Formen der Wirklichkeit und der Erfahrung: Henri Bergson, Ernst Cassirer und Alfred North Whitehead 9783495808344, 9783495487358


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Danksagung
Inhalt
Einleitung
1. Wozu Bergson lesen?
2. Die Erfahrung des Widerfahrens
3. Erfahrung als das Verbindende
4. Erkenntnis als realer Prozess
5. Die innere Form
6. Wahrnehmung als dynamische Basis
7. Zum Aufbau der Arbeit
Teil I: Eine neue Philosophie der Erfahrung
Kapitel 1: Henri Bergson: Wirklichkeit ist Bewegung
1. Zeit und Werk
2. Zum Essai sur les données immédiates de la conscience: Die Logik der Dynamik
2.1. Präzision durch Intensität: Die relationale Logik
2.2. Durée
2.2.1. Schöpferisches Werden: Aktivität und Passivität
2.2.2. Die topologischen Mannigfaltigkeiten
2.2.3. Der Raum
2.2.4. Die intensive Mannigfaltigkeit
2.3. Das Problem der »unmittelbaren Gegebenheit«
2.3.1. Relationale Qualität
2.3.2. Die Immanenz des Kontinuums
3. Zu Matière et mémoire: Die lebendige Wirklichkeit
3.1. Das Wahrnehmungsbild
3.1.1. Ein kleiner Exkurs über Wahrnehmungs- und Bildtheorie
3.1.2. Das sinnliche Bild
3.1.3. Medialitätskonzepte in Matière et mémoire
3.2. Kraft der Bilder
3.2.1. Kraft der Materie: Das Schema der objektiven Realität
3.2.2. Kraft des Leibes: Das Schema der Wahrnehmung
3.2.3. Virtualität: Tätigkeit als Ausdruck
3.3. Die Vielfalt der Vorstellungen und die Einheit des Gefühls
4. Intuition und Allgemeinheit
4.1. Das Staunen
4.2. Der Geist
Kapitel 2: Alfred North Whitehead: Das Ereignis der Kreativität
1. Spekulative Systeme und natürliche Prozesse
1.1. Philosophy of organism
1.2. Der mumifizierte Dinosaurier
1.3. Das spekulative System
1.4. Der natürliche Prozess
2. Naturphilosophie in England
2.1. Ein tiefer Denker
2.1.1. Tiefe und Fülle. Her vivid life
2.1.2. Schöpfen aus dem Unbestimmten. Metaphysik aus der Topologie
2.2. Raum, Zeit und Ereignis
2.2.1. Das Ereignis als dynamisches Ganzes
2.2.2. Das Kontinuum als »ether of events«
2.2.3. Eternal objects. Bedeutung als Muster
3. Metaphysik in Harvard und Edinburgh
3.1. Pure Bergsonianism! Ein frischer Ansatz
3.2. Erfahrung als Basis der Logik. Die Lowell Lectures
3.3. Wirkung und Bedeutung des Symbolischen. Die Barbour-Page Lectures
3.4. Der Prozess. Die Gifford Lectures
Kapitel 3: Ernst Cassirer: Die lebendige Form
1. Keine Angst. Dynamische Interpretation statt negativer Theologie
1.1. Das Vergessen und Wiederfinden eines originellen Philosophen
1.2. Die Krise von Davos: Medialität und Aktivismus
1.2.1. Härten des Schicksals
1.2.2. Usurpation der transzendentalen Einbildungskraft
1.3. Die Kritik der Urteilskraft und Cassirers Philosophie der Erfahrung
1.3.1. Heraustreten aus der Transzendentalphilosophie
1.3.2. Zwei Wege zur Medialität des Ästhetischen
1.3.3. Erfahrung der kontingenten Einheit
2. Von der symbolischen Prägnanz zum Ereignis der Form
2.1. Die qualitative Relationalität der Form als Gestaltung
2.2. Symbolische Relation als Intensität der Ausdrucksfunktion
2.3. Intensität und Intentionalität
2.4. Umsetzung statt Übersetzung. Zeichen statt Projektion
2.5. Prägnanz als Formungsereignis
3. Struktur und Dynamik: Das mediale Kontinuum
3.1. Die Einheit der Form als Einheit der Struktur
3.2. Die vermittelnde Einheit der Idee
3.3. Organische Qualität und mathematisches Kontinuum
3.4. Das »echte Apriori«
4. Geist und Leben als Symbolprozess
4.1. Daimon und Symbol
4.1.1. Der Mythos von Harmonie und Zerstörung
4.1.2. Individualität und Kontingenz
4.2. Die Einbildungskraft zwischen Konkretion und Geist
4.3. Wahrnehmung als ästhetische Medialität
Teil II: Die Ästhetik der inneren Form
Kapitel 4: Die Erfahrung und der Formbegriff
1. Eine kurze Geschichte des Formbegriffs in der Erkenntnistheorie
1.1. Form als Identität, Wesen und Substanz
1.2. Die Visualität der Figur
1.3. Der Formbegriff der Methode und die transzendentale Ästhetik
2. Erfahrung als Entwicklung und Erfahrung als Erfassen
2.1. Ein Prinzip der Kunst und des Wissens
2.2. Das Vermögen zu urteilen
2.2.1. Unterscheiden und Verknüpfen
2.2.2. Der Actus der Spontaneität
2.2.3. Das Integral des Gegebenen
3. Das Verhältnis zur Phänomenologie Edmund Husserls
3.1. Das Feld der Theorie
3.2. Zwei verschiedene Konzepte von der Allgemeinheit der Form
3.3. Erinnerung als Retention oder als Ausdrucksform
3.4. Zwei verschiedene Konzepte von Intuition und Präzision
3.5. Zwei verschiedene Konzepte des Wahrnehmungserlebnisses
3.6. Immanenz des Bewusstseins oder Immanenz der Wirklichkeit
Kapitel 5: Im Zwischen. Innere Form als mediales Konzept
1. Magie. Ein kleiner Beitrag zur Medienphilosophie
1.1. Struktur und Ereignis vermitteln
1.2. Das dynamische Ganze
1.3. Drei Arten, Medialität zu denken
1.4. Mediale Begrifflichkeiten bei Whitehead, Cassirer und Bergson
2. Die Elemente der inneren Form
2.1. Der Traum vom Ursprung
2.2. Das Problem der »Verdinglichung«
2.3. Die Materie
2.4. Das Kontinuum und der Ort
2.5. Die realen Relationen
3. Intensität und schöpferische Kraft. Von den Stoikern zu Leibniz
3.1. Spannung
3.1.1. Spannkraft
3.1.2. Spannungsbewegung
3.2. Intensive Realität
3.3. Leibniz und die Entwicklung eines dynamischen Schemas
3.4. Die Leibniz-Lektüren
4. Das Dritte zwischen Ausschließung und Teilnahme
4.1. Vom mythischen Bild zur symbolischen Relation
4.2. Prozess denken
Kapitel 6: Das dynamische Schema
1. Die »innere Form« als Selbstorganisation
1.1. Orientierung im Raum
1.2. Strukturierung durch Dynamik von Teil und Ganzem
1.3. Analogie verstehen: Organismus und Werk
2. Die Medialität des dynamischen Schemas
2.1. Geist des Systems und systematischer Geist
2.2. Invarianten und Universalien
2.3. Das sich selbst organisierende System
2.4. Die dynamische Korrelation von Subjekt und Gegenstand
2.5. Die Medialität der »symbolischen Form«
3. Wirklichkeit
3.1. Realität und Aktualisierung
3.2. Modalität der Wirklichkeit
3.3. Die Zeichenbeziehung
3.3.1. Das Zeichen als energeia
3.3.2. Das Zeichen als Instrument
4. Ausdruck und Bedeutung
4.1. Bergson: Anruf und Ausdruck
4.2. Cassirer: Anspruch und Ausdruck
4.3. Die Entstehung von Bedeutung aus der Sinnlichkeit
4.3.1. Bergson und die intuitive Erkenntnis
4.3.2. Symbolisierung als Reflexion: Die Kristallisations-Metapher
5. Medialität als Logik der Übertragung
5.1. Übertragen konstituiert Verstehen und Erkennen
5.2. Homogene Medialität: Übertragung als Positionierung
5.3. Heterogene Medialität: Formung durch zeitliche Übertragung
5.4. Die Logik der Artikulation
5.5. Form, Sinn und Geist
Kapitel 7: Das Ereignis der Prägnanz
1. Die ästhetische Medialität als Formentstehung
1.1. Relevanz und Resonanz
1.2. Prägnanz
1.2.1. Das Ereignis der Kontrastbildung
1.2.2. Prägnanz als intensive Realität
2. Synästhesie, Sympathie und Symbol
2.1. Der Ursprung des Symbolprozesses
2.2. Intimität und Distanz: (Syn-)Ästhetische Intensität
2.2.1. Orientierung im sinnlichen Universum
2.2.2. Gefühlsgrund des Tastsinns
2.2.3. Gefühlsgrund des Geschmackssinns
2.3. Wahrnehmung der Veränderung: Intensität als Sympathie
2.3.1. Das »Zusammenschwingen« als Formangleichung
2.3.2. Bewegung und Ausdruck
2.4. Die Intensität des Symbolischen
2.4.1. Der Ausdruck einer qualitativen Relation
2.4.2. Die Medialität der »Sinnfügung«
2.4.3. Prägnanz als »Schlüsselbegriff«
Ausblick: Die poetische Logik der Prägnanz
1. Imprägnation
2. Virtualität und Aktualisierung: Das Ereignis
3. Konkretion: Konkreszenz und Übertragung
4. Prägnanz als Deutung der Wirklichkeit
5. Ereignis und Prozess
Literaturverzeichnis
1. Verzeichnis der Abkürzungen im Fließtext
1.1. Henri Bergson.
1.2. Ernst Cassirer.
1.3. Alfred North Whitehead.
1.4. Immanuel Kant.
2. Verzeichnis der Sekundärliteratur
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Formen der Wirklichkeit und der Erfahrung: Henri Bergson, Ernst Cassirer und Alfred North Whitehead
 9783495808344, 9783495487358

