: »[ H ]ier war die Kunstgeschichte, die Religions- und Mythengeschichte, die Sprachund Kulturgeschichte offenbar nicht nur nebeneinandergestellt, sondern sie waren aufeinander und einen gemeinsamen Mittelpunkt bezogen.«7 Vgl. Die Bibliothek Warburg und ihr Ziel, S. 2. Zu der »Synopsis« vgl. M. Diers, Warburg aus Briefen. Kommentare zu den Kopierbüchern der Jahre 1905–1918, Weinheim 1991, S. 149. 6 Vgl. Philosophie der symbolischen Formen, II, S. XIII; ECW 12, S. XV f. 7 Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, S. 171. Nach Verene (vgl. Symbol, Myth, and Culture, S. 77, Anm. 14) spiegelt die Cassirersche Differenzierung zwischen Ausdrucks-, Darstellungs- und reiner Bedeutungsfunktion des Symbols die Anordnung der Bücher in der Hamburger Bibliothek: 1. Allgemeine Probleme des menschlichen Ausdrucks und seiner Symbole, Anthropologie und 5
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So weist Cassirer im Vorwort zum zweiten Band der Philosophie der symbolischen Formen darauf hin, daß die wertvollen Bestände der Hamburger Bibliothek nicht nur in ihrer Art und Fülle unvergleichlich waren, sondern sich zudem um ein »einziges zentrales Problem« versammelten, das sich auf das engste mit seinen eigenen theoretischen Forschungen verband: »Diese Übereinstimmung«, schreibt Cassirer, »ist mir immer aufs neue zum Ansporn geworden, auf dem einmal beschrittenen Wege fortzugehen – schien sich doch daraus zu ergeben, daß die systematische Aufgabe, die dieses Buch sich stellt, innerlich zusammenhängt mit Tendenzen und Forderungen, die aus der konkreten Arbeit der Geisteswissenschaften selber und aus der Bemühung um ihre geschichtliche Fundierung und Vertiefung erwachsen sind.«8 Und doch war die Begegnung zwischen Cassirer und dem Begründer der außergewöhnlichen Hamburger Bibliothek von einer – um einen Ausdruck Warburgs zu verwenden – typischen und fruchtbaren »energetischen Spannung« geprägt, die sich nicht ausschließlich aus der psychologischen Differenz zwischen dem »always impeccable Olympian« Cassirer und der »demonic intensity« Warburgs herleiten läßt.9 Der we-
Religion, Philosophie der Geschichte und der Wissenschaft; 2. Künstlerischer Ausdruck und Geschichte oder Theorie der Kunst; 3. Sprache und Literatur; 4. Sozial- und Lebensformen des Menschen. Daß die Hamburger Bibliothek und die Cassirersche Philosophie im großen und ganzen dasselbe Ziel verfolgten, nämlich den Übergang von den primitiven Ausdrucksformen zu den höheren der Wissenschaft und der rationalen Reflexion zu erforschen, ist sicher richtig; jedoch bleibt – ganz abgesehen davon, daß die Anordnung der Bücher in den verschiedenen Phasen der Geschichte der Bibliothek (von den frühen 20er Jahren bis 1926, dem Jahr der Eröffnung des neuen Sitzes, und dann bis zum Umzug nach England) diverse Male verändert wurde – der von Verene nahegelegte Zusammenhang äußerlich und müßte gegebenenfalls im Lichte der genauen Problemfelder verifiziert werden (Religion-Wissenschaft, Astrologie-Astronomie, mythische Bilder-Bilder der Kunst etc.). Zur Ordnung der Bücher in der Hamburger Bibliothek vgl. F. Saxl, Die Bibliothek Warburg und ihr Ziel, S. 9, und The History of Warburgs Library, S. 334; S. Settis, Warburg Continuatus. Descrizione di una biblioteca, »Quaderni storici«, XX, 1985, S. 5–38, und J. B. Trapp, Aby Warburg. His Library and the Warburg Institute, »Theoretische Geschiedenis«, XIII, 1986, S. 169–186. 8 Philosophie der symbolischen Formen, II, S. XIII; ECW 12, S. XV. 9 So E. Wind, On a recent Biography of Warburg, jetzt im Anhang von The Eloquence of Symbols. Studies in Humanist Art, edited by J. Anderson, Oxford 1983, S. 110. Zu Warburg und Cassirer und allgemeiner zum Warburg-Kreis vgl. vor allem E. Garin, Introduzione zu F. Saxl, La storia delle immagini, S. IX–XXIX, und die neue Einleitung zur Auflage von 1982, S. V–XVII (auf diese Auflage wird sich im folgenden bezogen); D. R. Lipton, Ernst Cassirer. The Dilemma of a Liberal Intellectual in Germany, S. 85 ff., 127 ff. (der auch einige unveröffentlichte Briefe verwendet);
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nig ältere Warburg, auch er aus einer jüdischen Familie und unduldsam gegenüber jeglicher Art religiöser Orthodoxie, gehörte einem anderen kulturellen Milieu als Cassirer an. Von Cassirer unterschied er sich nicht nur durch die von ihm bevorzugen Autoren, sondern auch durch die Beeinflussung durch den evolutionistischen Positivismus und die physiologische Psychologie. Beide bildeten die Leitfäden jener »Pioniersarbeit«, jener »Kulturpsychologie«, der Warburg im Versuch, die Urkräfte des menschlichen Ausdrucks auszumachen, die über Jahrhunderte und Kulturen hinweg bewahrt und vererbt worden waren, sein Leben als Wissenschaftler widmete.10 Eine aufmerksame Analyse der Quellen, aus denen Warburg ausgiebig schöpfte – von Darwins Buch über The Expression of Emotions in Animals and Men über den Beitrag des italienischen Positivisten Tito Vignoli über Mito e scienza bis zu der Lehre des großen Useners, die aus verschiedenen Gründen auf eine nicht weniger außerordentliche Figur wie Dilthey verweist –, könnte hinreichend Licht werfen auf die Grundmotive, die Warburg durch das Labyrinth der Kulturgeschichte geleitet haben. Nach Maßgabe eines »empfindlichen Seismographen« war er auf der Suche nach der »mnemischen Welle«, d. h. der ›Wiedergeburt‹ des antiken Heidentums in der Kunst des frühen 15. Jahrhunderts und dem »Pendelgang zwischen mythischer und wissenschaftlicher Auffassung«, nicht ohne Anspielung auf das Motiv der Konstanz, der Wiederholung und des Typischen, das Burckhardt gegen die hegelianische Geschichtsphilosophie zur Geltung gebracht hatte.11
S. Ferretti, Il demone della memoria. Simbolo e tempo storico in Warburg, Cassirer, Panofsky, Casale Monferrato 1984; M. Jesinghausen-Lauster, Die Suche nach der symbolischen Form. Der Kreis um die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg, BadenBaden 1985; C. Naber, Der Hamburger Kreis um Ernst Cassirer und Aby Warburg in Die Geschichte der Juden in Hamburg, II, Die Juden in Hamburg 1590 bis 1990, hg. von A. Herzig, Hamburg 1991, S. 393–406. 10 Vgl. die von E. H. Gombrich in Aby Warburg, S. 222, veröffentlichten Notizen; auf die Beziehung zum Evolutionismus ist Gombrich ebenfalls eingegangen in Aby Warburg e l’evoluzionismo ottocentesco, »Belfagor«, IL, 1994, S. 635–649. Zum Werk Warburgs, über das derzeit mit beachtlicher Intensität geforscht wird, s. (abgesehen selbstverständlich von der Biographie Gombrichs) D. Wuttke, Aby M. Warburgs Methode als Anregung und Aufgabe, Göttingen 31979; R. Kany, Mnemosyne als Programm. Geschichte, Erinnerung und die Andacht zum Unbedeutenden im Werk von Usener, Warburg und Benjamin, Tübingen 1987, S. 129–185; Aby Warburg. Akten des internationalen Symposions Hamburg 1990, hg. von H. Bredekamp, M. Diers und Ch. Schoell-Glass, Weinheim, Acta Humaniora, 1991. Exemplarisch unter den ›kleineren‹ Beiträgen ist die Studie von M. M. Sassi, Dalla scienza delle religioni di Usener ad Aby Warburg in Aspetti di Hermann Usener filologo della religione, Pisa 1982, S. 65–91. 11 Vgl. z. B. den kurzen, sehr dichten Text Warburgs, Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg. Vor dem Kuratorium [ 1929 ] in Ausgewählte Schriften und
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Aus dieser Perspektive erscheint es vielleicht weniger überraschend, daß der subtile Botticelli-Forscher, der in der Kunstgeschichte eine neue ikonographische Praxis angeregt hatte,12 gleichzeitig auch Kulturanthropologe war, der die Dörfer der Pueblo-Indianer in New Mexico aufsuchte und einen unvorhersehbaren Zusammenhang zwischen der religiösen Magie der Indianer und dem griechischen Dionysoskult entdeckte: d. h. eine gemeinsame blutige und barbarische Wurzel, die ein primitives Volk mit »dem Ursprungsland unserer europäischen Bildung« verbindet.13 Die Themen, die Warburg dann später in seinen dichten Arbeiten verfolgte, hatten hier, trotz der folgenden Überwindung der evolutionistischen Konzeption der Kulturentwicklung zugunsten einer betont dualistischen Sichtweise, einen wichtigen Bezugspunkt. Diese dualistische Betrachtungsweise war gekennzeichnet von der Ambivalenz zwischen ›Dionysischem‹ und ›Apollinischem‹ und entwickelte immer größere Aufmerksamkeit für die »halbdunklen Regionen des Gerstirnaberglaubens« und des Glaubens an Dämonen, gegen den der Kampf für den Denkraum ausgetragen wurde. Warburg sollte jedoch stets der Überzeugung bleiben, daß sich an der Wurzel der antiken Bildern der Kunst ein vitales Gewebe psychischer Energien und intensivierter Emotionen befände, die sich in gewissen Ausdrucksmustern, in »Pathosformeln« niederschlagen, Jahrhunderte überleben und wieder hervortreten, um dieselben Situationen zum Ausdruck zu bringen, jene Spannungszustände, in denen – im Schmerz wie in der Überfülle des Lebens – der Mensch selbst in seinen Konflikten zum Ausdruck komme. So schien die rätselhafte Figur der Nympha mit ihren wehenden Gewändern und ihrem anmutigen Gang, diese »heidnische Göttin im Exil«, die in der Kunst des frühen 15. Jahrhunderts mit ihrer ganzen bestrickenden Schönheit einer »jungen Frau der klassischen Zeit« wieder zum Vorschein kam, für Warburg eine Art »eruption of primitive emotion« zu sein, die die harte Schale der christlichen Konzeption des Lebens zerbrach, während, noch in der Schwebe zwischen den Fesseln der Vergangenheit und der Ankündigung eines neuen Zeitalters, eine neue mundane und heidni-
Würdigungen, hg. von D. Wuttke, Baden-Baden 21980, S. 307 ff. Zum ›empfindlichen Seismographen‹ vgl. die Auszüge aus den Burckhardt-Übungen, abgedruckt in E. H. Gombrich, Aby Warburg, S. 254 f. 12 Vgl. zu diesem Punkt die nützliche Studie von P. Schmidt, Aby M. Warburg und die Ikonologie, Bamberg 1989. 13 A. Warburg, Schlangenritual. Ein Reisebericht, mit einem Nachwort von U. Raulff, Berlin 41992, S. 44.
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sche Betrachtungsweise entstand.14 Als Warburg begann, die Fresken im Palazzo Schifanoja zu studieren, und sich den düsteren Vorstellungen zuwandte, unter denen ein »griechisches Herz schlägt«, stieß er auf dasselbe Problem der »historischen Psychologie des menschlichen Ausdrucks«, und während er das Geheimnis jener Fresken lüftete, machte er darauf aufmerksam, daß die Kunstgeschichte sich bis heute nicht in den Dienst einer so lebendigen Aufgabe gestellt habe, die für das Verständnis des Weges des »guten Europäers« im Zeitalter der Bilderwanderung – im Zeitalter der Renaissance –, in dem »sein Kampf um Aufklärung« begann, so wichtig sei.15 Trotz der Entfernung, die Cassirer hinsichtlich des philosophischen Instrumentariums von Warburg trennte, ging er mit ihm eine »geistige Allianz« ein.16 Wie Cassirer im Oktober 1929 in seiner Grabrede zum Gedächtnis dieses unermüdlichen Forschers sagte, der sich gern als »jüdischen Blutes, von Herzen Hamburger und mit der Seele eines Florentiners« bezeichnet hatte, war Warburg eine Gestalt von absoluter Originalität, die in der Welt der Kunst und der Mythen stets etwas Eigenes entdeckte: »ein Symbol für jene unnennbaren dämonischen Kräfte, denen unser Dasein preisgegeben ist«.17 Um unter die Oberfläche der Bilder zu den »großen gestaltenden Energien« zu gelangen, die sie produziert haben, um die »ewigen Ausdrucksformen menschlichen Seins, menschlicher Leidenschaft und menschlichen Schicksals« aufzufinden, war Warburg, so Cassirer, mit »visionärer Sicherheit« ihren vielzähligen Wandlungen durch die Jahrhunderte gefolgt: »Er hatte in sich selbst erlebt und erfahren, was er vor sich sah – und er vermochte nur das wahrhaft zu sehen, was er aus dem Zentrum seines eigenen Seins und seines eigenen Lebens heraus zu fassen und zu deuten vermochte.« So war der lange Weg per monstra ad spheram vor allem eine lebendige Erfahrung, ein mit wahrem und echtem ›Heldentum‹ geführter existenzieller Kampf; und Warburg selbst hatte Cassirer gestanden, daß die Dämonen, deren Wanderung in der Geschichte der Menschheit er zu erforschen
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Zur »heidnischen Göttin im Exil« s. die von E. H. Gombrich veröffentlichten Fragmente in Aby Warburg, bes. S. 124 f. Zur Figur der Nympha vgl. den Text Warburgs von 1895: I costumi teatrali per gli intermezzi del 1589, später in Die Erneuerung der Heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Geschichte der europäischen Renaissance, Nedeln / Lichtenstein 1969, S. 289. 15 Italienische Kunst und internationale Astrologie im Palazzo Schifanoja zu Ferrara [ 1912 ] in Die Erneuerung, S. 476, 479. 16 C. Naber, Der Hamburger Kreis um Ernst Cassirer und Aby Warburg, S. 396. 17 E. Cassirer, Worte zur Beisetzung von Professor Dr. Aby M. Warburg in Mnemosyne. Beiträge zum 50. Todestag von Aby M. Warburg, Göttingen 1979, S. 18.
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versucht hatte, »an ihm Rache genommen und daß sie ihn zuletzt besiegt und zerstört hätten«.18 Dieser ›zerstörte‹ Warburg, der der Katastrophe des Krieges nicht gewachsen war und der versuchte, sich in der Klinik Binswangers in Kreuzlingen zu regenerieren, war es, den Cassirer 1924 am Bodensee kennenlernte. Während dieser Begegnung formulierte Warburg die Idee, daß die moderne Welt entstanden sei, als Kepler die Hegemonie des Kreises als kosmologische Figur gebrochen hatte. Cassirer – erinnert Saxl – stimmte zu und zitierte aus dem Gedächtnis die Passagen bei Kepler, die diese entscheidende Wende in der Geschichte der menschlichen Kultur dokumentieren.19 So hatte der neue Sitz der »Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg«, der 1926 nach der Rückkehr Warburgs eingeweiht wurde, einen großen Saal in Form einer Ellipse, dem Symbol jener Vernunft, die sich durch die Jahrhunderte hindurch mühevoll in Stellung gebracht hatte, da – und hierauf muß trotz aller Differenzen insistiert werden – auch Warburg wie Cassirer »an die Vernunft glaubte; er war Aufklärer gerade weil er mit dem Erbe der dämonischen Antike so gut vertraut war«.20 2. Im Juli 1921 hielt Cassirer einen Vortrag bei der »Religionswissenschaftlichen Gesellschaft« Hamburgs, der im darauffolgenden Jahr dank des großen Interesses Saxls unter dem Titel Die Begriffsform im mythischen Denken als Eröffnungsband der »Studien der Bibliothek Warburg« bei Teubner in Leipzig publiziert wurde. Dies war der erste Abschnitt einer langen Zusammenarbeit, während der Cassirer einen erstrangigen Beitrag zur Erforschung des Mythos und der mythisch-religiösen Betrachtungsweisen leisten sollte, die in einer großen Perspektivenvielfalt von der Hamburger Bibliothek betrieben wurde.21 18
Ebd., S. 17–22. Vgl. F. Saxl, Ernst Cassirer, S. 49 f. (s. auch T. Cassirer, Mein Leben mit Ernst Cassirer, S. 150 f.). 20 G. Bing, Aby M. Warburg, »Rivista storica italiana«, LXXII, 1960, S. 111. Zu Gertrud Bing, der treuen Bibliothekarin und späteren Assistentin Warburgs, die 1921 bei Cassirer eine Dissertation über Lessing geschrieben hatte, vgl. B. Götz, Gertrud Bing Verein zur Förderung von Frauenforschung in Kunst- und Kulturwissenschaften in Aby Warburg. Akten des internationalen Symposions, bes. S. 300 ff. 21 Einen informativen Überblick über diese Recherchen bietet R. Kany, Die religionswissenschaftliche Forschung an der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg, Bamberg 1989 (mit ausführlicher Bibliographie). Zu einigen Nachklängen der frühen Beteiligung Cassirers an den Aktivitäten der Bibliothek Warburg vgl. Ch. Hermann, Die Bibliothek Warburg und ihre Veröffentlichungen, »Kant-Studien«, XXIX, 1924, S. 586–589. 19
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Doch eigentlich war es das Problem der methodologischen Begründung der Geisteswissenschaften im Rahmen einer »Formenlehre des Geistes«, in der sich das ambitionierte Projekt einer Systematik der Formen der Kultur, einer Philosophie der ›symbolischen Formen‹ abzeichnete, das den Ausgangspunkt Cassirers darstellte.22 Cassirer brachte in den Warburg-Kreis von Anfang an die Sprache des systematischen Philosophen ein, der das »mythische Denken« nicht unter einem historisch-philologischen oder psychologisch-anthropologischen Gesichtspunkt betrachtete, sondern als Form des Geistes mit einer inneren, konstitutiven Gesetzmäßigkeit, durch die sich, trotz irrationaler und intuitiver Komponenten, gleichwohl eine kantische ›Synthesis des Mannigfaltigen‹ vollzieht.23 In diesem Sinne beharrte Cassirer auf der Möglichkeit, auch das mythische Denken auf die Gesetzmäßigkeit einer geistigen Form zurückzuführen, die der Wirklichkeit gegenüber niemals rezeptiv ist, sondern ihr Form und Bedeutung gibt. Wie insbesondere die totemistische Betrachtungsweise des Raumes mit seinen Stammesaufteilungen und animistischen Konnotationen zeigt, besteht auch für das mythische Denken der entscheidende Punkt in der Transformation der Wirklichkeit von einer konfusen Rhapsodie von Wahrnehmungen in einen physischen und geistigen »Kosmos«. Nicht die soziologischen oder psychologischen »Ursachen« können Licht werfen auf die primitive Welt der Mythen, nicht die Dinge und die konkrete Existenz des Menschen konstituieren das fundamentum divisionis: Es ist der Geist, der der Welt die Form gibt und der in einer Pluralität von Richtungen eine gegliederte Sichtweise des Seins organisiert.24 Auf der anderen Seite hatte gerade die Gestalt des totemistischen Raums Cassirer zu einer Annäherung von mythischem und astrologi22
Vgl. oben, S. 143–153. Die Begriffsform im mythischen Denken, S. 9: »Und doch ist auch dem Mythos, so wahr er nicht ausschließlich im Kreis unbestimmter Vorstellungen und Affekte verharrt, sondern sich in objektiven Gestalten ausprägt, auch eine bestimmte Art der Gestaltgebung, eine Richtung der Objektivierung eigen, die – so wenig sie mit der logischen Form der »Bestimmung zum Gegenstande« zusammenfällt – doch eine ganz bestimmte Weise der ›Synthesis des Mannigfaltigen‹, der Zusammenfassung und der wechselseitigen Zuordnung der sinnlichen Elemente in sich schließt.« 24 Ebd., S. 19–29, 59 f. Vgl. darüber hinaus Philosophie der symbolischen Formen, II, S. 16; ECW 12, S. 14: »[ N ]ach einer ›Form‹ des mythischen Bewußtseins fragen heißt weder nach seinen letzten metaphysischen Gründen, noch nach seinen psychologischen, seinen geschichtlichen oder sozialen Ursachen suchen: Vielmehr ist damit lediglich die Frage nach der Einheit des geistigen Prinzips gestellt, von dem all seine besonderen Gestaltungen, in all ihrer Verschiedenheit und in ihrer unübersehbaren empirischen Fülle, sich zuletzt beherrscht zeigen.« Zu den transzendentalen Fundamenten einer »Philosophie der Mythologie« vgl. auch unten, S. 298 ff. 23
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schem Denken veranlaßt, da in beiden Fällen eine divisio naturae gegeben ist: Die Astrologie ist im Grunde selbst ein charakteristisches Ergebnis der mythischen Weltsicht. Nach den Überlegungen Franz Bolls in Sternglaube und Sterndeutung (ein Buch und ein Autor, die Warburg eng verwandt waren) hatten sich die astrologischen Betrachtungsweisen von der babylonischen Kultur an nicht nur als religiöse Konzeptionen der Wirklichkeit dargestellt, sondern auch als ein Versuch, dem Zusammenhang der verschiedenen Aspekte des menschlichen Lebens und der den Menschen umgebenden Welt eine strenge Form zu geben. In der astrologischen Betrachtungsweise halten verschiedenste Bindungen und Einflüsse Dinge und Ereignisse in einer ständigen Korrespondenz zwischen den Sternbewegungen und menschlichen Angelegenheiten umklammert, und das Ganze skandiert sich nach einem notwendigen Rhythmus. Auf die Bollsche Betonung der Duplizität der Astrologie, die sowohl Religion als auch ›Wissenschaft‹ sein will, antwortete Cassirer mit der Beobachtung, daß, so verwirrend der astrologische Aberglaube auch sein möge, es in ihm dennoch eine kausale »Denkform« gebe, die darauf ausgerichtet sei, die Welt als einen von strengen Gesetzen geregelten Komplex zu begreifen. Er erhob die Astrologie zu einem der »großartigsten Versuche systematisch-konstruktiver Weltbetrachtung, der je vom menschlichen Geist gewagt wurde«: »[ S ]elten«, ergänzte Cassirer, sei die Forderung, »das Ganze im Kleinsten zu erblicken [ … ] so eindringlich gestellt und so konsequent durchzuführen versucht worden wie hier«.25 Es ist offensichtlich, wie weit Cassirer sich hier die Lehren Bolls und Warburgs selbst zu Nutze gemacht hat, der in seiner Studie Heidnischantike Weissagung, die einen so großen Einfluß auf die Studien der Bibliothek gehabt hat, unterstrichen hat, daß sich in der Astrologie »zwei ganz heterogene Geistesmächte« vereinigt hatten, und zwar die »Dämonenfurcht« (was die »primitivste Form religiöser Verursachung« ist) und die Mathematik (die hingegen das »feinste Werkzeug abstrahieDie Begriffsform im mythischen Denken, S. 35; und vgl. F. Boll, Sternglaube und Sterndeutung. Die Geschichte und das Wesen der Astrologie, Leipzig und Berlin 1918, S. 90. Es lohnt, daran zu erinnern, daß das Bändchen Bolls Warburg gewidmet ist und daß er sich 1920, während Warburg in Kreuzlingen war, dafür einsetzte, die Warburgsche Studie Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten zu veröffentlichen. Er war derjenige Wissenschaftler, dem Warburg größtenteils – wie er in seiner Studie über den Palazzo Schifanoja gesagt hatte – für seine Interessen an den »halbdunklen Regionen des Gestirnaberglaubens« verpflichtet war (nicht umsonst hatte er zwischen 1908 und 1909 leidenschaftlich Sphaera gelesen). Auch Cassirer verwendete wiederholt die Schriften Bolls im zweiten Band der Philosophie der symbolischen Formen: vgl. z. B. S. 111; ECW 12, S. 105, wo er sich auf Die Lebensalter (von 1913) bezieht. 25
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render Denkkraft« ist).26 Cassirer begriff diese Polarität, die bis an die Schwelle des modernen Zeitalters überlebt hatte, als Gegenüberstellung von ›Substanz‹ und ›Funktion‹: In Übereinstimmung mit ihrer gesamten Wirklichkeitsbetrachtung, die sich stärker auf Analogien als auf reinen Relationsbegriffen aufbaue, kenne die astrologisch-mythische Konzeption die Zahl als »begriffliche Bestimmung« ohne sinnlichen Bezug nicht und mache daher »nicht um Gesetze der Veränderung auszudrücken« Gebrauch von den Zahlen, »sondern um Gleichheiten und Analogien der dinglichen Struktur verschiedener Seinsgebiete auszudrücken und festzuhalten.«27 Die dem mythischen Denken eigene Kausalität sei folglich radikal verschieden von der Kausalität des wissenschaftlichen Denkens: Die erste impliziere eine substanzialistische Fundierung des Zusammenhangs von Ursache und Wirkung auf der Basis der räumlichen Nachbarschaft der Ereignisse und ihrer wechselseitigen ›Einflüsse‹; die zweite verlange hingegen eine Fundierung funktionaler Art und beziehe sich auf eine reine Korrelation in der Zeit, die in mathematischen Begriffen ausgedrückt werde. Diese Differenz sei jedoch nicht nur eine theoretische. Sie repräsentiere auch die Demarkationslinie zwischen einem astrologischen »Fatalismus« und der Befreiung des Geistes, die von der Unterwerfung der Dinge unter eine »ideelle Notwendigkeit« zur »Grund- und Urform des Denkens« führe.28 In Begriffsform im mythischen Denken findet nicht nur eine transzendentalphilosophische ›Veredelung‹ der vorrangigen Themen der Bibliothek Warburg statt, sondern es wird ebenso eine Antwort auf das ›Klima‹ der deutschen Kultur der frühen 20er Jahre gegeben, die bereits durch die trüben Verlockungen der ›Zerstörung der Vernunft‹ hindurchgegangen war. Quasi als ein rationalistisches Bollwerk gegen Spenglers Prophezeihung eines unabwendbaren »Untergangs«, der, so schrieb später Cassirer, an die astrologischen Sichtweisen und die fatalistische Interpretation der Geschichte der Menschheit erinnere, begannen Philosophen wie A. Warburg, Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten in Die Erneuerung, S. 505 f. 27 Die Begriffsform im mythischen Denken, S. 53. Zum Funktionsbegriff der Zahl vgl. Substanzbegriff und Funktionsbegriff, S. 35–87; ECW 6, S. 27–70. 28 Die Begriffsform im mythischen Denken, S. 54. In der Schlußfolgerung von Heidnisch-antike Weissagung bestand Warburg hingegen auf der »tragischen Geschichte der Denkfreiheit des modernen Europäers« und sah im Aufleben der dämonischen Antike eine polare Spannung: »Wir sind im Zeitalter des Faust, wo sich der moderne Wissenschaftler – zwischen magischer Praktik und kosmologischer Mathematik – den Denkraum der Besonnenheit zwischen sich und dem Objekt zu erringen versuchte.« (Die Erneuerung, S. 534). Zum Problem der Kausalität im mythischen Denken vgl. auch Philosophie der symbolischen Formen, II, S. 57 ff.; ECW 12, S. 54 ff. 26
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Cassirer, auch in der Welt der Mythen die konstruktive Energie des Geistes zu entdecken.29 Der von Cassirer eingeschlagene Weg führte zu einer Erörterung der verschiedenen geistigen Funktionen, die dem Aufbau der Formen der Kultur zugrunde liegen, d. h. zu einer »Synopse« des Geistes, der von seinen historischen Manifestationen zu seiner eigentlichen »Systematik« zurückverfolgt werden sollte. Von diesem Gesichtspunkt aus ist es bezeichnend, daß Cassirer den ersten Entwurf seiner Philosophie der symbolischen Formen in dem Vortrag Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften vorlegte, der dann als erster Band der »Vorträge der Bibliothek Warburg« erschien und sich programmatisch an den bereits erwähnten Vortrag Saxls über Die Bibliothek Warburg und ihr Ziel anschloß.30 Auch hier stellte Cassirer eines seiner Probleme vor, völlig unabhängig vom Warburg-Kreis und – wie bereits erwähnt wurde – der Aufgabe einer transzendentalphilosophischen Grundlegung der Geisteswissenschaften verpflichtet, die aus den Anstrengungen und der Reifung des Marburger Neukantianismus entstanden war. Im Ausgang vom fließenden und nicht-objektivierten Charakter des Bewußtseins, das nur in den Objektivierungsformen zu sich selbst kommen und sich von dem heraklitischen Dahinfließen befreien könne, welches jedes beständige Sein auszuschließen scheine, hob Cassirer die unersetzbare Rolle des Mediums der Form, der Formgebung des Objektes, im Verhältnis von Ich und Welt hervor. Hier werde der Abgrund überschritten und geschehe das »Wunder«, durch das zwischen Subjekt und Objekt, zwischen »Innen« und »Außen« das feste Band des symbolischen Ausdrucks, der geistigen Erzeugung geknüpft werde, die »sich nicht gegen das sinnliche Material wende, sondern lebt und schafft in ihm selbst«.31 Und der Begriff der »symbolischen Form« wurde hier erstmals definiert: Vgl. zu letzterem Aspekt Cassirer selbst in Symbol, Myth, and Culture, S. 261, und The Myth of the State, S. 291. Zum außergewöhnlichen Echo, das das Buch Spenglers hervorrief, vgl. G. Sasso, Tramonto di un mito. L’ idea di »progresso« tra Ottocento e Novecento, Bologna 1984, S. 14 ff. Zum oben Gesagten vgl. auch die Studie I. Strenskis, Ernst Cassirer’s »Mythical Thought« in Weimar Culture, »History of European Ideas«, V, 1984, S. 363–383, sowie D. R. Lipton, Ernst Cassirer. The Dilemma of a Liberal Intellectual in Germany, S. 123. 30 In diesem Sinne kann man (wenn auch ohne seine allgemeine Bewertung des Cassirerschen Denkens zu übernehmen) M. Jesinghausen-Lauster, Die Suche nach der symbolischen Form, S. 149, zustimmen, nach dem die »Bibliothek Warburg« für Cassirer »das Organon« für den »Aufbau eines philosophischen Systems« darstellte. Zur Cassirerschen Philosophie als »Theorie« der Hamburger Bibliothek vgl. auch H. Blumenberg, Wirklichkeiten, in denen wir leben, S. 165. 31 Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, S. 176 ff. 29
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»Unter einer ›symbolischen Form‹ soll jede Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird. In diesem Sinne tritt uns die Sprache, tritt uns die mythisch-religiöse Welt und die Kunst als je eine besondere symbolische Form entgegen. Denn in ihnen allen prägt sich das Grundphänomen aus, daß unser Bewußtsein sich nicht damit begnügt, den Eindruck des Äußeren zu empfangen, sondern daß es jeden Eindruck mit einer freien Tätigkeit des Ausdrucks verknüpft und durchdringt.«32 Insofern als Cassirer mit dieser Definition weniger auf die verschiedenen Verwendungsweisen des Symbolbegriffs abzielte, sondern vielmehr auf »seine einheitliche und allgemeingültige Struktur«, ist es bezeichnend, daß er sich in diesem Zusammenhang auf die fortschreitende Konsolidierung des Symbolbegriffs im Bereich der Ästhetik des 19. Jahrhunderts bezog und als wichtigste ›Quellen‹ nicht nur Goethe, Hegel und Schelling zitierte, sondern auch den Aufsatz zum Symbol von Friedrich Theodor Vischer, den Warburg gut kannte.33 Es handelte sich hier nicht nur um eine verständliche captatio benevolentiae gegenüber der Hamburger Bibliothek, denn abgesehen von der Tatsache, daß bereits der Begründer der Marburger Schule diesen Text Vischers ausführlich diskutiert hat34, lassen sich die Differenzen zwischen Cassirer und Warburg bezüglich des Symbolbegriffs gerade auf dem von Vischer umschriebenen Gebiet besonders gut herausarbeiten, stellt man in Rechnung, wieviel Beachtung Warburg selbst – in seinem Vortrag zum Schlangenritual von 1923, dessen Text er Cassirer (vielleicht mit Blick auf den Begriff der symbolischen Form) zuschickte – der Funktion des ›Symbolischen‹ geschenkt hatte.35 Bei Warburg wie bei Cassirer stellt das Symbol zweifellos den ›Raum‹ dar (oder die »Vermittlung«, wie Cassirer sagt)36, der die Möglichkeit zur Reflexion eröffnet: den Denkraum der Besonnenheit. Während sich 32
Ebd., S. 175. Vgl. F. T. Vischer, Das Symbol in Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet, Leipzig 1887, S. 153–193 (Warburg hat sich auf diesen Text bereits in seiner Studie über Botticelli von 1893 bezogen). 34 Vgl. H. Cohen, Jubiläumsbetrachtungen in Schriften zur Philosophie und Zeitgeschichte, I, S. 416–431. 35 S. den Brief Warburgs vom 26. April 1923 aus Kreuzlingen an Saxl, veröffentlicht im Anhang zu Schlangenritual, S. 60 (wo Warburg übrigens über seinen Vortrag als einen Beitrag zur »Geschichte des symbolischen Verhaltens« spricht). Mit dem »Willen zum Erkennen des Symbolischen«, der für Cassirer kennzeichnend war, beschäftigte Warburg sich in einem Brief an seinen Bruder Max vom Juni 1928 (vgl. C. Naber, Der Hamburger Kreis um Ernst Cassirer und Aby Warburg, S. 398 f.). 36 Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, S. 176. 33
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jedoch Warburg in den Fußstapfen Vischers im wesentlichen auf die ambivalenten Aspekte, auf die dramatische Polarität, konzentriert, die das Symbol als Spannungsmoment und ständig oszillierendes Gleichgewicht zwischen mythischer Vorstellung und rationalem Aspekt verkörpert, zieht Cassirer zumindest in der Anfangsphase seiner Reflexion über das Symbol die freie geistige Synthese vor, die die symbolische Konstruktion im allgemeinen kennzeichnet.37 Im Unterschied zu der ›polaren‹ Betrachtungsweise Warburgs (die dennoch nicht die Unmöglichkeit eines Fortschrittes impliziert, sondern allenfalls diejenige seiner Garantie)38 findet Cassirer im Mythos, in der Kunst, in der Sprache und in der Erkenntnis einen allen Formen gemeinsamen »Rhythmus« wieder, der die drei Phasen des geistigen Ausdrucks, seinen Weg von einer unmittelbareren Stufe zum Stadium vollständiger Entfaltung der symbolischen Funktion, skandiert. Während zunächst (wie übrigens auch Warburg in seinem Vortrag in Kreuzlingen vertreten hatte) das Zeichen mit der bezeichneten Sache identifiziert worden sei, sei danach die Spaltung von Symbol und Ding erfolgt, so daß beide sich als korrespondierende Entitäten gegenübergestanden haben und das Symbol sich schließlich von jedem sinnlichen Bezug befreit und in seiner Natur als geistiges Erzeugnis entfaltet habe. In jeder symbolischen Form vollziehe sich dieser Prozeß auf verschiedenen Wegen, die dennoch eine gemeinsame Grundstruktur haben: Die Sprache gehe von der onomatopoetischen Phase in eine analogische über und von hier aus in die rein bedeutende; die Kunst entwickle sich (wie Goethe bemerkt hatte) von der Nachahmung zur Schöpfung nach einer »Manier«, um dann einen »Stil« auszubilden; und schließlich gehe auch die Erkenntnis am Anfang von den Sinnen aus und erhebe sich dann zum Dualismus von Subjekt und Objekt, um endlich – einmal befreit vom »caput mortuum der Abstraktion«, das noch in dem Kantischen Ding an sich vorhanden sei – zur freien Bildung von Symbolen und Begriffsverhältnissen zu gelangen, die, wie im Falle der Relativitätstheorie, das ›stilistische‹ Moment der Naturerkenntnis darstellen.39 Der fortschreitende Rhythmus der Symbolbildungen zeichnet auf diese Weise eine Typologie, die trotz Berücksichtigung von Differenzen
37 Vgl. A. Warburg, Schlangenritual, S. 25, 37. Zum Warburgschen Begriff des Symbols ist grundlegend E. Wind, Warburgs Begriff der Kulturwissenschaft und seine Bedeutung für die Ästhetik, »Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft«, XXV, 1931, Beilageheft, S. 163–179. 38 Vgl. dagegen S. Ferretti, Il demone della memoria, S. 72. 39 Vgl. Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, S. 178–187.
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invariante Elemente beinhaltet,40 eine transzendentale »Synopsis« des Geistes, die bezüglich ihrer Grundlagen weit von Warburg entfernt und gleichzeitig in ihren Verflechtungen und Einzelanalysen doch der »Kulturwissenschaft« verwandt ist. Eine solche Kulturwissenschaft stellte den vorrangigen Gegenstand der Hamburger Bibliothek dar, die, wie Saxl später sagte, beabsichtigte, »das Randgebiet« zwischen den verschiedenen Disziplinen »zu beackern«, um tiefere Verbindungen und Zusammenhänge zu begreifen, als es im Rahmen der traditionellen akademische Fächertrennung möglich war.41 Cassirer war von dieser Ausrichtung fasziniert, und es ist kein Zufall, daß auch das kleine Buch von 1925 über Sprache und Mythos in den »Studien der Bibliothek Warburg« erschien. Er legte damit nicht nur eine Synthese der ersten beiden Bände der Philosophie der symbolischen Formen vor, sondern vor allem eine Reflexion über die gemeinsamen Wurzeln der Sprache und des Mythos, die eindeutig unter dem Einfluß der Probleme (und nicht zuletzt der Autoren) Warburgs stand und in der sich eine gemeinsame, auf die Verbindung der Grundrichtungen des »menschlichen Ausdrucks« gerichtete Perspektive widerspiegelte. Cassirer setzte sich hier intensiv mit einem Lehrer Warburgs, mit Hermann Usener und seinem Hauptwerk über die Götternamen, auseinander: einem Buch, das vor allem der Philosophie den Anreiz bot, innerhalb einer allgemeinen Betrachtungsweise zu einer Neubewertung derjenigen Prozesse zu gelangen, in denen der menschliche Geist mühsam zu einem von dem modernen stark unterschiedenen Verständnis der Welt erwacht ist. Cassirer, der sich dem Vorwurf anschloß, den Usener denjenigen Philosophen machte, die sich olympisch von dieser Art Forschungen distanzierten, betrachte dieses Buch gerade deshalb als einen wesentlich auf die »Phänomenologie des Geistes«, auf das Auffinden der »Grundstruktur des sprachlichen und mythischen Bewußtseins« gerichteten Beitrag.42 Zu diesem Aspekt vgl. auch Philosophie der symbolischen Formen, I, S. 16; ECW 11, S. 14. 41 Vgl. F. Saxl, Why Art History [ 1948 ], dann in Lectures, London, The Warburg Institute, 1957, I, S. 357. (dt. Warum Kunstgeschichte in Aby M. Warburg. Ausgewählte Schriften und Würdigungen, hg. von Dieter Wuttke, Baden-Baden 1979, S. 483–499, hier S. 493.) Auch Wind hat in dieser Hinsicht unterstrichen, daß die »Stärke« der Bibliothek Warburg gerade in den »Grenzgebieten« liege (Warburgs Begriff der Kulturwissenschaft und seine Bedeutung für die Ästhetik, S. 179). 42 Vgl. Sprache und Mythos, S. 91. Zu Usener, dem Cassirer viel Raum gibt (ebd., S. 87–93), sei selbstverständlich auf Götternamen. Versuch einer Lehre von der religiösen Begriffsbildung, zweite, unveränderte Auflage mit einem Geleitwort von E. Norden, Bonn 1929 (bes. S. 321 für das oben Gesagte) verwiesen. Zu Usener und Cassirer vgl. auch R. Bodei, Hermann Usener nella filosofia moderna: tra Dilthey e 40
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Die Studien Useners hatten die parallele Entwicklung der mythischen Sichtweise und des Prozesses der sprachlichen Benennung aufgezeigt und so auf die ursprüngliche Aktivität des Geistes hingewiesen, die die durch eine erste grundlegende Synthese erzeugte Einheitsanschauung zergliedert.43 Cassirer (wie auch Warburg) war von dieser faszinierenden Forschung angezogen und erweiterte die Perspektive Useners, indem er das ›griechische Mutterland‹ zu primitiven Kulturen in Verbindung setzte, um zu zeigen, wie die von Usener nachgezeichnete Entwicklung des Mythos (von den »Augenblicksgöttern« zu denjenigen, die an die Tätigkeit des Menschen gebunden sind, und von diesen zu den wahren und eigentlichen personalen Göttern) mit den Betrachtungen Codringtons über die Melanesians korrespondiert: Der Phase der Augenblicksgötter gehe eine unbestimmtere Sphäre voraus, diejenige des mana (und der verwandten wakanda, orenda, manitu), in der sich die geistige Krisis vollziehe, die ursprüngliche Teilung von Heiligem und Profanem, der – auf der sprachlichen Ebene – ein durch eine »Urschicht der sprachlichen Interjektionen« gekennzeichnetes prägrammatikalisches Stadium entspreche.44 All dies führt zu den tiefsten Wurzeln des Ausdrucks der mythischen und sprachlichen Bildungen zurück, zu ihrem Ursprung durch die »Lösung« einer Spannung und einer inneren Erregung (auch Warburg hatte diesen Aspekt betont), d. h. in das Grenzgebiet, in dem der symbolische Ausdruck die Kontinuität von Mensch und Natur unterbricht und das dennoch in der Perspektive Cassirers etwas ganz anderes darstellt als jene psychischen Elementarprozesse der ›Personifizierung‹ und ›Animation‹, von denen Vignoli und Usener gesprochen hatten.45 In diesem Rahmen wurde die »dionysische Mimik« Warburgs im Prozeß der Befreiung von den düsteren Fesseln der Vorstellung durch die befreiende Kraft des logos und des reinen symbolischen Ausdrucks überwunden. Indem sie sich vom Mythos lösen, schaffen die Kunst und die ästhetische Betrachtung ein autonomes symbolisches Universum, in Cassirer in Aspetti di Hermann Usener filologo della religione, S. 23–42. Es ist kaum nötig, darauf hinzuweisen, daß Cassirer in der kulturellen Welt Warburgs einen Bezugspunkt wiederfand, der in gewisser Weise – dank der Vermittlung Natorps – bereits zum intellektuellen Besitz der Marburger Schule gehörte. (Vgl. oben, S. 11 und Anm. 41). Zu Usener s. das vorzügliche Kapitel, das R. Kany ihm in Mnemosyne als Programm, S. 67–128, gewidmet hat. 43 Vgl. Sprache und Mythos, S. 84. 44 Ebd., S. 134. Zu dem Gegensatz von Heiligem und Profanem, auch mit Bezug auf das mana, vgl. Philosophie der symbolischen Formen, II, S. 93–103; ECW 12, S. 93–97. 45 Vgl. Sprache und Mythos, S. 126 f., 107 f. Zu Vignoli vgl. Philosophie der symbolischen Formen, III, S. 88 ff.; ECW 13, S. 84 f.; T. Vignoli, Mito e scienza, Milano 1879, S. 41, und H. Usener, Götternamen, S. 375.