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Viola Nordsieck

Formen der Wirklichkeit und der Erfahrung

KONTEXTE

Henri Bergson, Ernst Cassirer und Alfred North Whitehead

ALBER PHÄNOMENOLOGIE https://doi.org/10.5771/9783495808344

.

B

ALBER PHÄNOMENOLOGIE

A

https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Ernst Cassirer (1874–1945) gilt mit seiner Philosophie der symbolischen Formen als Begründer der Kulturphilosophie. Henri Bergson (1859–1941) war lange Zeit einer der berühmtesten französischen Denker und ist im Deutschen bekannt als »Lebensphilosoph«. Und Alfred North Whitehead (1861–1947) kennt man als Mathematiker und, mit Bertrand Russell, Herausgeber der Principia Mathematica, weniger als Philosophen. Doch dass sie alle drei in ähnlicher Weise eine Philosophie der Erfahrung als dynamisches System entworfen haben, das die philosophische Tradition revolutioniert und als Fundament für die heute interessantesten philosophischen Strömungen gelten kann, ist wenig bekannt. In diesem Buch wird die Originalität und Eigenständigkeit dieser drei großen Philosophen gezeigt, indem ihr gemeinsamer phänomenologischer Ansatz vorgeführt und ausgebaut wird: die Dynamisierung der Form und die Betonung der Kreativität, die es ermöglichen, Erfahrung als die Entstehung von etwas Neuem zu denken.

Die Autorin: Dr. phil. Viola Nordsieck lebt in Berlin und arbeitet als freie Publizistin. Neben wissenschaftlichen Arbeiten schreibt sie auch Kurzgeschichten und journalistische Beiträge. Sie hat Philosophie und englische Literaturwissenschaft in Heidelberg, Nottingham und Berlin studiert. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Phänomenologie, Semiotik, Medienphilosophie, Kulturphilosophie und Geschichte der Philosophie. Darüber hinaus interessiert sie sich für Ethik, Ästhetik und politische Philosophie.

https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Viola Nordsieck Formen der Wirklichkeit und der Erfahrung

https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

PHÄNOMENOLOGIE Texte und Kontexte Herausgegeben von Jean-Luc Marion, Marco M. Olivetti (†) und Walter Schweidler

KONTEXTE Band 24

https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Viola Nordsieck

Formen der Wirklichkeit und der Erfahrung Henri Bergson, Ernst Cassirer und Alfred North Whitehead

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2015 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48735-8 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-80834-4

https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Danksagung

Ich danke Prof. Dr. Oswald Schwemmer und Prof. Dr. Christian Möckel sehr herzlich für ihre Betreuung, für ihr Interesse und ihre Unterstützung. Auch den Teilnehmern an unserem Kolloquium an der Humboldt-Universität Berlin bin ich sehr zu Dank verpflichtet für ihr aufmerksames Zuhören und kluges Diskutieren: Sylvia Ulbrich, Dr. Darja Springstübe, Dr. Nicoletta Grillo, Fredy Calderon, Dr. Ralf Müller, Dr. Joaquim Braga, Dr. Michael Trappe, Oliver Ernst, Barbara Krijanovsky und dem verstorbenen Prof. Dr. John Michael Krois. Ich danke Claudia Funke für ihre Freundschaft und unser niemals abreißendes Gespräch. Ich danke Brigitta Borchert für ihre Unterstützung bei der Drucklegung des Buches und meiner Mutter, Hiltrud Heubes, für ihre langjährige Unterstützung meines Studiums. Schließlich danke ich Ralph Borchert. Ihm und unseren Kindern ist dieses Buch gewidmet.

7 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Inhalt

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung. Die Abenteurer des Geistes

. . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

17

. . . . . . .

17 21 26 28 29 31 34

Kapitel 1. Henri Bergson: Wirklichkeit ist Bewegung . . . . . .

38

Zeit und Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Essai sur les données immédiates de la conscience: Die Logik der Dynamik . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Präzision durch Intensität: Die relationale Logik . . 2.2. Durée . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1. Schöpferisches Werden: Aktivität und Passivität 2.2.2. Die topologischen Mannigfaltigkeiten . . . . . 2.2.3. Der Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4. Die intensive Mannigfaltigkeit . . . . . . . . 2.3. Das Problem der »unmittelbaren Gegebenheit« . . . 2.3.1. Relationale Qualität . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2. Die Immanenz des Kontinuums . . . . . . . .

38

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Wozu Bergson lesen? . . . . . . . Die Erfahrung des Widerfahrens . . Erfahrung als das Verbindende . . . Erkenntnis als realer Prozess . . . . Die innere Form . . . . . . . . . . Wahrnehmung als dynamische Basis Zum Aufbau der Arbeit . . . . . .

7

Teil I. Eine neue Philosophie der Erfahrung

1. 2.

42 42 46 46 48 49 51 53 53 55

9 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Inhalt

3.

4.

Zu Matière et mémoire: Die lebendige Wirklichkeit . . 3.1. Das Wahrnehmungsbild . . . . . . . . . . . . . 3.1.1. Ein kleiner Exkurs über Wahrnehmungs- und Bildtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2. Das sinnliche Bild . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3. Medialitätskonzepte in Matière et mémoire . 3.2. Kraft der Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1. Kraft der Materie: Das Schema der objektiven Realität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2. Kraft des Leibes: Das Schema der Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3. Virtualität: Tätigkeit als Ausdruck . . . . . . 3.3. Die Vielfalt der Vorstellungen und die Einheit des Gefühls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Intuition und Allgemeinheit . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Das Staunen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2. Der Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. .

57 57

. . . .

58 60 61 62

.

62

. .

64 67

. . . .

69 71 71 75

Kapitel 2. Alfred North Whitehead: Das Ereignis der Kreativität 1.

2.

3.

Spekulative Systeme und natürliche Prozesse . . . . . . 1.1. Philosophy of organism . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Der mumifizierte Dinosaurier . . . . . . . . . . . . 1.3. Das spekulative System . . . . . . . . . . . . . . . 1.4. Der natürliche Prozess . . . . . . . . . . . . . . . Naturphilosophie in England . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Ein tiefer Denker . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1. Tiefe und Fülle. Her vivid life . . . . . . . . . 2.1.2. Schöpfen aus dem Unbestimmten. Metaphysik aus der Topologie . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Raum, Zeit und Ereignis . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1. Das Ereignis als dynamisches Ganzes . . . . . 2.2.2. Das Kontinuum als »ether of events« . . . . . 2.2.3. Eternal objects. Bedeutung als Muster . . . . . Metaphysik in Harvard und Edinburgh . . . . . . . . . 3.1. Pure Bergsonianism! Ein frischer Ansatz . . . . . . 3.2. Erfahrung als Basis der Logik. Die Lowell Lectures . 3.3. Wirkung und Bedeutung des Symbolischen. Die Barbour-Page Lectures . . . . . . . . . . . . . 3.4. Der Prozess. Die Gifford Lectures . . . . . . . . . .

10 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

79 79 79 82 84 86 90 90 90 93 95 95 97 99 102 102 103 106 112

Inhalt

Kapitel 3. Ernst Cassirer: Die lebendige Form 1.

2.

3.

4.

. . . . . . . . . 117

Keine Angst. Dynamische Interpretation statt negativer Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Das Vergessen und Wiederfinden eines originellen Philosophen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Die Krise von Davos: Medialität und Aktivismus . . 1.2.1. Härten des Schicksals . . . . . . . . . . . . . 1.2.2. Usurpation der transzendentalen Einbildungskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Die Kritik der Urteilskraft und Cassirers Philosophie der Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1. Heraustreten aus der Transzendentalphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2. Zwei Wege zur Medialität des Ästhetischen . . 1.3.3. Erfahrung der kontingenten Einheit . . . . . . Von der symbolischen Prägnanz zum Ereignis der Form . 2.1. Die qualitative Relationalität der Form als Gestaltung 2.2. Symbolische Relation als Intensität der Ausdrucksfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3. Intensität und Intentionalität . . . . . . . . . . . . 2.4. Umsetzung statt Übersetzung. Zeichen statt Projektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5. Prägnanz als Formungsereignis . . . . . . . . . . . Struktur und Dynamik: Das mediale Kontinuum . . . . 3.1. Die Einheit der Form als Einheit der Struktur . . . . 3.2. Die vermittelnde Einheit der Idee . . . . . . . . . . 3.3. Organische Qualität und mathematisches Kontinuum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4. Das »echte Apriori« . . . . . . . . . . . . . . . . . Geist und Leben als Symbolprozess . . . . . . . . . . . 4.1. Daimon und Symbol . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1. Der Mythos von Harmonie und Zerstörung . . 4.1.2. Individualität und Kontingenz . . . . . . . . . 4.2. Die Einbildungskraft zwischen Konkretion und Geist 4.3. Wahrnehmung als ästhetische Medialität . . . . . .

117 117 120 120 121 124 124 125 127 128 128 132 135 136 139 141 141 143 145 147 149 149 150 152 153 157

11 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Inhalt

Teil II. Die Ästhetik der inneren Form Kapitel 4. Die Erfahrung und der Formbegriff . . . . . . . . . . 1.

2.

3.

Eine kurze Geschichte des Formbegriffs in der Erkenntnistheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Form als Identität, Wesen und Substanz . . . . . 1.2. Die Visualität der Figur . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Der Formbegriff der Methode und die transzendentale Ästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erfahrung als Entwicklung und Erfahrung als Erfassen 2.1. Ein Prinzip der Kunst und des Wissens . . . . . . 2.2. Das Vermögen zu urteilen . . . . . . . . . . . . 2.2.1. Unterscheiden und Verknüpfen . . . . . . . 2.2.2. Der Actus der Spontaneität . . . . . . . . . 2.2.3. Das Integral des Gegebenen . . . . . . . . . Das Verhältnis zur Phänomenologie Edmund Husserls 3.1. Das Feld der Theorie . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Zwei verschiedene Konzepte von der Allgemeinheit der Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3. Erinnerung als Retention oder als Ausdrucksform 3.4. Zwei verschiedene Konzepte von Intuition und Präzision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5. Zwei verschiedene Konzepte des Wahrnehmungserlebnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6. Immanenz des Bewusstseins oder Immanenz der Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. 160 . 160 . 162 . . . . . . . . .

2.

Magie. Ein kleiner Beitrag zur Medienphilosophie . . 1.1. Struktur und Ereignis vermitteln . . . . . . . . 1.2. Das dynamische Ganze . . . . . . . . . . . . . 1.3. Drei Arten, Medialität zu denken . . . . . . . . 1.4. Mediale Begrifflichkeiten bei Whitehead, Cassirer und Bergson . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Elemente der inneren Form . . . . . . . . . . . 2.1. Der Traum vom Ursprung . . . . . . . . . . . 2.2. Das Problem der »Verdinglichung« . . . . . . .

12 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

165 167 167 170 170 172 174 176 176

. 177 . 179 . 181 . 183 . 185

Kapitel 5. Im Zwischen. Innere Form als mediales Konzept . . . 1.

160

187

. . . .

. . . .

187 187 189 192

. . . .

. . . .

196 197 197 199

Inhalt

3.

2.3. Die Materie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4. Das Kontinuum und der Ort . . . . . . . . . . . 2.5. Die realen Relationen . . . . . . . . . . . . . . . Intensität und schöpferische Kraft. Von den Stoikern zu Leibniz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Spannung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1. Spannkraft . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2. Spannungsbewegung . . . . . . . . . . . . 3.2. Intensive Realität . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3. Leibniz und die Entwicklung eines dynamischen Schemas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4. Die Leibniz-Lektüren . . . . . . . . . . . . . . . Das Dritte zwischen Ausschließung und Teilnahme . . 4.1. Vom mythischen Bild zur symbolischen Relation . 4.2. Prozess denken . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. 201 . 204 . 205 . . . . .

208 208 209 210 211

. . . . .

214 217 221 221 223

Kapitel 6. Das dynamische Schema . . . . . . . . . . . . . . .