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dem auch die Sprache, um den Reichtum der Poesie zu erreichen, wieder dazu übergeht, Bilder zu verwenden, in denen unmittelbares Leben pulsiert. Doch »dieses Leben ist nicht mehr das mythisch-gebundene, sondern das ästhetisch befreite Leben«.46 Cassirer beschrieb eine ›apollinische‹ Befreiung der Kunst im Gegensatz zu der ›realistischen‹ Dimension, die Warburg als mit dem ›idealisierenden‹ Aspekt unauflöslich verbunden betrachtete. Und während Warburg aus Nietzsche schöpfte, ist es bezeichnend, daß Cassirer sich hingegen in seiner einzigen dezidiert ästhetischen Schrift paradoxerweise wieder mit dem ›Entwerter‹ der Kunst par excellence beschäftigte: mit Platon. Im Vortrag über Eidos und Eidolon47 erklärte Cassirer, daß die Platonische Trennung von Ideenwelt und Sinnenwelt eine Vermittlung, in der beide Begriffe sich wechselseitig voraussetzen, nicht ausschließe, da Platon auf die Vermittlung der Sprache und des Bildes zurückgreifen mußte, um den intelligiblen Charakter der idealen Formen zum Ausdruck zu bringen, d. h. auf den Gebrauch des Bedingten, um das Unbedingte zur Mitteilung zu bringen. In diesem Sinne befinde sich der Dialektiker in derselben Situation wie der Künstler: »Auch er gelangt, sofern er seine letzten Erkenntnisse sprachlich zu formulieren unternimmt, über das Gebiet der Mittelbarkeit, also über das Gebiet der mimesis, wenn man diesen Begriff in seinem weitesten Sinne nimmt, nicht hinaus.«48 Auf der Basis dieser »tragischen« Polarität entdeckt Cassirer im mythischen Diskurs einen neuen Kunsttyp, der weder »bloße Täuschung«, noch einfache Nachahmung, sondern »im echten Sinne gestaltend« sei.49 Die Vermittlungsleistung des sinnlichen Bildes zum Zwecke des menschlichen Ausdrucks wird schließlich auch von Platon (zumindest vom späten Platon) nicht bestritten; und es war gerade diese innere Spannung zwischen eidos und eidolon, die von Platon an zur Aufwertung der Kunst als formender (nicht nur imitierender) geistiger Tätigkeit führte, im Platonischen System selbst hingegen keine Anerkennung gefunden hatte.50 Auf diese Weise (und nicht ohne auf
Sprache und Mythos, S. 157; vgl. auch Philosophie der symbolischen Formen, II, S. 311; ECW 12, S. 305. 47 Vgl. E. Cassirer, Eidos und Eidolon. Das Problem des Schönen und der Kunst in Platons Dialogen, »Vorträge der Bibliothek Warburg«, II, 1922–1923, S. 1–27. Zu berücksichtigen ist auch die quasi zeitgleich entstandene Darstellung des Platonischen Denkens in Die Philosophie der Griechen von den Anfängen bis Platon, S. 83–135. 48 Eidos und Eidolon, S. 6 f. 49 Ebd., S. 24. 50 Ebd., S. 27. 46
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den ›transzendentalen‹ bzw. ›Marburger‹ Platon zu verweisen)51 zeigte Cassirer auch, daß der Ursprung der Kunst als symbolische Form in der ›symbolisch‹ interpretierten Platonischen Lehre zu sehen sei: jener symbolischen Form, die Cassirer nie systematisch behandelt hat. Und doch war er – im Unterschied zu Warburg – davon überzeugt, daß die Kunst nicht Reproduktion oder Nachahmung der Wirklichkeit ist, sondern vielmehr »discovery of reality«.52 3. Kurz nach der Veröffentlichung von Sprache und Mythos schloß Cassirer die Arbeit an Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance ab, das 1927 als zehnter Band der »Studien der Bibliothek Warburg« erschien, jedoch bereits im Jahr zuvor fertig geworden war (die Widmung für Warburg, den verehrten »Führer der geisteswissenschaftlichen Forschung«, trägt das Datum des 13. Juni 1926). Genau 20 Jahre waren vergangen, seit Cassirer sich im ersten Band des Erkenntnisproblems auf das Gebiet der Renaissancephilosophie gegeben hatte, indem er an die Ergebnisse anknüpfte, zu denen vor allem die deutsche und italienische Historiographie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (von Dilthey bis Fiorentino und Tocco) gelangt war, und eine Darstellung des Renaissancedenkens präsentierte, die lange Zeit maßgeblich blieb.53 Ein Vergleich des Erkenntnisproblems mit Individuum und Kosmos (der leider noch aussteht) könnte die großen Themenblöcke und die Kontinuitätslinien herausarbeiten, die trotz der Unterschiede in den Ansätzen die beiden Cassirerschen Texte verbinden: so z. B. im Fall von Cusanus, mit dem die ersten beiden Kapitel von Individuum und Kosmos sich in ähnlichen Begriffen wie das Erkenntnisproblem beschäftigen – ein Cusanus, der als »erster moderner Denker« präsentiert und in idealistisch-kantianisierender Perspektive Vgl. in diesem Sinne auch Die Philosophie der Griechen von den Anfängen bis Platon, S. 84, Anm. 1. 52 An Essay on Man, S. 143. S. auch die zwei Texte über Language and Art, die in Symbol, Myth, and Culture, S. 145–195, enthalten sind. 53 Vgl. Das Erkenntnisproblem, I, S. 19–313; ECW 2, S. 17–261. Das simplifizierende Urteil von W. Ferguson, der in Cassirer einen Anhänger Diltheys sieht, ist jedoch nicht akzeptabel. Vgl. The Renaissance in Historical Thought. Five Centuries of Interpretation, Cambridge (Massachussets) 1948, S. 218. Für eine Übersicht über die Tradition, in die sich Cassirer einfügt, vgl. den schönen Sammelband Il Rinascimento nell’ Ottocento in Italia e in Germania. Die Renaissance im 19. Jahrhundert in Italien und Deutschland, hg. von A. Buck und C. Vasoli, Bologna-Berlin 1989 (s. auch G. Cacciatore, Dilthey e il Rinascimento in Vita e forme della scienza storica, S. 55–139). Zum besonderen Beitrag Fiorentinos, »eine[ s ] der besten Kenner der Renaissancephilosophie«, vgl. Individuum und Kosmos, S. 50. 51
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unter dem Primat der mathematischen Erkenntnis betrachtet wird.54 Das Buch von 1927 stellt gleichwohl ein bedeutendes Moment in der Geschichte der Renaissance-Historiographie dar, weil Cassirer – und dies ist ein Aspekt, der nicht immer angemessen hervorgehoben worden ist – ganz eigenständige Arbeitshypothesen weiterentwickelte, die jedoch ohne den Bezug auf die Zusammenarbeit mit der »Bibliothek Warburg« unverständlich bleiben würden.55 Cassirer hob hervor, daß die Einzelforschungen zu den »Künstler[ n ], [ … ] Gelehrten und Staatsmänner[ n ] der Renaissance«, die Konrad Burdach, Ernst Walser (und zum Teil, wenn auch mehr umstritten, Franz Thode, bei dem Warburg in Bonn studiert hatte) durchgeführt hatten, das große Panorama Burckhardts bereits umfassend in Zweifel gezogen hatten, indem sie die Gegenüberstellung von mittelalterlichem Menschen und Menschen des neuen Zeitalters in Frage gestellt und die Hinfälligkeit allzu glatter Schnitte aufgezeigt hatten, die die Kontinuitäten nicht berücksichtigen.56 All dies fand eine weitere Bestätigung im Werk Warburgs, der viel dazu beigetragen hatte, das von Burckhardt gezeichnete Bild einer Revision zu unterziehen, indem er anstelle einer rein ›ästhetischen‹ Betrachtungsweise des Florentiner Quat-
Vgl. Individuum und Kosmos, S. 10, 24 f., 43 ff. S. außerdem Das Erkenntnisproblem, I, S. 21–61; ECW 2, S. 17–50. Zu Cusanus als Vorläufer Kants s. bereits F. Fiorentino, Il Risorgimento filosofico nel Quattrocento, Napoli 1885 (Nachdruck Bologna 1982), S. 142 f. 55 Zur Cassirerschen Interpretation der Renaissance, auch mit Bezug auf ihre Thematisierung im Erkenntnisproblem, vgl. vor allem J. H. Randall Jr., Cassirer’s Theory of History as illustrated in his Treatment of Renaissance Thought in The Philosophy of Ernst Cassirer, S. 691–728; L. Bianchi, Ernst Cassirer interprete del Rinascimento, »Acme«, XXXI, 1978, S. 59–86, (der großenteils Randall folgt und einige Überlegungen zum Verhältnis zur »Bibliothek Warburg« anstellt); M. de Gandillac, L’image de la Renaissance chez Cassirer in Ernst Cassirer. De Marbourg à New York, S. 17–28. Nicht besonders ergiebig ist die Darstellung W. Fergusons, The Renaissance in Historical Thought, S. 218 ff. 56 Vgl. Individuum und Kosmos, S. 4 f. Zu diesem Thema vgl. auch den späten Text Some Remarks on the Question of the Originality of the Renaissance, »Journal of the History of Ideas«, IV, 1943, S. 49–56. Bezüglich des Verhältnisses zum Werk Burckhardts ist häufig die Bedeutung der Cassirerschen Aufwertung des philosophischen Denkens gegenüber der ›Abwertung‹ durch den Basler Historiker betont worden (vgl. z. B. P. O. Kristeller, Il Rinascimento nella storia del pensiero filosofico in Il Rinascimento. Interpretazioni e problemi, Roma-Bari 1979, S. 155, mit Bezugnahme auf den Beitrag Gentiles). Im Auge zu behalten sind auch die kritischen Betrachtungen E. Garins, Introduzione a J. Burckhardt, La civiltà del Rinascimento in Italia, ital. Übers. von D. Valbusa, Firenze 1975, S. XXXII f. Um zu einer gründlicheren Bewertung der gesamten Frage zu gelangen, muß jedoch auch das einigermaßen zurückhaltende Kapitel über Burckhardt in Das Erkenntnisproblem, IV, S. 270–284; ECW 5, S. 308–324, berücksichtigt werden. 54
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trocentos die polare Spannung thematisierte, die die Seele des weltlichen Menschen zwischen mittelalterlicher Fessel und dem Vertrauen auf die eigenen irdischen Kräfte, zwischen christlichem Lebensgefühl und einer neuen »paganen Ausdrucksfreudigkeit« zerrissen hatte. Die Forschungen über Francesco Sassetti und Giovanni Rucellai zeigen in der Tat, daß sich in ihrer Konzeption der ›Fortuna‹ ein Kompromiß zwischen antikem Gottesglauben und neuer Sichtweise des Renaissancemenschen realisiert hatte.57 Es war diese Revision des Burckhardtschen Schemas, die Cassirer uneingeschränkt begrüßte. In der notwendigen Bemühung um eine Neubewertung der Philosophie der Renaissance, die Burckhardt völlig vernachlässigt hatte, unterstrich er seinerseits die »Dynamik des Denkens«, die durch einen unaufhaltsamen Lebensdrang sowie durch einen komplizierten Prozeß des Übergangs gekennzeichnet war.58 Deshalb betrachtete Cassirer die Warburgsche Pathosformel der ›Fortuna‹ – den spekulativen Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit – vor allem im Hinblick auf ihren reinen »systematischen Ausdruck«59. Mit diesem zentralen Knotenpunkt des Verhältnisses zwischen Freiheit und Notwendigkeit hatten Valla und Pomponazzi, Manetti und Pico sich auseinandergesetzt und ein neues Bild der »Würde des Menschen« geschaffen, das eine ausgezeichnete Systematisierung in De sapiente von Bovillus (Cassirer entdeckt hier sogar eine Antizipation des Hegelschen Idealismus) und in der Geburt des Mythos des modernen Menschen, des promethischen Schmiedes des eigenen Schicksal, fand, der den christlichen Mythos von Adam ersetzte.60 Im übrigen, fährt Cassirer fort, indem er erneut auf die Vgl. A. Warburg, Francesco Sassettis letztwillige Verfügung [ 1907 ] in Die Erneuerung, S. 127–158. Zu der »Polaritätsphänomenologie des FrührenaissanceMenschen« vgl. auch F. Saxl, Rinascimento dell’antichità, S. 257–264, und La fede astrologica di Agostino Chigi. Interpretazione dei dipinti di Baldassare Peruzzi nella sala di Galatea della Farnesina, Roma, Reale Accademia d’Italia 1934, bes. S. 53–57 (= La fede negli astri, hg. von S. Settis, Torino 1985, S. 318–409): »Wir erlauben uns eine historisch verfehlte Psychologie, wenn wir uns den Renaissancemenschen als bloß ›heidnisch‹ vorstellen«. 58 Vgl. Individuum und Kosmos, S. 80. 59 Ebd., S. 82, zur Pathosformel der ›Fortuna‹ S. 79 ff. 60 Ebd., S. 93–103. Zu De sapiente, mit dem Cassirer sich bereits im Erkenntnisproblem, I, S. 61–72; ECW 2, S. 51–59, beschäftigt hatte, s. die von Raymond Klibansky besorgte Edition im Anhang von Individuum und Kosmos, S. 299–412. Hinsichtlich der »Würde des Menschen« stützte Cassirer sich auf Gentile, vor allem auf den Text über Il concetto dell’uomo nel Rinascimento (der auch eine gegen Burckhardt gerichtete Pointierung der philosophischen Bedeutung des »eigenen Wertes des Menschen und [ seiner ] Überlegenheit der Natur gegenüber« darstellt): vgl. G. Gentile, Il pensiero italiano del Rinascimento (=Opere complete, XIV), Firenze 57
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Studien Warburgs und Bolls zurückgreift, habe sich der ideelle Kampf um die Freiheit des Menschen mit einer Polemik gegen die Astrologie verflochten (und nicht zufällig ist es gerade die Berücksichtigung der Funktion der Astrologie, die zu dem Erfolg von Individuum und Kosmos beigetragen hat). Das erneute Aufkommen astrologischer Betrachtungsweisen, die nach dem ›Überleben‹ im Mittelalter wieder mächtig hervortraten, zeige, wie komplex diese Schlacht gewesen sei; und es genüge, an Ficino zu denken, der zwar auf theoretischer Ebene jeden Einfluß der Sterne abgelehnt, jedoch – wie wenige Jahre vorher von Panofsky und Saxl in Dürers »Melancholia. I.« herausgearbeitet worden war – in De vita triplici darauf hingewiesen habe, daß der menschliche Genius zwar unter dem Zeichen Saturns stehe, aber in gewisser Weise auch gegen dessen schädlichen Einfluß ankämpfen könne.61 Die Astrologie wurde in der Renaissance sowohl ihrer Natur als auch ihrer Reichweite nach untersucht: Auf der einen Seite stand das Bemühen, ihr die Bedeutung abzusprechen, auf der anderen der Versuch, ihr eine neue Form und ein neues methodisches Fundament zu geben. In die erste Richtung habe sich Pico bewegt, der, obwohl stark beeinflußt von Kabbala und Okkultismus, vor allem aus ethischen Gründen gegen die Astrologie gekämpft und so den wahren Geist der Renaissance ankündigt und eine überzeugende Verteidigung der Würde des Menschen geleistet habe. Mit diesem Motiv habe Pico jedoch eine ›gnoseologische‹ Beschäftigung verbunden und nach Ansicht Cassirers Kepler und Newton vorweggenommen, indem er den Begriff der vera causa formuliert und die Aufmerksamkeit auf die Funktion der rein operativen Symbole der Mathematik für die wissenschaftliche Erkenntnis der Natur – im Unterschied zu den astrologischen Entitäten – gerichtet habe.62 In der
41968, S. 47–113. Zu Gentile und Cassirer s. auch P. O. Kristeller, Il Rinascimento nella storia del pensiero filosofico S. 155. 61 Vgl. Individuum und Kosmos, S. 119 ff., wo auf E. Panofsky-F. Saxl, Dürers »Melancholia. I«. Eine quellen- und typengeschichtliche Untersuchung, Leipzig 1923, S. 32, hingewiesen wird (vgl. auch R. Klibansky-E. Panofsky-F. Saxl, Saturn and Melancholy. Studies in the History of Natural Philosophy, Religion and Art, London 1964, S. 254–274, in dem De vita triplici und die »magia naturalis« bei Ficino berücksichtigt werden). 62 Vgl. Individuum und Kosmos, S. 124 f., wo der Pico Cassirers die Sprache von Heinrich Hertz oder eines modernen Erkenntnistheoretikers zu sprechen scheint. Zu Pico vgl. auch den Aufsatz G. Pico della Mirandola. A Study in the History of Renaissance, »Journal of the History of Ideas«, III, 1942, S. 123–144, 319–346. Cassirer wich in der Picointerpretation beträchtlich von Franz Boll ab, der sich wunderte, daß ein so von Magie und Okkultismus durchdrungener Denker eine antiastrologische Polemik habe führen können (vgl. F. Boll, Sternglaube und Sterndeutung, S. 50). Zum
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zweiten Richtung lasse sich hingegen Pomponazzi verorten, der die astrologische Kausalität von jeder irrationalen Verehrung befreit habe, um sie in eine »Bedingung der Begreiflichkeit der Natur« zu transformieren und so den »unbedingten Primat der wissenschaftlichen Vernunft« zu garantieren. Aus diesem Grunde erschien Cassirer De incantationibus als eine Bestätigung der Betrachtungen Warburgs über die Koexistenz von Dämonenfurcht und mathematischer Kausalität in der Astrologie, obwohl der Aberglaube bei Pomponazzi bereits einem rein methodologischen Verständnis gewichen war.63 Die Kritik der Astrologie aus ethischer Perspektive und ihre kritischmethodologische Transformation ermöglichte es Cassirer, Pico und Pomponazzi als zwei symbolische Verkörperungen geistiger Energien zu denken, die dem beginnenden modernen Denken den Weg gewiesen haben: Das Problem der Freiheit und das Problem der Erkenntnis erscheinen in der Beschreibung des Wesens der autonomen Vernunft eng miteinander verbunden.64 Vor dem Hintergrund der spezifischen Ausrichtung und der typischen Themenbereiche der »Bibliothek Warburg« zeichnete Cassirer so eine Problemgeschichte,65 die darauf ausgerichtet war, den Beginn der modernen Konzeption der Natur und des Geistes zu erfassen und ihre Entwicklung – trotz Ablehnung eines linearen Fortschrittes, aber gleichwohl bemüht, die ›typischen‹ Momente einer gegliederten historischen Wirklichkeit zu fixieren – doch als eine teleologisch orientierte, fortschreitende Befreiung zu beschreiben. Aus diesem Grunde erschien Cassirer die Renaissance eher als eine sich zum Guten entwickelnde Epoche, denn als das Zeitalter dramatischer Konflikte, auf die der Blick Aby Warburgs gerichtet war.66 Nicht umsonst hatte Warburg 1927 bezüglich der menschlichen Einbildungskraft und der geistigen Orientierung in einem Kosmos, der noch von Dämonen und astralen Einflüssen beherrscht war, von einer »Kritik der reinen Unvernunft« gesprochen.67 Während Cassirer an die Kanti-
gesamten Fragenkomplex vgl. die ausführliche Darstellung E. Garins, Giovanni Pico della Mirandola, Firenze 1937, S. 169–193. 63 Vgl. Individuum und Kosmos, S. 108–112. 64 Ebd., S. 128. 65 Ebd., S. 6. 66 Ebd., S. 108. Vgl. außerdem S. Ferretti, Il demone della memoria, S. 91 f. 67 So in einem Brief an Fritz Schumacher vom 2. Oktober 1927, veröffentlicht in A. Warburg, Bildersammlung zur Geschichte von Sternglaube und Sternkunde im Hamburger Planetarium, hg. von U. Fleckner, R. Galitz, C. Naber und H. Nöldeke, Hamburg 1993, S. 44, (vgl. auch Ch. Schoell-Glass, Warburg über Grisaille. Ein Splitter über einen Splitter in Aby Warburg. Akten des internationalen Symposions, S. 207).
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sche »Geschichte der reinen Vernunft« dachte (wenn auch mit Blick auf Themen der Magie und Astrologie, die ein Mitarbeiter der »Bibliothek Warburg« unvermeidlich im Kopf behalten mußte), schien Warburg trotz seines ›Aufklärungsglaubens‹ sehr viel sensibler für den tragischen Konflikt zwischen Aberglauben und moderner Wissenschaft und insofern eher als Cassirer geneigt, den »bei weitem nicht unschuldigen oder über alle Zweifel erhabenen [ Charakter ] des sogenannten wissenschaftlichen ›Fortschrittes‹ « aufzugreifen, der hingegen »von magischen, hermetischen und mystischen Themen durchsetzt war«.68 In der Rekonstruktion Cassirers war diese Verflechtung zwar nicht ausgeblendet, aber doch überlagert von dem Versuch, dem Beginn einer kantischen »Revolution der Denkart«, die den Weg der wissenschaftlichen Vernunft geebnet hatte, auf die Spur zu kommen. In vielen der folgenden, verschiedentlich (aber nicht selten unspezifisch) durch die Lehre Warburgs inspirierten Forschungen, die sich mit der hermetischen Tradition, dem auf lange Zeit unlösbaren Verhältnis zwischen Magie und Wissenschaft, der Kontinuität von astrologischen Betrachtungsweisen und neuen Kosmologien beschäftigten, wurden die Strukturen der Vernunft jedoch häufig mit allzu großer Emphase in einer geschichtlichen Dimension verflüssigt, in der die Grenzen zwischen der modernen Wissenschaft und dem, was zu ihrer ›undurchsichtigen‹ Vorbereitung gehört, immer stärker verblaßten.69 Cassirer aber bediente sich auch in Individuum und Kosmos eines theoretischen Instrumentariums, das in seiner Nuanciertheit und geschickter Verbindung mit der historischen Darstellung noch an den Marburger Neukantianismus gebunden blieb. Vor allem in dem letzten, dem Problem des Selbstbewußtseins und des Subjekt-Objekt-Verhältnisses gewidmeten Kapitel fand Cassirer wieder zu der von ihm bevorzugten Terminologie zurück und erklärte, daß die psychologische Analyse allein das Verhältnis zwischen Körper und Seele, zwischen Geist und Natur,
E. Garin, Lo zodiaco della vita. La polemica sull’astrologia dal Trecento al Cinquecento, Roma-Bari 1976, S. 8 (wo die Pomponazziinterpretation Cassirers diskutiert wird). 69 Hier wird zur Erläuterung einer Forschungsrichtung das Beispiel F. Yates, Giordano Bruno and the Hermetic Tradition, London 1964, gegeben. Zur Diskussion der Thesen Yates’ vgl. vor allem P. Rossi, Immagini della scienza, Roma 1977, S. 169 ff., und die Bemerkungen von E. Garin, Divagazioni ermetiche, »Rivista critica di storia della filosofia«, XXXI, 1976, S. 462–466, und Ancora sull’ermetismo, »Rivista critica di storia della filosofia«, XXXII, 1977, S. 342–347. Zu Cassirers Position zu diesen Themen vgl. auch Mathematische Mystik und mathematische Naturwissenschaft, »Lychnos«, IV, 1940, S. 248–265. 68
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zwischen Freiheit und Notwendigkeit nicht erklären könne: Ein solches Verhältnis könne nur dann überzeugend formuliert werden, wenn es nicht bereits als eine Artikulation des Seins, sondern vielmehr als eine funktionale Korrelation verstanden werde, in der das Objekt nicht vom Subjekt ›kopiert‹ werde und das Subjekt seine eigene Spontaneität nur in einer aktiven Wechselbeziehung mit der Gesetzmäßigkeit der Objekterkenntnis begreife.70 Die moderne Wissenschaft von Leonardo bis Galilei sei diesen Weg gegangen, und Galilei nahm bei Cassirer entsprechend der von Natorp eingeführten Interpretation die Gestalt eines echten ›Platonikers‹ der Renaissancezeit an, der zur Mathematisierung der Natur auf die Methode der Hypothesenbildung und die apriorische Funktion der Idee zurückgegriffen hatte. Dies war ein neukantischer Galilei, der dennoch – um den Ausdruck Warburgs zu verwenden – einen »Denkraum der Besonnenheit« zu öffnen vermocht hatte, indem er zum lógon didónai eines vom Neuplatonismus befreiten Platonismus zurückgekehrt war und schließlich nach dem Zeitalter von Alexandria wieder Athen erobert hatte.71 Dennoch ist es nicht nur dieser Bezug zu Warburg, der deutlich werden läßt, inwiefern Cassirer eine Art Integration des eigenen theoretischen Ausgangspunkts und der charakteristischen Forschungen des Hamburger Umfeldes anstrebte. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang vor allem das Insistieren auf einer Analogie von Kunsttheorie der Renaissance und wissenschaftlicher Erkenntnis der Natur, die in der Suche nach der Form als Ordnung und Auswahl des empirischen Materials übereinstimmten, welche von der Naturwissenschaft initiiert worden war.72 Cassirer selbst gestand mit einer Würdigung des Beitrags Panofskys ein, daß »die Bedeutung, die dem ästhetischen Faktor in der Entdeckung des modernen Naturbegriff zukommt«, im Erkenntnisproblem noch nicht in ausreichender Klarheit erfaßt worden sei.73 Nun weisen jedoch Theorie der Kunst und Erkenntnis der Natur eine präzise Vgl. Individuum und Kosmos, S. 150 f. Ebd., S. 178. Zur Bedeutung, die Cassirer der Platonischen Lehre in der Kultur der Renaissance beimißt, vgl. Die Antike und die Entstehung der exakten Wissenschaft, »Die Antike«, XIII, 1932, S. 276–300. Zum ›platonischen‹ Galilei s. auch Das Erkenntnisproblem, I, S. 377–418; ECW 2, S. 314–350, sowie den ausgezeichneten Aufsatz M. Fichants, Ernst Cassirer et les commencements de la science classique in Ernst Cassirer. De Marbourg à New York, S. 118–140. 72 Vgl. Individuum und Kosmos, S. 161, 168, 172. 73 Ebd., S. 177, Anm. 1. Von Panofsky ist abgesehen von dem Aufsatz Idea von 1924, auf den ich später zurückkommen werde, die ausgezeichnete Studie Galileo as critic of Arts, The Hague 1954, zu vergegenwärtigen, die eine glänzende Darstellung dieses ›Parallelismus‹ von Wissenschaft und künstlerischer Anschauung bietet. 70 71
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strukturelle Korrespondenz auf: Der Übergang vom Raum als Aggregat und substanzielles Substrat zum reinen systematisch-funktionalen Raum verband die Entwicklung der Kosmologie von Cusanus bis Kepler mit der von Panofsky beleuchteten künstlerischen Entdeckung der Perspektive. In diesem Sinne sind Kunst und Wissenschaft für Cassirer zwei verschiedene Manifestationen einer geistigen Energie, die in der »heroischen Leidenschaft« Brunos ein neues Lebens- und Wirklichkeitsgefühl zelebrierte: die promethische Ausrichtung auf das Unendliche und die Affirmation des Menschlichen.74 Im Kontakt mit anderen Gelehrten, die über die Zusammenhänge zwischen den verschiedensten Bereichen arbeiteten und gerade in der Kultur der Renaissance ein geeignetes Terrain für eine neu zu schreibende Kulturgeschichte gefunden hatten, war Cassirer zu einer weiteren und dezidierteren geschichtlichen Perspektive gelangt, in der sich die Forderung nach Universalität mit dem Wissen darum verband, daß sich diese dennoch stets »in [ der ] konkreten Besonderung, in [ der ] letzte[ n ] Feinheit des historischen Details« zeige.75 Von diesem Gesichtspunkt aus ist es vielleicht mehr noch als Individuum und Kosmos das Buch von 1932, Die platonische Renaissance in England und die Schule von Cambridge (erschienen als XXIV. Band der »Studien der Bibliothek Warburg«), welches die Fruchtbarkeit der Zusammenarbeit Cassirers mit dem Warburg-Kreis dokumentiert. Doch ein enger Zusammenhang verknüpft beide Texte, und im Grunde führt der zweite den ersten im Rahmen einer immer weiter und anspruchsvoller angelegten Geistesgeschichte des modernen Europas fort. Bereits 1927, als Cassirer Cusanus und seine Beziehungen zu Italien bzw. die Beziehungen und den Austausch zwischen verschiedenen Kulturgebieten, zwischen der italienischen Frührenaissance und der deutschen Kultur diskutierte, verortete er sich in einem Problemkreis Warburgscher Provenienz. Besonders hob er hervor, daß mit der Ankunft Cusanus’ in Italien das erste Mal die Begegnung eines deutschen Gelehrten mit der italienischen Kultur statt gefunden hatte, die sich im Anschluß viele Male wiederholen sollte, als die Künstler des Nordens (von Albrecht Dürer an) die Alpen überquerten, um auf italienischen Boden und zu den Quellen der wiederentdeckten Antike zu gelangen.76 Nachdem Cassirer dem Einfluß Cusanus’ in Italien
Vgl. Individuum und Kosmos, S. 190–201. Ebd., S. 5. 76 Vgl. Individuum und Kosmos, S. 36. In Wirklichkeit spricht Cassirer nicht ausdrücklich von Dürer, aber der Bezug ist einigermaßen eindeutig, vor allem, wenn man an den Aufsatz Panofskys über Dürers Stellung zur Antike, »Jahrbuch 74
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und insbesondere auf die Entwicklung des Florentiner Neuplatonismus nachgegangen war, verfolgte er nun leidenschaftlich eine andere Spur. Er untersuchte, wie die Religiosität des Philosophen der docta ignorantia auf England übergegriffen hatte, den Humanismus Colets und ein ganzes Kapitel der europäischen Renaissance genährt hatte, das sich in »einer Art Metamorphose und Metempsychose« der Ideen, die aus der Begegnung Cusanus’ mit der italienischen Kultur entstanden waren, bis ins 18. Jahrhundert fortsetzte.77 Dies war die Motivation der Rekonstruktion der Platonrezeption und des Neuplatonismus in England, besonders aber der Schule von Cambridge, vor dem Hintergrund der großen geistigen und religiösen Bewegungen des 17. Jahrhunderts in England, die durch puritanische Strenge und philosophischen Empirismus gekennzeichnet waren, und inspirierte im Anschluß ebenfalls seinen Beitrag zum Überleben einer Platoninterpretation, die zu erneuern nur Leibniz – einem typisch Cassirerschen Leibniz – gelang.78 Von hier aus ergab sich schließlich der geschichtliche Einfluß einer philosophischen Weltanschauung, die trotz ihrer archaischen Anmutung auf die Werke Shaftesburys wirkte, sowohl auf den Brief über den Enthusiasmus als auch auf ein ästhetisches Verständnisses der Natur, das noch bei Herder, Schiller und Goethe nachklang.79 Es war ein faszinierendes Bild des europäischen Geistes, das aus der Verbreitung der Renaissance-Kultur »über die nationalen Grenzen und über die Grenzen der philosophischen Schulen« entstand80: zuerst von Italien nach Frankreich (aber ausgehend von Deutschland nach Italien), für Kunstgeschichte«, I, 1921–1922, S. 43–92, denkt. Von großer Bedeutung für die Hamburger Bibliothek waren im übrigen die Forschungen Warburgs über den künstlerischen Austausch zwischen Italien und den nordeuropäischen Ländern (vgl. bes. Flandrische Kunst und florentinische Frührenaissance und Austausch künstlerischer Kultur zwischen Norden und Süden im 15. Jahrhundert, jetzt in Die Erneuerung, S. 185–206, 177–184). All dies muß natürlich von der Legitimität der umstrittenen Cusanusinterpretation Cassirers getrennt betrachtet werden, die von zahlreichen Forschern von Baron bis Garin und Kristeller ausführlich kritisiert worden ist (Cassirer selbst gesteht später zumindest teilweise die Irrtümlichkeit einiger seiner Bewertungen ein): vgl. z. B. E. Garin, Giovanni Pico della Mirandola, S. 236, der von einem Cassirer spricht, der »ein bißchen sehr darum bemüht [ ist ], aus Cusanus die gesamte Renaissance entstehen zu lassen«, und H. Baron, Literaturbericht. Renaissance in Italien, »Archiv für Kulturgeschichte«, XXI, 1930–1931, S. 113 f. 77 Vgl. Die platonische Renaissance in England und die Schule von Cambridge, S. 12, 141. 78 Ebd., S. 108 f. 79 Ebd., S. 110 ff. Vgl. außerdem Shaftesbury und die Renaissance des Platonismus in England, »Vorträge der Bibliothek Warburg«, IX, 1930–1931, S. 136–155. 80 Individuum und Kosmos, S. 92.
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um sich dann auf die englische Kultur auszudehnen und schließlich – nach zahlreichen »Metamorphosen« im späten 18. Jahrhundert – zur deutschen Kultur zurückzukehren. Es handelte sich hierbei nicht um Dämonen oder Sternbilder, sondern abermals um eine Wanderung von Ideen im Sinne Warburgs, und es war eine kosmopolitische, universalistische Bewegung, was besonders dann an Bedeutung gewinnt, wenn man sich erinnert, daß Cassirer noch einmal 1932, d. h. im wahrhaft symbolischen Erscheinungsjahr der Philosophie der Aufklärung, und vor allem während des zu jener Zeit bereits irreversibel gewordenen Niedergangs der Weimarer Republik darauf hinwies.81 Eine so komplexe und weitreichende Angelegenheit – mahnte Cassirer, als er sein letztes für die »Bibliothek Warburg« verfaßtes Buch vorstellte – könne nur im Ausgang von dem Wissen verfolgt und dargestellt werden, daß »[ d ]er Weg der Geistesgeschichte [ … ] nicht von Gipfel zu Gipfel fort[ schreitet ]«, sondern sie einen Gang zu nehmen habe, der durch die Täler führt, aber nach und nach doch den Gipfelpunkt erreicht82: Der »liebe Gott« steckt nach Cassirer (in Differenz zu Warburg) nicht ausschließlich im »Detail«, ist jedoch auch nicht in die unerreichbare Ferne einer zeitlosen Idee verbannt. In diesem Sinne ist es nur als symptomatisch zu bezeichnen, daß Warburg am 1. August 1929 nach einem erhellenden Gespräch mit Cassirer über die ›Synderesis‹ bei Shakespeare mit Befriedigung in seinem Tagebuch vermerkt hatte: »Was wollen wir mehr? Heil! Gott im Detail!«83 4. Am Anfang von Individuum und Kosmos macht Cassirer darauf aufmerksam, daß das Hauptproblem seiner Beschäftigung darin bestehe, die Vielzahl der Themen, die für die Philosophie der Renaissance kennzeichnend sind, als »eine in sich geschlossene Einheit« zu begreifen, als ein Ganzes eines »begrifflich-symbolischen Ausdrucks«.84 Die Betrachtung der Renaissance als eine ›symbolische Form‹ ist dem gesamten WarKurz zuvor erschien auch der Aufsatz Deutschland und Westeuropa im Spiegel der Geistesgeschichte, »InterNationes«, I, 1931, Sp. 57 ff., 83 ff. (jetzt in Geist und Leben, S. 218–232). Zu einer immer noch aktuellen Bewertung der europäischen Aufklärung vgl. Die Philosophie der Aufklärung, S. XIII–XIV. 82 Die platonische Renaissance in England und die Schule von Cambridge, S. 140 f. 83 Zitiert nach Kosmopolis der Wissenschaft. E. R. Curtius und das Warburg Institute. Briefe und andere Dokumente, hg. von D. Wuttke, Baden-Baden 1989, S. 247. Zur berühmten Devise Warburgs (dessen wichtigste Quelle Usener zu sein scheint) vgl. vor allem W. S. Heckscher, Petites Perceptions: an Account of sortes Warburgianae, »The Journal of Medieval and Renaissance Studies«, IV, 1974, S. 101–134; D. Wuttke, Aby M. Warburgs Methode als Anregung und Aufgabe, S. 46 f., und R. Kany, Mnemosyne als Programm, S. 173 f. 84 Vgl. Individuum und Kosmos, S. 6 f. 81
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burg-Kreis gemeinsam; hier kommen sich die Forschungen Cassirers und diejenigen Warburgs, Saxls und Panofskys am nächsten. In diesen Rahmen, in dem bereits Warburgs Anmerkungen zu Dürer, den er als Symbol der humanistischen Wiedergeburt deutete, entstanden war, gehört das Buch von Saxl und Panofsky über Dürers »Melancholia. I.«. Dieser Text ist vielleicht für die gesamten Arbeit der Hamburger Bibliothek am repräsentativsten und in gewisser Hinsicht als komplementär zu Individuum und Kosmos zu betrachten. Zu seiner angemessenen Bewertung hat die folgende Ausarbeitung in Saturn and Melancholy jedoch nicht immer beigetragen. Letzteres ist gewiß ein sehr viel umfassenderes, gelehrteres und erschöpfenderes Werk, es verliert sich jedoch der Charakter symbolischer Beispielhaftigkeit, die Saxl und Panofsky in der ursprünglichen Version intendiert hatten. Für ein Verständnis der ›Philosophie‹ der »Bibliothek Warburg« (und insbesondere der Rolle Cassirers) ist es angebracht, stets die damalige Perspektive zu berücksichtigen und so eine Überlagerung durch Gesichtspunkte und Bewertungen (oder auch deren Veränderungen), die sich erst nach der Emigration der Bibliothek und seiner maßgeblichen Mitarbeiter ergeben haben, zu vermeiden. Saxl, der in späteren Jahren erklärt hatte, kein Philosoph zu sein und sich vielmehr vom »concrete historical material« angezogen zu fühlen, dessen Reichtum keine weitere Problematisierung erfordere,85 besaß zuvor eine sehr viel größere Aufmerksamkeit für die ›typischen‹ Elemente, hinsichtlich derer Warburg den Menschen der Renaissance betrachtete.86 Der lange Weg Saxls, auf dem er sich mit künstlerischen Darstellungen und astrologischen Symbolen beschäftigte, war kein bequemer Spaziergang eines Müßiggängers. Um 1912 herum hatte ihn seine Begegnung mit Warburg (und mit Boll) und die Loslösung von Wölfflin im Namen der Astrologiegeschichte zwischen Orient und Okzident zur Betrachtung des Verhältnisses von ›Stil‹ und ›Inhalt‹ – einem sicher nicht leicht zu lösenden Knoten – in der Übertragung der Planetendarstellungen angeregt.87 Später, in den 20er Jahren, mußte sich Saxl während der Vgl. F. Saxl, Continuity and Variation in the Meaning of Images [ 1947 ], jetzt in Lectures, I, S. 1. 86 Vgl. z. B. Rinascimento dell’antichità, S. 257, 260. 87 Vgl. vor allem F. Saxl, Einführung zum Verzeichnis astrologischer und mythologischer illustrierter Handschriften des lateinischen Mittelalters in römischen Bibliotheken, Heidelberg 1915, S. V–XVIII, und Beiträge zu einer Geschichte der Planetendarstellungen im Orient und im Okzident, »Islam: Zeitschrift für Geschichte und Kultur des islamischen Orients«, III, 1912, S. 151–177. Zur Begegnung Saxls und Warburgs vgl. auch G. Bing, Fritz Saxl in Fritz Saxl (1890–1948). A Volume of Memorial 85
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Beschäftigung mit der Darstellung von »our cultural consciousness from antiquity to modern times« nicht nur »into strange fields« einarbeiten, um zu bislang verborgenen Beziehungen vorzudringen, sondern ebenso jene ›Befreiung‹ des Menschen in der Renaissance, die Cassirer in Individuum und Kosmos aufgezeigt hatte, berücksichtigen.88 Nun jedoch stellte sich, so präzisierte Saxl 1930, »ein allgemeines geschichtsphilosophisches Problem«: Die historische Erkundung führte dazu, »allgemeine Schlüsse auf die Funktion des sozialen Gedächtnisses der Menschheit« zu ziehen.89 In diesem Punkt blieb Saxl Warburg treu und versuchte, seinen Ansatz zu erweitern, indem er die Funktion einer Psychologie der »Ausdrucksgebärden« für die Bildung von konstanten Darstellungsformen in der Kunst untersuchte: eine Psychologie als »symbolische Form« (die Verwendung des Cassirerschen Begriffs ist offensichtlich nicht zufällig), die den psychologischen Aspekt des »Kulturproblems der Renaissance« untersuchen und die Rolle des Symbols nicht als Endprodukt der geistigen Energie, sondern vielmehr als das Zentrum eines »psychophysischen Prozesses« erweisen sollte.90 Während sich der im weiteren Sinne philosophischer orientierte Saxl an der Seite Warburgs verortete, hatte Panofsky (und mit ihm sein bekannter Hamburger Schüler Edgar Wind) eine sehr viel ausgeprägtere Affinität zu Cassirer und eine echte philosophische Begabung erwiesen. Zu Beginn seiner akademischen Karriere in den frühen 20er Jahren in Hamburg trat Panofsky als brillanter Kunsthistoriker in Erscheinung, der von philosophischen Interessen geprägt und von Kant und dem Neukantianismus beeinflußt war. Dies zeigt der Aufsatz zum Begriff des Kunstwollens besonders gut, das er nicht als individuelle psychische Disposition, sondern als objektive geistige Kraft »in nicht mehr psychologischer, sondern gleichsam auch transzendental-
Essays from his Friends in England, edited by D. J. Gordon, London 1957, S. 5 ff. Auf die erste Phase der Tätigkeit Saxls geht S. Settis, Einleitung zu La fede negli astri, S. 7–40, ausführlich ein. 88 Vgl. The Belief in Stars in the Twelth Century [ 1929 / 1930 ], dann in Lectures, I, S. 94 f. 89 F. Saxl, Die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg in Hamburg [ 1930 ], jetzt in Ausgewählte Schriften und Würdigungen, S. 331. 90 F. Saxl, Die Ausdrucksgebärden der bildenden Kunst, jetzt in Ausgewählte Schriften und Würdigungen, S. 419–431: Es ist der Text einer Mitteilung an den XII. Kongreß der »Deutschen Gesellschaft für Psychologie«, der im April 1931 abgehalten wurde (auch Cassirer hatte daran teilgenommen und hielt seinen Vortrag Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt, von dem bereits im vorigen Kapitel die Rede war).
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philosophischer Bedeutung« verstanden wissen wollte.91 Panofsky stellte so die theoretische und methodologische Basis für einen originären Zugang zur Kunstgeschichte zur Verfügung, in dem sich eine Polemik gegen den Formalismus Wölfflins, eine Cassirer verwandte neukantische Orientierung und eine von Warburg beeinflußte, sorgfältige ›ikonographische‹ Forschung, die auch für Saxl charakteristisch war, vereinten. Das 1920 entworfene ›spekulative‹ Programm arbeitete er unter Berücksichtigung der ersten Arbeiten Winds und insbesondere dessen Dissertation von 1922 weiter aus. Diese war auf eine komplexe Systematisierung und Deduktion der Grundbegriffe, die der Transformation der Phänomene der Kunst in eigentliche »Probleme« zu Grunde liegen, ausgerichtet und wurde drei Jahre später in Auszügen veröffentlicht.92 1925 unterstrich Panofsky in einem seiner wichtigsten theoretischen Beiträge die Notwendigkeit einer Eidetik des Kunstwerks, die die ›antithetischen Pole‹ herausstellt, aus deren Spannung die einzelnen Phänomene der Kunst hervorgehen.93 Die Funktion der eidetisch-transzendentalen Strukturen bestand für Panofsky in der Konstitution eines »a priori legitimierten ›Reagens‹ «, das die »Erscheinungen zum Sprechen bringen« soll94; und dies, ergänzte Panofsky, sei schließlich das typische Problem der Geisteswissenschaften, die sich stets mit einer Spannung zwischen E. Panofsky, Der Begriff des Kunstwollens, »Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft«, XIV, 1920, S. 321–339, (dann in Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, hg. von H. Oberer und E. Verheyen, Berlin 1964, S. 40). Zu Panofsky (auch zu den Anfängen der Hamburger Zeit) s. Erwin Panofsky. Beiträge des Symposions Hamburg 1992, hg. von B. Reudenbach, Berlin 1994 (bes. S. 31–51) und den ausführlichen Überblick K. Michels, Erwin Panofsky und das Kunsthistorische Seminar in Die Geschichte der Juden in Hamburg, II, S. 383–392. Zum Werk Panofskys und seinem Verhältnis zu Cassirer vgl. die gut dokumentierte Monographie M. A. Hollys, Panofsky and the Foundations of Art History, Ithaca and London 1985 (vgl. auch die in Erwin Panofsky, Paris, Centre George Pompidou 1983, versammelten Beiträge). Ausführliche Untersuchungen über Panofsky finden sich auch in S. Ferretti, Il demone della memoria, S. 143–234, und in M. JesinghausenLauster, Die Suche nach der symbolischen Form, S. 105–136. 92 Vgl. E. Wind, Zur Systematik der künstlerischen Probleme, »Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft«, XVIII, 1925, S. 438–486 (bes. S. 438– 458). Zu Wind (der noch darauf wartet, angemessen erforscht zu werden) vgl. die sehr informativen Beiträge von B. Buschendorf, Einige Motive im Denken Edgar Winds, als Anhang zu E. Wind, Heidnische Mysterien in der Renaissance, Frankfurt am Main 1981, S. 396–415, und »War ein sehr tüchtiges gegenseitiges Fördern«: Edgar Wind und Aby Warburg, »Idea. Jahrbuch der Hamburger Kunsthalle«, IV, 1985, S. 165–209. 93 Vgl. Über das Verhältnis der Kunstgeschichte zur Kunsttheorie, »Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft«, XVIII, 1925, S. 129–161 (jetzt in Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, S. 49–75). 94 Ebd., S. 56, 64. 91
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dem Fluß der historischen Ereignisse und der metahistorischen Ebene, die ihre Bedeutung erklärt, konfrontiert sehen.95 Indem Panofsky auch in der Kunstgeschichte die Geltung eines Prinzips herausstellte, nach dem die unmittelbare Erfahrung »stumm« ist, während die einzelnen Phänomene im Grunde »mögliche Ergebnisse notwendiger Bedingungen«96 sind, brachte er (ebenso wie Wind) eine bezeichnende Übereinstimmung mit der Transzendentalphilosophie Cassirers zum Ausdruck, der sich noch in Zur Logik der Kulturwissenschaften nicht nur zufällig gerade mit dem dynamischen Verhältnis zwischen der Entwicklung des geschichtlichen Lebens und der Stabilität der Begriffe, die die Phänomene in ihrer Individualität ›fixieren‹ sollen, beschäftigte. Für Cassirer war der Stilbegriff (im Sinne Wölfflins wie auch Panofskys) ein geeignetes Instrument zur Klassifikation und Unterscheidung der einzelnen Bereiche der Kulturwissenschaft. Durch ihn wurde es möglich, Strukturen herauszuarbeiten, die dazu geeignet sind, Fakten zu ordnen. Festgehalten werden muß jedoch, daß Fakten in »reinem« Zustand nicht existieren, sondern nur Phänomene, die stets auf »bestimmte begriffliche Voraussetzungen« bezogen werden.97 Dennoch erschöpfte sich Panofskys Arbeit nicht in der methodischtranszendentalen Grundlegung der Geschichte und Theorie der Kunst. Große Gelehrsamkeit und Scharfsinn bewies er auch auf konkreten Forschungsfeldern. Ein besonders interessantes Dokument ist in diesem 95
Ebd., S. 67. E. Panofsky, Probleme der Kunstgeschichte, »Idea. Jahrbuch der Hamburger Kunsthalle«, VII, 1988, S. 7–13 (hier S. 8, 10 f.): Es handelt sich um einen Aufsatz, der zuerst in der »Deutschen Allgemeinen Zeitung« vom 17. Juli 1927 erschienen war. 97 Zur Logik der Kulturwissenschaften, S. 17 ff., 59 ff. Nicht zu vergessen ist diesbezüglich, was Wind in dem Cassirer gewidmeten Band sagt, wo er den fruchtbaren »methodischen Zirkel« darstellt, in dem jede Form von Erkenntnis (der Natur wie des ›Geistes‹) sich vollzieht: »[ T ]he information which one tries to gain with the help of the document ought to be presupposed for ist adequate understanding« (Some points of Contact between History and Natural Science in Philosophy and History, S. 255–264, S. 257). Aber in diesem scharfsinnigen Beitrag ist ebenfalls auf die stark von Cassirer geprägte Einführung in den Zusammenhang Natur / Geschichte hinzuweisen: Im Gegensatz zur Position Diltheys, Windelbands und Rickerts weist Wind jede Entgegensetzung zurück und favorisiert statt dessen ihre wesentliche methodische Einheit (S. 255 f.; vgl. auch S. 262 f. mit dem bezeichnenden Hinweis auf die Hermeneutik). Zu den Problemen des ›methodischen Zirkels‹ vgl. vor allem E. Wind, Das Experiment und die Metaphysik, Tübingen 1934, S. 1–44 (zu diesem Buch sei verwiesen auf M. Ferrari, Il neocriticismo tedesco e la teoria della relatività, S. 272 f.). Zu dem Verhältnis zwischen Wind und Cassirer vgl. E. Wind, Microcosm & Memory, »The Times Literary Supplement«, LVII, n. 2935, 30 May 1958, S. 297 (aber auch Contemporary German Philosophy, »The Journal of Philosophy«, XXII, 1925, S. 483–488). 96
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Sinne der elegante Band Idea von 1924, der ursprünglich als historische Fortführung von Cassirers Eidos und Eidolon konzipiert war, dann jedoch schnell zu einer eigenständigen Abhandlung geworden war.98 Unter Bezugnahme auf umfangreiches Material nahm Panofsky den Diskurs an dem Punkt wieder auf, an dem Cassirer abgebrochen hatte, um den Reflexionsprozeß über das Verhältnis zwischen dem künstlerischen Schaffen und der Idee des Schönen von der Antike bis zum Manierismus und Klassizismus des gesamten Seicento darzustellen.99 Mit diesem umfassenden Bild schrieb Panofsky nicht nur ein Kapitel Ästhetikgeschichte, sondern warf den großen Problemkomplex des Subjekt-Objekt-Verhältnisses wieder auf, indem er die Spannung zwischen einem nachahmenden Realismus und den idealisierenden Tendenzen vergegenwärtigte, die im Zentrum der Warburgschen Reflexion standen. So schien ihm – im Unterschied zu der Interpretation Cassirers – die Verschmelzung von Natürlichkeit und Schönheit in den Kunsttheorien der Renaissance auf der Unterscheidung des Objekts von der »inneren Vorstellungswelt des Subjekts« gegründet zu sein, was eine unverzichtbare Voraussetzung für die Berücksichtigung der »Gesetze« der genauen Nachbildung der Wirklichkeit durch den Künstler darstellte.100 Während Panofsky bei den Theoretikern und in den Traktaten des manieristischen Zeitalters die (zwar stets von Unsicherheit bedrohte) Vorherrschaft des Subjekts über das Objekt ausmachte,101 wurde der Klassizismus unter dem Zeichen der Reaktion auf den manieristischen Subjektivismus und den am Stil Caravaggios orientierten Naturalismus betrachtet, d. h. als ein Versuch, ein Gleichgewicht zwischen den »logischen Gegensätzen« des Idealismus und des Naturalismus zu finden.102 Es ist das Thema dieser Polarität, mit
Vgl. E. Panofsky, Idea. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie (= »Studien der Bibliothek Warburg«, V), Leipzig 1924. 99 Es ist nicht überflüssig, darauf hinzuweisen, daß Panofsky am Anfang dieses komplizierten historischen Prozesses eine Plotininterpretation vorlegte, die sich von derjenigen Cassirers unterschied: Da die ursprünglich »philosophischtranszendentale« Bedeutung der Platonischen Idee sich im Neuplatonismus und der christlichen Philosophie in eine »Logik des göttlichen Denkens« transformiert, verliert das Schöne gerade durch seine metaphysische Natur, die es zur einfachen Nachahmung degradiert, in der Tat jegliche Autonomie (ebd., S. 16, 19). Vgl. dagegen E. Cassirer, Eidos und Eidolon, S. 27, wo der kreative Aspekt des Schönen bei Plotin unterstrichen wird. 100 Idea, S. 25 f. Vgl. dagegen Individuum und Kosmos, S. 174, Anm. 1, wo Cassirer den apriorischen Charakter der Idee der Schönheit in den Kunsttheorien der Renaissance unterstreicht. 101 Vgl. Idea, S. 44. 102 Ebd., S. 62. 98
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dem Idea schließt: Wie in der Erkenntnistheorie »Abbildtheorie« und »Konzeptualismus« ein »dauerndes Schwanken« zwischen der wundertätigen Kraft der Idee und der Reproduktion eines ›Dinges an sich‹ dargestellt haben, so ist in der Kunsttheorie der Gegensatz von Idealismus und Naturalismus ständig wieder aufgetaucht. Nach Kant (im Bereich der Erkenntnistheorie) und nach Riegl seien wir jedoch – so schließt Panofsky –, was die Kunsttheorie betrifft, in der Lage zu verstehen, daß jene Entgegensetzung eine dialektische Antinomie sei, deren Fruchtbarkeit darin bestehe, das theoretisch-künstlerische Denken genährt zu haben, und deren Unlösbarkeit sich so in einen mächtigen Anreiz verwandelt habe, von einer Alternative zur anderen überzugehen.103 Während Panofsky in Idea versucht hatte, die Warburgsche Polarität von Nachahmung und Idealisierung mit der Entwicklung der SubjektObjekt-Korrelation in Sinne der Kantischen Antinomie zu kombinieren, gelang ihm erst in dem folgenden, berühmten Aufsatz über die Perspektive als symbolische Form eine ›offizielle‹ Assimilierung der Philosophie Cassirers.104 Es handelt sich hier jedoch um eine recht freie Verarbeitung, da es für Panofksy nicht die Kunst im allgemeinen ist, sondern eines ihrer spezifischen Stilmomente, das als »symbolische Form« interpretiert wird: als geistige Bedeutung, die in einem sinnlichen Zeichen zum Ausdruck kommt.105 Die ›operative‹ Verwendung des Begriffs der symbolischen Form106 wurde jedoch für Panofsky nicht so sehr auf der allgemeinen Ebene einer Philosophie der symbolischen Formen oder einer Grundlegung der Kunstwissenschaft fruchtbar, sondern aus der Sicht der Interpretation der räumlichen Form. Unter Bezugnahme auf die Cassirersche
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Ebd., S. 71 f. Im Unterschied zu Cassirer glaubt Panofsky folglich nicht, daß die Philosophie mit einer Auflösung der dialektischen Antinomie schließen müsse: »Diese Lösungen in ihrer Verschiedenartigkeit zu erkennen und von ihren historischen Voraussetzungen aus zu begreifen, wird der geschichtlichen Betrachtung auch dann nicht wertlos erscheinen, wenn die Philosophie das ihnen zugrundeliegende Problem als ein seiner Natur nach der Lösung sich versagendes erkannt hat.« Vgl. hierzu auch S. Ferretti, Il demone della memoria, S. 175 f. (Ich möchte hier darauf hinweisen, daß ich zu diesem besonderen Aspekt eine frühere, von derjenigen Silvia Ferrettis abweichende Bewertung modifiziert habe, wenngleich ihre Interpretation im allgemeinen Bedenken erregt, die ich in meinem Aufsatz Il tempo e la memoria. Warburg, Cassirer e Panofsky in una recente interpretazione, »Rivista di storia della filosofia«, XLII, 1987, S. 305–319, zum Ausdruck gebracht habe). 104 Vgl. E. Panofsky, Die Perspektive als »symbolische Form«, »Vorträge der Bibliothek Warburg«, IV, 1924–1925, S. 258–300 (= Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, S. 99–167). 105 Ebd., S. 108. 106 Vgl. M. Jesinghausen-Lauster, Die Suche nach der symbolischen Form, S. 124.