225

Die »innere Form« als Selbstorganisation . . . . . . . . 1.1. Orientierung im Raum . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Strukturierung durch Dynamik von Teil und Ganzem 1.3. Analogie verstehen: Organismus und Werk . . . . . Die Medialität des dynamischen Schemas . . . . . . . . 2.1. Geist des Systems und systematischer Geist . . . . 2.2. Invarianten und Universalien . . . . . . . . . . . . 2.3. Das sich selbst organisierende System . . . . . . . 2.4. Die dynamische Korrelation von Subjekt und Gegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5. Die Medialität der »symbolischen Form« . . . . . . Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Realität und Aktualisierung . . . . . . . . . . . . . 3.2. Modalität der Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . 3.3. Die Zeichenbeziehung . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1. Das Zeichen als energeia . . . . . . . . . . . 3.3.2. Das Zeichen als Instrument . . . . . . . . . . Ausdruck und Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Bergson: Anruf und Ausdruck . . . . . . . . . . . 4.2. Cassirer: Anspruch und Ausdruck . . . . . . . . . .

225 225 227 229 231 231 234 235

4.

1.

2.

3.

4.

237 240 242 242 244 246 246 248 251 251 253

13 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Inhalt

5.

4.3. Die Entstehung von Bedeutung aus der Sinnlichkeit 4.3.1. Bergson und die intuitive Erkenntnis . . . . 4.3.2. Symbolisierung als Reflexion: Die Kristallisations-Metapher . . . . . . . . Medialität als Logik der Übertragung . . . . . . . . . 5.1. Übertragen konstituiert Verstehen und Erkennen . 5.2. Homogene Medialität: Übertragung als Positionierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3. Heterogene Medialität: Formung durch zeitliche Übertragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4. Die Logik der Artikulation . . . . . . . . . . . . 5.5. Form, Sinn und Geist . . . . . . . . . . . . . . .

. 254 . 254 . 255 . 257 . 257 . 259 . 262 . 264 . 267

Kapitel 7. Das Ereignis der Prägnanz . . . . . . . . . . . . . . 1.

2.

Die ästhetische Medialität als Formentstehung . . . . 1.1. Relevanz und Resonanz . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Prägnanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1. Das Ereignis der Kontrastbildung . . . . . . 1.2.2. Prägnanz als intensive Realität . . . . . . . Synästhesie, Sympathie und Symbol . . . . . . . . . 2.1. Der Ursprung des Symbolprozesses . . . . . . . . 2.2. Intimität und Distanz: (Syn-)Ästhetische Intensität 2.2.1. Orientierung im sinnlichen Universum . . . 2.2.2. Gefühlsgrund des Tastsinns . . . . . . . . . 2.2.3. Gefühlsgrund des Geschmackssinns . . . . . 2.3. Wahrnehmung der Veränderung: Intensität als Sympathie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1. Das »Zusammenschwingen« als Formangleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2. Bewegung und Ausdruck . . . . . . . . . . 2.4. Die Intensität des Symbolischen . . . . . . . . . 2.4.1. Der Ausdruck einer qualitativen Relation . . 2.4.2. Die Medialität der »Sinnfügung« . . . . . . 2.4.3. Prägnanz als »Schlüsselbegriff« . . . . . . .

Ausblick: Die poetische Logik der Prägnanz 1. 2. 3.

. . . . . . . . . . .

270 270 270 272 272 273 275 275 276 276 277 279

. 281 . . . . . .

281 283 285 285 286 289

. . . . . . . . . . 292

Imprägnation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Virtualität und Aktualisierung: Das Ereignis . . . . . . . Konkretion: Konkreszenz und Übertragung . . . . . . .

14 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

292 294 297

Inhalt

Prägnanz als Deutung der Wirklichkeit . . . . . . . . . Ereignis und Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

300 302

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

306

4. 5.

15 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Einleitung Die Abenteurer des Geistes »Warum ist das Vollkommene nicht gleich von Anfang? […] Weil Gott ein Leben ist, nicht bloß ein Sein. Alles Leben aber hat ein Schicksal und ist dem Leiden und Werden untertan.« (Friedrich Wilhelm Joseph Schelling)

1.

Wozu Bergson lesen?

Philosophie der Erfahrung gehört zum philosophischen Denken. Denn Erfahrung meint genau besehen nichts anderes als das Verhältnis des Menschen zur Welt, und damit betrifft die Philosophie der Erfahrung eine Art von philosophischer Grundvoraussetzung. Eine Philosophie der Erfahrung kann eine Reflexion auf das Denken selbst und seine Möglichkeiten bedeuten. In diesem Buch habe ich die Philosophie der Erfahrung in den Werken von Henri-Louis Bergson, Ernst Cassirer und Alfred North Whitehead herausgearbeitet. Warum gerade diese drei? Was ist das Besondere an diesen drei Denkern? Wie passen sie eigentlich zusammen, und warum entschloss ich mich, ein Buch über sie zu schreiben statt – nur beispielsweise – über Cassirer und Husserl, oder über Bergson und Deleuze? Gerade Bergson, der im deutschen Raum so genannte »Lebensphilosoph«, wurde mit Misstrauen betrachtet von Cassirer, dem so einfühlsamen wie analytischen Überblicker der Kunst- und Kulturgeschichte. Der Meister der Vermittlung unterstellte dem damals berühmtesten aller Franzosen anhand seiner eigenen Aussagen eine unreflektierte Unmittelbarkeit (vgl. u. a. Kap. 1 und Kap. 5.4). Im Hinblick auf Whitehead stellt sich die Frage, warum man ihn mit Bergson in Verbindung bringen solle, nicht: Bergson ist nach Whiteheads eigener Aussage eines seiner prägendsten Vorbilder (vgl. Kap. 2.1). Die inhaltlichen Ähnlichkeiten sind deutlich. Auch mit Cassirer lässt sich Whitehead recht gut verknüpfen, da sich die Philosophie der symbolischen Formen dort, wo sie sich mit der Wahrnehmung und dem Entstehen von Bedeutung aus der Wahrnehmung befasst, mit Whiteheads Philosophie der Wahrnehmung in Einklang 17 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Wozu Bergson lesen?

bringen lässt (vgl. Kap. 2.3.3. und 3). Beide Denker bauen darauf kulturphilosophische Thesen auf, die einander ebenfalls nicht unähnlich sind. Aber wie lassen sich alle drei verbinden, jenseits der scheinbaren Kontroverse von Unmittelbarkeit und symbolischer Form? Und was macht diese Untersuchung in der Reihe Phänomenologie? In Kap. 4 ist der ganze Abschnitt 3 dem Verhältnis der drei Denker zur Phänomenologie Husserls gewidmet, wobei es in erster Linie um Gegensätze geht, um eine Unterscheidung. Dennoch ist das wirklich Gemeinsame der drei Denker ein phänomenologisches Thema, und zwar im Sinne des Erfahrungsverständnisses der Phänomenologie, dem gemäß es möglich sein soll, aus der gelebten Erfahrung heraus zu »den Sachen selbst« (Husserl) vorzudringen bzw. intelligibel zu machen, dass man in Wahrheit schon bei ihnen ist, wie auch das Absolute nach Hegel »immer schon bei uns ist und sein will«. Dabei ist das phainomenon, das Erscheinende, oder genauer die Weise seines Erscheinens, die Art, wie es sich gibt, stets erster Ausgangspunkt für die Arbeit des Phänomenologen. Genau das gilt auch für Bergson, Cassirer und Whitehead, wie wir im Folgenden sehen werden. Und in der Art, wie sie sich dieser Weise des Erscheinens der Dinge, der Weise des Sich-Gebens des Absoluten, der Weise unseres Erfahrens des Wirklichen und unser selbst annehmen, und in den wesentlichen Schlüssen, die sie daraus für ihre weitere Arbeit ziehen, liegt, wie ich zeigen werde, ihre Gemeinsamkeit. Sie unterscheiden sich darin von Phänomenologen wie Husserl oder Heidegger und auch von anderen philosophischen Strömungen, die dem einen oder anderen von ihnen ansonsten nahe stehen. Kurz gesagt, handelt es sich um das Schöpferische, das jeder Art von Weltverhältnis innewohnt. Was die drei Denker in einer einzigartigen Weise verbindet, ist die Betonung der poiesis, der schöpferischen Kraft, als Bestandteil nicht nur des Denkens, sondern der Wahrnehmung, des Lebens und Erlebens überhaupt, und schließlich auch der Formen, die wir kulturell und gesellschaftlich miteinander teilen und die eigene schöpferische Kräfte entwickeln. Bei Cassirer sind das natürlich die elaborat ausgefeilten symbolischen Formen, bei Whitehead die schwerer zugänglichen actual entities auf allen Ebenen. Dass auch Bergson ein politisch und kulturell fruchtbares Denken auf der Basis seiner Metaphysik der Kreativität aufbaut, zeigt unter den neu-