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Philosophie des Raumes und insbesondere auf die Entgegensetzung von homogenem und idealem Raum der Geometrie und jenem »anisotropen« und »inhomogenen« der taktil-visuellen Wahrnehmung bemerkte Panofsky, daß die »exakt-perspektivische Konstruktion grundsätzlich« von der »Struktur des psychophysiologischen Raumes abstrahiert«. In der perspektivischen Konstruktion werde der psychophysiologische Raum in den homogenen und mathematischen Raum verwandelt, den das Raumerlebnis nicht kenne.107 Die Perspektive erscheine daher als das Resultat eines Rationalisierungsprozesses des Raumes, in dessen Verlauf sowohl diverse räumliche Anschauungen als auch historisch-kulturelle Motivationen, die die Form der Raumerfahrung bedingen, zusammenwirken. Für Panofsky führt die Auflösung jedes substanziellen und akzidentellen Elements des Raumes im Zeitalter der Renaissance und seine Transformation in eine unabdingbare Voraussetzung der künstlerischen Darstellung nicht nur zu einer Veränderung der Regeln der Malerei, sondern zu einer allgemeinen geistigen Umwälzung. Der auf einen einzigen Fluchtpunkt zurückgeführte, unendlich ausgedehnte Raum, der in der modernen Perspektive zum Ausdruck komme, trage zu einer Überwindung des aristotelischen Kosmos bei. Er stimme überein mit dem »unendlichen« Raum von Cusanus und vor allem mit dem unendlichen Raum des Heliozentrismus Brunos, in dem bereits die Rationalisierung Descartes’ und die Formalisierung Kants vorweggenommen worden seien. In der neuen perspektivischen Sichtweise komme folglich dieselbe kulturelle Situation zum Ausdruck, die das Entstehen der modernen Wissenschaft befördert habe, oder besser die Rationalisierung des visuellen Eindrucks, der Triumph der menschlichen Subjektivität und ihrer Fähigkeit zur Konstitution des Wirklichen in rein funktionalen Formen: der Triumph der »modernen Anthropokratie«.108 Der Aufsatz über Die Perspektive als »symbolische Form« dokumentiert exemplarisch, worin der Versuch, eine Kunstgeschichte ohne »Autarchieanspruch« zu schreiben, besteht,109 und stellt zugleich das Moment
Vgl. Die Perspektive als »symbolische Form«, S. 101. Für die Stelle bei Cassirer, auf die Panofsky sich bezieht, vgl. Philosophie der symbolischen Formen, II, S. 104 f.; ECW 12, S. 98 f. In Wirklichkeit greift Cassirer seinerseits bei der Unterscheidung von »anisotropem« und »homogenem« Raum auf Mach zurück: ein Bezug, der, wenn man nur den Text Panofskys liest, nicht erkennbar wird (vgl. E. Mach, Erkenntnis und Irrtum, Leipzig 1905, S. 334). 108 Ebd., S. 122–126. Zu dem Begriff des ›Unendlichen‹ bei Cusanus verweist Panofsky auf Anregungen Cassirers (vgl. auch Individuum und Kosmos, S. 192, Anm. 1, wo Cassirer seinerseits den Ergebnissen zustimmt, zu denen Panofsky gelangt war). 109 E. Panofsky, Probleme der Kunstgeschichte, S. 9. 107
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größter Nähe von Cassirer und Panofsky dar. Im übrigen fand der fruchtbare Dialog mit Cassirer auch in der Diskussion über den Raum auf dem Hamburger Ästhetikkongreß 1930 eine Bestätigung. Bei dieser Gelegenheit hatte Cassirer die Besonderheit des ästhetischen Raumes, der die Anschauung organisiert, erläutert, und zwar nicht, indem er, wie im Bereich der wissenschaftlichen Erkenntnis, bereits auf einen Begriff rekurriert, sondern vielmehr auf die Form, die in der Phantasie und dem Gefühl zum Ausdruck kommt. Unter den verschiedenen Raumkonstruktionen (es existiert in der Tat kein Raum an sich, sondern nur eine Pluralität verschiedener räumlicher Formen des theoretischen Denkens, des Mythos und der Kunst) teilt die ästhetische mit der mythischen den Lebensraum, unterscheidet sich von dieser jedoch darin, daß das Ich hier bereits ›Distanz‹ vom Wirklichen gewonnen hat und nicht mehr in den Kreis magischer Kräfte hineingezogen wird, die den Menschen beunruhigen und bedrohen: Daher ist gerade die räumliche Dimension der Kunst »ein Inbegriff möglicher Gestaltungsweisen, in deren jeder sich ein neuer Horizont der Gegenstandswelt aufschließt«.110 Panofsky seinerseits stimmte (indem er sich auf den »methodischen Zirkel« bezog, dem die Interpretation der Kunstphänomene unterworfen ist) mit Cassirer völlig überein und vertrat die Auffassung, daß kein Kunstwerk durch Begriffe bestimmt werden könne und seine Beschreibung ebensowenig bereits eine »stillschweigende Voraussetzung« von etwas impliziere, das man in der Beschreibung des Objekts finden will. In diesem Sinne impliziere die Behauptung, eine Kirche sei gotisch, eine Bezugnahme auf eine spezifische Qualifikation des »ästhetischen Raums«, der eine Art Koordinatensystem darstelle, in dem der Kunsthistoriker das zu erforschende Objekt genauso verorte wie der Physiker das seine im theoretischen Raum.111 Panofsky stützte sich auf Cassirer (und auf Wind) und konnte so die Voraussetzungen jener »ikonologischen« Forschung entwerfen, die er in den darauffolgenden Jahren durchführte: im Ausgang sowohl von einer – hinsichtlich der Untrennbarkeit von Form und Inhalt der von den ›Kulturwissenschaften‹ untersuchten Phänomenen – durch Cassirer geprägten Perspektive als auch von einer Umarbeitung des Problems der komplexen ›Schichtung‹ der künstlerischen Darstellung als Trägerin
Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum, S. 106. Der Beitrag Panofskys ist im Anhang von Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum, S. 115–117, abgedruckt worden (aber zum raum-zeitlichen Referenzsystem s. auch Panofskys Aufsatz von 1927 Zum Problem der historischen Zeit, jetzt in Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, S. 77–83). 110 111
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symbolisch ausgedrückter kultureller Phänomene.112 Es sind die Themen der berühmten Einleitung der Studies in Iconology von 1939, in der Panofsky die Untersuchungsebenen in Anlehnung an drei verschiedene Bedeutungsebenen gliederte: präikonographische Beschreibung, ikonographische Beschreibung im engeren Sinne und schließlich Ikonologie, d. h. Verständnis der eigenen »symbolischen Werte« eines Kunstwerkes als Ausdruck einer historisch determinierten philosophischen, religiösen und kulturellen Betrachtungsweise. Letzterer Aspekt, stellt Panofsky klar, könne jenseits aller interpretatorischer Beliebigkeit auf der Basis einer Erkenntnis »[of] the manner in which, under varying historical conditions, the general and essential tendencies of the human mind were expressed by specific themes and concepts« beleuchtet werden. Dies macht eine Symbolgeschichte im Sinne Cassirers aus.113 Panofsky kehrte so zum Verständnis der künstlerischen Vorstellung als einer fortschreitenden Bestimmung, als Ergebnis eines aktiven Bedeutungsprozesses zurück, der a priori eine Struktur beinhalte. Zugleich knüpfte er in der Überzeugung an Cassirer an, daß in den Bildern der Kunst eine Pluralität von Bedeutungen und Zusammenhängen existiere, die auf eine kontrollierbare Struktur zurückzuführen sei, und zwar jenseits von einem ästhetischen Emotivismus, der beabsichtigt, die Vergangenheit anhand einer unmittelbaren Anteilnahme auf etwas zurückzuführen, das im Gegenteil stets das Ergebnis einer komplexen, zuweilen rätselhaften und anspielungsreichen Vermittlung ist.114 Die Ikonologie Panofskys, ihre philosophischen Wurzeln und Einflüsse lassen sich jedoch zu einem nicht geringen Teil innerhalb eines Kontextes verorten, der sich über den ursprünglichen Bereich der »Bibliothek Warburg« hinaus erstreckte und ebenfalls die Übertragung auf andere ›Kulturtraditionen‹ beinhaltete. Gerade Panofsky hat aufschlußreiche Texte zu diesem Thema geschrieben.115 In der Tat stellt die Emigration der deutVgl. diesbezüglich bereits das Vorwort Panofskys zu seinem Hercules am Scheidewege (= »Studien der Bibliothek Warburg«, XVIII), Leipzig 1930, S. VII–XI. 113 Vgl. E. Panofsky, Iconography and Iconology: An Introduction to the Study of Renaissance Art in Studies in Iconology. Humanistic Themes in the Art of the Renaissance, New York 1939, S. 3–31, mit bedeutenden Varianten wiederabgedruckt in E. Panofsky, Meaning in the Visual Arts, Chicago 1982, S. 26–54, hier S. 39. 114 Cassirer schreibt im Essay on Man an einer Stelle, die stark an Panofsky erinnert: »Every work of art has an intuitive structure, and that means a character of rationality. Every single element must be felt as part of a comprehensive whole« (An Essay on Man, S. 167). Zu den Übereinstimmungen zwischen Cassirer und Panofsky in diesem Sinne vgl. K. Gilbert, Cassirer’s Placement of Art in The Philosophy of Ernst Cassirer, S. 624. 115 Vgl. The History of Art in The Cultural Migration: The European Scholar in America, Philadelphia 1953, S. 82–111. Zur Entwicklung der Ikonologie vgl. auch 112
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schen Intellektuellen nach 1933 auch für die Hamburger Bibliothek, die bekanntermaßen mit den sich überstürzenden Ereignissen gezwungen war, Hitlerdeutschland zu verlassen, um nach London überzusiedeln, wo sie dank der mutigen Initiative Saxls und der Familie Warburgs im Mai 1934 wiedereröffnet wurde, eine große und dramatische Zäsur dar. So endete ein ganzes Kapitel intellektueller Geschichte der 20er Jahre, und jene »Arbeitsgemeinschaft«, zu der Cassirer und Warburg, Saxl und Panofsky, Wind und Klibansky gehörten, zerstreute sich immer weiter. »[ D ]er strenge Empirismus und die kultivierte Einbildungskraft gerade des Stils Warburgs waren die reinste Antithese zu dem brutalen Antiintellektualismus und vulgären Mystizismus, die im Laufe der 20er Jahre die deutsche Kultur barbarisch bedrohten. Dies war das bessere Weimar«, schreibt Peter Gay.116 Mit dem Ende der Weimarer Republik begann eine düstere, tragische Zeit, die Cassirer – dem ›Olympier‹ Cassirer – die Qualen und die Erschütterung der ›Heimatlosigkeit‹ aufzwang. Das Deutschland, das er, um einen Ausdruck Croces zu verwenden117, »geliebt hatte«, das Deutschland Goethes und Schillers, Kants und Humboldts, stürzte in eine tiefe Nacht, und die Hamburger Zeit prägte sich der Erinnerung als ein glücklicher, jäh unterbrochener Abschnitt ein.118 Aby Warburg blieb diese schmerzhafte Zäsur erspart. Er starb am 26. Oktober 1929 inmitten der Arbeit, die ihn nach dem Sieg über seine Krankheit intensiv beschäftigt hatte: dem kühnen Projekt eines Atlasses des visuellen Ausdrucks in der mediterranen Kultur, der im emblematischen Titel Mnemosyne die Bedeutung seines ganzen Forscherlebens verdichtete und in dem er nicht nur die Vollendung von mehr als 30 Jahren Arbeit sah, sondern gewissermaßen das Symbol einer wiedererlangten
C. Ginzburg, Da A. Warburg a E. H. Gombrich (Note su un problema di metodo), »Studi Medievali«, III, Bd. VII, 1966, S. 1015–1065. 116 P. Gay, La cultura di Weimar, Bari, Dedalo, 1978, S. 59. 117 Vgl. B. Croce, La Germania che abbiamo amato [ 1936 ], später in Pagine sparse, II, Bari 1960, S. 510–520. 118 »Ich werde«, schrieb Cassirer in einem Brief vom 16. November 1933 aus Oxford an von Melle, den Hamburger Bürgermeister, »die Jahre meiner akademischen Tätigkeit in Hamburg nicht vergessen; und wie immer mein Schicksal sich gestalten mag, so wird der Dank für all das, was ich diesen Jahren [ … ] schulde, ungeschädigt in mir weiterleben.« (Der Brief wird im Nachlaß von Melles in der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek verwahrt. Denselben Tenor hat auch der Brief Toni Cassirers an von Melle vom 14. November 1933 und von Panofsky vom 3. Juli 1933). Zu den persönlichen und akademischen Angelegenheiten Cassirers im schicksalhaften Jahr 1933 vgl. T. Cassirer, Mein Leben mit Ernst Cassirer, S. 189 ff., und C. Naber, Der Hamburger Kreis um Ernst Cassirer und Aby Warburg, S. 401 ff.
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Kreativität nach der Leidenszeit in Kreuzlingen.119 In den letzten Jahren seines Lebens hatte Warburg jedoch auch an einem anderen, für ihn bezeichnenden Thema intensiv gearbeitet, und zwar an der Sammlung von Material, das für eine Ausstellung über den Sternenglauben und die Wissenschaft des Himmels des Hamburger Planetariums bestimmt war, die im April 1930 eröffnet wurde. Sie dokumentiert abermals eine komplexe Wanderung der Ideen und Bilder durch Jahrhunderte im Hinblick auf eine »Psychologie der menschlichen Orientierung im Kosmos«, eine Gesamtsicht der »Entwicklung des geistigen Orientierungs-Apparates«, eine »Kulturpsychologie«, konzentriert auf die Anstrengung, die die Menschheit »immer von Neuem« leisten muß, um sich von der Magie zu befreien und zur »abstrakten Logik der wissenschaftlichen Betrachtung« zu erheben.120 Dies war im Grunde das deutlichste Zeugnis des ›Aufklärers‹ Warburg, vor allem jedoch die Bestätigung einer Linie, die, wenn auch mit großen Differenzen, Warburg und Cassirer in der Verteidigung der immer stärker bedrohten Vernunft verband, die schon bald verfolgt und verbannt werden sollte.121 Nicht umsonst hatte Warburg, als sich die Möglichkeit abzeichnete, daß Cassirer Hamburg verlassen würde, einen aufrüttelnden Zeitungsartikel geschrieben, um zu erklären, warum Hamburg »den Philosophen Cassirer nicht verlieren darf«, den »Pionier«, der »das Wesen des Symbols als Substrat einer Gesamtphilosophie« heraus-
Vgl. diesbezüglich E. H. Gombrich, Aby Warburg, S. 283–306, und M. Warnke, Der Leidschatz der Menschheit wird humaner Besitz in W. Hofmann, G. Syamken, M. Warnke, Die Menschenrechte des Auges. Über Aby Warburg, Frankfurt am Main 1980, S. 113–186. 120 Vgl. Bildersammlung zur Geschichte von Sternglaube und Sternkunde im Hamburger Planetarium, S. 38, 43, 58 f., 60 passim (und s. F. Saxl-G. Bing, Die Bildersammlung zur Geschichte von Sternglaube und Sternkunde, ebd., S. 174 ff.). Zu dieser Ausstellung, an der Warburg sehr viel lag, vgl. auch U. Fleckner, »… von kultischer Praktik zur mathematischen Kontemplation – und zurück« in Aby Warburg. Akten des internationalen Symposions, S. 313–334). 121 Vgl. insbesondere die berüchtigte Rezension Martin Raschs der Kulturwissenschaftlichen Bibliographie zum Nachleben der Antike, von Wind 1934 herausgegeben: der Text der Rezension, die im Januar 1935 mit dem unzweideutigen Titel Juden und Emigranten machen deutsche Wissenschaft im »Völkischen Beobachter« erschien, ist wiederabgedruckt worden in Kosmopolis der Wissenschaft, S. 295–299 (und vgl. S. 281– 293, wo ebenfalls die wichtige Einleitung von Wind zur Kulturwissenschaftlichen Bibliographie nachgedruckt wurde). Zu diesem dramatischen Abschied des WarburgKreises von Deutschland s. die informative Studie von B. Buschendorf, Auf dem Weg nach England. Edgar Wind und die Emigration der Bibliothek Warburg in Porträt aus Büchern. Bibliothek Warburg und Warburg Institute. Hamburg – 1933 – London, hg. von M. Diers, Hamburg 1993, S. 85–128. 119
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gestellt hatte.122 Auch dies hatte Cassirer möglicherweise im Sinn, als er in der Grabrede für Warburg dessen außerordentlichen Einsatz für die Gründung der Hamburger Universität ins Gedächtnis rief, deren »lebendiger Mittelpunkt« und »Brennpunkt« er im Bereich der Geisteswissenschaften gewesen war.123 Leider wurde die junge Institution und die Bibliothek, die er zu ihrem geistigen Pendant gemacht hatte, von den wiedererwachten dämonischen Kräften überrollt, gegen die weder die Ironie Panofskys, noch – wie Wind polemisch beklagte – der idealistische Humanismus Cassirers etwas hatte ausrichten können.124 Wenn Hamburg in den 20er Jahren ein »Arkadien« der Intelligenz gewesen war, bekam Panofsky Recht mit seiner Ahnung, daß ›auch in Arkadien der Tod wohne‹. Zu diesem Thema schrieb er einen faszinierenden Aufsatz, der in einem Cassirer zum 60. Geburtstag gewidmeten Band veröffentlicht wurde.125 Im übrigen war dieses an Beiträgen von erstrangigen Repräsentanten der europäischen Kultur (wenn auch gelegentlich Wissenschaftler darunter waren, die ein einigermaßen äußerliches Verhältnis zu Cassirer hatten) so reiche Buch nicht nur eine Würdigung des Verhältnisses zwischen Philosophie und Geschichte, das in diesem Zusammenhang den wesentlichen Charakter des Cassirerschen Werkes ausmachte,126 sondern bot darüber hinaus viele Beiträge von früheren Hamburger Kollegen und Schülern Cassirers: z. B. von Saxl, Panofsky, Wind und Klibansky. Unter diesem Gesichtspunkt stellt Philosophy and History vielleicht das letzte Zeugnis dessen dar, was die »Bibliothek Warburg« in ihrer ›deutschen‹ Zeit gewesen war, und markiert in vielerlei Hinsicht einen Übergangspunkt sehr unterschiedlicher Kontexte. Während das Werk Warburgs in den ersten beiden Bänden der von Bing 1932 herausgegeben Gesammelten Schriften, die nicht fortgeführt wurden, verschlossen lag, wies Saxl ausgerechnet in der Festschrift für Cassirer darauf hin, daß die Wahrheit eine filia temporis sei: Den abstrakten Theorien, die sich nur schwerlich in Bilder übersetzen lassen, scheinen die konkreten, unvermittelter
A. Warburg, Ernst Cassirer. Warum Hamburg den Philosophen Cassirer nicht verlieren darf, »Hamburger Fremdenblatt«, Nr. 173, 23. Juni 1928. Zu dieser Episode s. C. Naber, Der Hamburger Kreis um Ernst Cassirer und Aby Warburg, S. 399 ff. 123 Vgl. Worte zur Beisetzung von Professor Dr. Aby M. Warburg, S. 15. 124 Vgl. E. Wind, Das Experiment und die Metaphysik, S. VI. 125 Vgl. E. Panofsky, »Et in Arcadia Ego«: On the Conception of Transcience in Poussin and Watteau in Philosophy and History, S. 223–254. Vgl. auch O. Bätschmann, »Pan deus Arcadiae venit«. Panofsky und Poussin in Erwin Panofsky. Beiträge des Symposions, S. 71–82. 126 Vgl. Philosophy and History, S. VII. 122
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darzustellenden menschlichen Situationen überlegen zu sein.127 Aber in der Tat entzog sich Saxls Bezug auf Bilder und Symbole einer kategorialen Strukturierung. Er beschäftigte sich mit ihrer Geschichte durch Jahrhunderte hindurch, zwischen Entstehen und Entwicklung, Zyklen und Wiederholungen, die den langen Weg der europäischen Menschheit kennzeichnen.128 Vielleicht war der Grund, warum Cassirer, als er im Mai 1936 zu der in London wiedereröffneten Bibliothek in der Absicht zurückkehrte, einen philosophischen Dialog mit Warburg führen wollte, daß er mit ihm ein Werk begrüßte, »[ that ] is based on an amazing and tremendous knowledge of empirical facts, but at the same time it is directed toward an general philosophical aim and it is inspired by a rare energy of philosophical thought«: einer ›Energie‹, die sich dennoch auf einem Weg manifestierte, der »always remained the way of an historian and of an anthropologist«.129 Und doch zeigt Cassirer im Erkennen dieser philosophischen Dignität Warburgs und in der Distanzierung von der Reduktion der Wahrheit auf eine bloße ›Tochter der Zeit‹, daß er das Warburgsche Werk nicht als ein gebildetes, in sich abgeschlossenes Werk betrachtete, sondern es vielmehr aus der Perspektive einer Kulturphilosophie schätzte, die nicht bei den einzelnen Fakten stehenbleiben kann, sondern stets nach den »mental activities that are required in order to produce these works« fragen muß. Hier bezog Cassirer sich auf Kant, aber auch auf Hegel, und bemerkte, daß dasselbe Schlüsselwort des Warburgschen ›Programms‹ – Mnemosyne – im Sinne der Hegelschen Problematik der Erinnerung interpretiert werden könne, d. h. im Sinne eines Geistes, der sich seiner selbst über die Erinnerung seiner phänomenologischen Gestalten bewußt werde. Wie Hegel war auch Warburg überzeugt, daß das Verständnis der Formen der menschlichen Kultur nur möglich sei, wenn man »the recollection and reconstruction of its origin« ins Zentrum stellt.130 Cassirer verortete Warburg so in dem Londoner Vortrag von 1936 mit einem Gestus von Assimilierung und Abschied zugleich zwischen Kant und Hegel.131 Auch an ihrem neuen, englischen Standort, in den Vgl. F. Saxl, Veritas filia Temporis in Philosophy and History, S. 197–220. Vgl. The Capitol during the Renaissance. A Symbol of the Imperial Idea, nun in Lectures, I, S. 213 f. 129 Critical Idealism as a Philosophy of Culture in Symbol, Myth, and Culture, S. 78. 130 Ebd., S. 79 ff. 131 Dies gilt übrigens auch für den letzten Bezug auf Warburg, der sich bei Cassirer findet, und zwar für die Stelle in Zur Logik der Kulturwissenschaften, in 127 128
Eine ›gefährliche‹ Bibliothek
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Mauern des wiedergeborenen »Warburg-Institute« und weit entfernt von der geistigen Atmosphäre Hamburgs in den 20er Jahren, ging von dem Schatten Warburgs immer noch eine »gefährliche« Faszination aus; und deshalb konnte Cassirer nicht anders, als auf die dauerhafte Präsenz in seinem ›Gedächtnisarchiv‹ zu verweisen: »I remember« – schloß er in einer seiner seltenen autobiographischen Einlassungen – »very well the day on which, years ago, I made, under the guidance of my friend Dr. Saxl, the first walk through the library of this institute. I was strongly impressed by this first inspection; and it was by this impression that I was encouraged to pursue a study that I had been planning for many years – to give a systematic analysis of the problem I have attempted to treat in this lecture.«132
der die ›Pathosformel‹ von einem im wesentlichen methodischen Gesichtspunkt als strukturelles Band zwischen »Tradition« und »Erneuerung«, zwischen »Ruhe« und »Bewegung« in dem Forschungsbereich der Kulturwissenschaften betrachtet wird (vgl. Zur Logik der Kulturwissenschaften, S. 117 f.). 132 Critical Idealism as a Philosophy of Culture, S. 90 f.
ABC
neuntes kapitel Davos 1929
1. Als Pierre Aubenque die herausragenden Momente der berühmten Davoser Disputation zwischen Martin Heidegger und Ernst Cassirer vom Frühjahr 1929 noch einmal Revue passieren ließ, betonte er, daß sich mit dieser Diskussion »maint débat contemporain sur la crise de la raison et de la culture, sur la ›dialectique des lumières‹, sur les effets ›unidimensionelles‹ de la rationalité, sur la ›tyrannie du logos‹, sur la fin et le dépassement de la métaphysique, sur la postmodernité«1 angekündigt hat, wenn nicht sogar bereits begonnen habe. Es ist schwierig, dieses Urteil nicht zu teilen, um so mehr, wenn man an das beachtliche Dokumentationsmaterial denkt, über das wir inzwischen verfügen und welches es ermöglicht – wenn auch mit Lücken, die nach und nach geschlossen werden können –, nicht nur die unmittelbaren Umstände des Zusammentreffens der beiden Philosophen, sondern vor allem die intrikaten theoretischen Voraussetzungen und auch ›praktischen‹ Implikationen einer Begegnung zu rekonstruieren, bei der es sowohl um die Interpretation Kants als auch um das Erbe des Neukantianismus und das Verständnis von Philosophie im allgemeinen, ihre Methoden und ihren Zweck ging: Der Disput zwischen Cassirer und Heidegger beschwor einen grundlegenden Konflikt »zweier Welten«2 herauf, zweier »verschiedener Konzeptionen des Ursprungs und der Funktionen der Rationalität, der die Geschichte der Philosophie zu großen Teilen bewegt hat«.3 Die Zeugnisse der Teilnehmer des zweiten Zyklus der Davoser Hochschulkurse, die der Schweizer Arzt Peter Müller konzipiert hatte und mit denen er laut Jean Cavaillès beabsichtigte, eine Art »Locarno de l’intelligence« zu schaffen, stimmen darin überein, daß sie die ›epochale‹ S. P. Aubenque, Le débat de 1929 entre Cassirer et Heidegger in Ernst Cassirer. De Marbourg à New York, S. 81–96 (hier S. 93). 2 E. Garin, Kant, Cassirer e Heidegger, »Rivista critica di storia della filosofia«, XXVIII, 1973, S. 203–206 (hier S. 204). Vgl. auch H. Dussort, L’école de Marbourg, S. 148. 3 V. Verra, Introduzione in M. Heidegger, Kant e il problema della metafisica, S. XIX. Zu dieser Gegenüberstellung vgl. insbesondere P. Aubenque, Présentation von E. Cassirer-M. Heidegger, Débat sur le Kantisme et la Philosophie (Davos, mars 1929) et autres textes de 1929–1931, traduit de l’allemand par P. Aubenque, J.-M. Fataud, S. Quillet, Paris 1972, S. 15 f., wo die Aufklärung und die »humanistische Philosophie« Cassirers – in der Linie des ›Fortschritts des Bewußtseins‹ von Léon Brunschvicg – als Gegenbild der Heideggerschen ›Zerstörung‹ dargestellt werden. 1
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Neuntes Kapitel
Bedeutung der Diskussion zwischen dem ›Olympier‹, dem Autor der Philosophie der symbolischen Formen, und dem jungen ›Provinzler‹, der erst seit kurzem durch die Publikation von Sein und Zeit berühmt geworden war, unterstreichen.4 Überfliegt man z. B. den autobiographischen Text Otto Bollnows oder Heindrik Pos’, so springt in beiden gerade dieser Aspekt ins Auge: die Begegnung bzw. Konfrontation zweier Persönlichkeiten, die zwei extreme Pole darstellen und so zu lebenden Symbolen der »philosophischen Situation der Zeit« oder gar des »tragic decline« geworden sind, dem die deutsche Philosophie am Ende der 20er Jahre entgegenging.5 Nicht weniger bezeichnend ist auch das Zeugnis der Ehefrau Cassirers, die nicht nur mit eindrucksvoller Einfachheit die Persönlichkeit Heideggers (der »bäuerliche« Heidegger mit seinem »tödlichen Ernst« und der »völligen Humorlosigkeit«), von der sie sich während einiger Gespräche in Davos ein Bild gemacht hatte, in ihrer abgrundtiefen Differenz von derjenigen Cassirers vergegenwärtigte, sondern auch die Feindseligkeit Heideggers gegenüber dem Neukantianismus und insbesondere gegenüber Cohen betont: eine Abneigung, die sich aus antisemitischen Ressentiments speiste und aufgrund derer, kommentierte Toni Cassirer bitter, seine künftige Rolle als »erster nationalsozialistischer Rektor« nicht mehr erstaunen konnte.6 4
Zur Rekonstruktion der vier Davoser Kurse zwischen 1928 und 1931 sei verwiesen auf K. Gründer, Cassirer und Heidegger in Davos 1929 in Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, S. 290–302. Über die Absicht hinaus, die Begegnung bedeutender Professoren und Studenten, die Patienten im Davoser Sanatorium waren, zu ermöglichen, verfolgten die Kurse das Ziel, einen ›neutralen‹ Ort der Begegnung von deutscher, schweizerischer und französischer Kultur zu schaffen (es nahmen auch Léon Brunschvicg, Karl Reinhardt, Sombart, von Wiese, Kantorowicz und natürlich Cassirer und Heidegger teil). In diesem Rahmen ist auch an den Vortrag Einsteins über Grundbegriffe der Physik und ihre Entwicklung zu erinnern, den er 1928 hielt und der eingeleitet wurde durch einige Begrüßungsworte zu den Davoser Hochschulkursen (vgl. für weitere Informationen A. Einstein, Mein Weltbild, S. 41 ff., und S. 294 ff.). Unter den Teilnehmern des Kolloquiums vom 17. März bis zum 6. April 1929 waren außer Joachim Ritter und Otto Bollnow, der das Protokoll der Diskussion zwischen Cassirer und Heidegger führte, auch Rudolf Carnap (von dem später die Rede sein wird), Heindrik Pos, Maurice de Gandillac, Emanuel Levinas und Jean Cavaillès: Von letzterem hat Aubenque im Anhang zu dem zu Beginn zitierten Aufsatz einige Auszüge des Artikels von 1929, Les deuxièmes cours universitaires de Davos (aus dem die Bemerkung über das »Locarno de l’intelligence« stammt: vgl. Le débat de 1929 entre Cassirer et Heidegger, S. 93) wieder abgedruckt. 5 Vgl. O. F. Bollnow, Gespräche in Davos in Erinnerung an Martin Heidegger, hg. von G. Neske, Pfullingen 1977, S. 27, und H. J. Pos, Recollections of Ernst Cassirer in The Philosophy of Ernst Cassirer, S. 69. 6 Vgl. T. Cassirer, Mein Leben mit Ernst Cassirer, S. 182 f. Diese autobiographischen Abschnitte sind bereits 1962 von G. Schneeberger in Nachlese zu Heidegger. Dokumente zu seinem Leben und Denken, Bern 1962, S. 7 ff., veröffentlicht worden.
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Sosehr jede Erinnerung stets im Nachhinein korrigierbar ist (hat Heidegger nicht vielleicht sogar bis zu seinem Tod die Vernichtungslager ›vergessen‹?), ist es dennoch schwierig, an die Davoser Begegnung der beiden Philosophen anders als im Lichte der drohenden Katastrophe zu denken. Nicht zufällig proklamierte Heidegger gerade in Davos die Notwendigkeit der »Zerstörung« der Grundlagen der »abendländischen Metaphysik«, d. h. des »Geistes, des Logos, der Vernunft«,7 während Cassirer im amerikanischen Exil einen Text verfaßte, der hier schwerlich übergangen werden kann. »The ideology of National Socialism« – so Cassirer – »has not been made by philosophic thinkers. It has grown up from quite a different soil. But there is an indirect connection between that general course of ideas that we can study in the case of Spengler or Heidegger and German political and social life in the period after the First World War [ … ] A philosophy that indulges in somber predictions about the decline and the inevitable destruction of human culture, a philosophy whose whole attention is focussed on the Geworfenheit, the Being-thrown of man, can no longer do its duty«: »It cannot teach man how to develop his active faculties in order to form his individual and social life.«8 Diese Worte Cassirers, die zweifellos eine besondere Relevanz erhalten, wenn man an die Gespräche von 1929 in den Schweizer Alpen denkt, stellen kein distanziertes historisches Urteil dar, sondern verdeutlichen die Bedeutung des kulturellen und politischen Kampfes des Philosophen der ›symbolischen Formen‹ in den letzten Jahren der Weimarer Republik. Nicht umsonst hatte Cassirer einige Monate vor der Begegnung in Davos (genauer am 11. August 1928, am Gedenktag zur Proklamation der Weimarer Verfassung) in Hamburg eine bedeutende Rede mit dem Titel Die Idee der republikanischen Verfassung gehalten, die mit gutem Recht der Rektoratsrede Heideggers von 1933 gegenübergestellt werden kann und eine unverzichtbare Parallele bietet für ein tieferes Verständnis der Davoser Disputation als es die – an sich zutreffende aber zu allgemeine
M. Heidegger, Davoser Vorträge. Kants Kritik der reinen Vernunft und die Aufgabe einer Grundlegung der Metaphysik in Kant und das Problem der Metaphysik, S. 273. 8 Philosophy and Politics in Symbol, Myth, and Culture, S. 230; vgl. auch S. 219, Anm. 1 bezüglich des Einflusses »to a very great extent« Heideggers und Spenglers auf das »German political thought in the period after the First World War«. Vgl. hierzu auch The Myth of the State, S. 289 ff. Zu Heideggers »Ethik des Todes« und dem Verzicht auf jede normative Ausrichtung der Philosophie s. H. Ebeling, Das Ereignis des Führers. Heideggers Antwort in Martin Heidegger: Innen- und Außenansichten, hg. vom Forum für Philosophie Bad Homburg, Frankfurt am Main 1988, S. 33–57. 7
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– Formel des Zusammenpralls zweier ›Welten‹ zu erkennen gibt.9 Cassirer war angetreten, um in der gelehrten Sprache der großen akademischen Tradition Deutschlands die Idee der republikanischen Verfassung auf der Basis einer geschichtsphilosophischen Analyse zu verteidigen, die das gegenseitige und unauflösbare Verhältnis zwischen Denken und Handeln, »zwischen dem Aufbau der Ideen und dem Aufbau der staatlichen und der sozialen Wirklichkeit« mit Nachdruck unterstrich.10 Wie bereits in Freiheit und Form zeigte Cassirer im Rückgang über Wolff und Kant zu Leibniz, über die ›Wanderung‹ und Realisierung der Idee der unveräußerlichen Grundrechte des Individuums in England, in der Amerikanischen Revolution und dem revolutionären Frankreich nicht nur, daß »die Idee der republikanischen Verfassung als solche im Ganzen der deutschen Geistesgeschichte keineswegs ein Fremdling, geschweige ein äußerer Eindringling ist«, sondern war auch darum bemüht, im Namen des ›Vernunftglaubens‹ Kants und der regulativen Bedeutung der Ideale der Französischen Revolution das Vertrauen in die republikanische Verfassung zu stärken und folglich die fragile Weimarer Demokratie zu verteidigen.11 An Bedeutung gewinnt dieses leidenschaftliche ›Manifest‹ Cassirers, wenn man vergegenwärtigt, was sich wenige Monate später in Davos durch Heidegger in wahrlich »beunruhigender« Art und Weise bestätigte.12 »[D]ie Philosophie« – sagte Heidegger – »[hat] die Aufgabe, aus dem faulen Aspekt eines Menschen, der bloß die Werke des Geistes benutzt, gewissermaßen den Menschen zurückzuwerfen in die Härte seines Schicksals«.13 Es ist nicht allzu schwer, diese Worte mit der Agonie der Weimarer Republik in Verbindung zu bringen und in ihnen die düstere Vorahnung des drohenden historischen ›Schicksals‹ zu erblicken. Aber auch ohne den zuweilen schwammigen Soziologismen derjenigen zu verfallen, die in Heideggers »konservativer Revolution« eine »Homologie« zwischen philosophischem 9
Auf der ›politischen‹ Bedeutung der Davoser Debatte insistiert mit überzeugenden Argumenten Fabien Capeillères in seinem Beitrag zur vielstimmigen Diskussion, vgl. Philosophie und Politik. Die Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger in der Retrospektive, »Internationale Zeitschrift für Philosophie«, I, 1992, S. 309 f. 10 Vgl. E. Cassirer, Die Idee der republikanischen Verfassung, S. 13. Zur Haltung Cassirers zur Weimarer Republik vgl. vor allem D. R. Lipton, Ernst Cassirer. The Dilemma of a Liberal Intellectual in Germany 1914–33, S. 99 ff., S. 149 ff., und A. Bolaffi, Il sogno tedesco. La nuova Germania e la coscienza europea, Roma 1993, S. 6, 87 f. 11 Vgl. Die Idee der republikanischen Verfassung, S. 22, 25 ff. 12 So H. Declève, Heidegger et Cassirer interprètes de Kant. Traduction et commentaire d’un document, »Revue philosophique de Louvain«, LXVII, 1969, S. 544, Anm. 26. 13 Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger in Kant und das Problem der Metaphysik, S. 291.
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Elaborat und (wenngleich naiver) politischer Positionierung entdecken,14 ist es nicht von der Hand zu weisen, daß die betonte »Härte« Heideggers gegenüber Cassirer einen unheilvollen Schatten warf. Im übrigen findet der vertraute Umgang Heideggers mit einigen der Themen, die für die Ideologie des Todes und des Krieges charakteristisch und in der antimodernistisch eingestellten deutschen Kultur verbreitet waren, nicht nur in der Davoser Debatte eine Bestätigung, sondern weist weit verzweigte Wurzeln auf.15 Gerade 1929 ist – so Habermas, der einen Hinweis Pöggelers aufnimmt – ein für das Verständnis der politischen Haltung Heideggers entscheidendes Jahr. Heidegger, der bereits den ersten Teil seines eigenen philosophischen Weges zurückgelegt (in diese Zeit fiel unter anderem auch der endgültige Bruch mit Husserl) und nicht zufällig zwischen 1929 und 1930 ein tiefgründiges ›Gespräch‹ mit Nietzsche und Hölderlin geführt hatte, öffnete sich »ganz dem antidemokratischen Denken, das in der Weimarer Republik […] prominente Fürsprecher gefunden […] hatte«.16 Die Autoren, mit denen sich hingegen im selben Zeitraum der auf ethisch-politischem Gebiet wesentlich aktivere Cassirer beschäftigte, waren ganz andere. In der Tat bildet ein in vielerlei Hinsicht programmatisches Buch wie Die Philosophie der Aufklärung (das im Oktober 1932 in Druck ging), dessen vorletztes Kapitel die Geschichte des Naturrechts im 18. Jahrhundert und ihren Abschluß in der »Vernunftethik« eines durch Kant gelesenen Rousseaus verfolgt,17 das geistige Pendant zu der Rede vom August 1928 (und ähnlich motivierten Texten).18 Ebenfalls 1932 erschien der Aufsatz über Rousseau, in dem die Verteidigung des Vgl. P. Bourdieu, L’ontologie politique de Martin Heidegger, Paris 1988. Zu diesem Aspekt sei auf die häufig erhellenden, wenn auch nicht vollständig zu unterstützenden Untersuchungen von D. Losurdo, La comunità, la morte, l’occidente. Heidegger e l’ideologia della guerra«, Torino 1991, verwiesen. 16 Vgl. J. Habermas, Heidegger – Werk und Weltanschauung, als Vorwort zur deutschen Übersetzung des Buches von V. Farias, Heidegger und der Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 1989, S. 18 ff. (Von Habermas vgl. auch Der deutsche Idealismus der jüdischen Philosophie in Philosophisch-politische Profile, erweiterte Ausgabe, Frankfurt am Main 1981, S. 39–64). 17 Vgl. Die Philosophie der Aufklärung, S. 313–367. Zur Bedeutung dieses Cassirerschen Buches als »philosophisches Testament« s. H. Noack, Ernst Cassirer. Zur Würdigung seines Werkes anläßlich der 80. Wiederkehr seines Geburtstages, »Zeitschrift für philosophische Forschung«, VIII, 1954, S. 451. 18 Es sei, abgesehen von dem bereits zitierten Vortrag vom 22. Juli 1930, Wandlungen der Staatgesinnung und der Staatstheorie in der deutschen Geistesgeschichte (s. oben, S. 40 und Anm. 35), auch auf den noch unveröffentlichten Vortrag vom 18. Januar des selben Jahres anläßlich der Reichsgründungsfeier der Hamburger Universität hingewiesen: vgl. H. Paetzold, Ernst Cassirer, S. 116 f., und D. R. Lipton, Ernst Cassirer. The Dilemma of a Liberal Intellectual in Germany 1914–33, S. 160 f. 14
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Vernunftstaates sich mit der ethischen Mission der Politik, die Gesellschaft zur Verwirklichung der ›humanitas‹ zu führen, verband,19 während der Vortrag vom Februar desselben Jahres über das Naturrecht schließlich energisch (und mit Bezug auf die beiden vorangegangenen Texte) für die nicht aufhebbare Geltung des Naturrechts, des Bindeglieds zwischen Theorie und Praxis, zwischen der moralischen und rationalen Aufgabe des Menschen und des »Weges« (der Ausdruck ist von Kant), den er beschreiten muß, um den Fortschritt der Humanität zu gewährleisten, eintrat.20 Es war folglich ein konsequenter (und in gewisser Weise verzweifelter) geistiger Kampf, den Cassirer im letzten Jahr der Weimarer Demokratie austrug. Dies ist um so bezeichnender, wenn man bedenkt, daß er wenig später, im Mai 1933, Deutschland, das in die Hände Hitlers gefallen war, für immer verlassen hat, während Heidegger – im Namen einer unaufschiebbaren Forderung, sich in die neue Bewegung »einzufügen« – seine berühmte Rede von der »Selbstbehauptung« der deutschen Universität vorbereitete, in der er von den ersten Zeilen an die Bedeutung der ›Härte des Schicksals‹, auf das er in Davos angespielt hatte, explizierte: »die Unerbittlichkeit jenes geistigen Auftrags, der das Schicksal des deutschen Volkes in das Gepräge seiner Geschichte zwingt«.21 Es folgen bekanntlich Überlegungen zur wahren Bedeutung der »geistigen Welt eines Volkes«, was nicht die ›Trivialität‹ einer Kultur sei, sondern vielmehr die »Macht«, die der »Erde« und dem »Blut« entspringe; und schließlich der Angriff auf die »vielbesungene ›akademische Freiheit‹« zusammen mit der Verherrlichung der »Entscheidung« und des Dienstes an der Waffe, die den Arbeitsdienst und den Wissensdienst begleiten müssen. Dem »nackten Faktum« des Sieges des Nazismus verlieh Heidegger – so Karl Löwith – den »erhabenen Namen des Schicksals«.22 Wie man leicht aus dem Auf-
Vgl. Das Problem Jean-Jacques Rousseau, S. 29, 31, 76. Vgl. Vom Wesen und Werden des Naturrechts, »Zeitschrift für Rechtsphilosophie in Lehre und Praxis«, VI, 1932, Heft 1, S. 1–27 (bes. S. 20, 26). Zur Bedeutung der Verteidigung des Naturrechts bei Cassirer vgl. auch J. M. Krois, Cassirer: Symbolic Forms and History, S. 162–165. 21 M. Heidegger, Die Selbstbehauptung der deutschen Universität. Das Rektorat 1933 / 34. Tatsachen und Gedanken, hg. von H. Heidegger, Frankfurt am Main 1983, S. 9. Vgl. darüber hinaus K. Jaspers, Philosophische Autobiographie, erweiterte Neuausgabe, München 1977, S. 100, und Notizen zu Martin Heidegger, hg. von H. Saner, MünchenZürich 21989, S. 90. Präsent zu halten ist auch der Brief Heideggers an Jaspers vom 3. April 1933, veröffentlicht in M. Heidegger-K. Jaspers, Briefwechsel 1920–1963, hg. von W. Biemel und H. Saner, Frankfurt am Main-München-Zürich 1990, S. 151 f. 22 K. Löwith, Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht, Frankfurt am Main 21989, S. 40. Vgl. darüber hinaus Die Selbstbehauptung der deutschen Universität, S. 14 ff. 19
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ruf an die deutschen Studenten vom 3. November 1933 und dem Aufruf zu den Wahlen von 12. November ersehen kann, in dem die Rede von der durch den Nazismus realisierten »völligen Umwälzung unseres deutschen Daseins« einherging mit dem Lob des Führers, der für ihn die einzige »heutige und künftige deutsche Wirklichkeit« darstellte, handelte es sich hier nicht um einen ›Unfall‹.23 Sicherlich wäre es übertrieben, die Konfrontation Cassirer-Heidegger (nicht nur bezüglich der Davoser Begegnung) ausschließlich im Lichte der deutschen Tragödie zu lesen und nur auf den Gegensatz des Erben des jüdischen Messianismus Cohens und des »kleinen Zauberers von Meßkirch« abzuheben.24 In Vergessenheit geraten sollte dieser Aspekt jedoch ebensowenig, zumal die Diskussion in Davos – wie Cassirer mit Bezug auf ein berühmtes Diktum Fichtes betonte – einen Punkt erreichte, an dem »durch bloße logische Argumente wenig auszurichten ist«.25 In Wirklichkeit stand der Begriff der Philosophie selbst auf dem
G. Schneeberger, Nachlese zu Heidegger, S. 135 f., 144 ff. Zur Frage des Verhältnisses zwischen Heidegger und dem Nazismus – dem Gegenstand einer endlosen querelle – sei hier im wesentlichen auf Arbeiten verwiesen (mangelhaft in philosophischer Hinsicht, jedoch grundlegend im dokumentarischen Teil) von V. Farìas, Heidegger et le nazisme, Paris 1987, und H. Ott, Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie, Frankfurt am Main-New York 1988. Zu Ott sei auf seine Rezension der Monographie von Farìas in der »Neuen Zürcher Zeitung« vom 27. November 1987 hingewiesen, die wieder abgedruckt wurde in Martin Heidegger im Gespräch, hg. von G. Neske und E. Kettering, Pfullingen 1988, S. 144–151. Vgl. darüber hinaus den Artikel von O. Pöggeler, Den Führer führen? Heidegger und kein Ende, »Philosophische Rundschau«, XXXII, 1985, S. 26–67, und die Aufsätze von O. Pöggeler, H. Ott, W. Franzen und A. Schwan in Heidegger und die praktische Philosophie, hg. von A. Gethmann-Siefert und O. Pöggeler, Frankfurt am Main 1988, S. 15–107. Nützlich ist auch die Dokumentensammlung von B. Martin, Martin Heidegger und das ›Dritte Reich‹. Ein Kommentar, Darmstadt 1989. Unter den aktuelleren Beiträgen vgl. noch einmal O. Pöggeler, Heidegger e la politica in Heidegger in discussione, a cura di F. Bianco, Milano 1992, S. 63–83, und das Buch von T. Rockmore, On Heidegger’s Nazism and Philosophy, Berkeley 1992 (s. auch H. Sluga, Heidegger’s Crisis, S. 1–28). 24 K. Löwith, Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933, S. 42. 25 Davoser Disputation, S. 292: mit einem Hinweis auf das Diktum Fichtes über den Zusammenhang von Philosophie und der Frage, »was für ein Mensch man ist« (vgl. darüber hinaus das Zeugnis von L. Englert, Als Student bei den zweiten Davoser Hochschulkursen, wieder abgedruckt in G. Schneeberger, Nachlese zu Heidegger, S. 5). Es ist daran zu erinnern, daß Cassirer am 21. April 1929, wenige Tage nach der Begegnung in Davos, den Vortrag über Lessing und Mendelssohn fertigstellte und im Anschluß an Cohens Religion »die Idee des Messianismus« und die unvergängliche Mitteilung an die »geistige Zukunft« der Menschheit hervorhob (Die Idee der Religion bei Lessing und Mendelssohn, S. 41). Von dieser nicht zufälligen Aufmerksamkeit für die jüdische Tradition und den messianischen Gehalt der Religionsphilosophie Cohens zeugen die (zum Teil noch unveröffentlichten) Texte der Vorträge über Cohen vom 23
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Spiel und folglich auch derjenige des Menschen, der Vernunft und der Geschichte. Nicht umsonst schloß Heidegger Kant und das Problem der Metaphysik (ein Buch, das unmittelbar nach der Davoser Begegnung fertiggestellt wurde) mit einer impliziten Polemik gegen Cassirer (»Hat es einen Sinn«, fragte Heidegger, »den Menschen [ … ] als ›schöpferisch‹ [ … ] zu begreifen?«) und berief sich auf die »Freundschaft« (philìa) zum »Wesentlichen, Einfachen und Stetigen«, die die einzige Basis sei, auf der man sich dem »Seienden als solchen« zuwenden könne, oder – läßt sich hinzufügen – auf das Vernehmen des »verhüllten Verhängnisses« des Seins.26 Vielleicht war es als eine (nicht einmal allzu versteckte) Anspielung zu verstehen, als Cassirer – bereits im Exil – im Herbst 1935 in seiner Antrittsvorlesung in Göteborg betonte, daß »the urgency of time« abermals die »ultimate and highest decisions« der Philosophie ins Spiel gebracht habe, und ergänzte: »To the pessimism which believes that the hour of destiny for our culture has struck, that the ›decline of the west‹ is inescapable, that we can do nothing else than to observe this decline calmly and collectedly, to this pessimism and fatalism we do not wish to resign ourselves.«27 2. Auch wenn die Davoser Disputation also tatsächlich hinsichtlich ihrer praktischen und politischen Implikationen einen Konflikt zweier unvereinbarer Welten verkörpert, so darf man dennoch die philosophische Konfrontation zwischen Cassirer und Heidegger nicht aus dem Blick verlieren, und dies um so weniger, wenn man berücksichtigt, welch lange Vorgeschichte diese Konfrontation hatte: Zu dieser Vorgeschichte gehörte auf der einen Seite die fortschreitende »Destruktion« der Tradition des Neukantianismus und besonders der Marburger Schule, die Heidegger bis zu Kant und das Problem der Metaphysik durchführte, und auf der anderen die Beziehung, die Cassirer seinerseits zwischen den 20er und 30er Jahren zu Heidegger aufnahm, auch über das hinaus, was man den ›Protokollen‹ der Davoser Disputation und der Rezension von Kant und das Problem der Metaphysik von 1931 entnehmen April 1931 und (das Datum spricht für sich) Januar 1933: vgl. E. Cassirer, La philosophie de la religion de Hermann Cohen et sa relation au judaïsme, traduit de l’allemand par C. Berner, »Le genre humain«, Nr. 24–25, Hiver-Printemps 1992, S. 83–92 (und S. 71 ff. der Einleitung von F. Capeillères) und H. Paetzold, Ernst Cassirer, S. 135. 26 Vgl. M. Heidegger, Holzwege, hg. von F.-W. von Herrmann (= Gesamtausgabe, V), Frankfurt am Main, 1977, S. 39. Zum vorigen vgl. Kant und das Problem der Metaphysik, S. 246. 27 The Concept of Philosophy as a Philosophical Problem in Symbol, Myth, and Culture, S. 61 f.
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kann.28 Und schließlich kann – den fragwürdigen Lesarten zum Trotz, die, wie es scheint, immer noch verbreitet sind – die Diskussion über Spezialprobleme bei Kant, über die Bedeutung der transzendentalen Einbildungskraft und des Schematismus der reinen Verstandesbegriffe im Grunde nur in diesem Kontext, der so weit verzweigt war, daß er einen Großteil der deutschen philosophischen Kultur nach den ersten Weltkrieg betraf, angemessen beleuchtet werden.29 In Wirklichkeit hatte die Begegnung in Davos nicht nur die intensive Auseinandersetzung mit Kant, die Heidegger von 1925 an führte, zur Voraussetzung (»ich fange an, Kant wirklich zu lieben«, schrieb er an Jaspers am 10. Dezember), sondern auch die »enge Verbindung gerade mit dem Neukantianismus«, der die Entwicklung des frühen Heidegger bis zu Sein und Zeit kennzeichnet.30 Dies ist ein Aspekt, der dank der Publikation derjenigen Bände der Heidegger-Gesamtausgabe, die die Freiburger und Marburger Vorlesungen von 1919–1923 und 1923–1928 enthalten, zunehmend klar hervortritt und dazu beiträgt, daß die Frage nach der Auseinandersetzung, die Heidegger mit dem Neukantianismus in seinen verschiedensten Richtungen, jedoch vor allem mit der Marburger Schule und mit Windelband und Rickert (auch das Verhältnis zu 28
Die Konfrontation auf dem gemeinsamen »Terrain der Krise des Neukantianismus« wurde zu Recht hervorgehoben von R. Lazzari, »Critica della cultura« e »analitica dell’esserci« nel confronto fra E. Cassirer e M. Heidegger, (Einleitung zu E. Cassirer-M. Heidegger, Disputa sull’eredità kantiana), bes. S. 43 f. 29 Vgl. D. A. Lynch, Ernst Cassirer and Martin Heidegger: The Davos Debate, »KantStudien«, LXXXI, 1990, S. 360–70, der sich ausschließlich auf die Cassirersche und Heideggersche Interpretation der Funktion der Zeit in der Kritik der reinen Vernunft konzentriert (auch der folgende Artikel von W. Cristaudo, Heidegger and Cassirer: Being, Knowing and Politics, »Kant-Studien«, LXXXII, 1991, S. 469–83, der den Beitrag Lynchs unter ethisch-politischen Gesichtspunkten zu ergänzen sucht, geht nicht über eine zu oberflächliche Analyse hinaus). Als Einführung in die bekannteren Themen der querelle (Schematismus, Einbildungskraft, Aufgabe der ›Vernunftkritik‹ etc.) bleibt von Bedeutung O. Schrag, Heidegger and Cassirer on Kant, »Kant-Studien«, LVIII, 1967, S. 87–100. 30 Vgl. in diesem Sinne E. W. Orth, Heidegger e il neokantismo in Heidegger in discussione, S. 274–94 (hier S. 275). Zum Brief an Jaspers, der oben zitiert wurde, vgl. M. Heidegger-K. Jaspers, Briefwechsel 1920–1963, S. 57. Das wiedergewonnene Interesse Heideggers an Kant wird durch die Logik-Vorlesung aus dem Wintersemester 1925 / 26 dokumentiert: vgl. Logik. Die Frage nach der Wahrheit, hg. von W. Biemel (= Gesamtausgabe, XXI), Frankfurt am Main 1976. Vgl. hierzu auch O. Pöggeler, Svolta o continuità nel pensiero di Heidegger?, »Rivista di filosofia«, LXXXIII, 1992, S. 41. Zur Bedeutung Kants für die Entstehung von Sein und Zeit, jedoch ohne Bezug auf die Auseinandersetzung mit dem Neukantianismus, s. auch F. Volpi, Soggettività e temporalità: considerazioni sull’interpretazione heideggeriana di Kant alla luce delle lezioni di Marburgo in Kant a due secoli dalla »Critica«, a cura di G. Micheli e G. Santinello, Brescia 1984, S. 161–79.