18 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Wozu Bergson lesen?

en französischsprachigen Werken auch Nadia Yala Kisukidis Bergson ou l’humanité créatrice. 1 Das Besondere liegt darin, dass die poiesis nicht in erster Linie ein Element der Beschreibung von Vorgängen und Wesenheiten sein soll, wie bei Aristoteles, oder gar eine eigene Kraft wie bei den Stoikern. Für Bergson, Cassirer und Whitehead kommt die Bewegung des Schöpferischen, die Entstehung des Neuen, aus Verknüpfungen zustande, aus Verhältnissen, aus Wirkzusammenhängen, die intensiv verwoben sind. Es geht nicht um das Aufeinandertreffen einzelner Existenzen, sondern um ein komplexes Gefüge von Prozessen, die sich nur dadurch auszeichnen, dass sie in ein Verhältnis zu anderen treten und dadurch wirken können. Das beschreiben die drei Denker mit dem Begriffskomplex des Inneren oder Intensiven, der Intensität. Und diese Figur – Entstehung des Neuen durch schöpferische Kraft, die wiederum durch intensive Relationalität entsteht – gestaltet die Art, wie Bergson, Cassirer und Whitehead ihr phänomenologisches Arbeiten beginnen. Darum spreche ich bei ihnen von einer neuen Philosophie der Erfahrung. Der kantische Anspruch, eine funktionale Form für die Erfahrung zu finden, wird hier mit dem Anspruch der Phänomenologie verbunden, die Sachen selbst und die Weise ihrer Erfahrbarkeit zu denken. Die Kritik der Urteilskraft deutet schon die Richtung an, die aber hier erst wirklich eingeschlagen wird (vgl. Kap. 3 und 6). Bergson, Cassirer und Whitehead selbst sehen in der bisherigen Philosophie ein Problem der Form, im Sinne von eídos und morphé. In Kap. 4 wird das näher beschrieben und gezeigt, inwiefern das auch für die Phänomenologie im Sinne Husserls gilt. Zur Behebung des Problems schlagen alle drei vor, den klassischen Formbegriff zu dynamisieren, ohne dabei seinen Sinn zu verlieren. Das Erkennen von Formen wird nicht als Ziel und Ergebnis eines Erfahrungsprozesses gedacht, sondern als Teil dieses Prozesses. Die Form bezeichnet das statische, repräsentierbare Wesen der Dinge: ihr Urbild, ihre Idee, ihr Umriss, ihre Gestalt, ihre Funktion, ihre Struktur. All das sind klassische Formbegriffe. Ihre Dynamisierung führt zu einem Erfahrungsverständnis, das Modelle, Abbildverhältnisse und Substanzdenken überwinden kann, ohne in Beliebigkeit zu verfallen. Diese Art, eine Philosophie der Erfahrung zu betreiben, war zur 1

Vgl. Yala Kisukidi 2013.

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Wozu Bergson lesen?

Zeit von Bergson, Cassirer und Whitehead im frühen 20. Jahrhundert neu, und sie ist es jetzt immer noch. Nicht nur in dem Sinne, in dem jedes originelle philosophische Denken immer neu bleibt, weil es aus sich heraus Relevanz entwickelt, sondern in einem buchstäblichen Sinne dessen, was so noch nicht da gewesen ist. Die einzelnen Elemente, die zur Dynamisierung der Form gehören, werden heute in vielen Kontexten behandelt: Prozess, Symbol, Dynamik, Intensität, (organische) Metaphorik, Integration, Virtualität. Sie tauchen auf in Mathematik, Physik, Chemie und Biologie, in Kultur- und Medienwissenschaften, Soziologie und Politologie. Doch in diesen wissenschaftlichen Kontexten bleiben sie vereinzelt. Sie zu systematisieren und auf die Erfahrung als eine Grundvoraussetzung zurückzuführen: das ist immer noch etwas Neues. Denn dass alle diese Aspekte, die in den letzten Jahrzehnten an vielen Stellen neu entdeckt werden, bereits in philosophischen Systemen vor rund hundert Jahren in hoch reflektierte Zusammenhänge gebracht wurden, ist auch in der akademischen Philosophie bisher weitgehend unbekannt geblieben. Cassirer wird von Kulturwissenschaftlern gelesen und von Soziologen und Sprachphilosophen gelegentlich anerkennend erwähnt, Philosophie zu und über Cassirer aber betreibt nur ein kleiner Kreis von Denkern, hauptsächlich im deutschsprachigen Raum, in Hamburg und Berlin (mehr dazu in Kap. 3.). Den meisten Philosophen scheint sein Werk vielleicht zu sperrig, zu sehr von historischer Betrachtung geprägt, oder aber sie halten ihn für einen missglückten Hegel 2, was ihm meines Erachtens nicht gerecht wird. Letzteres droht auch im Fall von Whitehead 3, der im Grunde nur unter Mathematikern und einer kleinen, eigenwilligen Gruppe so genannter Prozessphilosophen in den USA und Belgien bekannt ist. Allerdings erfährt Whitehead neuerdings einen Aufschwung und einen ganz neuen Bekanntheitsgrad. Die Publikationen des Center for Process Studies nehmen an Zahl explosionsartig zu. 4 Die deutsche Whitehead-Gesellschaft stellt gerade die neue Reihe der WhiteheadStudien im Karl Alber Verlag vor, herausgegeben von Godehardt

Vgl. dazu Kreis 2009. Vgl. dazu die Einschätzung von Reiner Wiehl, »Die Logik der Ereignisse in ihrem Verhältnis zu Phänomenologie, Hermeneutik und Dialektik«, in Wiehl 2000b, S. 37– 48. 4 Zum Beispiel Basile 2009, Faber, Krips und Pettus (Hg.) 2010 und Allan 2012. 2 3

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Die Erfahrung des Widerfahrens

Brüntrup, Christoph Kann und Franz Riffert. Doch ist das eine neue Entwicklung; es sind erst drei Bände erschienen. 5 Bergson ist außerhalb von Frankreich kaum noch bekannt, er gilt gerade im deutschen Sprachraum, insofern man ihn überhaupt noch kennt, als esoterisch, gar unwissenschaftlich, oder einfach antiquiert und ausrangiert. Damit hängt natürlich auch die ursprüngliche Rezeption Bergsons im deutschen Sprachraum zusammen, auf die ich in Kap. 1 und Kap. 4 eingehe. 6 In Frankreich selbst allerdings nimmt die Bergson-Forschung gerade wieder an Umfang zu. Gerade in den Jahren seit 2000 sind bei den Presses Universitaires de France sämtliche Werke neu herausgegeben worden 7. Auch die Annales bergsoniennes 8, welche die von 1948 bis 1973 erschienenen Études bergsoniennes wieder aufgreifen, erscheinen im selben Verlag, in der Reihe Épiméthée, die von Jean Hyppolite 1953 gegründet wurde und jetzt von Jean-Luc Marion betreut wird. 2014, hundert Jahre nach dem Ausbruch des 1. Weltkrieges, erschien Band VII., der sich mit der Rolle Bergsons und seines Denkens in dieser Zeit auseinandersetzt. Dort bewegt sich also gerade vieles. Und dennoch wurde ich noch vor kurzem, und zwar von einem begeisterten Leser Canguilhems, gefragt: »Wozu Bergson lesen, wenn es doch Deleuze gibt?« So hoch ich auch Deleuze (und seinen Bergsonism) schätze, diese Frage, so fand ich, verdiente eine Antwort, die ich hiermit geben will.