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Lask würde jedoch einen längeren Exkurs erfordern) führte, völlig neu gestellt werden kann.31 Hierzu ist es interessant, die kurze Geschichte über den Lehrstuhl für Philosophie an der Universität Marburg zu lesen, die Heidegger 1927 anläßlich ihres 400jährigen Bestehens verfaßte, eine Schrift, die Cassirer höchstwahrscheinlich kannte und die in gewisser Weise in Davos wieder ins Gedächtnis gerufen wurde (übrigens darf man nicht vergessen, daß Cassirer 1928 den Artikel über den Neokantianism für die Encyclopedia Britannica verfaßt hat).32 Wenn sie auch auf den ersten Blick eine Gelegenheitsarbeit zu sein scheint, die Heidegger möglicherweise aus universitätsinternen Gründen verfaßt hat (Heidegger war bekanntlich von 1923 bis 1928 außerordentlicher Professor in Marburg, und sein Ruf an die bereits im Niedergang befindliche Hochburg des Neukantianismus war durch Natorp maßgeblich befördert worden), so muß eine aufmerksame Lektüre, die auch die Heideggerschen Vorlesungen der 20er Jahre angemessen berücksichtigt, einer solchen Einschätzung widersprechen: Es handelt sich hier vor allem um eine Synthese der kritischen Position, die Heidegger im Laufe der ›radikalen‹ Infragestellung der zeitgenössischen deutschen Philosophie seit dem Ersten Weltkrieg gegenüber dem Marburger Neukantianismus entwickelt hatte.33 31
Zu diesem letzteren Aspekt vgl. bes. die Vorlesungen von 1919, jetzt in M. Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie, hg. von B. Heimbüchel (= Gesamtausgabe, LVI / LVII), Frankfurt am Main 1987, bes. S. 29 ff., 129 ff. Zum Einfluß Rickerts auf Heidegger (der bekanntlich Schüler von Rickert in Freiburg war und diesem seine Habilitationschrift von 1916 über Scotus widmete) vgl. A. Savignano, L’influenza di H. Rickert negli scritti giovanili di Heidegger und R. Viti Cavalieri, Rickert e Heidegger: il progetto incompiuto di una nuova logica in Rickert fra storicismo e ontologia, a cura di M. Signore, Milano 1989, S. 339–354, 403–413. Zu Heidegger und Lask gibt es interessante Anregungen in der Studie von Ch. Demmerling, Logica trascendentale e ontologia fondamentale: Emil Lask e Martin Heidegger, »Rivista di filosofia«, LXXXIII, 1992, S. 241–61. 32 Vgl. M. Heidegger, Zur Geschichte des philosophischen Lehrstuhles seit 1866 in Die Philipps-Universität zu Marburg 1527–1927, Marburg 1927, S. 681–687 (jetzt in Kant und das Problem der Metaphysik, S. 304–311, aus dem zitiert wird). Vgl. darüber hinaus E. Cassirer, Neo-Kantianism in The Encyclopedia Britannica, London-New York 141929, XVI, S. 215 f. 33 Bezeichnend ist in diesem Sinne, was Heidegger 1920 am Schluß einer Rezension der Psychologie der Weltanschauungen von Jaspers (die bis 1973 unveröffentlicht blieb) schrieb: »Um als Stoß gegen die gegenwärtige Philosophie wirken zu können, muß das bloße Betrachten fortgehen zum ›unendlichen Prozeß‹ eines radikalen Befragens, das sich selbst in Frage hält« (M. Heidegger, Wegmarken, hg. von F.-W. von Herrmann (= Gesamtausgabe, IX), Frankfurt am Main 1976, S. 43). Von besonderem Interesse ist auch der lange Brief, den Heidegger am 27. Juni 1922 an Jaspers schrieb: vgl. M. Heidegger / K. Jaspers, Briefwechsel 1920–1963, S. 26–29.
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Heidegger beginnt mit einem Hinweis auf die historischen Umstände, unter denen sich das ›Zurück zu Kant‹ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchgesetzt hat. Die Erschöpfung der hegelianischen Schule und die ungestüme Entwicklung der Einzelwissenschaften haben in der Philosophie zu einer Verkennung ihrer eigenen wesentlichen Funktion geführt. Sie habe sich vom spekulativen Wissen in eine »naturwissenschaftliche ›Philosophie‹ (Psychologie)« oder sic et simpliciter in Philosophiehistorie verkehrt. Doch auf diese Identitätskrise habe zu Beginn der 60er Jahre die von Zeller und Liebmann, Helmholtz und Lange ausgesprochene Aufforderung, ›zu Kant zurückzukehren‹, reagiert: Für Heidegger stellte sie den Beginn einer Erneuerung dar, die auf die »Wiedergewinnung des Verständnisses der eigenständigen philosophischen Problematik« abzielte.34 Hierin kommt eine Bewertung der historischen Rolle des Neukantianismus zum Ausdruck, die Heidegger nicht nur in Davos wiederholte,35 sondern auch in verschiedenen anderen Texten, z. B. in den Marburger Vorlesungen über den Begriff der Zeit aus dem Sommersemester 192536 und in den Vorlesungen von 1935 / 36, die der Die Frage nach dem Ding gewidmet waren. Hier wird dem Neukantianismus – obzwar im Rahmen einer Polemik gegen ihn – doch das Verdienst zuerkannt, den positivistischen Tatsachenglauben überwunden zu haben, eine vertiefte Kenntnis des Kantischen Gesamtwerkes befördert und schließlich den Anstoß zu einem neuerlichen Studium der Geschichte der Philosophie gegeben zu haben.37 An dieser Stelle interessiert jedoch vor allem das Urteil über die Marburger Schule. Heidegger konzentriert seine Aufmerksamkeit bezeichnenderweise vor allem auf Cohen als Kantforscher und nicht auf sein ›System der Philosophie‹. Er bringt eine Einschätzung zum Ausdruck, zu der er schon sehr viel früher gelangt war. Dies wird aus einer Rezension aus dem Jahre 1914 ersichtlich (»Man mag die ›Ursprungslogik‹ der ›Marburger‹ ablehnen, für die Anbahnung eines richtigen Kantverständnisses haben sie Bleibendes geleistet.«).38 Wie man sich leicht vorstellen kann, hebt Hei-
Zur Geschichte des philosophischen Lehrstuhles seit 1866, S. 304. Vgl. Davoser Disputation, S. 274. 36 Vgl. M. Heidegger, Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, hg. von P. Jaeger (= Gesamtausgabe, XX), Frankfurt am Main ²1988, S. 13–33. 37 Vgl. M. Heidegger, Die Frage nach dem Ding. Zu Kants Lehre von den transzendentalen Grundsätzen, hg. von P. Jaeger (= Gesamtausgabe, XLI), Frankfurt am Main 1984, S. 59 f. 38 M. Heidegger, Frühe Schriften, S. 51. Vgl. darüber hinaus Zur Bestimmung der Philosophie, S. 141 f. Über diese Einschätzung Heideggers hat W. Kluback ein hartes, jedoch falsches Urteil gefällt, vgl. W. Kluback, Hermann Cohen und Martin 34 35
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degger besonders auf den restriktiven Charakter der Cohenschen Transzendentalphilosophie ab. Cohen hatte in der Tat die Kritik der reinen Vernunft nicht nur als Grundlegung des Faktums der mathematischen Naturwissenschaft interpretiert, sondern sogar versucht, dieses Begründungsmodell auf die Bereiche der Ethik und Ästhetik auszudehnen, und lief so das doppelte Risiko eines unkontrollierten Szientismus und der immanenten Schwierigkeit, auf eine objektivierte Wissenschaft hinzuweisen, die die Ästhetik zu begründen hätte. Letzteres ist ein Einwand, der bekanntermaßen bereits von der Marburger Schule selbst vorgebracht worden war.39 Heidegger nahm somit einen zentralen Streitpunkt aus Kant und das Problem der Metaphysik vorweg, den er auch während der Davoser Tagung nachdrücklich vertrat: Die Kantische Kritik sei keine Theorie der wissenschaftlichen Erkenntnis oder der Erfahrung, sondern eine Theorie der ontologischen Erkenntnis, die auf die »ausdrückliche Grundlegung der Metaphysik« ausgerichtet sei.40 Um diesen Punkt dreht sich bekanntermaßen die gesamte querelle zwischen der ›metaphysischen‹ und der neukantischen Interpretation Kants. Das Problem der Davoser Disputation und des Kant-Buches Heideggers ist jedoch wesentlich intrikater und facettenreicher. Und auch Cassirer gestand, obwohl er Heidegger vorwarf, den Neukantianismus nicht »funktional« zu betrachten und Cohen auf einen reinen Erkenntnistheoretiker zu reduzieren, schließlich mit einer beachtlichen, wenn auch doppeldeutigen Konzession an Heidegger ein, daß der Geltungsbereich der transzendentalen Methode von Cohen eingeschränkt worden sei, »indem er als das eigentlich Fragwürdige immer wieder die mathematische Naturwissenschaft hinstellte«.41 Vor allem jedoch muß ein Abschnitt aus Kant und das Problem der Metaphysik hervorge-
Heidegger: Meinungsverschiedenheit oder Entstellung?, »Zeitschrift für philosophische Forschung«, XL, 1986, S. 282–287. Er geht insbesondere auf das komplette Schweigen Heideggers 1927 zum posthum veröffentlichten Text Religion der Vernunft von Cohen ein. In Wirklichkeit resultiert das größere Interesse Heideggers für den ›Kantianer‹ Cohen nicht aus einem simplen Vorurteil gegen den jüdischen Messianismus. 39 Vgl. Zur Geschichte des philosophischen Lehrstuhles seit 1866, S. 306 f. 40 Davoser Vorträge, S. 271. 41 Davoser Disputation, S. 295. Gleichzeitig versichert Cassirer jedoch, daß seine eigene Position eine Weiterentwicklung derjenigen Formulierung des transzendentalen Problems, wie es sich Cohen gestellt habe, sei (ebd., S. 294): Man hat schließlich den Eindruck, daß Cassirer bemüht ist, Kritik und Treue gegenüber seinem Lehrer im Gleichgewicht zu halten, indem er im wesentlichen das von Heidegger vorgeschlagene ›szientistische‹ Bild Cohens teilt. Zu Cohen als Kantinterpreten und zur »one single sistematic idea«, die im Zentrum seiner Forschung stehe, d. h. »[ the ] idea [ … ] of the ›transcendental method‹ «, s. auch E. Cassirer, Neo-Kantianism, S. 215.
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hoben werden, in dem wiederum eine signifikante Anerkennung der Marburger Kantinterpretation seitens Heideggers zum Ausdruck kommt: »So unhaltbar der Versuch der Marburger Kantinterpretation ist, Raum und Zeit als ›Kategorien‹ im logischen Sinne zu fassen und die transzendentale Ästhetik in die Logik aufzulösen, so echt ist doch«, so Heidegger, »ein Motiv, das diesen Versuch nahegelegt hat: die, freilich nicht geklärte, Einsicht, daß die transzendentale Ästhetik für sich genommen nicht das Ganze selbst sein kann, das in ihr der Möglichkeit nach beschlossen liegt.«42 In diesem Sinne hob Heidegger deutlich hervor, daß die transzendentale Ästhetik, an den Anfang der Kritik der reinen Vernunft gestellt, im Grunde »unverständlich« bliebe, bloß »vorbereitenden Charakter« habe und daß ihre richtige Interpretation nur im Ausgang ›von der obersten Stufe‹ erfolgen könne, »aus der Perspektive des transzendentalen Schematismus«.43 Offenkundig besteht die Differenz zur Cohenschen Kantinterpretation darin, daß für Cohen (wie später auch für Cassirer) die Wiederaufnahme der Ästhetik in der Analytik auf der Ebene synthetischer Prinzipien des Verstandes erfolgt.44 Das ändert jedoch nichts an einer Gemeinsamkeit zwischen Heidegger und Cohen, die in einer Lesart Kants besteht, in der der ›Sinn‹ der Ästhetik erst auf der Ebene der Analytik zum Tragen kommt, so daß das Heideggersche Thema der Endlichkeit und des Daseins nicht so verstanden werden kann, daß er in die Arme Schopenhauers zurückfällt. Heidegger stützt sich noch auf die Lehre Cohens und der Marburger Schule, obwohl er zugleich auf den Fehler hinweist, den »Ursprung« auf der Verstandesebene verwurzelt Kant und das Problem der Metaphysik, S. 145. Ebd., S. 145. Vgl. darüber hinaus (es handelt sich um die Marburger Vorlesungen des Wintersemesters 1927–1928) Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft, hg. von I. Görland (= Gesamtausgabe, XXV), Frankfurt am Main 21987, S. 78: »Cohen und Natorp spürten so deutlich wie keiner vor ihnen, daß es an der letzten umfassenden Einheit in der ›Kritik [ der reinen Vernunft ]‹ fehlt – in dem Sinne nämlich, daß diese Einheit und der Grund dieser Einheit und der transzendentalen Ästhetik und Logik von Kant nicht ausdrücklich ans Licht gestellt wurde und auch nicht gestellt werden konnte.« 44 Hierzu muß jedoch herangezogen werden, was Cohen über den Schematismus in Kants Theorie der Erfahrung, S. 488–497, schreibt. Cassirer seinerseits hätte dann (entgegen seiner früheren Überzeugung) die »notwendige« Funktion des Schematismus für die »Erfahrungstheorie« anerkannt und vor allem ihre Abhängigkeit von den synthetischen Prinzipien des Verstandes zur Konstitution einer »Phänomenologie des Objekts« statt des Subjekts unterstrichen (Bemerkungen zu Martin Heideggers KantInterpretation, S. 18 ff.) Zu dieser zum Teil auch bloß ›taktischen‹ Anerkennung der Bedeutung des Schematismus durch Cassirer vgl. N. Rotenstreich, Schematism and Freedom, »Revue Internationale de Philosophie«, XXVIII, 1974, S. 468 f. 42 43
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sein zu lassen, während er für Heidegger – der somit eine Art ›Destruktion des Verstandes‹ im Innern der Analytik selbst durchführt – in der Einbildungskraft und der ursprünglichen Zeitlichkeit verortet ist, in jenem »Abgrund«, vor dem Kant »entsetzt« zurückgewichen sei.45 In diesem Punkt hat Cassirer dem »Usurpator« Heidegger zu Recht einen »Monismus« der Einbildungskraft vorgeworfen und im Gegensatz dazu die ›Herrschaft‹ der Spontaneität des Verstandes über die Einbildungskraft angeführt. Dies ist jedoch eine Kantinterpretation, die darauf abzielt, die Ebene der transzendentalen Dialektik wiederzugewinnen, um – auf der Basis des gesamten Kantischen ›Systems‹ – die ›metaphysische‹ Lesart Heideggers zu vermeiden.46 Andererseits können wir heute, dank einiger Randbemerkungen Heideggers, die inzwischen publiziert worden sind, rekonstruieren, wie Heidegger gegenüber Cassirer auf diesen zentralen Problemkomplexen insistierte, auch unter Vernachlässigung (und dies ist signifikant) des Problems der transzendentalen Dialektik und des Verhältnisses zu den anderen beiden Kantischen Kritiken.47 Vgl. Davoser Vorträge, S. 273, und Kant und das Problem der Metaphysik, S. 214 ff., 242: »[ die Kritik der reinen Vernunft ] erschüttert so die Herrschaft der Vernunft und des Verstandes«. Vgl. auch Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft, S. 79. Es sei erinnert, daß Heidegger in der Folge der Lehre der synthetischen Prinzipien des Verstandes besondere Aufmerksamkeit geschenkt hat. Über Die Frage nach dem Ding hinaus ist in dieser Hinsicht die späte Studie Kants These über das Sein (jetzt in Wegmarken, S. 445–480) besonders wichtig, in der trotz der Polemik gegen den Neukantianismus dennoch einzelne Momente einer verborgenen Kontinuität sichtbar werden. 46 E. Cassirer, Kant und das Problem der Metaphysik. Bemerkungen zu Martin Heideggers Kant-Interpretation, S. 11 ff., 16 f.: Im folgenden wird die Cassirersche Rezension von Heideggers Kantbuch von 1931 stets mit dem Untertitel zitiert, um Verwechslungen mit dem gleichlautenden Buch Heideggers zu vermeiden. Man tut gut daran, in Erinnerung zu behalten, daß Cassirer, da er das Verhältnis von »Idee« und »Erfahrung« für zentral für ein Verständnis des Kantischen ›Systems‹ hält, ebenfalls den Schwerpunkt seiner Kantlektüre aus der Monographie von 1918 wieder aufnimmt: d. h. die zentrale Bedeutung der Kritik der Urteilskraft im Ausgang von einer Interpretation der transzendentalen Dialektik, die die opinio communis endgültig obsolet macht, nach der der Neukantianismus bei der Analytik stehengeblieben sei. Allenfalls ist es Heidegger (nicht Cassirer und auch nicht Cohen), dem eine solche ›Verstümmelung‹ in Kant und das Problem der Metaphysik vorzuwerfen ist. Vielleicht ist es kein Zufall, daß Heidegger erst nach der querelle mit Cassirer langsam diese einseitige Sichtweise überwindet und in seine Kantlektüre auch die Kritik der praktischen Vernunft und die Kritik der Urteilskraft einbezieht, indem er von der in Davos entworfenen Interpretation der »Dialektik als Ontologie« ausgeht (vgl. Davoser Disputation, S. 275). Zu einer ersten Annäherung an diese spätere Entwicklung vgl. H. Declève, Heidegger et Kant, La Haye 1970, S. 224 ff., 333 ff. 47 S. vor allem Zu Odebrechts und Cassirers Kritik des Kantbuches im Anhang der 5. Aufl. von Kant und das Problem der Metaphysik, S. 297–303. Zu Rudolf Odebrecht (der ein Schüler Cohens in Marburg war), sollte auf seine sehr kritische 45
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In erster Linie vertrat Heidegger, daß die »primäre« Bedeutung, die die Anschauung für ihn hat, noch keine Reduktion des Erkennens zu etwas »Belanglosem« impliziere: Wenn das Denken zu »Diensten« der Anschauung steht, heiße das nicht, daß letztere (nach einem Ausdruck Cassirers) die »Fackel« trage,48 sondern daß das Wesen der Erkenntnis in einem gegenüber der Anschauung und dem Denken ursprünglicheren Setzen der Einbildungskraft in ihrer Zeitlichkeit bestehe.49 Heidegger stellte folglich auf dieser Basis die Spontaneität des Verstandes, auf die Cassirer sich bezogen hatte, entschieden in Frage und setzte den Akzent auf das Faktum, daß der Verstand mit seiner ›Fackel‹ »nur als schematisierter Verstand« ›erleuchten‹ könne, da er für sich genommen der Anschauung nicht einmal »dienen« könne: Die Spontaneität des Verstandes, die den Marburgern am Herzen liegt, trifft unvermeidbar auf den Widerstand der Rezeptivität oder, mit anderen Worten, auf die Unmöglichkeit, »die Anschauung nur [ als einen ] fatalen Rest« zu betrachten, »der im unendlichen Prozeß [ der Erkenntnis ] weg soll.«50 Rezension des Heideggerschen Kant-Buches in »Blätter für Deutsche Philosophie«, V, 1931 / 1932, S. 132–135, hingewiesen werden: ein recht interessanter Beitrag, auch hinsichtlich des Bezugs auf die Bedeutung der Einbildungskraft in der Kritik der Urteilskraft, die nach Odebrecht als eine echte »Analytik des Daseins« von Kant zu gelten hat. 48 Vgl. Bemerkungen zu Martin Heideggers Kant-Interpretation, S. 10. 49 Vgl. Zu Odebrechts und Cassirers Kritik des Kantbuches, S. 299. S. darüber hinaus die Randbemerkungen in Kant und das Problem der Metaphysik, S. 21 f., Anm. f: »Gerade weil Erkennen primär Anschauen, deshalb ist nie für uns ein Anschauen allein eine Erkenntnis.« Und in der folgenden Anm. : »Je größer dieser Vorrang [ des Verstandes vor der Anschauung in der Endlichkeit ] um so unbedingter die Angewiesenheit auf Anschauung. Um so weniger diese auszuschalten« (S. 22, Anm. g). 50 Zu Odebrechts und Cassirers Kritik des Kantbuches, S. 299 f. (Heidegger fährt fort: »[ Der Verstand ] ist sachlich gerade nicht das Licht gebender, sondern der Lichtung bedürftiger«). Heidegger scheint jedoch zu verschleiern, daß die Cassirersche Theorie des Symbols, die vor allem im Zentrum des dritten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen steht, zumindest ihrer Intention nach darauf abzielt, die Anschauung nicht zu eliminieren, sondern vielmehr aus ihr ein Vehikel eines »nicht-anschaulichen ›Sinnes‹ « zu machen und ihn »konkret« zum Ausdruck zu bringen (Philosophie der symbolischen Formen, III, S. 235). Es sollte ergänzt werden, daß Heidegger, wie wir durch ein Zeugnis Cassirers wissen, beabsichtigte, den dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen zu rezensieren, aber die Aufgabe hinausgeschoben (und sie schließlich nicht erledigt habe), da er Schwierigkeiten gehabt habe, »die Sache anzupacken« (vgl. T. Cassirer, Mein Leben mit Ernst Cassirer, S. 184): Es ist schwierig, die wirklichen Gründe dafür zu ermitteln, aber gewiß ist es nicht unwahrscheinlich, daß Heidegger bemerkt hat, wie weit der Neukantianer Cassirer sich inzwischen von dem traditionellen Klischee eines strenggläubigen ›Marburger‹ Erkenntnistheoretikers entfernt hatte, auf den Heidegger sich noch in Kant und das Problem der Metaphysik, S. 66 f., zu beziehen schien, wo eine zögerliche Anerkennung des »relativen Rechts«
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Dennoch scheint es eine ›strukturelle‹ Korrespondenz zwischen der Heideggerschen und der Marburger Kantinterpretation zu geben. Wenn die transzendentale Grundlegung bei Cohen und Cassirer auf ein Faktum Bezug nimmt, dessen Möglichkeitsbedingungen ausgemacht werden müssen, verändert sich bei Heidegger nicht dieses korrelative Schema, sondern die zwei Termini des Verhältnisses von Begründendem und Begründetem: d. h. die ontologische Erkenntnis auf der einen Seite und die ontische auf der anderen werden modifiziert, so daß die erste sich als die Ebene darstellt, auf der die »Bedingungen der Möglichkeit eines vorgängigen Gewendetseins zum Objekt« oder besser zur »Faktizität« des Lebens thematisiert werden, von der Heidegger Anfang der 20er Jahre sprach.51 Wenn Heidegger daher schreibt, »die ontologische Erkenntnis ›bildet‹ die Transzendenz, welches Bilden nichts anderes ist als das Offenhalten des Horizontes, in dem das Sein des Seienden vorgängig erblickbar wird«,52 ist es nicht illegitim, ein im Dasein des Seins verankertes neukantisches Überbleibsel zu vermuten, das, schrieb Heidegger im Oktober 1927 an Husserl –, »die Möglichkeit der transzendentalen Konstitution birgt«.53 Das Verhältnis Heideggers zum Marburger Neukantianismus erscheint so – ungeachtet aller polemischen Spannung,
der Anschauung als unzureichend beurteilt wird, eine Kantinterpretation als ›Logik der reinen Erkenntnis‹ wirklich in Frage zu stellen. Einen einigermaßen chaotischen Versuch, Heidegger und Cassirer über den Begriff des Symbols miteinander zu konfrontieren, unternimmt J. E. Doherty, Sein, Mensch und Symbol. Heidegger und die Auseinandersetzung mit dem neukantischen Symbolbegriff, Bonn 1972. 51 Zu diesem letzten Aspekt vgl. die Vorlesungen des Sommersemesters 1923 zur Ontologie (Hermeneutik der Faktizität), hg. von K. Bröcker-Oltmanns (= Gesamtausgabe, LXIII), Frankfurt am Main 1988. S. darüber hinaus Kant und das Problem der Metaphysik, S. 73 und S. 13: »[ N ]icht ›alle Erkenntnis‹ ist ontische, und wo solche vorliegt, wird sie nur möglich durch eine ontologische«. Dies ist die ›Übersetzung‹ Heideggers der ›kopernikanischen Revolution‹, wie sie Cassirer in Davos formulierte, als er die Unterordnung der »Frage nach der Bestimmtheit der Gegenstände« unter die »Seinskonstitution einer Gegenständlichkeit überhaupt« forderte (Davoser Disputation, S. 294). Das Urteil ist folglich voll und ganz zu unterschreiben, nach dem »die große und unüberbrückbare Distanz [ Heideggers ] zum Neokritizismus auch neokritizistische Annahmen vorauszusetzen scheint« (G. Gigliotti, Avventure e disavventure del trascendentale, S. 318 f.). Zu diesen Themen vgl. auch H. Holzhey, Heidegger und Cohen. Negativität im Denken des Ursprungs in In Erscheinung treten. Heinrich Barths Philosophie des Ästhetischen, hg. von G. Hauff, R. Schweitzer, A. Wildermuth, Basel 1990, S. 97–114, und A. Moscati, Teoria dell’esperienza e problema della metafisica. Interpretazioni kantiane a confronto in I filosofi della scuola di Marburgo, S. 213–229. 52 Kant und das Problem der Metaphysik, S. 123. 53 Der Brief ist veröffentlicht in E. Husserl, Briefwechsel, IV, Die Freiburger Schüler, S. 146.
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die dieses Verhältnis kennzeichnet – in einem unerwarteten Licht, denn hier kommt die Verbindung zum Vorschein, die Heidegger bis zur ›Kehre‹ mit der philosophischen Tradition unterhält, deren vollständige Überwindung er sich vorgenommen hatte. Bis zu Sein und Zeit ist eine »Nähe« Heideggers zum Neukantianismus erkennbar, so daß sich unter dem Gewand der Fundamentalontologie stets eine Art transzendentales Subjekt einnistet, das das hermeneutische Verständnis des Daseins fundiert.54 Wahrscheinlich fragte Cassirer Heidegger aus diesem Grund zu Beginn des Davoser Kolloquiums, was er unter ›Neukantianismus‹ verstehe, und bemerkte (möglicherweise verschmitzt), daß der Neukantianismus zum »Sündenbock der neueren Philosophie« zu werden scheine, ohne daß am Horizont »ein existierender Neukantianer« zu sehen sei. Und Cassirer fügte hinzu: »Es handelt sich nicht um die Art der Philosophie als dogmatisches Lehrsystem, sondern um eine Richtung der Fragestellung. Ich muß gestehen, daß ich in Heidegger hier einen Neukantianer gefunden habe, wie ich ihn nicht in ihm vermutet hätte.«55 3. Die These, daß das Verhältnis Heideggers zum Marburger Neukantianismus wesentlich komplexer ist, als allgemein angenommen wird, findet eine signifikante Bestätigung, wenn man das Verhältnis Heidegger-Natorp betrachtet, vor allem was den Natorp betrifft, der von der Allgemeinen Psychologie von 1912 aus in einer verschlungenen Entwicklungslinie, in der er über das Marburger Erbe hinausging, zur onto-logischen Wende seiner letzten Lebensjahre gelangte.56 Nicht zufällig führt Heidegger in den ersten Wortwechseln des Davoser Dialogs als Vgl. E. W. Orth, Heidegger e il neokantismo, S. 286. Davoser Disputation, S. 274, Hervorh. von M. F. Das fehlende Verständnis des Neukantianismus als »Richtung der Fragestellung« basiert auf der verbreiteten Tendenz, ihn als ›farblose‹ Erkenntnistheorie oder überholte Subjekt-Philosophie zu interpretieren, die ausgerechnet Heidegger in Davos zu diskreditieren versucht. (Diesem Mißverständnis scheint bspw. J. M. Krois, Aufklärung und Metaphysik. Zur Philosophie Cassirers und der Davoser-Debatte mit Heidegger, »Internationale Zeitschrift für Philosophie«, I, 1992, S. 273–289, erlegen zu sein). 56 Zum Verhältnis zwischen Heidegger und Natorp s. vor allem die Arbeiten von Ch. von Wolzogen, Die autonome Relation. Zum Problem der Beziehung im Spätwerk Paul Natorps. Ein Beitrag zur Geschichte der Theorien der Relation, WürzburgAmsterdam 1984 (bes. S. 144–163); »Es gibt«. Heidegger und Natorps »Praktische Philosophie« in Heidegger und die praktische Philosophie, S. 313–337; Natorp-Heidegger-Levinas: Zur Entwicklung des Begriffsfeldes »Es gibt« in I filosofi della scuola di Marburgo, S. 169–93, und schließlich den Text »Den Gegner stark machen«. Heidegger und der Ausgang des Neukantianismus am Beispiel Paul Natorps in Neukantianismus. Perspektiven und Probleme, S. 397–417. 54 55
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Beispiele für den ›Idealtypus‹ eines Neukantianers Cohen, Windelband, Rickert, Erdmann und Riehl an; Natorp nennt er nicht.57 Dagegen weist er in dem Natorp gewidmeten Teil der kurzen Geschichte des Marburger Lehrstuhl von 1927 darauf hin, daß es Natorp gelungen sei, sich von dem Ansatz Cohens zu befreien, mit großer Klarheit »die wesentlichen Lücken und Einseitigkeiten [ seines ] Systems« erfaßt zu haben und zu einer »ursprünglicher begründeten, selbständigen Fortbildung« gelangt zu sein.58 Eine solche Entwicklung hatte ihren ersten entscheidenden Impuls in der Allgemeinen Psychologie; und von hier aus war Natorp – über eine »systematische Entfaltung der Systemeinheit der Philosophie« – schließlich bei einer »Idee der Logik« angelangt, die »aus den Schranken einer Grundlegung der Wissenschaften, d. h. ›Theoretik‹, befreit und dieser sowohl wie der ›Praktik‹ und ›Poietik‹ [ … ] als allgemeine Kategorienlehre [ vorgeordnet ]« wurde.59 Heidegger schrieb diese Zeilen 1925, ein Jahr nach dem Tod Natorps, als die Vorlesungen über praktische Philosophie erschienen waren und Natorp somit die späte Phase seines Denkens erreicht hatte.60 Dennoch geht der Beginn der kritischen Auseinandersetzung mit Natorp, abgesehen davon, daß Heidegger damals die Nachlaßschrift Philosophische Systematik – die erst 1958 erschien und zwar anscheinend, weil ausgerechnet Heidegger ihr Erscheinen zu verzögern versuchte61 –, wahrscheinlich zumindest in groben Zügen kannte, auf das Ende des Jahrzehntes vorher zurück. Den wichtigsten Referenzpunkt der ›ontologischen‹ Entwicklung des Natorpschen Neukantianismus stellte zu der Zeit der Entwurf einer »allgemeinen Logik« dar, die in einer letzten ursprünglichen Einheit die »noch viel zu äußerliche« Korrelation zwischen Subjektivem und Objektivem überwindet, welche in der Allgemeinen Psychologie dominierte.62 Heidegger spricht schließlich bereits 1919 in den Freiburger Vorlesungen des Kriegsnotsemesters von Februar bis April ausführlich über die Allgemeine Psychologie (und widmet der Natorpschen Schrift im folgenden Wintersemester sogar ein Seminar)63 im Zusammenhang Vgl. Davoser Disputation, S. 274. Zur Geschichte des philosophischen Lehrstuhles seit 1866, S. 307. 59 Ebd., S. 308 f. 60 S. hierzu H. Levy, Paul Natorps praktische Philosophie, »Kant-Studien«, XXXI, 1926, S. 311–329 (zum späten Natorp jedoch vor allem G. Gigliotti, Avventure e disavventure del trascendentale, S. 270 ff.). 61 Vgl. Ch. von Wolzogen, Die autonome Relation, S. 167, Anm. 13. 62 So Natorp in der Selbstdarstellung, S. 157. 63 Zahlreiche Bezüge auf Natorp (und im allgemeinen auf die Marburger Schule) finden sich in Grundprobleme der Phänomenologie (1919 / 1920), hg. von H.-H. Gander (= Gesamtausgabe, LVIII), Frankfurt am Main 1993. 57 58
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einer ›radikalen‹ Reflexion über die Möglichkeit, die Sphäre der Erlebnisse außerhalb eines theoretischen Vorurteils zu diskutieren, d. h. in Richtung einer phänomenologischen Orientierung, die die Sphäre des Psychischen ur-wissenschaftlich erschließt, ohne den Schatten einer bereits vollzogenen Objektivierung auf es zu werfen.64 Heidegger zeigt die Unfähigkeit Natorps auf, sich der Fessel der Objektivierung zu entledigen, da der Versuch, das Psychische im Ausgang von seinen Objektivierungen zu »rekonstruieren«, immer konstruieren und somit innerhalb der Schlingen einer objektivierenden Methode zu verbleiben bedeute. Aber gerade aus diesem Grunde verfolgt Heidegger mit großem Interesse den späten Natorp auf dem Weg einer ›Letztbegründung‹, die ontologisch orientiert und jenseits der Subjekt-Objekt-Korrelation angesiedelt ist. Er vertritt somit eine Ansicht, die derjenigen Cassirer diametral entgegengesetzt ist, für den das ungelöste Problem der Allgemeinen Psychologie in der fehlenden Öffnung auf die ›morphologische‹ Pluralität der Objektivierungen besteht.65 Das Problem Heideggers (um 1920) kann – auf der Basis einer zu diesem Zeitpunkt bereits eigenständigen Interpretation der Phänomenologie Husserls – in der Vorbereitung des begrifflichen Instrumentariums zur Isolierung der Faktizität des Lebens (»das menschliche Dasein als von ihr befragt auf seinen Seinscharakter«) als »Gegenstand der philosophischen Forschung« zusammengefaßt werden. So äußert sich Heidegger im sogenannten Natorp-Bericht vom September–Oktober 1922, in dem er, gedrängt von Natorp selbst, Rechenschaft über den Stand der eigenen Aristoteles-Forschung gibt, dem er eine dichte, erhellende Einführung voranstellt.66 Es wäre nicht unnütz zu zeigen, inwiefern die Notwendigkeit eines »systematischen Problemverständnisses« als unerläßliche »hermeneutische Voraussetzung« der Geschichtsphilosophie hier eine weitere Verbindung von Heidegger und Natorp darstellt.67 Vor allem jedoch soll Vgl. M. Heidegger, Zur Bestimmung der Philosophie, S. 13 ff., 63 ff., 95 ff. Ebd., S. 99–109 (bes. S. 107ff). Vgl. E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, III, S. 61 ff.; ECW 13, S. 57 ff. S. darüber hinaus R. Lazzari, »Critica della cultura« e »analitica dell’esserci« nel confronto fra E. Cassirer e M. Heidegger, S. 37 f. 66 Vgl. M. Heidegger, Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (Anzeige der hermeneutischen Situation), hg. von H.-U. Lessing, »Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften«, VI, 1989, S. 235–269, hier S. 238. 67 Vgl. Zur Geschichte des philosophischen Lehrstuhles seit 1866, S. 308, und Phänomenologische Interpretation zu Aristoteles, S. 237. Zu diesem Problem vgl. die Betrachtungen, die Heidegger wiederholt in den Vorlesungen des Wintersemesters 1921–1922 anstellt: vgl. Phänomenologische Interpretation zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung, hg. von W. Bröcker und K. Bröcker-Oltmanns (= Gesamtausgabe, LXI), Frankfurt am Main 1985, bes. S. 1 ff. Zum Verhältnis zwischen Heidegger und der Marburger Konzeption der Philosophiegeschichte vgl. oben S. 28 f. 64 65
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an dieser Stelle betont werden, daß Heidegger zwischen 1922 und 1924 in engem persönlichem Kontakt mit Natorp steht68 und – sicher nicht nur als ›Gegner‹ – die letzte Entwicklung verfolgt, in der für Natorp das Denken Denken des Seins und das Sein Sein des Denkens wird: Die Logik wird zur Ontologie im Horizont des reinen einfachen es gibt, des es, kraft dessen alles, was ist, sich gibt.69 Wer nun das erste Kapitel der Vorlesungen über praktische Philosophie liest, wird mit einiger Verwunderung feststellen, wieviel Heidegger sich beim späten Natorp findet (oder besser wieviel Natorp sich beim frühen Heidegger findet). Das Problem Natorps ist es, die »Frage« der Philosophie an das Faktum, daß etwas ist, zu richten: nicht an das Sein der Wissenschaft oder des Bewußtseins, sondern mit Aristoteles einfach an das Sein als solches.70 Die Korrelation von Subjekt und Objekt ist somit überwunden und transzendiert, um im Urlicht, im platonischen epekeina (der eigentlichen Bedeutung des Transzendentalen), des Überschreitens von Subjekt und Objekt als ›ersten‹ Problemen der Philosophie, zu ihrem gemeinsamen Ursprung zu gelangen und so das zu erreichen, was Heidegger im § 43 von Sein und Zeit den »existential-ontologischen Boden« nennt.71 Dieser »Urgrund des Seins überhaupt«, der die Differenz zwischen daß und was ermöglicht, stellt für Natorp den Ursprungsort des Kategorialen, des In-Beziehung-Tretens dar: den Übergang vom »Urlicht« von etwas Unbestimmten (wie man sieht, sind die Lichtmetaphern, die Heidegger später über weite Strecken verwendet, nicht besonders originell) zu seiner ersten Bestimmung, der den Eintritt in den »Bereich der Endlichkeit« kennzeichnet.72 Vergegenwärtigt man sich diese Stellen bei Natorp, muß man vielleicht die Einschätzung Franz Rosenzweigs der Davoser Disputation korrigieren. Heidegger scheint nun weniger ein Erbe Cohens (den CasVgl. auch W. Biemel, Martin Heidegger, Hamburg 1973, S. 33. Vgl. Vorlesungen über praktische Philosophie, S. 5. 70 Ebd., S. 5 f. 71 Ebd., S. 8 ff. Vgl. darüber hinaus Sein und Zeit, § 43, S. 276, dem zur Seite gestellt werden muß, was Natorp in der Philosophischen Systematik, § 23, S. 68, schreibt: »Ich gehe [ … ] noch einen Schritt weiter als früher, indem ich den Objektivismus ebenso bestimmt ablehne, d. h. die letzten Grundfragen der Philosophie ganz diesseits des Gegensatzes Subjekt-Objekt stelle, die radikale Begründung der Objekts- wie der Subjektsbeziehung, beider gleich sehr und nur miteinander, als eine der Hauptaufgaben der Systematik, aber nicht schon als eine Voraussetzung für diese selbst ansehe.« 72 Vorlesungen über praktische Philosophie, S. 13 (die Hervorh. stammt von Natorp). Merkwürdigerweise findet sich kein Hinweis auf die Vorlesungen Natorps in dem ansonsten wertvollen Buch von Th. Kisiel, The Genesis of Heidegger’s Being and Time, Berkeley-Los Angeles-London 1993 (zu Natorp und Heidegger s. bes. S. 130–134). 68 69
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sirer, so Rosenzweig, verkannt habe), sondern vielmehr ein Erbe des späten Natorps zu sein.73 Vor allem läßt sich jedoch in diesem Rahmen besser verstehen, was Heidegger vor der Begegnung in Davos über Cassirer schrieb. In dem Artikel von 1927 wird Cassirers Bemühung, »eine allgemeine ›Kulturphilosophie‹ auf dem Boden der neukantischen Fragestellungen zu entwerfen« eher Natorp als Cohen zugeordnet: Wie Natorp lege auch Cassirer – so Heidegger – eher das Gewicht auf eine »allgemeine kategoriale Fundamentierung des Systems« als auf eine »Interpretation der einzelnen ›Symbole‹ des Geistes«.74 Dennoch kann die Rezension des zweiten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen, die Heidegger im darauffolgenden Jahr veröffentlicht, nur noch wenig Zweifel daran lassen, daß er diesen Versuch als im wesentlichen gescheitert betrachtet, um so mehr, als er im allgemeinen sicher keine Sympathie für die Kulturphilosophie, sondern vielmehr einen »Greuel« vor ihr hatte.75 Heidegger wirft der Cassirerschen Untersuchung des mythischen Denkens zweierlei vor: Auf der einen Seite fragt er sich, ob die Reduktion des Mythos auf eine »Funktionsform des bildenden Bewußtseins« angemessen ist, wenn Cassirer den Mythos nicht als »Möglichkeit des menschlichen Daseins« und folglich auf der Basis einer »radikale[ n ] Ontologie des Daseins im Lichte des Seinsproblems überhaupt« thematisiert;76 auf der anderen Seite betont Heidegger, daß die fehlende Bestimmung des mythischen Daseins als an die Welt ausgeliefert und von ihr überwältigt (dies ist der Sinn der Geworfenheit) die Fragilität des theoretischen Instrumentariums manifest werden lasse, das Cassirer in der Illusion zur Anwendung bringe, daß die neukantische Interpretation Kants eine Ausweitung der ›kopernikanischen Wende‹ von der ›Kritik der Vernunft‹ auf die ›Kritik der Kultur‹ zulasse. Heidegger wirft Cassirer letztlich mangelnde systematische Stärke vor (ein Einwand, den er gegen Natorp nie vorgebracht hätte), mit dem Ergebnis »eine Darstellung der Phänomene des Geistes« mit »der Philosophie selbst« zu verwechseln.77
Vgl. F. Rosenzweig, Vertauschte Fronten, jetzt in Zweistromland. Kleinere Schriften zu Glauben und Denken, hg. von R. und A. Mayer (= Gesammelte Schriften, III), Dordrecht 1984, S. 235 ff. 74 Zur Geschichte des philosophischen Lehrstuhles seit 1866, S. 309 f. 75 K. Löwith, Mein Leben in Deutschland, S. 28. 76 M. Heidegger, Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. 2. Teil: Das mythische Denken, »Deutsche Literaturzeitung«, V, 1928, Sp. 1000 ff., jetzt in Kant und das Problem der Metaphysik, S. 255–270, hier S. 264 f. 77 Ebd., S. 270. Zu Recht weist Lazzari (»Critica della cultura« e »analitica dell’esserci« nel confronto fra E. Cassirer e M. Heidegger, S. 56, Anm. 86) darauf hin, daß 73
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Im übrigen wurde das Wesentliche dieser Kritik Heideggers bereits in einer langen Anmerkung des § 11 von Sein und Zeit vorweggenommen, in der Heidegger (allerdings mit Bezug auf eine Begegnung mit Cassirer 1923 in Hamburg anläßlich eines Vortrags Heideggers über die Aufgaben der phänomenologischen Forschung) darauf hinweist, daß dieser damals mit ihm hinsichtlich der Notwendigkeit »einer existenzialen Analytik« übereingestimmt habe.78 Doch weder die Rezension von 1928 und erst recht nicht die Begegnung in Davos, die mit der ›Unübersetzbarkeit‹ der beiden Perspektiven endete, lassen besser verstehen, worin genau eine solche »Übereinstimmung« bestanden haben mag.79 Mehr noch als in Sein und Zeit – und dies muß betont werden – polemisierte Heidegger auch an anderer Stelle unterschwellig gegen Cassirer und stets bezüglich zentraler Probleme: sei es, als es darum ging, den mathematischen Funktionsbegriff und allgemeiner die logischen Relationen in der ontologischen Prädeterminierung der Substanzialität des Wesens zu verankern (evident ist hier der Bezug auf Substanzbegriff und Funktionsbegriff von Cassirer),80 sei es, als das Verhältnis zwischen Dasein und Rede Heidegger zu einer Kritik an der Sprache als »symbolischer Form« und Ausdruck des Geistes veranlaßte, die dem Einwand gegen die Cassirersche Analyse des mythischen Denkens ähnelt.81 Und doch gibt es einen Punkt, der von einer sehr viel intrikateren, hintergründigen Verbindung zeugt und den es zu beachten gilt: Wenn Heidegger den Bruch mit der Marburger Schule nicht bezüglich der zentralen Bedeutung des Ursprünglichen vollzieht, wohl aber hinsichtlich der Art und Weise des Verständnisses der ontologischen Verortung des Heidegger in den Vorlesungen des Wintersemesters 1929–1930 mit offensichtlichem Bezug auf Cassirer auf das Ungenügen der Kulturphilosophie zu sprechen kommt, die, noch diesseits des Daseins des Menschen verortet, bloße Dar-stellung bleibe, die das Da-sein nicht erreiche (vgl. Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt-EndlichkeitEinsamkeit, hg. von F.-W. von Herrmann (= Gesamtausgabe, XXIX / XXX), Frankfurt am Main 1983, § 18, S. 111–116, bes. S. 113). Zur Heideggerschen Bewertung der systematischen Tiefe Natorps vgl. hingegen Zur Bestimmung der Philosophie, S. 108, wo Heidegger insbesondere auf die Wiederaufnahme des Hegelschen ›Panlogismus‹ durch Natorp eingeht. 78 Sein und Zeit, § 11, S. 69, Anm. 1. 79 Davoser Disputation, S. 289. Es ist diese Schwierigkeit der gegenseitigen ›Übersetzung‹, vor deren Hintergrund das berühmte (jedoch mit Vorsicht zu genießende) Zeugnis von Heindrik Pos zu lesen ist, nach dem sich Heidegger am Ende des Kolloquiums geweigert haben soll, Cassirer die Hand zu geben (vgl. Recollections of Ernst Cassirer, S. 69). 80 Vgl. Sein und Zeit, § 18, S. 117 ff. Der Bezug auf Cassirer in diesem Punkt wird explizit in den Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, S. 273. 81 Vgl. Sein und Zeit, § 34, S. 216, 220 f. Vgl. hierzu oben, S. 204 ff.
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Transzendentalen, muß man sich fragen, ob es ein bloßer Zufall ist, daß im § 43 von Sein und Zeit der Beweis der ›Unsinnigkeit‹ des Problems der Wirklichkeit als Voraussetzung und Beweisbarkeit einer Außenwelt und folglich der traditionellen Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt darin mündet, daß dem In-der-Welt-sein der Charakter eines »ursprünglichen Phänomens« (das Urphänomen Goethes) in Begriffen zugesprochen wird, die eine bedeutsame Affinität zu dem Cassirerschen nicht bis ins Letzte erklärbaren »ursprünglichen Phänomen« des »Ausdrucks« und der »symbolischen Prägnanz« haben. Nur von hier aus hat die Zergliederung in Subjekt und Objekt, in Ich und Wirklichkeit für Cassirer wie für das In-der-Welt-sein Heideggers Sinn.82 Genau deshalb übrigens fühlte sich Cassirer berechtigt, vom »Idealismus« Heideggers zu sprechen,83 was nur auf den ersten Blick paradox erscheint, wenn man berücksichtigt, daß Heidegger sich auch in Sein und Zeit noch eines apriorischen Apparates bedient, dessen transzendentaler Status von dem Sprachgebrauch der Daseinsanalyse kaum verdeckt wird. Dies kommt – in gewisser Hinsicht nicht anders als bei Cassirer – insbesondere dann zum Tragen, wenn das Problem der »Räumlichkeit« des Daseins nicht im Ausgang von einem Subjekt ›ohne Welt‹ aufgeworfen wird, das sich wie eine leere Form eine äußere Materie einverleibt, sondern viel mehr im Ausgang von einer apriorischen Funktion als »Existenzial«, das die Wirklichkeit gemäß Formen von Räumlichkeit »mitkonstituiert«, die sich von dem abstrakt-homogenen und ›neutralisierten‹ Raum der wissenschaftlichen Erkenntnis unterscheiden.84 Noch einmal erscheint der Weg Heideggers somit als eine spiegelbildliche Verkehrung des Neukantianismus, als ein Richtungswechsel, durch den die Aufmerksamkeit auf das ›Faktum‹ des Daseins selbst und nicht auf die bereits objektiven Formationen der Kultur gerichtet wird. 4. Im dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen, der 1927 abgeschlossen, aber erst 1929 (nach der Davoser Disputation) veröffentlicht wurde, fügte Cassirer in die Kapitel, die dem Raum und der Zeit gewidmet sind, zwei lange Anmerkungen ein, in denen er erklärt, daß seine Forschungen dort ihren Ausgang nehmen, wo die Untersuchungen Heideggers abbrechen. Er begreift hier Räumlichkeit und Zeitlichkeit als
Ebd., § 43, S. 274. Vgl. darüber hinaus Philosophie der symbolischen Formen, III, S. 222–237; ECW 13, S. 218–233. 83 Vgl. Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 219. 84 Vgl. Sein und Zeit, § 24, S. 149 ff., und dazu Philosophie der symbolischen Formen, III, S. 173; ECW 13, S. 167. 82
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symbolische Formungen, als Objektivierungen des Geistes, die sich aus der rein pragmatischen, existentiellen Dimension zur objektiven Bestimmung aufschwingen.85 Im Sprachgebrauch Heideggers bedeutet dies, daß Cassirer die Philosophie der symbolischen Formen nicht im Zuhandenen, sondern vielmehr im Vorhandenen ansiedelt: Das Problem ist nicht das eines unmittelbaren Verhältnisses zur Welt und den Dingen – durch ein solches ist vornehmlich das Tierreich gekennzeichnet – sondern ein durch die geistige Energie vermitteltes Verhältnis. Cassirer hatte bereits in den Vorträgen über anthropologische Philosophie, die er in den Davoser Kursen hielt, klargestellt, daß der Lebensraum, der »Aktionsraum«, die Voraussetzung des vorgestellten, symbolischen Raumes sei, sich jedoch als menschlicher Raum stets von der »Sphäre« der Handlung zur geistigen »Atmosphäre« erheben müsse. Von diesem Gesichtspunkt aus bliebe der Heideggerschen Untersuchung der »Zuhandenheit« jene höhere Ebene verschlossen, auf der sich die Transformation vom bloßen »Greifen« ins »Begreifen« vollziehe: Heidegger bleibe dem terminus a quo verhaftet und gehe stillschweigend über den terminus ad quem hinweg.86 Obwohl er alles andere als unsensibel gegenüber der Betrachtung des praktischen Raumes und der Orientierung war, dem Heidegger (ebenso wie Cassirer, dieser jedoch vor allem unter Bezugnahme auf Kants Was heißt: sich im Denken orientieren?87) soviel Aufmerksamkeit gewidmet hatte, meinte Cassirer, daß der »Symbolraum« des Menschen von demjenigen der bloßen »Aktion« unterschieden werden müsse, der das Tierreich kennzeichne: Menschen, stellte er fest, zeigen eine ›tierische‹ Auffassung des Raumes nur bei »bestimmten pathologischen Veränderungen des ›Raumbewußtseins‹ «.88 Mit subtil ironischer Absicht, die bereits in Davos zum Vorschein kam, äußerte er den Verdacht, daß der
85 Vgl. Philosophie der symbolischen Formen, III, S. 173 f., Anm. 1, 190, Anm. 1; ECW 13, S. 167, Anm. 64, 184, Anm. 86. 86 Ein (anonymer) Bericht über die Davoser Tagung findet sich (unter dem Titel Vorträge von Prof. Ernst Cassirer) in der »Davoser Revue«, IV, 1929, Nr. 7, S. 196 ff.; eine französische Teilübersetzung ist erschienen in Débat sur le Kantisme et la Philosophie, S. 25 ff. 87 Vgl. Sein und Zeit, § 23, S. 145 f., und Philosophie der symbolischen Formen, II, S. 116; ECW 12, S. 110. 88 Philosophie der symbolischen Formen, III, S. 179, Anm. 1; ECW 13, S. 173, Anm. 70. Weiter unten, im Kapitel über die »Pathologie des Symbolbewußtseins«, präzisiert Cassirer: »Allgemein zeigen die pathologischen Störungen des Raumbewußtseins bei Aphasischen sehr deutlich, wo die Grenzen zwischen dem ›konkreten‹ Raum, der für den richtigen Vollzug bestimmter, auf einen einzelnen konkreten Zweck bezogener Handlungen ausreicht, und dem ›abstrakten‹, dem rein-schematischen Raum liegt.« (Ebd., S. 287; ECW 13, S. 284).
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dimensionslose Raum, der sich in den bloßen Anzeigen der ›Zuhandenheit‹ erschöpfe, von denen Heidegger im § 22 von Sein und Zeit (»an der Decke«, »am Boden«, »bei der Tür«)89 spricht, in Wirklichkeit der Raum eines Aphasikers sei; und in diesem Profil schien Sein und Zeit wie ein gutes ›Handbuch‹ das Verhalten der Tiere oder eines Geisteskranken zu illustrieren.90 Und doch können die wenig wohlwollenden Anspielungen Cassirers die Tatsache nicht verschleiern, daß sein Verhältnis zu Heidegger durch profunden Respekt gekennzeichnet war. Cassirer machte sich den neuen Diskussionsbereich, den Sein und Zeit in der Thematisierung des allgemeinen Verhältnisses zwischen »Geist« und »Leben« aufgeworfen hatte, zu eigen und beschäftigte sich mit ihm – wie noch zu zeigen sein wird – gegen Ende der 20er Jahre im Zusammenhang des veränderten Klimas in der deutschen Philosophie ausführlich. Die Aufzeichnungen von 1928 zu Heidegger, die (zusammen mit denjenigen zu Simmel, Bergson und Klages) für einen vierten Band der Philosophie der symbolischen Formen vorgesehen waren, stellen unter diesem Gesichtspunkt ein wertvolles Dokument auch für ein genaueres Verständnis der Davoser Disputation und der Rezension von Kant und das Problem der Metaphysik dar.91 Cassirer macht die Matrix des Heideggerschen Denkens vor allem in der Religionsphilosophie aus: Die wichtigsten Bezugspunkte von Sein und Zeit seien, als wahrhafte Vordenker der Einsamkeit des Individuums, der Angst und des »Urphänomens« des Todes, Luther und Kierkegaard.92 Für Cassirer handelt es sich nicht nur um eine genuin ›existenzialistische‹ Atmosphäre, sondern um eine Grundentscheidung, die Heidegger zur Begründung des Sinns des Philosophierens gefällt habe: ein »Stilprinzip« – wird Cassirer in der Rezension von Heideggers Kantbuch sagen –, unter das Heidegger auch die Kantische Philosophie gebeugt habe, inVgl. Sein und Zeit, § 22, S. 138. Zu diesem Punkt kehrt Cassirer noch einmal in dem Aufsatz von 1932 über die Sprache und die Objektwelt zurück, in dem er explizit die Heideggersche Unterscheidung von Zuhandenheit und Vorhandenheit zitiert und die These vertritt, daß die Reduktion des Verhältnisses zu den Dingen auf ihren einfachen, unmittelbaren Gebrauch, ohne sie in der Welt ›situieren‹ zu können, genau jene »Pathologie« des Symbolbewußtseins der Aphasie sei (vgl. Die Sprache und der Aufbau der Gegenstandswelt, S. 113). 91 Vgl. Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 219–226. Ein Großteil dieser Anmerkungen war bereits von J. M. Krois, Cassirer’s Unpublished Critique of Heidegger, »Philosophy and Rhetoric«, XVI, 1983, S. 147–166, publiziert worden. Aus anderem unveröffentlichten Material, das im Band XIX der Nachlaßausgabe erscheinen wird, zitiert H. Paetzold, Ernst Cassirer, S. 90 ff. 92 Vgl. Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 221. 89 90
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dem er ihre Gesamtstimmung radikal verändert habe und Kant als vom Rand eines »Abgrundes« angezogen erscheinen lasse, der in Wirklichkeit nichts mit Kant, viel aber mit Kierkegaard zu tun habe.93 Dennoch entzieht Cassirer sich der Konfrontation mit den von Heidegger aufgeworfenen Fragen nicht, obwohl er überzeugt ist, daß die methodische Basis einer Reflexion über die »tiefsten und verborgensten ›Gründe‹ des Seins« eine andere sein muß.94 Die Anmerkungen zum Problem des Todes gehören diesem Typus methodischer ›Korrektur‹ an: Nachdem er einmal (aber nur in einer Andeutung) scharfsinnig eine gewisse Affinität Heideggers zu Simmel festgestellt hatte, wiederholte Cassirer mit dem Platonischen Phaidon, daß die Philosophie ein ›Sterbenlernen‹ sei.95 Diese Perspektive, die auch »heidnisch« anmuten könne, schien Cassirer die einzig annehmbare zu sein: Der Mensch sei das einzige Lebewesen, das von dem Tod »wissen« und so das bloße »Faktum« zu einer »Notwendigkeit« erheben könne: Der Mensch stelle sich folglich dem Tod gegenüber, und dies sei eine weitere Bestätigung seiner »Grundfähigkeit der Distanzierung«, der Objektivierung des Lebens sowie des Todes.96 Auf die Endlichkeit und das Sein-zum-Tode antwortet Cassirer – ähnlich wie in Davos –, indem er unterstreicht, daß die »Befreiung von der ontologischen Enge und Dumpfheit des Daseins« nur durch ein »Leben in der Idee« erfolgen könne.97 Im Umfeld dieses Themas entwickelte Cassirer in der Disputation von 1929 eines seiner Hauptargumente, und auch in seiner Rezension von 1931 kam er wieder darauf zu sprechen und leistete – so Aubenque – Heidegger einen unfreiwilligen Dienst bezüglich des Kantischen Imperativs: Denn wenn Vgl. Bemerkungen zu Martin Heideggers Kant-Interpretation, S. 23 f. Daß derartige methodische Prämissen mit der transzendentalen Methode oder mit der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Objektivierungen des Geistes zu identifizieren sind, hat Cassirer in Davos wiederholt unterstrichen; es ist jedoch bezeichnend, daß er sogar die Frage stellt, ob »alle Fragen der Philosophie« auf dieser Basis beantwortet werden können: »An weite Gebiete kann man vielleicht von hier aus nicht heran.« (Davoser Disputation, S. 295) 95 Vgl. Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 223 (ähnlich auch Vorträge von Prof. Ernst Cassirer, S. 197). Von Simmel hatte Cassirer sicher das Kapitel über den Tod und die Unsterblichkeit aus Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel, S. 99–153, präsent. Zur (stillschweigenden) Wiederaufnahme dieser Simmelschen Themen durch Heidegger vgl. Ch. Ertel, Von der Phänomenologie und jüngeren Lebensphilosophie zur Existentialphilosophie M. Heideggers, »Philosophisches Jahrbuch des GörresGesellschaft«, LI, 1938, S. 27 f. (s. jedoch auch die kluge Studie von M. Großheim, Von Georg Simmel zu Martin Heidegger. Philosophie zwischen Leben und Existenz, Bonn 1991). 96 Vgl. Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 224. 97 Ebd., S. 221. 93 94
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das Reich der Idee, zu dem der Mensch sich über seine eigene Endlichkeit hinaus erheben müsse, vor allem die moralische Welt sei, scheint er anzuerkennen, daß – so Heideggers richtige Beobachtung – »gerade der Begriff des Imperativs als solcher [ … ] den inneren Bezug auf ein endliches Wesen [ zeigt ]«.98 Hinsichtlich des Themas der Endlichkeit zeichnete sich aber bereits in Davos ein fundamentaler Gegensatz ab, der einerseits darin bestand, die Endlichkeit im Bereich der Kultur und der symbolischen Produktion zu überwinden, und andererseits in der Notwendigkeit, sie als unhintergehbare Struktur anzuerkennen, die die Frage nach dem Sinn des Seins dominiert und orientiert.99 Sich auf den Menschen zu beziehen, auf das Verständnis des Lebens, auf die »objektive menschliche Welt«, in der die Menschen einander im Medium der Formen begegnen: Das ist die Antwort Cassirers auf die Herausforderung durch Heidegger.100 Dies bedeutet auch, Heidegger mit einer anderen Konzeption der Endlichkeit zu begegnen, die von der Kantischen Unterscheidung von intellectus archetypus und intellectus ectypus oder von einem anschauende und einem diskursiven menschlichen Verstand ausgeht, der auf Symbole angewiesen ist. Zugleich bedeutet es, sich noch einmal zu Goethe zurückzuwenden und mit ihm zu verstehen, daß, in das Unendliche vorzudringen, nichts anderes heißen kann, als das Endliche in alle Richtungen zu erforschen, und daß »die Endlichkeit des menschlichen Daseins nicht gleichbedeutend [ ist ] mit der Nichtigkeit dieses Daseins«.101 Andererseits belegen die Aufzeichnungen Cassirers zu Sein und Zeit, daß, sich Heidegger entgegenzustellen, gewissermaßen auch Davoser Disputation, S. 279. Vgl. P. Aubenque, Le débat de 1929 entre Cassirer et Heidegger, S. 88 f. (und vorrangig auch die erklärende Anmerkung in E. Cassirer– M. Heidegger, Débat sur le Kantisme et la Philosophie, S. 30 f., Anm. 3). In der Rezension von 1931 erwidert Cassirer in Anlehnung an Cohen, daß der Imperativ nur die Sphäre der Anwendbarkeit des moralischen Gesetzes betreffe, welche ihrerseits (und dies ist ein Fixpunkt bei Cassirer) für den Menschen als Ausdruck der Freiheit, nicht der zeitlichen Endlichkeit, einen Sinn habe (vgl. Bemerkungen zu Martin Heideggers Kant-Interpretation, S. 14 ff.). 99 Eine solche Gegenüberstellung kommt in den verschiedenen Bedeutungen, die Cassirer und Heidegger dem terminus a quo der ursprünglichen Konstitution des Daseins und dem terminus ad quem seiner Objektivierungen beilegen, zum Ausdruck (vgl. Davoser Disputation, S. 288). S. hierzu den Kommentar (in dem Cassirer in einem zu ungünstigen Licht erscheint) von H. Declève, Heidegger et Cassirer interprètes de Kant, S. 543, Anm. 22: »Cassirer sait où il va, mais il ne sait pas bien d’où il part; au contraire, M. Heidegger renonce à savoir où il va [ … ] mais il veut approfondir sans cesse, c’est-à-dire rendre plus authentique problématique le problème dont il part.« 100 Vgl. Davoser Disputation, S. 292 f. 101 Rousseau, Kant, Goethe, S. 80. 98
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bedeutet, mit dem objektiven Geist Hegels zu ›kokettieren‹ (Cassirer tut dies in diesen Jahren häufiger)102: »Wir fassen das Allgemeine nicht als bloßes ›Man‹ « – schreibt Cassirer –, »sondern als objektiven Geist u. objektive Kultur«, und weiter: »der objektive-Geist geht uns nicht in der Struktur der Alltäglichkeit auf und unter«. Sicher gibt es hier einen »unpersönlichen« Aspekt, aber es ist nicht das Heideggersche ›Man‹, sondern der Sinn: der Sinn, von dem die Geschichtlichkeit des Geistes durchwoben ist und der nicht im Dasein aufgeht (der Sinn, die Idee, nicht nur das Dasein sind – so Cassirer – »ursprünglich geschichtlich«): » ›es giebt‹ ›unpersönlichen‹ Sinn, der freilich nur für ein daseiendes Subjekt erlebbar ist«. Und so schließt Cassirer: »[ H ]ier stellen wir uns auf den Boden Hegels gegen Kierkegaard.«103 Im Lichte dessen, was Heidegger in Davos vertrat, würde man nicht annehmen, daß diese Einwände in irgendeiner Weise eine befriedigende Antwort für den Autor von Sein und Zeit gewesen sein können. Heidegger sagte explizit: Wenn irgend jemand in der Existentialanalytik ein Verständnis des Menschen oder eine philosophische Anthropologie erblickt, irrt er; und es irrt gleichermaßen, wer Sein und Zeit als eine Grundlegung der verschiedenen Kulturgebiete betrachtet.104 Es schien beinahe, als zöge sich dieser, um so mehr Cassirer bereit war, sich auf das Terrain Heideggers zu begeben, um so weiter zurück. Er bestand auf der ausschließlich ontologischen Absicht seiner Arbeit und nahm bereits die Themenstellungen vorweg, denen er sich wenig später widmete: das Wesen der Wahrheit auf der einen Seite und »das Nichts, die Angst« als einzige Möglichkeit »des Seinsverständnisses« auf der anderen, d. h. die Themen von Vom Wesen der Wahrheit (von 1930) und von Was ist Metaphysik? (aus dem Juli 1929).105 Es gibt keinen Grund für die Annahme, Cassirer habe die Antrittsrede Was ist Metaphysik? nicht gelesen, auch wenn wir seine Reaktion nicht kennen (und wir wissen nicht einmal, wie er den harten Angriff Rudolf Carnaps in seinem berühmten Aufsatz in der Zeitschrift »Erkenntnis«
Vgl. z. B. Philosophie der symbolischen Formen, III, S. VI f.; ECW 13, S VIII f. Vgl. Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 220 ff. Trotz des beharrlichen Bezugs auf Hegel scheint es so, als würde Cassirer hier auch (und vielleicht noch mehr) die Sprache Diltheys sprechen, und sei es auch eines Diltheys, der seinerseits durch Hegel beeinflußt ist: vgl. z. B. Plan der Fortsetzung zum Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften in Gesammelte Schriften, VII, S. 290. 104 Vgl. Davoser Disputation, S. 283 f. 105 Vgl. M. Heidegger, Wegmarken, S. 103–122, 177–202, hinzuzunehmen ist selbstverständlich Vom Wesen des Grundes, ebenfalls aus dem Jahre 1929 (S. 123–175). S. auch Davoser Disputation, S. 283 f. 102 103
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beurteilte).106 Wir wissen jedoch, daß Cassirer die Antimetaphysik des Neopositivismus nicht nur nicht teilte, sondern in seinen Arbeitsnotizen eine eigene ›Metaphysik‹ formulierte: eine ›Metaphysik‹ des Symbolischen oder der »Substanz des Lebens«, das, auf seinen »Grund« zurückgeführt, überpersonales Subjekt, reine »Sinn-Sphaere« geworden ist. Er wandte sich im Namen eines »identischen Prinzips des Tuns«, das aus dem ursprünglichen Phänomen das wahre »Sein«, das »Absolute« macht, gegen jede willkürliche Verabsolutierung eines einzelnen Aspektes der Totalität des Geistes (das ist die Metaphysik, die Cassirer verurteilt), weil für ihn das Sein eine geistige Energie ist.107 In anderer Hinsicht – bezüglich des »Wesens der Wahrheit« – hatte Cassirer hingegen Heidegger bereits in Davos gefragt, wie dem endlichen Wesen, das der Mensch ist, der »Durchbruch« der Endlichkeit gelingen könne, um zur Objektivität zu gelangen, ohne einer relativistischen Interpretation der Wahrheit zu verfallen.108 Heidegger hatte in seiner Antwort die Argumentation von Sein und Zeit wieder aufgenommen und die Ansicht vertreten, daß die Wahrheit nur, insofern das Dasein existiert, einen Sinn habe; und da die Wahrheit nicht die Korrespondenz zwischen dem ›Ding‹ und dem ›Verstand‹ sei, sondern die »Entdecktheit«, die Unverborgenheit, mit der er gewöhnlich den griechischen Terminus der aletheia übersetzt, haben die sogenannten ›ewigen‹ Wahrheiten ihr Fundament in jenem exklusiven Seienden, das den Horizont der Begegnung mit Seiendem öffne, so daß die Objektivität als intersubjektives »In-der-Wahrheit-sein« als sich »Halten« in »der Offenbarkeit des Seienden« für Heidegger noch einer angemessenen ontologischen Fundierung bedarf.109 Cassirer seinerseits schien in dem Vortrag vom 7. November 1929 anläßlich seiner Ernennung zum Rektor der Universität Hamburg mit Hei-
106 Vgl. R. Carnap, Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache, »Erkenntnis«, II, 1932, S. 219–241. Carnap war auch während der Begegnung in Davos anwesend. Davon zeugen zwei unveröffentlichte Briefe an Reichenbach vom 28. Februar und vom 2. April 1929 (verwahrt in der Reichenbach Collection der Universität von Pittsburgh unter der Signatur HR-014-03-20 und HR-014-03-18). Vor allem ist jedoch ein Brief an Schlick hervorzuheben (aus Davos, 6. April 1929), in dem Carnap unter anderem bemerkt: »Es war wirklich interessant, verschiedene Leute kennenzulernen. Aber es war eine gewaltige metaphysische Wolke das Ganze« (mit der Signatur RC-029-30-20 der Carnap Collection der Universität von Pittsburgh, mit deren freundlicher Genehmigung er hier zitiert wird). 107 Vgl. Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 238 ff., 262 ff. Zur Kritik Cassirers an der Antimetaphysik des Neopositivismus und dem Bezug auf die Kantische Frage nach der »Disziplin« der Metaphysik vgl. Axel Hägerström, S. 17–22. 108 Vgl. Davoser Disputation, S. 276 f. 109 Ebd., S. 281. Vgl. darüber hinaus Sein und Zeit, § 44, S. 290 ff.
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degger in einem Punkt übereinzustimmen: Es gibt keine gestaltete Wirklichkeit, in deren korrekter ›Spiegelung‹ die Wahrheit bestünde; und wie Heidegger im § 44 von Sein und Zeit betrachtet auch Cassirer das Problem der Wahrheit als untrennbar von einer apriorischen Ebene, auf der sie sich konstituiert und die ihren ›Sinn‹ orientiert.110 Doch hier endet die Übereinstimmung auch schon wieder: Bei Cassirer geht die Wahrheit nicht auf ein ›Existenzial‹ des Daseins zurück, sondern entfaltet sich in der historischen Entwicklung, die von einer hierarchisch-dogmatischen Konzeption des Wahren zu seiner rationalistischen Interpretation am Anfang der modernen Wissenschaft und schließlich, nach der durch den positivistischen Tatsachenglauben verursachten Krise dieses Paradigmas, zu einer funktionalen Perspektive führt. Der Ausspruch Hegels, nach dem »das Wahre das Ganze« ist, findet so seine Verwirklichung in der Gesamtheit der geistigen Funktionen, die die Erkenntnis der natürlichen Welt und der geschichtlichen Welt leiten.111 An diesem Punkt ist es nötig, noch einmal zu Vom Wesen der Wahrheit zurückzukehren, wo Heidegger nicht nur verdeutlicht, daß das Wesen der Wahrheit »nicht ursprünglich im Satz beheimatet« sei, und den unlösbaren Zusammenhang zwischen Wahrheit und Freiheit beleuchtet (da die Freiheit gerade die »Eingelassenheit in die Entbergung des Seienden als eines solchen« ist), sondern auch auf das Kolloquium in Davos zurückzukommen scheint, wenn er das Vorurteil kritisiert, die die Freiheit als einen menschlichen Besitz betrachtet, der nicht weiter hinterfragt werden müsse. Doch zeigt sich im Gegenteil gerade in der Überwindung der von Cassirer vertretenen Position Kants, nach der die Freiheit in ihren theoretischen Fundamenten unverständlich ist, auch wenn sie das Mittel der Überwindung der Endlichkeit in der Form ist, die Notwendigkeit »einer Wandlung des Denkens«, damit der »verborgene Wesensgrund« des Daseins zugänglich wird.112 Damit sind wir bereits in der PerVgl. Formen und Formwandlungen des philosophischen Wahrheitsbegriffs, S. 346: »Alle Wahrheit muß vielmehr erarbeitet werden in einem freien Kräftespiel des Geistes, in der Ausübung seiner theoretischen Grundfunktionen und seiner spezifisch-verschiedenen Energien.« 111 Ebd., S. 332 ff., 346 ff. Zum Cassirerschen Wahrheitsbegriff vgl. J. M. Krois, Cassirer: Symbolic Forms and History, S. 106–141. 112 Vgl. Vom Wesen der Wahrheit, S. 185–190. Zur ontologischen Bestimmung der Freiheit als ursprünglicher als die Spontaneität vgl. auch Vom Wesen des Grundes, S. 164, wo Heidegger allerdings, in den hinzugefügten Anmerkungen der dritten Auflage von 1949, noch einmal auf die Grenzen einer »phänomenologisch-existenziale[ n ] und transzendentale[ n ] ›Forschung‹ « hinweist. Es sei darauf hingewiesen, daß Heidegger die Vorlesungen des Sommersemesters 1930 nicht nur der Diskussion des Freiheitsthemas, sondern ebenfalls einer kritischen Analyse der 110
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spektive jenes ›Vernehmens‹ des Seins, jener Suche nach der ›Wahrheit des Seins‹ angelangt, die – wie auch immer man sie verstehen will – die Kehre Heideggers zwischen dem Davoser Kolloquium und dem Beginn der 30er Jahre kennzeichnet: kurz einer Perspektive, in der ein Streit mit dem Humanismus und der Aufklärung Cassirers obsolet geworden ist. Auf der anderen Seite ist es nicht einfach (wenn auch nicht unmöglich), sich vorzustellen, wie Cassirer auf die Schriften des ›späten‹ Heideggers reagiert hätte – beispielsweise derjenigen zu Hölderlin oder wenn man das animal symbolicum mit dem »Hirten des Seins« konfrontieren würde.113 Dennoch gibt es zumindest ein Thema, bezüglich dessen Cassirer im Anschluß an eine Diskussion, die große Teile der deutschen Kultur zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert beschäftigte, 1930 eines der charakteristischen Motive des »späten« Heidegger vorwegnahm: das Thema der Technik und ihrer Bedeutung für die Konstitution der Kultur und der modernen Zivilisation.114 Auch diesbezüglich scheinen die Ansätze Cassirers und Heideggers von einem gemeinsamen Zentrum auszugehen, sich aber in diametral entgegengesetzte Richtungen zu orientieren. Wenn es so ist, daß Cassirer in der Analyse des technischen Instruments ein Verhältnis zur Welt entdeckt, das genau das der Sphäre der Zuhandenheit ist, und in der Cassirerschen Unterscheidung zwischen der Ab-sicht des technischen Handelns und seinem Gründen in der Vor-aussicht die Ausführungen Heideggers über die Umsicht gegenwärtig zu sein scheinen, muß dennoch betont werden, daß diese Übereinstimmungen sowohl auf methodischer Ebene als auch bezüglich Kantischen Lehre widmete, die darauf ausgerichtet ist, den ontologischen Status der Freiheit als »Bedingungen der Möglichkeit der Offenbarkeit des Seins von Seiendem« zu erweisen. (Vom Wesen der menschlichen Freiheit. Einleitung in die Philosophie, hg. von H. Tietjen (= Gesamtausgabe, XXXI), Frankfurt am Main 1982, S. 139 ff., hier S. 303). 113 Es ist z. B. bezeichnend, daß Cassirer in seinem Aufsatz über Hölderlin zum ersten Mal über den Mythos als »geistige Lebensform« und »Urform des Geistes« spricht (vgl. Idee und Gestalt, S. 121 f.; ECW 9, S. 352 f.). Auch für Cassirer spielt die Beschäftigung mit dem ›Dichten‹ – wenn auch in einer völlig anderen Perspektive – eine wesentliche Rolle. Cassirer und Heidegger stimmen außerdem darin überein, jede Form philosophischer Anthropologie als problematisch zu erachten, da der Mensch selbst als Forschungsgegenstand kein sicherer Ausgangspunkt, sondern ein zu Beginn jeder Anthropologie zu definierender terminus a quo sei (vgl. M. Heidegger, Holzwege, S. 111 f., und E. Cassirer, An Essay on Man, S. 1 ff.). Aber läßt sich dennoch ein radikalerer Gegensatz vorstellen als der späte ›amerikanische‹ Cassirer und der Heidegger des Briefes über den Humanismus? 114 Vgl. E. Cassirer, Form und Technik in Kunst und Technik, hg. von L. Kestenberg, Berlin 1930, S. 15–61 (jetzt in Symbol, Technik, Sprache, S. 39–91, aus dem zitiert wird). Zu Cassirer und der Technik vgl. unten, S. 320–324.
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der Bestimmung des Wesens der Technik aufhörte.115 Für Cassirer geht es tatsächlich darum, die transzendentale Methode auch auf die Analyse der Technik auszudehnen, um von dem ›Faktum‹ ihrer Präsenz in der modernen Welt zu den »Bedingungen ihrer Möglichkeit« und von hier aus zu den geistigen Energien, die sie zu einer spezifischen gestaltenden Aktivität im geistigen Kosmos qualifizieren, zurückzugelangen.116 Wir befinden uns folglich abermals im Zentrum eines Projektes der ›Kulturphilosophie‹ (Cassirer spricht von der » ›transzendentalen‹ Frage nach der ›Möglichkeit‹ der Kultur«), das nicht viel gemeinsam zu haben scheint mit der Reflexion Heideggers über den der Geschichte des Seins eingeschriebenen Zusammenhang Technik-Metaphysik oder mit der Bestimmung der Technik als einer »Weise des Entbergens«, die in ihrem Charakter als »Ge-stell« und »Herausforderung« die moderne Welt beherrsche und gemeinsam mit der Wissenschaft die definitive Vollendung der Metaphysik als Seinsvergessenheit darstelle.117 Es gibt keine Ähnlichkeiten zwischen den Schlußfolgerungen Cassirers bezüglich der Notwendigkeit einer »Entmaterialisierung« und »Ethisierung« der Technik, um sie (jedoch in polemischer Absetzung von jeglichem nostalgischen Antimodernismus) der Leitung des bewußten Willens einer Arbeitsgemeinschaft zu unterstellen,118 und der für den ›späten‹ Heidegger typischen Sichtweise einer Welt, die, von den Göttern verlassen, Beute eines entfesselten Herrschaftswillens geworden ist und nur
Vgl. Form und Technik, S. 62 (und Sein und Zeit, § 15, S. 93). Eine ausführliche Untersuchung der Begegnung Cassirer-Heidegger unter diesem Gesichtspunkt findet sich bei E. W. Orth, Zum Begriff der Technik bei Ernst Cassirer und Martin Heidegger in Handlungssinn und Lebenssinn, hg. von E. W. Orth, (= »Phänomenologische Forschungen«, XX), Freiburg-München 1987, S. 91–122, auch in ders., Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie, Würzburg 1996, S. 278–300. Orth insistiert besonders auf der Affinität von Heidegger und Cassirer, sei es hinsichtlich einiger grundlegender Argumentationsstrukturen, sei es bezüglich der Implikationen des Verhältnisses von Philosophie und Anthropologie. Die Prämisse dieser Übereinstimmung ist in der Orthschen Interpretation der Philosophie der symbolischen Formen als »eine[ r ] fundamental-ontologische[ n ] Analyse des menschlichen Welt- und Selbstverhältnisses« (S. 93 bzw. 280) zu sehen: eine Perspektive, die ich nicht teilen kann (vgl. darüber hinaus R. Margreiter, Gestell, Geviert und symbolische Form in Heidegger. Technik-Ethik-Politik, hg. von R. Margreiter und K. Leidlmair, Würzburg 1991, S. 77–88). 116 Form und Technik, S. 41 ff. 117 Ebd., S. 46. Vgl. jedoch vor allem M. Heidegger, Die Frage nach der Technik in Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 13–44, Zitate S. 13, 15. Diese Themen zeichnen sich bereits in dem Vortrag von 1938, Die Zeit des Weltbildes, später in Holzwege, S. 75–113, ab. 118 Vgl. Form und Technik, S. 86–89. 115
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durch das extatische Hören auf eine mysteriöse Stimme, die aus der Erde hervorkommt, oder im Wiederfinden der ursprünglichen Heimat durch das Dichterische gerettet werden kann.119 Zweifellos ist, wie Cassirer in der Rezension von Heideggers Kantbuch hervorhebt, das »bloße Gegeneinanderausspielen des ›Standpunkts‹ « eine unfruchtbare Form der philosophischen Auseinandersetzung und das wahre Problem stets dasjenige, zu ermöglichen, daß »auch die Gegensätze sich richtig sehen lernen«.120 Wer dennoch im Ausgang von der Davoser Disputation und ihren folgenden Verwicklungen ›die Schatten von morgen‹ erblickt, kann sich nur schwerlich dem Eindruck eines Gegensatzes entziehen: auf der einen Seite Cassirer im amerikanischen Exil, der mit ernüchtertem Pessimismus das ›dämonische‹ Antlitz der Technik betrachtet und beängstigt die verheerenden Wirkungen ihrer Allianz mit der wieder auflebenden mythischen Betrachtungsweise der Welt in der Ideologie und Praxis des Nationalsozialismus studierte;121 und auf der anderen Seite Heidegger, der nach der Berauschung am Führerprinzip apokalyptische Töne von der »planetarisch bestimmten Technik« anschlug, die im Nazimus zum Ausdruck komme, und die Verherrlichung der ›Entscheidung‹ (und die Illusion, daß das Hitlerregime die während dreier Jahrhunderte aufklärerisch-bürgerlicher Kultur verlorengegangene Authentizität realisieren könne) durch das »dichterische Denken« der »wesentlichen Denker« ersetzte, die darauf abzielen, den noch zu ent-bergenden Ursprung ›anzudenken‹, den die Geschichte des Abendlandes unerbittlich verstellt habe.122 Cassirer sprach von einer Divergenz ›stilistischer Prinzipien‹ und
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Die monotone Wiederholung dieses Motivs, die die Schriften der späten 30er Jahre mit denen der 50er Jahre verbindet, könnte verschiedentlich durch ein ganzes Bündel von Zitaten belegt werden: Es genügt jedoch, an einen Großteil der in Holzwege versammelten Aufsätze zu denken oder an die ›Interpretationen‹ Hölderlins. Ein beeindruckendes Dokument ist immer noch das postum veröffentlichte Interview im »Spiegel«, wo – angesichts einer vollständig technischen Welt, in der »die Philosophie am Ende sei« – die ›Erlösung‹ der »Erscheinung« eines »Gottes« anvertraut ist, der allein uns wird »retten« können. Das Interview ist vollständig abgedruckt in M. Heidegger, Reden und andere Zeugnisse eines Lebensweges (= Gesamtausgabe, XVI), hg. von H. Heidegger, Frankfurt am Main 2000, S. 652–683 (hier S. 669 f.) 120 Bemerkungen zu Martin Heideggers Kant-Interpretation, S. 5, 26. 121 Vgl. diesbezüglich das Schlußkapitel von The Myth of the State, S. 277–296, sowie Symbol, Myth, and Culture, S. 242–267. 122 Zu einigen dieser Themen vgl. Einführung in die Metaphysik, hg. von P. Jaeger (= Gesamtausgabe, XL), Frankfurt am Main 1983, S. 40 ff., 208, und Brief über den Humanismus in Wegmarken, S. 363.
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berief sich – angesichts des aus der Perspektive Kierkegaards gelesenen Kants Heideggers – auf den Kantischen Aufklärungsgedanken; auf dessen Streben »ins Licht und Helle, auch wo er den tiefsten und verborgensten ›Gründen‹ des Seins nachsinnt«.123 Sicherlich wird der eine oder andere diese Gegenüberstellung von ›Licht‹ und ›Dunkelheit‹, von aufklärerischer Vernunft und Daseinsanalytik als stereotyp bezeichnen. In Wirklichkeit jedoch ist das Problem Cassirers das einer Lösung ›ontologischer‹ Fragen auf dem Fundament des Kantischen Vernunftbegriffs: Die große Frage betraf nicht so sehr Kant, sondern war diejenige, wie es nach Kant und dem gesamten neukantischen Denkweg weitergehen sollte. Aus diesem Grunde, wenn auch nicht nur aus diesem, darf man nicht darauf verzichten, die Dokumente der inzwischen lange vergangenen Davoser Begegnung und ihrer suggestiven Atmosphäre eines Zauberbergs erneut zu lesen und tiefer zu graben, als es bislang geschehen ist. Vielleicht ohne zu vergessen, daß Hans Castorp am Ende des Romans von Thomas Mann in die Ebene, in die »Fieberbrunst« des »Weltfestes des Todes« heruntersteigt; aber auch ohne zu vergessen, was Cassirer im Juli 1929 im Vorwort des dritten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen in außergewöhnlich prophetischer Polemik gegen den »jetzt wieder so vielfach beliebten Brauch, die eigenen Gedanken sozusagen in den leeren Raum hineinzustellen« schrieb.124
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Bemerkungen zu Martin Heideggers Kant-Interpretation, S. 24. Philosophie der symbolischen Formen, III, S. IX; ECW 13, S. XI.
zehntes kapitel Die Kulturphilosophie: Von der transzendentalen Methode zur anthropologischen Philosophie 1. In einem kurzen, 1939 im schwedischen Exil verfaßten Aufsatz unterstrich Cassirer, daß von »all den einzelnen Gebieten, die wir innerhalb des systematischen Ganzen der Philosophie zu unterscheiden pflegen [ … ] die Kulturphilosophie vielleicht das fragwürdigste und das am meisten umstrittene Gebiet [ bildet ].« Der Begriff Kulturphilosophie selbst – fuhr Cassirer fort – »ist noch keineswegs scharf umgrenzt und eindeutig festgelegt. Hier fehlt es nicht nur an festen und anerkannten Lösungen der Grundprobleme; es fehlt vielmehr schon an der Verständigung darüber, was sich innerhalb dieses Kreises mit Sinn und Recht fragen läßt. Diese eigentümliche Unsicherheit hängt damit zusammen, daß die Kulturphilosophie die jüngste unter den philosophischen Disziplinen ist und daß sie nicht, gleich ihnen, auf eine gesicherte Tradition, auf eine jahrhundertelange Entwicklung zurückblicken kann.«1 Natürlich wußte Cassirer sehr gut – und in der Tat wies er im folgenden darauf hin –, daß die Kulturphilosophie sich gleichwohl einer komplexen historischen Herkunft rühmen kann. Ihr Ursprung geht auf die Entwicklung der Geisteswissenschaften zu Beginn des modernen Zeitalters zurück (»das natürliche System der Geisteswissenschaften«, mit dem sich Dilthey beschäftigt hatte)2 und vor allem auf die Diskussionen des 19. Jahrhunderts über das Verhältnis zwischen der Welt des Geistes und der Welt der Natur: von Schelling und der romantischen Philosophie im allgemeinen bis zum Positivismus Taines oder, von einer anderen Seite betrachtet, von der Hegelschen Philosophie der Geschichte zum Streit um den epistemologischen Status der »Kulturwissenschaft« und der Bedeutung von historischen ›Gesetzen‹. Der eigentliche Kernbestand der noch ungesicherten »Tradition«, den Cassirer 1939 darstellte, wird vor allem von einer dritten Richtung gebildet, die sowohl im Gegensatz zum romantischen Organizismus als auch zum positivistischen Szientismus steht, und zwar (entsprechend einer Interpretationslinie, die auf Freiheit und Form zurückgeht) vom Humanismus Winckelmanns und Lessings, Herders und Schillers, Goethes und Humboldts, d. h. von der Idee der Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie, S. 231. Ebd., S. 231 f. Vgl. W. Dilthey, Gesammelte Schriften, II, Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation, hg. von G. Misch, StuttgartGöttingen 61960, S. 90 ff. 1 2
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humanitas und der Kultur als unendliches Werden des Menschen in seinem unaufhaltsamen »Willen zur Form«3, die für Cassirer noch einmal exemplarische Bedeutung erlangte. Diese Bezugnahme auf den Ursprung der »jüngsten unter den philosophischen Disziplinen« reicht jedoch nicht aus, um die Genese der ›Kulturphilosophie‹ in ihrer Komplexität zu erhellen, und weniger noch, um das tatsächliche Gebiet zu kennzeichnen, in dem das Cassirersche Projekt einer »Kritik der Kultur« entstanden war, das zugleich eine Ausdehnung und Ergänzung der »Kritik der Vernunft« darstellte: einer »Kritik«, die sich mit der »Kulturphilosophie« in dem Versuch treffen sollte, »gemeinsame und typische Grundzüge« der Gestaltung auszumachen, die die Symbolwelten der Sprache und der Erkenntnis, des Mythos und der Kunst konstituieren.4 Ebenfalls darf, wenn man die Bedeutung der Cassirerschen Kulturphilosophie, sei es vom historischen Gesichtspunkt, sei es vom Gesichtspunkt ihres theoretischen Instrumentariums, genau erfassen will, nicht vergessen werden, daß die Philosophie der symbolischen Formen das Ergebnis eines besonderen Umstandes der deutschen Philosophie des frühen 20. Jahrhunderts ist, in dem der Begriff der Kulturphilosophie selbst sich in seinem Gebrauch konsolidierte, rasch »das wissenschaftliche Bürgerrecht« erlangte und sich im Umfeld von Kultur und Philosophie eine Neuorientierung der Funktion der Philosophie, ihrer kritischen Anlage und ihres Zwecks abzeichnete.5 Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie, S. 247. Vgl. Philosophie der symbolischen Formen, I, S. 11, 51; ECW 11, S. 9, 49. Wichtig zu Cassirer und der Kulturphilosophie ist der Aufsatz von E. W. Orth, Der Begriff der Kulturphilosophie bei Ernst Cassirer in Kultur. Bestimmungen im 20. Jahrhundert, hg. von H. Brackert und F. Wefelmeyer, Frankfurt am Main 1990, S. 156–191, auch in Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie, S. 191–224. Vgl. darüber hinaus H. Kuhn, Ernst Cassirer’s Philosophy of Culture in The Philosophy of Ernst Cassirer, S. 545–574; H. Cersovsky, Ernst Cassirers Philosophie der Kultur, bes. S. 122–160; W. Perpeet, Ernst Cassirers Kulturphilosophie, »Zeitschrift für philosophische Forschung«, XXXVI, 1982, S. 252–262; D. Ph. Verene, Cassirers Kulturphilosophie, »Allgemeine Zeitschrift für Philosophie«, IX, 1984, Nr. 2, S. 1–18; J. M. Krois, Cassirer: Symbolic Forms and History, S. 72–105; Th. Knoppe, Die theoretische Philosophie Ernst Cassirers, S. 81–100. 5 S. hierzu das (ansonsten eher mittelmäßige) Buch von L. Stein, An der Wende des Jahrhunderts. Versuch einer Kulturphilosophie, Freiburg-Leipzig-Tübingen 1899, S. III, das auch ganz einfach Kulturphilosophie hätte heißen können, »wenn dieser Terminus«, so Stein, »bereits das wissenschaftliche Bürgerrecht erlangt hätte« (zur Person Steins vgl. E. Kiss, Zum Porträt Ludwig Steins, »Archiv für Geschichte der Philosophie«, LXX, 1988, S. 237–244). Zum Thema ›Kulturphilosophie‹ müßte ein nicht unerheblicher Teil der deutschen Philosophie des fin de siècle untersucht werden: Man denke an den Vortrag von Johannes Volkelt, Philosophie und Kultur (später in Vorträge zur Einführung in die Philosophie der Gegenwart, München 1892, S. 165–197) oder die um 1900 entstandenen kulturphilosophischen Reflexionen Albert 3 4
Die Kulturphilosophie
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Tatsächlich hatte das Thema ›Kultur‹ als vorrangiger Gegenstand der Forschung nicht auf den Beginn des neuen Jahrhunderts gewartet, um die Aufmerksamkeit der Philosophen auf sich zu ziehen. Man denke nur – auch auch ohne zu den Quellen zurückzugehen, auf die Cassirer 1939 hingewiesen hatte, und insbesondere zu den Überlegungen Herders, mit denen der Begriff der Kultur seine volle moderne Bedeutung erlangte6 – an einen Großteil der deutschen philosophischen Diskussion der Mitte des 19. Jahrhunderts über die ›Völkerpsychologie‹7 oder die kontrovers diskutierte Funktion und Bestimmung der Kulturgeschichte.8 Vor allem jedoch ist das Problem der ›Geisteswissenschaften‹ zu betrachten und insbesondere die Überlegungen, die Dilthey bereits in der Einleitung von 1883 zu den »Kultursystemen« und der Erkenntnis solcher Systeme angestellt hat.9 Dies ist ein Thema, das sich durch das gesamte Werk Diltheys zieht und mit der Bestimmung der Philosophie als »Theorie der Theorien«, als Verständnis der Formen, in denen sich das psychische Leben ausdrückt und objektiviert, als Weltanschauung, Verständnis der Natur und der geistigen Wirklichkeit, verflochten ist.10 Es lohnt zu wiederholen, daß mit diesem Thema die Infragestellung der traditionellen Rolle der Philosophie in dem Zeitalter, in dem die Einzelwissenschaften zunehmend von den angestammten Bereichen der Philosophie Besitz ergreifen und sie so zu einer Neuorientierung zwingen, einhergeht.11 Schweitzers (vgl. Verfall und Wiederaufbau der Kultur. Kulturphilosophie – Erster Teil, Bern 1925, bes. S. 1–8). Für eine Übersicht über die ›Kulturphilosophie‹ (vor allem im deutschen Bereich) sei verwiesen auf die breit angelegte Studie von W. Perpeet, »Kulturphilosophie«, »Archiv für Begriffsgeschichte«, XX, 1976, S. 42–99 (zusammengefaßt zu Kultur, Kulturphilosophie in Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von J. Ritter und K. Gründer, IV, Basel-Stuttgart, 1976, Sp. 1309–1324). S. darüber hinaus die Arbeit von C.-F. Geyer, Einführung in die Philosophie der Kultur, Darmstadt 1994 (mit ausführlichem Bezug auch auf Cassirer). 6 Vgl. J. Niedermann, Kultur. Werden und Wandlungen des Begriffs und seiner Ersatzbegriffe von Cicero bis Herder, Firenze 1941, bes. S. 213–218, und (zu den Quellen des griechischen Denkens) auch R. Mondolfo, Alle origini della filosofia della cultura, Bologna 1956. 7 Vgl. I. Kalmar, The »Völkerpsychologie« in Lazarus and Steinthal and the Modern Concept of Culture, »Journal of the History of Ideas«, XLVIII, 1987, S. 671–690. 8 Vgl. B. Croce, La storia della cultura in Conversazioni critiche, I, S. 201–224. 9 Vgl. W. Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften, S. 49–64. 10 S. in diesem Sinne Das Wesen der Philosophie in Gesammelte Schriften, V, Die geistige Welt, hg. von G. Misch, Göttingen 31961, S. 408. Zu den »Kultursystemen« vgl. Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, S. 166–169. 11 Zur Beleuchtung dieses Aspekts vgl. E. W. Orth, Dilthey und der Wandel des Philosophiebegriffs seit dem 19. Jahrhundert in Dilthey und der Wandel des Philosophiebegriffs seit dem 19. Jahrhundert. Studien zu Dilthey, Brentano, Mach, Nietzsche, Twardowski, Husserl und Heidegger, hg. von E. W. Orth (=»Phänomenologische Forschungen«, XVI), Freiburg-München 1984, S. 7–23.
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Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verband sich das Wissen um den Charakter der Kulturphilosophie, den die Philosophie inzwischen erlangt hatte, vor dem Hintergrund der so bekannten wie mißverständlichen Gegenüberstellung von Kultur und Zivilisation mit dem verbreiteten Motiv der ›Krise‹ der damaligen Kultur. Diese ›Krise‹ wurde zu einem fruchtbarer Boden für jene ›Kulturkritik‹, in der, nicht ohne Anklänge an Nietzsche und Schopenhauer, das nie gänzlich überwundene Motiv der Revolte gegen die ›Moderne‹, der Verweigerung gegenüber einer von den objektiven Formen des Wissens und der Technik beherrschten Welt, gegenüber der sich das Subjekt als gänzlich ausgeschlossen wahrnimmt, erneut zum Vorschein kam.12 Dennoch entstammen die elaboriertesten Begriffe der kulturphilosophischen Diskussion (auf die auch Cassirer sich bezieht) vor allem den Versuchen der späten neukantischen Schulen (der Marburger, vor allem jedoch der südwestdeutschen Schule), das gesamte Problem der Kulturphilosophie in Begriffen kategorialer Strukturen und gültiger Werte auf eine transzendentalphilosophische Basis zurückzuführen, und der Reflexion, die Simmel in einem Grenzbereich zwischen Neukantianismus und Lebensphilosophie entwickelte.13 Es ist kein Zufall, daß das bedeutendste ›Manifest‹ der deutschen Kulturphilosophie zu Beginn des Jahrhunderts das Programm von »Logos«, der »Internationalen Zeitschrift für Philosophie der Kultur«, war, die 1910 in Zusammenarbeit mit Eucken, Husserl, Meinecke, Rickert, Simmel, Troeltsch, Weber, Windelband und Wölfflin gegründet wurde und in der nach und nach Autoren wie Croce, Kroner (der zukünftige Leiter), Lukács, Natorp und auch Cassirer schrieben. Ohne eingehendere 12
Eine aufmerksame Prüfung steht noch aus und kann hier nicht einmal versucht werden, weil die ›Fälle‹ (über die allgemein bekannten wie Spengler und Klages hinaus) so zahlreich sind, die eine angemessene Untersuchung verdienten: um nur zwei Namen und nennen: Leopold Ziegler und Hermann Keyserling (vgl. H. Noack, Die Philosophie Westeuropas im zwanzigsten Jahrhundert, Basel-Stuttgart 1962, S. 90 ff.; s. auch U. Gahlings, Sinn und Ursprung. Untersuchungen zum philosophischen Weg Hermann Graf Keyserlings, Sankt Augustin 1992). Ein maßgeblicher Interpret einiger dieser Themen (und dieser ›Gemütsart‹) war zweifellos Rudolf Eucken, dessen Arbeit über das Problem der Kultur und ihrer Krise: Geistige Strömungen der Gegenwart, Leipzig 31916, S. 1–7, 219–242, beispielsweise herangezogen werden könnte (vgl. auch E. Grisebach, Kulturphilosophische Arbeit der Gegenwart. Eine systematische Darstellung ihrer besonderen Denkweisen, Weide i. Th. 1913, S. 97–121). 13 Für eine Übersicht über diese Perspektiven, wenn auch durch eine Betrachtungsweise beeinträchtigt, die schwer zu teilen ist, vgl. H.-J. Lieber, Kulturkritik und Lebensphilosophie. Studien zur Deutschen Philosophie der Jahrhundertwende, Darmstadt 1974. Zeitgleich interpretierten übrigens 1920 K. Sternberg, Der Neukantianismus und die Forderungen der Gegenwart, S. 409 f., und A. Baeumler, Kritizismus und Kulturphilosophie, S. 411, den Kritizismus als Kulturphilosophie.