2.

Die Erfahrung des Widerfahrens

Wer also sind diese drei ›alten weißen Männer‹, von denen kaum jemand etwas weiß? Sie sind Zeitgenossen, Freunde, Kontrahenten oder Kollegen von Martin Heidegger und Edmund Husserl, von William James, Ludwig Wittgenstein und Bertrand Russell. Sie sind bürgerliche FamilienSölch (Hg.) 2014; Berve 2015; Sölch 2014. Neue Arbeiten dazu sind in den Annales erschienen, vgl. Marion, Zanfi, Riquier, François, Yala Kisukidi (Hg.) 2014. 7 Die Oeuvres erschienen in neuen Editionen ab 2007, herausgegeben von Camille Riquier, Arnaud François u. a., begleitet von den neuen Arbeiten der Annales bergsoniennes beim selben Verlag. 8 Band I. erschien 2002, Band VII. 2014. 5 6

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väter, konservativ, gemäßigt patriotisch. Sie sind keine Rebellen. Die Brüche in ihren Biographien werden ihnen von außen aufgezwungen. Sie sind brave Bürger, liebenswürdig, höflich, leise humorvoll, allgemein geachtet. Cassirer ist ein überzeugter Vertreter von Humanismus und Aufklärung, ein Verteidiger der Weimarer Republik. Er gilt als »konziliant« 9, im Davoser Sketch karikiert ihn Lévinas als »versöhnlich«, im Kontrast zur radikalen Metaphysikkritik und Gesprächskultur Heideggers. 10 Whitehead ist ein englischer Liberaler (Whig), dessen Persönlichkeit eng mit der Geschichtlichkeit und der Lokalität von East Kent verbunden ist, in der er aufwuchs. Bis zu seinem Ruf nach Harvard mit 63 Jahren lebt er friedlich in Cambridge und London. Sein Biograph Victor Lowe fragt: »How can the life of so good a man be interesting? To make the problem more acute, this good man was a Victorian. […] A life of Whitehead is bound to be lacking in spice. […] His adventures were adventures of the mind.« 11

Doch diese drei Abenteurer des Geistes, die eigentlich keine Abenteuer erleben, sondern wahrscheinlich nur in Ruhe lesen und arbeiten wollten, konnten nicht in ihrer privilegierten Position des männlichen, weißen, wohlhabenden, hochgebildeten europäischen Bürgers verbleiben. Ein Blick auf ihre Biographien zeigt, dass ein Zusammenhang bestehen könnte zwischen der Erfahrung, von Ereignissen betroffen zu sein, die man nicht selbst steuern kann, und einem Denken, das passives Widerfahren und aktives Handeln vermittelt. Whitehead hat beide Weltkriege miterlebt und dabei, wie Husserl, einen Sohn verloren. 12 Bergson und Cassirer waren von nationalsozialistischer Verfolgung betroffen. Cassirer wurde früh in die Emigration getrieben. Bergson bot die Vichy-Regierung in Frankreich »in einer Art verlegener Scham […] eine Ausnahmebehandlung Krois 1988, S. 18. Toni Cassirer (2003, S. 92) erzählt zum Beispiel, wie Cassirer erfolglos versucht, den nicht so konzilianten Cohen von der Veröffentlichung unsachlicher Ausfälle gegenüber Bergson abzubringen. 10 Vgl. Gründer 1988, S. 300. Bollnow karikiert Heidegger: »Interpretari heißt eine Sache auf den Kopf stellen.« 11 Lowe 1985, S. 3. 12 Die Enquiry concerning the Principles of Natural Knowledge ist dem Gedächtnis von Eric Alfred Whitehead gewidmet, »killed in action over the Forêt de Gobain […]. The music of his life was without discord, perfect in its beauty.« Ein solcher Zusammenklang ist bei Whitehead eine erfüllte Form der Existenz, vgl. AI 252 ff. 9

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Die Erfahrung des Widerfahrens

an.« 13 Er müsse sich nicht als Jude registrieren lassen. Bergson hat dies aus seinem Solidaritätsgedanken heraus abgelehnt; er wollte sich, wie er sagte, nicht von denen lossagen, die verfolgt würden. Bergson stirbt 1941 und erlebt das Ende des 2. Weltkriegs nicht mit. Cassirer dagegen erfährt noch kurz vor seinem Tod in Yale 1945, dass der Krieg endet. Ob er nach Deutschland zurückgekehrt wäre, wie Schmücker und Frede vermuten 14, scheint seiner Ehefrau und Biographin Toni Cassirer unwahrscheinlich. »Wenn man ihn fragte, ob er später nach Deutschland zurückgehen würde«, berichtet sie, »sah er erstaunt auf und antwortete: ›In was für ein Deutschland, und wann?‹« 15 Schon im Ersten Weltkrieg hatte sich Cassirer nicht dem enthusiastischen Nationalismus angeschlossen, der selbst bei Husserl, Cohen und Natorp aufblühte. Er vermied die Rede vom Deutschtum und Natorps »›mystischer‹ Vorstellung der deutschen Seele« 16. Aber er hatte durchaus eine Vorstellung vom deutschen Geist, die auf seiner Konzeption des Deutschen Idealismus gründete und ihn 1916 hoffen ließ, Deutschland werde »die völlig neuen politisch-materiellen Aufgaben, die seiner harren, […] bewältigen.« (FF 386) In der Emigration hat er diese Vorstellung nicht mehr. Das Land seiner Helden Leibniz, Kant und Goethe existiert nicht mehr. Der wahre Geist des Deutschen Idealismus wäre für ihn nicht in Deutschland zu finden, sondern in der Vorstellung eines globalen Humanismus. Wir leben heute immer noch in einem Deutschland mit seiner Geschichte und all seinen Widersprüchen, aber zugleich auch in einer postkolonialen Welt, die sowohl als riesiges globales Netzwerk als auch als eine Ansammlung von Dörfern erscheint. Viele von uns sind daran gewöhnt, Subjektivität als historisches und politisches Konstrukt zu verstehen und Identität als etwas prinzipiell Fließendes und Variables, das zudem durch die eigenen Tätigkeiten und das Selbstverständnis der eigenen Rolle mit hervorgebracht wird. Während wir aber diese Erkenntnisse theoretisch anerkennen und für richtig halten, denken wir in anderen, alltäglichen Hinsichten

Aus dem Rheinischen Merkur vom 15. 11. 1946, zitiert von Friedrich Kottje in seiner Einführung zu Denken und schöpferisches Werden, DSW 18. 14 Schmücker/Frede 1997, S. VII. 15 Toni Cassirer 2003, S. 267. 16 Ferrari 2003, S. 37. 13

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Wozu Bergson lesen?