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Untersuchung der Zeitschrift »Logos« (die erst kürzlich vorgenommen worden ist)14 genügt es hier, auf die einleitenden Seiten des ersten Heftes hinzuweisen, nicht nur hinsichtlich des »übernationalen« (aber nicht ›kosmopolitischen‹) Charakters der Kultur, sondern vor allem wegen der Motivationen, mit denen die Forderung nach einer Kulturphilosophie gerechtfertigt wird. Jede systematische Konstruktion müsse – heißt es dort – von einer eingehenden Kleinarbeit ausgehen und folglich von der »philosophische[ n ] Durchdringung der verschiedensten Kulturgebiete, insbesondere der Wissenschaft, der Kunst, des sozial-ethischen, des rechtlichen, staatlichen, nationalen Lebens, der Religion usw.«.15 Obwohl die Aufmerksamkeit auf diese »Fülle« der Kultur gerichtet sei, dürfe die Philosophie dennoch nicht fragmentarisch werden: »Die Philosophie der Kultur muß überall die Vernunft in der Kultur suchen, und deshalb hat diese Zeitschrift den Namen ›Logos‹ erhalten«.16 In der in den ersten Heften von »Logos« häufigen Akzentuierung der Problematik der Werte und des ›Sinnes‹, den die Vernunft dem Wirklichen verleiht, läßt sich der Einfluß des südwestdeutschen Neukantianismus Rickerts sowie Windelbands erkennen. Nicht umsonst ist der Eröffnungsartikel Rickerts Vom Begriff der Philosophie, der eine Antwort auf das so verbreitete Bedürfnis nach einer Weltanschauung zu geben versucht, indem er die Frage nach dem Wert des Lebens und dem, was zu tun ist, »damit es wertvoll wird«, stellt.17 Eine Weltanschauung müsse sich auf Werte beziehen, aber Werte seien weder Ausdruck eines psychischen Aktes des Subjekts, noch hängen sie von Objekten ab, denen sie innewohnen: Sie bilden vielmehr eine »dritte Welt«, die Welt des »Sinns«; und in dieser Welt wurzele die Aufgabe der Philosophie, nachdem die Wissenschaften ihr nach und nach die Erforschung der Welt als solcher entzogen haben. »[ A ]ls Wertlehre« habe sie, so Rickert, »die Mannigfaltigkeit der Kulturgüter zu Vgl. Die europäische Kulturphilosophie und das ›Logos‹-Projekt 1910, hg. von U. Schneider, Leipzig 1994. Zur Bedeutung von »Logos« vgl. die sehr gute Studie von H. Homann, Die »Philosophie der Kultur«. Zum Programm des »Logos« in Neukantianismus. Perspektiven und Probleme, S. 88–112, und vor allem R. Kramme, Philosophische Kultur als Programm. Die Konstitutionsphase des »Logos« in Heidelberg im Schnittpunkt intellektueller Kreise, hg. von H. Treiber und K. Sauerland, Opladen 1995, S. 119–149. 15 »Logos«, I, 1910 / 1911, S. I. 16 Ebd., S. III. »Nur die Vernunft« – heißt es im folgenden – »gibt dem Kulturleben, das die Einzelwissenschaften in seiner Tatsächlichkeit erforschen, Sinn und Bedeutung. Nur unter ihrer Voraussetzung kann daher die philosophische Kleinarbeit hoffen, ein System der Philosophie vorzubereiten. Ohne den Glauben an irgend einen ›Logos‹ außer- oder innerhalb des Lebens ist Philosophie, die diesen Namen verdient, überhaupt nicht möglich.« 17 H. Rickert, Vom Begriff der Philosophie, »Logos«, I, 1910 / 1911, S. 9. 14
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berücksichtigen und das ihnen zugrunde liegende System der Werte zu verstehen«.18 Auch Windelband geht es darum, im Ausgang von der Kantischen quaestio juris jenes bereits existierende Phänomen zu verstehen, das die Kultur ist;19 und schließlich sei der aus dem ›System‹ der drei Kritiken bestehende Idealismus Kants bereits an sich eine Kulturphilosophie: eine Reflexion über die »allgemeingiltigen Voraussetzungen« der Kultur.20 Das Problem der ›Geltung‹ stellt nun gerade den Schnittpunkt von Transzendentalphilosophie und Kulturphilosophie dar: In der ursprünglichen Synthese des Kantischen ›Bewußtseins überhaupt‹ gründet nicht nur die universelle Struktur der wissenschaftlichen Erkenntnis, sondern auch jene der Normen, die in ihrer Komplexität das Fundament der Kultur bilden.21 Für Windelband stellt die Kulturphilosophie somit die Krönung der von Kant entdeckten schöpferischen Funktion des Bewußtseins dar, aber auch eine Antwort auf die Herausforderung der modernen Welt, des Zeitalters der Technik und der Nationalkulturen: Das »einheitliche System« des »Kulturbewußtseins« und der Funktionen, die die Kulturtätigkeiten leiten, ist auch (und vielleicht vor allem) eine »immanente Weltanschauung«.22 »Logos« kennt auch eine Version der Veredelung des Neukantianismus durch die Kulturphilosophie, die darauf gerichtet ist, die »formale Bewegtheit des philosophierenden Geistes« zu registrieren, und zwar nicht bereits im Ausgang von einer überzeitlichen Geltung der Werte, sondern vielmehr im Namen der unendlichen Spannung zwischen dem Leben und den Formen ihres Verständnisses. Es ist die Position Simmels, dessen Konzeption einer Kulturphilosophie in jenen Jahren zur Blüte kommt, in denen das Projekt der Zeitschrift an Konsistenz gewinnt und in einzigartiger Weise den Dynamismus des Apriori mit jener genialen Analyse der Formen des modernen Lebens verbindet, die Simmel zu Beginn des Jahrhunderts in der Philosophie des Geldes und der Soziologie durchführt.23 In »Logos« veröffentlicht Simmel schließlich einen seiner berühmtesten Texte, mit dem sich auch – wie noch zu zeigen ist – Cassirer auseinandersetzt. In 18
Ebd., S. 29. Vgl. W. Windelband, Kulturphilosophie und transzendentaler Idealismus, »Logos«, I, 1910 / 1911, S. 186–196 (später in Präludien, II, S. 279–294, aus dem zitiert wird, hier S. 281). 20 Ebd., S. 285. 21 Ebd., S. 287 ff. 22 Ebd., S. 290 f., 292 ff. (vgl. auch Die Erneuerung des Hegelianismus, S. 273–276). Zu dieser letzten Phase des Windelbandschen Denkens vgl. R. Bonito Oliva, Il compito della filosofia. Saggio su Windelband, Napoli 1990, S. 127–172. 23 Vgl. G. Simmel, Philosophische Kultur. Gesammelte Essais, erste Auflage Leipzig 1911, jetzt in G. Simmel, Gesamtausgabe, Bd. 14, hg. von R. Kramme und O. Rammstedt, Frankfurt a. M. 1996, S. 162 ff. 19
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Der Begriff und die Tragödie der Kultur unterstreicht Simmel nachdrücklich den Dualismus im Zentrum des Begriffs der Kultur: den Dualismus zwischen dem Leben und den Formen, zwischen dem Geist, der endlos Formen produziert, und dem Leben, das sie nährt, aber das, indem es sie nährt, seinen eigenen Charakter als Leben verliert und sich schließlich erstarrt und transzendiert in der Form wiederfindet.24 Dies ist in der Tat die »Tragödie« der Kultur, der harte Weg, den das Subjekt einschlagen muß, um die objektive geistige Wirklichkeit zu erreichen: »Es ist der Begriff aller Kultur, daß der Geist ein selbständig Objektives schaffe, durch das hin die Entwicklung des Subjektes von sich selbst zu sich selbst ihren Weg nehme; aber eben damit ist jenes integrierende, kulturbedingende Element zu einer Eigenentwicklung prädeterminiert, die noch immer Kräfte der Subjekte verbraucht, noch immer Subjekte in ihre Bahn reißt, ohne doch diese damit zu der Höhe ihrer selbst zu führen.«25 Dennoch bildet die ›tragische‹ Betrachtungsweise der Kultur, dieses Schicksal der Seele, »ihre Heimat in zwei Welten«26 zu haben, allgemeiner gesprochen: das Motiv des »Konflikts« für Simmel nicht eine Grenze der Kultur, sondern vielmehr eine ihrer Bedingungen. Denn das Leben muß sich, um weiter Leben sein zu können, einer Form anvertrauen, sich in der Kultur objektivieren. Simmel schreibt 1918, »daß das Leben in dem Augenblick in dem es als geistiges zu Worte kommt dies eben doch nur in Formen kann, obgleich sie in demselben Akt auch die Freiheit beschränken.«27 Lebensphilosophie und Kulturphilosophie erscheinen so eng miteinander verbunden. Die eine kann nicht bestehen, sofern es ihr nicht gelingt, sich mit der anderen zu verbinden: Die Kultur braucht das Leben, weil das Leben nicht anders kann, als Kultur zu werden. Dies ist ein besonders wichtiger Aspekt auch für Cassirer, der am Ende seines langen Weges in gewisser Hinsicht der Perspektive Simmels näher erscheint als derjenigen der Marburger Schule, von der er doch ausgegangen war. Und das ist ein Ergebnis, das auch für Simmel selbst unvorhersehbar gewesen war, wie zwei Briefe desselben Tages (vom 15. Dezember 1909) an Rickert
Vgl. G. Simmel, Der Begriff und die Tragödie der Kultur, »Logos«, II, 1911 / 1912, S. 1–25, nun in der Gesamtausgabe, Bd. 14, S. 385–416. S. z. B. S. 390 f.: »Dem vibrierenden, rastlosen, ins Grenzenlose hin sich entwickelnden Leben der in irgendeinem Sinne schaffenden Seele steht ihr festes, ideell unverrückbares Produkt gegenüber, mit der unheimlichen Rückwirkung, jene Lebendigkeit festzulegen, ja erstarren zu machen; es ist oft, als ob die zeugende Bewegtheit der Seele an ihrem eigenen Erzeugnis stürbe.« 25 Ebd., S. 411. 26 So die Schlußfolgerung eines anderen bekannten Textes, vgl. Der Henkel in der Gesamtausgabe, Bd. 14, S. 286. 27 G. Simmel, Der Konflikt der modernen Kultur in Das individuelle Gesetz, S. 170 f. 24
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und an Max Weber belegen, in denen er die geringe Aufmerksamkeit Cassirers für die »Kulturbeziehungen der Philosophie« beklagte (und ihn diesbezüglich mit Husserl verglich), obwohl er wußte, daß man sich, da Cassirer zu den Mitarbeitern von »Logos« zählte, der Mitwirkung an diesem Projekt durch »einerseits [ die ] Marburger Richtung, (so wenig ich sie liebe), andererseits [ die ] jüngere Generation« sicher sein konnte.28 2. In diesem Zusammenhang, der so tiefgreifend von der Transformation der Philosophie in Kulturphilosophie und – wie die erste Nummer von »Logos« programmatisch angekündigt hatte – der Erforschung der ›Vernunft‹ im ›Leben‹ der Kultur gekennzeichnet war, ist es signifikant, daß das Problem der Kultur und konsequenterweise der Kulturphilosophie auch für die Marburger Schule eine wachsende Bedeutung erlangen mußte, trotz der Beschuldigungen eines abstrakten Szientismus und kalten Methodologismus, die ihr von vielen Seiten entgegengebracht wurden. Nicht zufällig insistierten Cohen und Natorp bei der Präsentation des ersten Heftes der Philosophischen Arbeiten 1906 in der Überzeugung, daß »die Philosophie, als der Idealismus der Kultur gedacht [ … ] von den Schicksalen der Kultur nicht abgetrennt zu denken [ ist ]«, einstimmig auf dem unverzichtbaren Interesse an »den Kulturfragen der Gegenwart«. Diese Besorgnis, die nicht frei war von einer Anspannung ethisch-politischer Herkunft, fand ihre philosophische Ausformulierung im Problem der Einheit der Kultur, oder besser der transzendentalen Grundlegung der verschiedenen Richtungen der Kultur auf der Basis der Einheit eines »Kulturbewußtseins«.29 Diesem Ansatz hatte Cohen bereits am Ende seiner Kantexegesen größte Aufmerksamkeit gewidmet, auch wenn hier der Einfluß der Völkerpsychologie nicht außer acht gelassen werden darf, ohne deren Vermittlung es wahrscheinlich vergebens wäre, die Beharrlichkeit verstehen zu wollen, mit der Cohen die Kultur in ihrer Komplexität und Einheit betrachtete. Es ist der Schluß der zweiten Auflage von Kants Theorie der Erfahrung, in der die Themen des kritischen ›Systems‹ und der Einheit der verschiedenen Richtungen der Kultur (wissenschaftliche Erkenntnis, moralische Gesetzmäßigkeit und ästhetische Gesetzmäßigkeit) ihre 28 Buch des Dankes an Georg Simmel. Briefe, Erinnerungen, Bibliographie, hg. von K. Gassen und M. Landmann, Berlin 1958, S. 103, 130. Eine anregende Gegenüberstellung von Cassirer und Simmel bietet der scharfsinnige Aufsatz von E. W. Orth, Georg Simmel als Kulturphilosoph zwischen Lebensphilosophie und Neukantianismus, »Report on Philosophy«, XIV, 1991, S. 105–120. 29 H. Cohen-P. Natorp, Zur Einführung in Philosophischen Arbeiten, hg. von H. Cohen und P. Natorp, I, Heft 1, Giessen 1906, S. II.
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erste Formulierung finden und bald weiter entwickelt werden.30 Kants Begründung der Aesthetik stellt unter diesem Gesichtspunkt den entscheidenden Übergang dar, da Cohen hier das dreigliedrige Fundament der systematischen Einheit der Kultur abschließend darstellt,31 welche als Einheit »von Erzeugungsweisen des Bewußtseins, deren jede für sich einen eigenthümlichen Inhalt hervorbringt«, zu verstehen sei.32 Daraus folgt, daß die Gehalte des Bewußtseins zugleich distinkt und ähnlich sind: Die »Richtungen« der Kultur folgen verschiedenen Prinzipien und dem Prinzip ihrer Unterscheidung, dem Ursprung, der das »Systems der Kritik« fundiert.33 Das Thema der Einheit der Kultur und ihrer Gliederung findet jedoch die ausführlichste Behandlung in Cohens reifem ›System der Philosophie‹, und zwar insbesondere in der Verbindung, die von der Logik der reinen Erkenntnis an zwischen Logik und Ethik auf der einen Seite (die Ethik hat – wie bereits gezeigt wurde – die Funktion der Grundlegung der Geisteswissenschaften) und zwischen Logik und Ästhetik auf der anderen geknüpft wird. Die Aufgabe, die Einheit des kulturellen Bewußtseins in seinen verschiedenen ›Richtungen‹ zu untersuchen, weist Cohen der Psychologie zu. In Wirklichkeit ist dies ein Problemkomplex, den Cohen ungelöst gelassen hat.34 Dennoch muß weit mehr noch als diese problematische Verortung der Psychologie im Verhältnis zur Einheit der Kultur die wachsende Bedeutung unterstrichen werden, die das Thema der Kultur selbst für Cohen gewinnt. »Wir fassen das System der Philosophie« – so Cohen in der Aesthetik von 1912 – »aus dem Gesichtspunkte der Einheit des Bewußtsein der Kultur«35; aber eine solche Einheit, die nicht von der Wissenschaft und der Sittlichkeit allein gebildet wird, sondern als notwendige Ergänzung die Ästhetik benötigt,36 bedeutet zugleich die volle Anerkennung des Vgl. H. Cohen, Kants Theorie der Erfahrung, S. 731–737. Vgl. Kants Begründung der Aesthetik, S. 160, 97. 32 Ebd., S. 94 f. 33 Ebd., S. 2 f. Vgl. auch S. 342 f.: »Das System der Philosophie ist das System des Geistes. Und das System des Geistes fordert eine solche Vereinigung der Gebiete des Geistes, dass dieselben als Erzeugnisse ursprünglicher und eigenthümlicher Richtungen des Bewusstseins nachgewiesen werden [ … ] [ D ]as System des Geistes [ ist ] das System des erzeugenden Bewusstseins [ … ] Richtungen des Geistes sind Richtungen des Bewusstseins, das will sagen, Richtungen, kraft deren das Bewusstsein den Inhalt und die Objectivität aller Kultur erzeugt.« Unter »Bewusstsein« – darf natürlich keine psychologische Entität verstanden werden, sondern der »Inbegriff der Ursprünge und Erzeugungspunkte« oder der »der Inhalte erzeugende Richtungsursprung«. 34 Vgl. Logik der reinen Erkenntnis, S. 610 ff. 35 Aesthetik des reinen Gefühls, Bd. 1, S. 4. 36 Ebd., S. 5. 30 31
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›Systems der Philosophie‹ als veritable Kulturphilosophie: »Der Kultur fehlt die Einheit und der Halt« – schreibt Cohen lapidar, immer noch 1912 –, »wenn ihr das Rückgrad der Philosophie gebrochen wird«; die »wahrhafte Kulturphilosophie« bestehe aus »Logik, Ethik und Ästhetik; zum mindesten steht sie auf diesen drei Füßen. Die Philosophie ist nicht ein Etwas außer diesen drei Gliedern«.37 In diesem rein rationalistischen Ansatz Cohens (»alle Probleme der Kultur [ entspringen ] der gemeinsamen Quelle der Vernunft«, und es ist für Cohen allein die wissenschaftliche Vernunft, die das »Kriterium der menschlichen Vernunft« bildet)38 läßt sich auch ein Nachklang des Programms von »Logos« vernehmen. Dennoch wäre es vergeblich, eine Annäherung Cohens an die »philosophische Kultur« in ihren verschiedenen Schattierungen, wie sie Simmel oder später Cassirer im Sinn hatten, zu versuchen. Festzustellen ist jedoch, daß die Marburger Schule in ihrer Hochphase ihre eigene Berufung zur Kulturphilosophie zu akzentuieren scheint. Auch Natorp beschäftigt sich übrigens mit diesem Punkt sowohl in dem Vortrag von 1912 über Kant und die Marburger Schule und vor allem in dem ersten Umriß seines ›Systems‹ (1911) in Philosophie. Ihr Problem und ihre Probleme. Es läßt sich jedoch bei ihm eine andere Tönung als bei Cohen vernehmen, denn er ist in seiner typisch ›aktivistischen‹ Sprache vor allem um den schöpferischen und lebendigen Aspekt (Natorp zieht den Ausdruck »poetisch« vor) der Kulturarbeit – das Leben der Kultur auf der einen Seite, aber auf der anderen auch die Fähigkeit der Philosophie, der Frage nach der Weltanschauung zu begegnen – bemüht, die mit der modernen Kultur aufkommt.39 Unter diesem Blickwinkel vereint Natorp somit die Dimension der ratio, der Einheit des logos in der Sphäre der Kultur, mit einer geschärften Aufmerksamkeit für die konkrete Dimension, die den einzelnen kulturellen Formen inhärent ist, und bearbeitet erneut – und in Begriffen, die ihm weitaus mehr entsprechen – das marburgische Thema der Einheit der Kultur als transzendentale Einheit ihrer immanenten Prinzipien. »›Kultur‹: darunter verstehen wir die ganze gemeinsame Arbeit der Menschheit«, schreibt Natorp, »in der sie das Eigentümliche des Menschentums hervorbringt 37
Ebd., S. XI. Ebd., S. XII. 39 Vgl. P. Natorp, Philosophie. Ihr Problem und ihre Probleme, S. 1 f., 24 f. S. darüber hinaus Kant und die Marburger Schule, S. 218 f. (vgl. auch, was Natorp bereits 1904 in Zum Gedächtnis Kants, S. 258, schreibt: »[ … ] die Philosophie Kants – ich meine die Philosophie im Geiste Kants – [ ist ] Kulturphilosophie in vollem Sinne«). Zur Natorpschen Konzeption der Kultur vgl. G. Mückenhausen, Wissenschaftstheorie und Kulturprogressismus. Studien zur Philosophie Paul Natorps, Bonn 1986. 38
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und immer höher hinaufbildet. Alle solche schaffende Arbeit nun ist eben ein Bilden, Formen, Gestalten, das heißt zur Einheit bringen [ … ] daß heißt [ zu einer ] immer mehr konzentrierten, bis zu einer letzten, wenigstens der Idee nach allbefassenden Einheit.«40 Dennoch hält sich Natorp ebenso wie Cohen noch an die Dreiteilung Logik, Ethik und Ästhetik (der die Religionsphilosophie hinzugefügt wird), in der sich das »Ganze der Kultur«, das einheitliche System in seinen verschiedenen Richtungen erschöpft. Es wird die Notwendigkeit sein, diese Dreiteilung (die »drei Füße«, von denen Cohen spricht) zu überwinden und die Kulturphilosophie konsequenterweise auf alle Formen geistiger Objektivation auszudehnen, die den Ausgangspunkt der »Kulturkritik« Cassirers darstellt, obwohl er lange Zeit mit seinen Lehrern – von Leibniz’ System bis zum Artikel über Cohen von 1912 – die systematische Perspektive Kants und Cohens teilte.41 Nach und nach jedoch verschob sich die Aufmerksamkeit Cassirers auf die »geistige Kultur«, die »selbständigen geistigen Energien« und die »gestaltenden Kräfte«, die sie beleben.42 Die ursprüngliche Dreiteilung erwies sich als zu eng, schrieb er in einem Passus des Aufsatzes über Goethe und die mathematische Physik, aus dem bereits zitiert wurde: »[ … ] diese Dreiteilung erschöpft indessen nicht den gesamten Inbegriff der geistigen Energien und enthält nicht alle seine charakteristischen Gliederungen und Besonderungen.«43 Auf der einen Seite das Problem der Sprache und auf der anderen das der Grundlegung der Geisteswissenschaften stellten Cassirer vor die Aufgabe – die er auf verschlungenen Wegen, die hier nachzuzeichnen versucht wurden, bewältigte –, radikal das Modell einer ›Kulturphilosophie‹ zu überdenken, das Cohen und Natorp entwickelt hatten, ohne dadurch von den methodischen Voraussetzungen, die mit diesem Modell verbunden waren, abzuweichen. Er verzichtete nicht auf das Transzendentale, wandte es jedoch an, »wo es sich überhaupt Philosophie. Ihr Problem und ihre Probleme, S. 27 f. Natorp fügt hinzu: »[ Die Einheit ], die erst unsicher tastend unter mancherlei Benennungen, dann deutlicher und deutlicher unter irgend einem beherrschenden Namen wie Vernunft (Logos, Ratio) oder Geist (Nus, Mens) gesucht und gefordert wird [ … ] geht nicht etwa in der leeren Abstraktion der Einheitsforderung überhaupt [ auf ], sondern [ möchte ] das hohe Ziel einer selbst konkreten, ja der höchst konkreten Vereinheitlichung, einer Einheit kraft durchgängiger Wechselbeziehung der sämtlichen in sie eingehenden, durch Abstraktion zu sondernden Einheiten [ … ] bedeuten«. 41 Vgl. Hermann Cohen und die Erneuerung der Kantischen Philosophie, S. 272 f. Zur Anwendung des Systembegriffs als Einheit der Kultur in Leibniz’ System sei auf M. Ferrari, Il giovane Cassirer e la scuola di Marburgo, S. 192 f., 242–251, verwiesen. 42 Vgl. Freiheit und Form, S. XVII, 18 f.; ECW 7, S. 394, 20. 43 Idee und Gestalt, S. 68; ECW 9, S. 302. 40
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um Formen geistiger Gesetzlichkeit« handelte oder brachte es für alle »Grundformen des Weltverständnisses«44 zur Geltung, so daß die Kulturphilosophie sich für Cassirer – nach seiner Definition in einem Vortrag von 1920, auf den bereits hingewiesen wurde45 – von Cohen als einem »Kulturphilosophen« absetzen konnte, ohne einen zentralen Aspekt zu widerrufen, nämlich die Überzeugung, daß die Kultur, wenn auch als mehrdimensionales System konzipiert, virtuell stets offen sei und dennoch nicht auf die Einheit verzichten könne: »[ A ]ller Inhalt der Kultur, sofern er mehr als bloßer Einzelinhalt ist, sofern er in einem allgemeinen Formprinzip gegründet ist, [ hat ] eine ursprüngliche Tat des Geistes zur Voraussetzung [ … ]«46 Der »philosophische Idealismus«, der die eigentliche und notwendige Grundlegung einer so verstandenen Kulturphilosophie sein wolle, beabsichtige keine Teilbetrachtung einzelner Aspekte der Kultur, sondern versuche, trotz aller »Konflikte« und »Antinomien« herauszufinden, was der »einzige große Problemzusammenhang« sei, in dem »die verschiedenen Erzeugnisse der geistigen Kultur« – die Sprache, die wissenschaftliche Erkenntnis, der Mythos, die Religion und die Kunst – schließlich ihr einheitliches Zentrum finden: ein Zentrum, das für Cassirer im wesentlichen in der Transformation der »passiven Welt der bloßen Eindrücke« in jene des »reinen geistigen Ausdrucks« besteht.47 3. In dem späten Artikel Zur Logik des Symbolbegriffs bezeichnete Cassirer die Philosophie der symbolischen Formen nicht als »philosophisches ›System‹«, sondern als eine Art »Prolegomena zu einer künftigen Kulturphilosophie«.48 Dieses Verhältnis zwischen den »Prolegomena« und einer noch zum Abschluß zu bringenden Arbeit meint nicht einfach eine früher oder später zu schließende Lücke, sondern zeigt vor allem die permanente transzendentale Spannung zwischen der Ebene der ›Grundlegung‹ und des ›Gegründeten‹ an, obwohl Cassirer in der Folge diese Prinzipienfrage nicht behandelte, sondern ihre Antwort vor allem
44
Ebd., S. 68 ff.; ECW 9, S. 302 ff. Hermann Cohen, S. 2. 46 Philosophie der symbolischen Formen, I, S. 11; ECW 11, S. 9. 47 Ebd., S. 12 f.; ECW 11, S. 10 f. 48 Zur Logik des Symbolbegriffs, S. 229. Cassirer fügt hinzu: »Es war nicht ein fertiger Bau, den sie zu errichten strebte, sondern nur ein Grundriß, den sie entwerfen wollte. In dem bisherigen Entwurf fehlt nicht nur die Ausführung vieler und wichtiger Teile, sondern es bieten sich eine Reihe prinzipieller Grundfragen, die noch der Lösung harren. Nur von einer ständigen Zusammenarbeit zwischen der Philosophie und den besonderen Geisteswissenschaften kann diese Lösung erhofft werden.« 45
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›phänomenologisch‹ aus den Formen der Kultur hervortreten ließ.49 Es ist dennoch wichtig – und dies nicht nur aus dem Blickwinkel der Entstehungsgeschichte –, daß die Erweiterung des Marburger ›Systems‹ am Ende nicht nur zum Verzicht auf die Idee des Systems selbst führte, sondern einherging mit der Verwendung des Begriffs der »symbolischen Form« als Instrument für die »Prolegomena« einer Philosophie der ›pluridimensionalen‹ Kultur.50 Sowohl im Aufsatz über Goethe und die mathematische Physik als auch am Schluß der Arbeit über Einstein definiert Cassirer die Formen der Kultur (unter denen er hier bereits neben Erkenntnis, Ethik und Ästhetik auch Sprache, Mythos, Kunst und Religion versteht) als »symbolische Formen«.51 Ohne zu der komplexen Entwicklungsgeschichte des Begriffs der »symbolische Form« zurückzukehren, muß hier besonders hervorgehoben zu werden, wie diese »Vielgestaltigkeit«52 der Betrachtungsweisen aus der ›Liberalisierung‹ des Apriori entsteht, die Cassirer angesichts der Einsteinschen Relativität vollzieht: In dem Moment, in dem die physische Realität den letzten Rest substanzieller Kompaktheit verliert und sich in ein bloßes Gewebe aus Gesetzen und Verhältnissen auflöst, ›vervielfältigt‹ sich das gesamte Problem der Wirklichkeit und »befreit sich« »von der Einseitigkeit« der traditionellen Vorstellung von Zu dieser ›Schwäche‹ Cassirers vgl. vor allem W. Marx, Cassirers Symboltheorie als Entwicklung und Kritik der Neukantischen Grundlagen des Denkens und Erkennens. Überlegungen zur Struktur transzendentaler Logik als Wissenschaftstheorie, »Archiv für Geschichte der Philosophie«, LVII, 1975, S. 188–206, 304–339 (hier S. 305 f.). In seiner scharfsinnigen (und anspruchsvollen) Studie sagt Marx dennoch nicht, ob nach seiner Meinung die Legitimierung im Sinne der Ursprungsphilosophie, die Cassirer nicht habe leisten können, in der Lage gewesen wäre, etwas wie eine ›Kulturphilosophie‹ zu entwickeln: Es ginge darum zu verstehen, ob es nicht das Problems der Kulturphilosophie selbst sei, das die Stärke und die Möglichkeit einer Transzendentalphilosophie in Frage stellt. In diesem Fall jedoch müßte man sagen, daß nicht Cassirer aufgrund einer »Schwäche« gescheitert sei, sondern es die ›Größe‹ der Aufgabe gewesen sei, die er vor sich hatte, die ihn mehr und mehr zu einem ›schwachen Begriff des Transzendentalen‹ habe regredieren lassen. 50 Wenn ein Wortspiel erlaubt ist (das in Wirklichkeit nicht allzu kühn ist), könnte man hierin eine Cassirersche Paraphrase des berühmten Eingangspassus der Prolegomena zu einer künftigen Metaphysik die als Wissenschaft wird auftreten können in Kant’s gesammelte Schriften, IV, S. 255, sehen: »Meine Absicht ist, alle diejenigen, so es wert finden, sich mit Kulturphilosophie zu beschäftigen, zu überzeugen: daß es unumgänglich notwendig sei, ihre Arbeit vor der Hand auszusetzen, alles bisher Geschehene als ungeschehen anzusehen, und vor allen Dingen zuerst die Frage aufzuwerfen: ›ob auch so etwas, als Kulturphilosophie, überall nur möglich sei‹.« 51 Letztere Formulierung findet sich in Idee und Gestalt, S. 69; ECW 9, S. 303; vgl. darüber hinaus Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, S. 110; ECW 10, S. 113 f. 52 Ebd., S. 108; ECW 10, S. 112. 49
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der Welt. Es vervielfältigen sich die ›Bezugssysteme‹, mit denen der Mensch sich der Welt nähert und ihr eine Form aufprägt, während sich auf der anderen Seite die Vorstellung einer vollendeten Bestimmbarkeit des Wirklichen als regulative Idee erweist, als Fluchtpunkt, in dem alle »Formen der Welterkenntnis und des Weltverständnisses«: das »Ganze der symbolischen Formen« konvergieren.53 Wie viele Cassirerinterpreten betont haben (auch um ihn in die gastlichen Arme der Hermeneutik zu schließen), verliert der neukantische ›Primat‹ der Erkenntnis an diesem Punkt an Gewicht, während der Akzent vor allem auf das Verstehen fällt: auf das »Verständnis« der Welt durch verschiedene symbolische Formen, auf die konsequente Erweiterung der Bedeutung von »Theorie« und schließlich auf eine Lockerung des privilegierten Verhältnisses zwischen Philosophie und Wissenschaft.54 In diesem Sinne scheint Cassirer in der Tat Abschied vom Neukantianismus zu nehmen; jedoch nur, wenn unter diesem Begriff ein Neukantianismus wie derjenige Zellers oder Helmholtzens verstanden wird, und sicherlich nicht, wenn man den auf dem Gebiet der Kulturwissenschaft engagierten deutschen Neukantianismus betrachtet, und vor allem dann nicht, wenn man an die grundlegende Funktion denkt, die die transzendentale Methode Marburger Provenienz weiterhin auch für den ›Kulturphilosophen‹ Cassirer hat. Wie er häufig in seinen Schriften über Cohen und unter so bedeutsamen Umständen, wie sie die Davoser Begegnung darstellten, betonte, sah Cassirer das grundlegende methodische Zentrum seiner Philosophie der symbolischen Formen in der Ausgangsfrage nach den Bedingungen der Möglichkeit: Wie ist die Sprache möglich? Wie ist der Mythos möglich? Wie ist im allgemeinen die Kultur selbst als ein Komplex geistiger Formen möglich?55
53 Ebd., S. 108 ff.; ECW 10, S. 113 f. Zur Bedeutung eines »Befreiers«, die die Relativitätstheorie unter diesem Blickwinkel für Cassirer erhält, vgl. die genauen Beobachtungen von W. Marx, Aspekte der Theorie der Grundlagen wissenschaftlicher Erfahrung E. Cassirers in Determinismus-Indeterminismus. Philosophische Aspekte physikalischer Theorienbildung, S. 140. 54 Vgl. Philosophie der symbolischen Formen, I, S. V; ECW 11, S. VII; Philosophie der symbolischen Formen, III, S. V; ECW 13, S. VII, und schließlich Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 119. 55 Vgl. Davoser Disputation, S. 292–295. Wenn Cassirer also in einem Text, der häufig (jedoch ohne adäquates Verständnis) zitiert wird, die These vertritt, sich in den Positionen, die gewöhnlich dem Neukantianismus zugeschrieben werden, nicht wiederzufinden, beabsichtigt er in Wirklichkeit nicht, sich sic et simpliciter gegen den Neukantianismus zu stellen, sondern gegen eine seiner besonderen Ausprägungen oder vielleicht einfach seine polemische Interpretation (z. B. jener, die ausschließlich Erkenntnistheorie darunter versteht). Nicht zufällig bekräftigt Cassirer bei dieser
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Der transzendentale Status der Kulturphilosophie Cassirers muß folglich als Reflexion auf die Kultur im Lichte der Kantischen Frage nach den ›Bedingungen der Möglichkeit‹ verstanden werden, in der Ausprägung, die Cohen ihr gegeben hatte, indem er sie auch auf andere ›Richtungen‹ des Bewußtseins, sogar auf das »Kulturfaktum der Religion« ausgedehnt hatte.56 Im übrigen handelt es sich nicht um eine Anfangsformulierung, die noch zu Lasten der neukantischen ›Restbestände‹ des frühen Cassirers geht, sondern um eine Orientierung, der Cassirer – trotz Vervielfältigung von Motiven und Problemen – auch in der letzten Phase seines Denkens im wesentlichen treu geblieben ist. Die Forderung, die »Werke der Kultur« zu befragen, um ihre Möglichkeitsbedingungen zu erkennen, und der Verweis auf die »kritisch-transzendentale Fragestellung«, aus der sich die Philosophie der symbolischen Formen »entwickelt«, sind auch in den Aufzeichnungen zu den Basisphänomenen präsent.57 Noch in der Studie über Hägerström aus dem schwedischen Exil unterstreicht Cassirer, daß es für eine »kritische Kulturphilosophie« unabdingbar sei, zu den »›Bedingungen der Möglichkeit‹ der Kultur« zurückzugehen.58 Nicht weniger signifikant bemerkt Cassirer 1936 in seinem Vortrag im Warburg-Institute unmißverständlich: »We are no longer studying the works of art, the products of mythical or religious thought, but the working powers, the mental activities, that are required in order to produce these works. If we succeed in gaining an insight into the character of these powers, if we understand them, not in their historical origin, but in their structure, if we conceive in what way they are different from each other and nevertheless cooperating with each other, we have reached a new knowledge about the character of Gelegenheit, daß seine »gesamte Arbeit im Gebiete der theoretischen Philosophie die methodische Grundlegung voraussetzt, die Kant in der ›Kritik der reinen Vernunft‹ gegeben hat«; und genau in dieser Bedeutung betrachtet er sich als ›Neukantianer‹. (Was ist ›Subjektivismus‹?, »Theoria«, V, 1939, S. 114, jetzt auch in Erkenntnis, Begriff, Kultur, S. 201 f.) 56 H. Cohen, Der Begriff der Religion im System der Philosophie, Giessen 1915, S. 9: »So ist nun auch das Kulturfaktum der Religion dieser transzendentalen Frage zu unterstellen. Diese Fortführung der Frage wäre nicht möglich, wenn der Anteil der Philosophie an der Religion nicht vorauszusetzen wäre. Die Immanenz der Philosophie in allen Hauptrichtungen der Kultur ist jedoch die allgemeine Voraussetzung des philosophierenden Bewußtseins«. Auf die Verortung Cassirers im Sinne der »transzendentalen Fragerichtung« lenkt auch A. Graeser, Ernst Cassirer, S. 47, die Aufmerksamkeit (s. auch C.-F. Geyer, Einführung in die Philosophie der Kultur, S. 34–52, der von der »Kulturphilosophie als reformulierter Transzendentalphilosophie« spricht). 57 Vgl. Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 163 f., 193 f. 58 Axel Hägerström, S. 108 (vgl. auch S. 105, wo das Recht als Kulturfactum bezeichnet wird).
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human culture. We can understand the work of human civilisation not only in its historical but also in its systematic condition; we have entered, so to speak, into a new dimension of thought.59 Zu der Notwendigkeit, daß die Philosophie angesichts der verschiedenen »forms of culture« einen »step further back« (im Sinne der Kantischen Problematik) zu den »formative powers«, zu den »spiritual functions and energies which have produced and made possible these shapes of the human spirit« machen müsse, kommt Cassirer auch in seiner Antrittsvorlesung 1935 in Göteborg wieder zu sprechen, in der er als Beispiel und Paradigma eines ähnlichen Ansatzes nicht zufällig die Sprachphilosophie Humboldts anführt, die Cassirer, so sagt er bezeichnenderweise, als Modell für »all that I have tried to bring together under the general concept of ›symbolic formation‹« verwendet habe.60 Wie bereits gezeigt wurde, kann der Beginn der Philosophie der symbolischen Formen mit dem Versuch identifiziert werden, die transzendentale Fragestellung nach der durch den ›Kantianismus‹ Humboldts eröffneten Perspektive und durch seine Konzeption der geistigen energeia auch gegenüber dem Faktum der Sprache zur Geltung zu bringen.61 Dieser Ansatz gilt jedoch auch für den Mythos, und tatsächlich konstruiert Cassirer auf dieser Basis den zweiten Band der Philosophie der symbolischen Formen. Auch gegenüber dem Mythos, gegenüber dem Faktum des mythischen Denkens, ist es für Cassirer trotz der Schwierigkeiten, die ein solcher Versuch auf den ersten Blick mit sich zu bringen scheint, notwendig, sich der transzendentalen Methode zu bedienen: »[ A ]uch hier, wie in der Theorie der Erkenntnis, [ steht ] die Methodik der kritischen Analyse zwischen der metaphysisch-deduktiven und der psychologischinduktiven Methodik. Sie muß, gleich dieser letzteren, überall vom ›Gegebenen‹, von den empirisch festgestellten und gesicherten Tatsachen des Kulturbewußtseins ausgehen; aber sie kann bei ihnen als einem bloß Gegebenen nicht stehenbleiben. Sie fragt von der Wirklichkeit des Faktums nach den ›Bedingungen seiner Möglichkeit‹ zurück.«62 Critical Idealism as a Philosophy of Culture, S. 81, Hervorh. von M.F. The Concept of Philosophy as a Philosophical Problem in Symbol, Myth, and Culture, S. 55 f. 61 Vgl. Philosophie der symbolischen Formen, I, S. 107; ECW 11, S. 105 f. Zu diesem Aspekt sei auf das oben (S. 192 ff.) bereits Gesagte verwiesen. 62 Philosophie der symbolischen Formen, II, S. 15 f.; ECW 12, S. 14 f. Zu den methodischen Problemen der ›Philosophie der Mythologie‹ Cassirers vgl. vor allem H. Holzhey, Cassirers Kritik des mythischen Bewußtseins in Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, S. 191–205, und D. Kaegi, Ernst Cassirer: über Mythos und symbolische Form in Mythos zwischen Philosophie und Theologie, hg. von E. Rudolph, Darmstadt 1994, S. 167–199. 59 60
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Um gleichzeitig die methodische Diskussion, die Cassirer über die Grundlagen einer ›Philosophie der Mythologie‹ und ihre Integration in die allgemeinere Problematik einer Kulturphilosophie führt, zu verstehen, muß man sich insbesondere mit der Anwendung und der Erweiterung der transzendentalen Methode auf diese »Form der Objektivierung«, die der Mythos darstellt, beschäftigen.63 Noch einmal geht es – wie bereits im Falle der Sprache – vor allem darum, einen Schritt weiter als Cohen zu gehen. Während Cohen in dem Aufsatz zu Vischer über das Symbol expliziert negiert hatte, daß das »mythische Bewußtsein« eine eigenständige Richtung des kulturellen Bewußtseins wie das wissenschaftliche, ethische und ästhetische Bewußtsein sein könne, da es vom ›Ineinandersein‹ aller »Mächte« des Bewußtseins aus charakterisiert werden müsse,64 ging Cassirer gerade von dieser von Cohen verneinten Voraussetzung aus, nämlich daß eine »Kritik des mythischen Bewußtseins« möglich sei.65 Auf der anderen Seite wußte Cassirer genau, wie schwierig es werden würde, in diesem Gebiet einen »Leitfaden« zu finden, der für den Mythos dasjenige bedeuten könnte, was für die Sprache das Werk Humboldts war:66 Die Ausdehnung und Gliederung des Cohenschen ›kulturellen Bewußtseins‹ mußte die Schwierigkeiten überwinden, die »innere Form« (im Humboldtschen Sinne) transparent zu machen, die die Struktur des Mythos bestimmt, ihre Dignität als geistige Form, in der sich – nicht anders als die Erkenntnis und der Sprache – die bloße ›Rhapsodie der Wahrnehmungen‹ dank einer »ursprünglichen Gesetzlichkeit des Geistes« zu einer objektiven Form erhebt.67 Bekanntlich kommt Schellings Philosophie der Mythologie für Cassirer das große Verdienst zu, von einer rein allegorischen Konzeption zu einer »tautegorischen« übergegangen zu sein, die zu einem Verständnis des Mythos als symbolischer Form vordringt.68 Für Cassirer geht es jedoch darum, die Schellingsche Problematik von der metaphysischen Ebene zur kritisch-transzendentalen zu transponieren und doch an den Ergebnissen festzuhalten, zu denen Schelling bereits gelangt war: und zwar den Mythos nicht als eine trügerische, subjektive Vorstellung zu betrachten, Vgl. Philosophie der symbolischen Formen, II, S. 18 f.; ECW 12, S. 16. Vgl. H. Cohen, Schriften zur Philosophie und Zeitgeschichte, I, S. 421, 425. 65 Philosophie der symbolischen Formen, II, S. VII; ECW 12, S. IX. Man könnte sagen, daß Cassirer also Vischer näher ist als Cohen (vgl. F. Th. Vischer, Das Symbol, S. 160 ff.), und in diesem Sinne sind auch die (nicht gerade zahlreichen) Verweise Cassirers auf Vischer zu verstehen (s. oben, S. 165, 181, 219). 66 Vgl. Philosophie der symbolischen Formen, II, S. XII; ECW 12, S. XV. 67 Ebd., S. 17, 27; ECW 12, S. 15, 25 f. 68 Ebd., S. 6 ff.; ECW 12, S. 4 ff. 63 64
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sondern vielmehr als eine besondere Objektivität mit der Eigenständigkeit und Ursprünglichkeit einer objektiven Lebensform.69 Dieser ›Übersetzung‹ des Problems Schellings in die Sprache der transzendentalen Methode oder besser in die Perspektive einer strukturalen Analyse, die – wie Cassirer ausdrücklich unterstreicht – mit der von der Phänomenologie Husserls eingeschlagenen Richtung konvergiert, korrespondiert eine doppelte, signifikante Begrenzung.70 Auf der einen Seite muß eine Transzendentalphilosophie der Mythologie auf jeglichen Anspruch metaphysischer Grundlegung verzichten; andererseits muß sie sich gleichermaßen von einer psychologischen Erklärung des Mythos distanzieren, die einen bloßen Vorzeichenwechsel gegenüber einer metaphysischen Rechtfertigung darstellt (erhellend ist in diesem Hinblick die Polemik Cassirers gegen die Völkerpsychologie).71 Auch hier bleibt Cassirer dem treu, was er bereits bezüglich der Sprache als symbolischer Form gesagt hat: Hinsichtlich des Mythos wie der Sprache bleibt die psychologischethnologische Analyse fruchtbar auf der Ebene der Dokumentation (und Cassirer hält sich ausgiebig damit auf), aber sie kann eine wirklich kritische Rechtfertigung des Mythos nicht ersetzen, durch die auch hier der entscheidende Schritt vom Positivismus zum Idealismus vollzogen wird.72 Es geht nicht um ›Ursachen‹ und auch nicht um anthropologische Grundlagen, sondern um eine »Phänomenologie des mythischen Bewußtseins«, in deren Zentrum der »Geist lediglich in seiner reinen Aktualität, in der Mannigfaltigkeit seiner Gestaltungsweisen«: nicht so sehr ein Subjekt und ein Objekt, sondern das »Kulturbewußtsein« steht, in dem sich die Gliederung in Inneres und Äußeres vollzieht, genauso wie dies in der sprachlichen Sphäre geschieht, die Humboldt beleuchtet hatte.73
69
Ebd., S. 9, 13 f.; ECW 12, S. 7, 11. Ebd., S. 16, Anm. 1; ECW 12, S. 14, Anm. 12. Zu diesem Bezug Cassirers auf Husserl, der hier nicht im Detail diskutiert werden kann, ist der Brief Husserls an Cassirer vom 10. April 1925 zu vergegenwärtigen, der in E. Husserl, Briefwechsel, V, S. 6 ff., veröffentlicht ist. Vgl. darüber hinaus Ch. Jamme, Überrationalismus gegen Irrationalismus. Husserls Sicht der mythischen Lebenswelt in Phänomenologie im Widerstreit. Zum 50. Todestag Edmund Husserls, hg. von Ch. Jamme und O. Pöggeler, Frankfurt am Main 1989, S. 77 f., und E. W. Orth, Phänomenologie in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen in Symbolische Formen, mögliche Welten – Ernst Cassirer, S. 47–60, auch in Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie, S. 162–175. 71 Philosophie der symbolischen Formen, II, S. 17; ECW 12, S. 15. 72 Ebd., S. 22; ECW 12, S. 20. 73 Ebd., S. 18, 30 f.; ECW 12, S. 16, 29 f. 70
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Die Anwendung der transzendentalen Methode auf den Mythos (und auf die Sprache) scheint also eine clavis aurea für die Cassirersche Grundlegung der Kulturphilosophie darzustellen. Dennoch folgt dieser »ersten Phase« der Philosophie der symbolischen Formen mit der Publikation des der »Phänomenologie der Erkenntnis« gewidmeten dritten Bandes eine »zweite Phase«, die die Anlage und die methodischen Voraussetzungen der Cassirerschen Arbeit hoffnungslos zu verkomplizieren scheint.74 Auf der einen Seite folgt der ›horizontalen‹ Betrachtung der Kulturformen hinsichtlich der transzendentalen Methode nun eine ›vertikale‹ Organisation, die das Risiko ihrer ›Hierarchisierung‹ im Sinne Hegels mit sich bringt und die sich in der Unterscheidung der verschiedenen symbolischen Funktionen (Ausdrucksfunktion, Darstellungsfunktion und Bedeutungsfunktion) manifestiert, deren Verhältnis zu den symbolischen Formen jedoch unsicher und oszillierend erscheint.75 Auf der anderen Seite bringt jedoch der Versuch, das Ausdrucksphänomen im Rückgriff auf die Gestaltpsychologie als Urphänomen der Symbolisierung zu begreifen, Cassirer dazu, sich mit der ›Phänomenologie der Wahrnehmung‹ (und allgemeiner der wesentlichen Dimension des Bewußtseins als »symbolischer Prägnanz«) in einer Perspektive auseinanderzusetzen, die sich prinzipiell der Anwendung der transzendentalen Methode zu entziehen scheint.76 Im Gespräch mit Heidegger erkennt Cassirer übrigens an, daß vielleicht »von hier aus [ mit der transzendentalen Methode ] nicht alle Fragen der Philosophie zu lösen« sind, und »weite Gebiete« möglicherweise unerreichbar bleiben, wenn man von diesem Ansatz ausgeht.77 Und doch scheint es für diesen Problemkomplex, an dem sich die Cassirerforschung wiederholt und gelegentlich etwas eintönig abgearbeitet hat, keine Antwort zu geben in einem einfachen Entweder-Oder, was darin begründet liegt, daß es nicht dem ›Stil‹ Cassirers entspricht. Vor Zu der Unterscheidung zweier ›Phasen‹ vgl. A. Poma, Il mito nella filosofia delle forme simboliche di Ernst Cassirer, Torino 1981, S. 53–106, (auf den sich auch im folgenden bezogen wird). 75 Cassirer stellt diese Unterscheidung erstmals 1927 in Das Symbolproblem und seine Stellung im System der Philosophie, S. 11, vor. Zu den Schwierigkeiten, die daraus resultieren, s. z. B. E. W. Orth, Zum Zeitbegriff Ernst Cassirers, S. 76, auch in Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie, S. 137. 76 Auf dieser Unmöglichkeit beharrt insbesondere (aber um daraus ›antitranszendentale‹ Schlüsse zu ziehen, die nicht überzeugend scheinen) J. M. Krois, Cassirer, Neo-Kantianism and Metaphysics in I filosofi della scuola di Marburgo, S. 159. Vgl. auch, ebenfalls von Krois, Problematik, Eigenart und Aktualität der Cassirerschen Philosophie der symbolischen Formen in Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, S. 21 ff. 77 Vgl. Davoser Disputation, S. 295. 74
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allem jedoch war Cassirer sich bewußt, daß der Versuch, die »Prolegomena« zu einer Kulturphilosophie zu schreiben, in der Tat ein Versuch war und nicht bereits die Konstruktion eines harmonisch geschlossenen ›Systems‹. Das ändert dennoch nichts daran, daß gerade die Ausweitung des ursprünglichen Projekts, das als lineare Ausdehnung der transzendentalen Methode auf verschiedene ›Fakten‹ der Kultur konzipiert war, am Ende der 20er Jahre den neuen Problembereich darstellte, auf dem Cassirer die Aufgabe der Philosophie der symbolischen Formen verfolgte. Allerdings blieb er auf die Herausforderungen durch die zeitgenössische Diskussion um den großen Problemkomplex ›Leben und Geist‹ (die Konfrontation mit Heidegger war unter diesem Gesichtspunkt bezeichnend) eine ›Antwort‹ schuldig. Somit wurde die theoretische Herausforderung Cassirers in dieser »zweiten Phase« noch größer: Die innere Struktur der symbolischen Formen und der ihnen entsprechenden symbolischen Funktionen, ihr Verständnis in einem ›schwächeren‹ Sinne als allgemeine Formen der Objektivierung, das Verhältnis, das zwischen diesen drei Ebenen entsteht, die Anwendung der transzendentalen Methode als Beleg der Möglichkeit eines immer intrikater werdenden ›Ganzen‹ der Kultur stellten den Cassirerschen Transzendentalismus ohne Zweifel vor erhebliche Schwierigkeiten. Seine Bemühungen konzentrierten sich jedoch genau auf den Versuch, die eigene Begrifflichkeit flexibel genug zu gestalten, um der Reichhaltigkeit der Erfahrung und des Lebens gerecht zu werden, ohne das Prinzip der forma formans, die Differenzierung von ›Erzeugen‹ und ›Erzeugnis‹ zurückzunehmen. Nicht zufällig schrieb Cassirer 1928, daß die drei symbolischen Formen nur ein »ideelles Bezugssystem« darstellen, dem die lebendige Wirklichkeit des Geistes fremd zu bleiben scheint: Dieses »Eins, Zwei, Drei« des Philosophen ist nur eine Art und Weise, von etwas Rechenschaft zu geben, das sich in der Realität durchdringt und »konkresziert«, so daß das »Diskretum« der Formen eher in der Einheit des Lebens wurzelt. Wie für Simmel verbirgt sich auch für Cassirer im Verhältnis von Leben und Form das Grundproblem der Kulturphilosophie.78 4. Seit der Einleitung des ersten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen hatte Cassirer nicht versäumt, sich kritisch auf die Lebensphilosophie und ihren Anspruch, von den ›entfremdeten‹ Formen der Kultur zur unberührten Welt des Lebens und der Unmittelbarkeit zurückzu-
78
Vgl. Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 6 f.
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kehren, zu beziehen. Obwohl, unterstrich Cassirer, die Philosophie sich ständig darüber täusche, den »Schleier«, der die pulsierende Wirklichkeit des Unvermittelten umhüllt, zerreißen und sich mit der unberührten Lebendigkeit vereinen zu können, müsse man sich damit abfinden, innerhalb der Grenzen des diskursiven Verstandes, des menschlichen Verstandes zu bleiben, der niemals ein intellectus archetypus werden könne: Für die Philosophie »ist das Paradies der Mystik, das Paradies der reinen Unmittelbarkeit verschlossen«.79 Die Kultur sei ein Komplex geistiger Formen, symbolischer Formen, hinter den man nicht zurückgehen könne, um das zu ergreifen, was jenseits jeder formgebenden Aktivität liege. Das Leben werde nur verständlich, sofern es sich in der Form vergegenständlicht; und die Aufgabe der Kulturphilosophie sei es, »gewisse gemeinsame und typische Grundzüge« im Prozeß der Formgebung zu finden, und nicht, in der irrigen Überzeugung, nur dort die wahre Wirklichkeit finden zu können, etwas zu suchen, was hinter dem Rücken der Form und der formgebenden Energien liege.80 In seinem Beharren auf einer »ständigen Spannung zwischen ›Kultur‹ und ›Leben‹«,81 aus der ein unauslöschlicher Anspruch auf Vermittlung resultiere, war Cassirer in vielerlei Hinsicht den Argumentationen nahe, die Rickert 1920 entwickelt hatte. Dieser hatte sich ausgesprochen polemisch gegen die bei Dilthey, Simmel, Bergson (und zum Teil sogar bei Troeltsch und Husserl) verbreitete »Mode« geäußert, um zu zeigen, daß eine wirkliche Lebensphilosophie nur auf der Ebene der kritischen Analyse der Werte der Kultur ihre Entsprechung finden könne. Um vom Leben Rechenschaft zu geben und zu einer Philosophie des ›Lebens‹ als einem sinnvollen Leben zu gelangen, müsse man es – so Rickert – gewissermaßen »umbringen«.82 Eigentlich hatte Cassirer es nicht nötig, sich an Rickert anzuhängen, um seine Kritik an einem ›Paradies der Unmittelbarkeit‹ zu begründen: Im Marburger Neukantianismus hatte Natorp exakt diese Frage aufgeworfen. Die Allgemeine Psychologie hatte (unter
Philosophie der symbolischen Formen, I, S. 51; ECW 11, S. 49. Zum Thema des unerreichbaren »Paradieses« im Marionettentheater von Kleist vgl. auch Idee und Gestalt, S. 194; ECW 9, S. 426. 80 Vgl. Philosophie der symbolischen Formen, I, S. 51; ECW 11, S. 49. 81 Ebd., S. 50; ECW 11, S. 48. 82 Vgl. H. Rickert, Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmungen unserer Zeit, Tübingen 21922, S. XI, 156 (zu Rickerts Buch s. die ausgezeichnete kritische Diskussion von M. Frischeisen-Köhler, Philosophie und Leben. Bemerkungen zu Heinrich Rickerts Buch: »Die Philosophie des Lebens«, »KantStudien«, XXVI, 1921, S. 112–138, die Cassirer präsent hatte: s. Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 266). 79
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anderem polemisch gegen Bergson) mit dem Hinweis darauf geschlossen, daß das »Paradies« des Unmittelbaren nicht auf unmittelbarem Wege erreicht werden könne, sondern man stets durch die Vermittlung hindurch gehen müsse, durch die Formen der Objektivierung, zu denen die Subjektivität ein bloßes Korrelat darstellt.83 In diesem Punkt ist Cassirer (auch wenn gelegentlich ein Gegensatz zwischen ihm und Natorp konstruiert worden ist) mit der Philosophie der symbolischen Formen näher an Natorp, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Für Cassirer geht es jedoch nicht darum zu bestreiten, daß das unmittelbare Leben des Bewußtseins nur durch Objektivierung erreicht oder ›rekonstruiert‹ werden könne, sondern darum, den Objektivierungstyp in Frage zu stellen, auf dem die ›kritische Psychologie‹ Natorps basiert. Dies sind die drei klassischen ›Richtungen‹ des Kantischen Systems (Erkenntnis, Ethik und Ästhetik), die obendrein unter die szientistische Vorherrschaft des Gesetzes zurückgeführt werden, einer zu engen Gesetzlichkeit, um wirklich von den verschiedenen Modalitäten der symbolischen ›Formgebung‹ Rechenschaft geben zu können, die sich auch jenseits der wissenschaftlichen Erkenntnis der Natur realisiert.84 Zweifellos war sich Cassirer der vielen Probleme bewußt, die die Natorpsche ›Psychologie‹ offen ließ, und im Grunde wollte seine ›Phänomenologie der Wahrnehmung‹ auch ein Versuch der Antwort auf diese nur zur Hälfte gelöste Aufgabe sein. Daran jedoch, daß Subjekt und Objekt, daß Bewußtsein und Objektivierung nur zwei Pole in beweglicher Korrelation sind und nicht bereits zwei Wirklichkeiten oder zwei entgegengesetzte metaphysische ›Potenzen‹, hat Cassirer nie Zweifel gelassen: Wie für Natorp geht es auch für ihn nicht um ein »Verhältnis des Gegensatzes«, sondern um »[ eine ] Gegenseitigkeit, die zugleich notwendige Korrelation bedeutet«85. Bereits auf den Schlußseiten von Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften stellten Leben und Form nicht zwei entgegengesetzte Pole dar, sondern vielmehr »eine untrennbare Einheit«, »denn erst durch die Form und ihre Vermittlung nimmt die bloße Unmittelbarkeit des Lebens die Gestalt Vgl. Allgemeine Psychologie, S. 328, 80 ff. und passim. Vgl. Philosophie der symbolischen Formen, III, S. 60 ff.; ECW 13, S. 56 ff., und vor allem Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 54 ff., 51 (wo Cassirer schreibt: »Was uns direkt durch keine metaphysische Intuition und durch keine empirische Beobachtung gegeben werden kann, das wird indirekt bestimmbar in jenem Gange der systematischen ›Rekonstruktion‹, der überhaupt die Methode darstellt, kraft deren sich uns die Eigenart des ›Subjektiven‹ erschliesst.«) 85 Allgemeine Psychologie, S. 71. S. zu diesem Punkt auch die späte Schrift Cassirers Was ist ›Subjektivismus‹?, S. 204 f. 83 84
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des Geistes an«.86 Nun ist gerade diese »untrennbare Einheit« von Leben und Form das Motiv, auf das Cassirer im Laufe der 20er Jahre wiederholt zurückgekommen ist, während die Auseinandersetzung mit der Lebensphilosophie allmählich eines der dringendsten Themen auch für die systematische Konstruktion der ›symbolischen Formen‹ wurde. Die Lebensphilosophie hatte in der Zeit des Niedergangs der ›neukantischen Vorherrschaft‹ weiterhin einen weitreichenden Einfluß auf die philosophische Diskussion in Deutschland. In dieser Phase öffneten sich – um den Titel eines für eine erste Annäherung auch heute noch sehr fruchtbaren Buches aufzunehmen – im Zeichen der Trias »Geist«, »Leben« und »Existenz« »neue Wege der Philosophie«.87 Im Sommer 1929 kündigte Cassirer aus diesem Grund in der Einleitung des dritten Bandes der Philosophie der symbolischen Formen als nächste Publikation eine Arbeit zum Thema »Leben und Geist« an. Von diesem großen Projekt erschienen dann jedoch nur der Aufsatz zu Scheler von 1930 und der zu Bergson von 1934, beides signifikante Fragmente einer Arbeit, die in den vierten Band der ›symbolischen Formen‹ einfließen sollte und die heute endlich so gelesen werden können, wie Cassirer sie hinterlassen hat: sowohl in organisch verbundenen Teilen als auch in verschiedenen Aufzeichnungen und Anmerkungen, die sehr interessant sind, wenngleich sie auch die Anlage der Philosophie der symbolischen Formen freilich nicht ›revolutionieren‹.88 Noch vor der DiskusDer Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften, S. 200. Cassirer verwendet hier bewußt die Sprache Hegels – des Hegels der Phänomenologie, für den die Kraft des Geistes »nur so groß als seine Äußerung« ist. Dies erlaubt jedoch nicht, von einem ›Hegelianismus‹ Cassirers zu sprechen, sondern allenfalls von einer Wertschätzung Cassirers der Kritik der Lebensphilosophie ante litteram, die er bei Hegel zu erkennen meinte. 87 Vgl. F. Heinemann, Neue Wege der Philosophie. Geist-Leben-Existenz. Eine Einführung in die Philosophie der Gegenwart, Leipzig 1929 (auf den Seiten S. 93–98 findet sich im Rahmen der Philosophen des »Geistes« eine Darstellung der Position Cassirers). Im allgemeinen sind zur Lebensphilosophie zu vergegenwärtigen die systematische Studie von O. Bollnow, Die Lebensphilosophie, Berlin-Göttingen-Heidelberg 1958, und der Überblick von F. Fellmann, Lebensphilosophie. Elemente einer Theorie der Selbsterfahrung, Hamburg 1993 (vgl. auch H. Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831–1933, Frankfurt am Main 1983, S. 172–196). Leider sind wir jedoch noch weit entfernt von einer detaillierten Rekonstruktion eines der vielleicht komplexesten Kapitel der Philosophie (und der Kultur) in Deutschland im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert. 88 Vgl. Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 3–32, 54–109, 207–229 (der Inhalt war dank der Studie von J. M. Werle, Ernst Cassirers nachgelassene Aufzeichnungen über »›Leben‹ und ›Geist‹ – Zur Kritik der Philosophie der Gegenwart« in Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, S. 274–289, in den Grundzügen bereits bekannt). Die beiden erwähnten Aufsätze Cassirers sind »Geist« und »Leben« 86
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sion der einzelnen ›Lebensphilosophen‹ (nicht nur Scheler und Bergson, sondern auch Simmel – vor allem Simmel – und Klages sind Thema) bieten diese Texte eine einigermaßen befriedigende Darstellung ›seiner‹ Lebensphilosophie bzw. zeigen Cassirer als Philosophen des Lebens ohne Lebensphilosophie.89 Es ist kaum nötig, noch einmal zu unterstreichen, daß es für Cassirer keinen Sinn hat, Leben und Form, Leben und Kultur entgegenzusetzen: Der Geist, in dem Maße, in dem er objektiven Formen anvertraut ist, ist Leben; und das Leben ist Geist, sobald es – um verstanden und zu einem Gegenstand von philosophischer Bedeutung erhoben zu werden – aus seiner Unmittelbarkeit heraustritt.90 Seit dem Aufsatz von 1920 über Humboldt hatte Cassirer die Betonung genau auf diesen unlösbaren Nexus gelegt, auf die Sprache als Lebensform und auf die Notwendigkeit, die philosophische Betrachtung auf das »konkrete geistige Leben«, auf die »lebendige Form des Geistes« auszuweiten.91 Die Aufmerksamkeit Cassirers konzentrierte sich jedoch gegen Ende der 20er Jahre besonders auf die Verflechtung der Formen des Geistes, und zwar nicht vom Gesichtspunkt ihrer philosophischen ›Klassifikation‹ betrachtet, sondern unter dem Blickwinkel der schöpferischen Bewegung des Geistes, seines bildenden élans, der sich nie in einer simplen forma formata beschließt, sondern sich stets als forma formans erweist.92 Cassirer scheint es folglich nicht zu genügen, den Zusammenhang und die Korrelation zwischen Leben und Geist, Leben und Kultur hervorzuheben, sondern er erachtet es als notwendig, auch zu der »schöpferischen Subjektivität« zurückzugehen, in der die Richtungen der Kultur sich begegnen und wechselseitig durchdringen.93 Das Leben präsentiert sich als in der Philosophie der Gegenwart, »Die neue Rundschau«, XXXXI, 1930, S. 244–264, jetzt in Geist und Leben, S. 32–60, und Henri Bergsons Ethik und Religionsphilosophie, »Der Morgen«, IX, 1934, S. 20–29, 138–151. 89 Vgl. in diesem Sinne E. W. Orth, Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen und ihre Bedeutung für unsere Gegenwart, S. 132. 90 Vgl. Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 128. 91 Die Kantischen Elemente in Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie, S. 250, 268, 271, 256. Es scheint allerdings nicht so, als hätte Cassirer bezüglich des Themas der Lebensform Spranger besonders präsent gehabt, dessen Buch über Lebensformen in erster Auflage 1921 erschien. Es ist jedoch kaum nötig, darauf hinzuweisen, daß Spranger einer der vorrangigen Erforscher Humboldts ist, und gerade auf Humboldt bezieht Cassirer sich ja, wenn er von »Lebensform« spricht. Zum Werk Sprangers, den Cassirer zu den repräsentativsten Autoren der »modernen Kulturphilosophie« zählt (Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik und Denkpsychologie, S. 82, Anm. 3), vgl. T. Griffero, Spirito e forme di vita. La filosofia della cultura di Eduard Spranger, Milano 1990. 92 Vgl. Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 18. 93 Ebd., S. 7.
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Urphänomen; und es ist gewiß kein Zufall, daß Cassirer ausgerechnet hier wieder daran anknüpft, was Goethe – der bereits in Freiheit und Form präsente ›leibnizsche‹ Goethe – über das Leben als um sich selbst rotierende Monade geschrieben hat, das sich der äußeren Welt öffnet und seiner Unendlichkeit eine Grenze setzt, um Handlung und Tat, Wort und Schrift zu werden.94 Gewiß, bekräftigt Cassirer mit Goethe, bleibt das ›Urphänomen‹ des Lebens ein Mysterium, das wir nicht erklären können; aber wir sind im Leben, wir sind das Leben: Wir sind die Monade (die »Bewußtheit« von der Natorp sprach, ergänzt Cassirer bezeichnenderweise), und unser Ich handelt und objektiviert sich im Werk und im Reich der Form in einer dreiteiligen Gliederung (Ich, Handeln, Werk), die den jeweiligen ›Urphänomenen‹ (oder Basisphaenomenen, in der Terminologie, die Cassirer von Carnap entleiht) entspricht.95 Der Mensch wird sich also des Lebens nicht bewußt, um es zu erklären, sondern um es zu erhellen, und zwar nur, sofern diese ›Transzendierungsbewegung‹ des Lebens erfolgt, diese »Wendung« zur Idee – wie Simmel in seinem Buch über »Lebensanschauung« geschrieben hatte.96 Nicht umsonst ist es Simmel, auf den Cassirer sich unmittelbar bezieht. Er ging allerdings auf Distanz zu der »kurzsichtigen« Etikettierung als bloßer »Mode«, von der man sich radikal absetzen müsse, mit der Rickert der Lebensphilosophie versehen hatte.97 Für Cassirer handelte es sich im Gegenteil um ein echtes philosophisches Problem, das aufgeworfen zu haben das Verdienst der Lebensphilosophie sei, auch wenn ihre Lösungen in eine zu der von Cassirer in Aussicht gestellten konträre Richtung gehen. Mit Simmel scheint Cassirer im wesentlichen die Perspektive einer Steigerungsbewegung des Lebens (»Mehr-Leben«) zu teilen, die sich
Vgl. J. W. Goethe, Maximen und Reflexionen, S. 80 (Nr. 391–393). Vgl. Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 123–138. Zu dieser Thematik s. die Studie von O. Schwemmer, Der Werkbegriff in der Metaphysik der symbolischen Formen, »Internationale Zeitschrift für Philosophie«, I, 1992, S. 226–249 (und ausführlich in M. Ferrari, »Metafisica delle forme simboliche«, S. 830–837). 96 Vgl. G. Simmel, Lebensanschauung, S. 28–98. Diesen berühmten Passagen Simmels müßten auch jene des Buches über Rembrandt von 1916 zur Seite gestellt werden (das Cassirer nicht gegenwärtig war), in dem zu Recht eines der signifikantesten Dokumente der Lebensphilosophie Simmels gesehen worden ist (vgl. F. Fellmann, Lebensphilosophie, S. 128, und G. Simmel, Rembrandt: ein kunstphilosophischer Versuch, Leipzig 1916). 97 Vgl. Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 8, 238. Andererseits betrachtete Rickert selbst Simmel mit größerem Respekt, vielleicht weil das ›Scheitern‹ seiner Philosophie auf neokritizistischen Voraussetzungen basierte, die Rickert nicht so fremd waren (vgl. Die Philosophie des Lebens, S. 26 f., 64–72). Zu diesem Punkt s. auch M. Frischeisen-Köhler, Philosophie und Leben, S. 125 f. 94 95
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in Formen objektiviert und eine ›Transzendierung‹ des Lebens darstellt (»Mehr-als-Leben«).98 Was ihn jedoch von Simmel trennt, ist die Möglichkeit, in dieser Bewegung eine dialektische Spannung aufzufinden – die »Tragödie der Kultur«, von der Simmel in »Logos« gesprochen hatte. In Wirklichkeit ging es für Cassirer nicht darum, Leben und Form in Opposition zu bringen, zu zwei entgegengesetzten Polen und zwei metaphysischen Kräften zu verdichten und somit etwas gegeneinander zu stellen, das sich im Innern derselben Bewegung befindet: Das Leben entfremdet sich nicht zu einer festen Form, die ihm als eine nicht mehr erkennbare Schöpfung gegenübersteht. Das Leben ist bereits die Polarität von Leben und Form: »[ D ]ie Polarität selbst ist das eigentliche Urphänomen[ , ] das nur von uns in der Reflexion künstlich gespalten wird«.99 Das Individuum als solches – entgegnet Cassirer Simmel mit Bezug auf das paradigmatische Beispiel der Sprache als symbolischer Form – drücke sich nur im »überindividuellen« Medium der Form aus. Es sei für das Individuum keine »Tragödie«, sich in etwas kristallisieren zu müssen, das nicht sein eigen ist, sondern es könne sich nur in dieser Weise, nur durch diese goethesche »Entsagung« gegenüber einer objektiven Form, »selbst erst gewinnen«.100 Von diesem Gesichtspunkt aus rekurriert Cassirer auch in der kritischen Analyse Simmels auf den objektiven Geist Hegels, den er bereits in der Begegnung mit Heidegger zur Geltung gebracht hatte;101 und auch hier weist der ›objektive Geist‹ im allgemeinen den ›überindividuellen‹ Charakter der Kulturformen auf, d. h. ihre Konstitution als symbolische Formen, die keine individuellen Schöpfungen sind, sondern Vermittlungen, ohne welche das Leben, die Individuen, weder sich selbst noch einander verstehen könnten. Nicht zufällig kehrt dieser Aspekt in ähnlichen Begriffen in der Diskussion der von Scheler in Die Stellung des Menschen im Kosmos entworfenen philosophischen Anthropologie wieder. Für Cassirer ist die Charakterisierung des Geistes als »Asket des Lebens« unhaltbar, gerade weil es, wenn einmal ein Bruch zwischen Leben und Geist, zwischen Transzendenz und Immanenz des Lebens vollzogen ist, unmöglich scheint, wieder zu einer Vermittlung zu gelangen.102 Abermals Vgl. Lebensanschauung, S. 20 f. Vgl. Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 218. 100 Ebd., S. 219. Zu all diesen Themen kehrte Cassirer im schwedischen Exil in dem Kapitel über die Simmelsche »Tragödie der Kultur« in Zur Logik der Kulturwissenschaften, S. 103–127, zurück, das ohne wesentliche Veränderungen die bereits dargestellten Betrachtungen wieder aufnimmt. 101 S. oben, S. 274 ff. Die Aufzeichnungen zu Heidegger gehören zu demselben Fragment über Geist und Leben, in dem Simmel diskutiert wird. 98 99
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unterstreicht Cassirer, daß »[ d ]as eigentliche Drama [ … ] sich nicht zwischen Leben und Geist, [ … ] sondern mitten im Gebiete des Geistes selber [ abspielt ]«: Es ist der Geist, der sich selbst verneint und einen Denkraum (diesen Ausdruck Warburgs verwendet Cassirer in diesen Jahren relativ häufig) oder »das Zwischenreich der ›symbolischen Formen‹« schaffen muß, durch das es allein möglich ist, auf die Wirklichkeit und das Leben Bezug zu nehmen.103 Aber auch bei dieser Gelegenheit beruft Cassirer sich auf Hegel, sogar auf den jungen Hegel, mit dem Dilthey sich beschäftigt hatte, der alle Seiten des Lebensbegriffs betrachtet und allmählich jenen überlegenen Gesichtspunkt gewonnen hat, den Cassirer (in dem für ihn typischen Argumentationsstil) assimiliert: die Substanz, die Subjekt wird, oder das Leben, das sich in der Form objektiviert.104 Bei genauerem Hinsehen bedient sich Cassirer sowohl in der Auseinandersetzung mit Simmel als auch mit Scheler (und im Grunde auch mit Klages und Bergson) desselben Interpretationsschemas, das – abermals unter Verwendung des Prinzips der ›immanenten Dialektik‹ – darauf abzielt, das Problem der Lebensphilosophie, an ihren eigenen Voraussetzungen festzuhalten, hervorzuheben. Cassirer wirft Klages z. B. vor, daß der Anspruch, das Leben über den Geist zu stellen, bereits ein Werk des Geistes selbst ist: Das Leben kann den Geist nicht ›sehen‹, und sein Bildungstrieb ist blind, während der Geist nicht nur das Leben ›sieht‹, sondern ihm nach dem Prinzip der Gestaltung Form gibt.105 Dies ist ein Argument, das Cassirer auch gegen Bergson anführt, dessen radikale Verneinung jeder symbolischen Funktion im Namen der Intuition ihm unvereinbar scheint mit einer wie auch immer gearteten Sichtweise des Lebens, die voraussetzt, daß das Leben nicht in sich verschlossen bleibt, sondern in einer Form gegeben ist.106 Genau deshalb erkennt Cassirer im folgenden Aufsatz über Bergson von 1934 (der eines der letzten Dokumente der Bergsonrezeption in Deutschland ist) in den Deux sources de la moral et de la religion das offensichtlich ›dialektische‹ Ergebnis, zu dem die Lebensphilosophie gelangt; sei es, weil hier der Biologismus bereits überwunden ist, worauf Rickert insistiert hat, und sich eine Art Vgl. E. Cassirer, »Geist« und »Leben« in der Philosophie der Gegenwart, S. 42 ff. Bezug genommen wird hier auf M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos in Späte Schriften, hg. von M. S. Frings (= Gesammelte Werke, IX), Bern und München 1976, S. 44. 103 Vgl. »Geist« und »Leben« in der Philosophie der Gegenwart, S. 47 f., 51, 54. 104 Ebd., S. 53. 105 Vgl. Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 209–212. 106 Vgl. Philosophie der symbolischen Formen, III, S. 46; ECW 13, S. 44. 102
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Simmelsche ›Transzendenz des Lebens‹ (eine ›Wendung zur Idee‹) vollzieht, sei es, weil Bergson – obwohl er nicht über eine Ethik des Gefühls hinauskommt – das Feld des Möglichen und des Sollens anerkennen muß, d. h. die Kantische Dimension der Vernunft, die den als ›tot‹ angenommen Verstand übersteigt, gegen den der Bergsonsche »Irrationalismus« polemisiert.107 Gewiß könnte man fragen, ob Cassirer den ›Lebensphilosophen‹, die er betrachtet, wirklich gerecht wird und vor allem ob seine Versöhnung der bspw. von Simmel hervorgehobenen ›tragischen‹ Aspekte nicht riskiert, den ›Konflikt der modernen Kultur‹ im Namen der ›Kreativität‹ des Geistes zu simplifizieren. Doch das Interessante dieser Texte Cassirers besteht nicht so sehr in der mehr oder weniger angemessenen Rekonstruktion der Lebensphilosophie, sondern in der Bedeutung, die eine solche Auseinandersetzung für die Kulturphilosophie Cassirers hat. Auf den ersten Blick und auch wenn man den Schwierigkeiten Rechnung trägt, die sich im letzten Band der Philosophie der symbolischen Formen hinsichtlich der Verbindung zwischen den symbolischen Funktionen und den verschiedenen symbolischen Gestaltungen manifestieren, scheint Cassirer sich immer mehr einer Hegelschen Lösung anzunähern: einer ›Phänomenologie des Geistes‹, verstanden als Gesamtsicht des Prozesses, in dem der Geist sich zu seinem Selbstbewußtsein entfaltet und erhebt. In Wirklichkeit jedoch bedient sich Cassirer Hegels in einem eher weiteren und ›metaphorischen‹ Sinn. Viele Interpreten, die hier einen bereits mehr hegelianischen als kantischen Cassirer sehen wollen, haben sich vielleicht von der ein wenig zu oberflächlichen Weise täuschen lassen, in der Cassirer sich zuweilen auf die philosophische Tradition bezieht, denn nicht die Dialektik der geistigen Formen, sondern ihre »Polarität« und ihre »Steigerung« im Sinne Goethes sind der eigentliche Bezugspunkt Cassirers.108 Nicht zufällig taucht die Goethesche Terminologie (aber läßt sich hier nicht auch die Vermittlung Warburgs erkennen?) in dieser Periode häufig auf, und Cassirer stellt – wie bereits
Vgl. Henri Bergsons Ethik und Religionsphilosophie, S. 20 f., 139, 145 f., 148–151. Der umfangreiche Aufsatz Cassirers und Natorps Allgemeine Psychologie werden in der Studie von R. Meyer, Bergson in Deutschland. Unter besonderer Berücksichtigung seiner Zeitauffassung in Studien zum Zeitproblem in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, S. 10–64, nicht einmal erwähnt. 108 Vgl. J. W. Goethe, Erläuterung zu dem aphoristischen Aufsatz »Die Natur« in Werke, XIII, S. 48. Vgl. hierzu Freiheit und Form, S. 242; ECW 7, S. 256, wo Cassirer unter anderem allgemein von einem »Urphänomen des Tuns« spricht. Ein wichtiger Bezug auf das Goethesche Wortpaar Polarität-Steigerung findet sich auch im Aufsatz von 1932, Goethes Idee der Bildung und Erziehung, S. 98 f. Zur Bedeutung 107
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gezeigt wurde – die Frage nach dem Leben, dem Nexus Ich-WirkungWerk, von Goethe aus.109 Die Bewegung des Geistes, die Gliederung seiner Formen in die Sprache, den Mythos, die Erkenntnis und die Kunst, nimmt in diesem Sinne die Gestalt einer dialektisch nicht zu lösenden »Polarität« sowie einer »Steigerung« an und zeichnet eher eine spiralförmige Figur als die eines Fortschreitens, das die vorigen Formen einschließt. Es ist nicht besonders kühn zu sagen, daß die Goethesche Morphologie das Modell dieser ›Morphologie des Geistes‹ darstellt, als die die Philosophie der symbolischen Formen sich ausdrücklich versteht. Aber gerade deshalb konnte Cassirer seine Philosophie der symbolischen Formen als eine echte Lebensphilosophie betrachten: Denn wenn die »rotierende Bewegung der Monade« (wie Goethe gesagt hatte) ein »Geheimnis« bleibt, nimmt die geistige Schöpfung des Menschen doch ihren Ausgang von diesem »Geheimnis«, und der symbolische Ausdruck ist selbst ein Urphänomen. Um dennoch zu einer »Erkenntnis vom ›Wesen‹ des Menschen« zu gelangen, ist es erforderlich, »den Menschen in der Kultur und im Spiegel seiner Kultur« zu betrachten, ohne den Spiegel umzuwenden, »um zu sehen, was hinter ihm liegt«: Hinter dem Leben ist nur das Leben, und das stellt sich unseren Augen immer und nur – Cassirer wiederholt dies unermüdlich – über die Vermittlung der Symbole dar.110 5. »[ D ]ie Probleme einer Philosophischen Anthropologie«, schrieb Scheler 1928, »[ sind ] heute geradezu in den Mittelpunkt aller philosophischen Problematik in Deutschland getreten.«111 Bekanntlich war es Scheler selbst, der, trotz des noch unvollendeten Charakters seiner anthropologischen Reflexionen (die auch unabgeschlossen bleiben
Goethes in diesem Sinne vgl. Th. Knoppe, Das Leben: ein Traum. Ernst Cassirer und die Lebensphilosophie in Neukantianismus. Perspektiven und Probleme, S. 466. Eine hegelianische und ausgesprochen antikantische (und antineukantische) Interpretation Cassirers ist die von D. Ph. Verene, Kant, Hegel, and Cassirer: The Origins of the Philosophy of Symbolic Forms, »Journal of the History of Ideas«, XXX, 1969, S. 33–46. Zur fortschreitenden Annäherung Cassirers an Hegel s. auch H. Levy, Die HegelRenaissance in der deutschen Philosophie, S. 43–50. 109 An Warburg läßt sich denken, wenn Cassirer im allgemeinen von »Polarität« spricht, ein, wie bereits erwähnt wurde, für Warburg zentraler Begriff, den er von Goethe übernimmt: vgl. E. H. Gombrich, Aby Warburg, S. 184, 241 f., Anm. 3, und wenn er die »Pendelbewegung« des geistigen Lebens beschreibt, die zwischen forma formata und forma formans oszilliert: vgl. Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 18. 110 Vgl. Zur Logik der Kulturwissenschaften, S. 102. 111 M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 10.
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sollten) in entscheidender Weise zur Konstitution der philosophischen Anthropologie nicht nur als ›Disziplin‹, sondern auch als neues Zentrum und inspirierendes Moment der philosophischen Diskussion beigetragen hat.112 In einer Phase grundlegender Transformation der herrschenden ›Traditionen‹ in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gewann die Berufung auf den Menschen und die Beziehung Mensch-Natur bzw. ›Geist‹ und ›Leben‹ einen außerordentlich Einfluß. Nicht umsonst gestand Helmuth Plessner, ebenfalls 1928 in Die Stufen des Organischen und der Mensch, Scheler trotz seines phänomenologischen Ansatzes das »unbestreitbare Verdienst« zu, neue Horizonte geöffnet zu haben, die (über die Vermittlung Mischs) in der Perspektive Diltheys und dem jüngsten Werk Heideggers gründen. Die Philosophie stand vor der Aufgabe, die »Hermeneutik« als eine »philosophische Anthropologie« zu begründen, was für Plessner nur durch den Rückgang auf eine »Naturphilosophie« erfolgen konnte.113 Cassirer zögerte nicht, die zentrale Bedeutung der philosophischen Anthropologie zuzugestehen. Er widmete der erfolgreichen Intervention Schelers nicht nur den Aufsatz von 1930 über »Geist« und »Leben« in der Philosophie der Gegenwart, auf den bereits hingewiesen worden ist (und der das Thema der in Davos gehaltenen Vorlesungen wieder aufnimmt); auch trägt der größte und geschlossenste Abschnitt der vorbereitenden Arbeiten zum sogenannten ›vierten‹ Band der Philosophie der symbolischen Formen den Titel Das Symbolproblem als Grundproblem der philosophischen Anthropologie. Cassirer gibt hier zu erkennen, einige Grundmotive des Buches von Plessner übernommen zu haben.114 Viele 112
Zu einer Übersicht über die philosophische Anthroplogie Schelers ist die Textsammlung Schriften zur Anthropologie, hg. von M. Arndt, Stuttgart 1994, recht nützlich, deren Lektüre durch die Schriften aus dem Nachlaß, III, Philosophische Anthropologie, hg. von M. S. Frings (= Gesammelte Werke, XII), Bonn 1987, ergänzt werden muß. 113 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch in Gesammelte Schriften IV, hg. von G. Dux, O. Marquard und E. Ströker, Frankfurt am Main 1981, S. 11 f., 63, 69. Zu einer ersten Einordnung der Diskussion über die philosophische Anthropologie (mit Bezügen auf Dilthey, Scheler, Plessner, Heidegger, Gehlen etc.) vgl. W. H. Pleger, Differenz und Identität. Die Transformation der philosophischen Anthropologie im 20. Jahrhundert, Berlin 1988; aber s. auch H. Schnädelbach, Philosophie in Deutschland, S. 264–269. 114 Vgl. Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 32–109 (bes. S. 60, Anm. 1). Mit Cassirer und Plessner beschäftigt sich die gründliche Studie von E. W. Orth, Philosophische Anthropologie als Erste Philosophie. Ein Vergleich zwischen Ernst Cassirer und Helmuth Plessner, »Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften«, VII, 1990–1991, S. 250–274, auch in Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie, S. 225–252.
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Jahre vor der Entwicklung des Begriffs des animal symbolicum im Essay on Man öffnete Cassirer somit seinen philosophischen Horizont in eine neue Richtung, zu einem komplexen Vermittlungsversuch zwischen der transzendentalen Grundlegung der Kulturphilosophie und der »Selbsterkenntnis des Menschen«, die die Krise der zeitgenössischen Kultur immer problematischer, aber auch dringlicher hatte werden lassen.115 Dieses Bemühen kennzeichnet seine gesamten späten Reflexionen. Es läßt sich folglich nicht abstreiten, daß das Interesse Cassirers für die philosophische Anthropologie in erster Linie durch die Entwicklung der philosophischen Situation der 20er Jahre bedingt war, in der – wie Husserl bemerkte – die »jüngere Generation« sich zunehmend dem Menschen, einer Theorie »seines konkret-weltlichen Daseins« als »wahrem Fundament der Philosophie« zuwandte.116 Aber so ›empfänglich‹ Cassirer hierfür auch gewesen sein mag, es ging für ihn nicht um eine simple Anpassung an eine philosophische Mode, sondern, ebenso wie im Falle der Lebensphilosophie, um ein Problem, mit dem er sich durch Gebrauch und Korrektur der begrifflichen Instrumente des Neukantianismus beschäftigte. Cassirer geht in seinen zahlreichen Aufzeichnungen für die geplante Fortführung der Philosophie der symbolischen Formen (wir befinden uns im Jahre 1928) vor allem von Kant aus und weit über das hinaus, was er ein Jahrzehnt zuvor bezüglich der Kantischen Anthropologie vertreten hatte. Er hebt nun deutlich hervor, daß »[ d ]as Problem einer ›philosophischen Anthropologie‹ [ … ] als solches keineswegs ausserhalb des Gesichtskreises der kritischen Philosophie [ steht ]«.117 Und doch impliziert diese Anerkennung keine enge ›buchstäbliche‹ Verbindung mit der Anthropologie Kants, sondern allerhöchstens einen Bezug auf ihren ›Geist‹: Cassirer scheint vor allem eine »Wendung« auf eine »Lebensweltphilosophie« hin zu vollziehen, die von der anthropologischen Reflexion Kants oder besser von der »anthropologischen Wende« der nachkantischen Diskussion eingeleitet worden ist.118 In diesem Sinne Zum »Knowledge of Himself« vgl. An Essay on Man, S. 1–22. Dieses Motiv übernimmt Cassirer direkt von Scheler, der es nicht nur in Die Stellung des Menschen im Kosmos formuliert hatte (auf das Cassirer sich im Essay on Man bezieht), sondern auch in Mensch und Geschichte (1926), jetzt in Späte Schriften, S. 120. 116 E. Husserl, Phänomenologie und Anthropologie in Aufsätze und Vorträge (1922– 1937), hg. von T. Nenon und H. R. Sepp (= Husserliana, XXVII), Dordrecht-BostonLondon 1989, S. 164–181 (es ist der Text eines Vortrags vom Juni 1931). 117 Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 32. Vgl. dagegen den kurzen, abschätzigen Hinweis in Kants Leben und Lehre, S. 435; ECW 8, S. 392. 118 Vgl. O. Marquard, Zur Geschichte des philosophischen Begriffs »Anthropologie« seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts in Schwierigkeiten mit der Geschichtsphi115
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entsprach die Cassirersche Reflexion dem Übergang vom »Schulbegriff« zum »Weltbegriff« der Philosophie119 und der Überwindung jeder Form ›solipsistischen‹ Denkens durch einen »Pluralismus« (»d.i.«, sagte Kant, »die Denkungsart: sich nicht als die ganze Welt in seinem Selbst befassend, sondern als einen bloßen Weltbürger zu betrachten und zu verhalten«).120 Die klassisch Kantische Frage »Was ist der Mensch?«121 wurde immer drängender und brachte das gesamte Verhältnis nicht nur zwischen Mensch und Natur, sondern vor allem jenes zwischen Mensch und Kultur ins Spiel, zwischen dem Leben des Menschen und den Formen, in denen sie zum Ausdruck kommt. In diesem Zusammenhang kam Cassirer nicht nur auf den Kant der Anthropologie zurück, der das Profil eines ›Kulturphilosophen‹ annahm (und dem er sich in den letzten Schriften noch einmal zuwandte)122 und (unter einem anderen Aspekt) auf den Kant der Schlußparagraphen der Kritik der Urteilskraft, der nach dem ›Platz des Menschen in der Natur‹ fragte,123 sondern auch auf einen seiner Autoren der reifen Phase: Gemeint ist Humboldt und der Entwurf einer Erkenntnis des Menschen, die weder bloße Spekulation, noch einfach nur das Sammeln empirischer Daten, sondern von der Idee geleitete »Erfahrung« ist.124 Und hier brachte Cassirer, obwohl bereits Cohen die Ethik bekanntlich als »Lehre vom Menschen« bestimmte,125 den Marburger Neukantianismus einen Schritt weiter, den seine Lehrer nicht einmal versucht hatten, und blieb doch im Vergleich mit dem späten Cohen der Religionsphilosophie oder mit der onto-logischen Spätphilosophie Natorps möglicherweise der echtere Kantianer, der schließlich mit der losophie. Aufsätze, Frankfurt am Main 31992, S. 126 f. S. auch F. Decher-J. Hennigfeld, Die anthropologische Wende in der Philosophie des 19. Jahrhunderts in Philosophische Anthropologie im 19. Jahrhundert, hg. von F. Decher und J. Hennigfeld, Würzburg 1992, S. 19. 119 Vgl. Kritik der reinen Vernunft, A 838 / B 866. S. hierzu Freiheit und Form, S. 142; ECW 7, S. 151. 120 Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, § 2, S. 130. 121 Logik Jäsche, S. 25. 122 Vgl. vor allem Rousseau, Kant, Goethe, S. 20–27. 123 Vgl. Kritik der Urtheilskraft, §§ 82–83, S. 425–434; vgl. hierzu R. Löw, Philosophie des Lebendigen, S. 221–232, und F. Menegoni, Finalità e destinazione morale nella »Critica del Giudizio«, Trento 1988, S. 119–153. 124 Vgl. W. von Humboldt, Plan einer vergleichenden Anthropologie in Werke, I, S. 354. 125 Vgl. Ethik des reinen Willens, S. 1 ff. Vgl. hierzu auch E. W. Orth, Die anthropologische Wende im Neukantianismus: Ernst Cassirer und Richard Hönigswald in I filosofi della scuola di Marburgo, S. 262, auch in Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilophie, S. 253 f., und ders., Der Begriff der Kulturphilosophie bei Ernst Cassirer, S. 160, bzw. 195 f.
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»Apologie der Sinnlichkeit« ernst machte, von der Kant gesprochen hatte.126 Was jedoch den besonders intrikaten (wenn auch sehr interessanten) Versuch Cassirers bereits gegen Ende der 20er Jahre ausmacht, nämlich auf die Bedürfnisse einer philosophischen Anthropologie zu antworten, ohne sich von der Anlage der Philosophie der symbolischen Formen zu verabschieden, ist gerade die Intention, jede Form von Anthropologismus zu vermeiden, die Spannung zwischen Bedingung und Bedingtem (und hier ist der Mensch selbst das ›Faktum‹) nicht zu verringern, ohne die sich – um es mit Husserl zu sagen – das Feld des bloßen »Objektivismus« öffnen würde und es keinen Sinn mehr hätte, auf das Transzendentale auch nur hinzuweisen.127 Nicht zufällig hatte Cassirer in der Schrift zu Einstein (in Anlehnung an Goethe) von einem »Anthropomorphismus« im »kritisch-transzendentalen Sinne« gesprochen, d. h. von einer Konzeption der physischen Realität, die – trotz Anerkennung ihrer Bedingtheit im Ausgang von den Formen, in denen wir sie fassen – deshalb nicht ihre »reine Objektivität« verliert.128 Nun ist der Angelpunkt, um den sich die ›anthropologische Philosophie‹ des späten Cassirers dreht, genau dieser: Es geht nicht darum, vom Menschen als natürlicher Entität zu den Formen der Kultur zurückzugehen, sondern im Gegenteil zu verstehen, daß es diese Fähigkeit, in den Formen der Kultur (und nur in ihnen) zu leben, ist, die den Menschen auszeichnet.129 In den Aufzeichnungen aus dem Jahre 1928, also noch vor Essay on Man, tritt dieser Aspekt mit großer Klarheit hervor und bildet das Zentrum der Auseinandersetzung, die Cassirer mit Scheler und Plessner führt. Ohne Zweifel sollte nicht vergessen werden, daß das Problem des Verhältnisses zwischen der Natur und den symbolischen Formen bereits Vgl. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, §§ 8–11, S. 143–146. Vgl. E. Husserl, Phänomenologie und Anthropologie, S. 180. Zu Cassirer, Husserl und der philosophischen Anthropologie sei auf E. W. Orth, Einheit und Vielheit der Kulturen in der Sicht Edmund Husserls und Ernst Cassirers in Phänomenologie im Widerstreit, S. 332–351, auch in Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie, S. 301–318, hingewiesen, der eine anregende Parallellektüre anbietet, aus der sich eine wesentliche Übereinstimmung zwischen der Husserlschen Perspektive der transzendentalen Intersubjektivität und der Cassirerschen Analyse des Zusammenhangs Mensch-Welt-Kultur ergibt. 128 Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, S. 107; ECW 10, S. 111. 129 Zu der »definition of man in terms of culture« s. vor allem An Essay on Man, S. 63–71. Im Essay on Man wird der Ausdruck »anthropological philosophy« (anthropologische Philosophie) mehrfach verwendet (ebd., S. 9, 16, 18, 20, 32, 41, 57, 66, 67). Es ist offensichtlich, daß Cassirer beabsichtigt, seine eigene, anthropologisch orientierte philosophische Position von einer philosophischen (und möglicherweise als philosophia prima verstandenen) Anthropologie im engeren Sinne zu unterscheiden. 126 127
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im dritten Band der Philosophie der symbolischen Formen, im langen Kapitel über die »Pathologie des Symbolbewußtseins«, von Cassirer behandelt worden ist (das ›Pathologische‹ ist übrigens auch in der Kantischen Anthropologie vertreten). Hier hat Cassirer sich mit der nicht-geistigen Bedingtheit der Krankheit beschäftigt, die für die der Störung der Symbolisierungsfähigkeit verantwortlich ist.130 Dieses Forschungsgebiet hat Cassirer dazu gedient, abermals zu unterstreichen, daß die (normale) Anschauung der Welt sich – auch auf der niedrigsten Ebene der Wahrnehmung – nur dank einer symbolischen Aktivität organisiert, d. h. durch eine geistige Formgebung, die eine Unterscheidung Husserlscher Art zwischen ›Materie‹ und ›Form‹, zwischen ›hyletischer‹ und ›noetischer‹ Ebene absolut problematisch werden läßt.131 Die Natur kann folglich nicht als eine Art Schoß betrachtet werden, in dem der Geist entsteht, da sie nur innerhalb der Formen ihres Verständnisses durch den Menschen, im Innern des »geistigen Wesens« Sinn hat: Das verbindende Moment ist also kein evolutionärer Übergang von der Natur zum Geist, sondern die »Verwandlung«, die der Geist in dem Moment erfährt, in dem das Leben – um einen Ausdruck Simmel zu verwenden – die »Wendung« zur Idee vollzieht.132 Was Cassirer an Neuartigem von Scheler und Plessner übernimmt, ist der Versuch, die Fragen der philosophischen Anthropologie neu zu stellen, indem er Schemata evolutionistischer oder naturalistischer Prägung überwindet und folglich das Verhältnis zwischen Natur und Geist – zwischen menschlicher Welt und lebendiger Welt – in eine Perspektive setzt, die sich von der Natur auch auf die Ebene der Kultur verschiebt.133 Doch kann Cassirer – wie bereits gezeigt wurde – Scheler jedoch in der Konzeption des Geistes als eines »Asketen des Lebens« nicht folgen und ihm
130 Vgl. Philosophie der symbolischen Formen, III, S. 242 f.; ECW 13, S. 237 ff. Zum Studium der Aphasie als erstem Schritt der folgenden anthropologischen Beschäftigung vgl. S. W. Itzkoff, Ernst Cassirer: Scientific Knowledge and Concept of Men, Notre Dame-London 1971, S. 121–139. 131 Ebd., S. 228 ff. Es ist einigermaßen bezeichnend für den argumentativen Stil Cassirers, daß er dieser Trennung von Materie und Form bei Husserl (aber auch bei Kant) wenig später die Sprachphilosophie Humboldts als »ausdrücklichen Angriff« auf jeden Rest von empiristischer Dogmatik (ebd., S. 240) entgegensetzt. 132 Vgl. Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 39, 44, 53. 133 Ebd., S. 35. Es wäre interessant, im Gegenzug die Haltung Schelers gegenüber Cassirer zu rekonstruieren, auf den sich Scheler hingegen selten bezieht. Ein wichtiger Text ist in diesem Sinne der kurze Aufsatz Die Sprache (von 1927), der die »symbolische Form« der Sprache in implizitem Dialog mit Cassirer und explizitem Dialog mit Humboldt (vgl. Schriften aus dem Nachlaß, III, S. 192–195, jetzt auch in Schriften zur Anthropologie, S. 243–248) diskutiert.
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noch weniger zugestehen, daß der Geist ohne Energie sei (was auf einen obskuren Vitalismus zurückweist, der der ursprünglichen ›Impotenz‹ des Geistigen entgegensteht).134 Deutlicher scheint hier eine gewisse Nähe zu Plessner (und zu Uexküll) zu bestehen, vor allem was die zentrale These einer »Exzentrizität« des Menschen gegenüber der Umwelt, in der er lebt, betrifft. Diese ›Exzentrizität‹, die dem ›zentrischen‹ System der Tiere gegenübersteht, macht aus dem Menschen das einzige Wesen, das sich vom »hier« und »jetzt« lösen kann, um sich selbst zu erfahren.135 Cassirer nimmt eine ähnliche Perspektive nicht in biologischer Hinsicht, sondern mit Blick auf den ›Übersetzungsspielraum‹ ein, den sie (und dies gilt analog auch für die »theoretische Biologie« Uexkülls) im Rahmen einer Philosophie der Kultur, der geistigen Formen, der menschlichen Welt als Wirkwelt, als »new dimension of reality« gewährt.136 In den unveröffentlicht gebliebenen Aufzeichnungen von 1928 insistiert Cassirer mehrfach auf diesem Problemkomplex: Es ist nicht die philosophische Anthropologie, die den Begriff des »Wesens des Menschen« begründen muß, sondern eine erweiterte Kulturphilosophie, verstanden als Philosophie der symbolischen Formen, die auf die anthropologische Frage Antwort geben kann.137 Auf dieser Basis stellt sich das Problem in zweifacher Hinsicht. Auf der einen Seite muß nicht einmal hier die transzendentale Methode verlassen werden, und in diesem Fall bedeutet das, daß die philosophische Anthropologie ihren Platz in der »transzendentalen Topik« finden muß, d. h. im Gebäude der ›symbolischen Formen‹ verortet werden können muß: Um nicht irgendeiner Art Psychologismus zu verfallen und um das anthropologische Problem nicht einfach zu negieren, benötigt die philosophische Anthropologie – noch einmal mit Kant – eine »Propädeutik« und eine »Disziplin«.138 Auf der anderen Seite jedoch ist das, was die Philosophie der symbolischen ForVgl. M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 46, 52 f. Vgl. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 364 f. S. darüber hinaus Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 36 ff., und E. W. Orth, Philosophische Anthropologie als erste Philosophie, S. 260 f. 136 An Essay on Man, S. 24. In diesem Rahmen muß auch das Interesse Cassirers für die Kulturphilosophie Theodor Litts verortet werden, von dem Cassirer besonders Individuum und Gemeinschaft. Grundlegung der Kulturphilosophie, dritte, abermals durchgearbeitete und erweiterte Auflage, Leipzig-Berlin 1926, schätzt (vgl. z. B. Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 245 und 108, Anm. 1). Ein Vergleich von Cassirer und Litt, auch auf der Basis dessen, was Cassirer in Erkenntnistheorie nebst den Grenzfragen der Logik und Denkpsychologie, S. 82 f., Anm. 3, bemerkt, verdiente eine ausführlichere Behandlung. 137 Vgl. Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 36. 138 Ebd., S. 53 f. 134 135
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men der philosophischen Anthropologie geben kann, eine ›vorläufige‹ Antwort auf die Frage nach dem Wesen des Menschen: Der Mensch ist das »formfähige« Wesen.139 Trotz aller Anregungen, die Cassirer am Ende der 20er Jahre durch die zeitgenössische Diskussion bekam, und trotz der Argumentationsstrategien, auf die er zurückgreifen mußte, um sich mit Scheler und Plessner, Heidegger und Simmel auseinanderzusetzen, mit der Philosophie des Lebens und der drängenden Frage nach dem ›Ort des Menschen‹, blieb ein Punkt unverändert: Aus dem Medium der Form kann man nie heraustreten, und es gibt keinen Weg, der uns zur Form führen kann, wenn man von außen an sie herantritt – weder von der ›unmittelbaren‹ Subjektivität aus, noch vom einfachen biologischnatürlichen Wesen des Menschen. Auch deshalb kehrt Cassirer – wie bereits gezeigt wurde – gerade in einem Kontext, der allzu übereilt als ein Abschied von der transzendentalphilosophischen Tradition interpretiert worden ist,140 noch einmal zu den Themen der Allgemeinen Psychologie Natorps zurück, zum Anspruch auf eine Rekonstruktion und objektive Vermittlung, die den delikatesten Knotenpunkt darstellt und in gewisser Weise für den Marburger Neukantianismus fatal ist: das Prinzip der Gesetzlichkeit und ihrer verschiedenen Richtungen oder, im Sprachgebrauch Cassirers, das formgebende Prinzip, das sich phänomenologisch in der »Totalität« der Formen der Kultur verwirklicht.141 Aber während Natorp schließlich auf eine ursprüngliche und unaussprechliche ›Lichtung‹ gestoßen war, mußte Cassirer das Sein in reine »Energie« auflösen und zum »gemeinsamen Ursprung«, zum »identischen Prinzip« des geistigen Tuns zurückgehen, in dem die symbolischen Formen wurzeln.142 Dennoch blieben Einheit und Pluralität, »Zentrum« und »Peripherie«, Plus- und Minusrichtung in der Terminologie Natorps Begrifflichkeiten, die zur Ausbildung einer Philosophie der Kultur geeignet waren. Auf der anderen Seite ist die Welt der Kultur für Cassirer stets die Welt des Menschen (und umgekehrt): »ein in sich geschlossenes Kraftfeld, in welchem alle verschiedenen Einzelkräfte, so sehr sie zu divergieren scheinen, doch auf eine gemeinsame Mitte bezogen und in ihr vereint sind«.143 Diese »gemeinsame Mitte«, auf der Cassirer auch im Essay on Man144 noch beharrt, wird am Ende bekanntlich das animal symbolicum sein, 139
Ebd., S. 44. Vgl. O. Schwemmer, Der Werkbegriff in der Metaphysik der symbolischen Formen, S. 229, Anm. 6. 141 Vgl. Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 51, 54 ff. 142 Ebd., S. 262 f. 143 Ebd., S. 58. 144 Vgl. An Essay on Man, S. VIII. 140
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das den Platz des traditionellen animal rationale einnimmt.145 Aber der ›animalische‹ Aspekt scheint im wesentlichen durch den ›symbolischen‹ absorbiert zu sein. In der Tat konzentriert sich das Interesse Cassirers, in der Überzeugung, daß der Mensch nur hierdurch (ohne dramatische Spannung) ›Selbsterkenntnis‹ erlangen könne, bis zuletzt auf das zweite Moment.146 Aus diesem Grunde wird noch im Essay on Man die »Mitte« durch die symbolische Funktion und ihre »general applicability« konstituiert: Die Philosophie kann und darf nicht bei der Analyse der einzelnen Formen der Kultur stehenbleiben, sondern muß zu dem ›focus‹ zurückgehen, von dem sie ausstrahlen.147 Der Mensch ist von diesem Gesichtspunkt aus nichts anderes als die anthropologische Übersetzung einer energeia, die sich in keinem ergon erschöpft,148 und das ›Programm‹ der Philosophie der symbolischen Formen erscheint so weder überwunden noch verlassen: Das »Wesen« des Menschen ist nur in einer funktionalen Weise bestimmbar, und diese Bestimmung wäre nicht möglich ohne eine Systematik der geistigen Formen in ihrer Gesamtheit.149 6. Dieser Ausrichtung auf ein »Zentrum«, die auch eine Antwort auf die Kantische Frage »Was ist der Mensch?« sein will, korrespondiert der Versuch Cassirers, die symbolische Funktion auf andere Bereiche der geistigen Objektivierung auszudehnen, denn Symbolbildungen sind hinsichtlich jedes Objekts, jedes Feldes der Wirklichkeit möglich.150 Entgegen einer Ansicht, die in der Cassirerliteratur jüngeren Datums gelegentlich vertreten wird, trifft diese ›Ausdehnung‹, die prinzipiell mit dem Grundansatz der ›Formgebung‹, des geistigen Tuns als »Urphänomen«, das sich im Werk ausdrückt, übereinstimmt, tatsächlich auf Schwierigkeiten, die auf die Struktur des Begriffs der symbolischen Form selbst zurückgehen und sowohl die Geschlossenheit in Frage stellen, die ein solcher Begriff zu haben schien, als Cassirer mit der Untersuchung der Sprache begann, als auch das Profil der Kulturphilosophie insgesamt. 145
Ebd., S. 26. Zu diesem ›undramatischen‹ Charakter ist zu vergegenwärtigen F. Kaufmann, Cassirer, Neo-Kantianism, and Phenomenology in The Philosophy of Ernst Cassirer, bes. S. 840. Zur Unfähigkeit (oder Unmöglichkeit?) des Cassirerschen Neukantianismus, auf die Probleme einer philosophischen Anthropologie und auf die von den existenzialistischen Ansätzen beleuchtete Krise des Menschen zu antworten, vgl. darüber hinaus E. Paci, Il nulla e il problema dell’uomo, Torino 1950, S. 99–107. 147 Vgl. An Essay on Man, S. 34 ff., 70. 148 Vgl. Philosophie der symbolischen Formen, III, S. 526; ECW 13, S. 520. 149 Vgl. Philosophie der symbolischen Formen, I, S. 14; ECW 11, S. 12, und An Essay on Man, S. 67 f. 150 Zu dieser Formulierung s. The Myth of the State, S. 34. 146
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All dies kann besser verstanden werden, wenn man den Kontext bedenkt, in dem Cassirer – zwischen dem Ende der 20er Jahre und dem Beginn der 30er – begann, sich direkter mit den Fragen zu beschäftigen, die vor allem in Deutschland die (um einen Ausdruck von Jaspers aufzunehmen) »geistige Situation der Zeit« bestimmen.151 Zwischen der Diskussion mit Heidegger in Davos und dem Ende der Weimarer Republik verdichteten sich die Symptome jener »Krisis der Kultur«, die für die kulturelle Welt, der Cassirer angehörte, einen immer beängstigender werdenden Alptraum und zur gleichen Zeit ein ernsthaftes Monitum gegenüber jedem allzu vertrauensvollem Optimismus darstellen mußte: Die Notwendigkeit einer »Orientierung« in der Welt (dieser Warburg so wichtige Begriff war auch Cassirer geläufig) koinzidierte nun mit der Notwendigkeit, der Kultur Orientierung zu geben, nach ihrem Schicksal und nach der Verantwortlichkeit des Menschen zu fragen, da der »Untergang des Abendlandes« und eine von der Technik gelenkte Massengesellschaft nicht mehr nur literarische Phantasmen waren, sondern reale Kräfte, die die Zukunft des ›Geistes‹ fraglich machten. Cassirer schrieb am Ende seines Lebens, quasi als würde er die tragischen Erfahrungen einer gesamten Phase der europäischen Kultur des 20. Jahrhunderts rekapitulieren: »What we have learned in the hard school of our modern political life is the fact that human culture is by no means the firmly established thing that we once supposed it to be.«152 Zu dieser trostlosen Feststellung war Cassirer einigermaßen spät gelangt. In den letzten Jahren der Weimarer Republik hatte seine Diagnose der Zeit weder Pessimismus noch Mißtrauen gekannt, und sein Blick war unablässig auf die Zukunft gerichtet. Er hielt quasi an einer Art moderatem Messianismus fest, der durch die Überzeugung gekennzeichnet war, daß die einzige Weise, die Wirklichkeit zu erfassen, über die Idee führt.153 Unter diesem Blickwinkel stellt der Aufsatz von 1930 zur Technik (zu Vgl. K. Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, New York-Berlin 51979 (Erstausgabe 1932). Jaspers schrieb unter anderem: »Die Frage nach der gegenwärtigen Situation des Menschen als Resultat seines Werdens und Chance seiner Zukunft ist heute eindringlicher als jemals gestellt [ … ] Wir leben in einer geistig unvergleichlich großartigen, weil an Möglichkeiten und Gefahren reichen Situation, doch müßte sie, würde ihr niemand genug tun können, zur armseligsten Zeit des versagenden Menschen werden.« (S. 17, 23). 152 The Myth of the State, S. 297. Für das oben Gesagte (mit Bezug unter anderem auf das berühmte Buch von Huizinga, Im Schatten von morgen) ist an den glänzenden Text von D. Cantimori, Storici e storia, Torino 1971, S. 343–363, zu erinnern. 153 Vgl. z. B. den Vortrag über Cohen von 1931 La philosophie de la religion de Hermann Cohen et sa relation au judaïsme, S. 91, und den Schluß von Die Idee der republikanischen Verfassung, S. 27. 151
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»Form und Technik«) das Moment dar, in dem die im engeren Sinne philosophischen Implikationen und diejenigen ethisch-politischen Charakters sich harmonisch zu vereinen scheinen und den Versuch bilden, unter Verwendung des methodischen Instrumentariums der Philosophie der symbolischen Formen eine Antwort auf eine der dringendsten und am häufigsten diskutierten Fragen der deutschen Kultur der Zeit zu geben.154 Nicht zufällig fragt Cassirer hier nach dem quid juris der Technik und stellt die Forderung, auch die Technik der »kritischen Reflexion« zu unterziehen und nach den »›Bedingungen der Möglichkeit‹ des technischen Wirkens und der technischen Gestaltung« zu fragen.155 Wie in jedem anderen Bereich geistiger Objektivierung gilt folglich auch hier das Prinzip, von der forma formata zur forma formans zurückzugehen, um die Technik nicht einfach nur neben den anderen geistigen Formen, sondern im Komplex der formgebenden Gesetzlichkeit des Geistes zu verorten: Was zählt, ist der Formungsprozeß, seine Bildung – die mit Humboldtschen Einfüssen versetzte Terminologie Cohens ist für Cassirer immer noch aktuell –, nicht ein »totes Erzeugtes«, sondern eine lebendige »Erzeugung«.156
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Zur außerordentlichen Bedeutung der Diskussion über die Technik in Deutschland in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts vgl. die schöne Textsammlung Tecnica e cultura. Il dibattito tedesco fra Bismarck e Weimar, hg. von T. Maldonado, Milano 1979. Viele der Autoren, die hier erwähnt werden – von Simmel zu Rathenau und Dessauer – sind Cassirer präsent, und einige von ihnen nehmen in gewisser Hinsicht die Position Cassirers vorweg (wie im Falle der Philosophie der Technik Dessauers oder der Reflexionen über Technik und Idealismus von Zschimmer); in kulturphilosophischer Begrifflichkeit ist das Problem der Technik kurz vor Cassirer auch von H. Freyer, Zur Philosophie der Technik, »Blätter für deutsche Philosophie«, III, 1929–1930, S. 192–201, behandelt worden (vgl. hierzu E. W. Orth, Zum Begriff der Technik bei Ernst Cassirer und Martin Heidegger, S. 99 ff.). Cassirer hatte sich seinerseits bereits mit der Bedeutung des technischen Instruments in der Philosophie der symbolischen Formen, II, S. 254 ff.; ECW 12, S. 250 ff., beschäftigt, wo möglicherweise ein unterschwelliger Einfluß Warburgs nicht unbedeutend ist (vgl. Schlagenritual, S. 59; aber s. auch, was Cassirer über das technische Instrument in Sprache und Mythos, S. 124–127, schreibt). Diese Texte beinhalten bereits in sehr kondensierter Form einige zentrale Thesen des Aufsatzes von 1930. Zu Cassirer und der Technik vgl. vor allem J. M. Krois, Ernst Cassirers Theorie der Technik und ihre Bedeutung für die Sozialphilosophie in Studien zum Problem der Technik, hg. von E. W. Orth (= »Phänomenologische Forschungen«, XV), Freiburg-München 1985, S. 68–93. 155 Form und Technik, S. 41, 43. Vgl. auch S. 46, wo Cassirer die These vertritt, daß auch die Technik zum Grundproblem der »Philosophie der Kultur«, der transzendentalen Analyse der »›Möglichkeit‹ der Kultur«, gehört. 156 Ebd., S. 43–49.