immer noch so, wie man denkt, wenn man sich selbst als ein feststehendes Subjekt versteht mit einer essentiellen Identität, die entweder von vornherein existiert, festgehalten oder gefunden werden muss, oder die zu sich selbst kommt, indem eine bereits bestehende Wahrheit erst verwirklicht wird. Denn die Tradition, die unser Denken prägt, arbeitet mit Formbegriffen, die Statik statt Dynamik vertreten, Wesen statt Werden, die das Ding an seinem Bild messen und nicht daran, wie es wirkt. Diese Formbegriffe prägen unser wissenschaftliches und unser alltägliches Denken. Es hat natürlich immer philosophische Strömungen gegeben, die anders mit dem Konzept der Form umgegangen sind, doch haben sie sich nie in den ›Mainstream‹ durchgesetzt. Heute sieht das anders aus, und darum lohnt es sich, an Konzepte anzuknüpfen, die bereits auf einem ganz anderen Niveau ausgearbeitet sind, als wir es heute könnten. Das gilt für die Arbeiten von Bergson, von Cassirer und ganz besonders für den wilden, unzugänglichen Denker Whitehead. Wir brauchen diese Philosophen nicht nur für unser Wissenschafts- und Alltagsverständnis, für das philosophisches Denken stets die heimliche, halb vergessene Grundlage gebildet hat; wir brauchen sie auch und vor allem für unser Selbstverständnis und die Frage, wie wir leben wollen. Das Denken von Bergson, Cassirer und Whitehead zeichnet unter anderem eine echte Liebe zum Menschen aus, die nicht künstlich gewollt ist, sondern in der Sache des Denkens verwurzelt. Denn Menschen werden nicht in erster Linie als handelnde Subjekte, Akteure o. ä. gedacht, sondern als lebendige, leidende, erfahrende Wesen, die altern und sterben, die in der Zeit und mit der Erinnerung leben und erst auf Grund dessen zum Handeln fähig werden. Das ergibt eine ganz andere Empathie, ein spezielles Verhältnis zu allen anderen Menschen, die unsere Erfahrungen teilen und mit denen wir in diesen Erfahrungen verbunden sind. Eine ähnliche Art des Denkens finden wir in neuerer Zeit beispielsweise bei Irigaray und Derrida. Im Ausblick gebe ich einige Beispiele für den Gegensatz dieses Denkens zu traditionelleren Denkformen, indem ich etwa Whiteheads Konzept des concern Heideggers Konzept der Sorge gegenüberstelle. Heideggers Verständnis des Todes bildet den schärfsten Gegensatz seines Denkens zu dem unserer Prozessphilosophen. Derrida bringt hier den Gegenpol zu Heidegger in die Form seines Celan-Gedichtes, aus dem er den Nachruf auf Hans-Georg Gadamer gemacht hat, vgl. dazu Ausblick, Abschnitt 3 und 4. Natürlich wird der Kon24 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Die Erfahrung des Widerfahrens

trast zwischen Heidegger und Cassirer auch in der Davoser Kontroverse deutlich, vgl. Kap. 3. Dieses von Grund auf ethisch und ästhetisch geprägte Denken unserer drei Philosophen ergibt auch weitere spannende Denkrichtungen: die Möglichkeit des kulturphilosophischen Austausches, die sich erst ergibt, indem die eigene Kulturphilosophie reflektiert wird und indem das lebendige Individuum nicht nur in einer Tradition fixiert gedacht werden kann, sondern auch als Wanderer zwischen Zeiten und Welten, sans papiers, die die Identität bestätigen, festschreiben und sichern könnten. Gerade mit den so genannten postkolonialen Denkern gibt es hier eine Menge Anknüpfungspunkte. 17 Dass wir in einer Welt leben, in der unser Selbst von vielfachen Kontexten und Traditionen ein- und zugerichtet wird, dass sich Wirkungen und Bedeutungen direkt und spürbar an unseren Körpern ausprägen, sie formen und gestalten, sie vielleicht zerstören, das fällt uns umso schwerer zu denken, je weniger wir es erfahren. Die von Privilegien geschützt sind, halten ihre besondere Situation oft für selbstverständlich. Ihnen fällt es schwer zu empfinden, dass auch ihre Lebenswirklichkeit als dynamischer Prozess mit vielfältigen Ursachen, doch ohne vorherbestimmten Ausgang verstanden werden muss. Andere erfahren das täglich. Privileg bedeutet eigentlich, aus dem Lateinischen stammend, Vorrecht oder wörtlich »privates Gesetz« (von lex und privus). Der heutige Privilegiendiskurs thematisiert Strukturen, die privilegierte Menschen vor negativen Konsequenzen schützen, und reflektiert, wie Strukturen geschaffen und aufrechterhalten werden, die solchen Schutz bieten, und was das für Menschen bedeutet, die ihn nicht haben. Das aktuellste Beispiel ist sicher der Status von »Residents« vs »Refugees«, also von ansässigen Menschen, Bürgern eines Landes, die privilegiert sind gegenüber einer wachsenden Zahl gänzlich rechtloser Menschen, die als Flüchtende klassifiziert werden. Diesen ihren privilegierten Status nehmen sie oft als etwas ganz Natürliches wahr, was manchen echte Empathie unmöglich macht. Weil wir diese Privilegien, diesen Schutz vor der Willkür des Wirklichen entweder haben oder ihn begehren, kehren wir immer wieder zu Vorstellungen naturgegebener Hierarchien und Essentia-

Eine Verbindung Bergsons zu den postkolonialen Denkern führt Yala Kisukidi 2013 vor.

17

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lismen zurück und sind irritiert, wenn uns diese Grundlagen unserer Privilegien bedroht scheinen. Viele Ängste und Konflikte, Furcht vor dem Fremden, dem Heterogenen hängen damit zusammen. Oft wird dabei die eigene Rolle, das eigene Geschlecht, die Klasse, die gesellschaftliche Stellung insgeheim doch wieder als naturgegeben oder vorherbestimmt angenommen, auch von denen, die auf einer gewissen theoretischen Ebene längst die strukturellen und historischen Bedingungen dieser Stellung reflektieren. So werden praktische Zwänge und Fakten reproduziert, wie etwa normative Heterosexualität, politische Bevorzugung der Kleinfamilie, Mehrfachbelastung von Frauen, Zuwanderungsängste und eine gesellschaftliche Identität, die sich über die Mangelware Arbeitsplatz definiert. Unter anderem auf Grund dieser gesellschaftlichen Identität besteht zugleich der Zwang zur Selbstoptimierung. Denn so weit ist die Erkenntnis des prozessualen Charakters unserer Lebenswirklichkeiten gesellschaftlich verinnerlicht worden, dass er zur Verwertung herangezogen wird. Ich kann alles werden, alles machen, so die naive Deutung einer marktwirtschaftlichen Verwertungslogik; ebenso wie ich alles konsumieren, alles aufnehmen kann, was mein Interesse weckt. Daraus folgt, dass ich nicht nur die Möglichkeit, sondern geradezu die Pflicht habe, mich selbst so zuzurichten, dass ich den Anforderungen des Marktes, denn das heißt, den Anforderungen der Gesellschaft entsprechen kann. Gegen diese Suggestion zur Selbstausbeutung und dieses Potenzial zur Missachtung anderer Menschen gibt es keinen Schutz, wenn nicht die Möglichkeit besteht, auch auf die Grenzen und die Eigengesetzlichkeit der Entwicklung lebendiger Identitäten zu reflektieren. Gerade dazu bietet das Denken von Bergson, Cassirer und Whitehead, wie es im Folgenden analysiert wird, einen noch unausgeschöpften Reichtum an Möglichkeiten.

3.