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Von diesem Ansatz aus, den man als eine ›Vergeistigung‹ der Technik bezeichnen könnte (Cassirer spricht von ihrer »Entmaterialisierung«157), lassen sich zwei wichtige Konsequenzen ableiten. Wenn die Technik unter das Prinzip der ›Formgebung‹ fällt, ist es offensichtlich, daß auch hier das Instrument nicht nur (jenseits eines bloßen instinktiven oder magischen Verhaltens) eine bewußte Absicht verwirklicht, sondern vor allem eine neue ›Welt‹ erschließt, eine neue Möglichkeit objektiver Bestimmung öffnet, die zugleich eine Distanznahme von der sinnlichen Unmittelbarkeit ist: Durch die Technik »baut der Mensch sich seine Welt, seinen Horizont der ›Objekte‹ und seine Anschauung des eigenen Wesens«.158 Dennoch erlaubt die Tatsache, daß die Technik diese Aufgabe der Objektivierung erfüllt und daß sie unter die formende Aktivität des Geistes gefaßt werden kann, noch nicht, von der Technik als ›symbolischer Form‹ zu sprechen. Obwohl Cassirer die Technik eher in der Sphäre der Bedeutung als in der des Ausdrucks ansiedelt und obwohl er eine Reihe von Vergleichen mit der Erkenntnis und der Kunst (aber auch mit dem Mythos) anstellt, gibt es 1930 keine Definition der Technik als symbolischer Form qua talis.159 Zur Bestätigung dieser Besonderheit der Technik als Objektivationsform und Modalität der Erfahrung der Welt, aber nicht als symbolischer Form im engeren Sinne,160 trägt schließlich ein alles andere als unwichtiger Umstand bei: Nach 1930 sind (abgesehen von den späten Reflexionen auf die Rolle der zeitgenössischen politischen Mythen) die Bezugnahmen Cassirers auf die Technik selten, und im Essay on Man
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Ebd., S. 89. Ebd., S. 67. Vgl. Philosophie der symbolischen Formen, II, S. 255, 257; ECW 12, S. 251, 253 f. : »[ D ]er Gebrauch des Werkzeugs als solcher [ schließt ] schon eine entscheidende Wendung im Fortgang und im Aufbau des geistigen Selbstbewußtseins ein. Der Gegensatz zwischen der ›inneren‹ und der ›äußeren‹ Welt beginnt jetzt, sich schärfer zu akzentuieren: Die Grenzen zwischen der Welt des Wunsches und der Welt der ›Wirklichkeit‹ fangen an, klarer herauszutreten [ … ] Niemals dient das Werkzeug einfach der Beherrschung und Bewältigung der Außenwelt, die hierbei als ein fertiger, einfach gegebener ›Stoff‹ anzusehen wäre, sondern mit seinem Gebrauch stellt sich für den Menschen auch erst das Bild der Außenwelt, ihre geistig-ideelle Form her.« 159 Auf der Technik als symbolischer Form insistiert hingegen J. M. Krois, Ernst Cassirers Theorie der Technik, S. 71, und Cassirer: Symbolic Forms and History, S. 102 (analog dazu E. W. Orth, Zur Konzeption der Cassirerschen Philosophie der symbolischen Formen, S. 196: »1930 wird eine neue symbolische Form, die Technik, dargestellt«). Im übrigen muß bemerkt werden, daß, wenn Cassirer die Technik zusammen mit den anderen ›Formen‹ erwähnt, er dies nur sehr allgemein tut und ohne sie explizit als ›symbolische Form‹ zu bezeichnen (vgl. Philosophie der symbolischen Formen, II, S. IX; ECW 12, S. XI). 160 Zu Recht spricht A. Graeser, Ernst Cassirer, S. 99, diesbezüglich von einer »Weise der Welterschließung«. 158
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wird sie sogar vollkommen vernachlässigt. Offensichtlich gesellte sich zu der Schwierigkeit, die Technik auf die drei symbolischen Funktionen des Ausdrucks, der Darstellung und der reinen Bedeutung zurückzuführen, die Ungewißheit bezüglich des symbolischen Status der Technik im allgemeinen, denn es ist zumindest problematisch, ein Instrument auf derselben symbolischen Ebene wie eine sprachliche Aussage, eine mythische Anschauung oder eine reine mathematische Relation zu verorten. In dem Augenblick, in dem er die unersetzbare Bedeutung der Technik im Übergang vom bloßen »Greifen« zum »Begreifen« unterstrich,161 bemerkte Cassirer vielleicht mehr oder weniger dunkel, daß die Technik integraler Bestandteil der geistigen Kultur oder zumindest ein Element des kulturellen Prozesses ist, in dessen Zentrum der Mensch als Schöpfer der eigenen Welt situiert ist: Aber ihre Reduktion auf eine symbolische Form blieb problematisch und zeigt sich bald als undurchführbar.162 Gerade deshalb liegt die Stärke der Analysen in Form und Technik nicht so sehr in der vermeintlichen Bestimmung der Technik als ›symbolische Form‹, sondern besteht in der Anstrengung Cassirers, zu der Frage nach dem ›Ort‹ der Technik in der Kultur und der modernen Zivilisation Stellung zu nehmen, indem er an eine ethische Grundinstanz appellierte. Zweifellos kann die allzu optimistische Betrachtung der Technik als geistige ›Macht‹ im Lichte ihrer ›dämonischen‹ Resulate als eine tragische Illusion erscheinen (was Cassirer selbst in den letzten Jahre seines Lebens erkannte).163 Zusätzlich – und über die Polemik gegen die Abwertung der Technik hinaus, die Cassirer bei Simmel und Rathenau fand164 – muß jedoch am Ende der Bezug auf »eines der Zentralprobleme unserer gegenwärtigen Kultur« überraschen: das Problem einer »Ethisierung der Technik« mit dem Ziel, sie wieder unter die Leitung einer »Willensgemeinschaft« einer »Arbeitsgesinnung« zu bringen, an der alle teilhaben, sie somit in den Dienst des Menschen zu stellen und sich ihrer »tiefsten formbildenden Kraft« zu versichern.165 Indem Cassirer den Primat der Ethik vor der Technik geltend machte, erwies er sich nicht nur ein weiteres Mal als würdiger Erbe der Marburger Schule,166 sondern Vgl. Zur Metaphysik der symbolischen Formen, S. 256. Einigen genauen Beobachtungen J. M. Werles in diesem Sinne ist zuzustimmen, vgl. J. M. Werle, Ernst Cassirers nachgelassene Aufzeichnungen über »Leben« und »Geist«, S. 289, Anm. 12. 163 Vgl. The Myth of the State, S. 277–296. 164 Vgl. Form und Technik, S. 76 f., 87 f. 165 Ebd., S. 88 ff. 166 Vgl. vor allem P. Natorp, Sozialpädagogik. Theorie der Willenserziehung auf der Grundlage der Gemeinschaft, Stuttgart 61925, S. 81 f., wo die Technik die Vorstufe der 161
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nahm zugleich eine ›ideologische‹ Position ein, die mit dem Fortgang der Ereignisse auch tiefgreifende Auswirkungen auf das theoretische Profil der Kulturphilosophie habe mußte – diesem so mehrdeutigen und komplexen Begriff, der nach 1933 in Deutschland auch zu einem verhängnisvollen Propagandamittel wurde.167 Auch ohne die Annahme einer ›Wende‹ oder ›Krise‹ im Denken Cassirers zu bestätigen, scheint es somit unvermeidlich anzuerkennen, daß die Philosophie der symbolischen Formen seit Beginn der 30er Jahre immer stärker jenen unvollendeten und offenen Charakter angenommen hatte, den Cassirer im schwedischen Exil betonte und so zum Teil die Schwierigkeiten und ›Disharmonien‹ verbarg, die sich nach und nach ergeben hatten.168 Die Analyse der Technik zeigte, daß die Treue zur transzendentalen Methode für eine direkte Auflösung aller Formen geistiger Objektivierung in symbolische Formen strictu sensu nicht vollständig ausreichte, während auf der anderen Seite das wachsende Bedürfnis nach moralischer Orientierung, nach einer Antwort der Kultur auf die ›Krise der Kultur‹ Cassirer zu Öffnungen und Zugeständnissen nötigte, die die anfängliche Geschlossenheit der »Kritik der Kultur« im Sinne Kants aufbrachen. Die Anstrengung Cassirers konzentrierte sich so auf den immer beschwerlicher werdenden Versuch, das ursprüngliche theoretische Gerüst mit »anderen Formen« des Objektivierungsprozesses zusammenzubringen: ein Versuch, der nicht zu einem linearen und ungestörten Fortschreiten wurde. Der Weg wurde hingegen immer unebener und lief Gefahr, der souveränen Herrschaft der symbolischen Form zu entgleiten.169 Gerade die Ethik, die in den 30er Jahren mit Nachdruck als Leitmotiv der Cassirerschen Reflexionen über die Kultur hervortrat (ohne daß damit eine vollendete ›praktische Philosophie‹ entstanden wäre), begegnete ihrerseits der Schwierigkeit, sich in eine symbolische Form übersetzen zu lassen: Sie Ethik bildet und durch die Ethik, durch die Willensgemeinschaft geleitet werden muß, um zu vermeiden, daß sie zum Feind des Menschen degeneriert. 167 Vgl. H. Glockner-K. Larenz, Zur Einführung, »Zeitschrift für deutsche Kulturphilosophie« (neue Folge von »Logos«), I, 1935, S. 1 f. (auf den Seiten S. 3–39 folgt der Artikel Deutsche Philosophie von Glockner). Zu vergegenwärtigen ist auch das Kapitel über Kulturphilosophie von G. Lehmann, Die deutsche Philosophie der Gegenwart, Stuttgart 1943, S. 317–340. Zur deutschen Philosophie nach 1933 vgl. M. Leske, Philosophen im ›Dritten Reich‹, Berlin 1990, und Deutsche Philosophen 1933, hg. von W. F. Haug, Hamburg 1989. 168 Vgl. Zur Logik des Symbolbegriffs, S. 230. 169 Für eine Übersicht über diese »anderen Formen« (Technik, Moral, Recht, Kunst) vgl. A. Graeser, Ernst Cassirer, S. 86–114. Zum oben Gesagten vgl. darüber hinaus J. M. Krois, Cassirer: Symbolic Forms and History, S. 142 ff., der jedoch ein im wesentlichen unproblematisches Bild der letzten Phase der Philosophie Cassirers zeichnet.
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qualifizierte sich vor allem auf der Basis eines Instrumentariums, das zu großen Teilen noch aus dem Marburger Patrimonium schöpfte und insbesondere aus der autonomen und universalen Dimension des Willens,170 als Möglichkeitsbedingung der Kultur, d. h. als das, was die Kultur generell ermöglicht.171 Der immer beängstigender werdende Zweifel an der tatsächlichen Stabilität der menschlichen Kultur (ein Zweifel, der sich in ungewöhnlich dramatischer Form in The Myth of the State artikulierte) zwang Cassirer somit, sich über die Orientierung der Kultur Klarheit zu verschaffen und darin eine ethische Garantie zu suchen sowie sie kantisch im Namen einer »unendlichen Aufgabe«, die der Mensch zu lösen hat, in der Geschichtsphilosophie zu verorten. Eine Kulturphilosophie, die auf rein formalen Begriffen aufbaut, genügte nun nicht mehr – so Cassirer in seinem Vortrag im Warburg-Institute: »We have to face the fundamental ethical question that is contained in the very concepts of culture. The philosophy of culture may be called a study of forms; but all these forms cannot be understood without relating them to a common goal.«172 Dieses »common goal« konnte nichts anderes sein als die Freiheit des Menschen: nicht die Freiheit, die mit der Notwendigkeit des Hegelschen Systems zusammenfällt, sondern – viel ›bescheidener‹ – die Freiheit, die absieht von jeglicher logischer Deduktion der verschiedenen Kulturstufen und sich statt dessen als ihr unerreichbares lebendiges telos qualifiziert.173 Dieser Aufgabe – so Cassirer kurz vorher unter Verwendung eines Albert Schweitzer-Zitats – können und dürfen sich die Philosophen nicht entziehen: »While endeavoring on behalf of the scholastic conception of philosophy, immersed in its difficulties as if caught in its subtle problems, we have all too frequently lost sight of the true connection of philosophy with the world.«174 Vgl. Axel Hägerström, S. 78, wo Cassirer (1939) Cohen paraphrasiert: »[ W ]as will die Ethik anders sein als eine ›Lehre vom Menschen?‹« 171 Ebd., S. 108. Auch in diesem Falle ist Vorsicht geboten bei der Identifikation der Ethik mit einer symbolischen Form, um so mehr als Cassirer nicht deutlich in diese Richtung zu gehen scheint. So ist es z. B. falsch zu behaupten (wie A. Graeser, Ernst Cassirer, S. 108, es tut), daß die Moral bereits in Sprache und Mythos zu den »symbolischen Formen« gezählt worden sei: In Wirklichkeit geht Cassirer hier nicht über eine allgemeine Aufzählung der »Inhalte des Geistes« (unter ihnen auch die Sittlichkeit) hinaus, aber ohne die Sittlichkeit definitiv als symbolische Form zu definieren (vgl. Sprache und Mythos, S. 112). Zur ethischen Gesetzlichkeit und zur Konstruktion der »ethischen Welt« vgl. auch Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik, S. 366, 368. 172 Critical Idealism as a Philosophy of Culture, S. 81. 173 Ebd., S. 89 f. Zur Differenz zwischen Kant und Hegel s. auch Naturalistische und humanistische Begründung der Kulturphilosophie, S. 261, und Quelques remarques sur la théorie kantienne de l’histoire in L’idée de l’histoire, S. 129–136. 174 The Concept of Philosophy as a Philosophical Problem, S. 60. Zu Schweitzer und 170
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Zweifellos ist es schwierig, dieser letzten aufklärerischen und kantischen Phase der Kulturphilosophie Cassirers auf der Ebene der ›Werte‹ die Zustimmung zu verweigern. Auf die Phase des »triumphierenden Idealismus« folgte diejenige eines »militanten Idealismus«, in der Cassirer sein kühnstes intellektuelles Abenteuer bestand: die kritische Analyse der Quantenmechanik, welche die Kontinuität der Geschichte der Naturerkenntnis zu zerbrechen schien. In diese Zeit fällt ebenso sein wertvollster historiographischer Text: die Schrift über Descartes, die nicht zufällig von einem ›heroischen‹ Ideal gespeist wird, das sich – kurz vor der Katastrophe der ›europäischen Menschheit‹ (Husserl) entfernt – aus der Umgebung Christinas von Schweden auf das Schweden von 1939 zu projizieren schien.175 Es bleibt jedoch zu fragen, ob das Gebäude der Philosophie der symbolischen Formen noch in der Lage war, der Aufgabe standzuhalten, die ihr zu Beginn anvertraut war, als die auf die Lebensphilosophie, die philosophische Anthropologie, auf das Problem der Technik, das ethische Orientierungsbedürfnis und die dringlicher werdende Frage nach der Geschichte gegebenen ›Antworten‹ zu einem äußert problematischen Ergebnis geführt hatten: zu einer fortschreitenden Vervielfältigung der Formen und ihren Spannungen gegenüber einem formenden Prinzip, das, um sich in seiner Autonomie und Universalität zu bestätigen, den Preis zu zahlen schien, in sich undifferenziert, quasi mit sich identisch und in seiner unendlichen ›Energie‹ bis hin zu der Suggestion einer unbestimmten Kreativität harmonisch zusammengesetzt zu sein.176 Von den »objektiven Gestaltungen der geistigen Kultur« aus ist es stets erforderlich, zu den Funktionen zurückzugehen, die das Fundament solcher Gestaltungen bilden;177 aber wer kann garantieren, daß solche Gestaltungen generell möglich sind, wenn die Kultur selbst der Bedrohung ausgesetzt ist, daß aus ihren Formen neuerlich das Chaos entströmt und daß aus dem Mythos noch einmal die düstere Macht des Bösen emporsteigt?178
seiner Kulturphilosophie vgl. E. Cassirer, Albert Schweitzer as Critic of NineteenthCentury Ethics in The Albert Schweitzer Jubilee Book, edited by A. A. Roack, Cambridge (Massachusetts) 1945 (Nachdruck Westport 1970), S. 241–257. 175 Vgl. Descartes. Lehre – Persönlichkeit – Wirkung, S. 215 ff. (und s. auch J. M. Krois, Cassirer: Symbolic Forms and History, S. 186). Bezüglich des Übergangs zum »militanten Idealismus« vgl. J. Seidengart, Théorie de la connaissance et épistémologie de la physique selon Cassirer in Ernst Cassirer. De Marbourg à New York, S. 175. 176 Dieses Bild wird emphatisch vermittelt von D. Ph. Verene, Cassirer’s Concept of Symbolic Form and Human Creativity, »Idealistic Studies«, VIII, 1978, S. 14–32. 177 Vgl. Philosophie der symbolischen Formen, III, S. 125; ECW 13, S. 119. 178 Vgl. The Myth of the State, S. 297 f.
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Personenregister
Kursivierte Seitenzahlen verweisen auf die Erwähnung des Namens in einer Fußnote.
Adler, M., 43 Agassi, J. 16 Anderson, J. 210 Antomarini, B. XII Apel, K.-O. 199 Appelbaum, A. X Aristoteles 186, 268 Amrine, F. 63 Arnauld, A. 169 Arndt, M. 312 Aster, E. von 39, 68 Aubenque, P. 249, 250, 274, 275 Bacon, F. 23 f. Baeumler, A. 76, 82 f., 145, 286 Bahr, H. 31 Banfi, A. 11, 92 Baron, H. 31, 32, 232 Basilius, H. 195 Bast, R. X, 68 Bauch, B. 26, 33, 42, 64, 75, 78, 79, 81, 88, 93, 94, 96, 101 ff., 121 Baum, M. 96 Baumgarten, A. G. 47 Bätschmann, O. 245 Belaval, Y. 118, 172 Bergson, H. IX, 133, 273, 303–306, 309 f. Berkeley, G. 24 Bermes, Ch. XV Berner, C. 256 Bertolini, L. 81, 192 Besoli, S. XIII Bianchi, L. 225 Bianco, F. 150, 255 Biemel, W. 254, 257, 268 Biéma, E. 118 Bing, G. 214, 234, 244, 245 Binswanger, L. 214 Bismarck, O. von 45 Blumenberg, H. 15, 137, 218 Bodei, R. 221
Boeckh, A. 11 Bolaffi, A. XIII, 252 Boll, F. 216, 227, 228, 234. Bollnow, O. 250, 305 Bonito Oliva, R. 288 Born, M. 99, 131 f. Borsche, T. 190 Botticelli, S. 212, 219 Bottin, A. 40 Bovillus (Charles de Bovelles) 226 Böhme, K. 33 Böllert, K. 105 Brackert, H. 284 Brandt, R. 131 Braun, H.-J. XI Bredekamp, H. 211 Bröcker, W. 267 Bröcker-Oltmanns, K. 264, 267 Brucker, J. 20 Bruno, G. 23, 231, 240 Brunschvicg, L. 133, 249 f. Buchenau, A. 3, 74, 166, 169 Buck, A. 224 Buek, O. 74, 83, 102 Burckhardt, J. 209, 211, 225, 226 Burdach, K. 34, 225 Buschendorf, B. 236, 244 Buzzetti, D. 187 Cacciatore, G. 21, 224 Campanella, T. 16, 23 Canfora, L. 33 Cantimori, D. 34, 320 Capeillères, F. 52, 252, 256 Capozzi, M. 187 Caravaggio (Michelangelo Merisi) 238 Carnap, R. IX, XII, 121, 127, 157, 250, 276, 277 Casini, P. 4 Cassirer, H. W. 87 Cassirer, T. 2, 15, 32, 60, 131, 137, 163, 207, 214, 243, 250, 263
360
Personenregister
Caussat, P. 199 Cavaillès, J. 249, 250 Centi, B. VIII, 21 Cersovsky, H. 203, 284 Cesa, C. 18, 22, 159 Clarke, S. 118, 166 Codrington, R. H. 222 Coffa, A. 104, 123 Cohen, H. IX, XIII, XV, 7–14, 16 f., 27, 29, 33, 34, 35, 37, 40, 41, 43 f., 46, 50, 53 f., 56, 58, 70, 73–76, 79 ff., 85–90, 92 f., 95 f., 102, 107, 114 f., 139–145, 148, 153 f., 183–187, 191 f., 197, 199, 200, 202 f., 219, 250, 255, 259 ff., 262, 264, 266, 268 f., 275, 290–294, 296 f., 299, 314, 320 f., 325 Colet, J. 232 Couturat, L. 4 f., 14, 48, 106, 129, 167, 168 Cristaudo, W. 257 Cristofolini, P. 21 Croce, B. IX, 32, 177, 183 ff., 243, 285, 286 Crowther, P. 87 Cusanus, N. IX, 23, 35, 37, 143, 144, 190, 224, 231 f., 240 D’Atri, A. 73 Dal Pra, M. 22 Danneberg, L. 123 Dante Alighieri 34 Darnton, R. 40 Darwin, C. 94, 211 De Mauro, T. 190 Decher, F. 314 Declève, H. 252, 262, 275 Demmerling, Ch. 258 Des Bosses, B. 165, 180 Descartes, R. IX, 9, 12–16, 26, 28, 36, 120, 143, 176, 240, 326 Dessauer, F. 321 Diers, M. 209, 211, 244 Dilthey, W. XII, 12, 15, 17, 18 f., 21, 48, 49, 60 f., 68, 76, 141, 148, 149–153, 156 ff., 159, 160, 177, 211, 224, 237, 276, 283, 285, 303, 309, 312 Doherty, J. E. 264 Dosch, H. G. 60, 106, 110 Duhem, P. 109, 110, 173, 181
Dussort, H. 14, 192, 249 Dutz, K. D. 164 Dux, G. 312 Dürer, A. 231, 234 Düsing, K. 20, 96 Ebeling, H. 251 Eberhard, J. A. 180 Eckers, M. 63 Eckhart, M. 36 Edel, G. 81, 131, 200 Eddington, A. 99 Einstein, A. IX, 99, 101 f., 108, 109 f., 116, 119, 120, 121, 123, 126 f., 131– 134, 295, 315 Elsbach, A. C. 110, 123, 133 Englert, L. 255 Erdmann, B. 5, 266 Ertel, Ch. 274 Eucken, R. 286 Euler, L. 16 Fabbri Bertoletti, S. 98 Farias, V. 253 Fataud, J.-M. 249 Fellmann, F. 305, 307 Ferguson, W. 224 f. Ferrari, M. VIII, X, XIV f., 2, 13 f., 78, 83, 92, 110, 120, 122 f., 129, 133, 137, 161, 168, 237, 293, 307 Ferretti, S. 211, 220, 228, 236, 239 Ferriani, M. 187 Fichant, M. 230 Fichte, J. G. 40 f., 42–45, 57 ff., 255 Ficino, M. 23, 227 Fiorentino, F. 224, 225 Fischer, K. 8, 14, 15, 18, 73, 101 Flach, W. 111 Fleckner, U. 228, 244 Flitner, A. 59, 160 Formigari, L 190, 192 Frank, Ph. 123 Frede, D. XIII Freyer, H. 321 Friedman, M. XIII f. 108, 114, 131 Friedrich der Große 47 Frings, M. S. 309, 312 Frischeisen-Köhler, M. 102, 149, 303, 307
Personenregister
Fritzsche, R. A. 8 Fulda, H.-F. 96 Gadamer, H.-G. 22, 204 Gahlings, U. 286 Galilei, G. 12 f., 16, 26, 230 Galitz, R. 228 Gander, H.-H. 266 Gandillac, M. de 225, 250 Garin, E. 20, 210, 225, 228 f., 232, 249 Gassen, K. 290 Gassendi, P. 24 Gawronsky, D. 15, 33, 102, 163 Gay, P. 243 Gehlen, A. 312 Geiger, M. 121 Geldsetzer, L. 21 Gent, W. 119 Gentile, G. 225–227 George, S. 61 Gerhardt, I. 165 Gerhardt, V. 3 Gessner, W. XIII Geyer, C.-F. 285, 297 Ghio, M. 169 Giacomoni, P. 63, 93, 194 Giel, K. 59, 160 Gigliotti, G. 18, 31, 53, 56, 73, 78, 92, 141 f., 145, 191 f. , 264, 266 Gilbert, K. 242 Ginzburg, C. 243 Glick, Th. 100 Gliwitzky, H. 42 Goethe, J. W. VII, IX f., XII, 35, 37 f., 46 ff., 50, 53, 55, 59–67, 70 f., 81, 91, 93 ff., 97, 98, 108, 111, 158, 160, 181, 219 f., 232, 243, 271, 275, 283, 307, 310 f., 315 Glockner, H. 324 Gombrich, E. H. 207, 211–213, 244, 311 Gonzales Porta, M. A. 75 Gordon, D. J. 235 Gottsched, J. C. 50 Göller, Th. 158, 185, 195, 203 Görland, A. 3, 8, 11, 39, 74, 85, 107 Görland, I. 261 Götz, B. 214 Graeser, A. XI, 163, 166, 173, 194, 297, 322, 324 f.
361
Grassmann, H. 117 Griffero, T. 306 Grisebach, E. 286 Groethuysen, B. 17 f. Großheim, M. 274 Gründer, K. 250, 285 Gualandi, A. XV Guidetti, L. XIII Gundolf, F. 31, 32, 61 Habermas, J. 253 Haeckel, E. 94 Hahn, H. 114 Haller, R. 123 Hamann, J. G. 174, 187 f., 189, 190, 193, 197 Hamburg, C. H. 163 Hartmann, N. 11, 18 Hauff, G. 264 Haug, W. F. 324 Hägerstrom, A. 57, 297 Hänel, M. XIII Heckscher, W. S. 233 Hegel, G. W. F. 9 f., 15, 18 f., 20, 22, 23, 25, 40, 44–47, 64, 67 ff., 70, 96 f., 147, 148, 163, 181, 219, 246, 276, 278, 301, 305, 308 ff., 311, 325 Heidegger, H. 281 Heidegger, M. IX, XII, 28 f., 74, 196, 204, 249–282, 301 f., 308, 312, 318, 320 Heilbron, J. L. 101 Heimbüchel, B. 258 Heimsoeth, H. 18, 48, 49 Heinekamp, A. 117, 189 Heinemann, F. 305 Heintel, E. 190 Helmholtz, H. von 120, 127, 178, 181, 296 Hendel, Ch. 1 Hennigfeld, J. 314 Henry, B. 39, 185 Hentschel, K. 99, 101, 104, 106, 112, 124, 131 f., 134 Herder, J. G. IX, 47, 48, 52, 159, 174, 187, 188, 189, 190, 193, 197, 232, 283, 285 Hermann, Ch. 214 Hermann, F. W. von 29, 204, 256, 258, 270
362
Personenregister
Hertz, H. 171, 172, 178, 181, 227 Hertz, P. 127 Herzfeld, H. 35 Herzig, A. 211 Hilbert, D. 176 Hinrichs, C. 52 Hitler, A. X, 254 Hofer, W. 45 Hofmann, W. 244 Holly, M. A. 236 Holton, G. 133 Holzhey, H. XI, 3, 5, 11 f., 34, 39, 68, 85, 102, 111, 142, 182, 186, 264, 298 Homann, H. 287 Horstmann, R.-P. 96 Howard, D. 104, 131 f., 134 Hölderlin, F. 45, 68, 69, 253, 279, 281 Hönigswald, R. 78, 79, 100, 102 f., 104, 126, 132 Huizinga, J. 320 Humboldt, W. von VII, IX, XII, 40 f., 42, 59, 70, 88, 159, 160, 174, 181, 184, 189, 190–199, 201, 203 f., 243, 283, 298 ff., 306, 314, 316 Hume, D. 24, 128 Husserl, E. XII, 24, 42, 153, 177, 264, 267, 286, 290, 300, 303, 313, 315, 316, 326 Huygens, Ch. 119. Hübner, K. 106, 110 Ihmig, K.-N. XII, 110, 120, 164 Itzkoff, S. W. 316 Jacob, H. 42 Jacobi, K. 172, 174 Jaeger, P. 259, 281 Jaentsch, C. 39 Jamme, Ch. 69, 300 Jammer, M. 119 Janz, N. XII Jaspers, K. 29, 254, 257, 258, 320 Jegelka, N. 36, 43 Jesinghausen-Lauster, M. 211, 218, 236, 239 Johach, H. 17 Jonas, J. XV Kaegi, D. XIII, 88, 298
Kalmar, I. 285 Kamlah, A. 99, 122 f. Kant, I. IX, X, 1, 7, 9, 16, 19 f., 22 f., 27 f., 30, 35, 37 f., 40 f., 43, 44, 47 f., 50, 52, 53 f., 56, 58, 59, 61, 64, 66 f., 69 ff., 73 f., 76 ff., 81–84, 87, 88 f., 91 ff., 94, 95–98, 100 f., 102, 105 ff., 113–120, 123, 125, 127, 130, 133, 134 f., 140, 143, 175 f., 178, 179 f., 181, 182, 186 f., 190, 192 f., 196 ff, 199, 203, 205, 225, 235, 239 f., 243, 246, 249, 252 ff., 257, 259 ff., 262, 263, 272, 274, 282, 288, 293, 297, 313 ff., 316, 317, 324, 325 Kantorowicz, E. 160 Kantorowicz, G. 250 Kany, R. 211, 214, 233 Kaplan, S. 10 Kaufmann, F. 319 Keck, T. R. 35, 39 Kellerman, B. 74 Kepler, J. 16, 214, 227, 231 Kestenberg, L. 279 Kettering, E. 255 Keyserling, H. 286 Kierkegaard, S. 273 f., 276, 282 Kindermann, H. 60, 61, 63 Kinkel, W. 3, 39 Kisiel, Th. 268 Kiss, E. 284 Klages, L. 273, 286, 306, 309 Kleist, H. von 58 f., 303 Klibansky, R. 226 f., 243, 245 Kluback, W. 259 Knoppe, Th. XI, 17, 185, 284, 311 Kopper, J. 93 Kopernikus, N. 12, 52 Korff, A. 31 Köhler, E. XIII Köhnke, K. Ch. X, XIV Körber, G. 68 Kramme, R. 287 f. Kranichfeld, H. 123 Krijnen, Ch. XIII, XV Kristeller, P. O. 225, 227, 232 Krois, J. M. X f., XIV, 38, 57, 60, 73, 166, 199, 254, 265, 273, 278, 284, 301, 321 f., 324 Kroner, R. 58, 69, 73, 97, 286
Personenregister
363
Kuhn, H. 284 Kulstad, M. A. 169, 171 Küppers, O. 60
Luther, M. 34, 273 Lübbe, H. 33, 42 f. Lynch, D. A. 257
Lamacchia, A. 182 Lamarra, A. 165, 167 Lambert, J. H. 188 Landmann, M. 87, 160, 290 Lange, F. A. 43, 58, 139 Larenz, K. 324 Lask, E. 258 Lasson, G. 69, 97 Lasswitz, K. 11 Laue, M. von 100, 101, 113 Lauschke, M. XVI Lauth, R. 42 Lazzari, R. VIII, 257, 267, 269 Le Roy, E. 133 Lehmann, G. 324 Leibniz, G. W. VII, IXf., 1, 9, 12–16, 26, 37, 39 f., 46 ff., 49, 50, 51 f., 53 ff., 64, 65, 70, 82, 88, 92, 93, 95, 113 f., 116–120, 138, 143, 163, 164 ff., 168, 169, 170 ff., 174–178, 180 f., 187, 188 ff., 203, 204, 232, 252 Leidlmair, K. 280 Lembeck, K.-H. XV, 12 Leonardo da Vinci 230 Leske, M. 324 Lessing, G. E. 47 f., 51, 52, 283 Lessing, H. U. 150, 267 Levinas, E. 250 Levy, H. 68, 163, 266, 311 Lieber, H.-J. 286 Liebert, A. 80 Lindau, H. 31 Linden, H. van der 39 Linné, K. 94 Lipton, D. R. 31, 210, 218, 252, 253 Litt, Th. 317 Locke, J. 188 Lofts, S. G. XIII Lorentz, H. A. 101, 110 Losurdo, D. 253 Lotze, H. 77 Löw, R. 94, 314 Löwith, K. 254, 255, 269 Lugarini, L. 31, 96, 146 Lukàcs, G. 286
Mach, E. 110, 126 f., 130, 240 Maggi, M. 33 Mahnke, D. 49, 64, 65, 174 Makkreel, R. A. 151 Maldonado, T. 321 Malter, R. 93 Mandelkow, K. R. 60 Manetti, G. 226 Mann, Th. 59, 282 Marcondes, D. 199 Marck, S. 78 Marcucci, S. 91 Margreiter, R. 280 Martin, B. 255 Martirano, M. 22 Marquard, O. 312 f. Marx, W. XIII, 10, 106, 199, 295 f. Mathieu, V. 84 Mayer, A. 269 Mayer, R. 269 McFarland, J. D. 91 McGuinness, B. 114 Meier, G. F. 51 Meinecke, F. 35, 41 f., 45 f., 52, 59, 66, 158, 159, 286. Meiner, M. XVI Meinhof, C. 207 Melle, W. von 243 Menegoni, F. 96, 314 Merker, N. 48 Meyer, R. 310 Meyerson, E. 3, 4, 23, 100, 120, 133 Michel, K. 236 Michel, K. M. 15 Micheli, G. 20, 23, 257 Michelson, A. A. 109 Minkowski, H. 101 Misch, G. 283, 285, 312 Mondella, F. 94 Montaigne, M. de 34 Moldenhauer, E. 15 Mondolfo, R. 285 Moretto, G. 159 Mori, Y. 60 Mormann, Th. XII, XIV
364
Personenregister
Moscati, A. 264 Möckel, Ch. XIII, 177 Mugnai, M. 169, 171 Mückenhausen, G. 292 Müller, A. 44 Müller, P. 249 Naber, C. 211, 213, 219, 228, 243, 245 Nadler, J. 189 Natorp, P. IX, XIII, XV, 2, 3, 5, 6, 10–14, 22, 24, 25, 27, 29, 34, 35 ff., 43, 62, 66, 70, 75 f., 78 f., 83, 85 f., 88, 93, 100 f., 102, 103, 104, 110, 113– 116, 119, 120, 121, 126, 132, 134, 143, 145 f., 148, 156, 178, 185, 196, 198, 222, 230, 258, 265–269, 270, 286, 290, 292 f., 303 f., 307, 310, 318, 323 Naumann, B. XIII, XV, 60 Nelson, L. 99 Nenon, Th. 42, 313 Neske, G. 250, 255 Neumann, K. 199 Newton, I. 16, 101, 103, 114, 119, 227 Nicolaysen, R. 40 Niebuhr, B. G. 159 Niedermann, J. 285 Nietzsche, F. 61, 209, 223, 253, 286 Noack, H. VII, 253, 286 Noëlle Dumas, M. 93 Norden, E. 221 Nöldeke, H. 228 Oberer, H. 236 Odebrecht, R. 262 Oexle, O. G. XIII Ollig, H.-L. 78 Orlik, F. 131 Orsucci, A. 21 Orth, E. W. XI, XIII, 60, 73, 153, 166, 173, 181, 257, 265, 280, 284 f., 290, 300 f., 306, 312, 314 f., 317, 321 f. Ott, H. 255 Paci, E. 65, 319 Paetzold, H. XI, 31, 51, 57, 137, 163, 199, 253, 256, 273, Pais, A. 99 Panofsky, E. IX, 207, 227, 230, 231, 234 f., 236–243, 245
Panzer, U. 177 Parrini, P. 104, 106, 110, 124, 129 Pascher, M. XIII Paty, M. 104, 108 Pätzold, D. XV, 164 Peirce, C. S. 199 Peplow, R. M. XIII Perpeet, W. 284, 285 Peters, J. P. 198, 202 Pettoello, R. 60 Petrarca, F. 34 Petzold, J. 99, 111, 112 Pfänder, A. 68 Philonenko, A. 73 Pico della Mirandola, G. 226 ff. Piovani, P. 3 f. Piro, F. 169 Planck, M. 100, 101 f., 112 Platon 9 f., 27, 29, 63, 143, 223 f. Platter, J. 102 Pleger, W. H. 312 Plessner, H. 312, 315, 316 ff. Plotin 238 Ploucquet, G. 188 Plümacher, M. XIII, 130 Pochat, G. 181 Pöggeler, O. 253, 255, 257, 300 Poincaré, H. 105, 121, 127, 133 f. Poma, A. 142, 301 Pomponazzi, P. 226, 228, 229 Popper, K. 133 Pos, H. 250, 270 Preti, G. 122 Pyenson, L. 100 f. Quillet, S. 249 Raio, G. XI, 65 Rammstedt, O. 288 Randall, J. H. 225 Ranea, A. 117, 164 Ranke, L. von 24, 159 Rasch, M. 244 Rathenau, W. 321, 323 Recki, B. XIV f. Regelmann, J. P. 94 Reichardt, K. 31 Reichenbach, H. IX, 99, 105, 112, 118, 119, 122–125, 129, 130, 134 f., 277 Reichenbach, M. 99, 122
Personenregister
Reinhardt, K. 207, 250 Reinhold, K. L. 27 Rembrandt, H. van Rijn 307 Renz, U. XIII Reudenbach, B. 236 Richardson, A. XIII Rickert, H. 77, 147 f., 149, 156, 157, 237, 257, 258, 266, 286 ff., 303, 307, 309 Rickmann, T. A. XII, 129, 178 Riedel, M. 187 Riegl, A. 239 Riehl, A. 42, 104, 105, 121, 172, 266 Riemann, B. 105, 122 Ripke-Kühn, L. 104 Ritter, J. 250, 285 Ritter, P. 48 Robins, R. H. 190 Rockmore, Th. 255 Rodi, F. 17, 150 Rosenzweig, F. 46, 69, 268, 269 Rossi, Paolo 16, 229 Rossi, Pietro 7, 159 Rotenstreich, N. 158, 261 Rothacker, E. 147, 148 Rousseau, J.-J. 253 Rubner, M. 127 Rucellai, G. 226 Rudolph, E. VIII, XII f., XVI, 60, 106, 117, 298 Russell, B. 4 f., 48, 106, 167, 168 Salmon, W. 104 Sandkühler, H. J. VIII, XIII, 39, 130 Saner, H. 254 Santinello, G. 257 Sanzio, R. 208 Sassetti, F. 226 Sassi, M. M. 211 Sasso, G. 218 Sattler, D. E. 45 Sauer, W. 131 Savi, C. 78 Savignano, A. 258 Saxl, F. 4, 137 f., 207 ff., 210, 214, 218, 219, 221, 226, 227, 234 ff., 243, 244, 245 f. Schäfer, L. 123 Scheler, M. XII, 305 f., 308 f., 311 f., 313, 315 f., 317, 318
365
Schelling, F. W. J. 44, 58, 69 f., 96, 181, 283, 299 f. Schiller, F. 35, 40, 51, 55, 57, 58 f., 61, 63, 81, 87, 89, 93, 219, 232, 243, 283 Schilpp, P. A. 15, 132 Schlapp, O. 82, 83 Schlick, M. IX, XII, 99, 103, 104, 108, 119, 124 f., 126, 127–132, 133, 178, 277 Schlösser, J. 32 Schmidt, A. 43 Schmidt, P. 212 Schmidt, R. 145 Schmitter, P. 164 Schmitz-Rigal, Ch. XII Schmücker, R. XIII Schnädelbach, H. 159, 305, 312 Schneeberger, G. 250, 255 Schneider, H. 69 Schneider, I. 104 f., 123 Schneider, U. 287 Schoell-Glass, Ch. 211, 228 Schopenhauer, A. 261, 286 Schrag, O. 257 Schulz, W. K. 21 Schumacher, F. 228 Schumann, E. 24 Schumann, K. 24 Schupp, F. 189 Schürmann, V. XIII Schweitzer, A. 285, 325 Schweitzer, R. 264 Schwemmer, O. X, XIII, 307, 318 Scotus, D. 258 Seelig, C. 109 Seidengart, J. XI, 106, 111, 113, 326 Sellien, E. 104, 105, 121, 132 Sepp, H. R. 42, 313 Settis, S. 210, 226, 235 Shaftesbury, A. A. 51, 189 f., 232 Sieg, U. 12, 34, 36 f., 75 Signore, M. 258 Simmel, G. XII, 60 f., 65, 66, 86 f., 159 f., 273 f., 286, 288 f., 302 f., 306–310, 316, 318, 321, 323 Sluga, H. 34, 255 Smart, H. R. 116 Sombart, W. 250 Spengler, O. 36, 99, 217, 251, 286
366
Personenregister
Spranger, E. 191, 192, 306 Stadler, A. 80 f., 93, 94, 102 Stamatescu, I.-O. XII, XV, 117 Starobinski, J. 40 Stein, L. 284 Steinthal, H. 191 f. Stenzel, J. 192 Stern, W. 137 f., 192 Sternberg, K. 100, 145, 286 Strauß, B. 35 Strenski, I. 218 Ströker, E. 312 Syamken, G. 244 Tagliacozzo, G. 139 Taine, H. 24, 283 Thode, E. 225 Tietjen, H. 279 Tocco, F. 224 Tonelli, G. 83 Trabant, J. 182, 190, 193 f. Trapp, J. B. 210 Trendelenburg, F. A. 8, 69, 148 Troeltsch, E. 14, 31, 34, 48, 49 f., 79, 99, 139, 147, 149, 158, 286, 303 Trunz, E. VII Tuschling, B. 96 Uexküll, J. von 317 Unger, R. 189 Ungerer, E. 94 Urban, W. M. 185 Usener, H. 11, 209, 211, 221, 222, 233 Vaihinger, H. 5, 37, 99 Vailati, G. 172 Valla, L. 226 Vasoli, C. 34, 224 Veca, S. 65 Vega, R. de la 39 Verene, D. Ph. 46, 139, 163, 210, 284, 311, 326 Verheyen, E. 236 Verra, V. 96, 249 Vico, G. B. 139, 144, 190 Vignoli, T. 211, 222 Vischer, F. T. 165, 181, 219, 220, 299 Viti Cavaliere, R. 258 Volkelt, J. 284
Volpi, F. 257 Vorländer, K. 11, 41, 58, 61, 81, 93 Vossler, K. 184, 191 Walser, E. 225 Warburg, A. 138, 207–213, 216, 217, 219 f., 222 ff., 226, 227–230, 232, 233–236, 243 f., 245, 246 f., 309 f., 311, 320, 321 Warburg, E. 127 Warnke, M. 244 Woglom, W. H. 1 Weber, M. XII, 286, 290 Wefelmeyer, F. 284 Weinberg, S. 135 Wenzl, A. 123 Werle, J. M. 305, 323 Wheeler, H. 63 Wiese, L. von 250 Wildermuth, A. 264 Winckelmann, J. J. 53, 283 Wind, E. 210, 220, 235, 236, 237, 241, 243, 244, 245 Windelband, W. 18, 20, 21, 26, 48, 68, 77, 81, 149, 237, 257, 266, 286 f., 288 Winter, E. 142 Winternitz, J. 123, 133 Witting, A. 104 Wolandt, G. 146 Wolenski, J. XIII Wolff, Ch. 40, 252 Wolters, G. 104 Wolzogen, Ch. von 265 f. Wölfflin, H. 234, 236 f., 286 Wundt, W. 191 Wuttke, D. 211 f., 233 Yates, F. 229 Yovel, Y. 20 Zeller, E. 18, 19, 48, 296 Ziegler, L. 286 Zittlau, D. 123 Zschimmer, E. 321 Zucker, F. J. 63