Erfahrung als das Verbindende

Diese Reflexion ist möglich, wenn die Erfahrung als Verhältnis des einzelnen Menschen zu seiner Umgebung, zur Gesellschaft und zu sich selbst in den Blick genommen wird. Der Komplex der Formbegriffe, mit den untereinander verbundenen Konzepten von Idee, Gestalt, Bild, Material, Stoff, Medium und Kraft, macht es möglich, ein von vornherein angenommenes Subjekt-Objekt-Verhältnis zu 26 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Erfahrung als das Verbindende

vermeiden und die Vorgänge der Erfahrung als Ereignisse einer lebendigen Körperlichkeit zu betrachten. Erfahrung, so wird sich zeigen, kann nur gedacht werden als ein Prozess, dem die erfahrenden Subjekte selbst angehören und in dem sie erst wirklich zu dem werden, was sie sind. Dieser Prozess wiederum gehört der zu erfahrenden Wirklichkeit selbst mit an, ist also ein realer Vorgang, der sich seinerseits erfahren lässt. Beide Arten des ›Angehörens‹ – ich gehöre in das Ereignis meines Erfahrens hinein, die Erfahrung gehört der Wirklichkeit an – beschreiben Beziehungen zwischen einem Ganzen und seinen Teilen, die dynamischer Art sind. Das bedeutet, dass die Teile durchaus über das Ganze hinausgehen können, dass die Inklusionsbeziehungen gegenseitig sein können, dass das Ganze in einem wörtlichen Sinne ›mehr‹ oder zumindest etwas anderes sein kann als die ›Summe‹ seiner Teile. Denn ein dynamisches Ganzes ist keine Akkumulation statischer Einzelteile, die sich gemeinsam in einer Art Behältnis befinden. Die Teile sind vielmehr selbst dynamische Einheiten: in Veränderung befindliche Prozesse. Jede dynamische Ganzheit kann also nur eine mediale sein, ein Ganzes, das seine Elemente auf seine je eigene Weise untereinander vermittelt. Dieser Faktor des Medialen sollte allerdings nicht wiederum als Objekt gedacht werden, da dies schon so manchen medienphilosophischen Ansatz in den Regress gelockt hat (vgl. Kap. 5.) Die Ganzheit besteht gerade in der Vermittlung selbst. In den höchst unterschiedlichen Werken von Cassirer, Whitehead und Bergson wurden die betreffenden Fragen auf dem Feld einer als einheitlich gedachten Metaphysik verhandelt, und dieses Zielen auf ein großes, einheitliches System, das aber ein dynamisches, ein offenes System werden sollte, hat in ihren Arbeiten eine ganz besondere Stärke entwickelt. Denn auch ein dynamisches System ist natürlich eine dynamische Ganzheit und definiert sich über die Art und Weise der intellektuellen Vermittlung, die es vollzieht. In den Begriffen der traditionellen Metaphysik heißt das, eine innere Verbindung, einen Austausch herzustellen zwischen den Bereichen der Ästhetik, der Erkenntnistheorie und der Naturphilosophie.

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Wozu Bergson lesen?

4.

Erkenntnis als realer Prozess

Das führt bei allen drei Denkern dazu, dass sie die Kategorie der Substanz relativieren und ihre Aufmerksamkeit der Kategorie der Relation zuwenden. Damit erreichen sie nicht nur eine Loslösung der medialen Funktion von der Gegenständlichkeit. Sie hinterfragen auch die dominante Stellung, die das Ideal der Erkenntnis der ›unvollkommenen‹ Sinnlichkeit gegenüber einnimmt, ohne sich dabei auf die vom Subjekt abhängige Struktur der Vermögenspsychologie zurückzuziehen. Stattdessen argumentieren sie, das Erkennen sei auch nichts anderes als ein Prozess der Formbildung unter vielen, der durch das weitere Feld der Erfahrung vermittelt und in der Wirklichkeit gegründet werde. Als Ausgangspunkt gilt ihnen der Begriff der Form (vgl. Kap. 4), denn er betrifft das Verhältnis des Wirklichen zu der Möglichkeit seiner Erfahrung. Die europäische Tradition, die auf Platon und Aristoteles aufbaut, sucht nach einer gesicherten Basis für adäquate Erkenntnis des Wirklichen. Diese Basis findet sie in der substantiellen Form, dem statischen und eigenständigen Wesen. Erkenntnis versteht sich als Betrachtung dieser Formen. Aber auch das, was sich bewegt und verändert, kann im Rahmen des perspektivischen Überblicks beobachtet und berechnet werden. Dazu müssen die Bewegungen und Veränderungen ihrer Möglichkeit nach im Voraus bekannt werden. Möglichkeiten werden also als etwas gedacht, das in oder an den Substanzen vorkommt. Die sinnliche Wahrnehmung spielt dabei die Rolle einer passiven Zuträgerin, die das ihr Gegebene, sinnliche Daten, aufnimmt oder durch Eindrücke, Impressionen, geformt wird. Die Kritik an dieser Tradition, die Cassirer, Bergson und Whitehead formulieren, lässt sich zum Ausdruck bringen durch die Frage: Entsteht durch Erkenntnis oder Erfahrung auch in der Wirklichkeit etwas Neues, oder ist Erkenntnis nur ein Bezug auf bereits Vorhandenes? Im letzteren Fall wird Erkenntnis so gedacht, dass die schöpferische Aktivität sich auf einen separaten Bereich des Bewusstseins beschränkt und darin z. B. ein Abbild des Erkannten schafft. Durch diese Trennung von geistigen Leistungen und realen Prozessen soll die prinzipielle Überprüfbarkeit des Erkannten gesichert werden. Nur wird es unmöglich zu denken und mühsam zu konstruieren, wie die 28 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Die innere Form

Tatsache, dass ich etwas erkannt habe, sich über meine ›Handlungen‹ wieder auf die erfahrbare Wirklichkeit auswirkt. Das führt zu der Gefahr eines anderen Extrems: Die erfahrbare Wirklichkeit könnte ihrerseits reduziert werden auf ein Produkt der aktiven Leistungen des Geistes. Bergson, Whitehead und Cassirer stimmen darin überein, dass durch jede Art von Erfahrung etwas wirklich Neues entsteht, auch durch das, was wir Erkenntnis nennen. So rückt allerdings das Erkenntnisvermögen ab von adäquater Abbildung dessen, was schon da wäre, und begibt sich in gefährliche Nähe zu der sinnlichen Wahrnehmung selbst. Die neue Frage, die sich damit stellt: Wie soll Erkenntnis jemals überprüfbar sein, wenn sie wie der Heisenbergsche Beobachter ihr eigenes Objekt mit verändert?

5.

Die innere Form

Natürlich können wir auch dafür auf eine philosophische Tradition zurückgreifen, die Cassirer als Geschichte eines spezifischen Formbegriffs nacherzählt. Er skizziert eine neuzeitliche Ästhetik, die aus dem Begriff der »Intensität« (vgl. Kap. 5) die »innere Form« ableitet. Dieses »Innen« ist nicht geschlossen und steht nicht in räumlicher oder struktureller Opposition zu einem »Außen«, vielmehr können wechselnde Elemente und Funktionen einbezogen werden. Die innere Form ist also weder Substanz noch Subjekt, noch System. Sie steht für einen Prozess der Formbildung, der sowohl auf äußere Einflüsse und Begrenzungen reagiert als auch zugleich seine eigenen Regeln entwickelt. Diese Form wird stets mit dem Lebendigen oder Organischen assoziiert, weil das Lebendige sich verändert und dabei doch das Selbe bleibt. Es integriert heterogene Elemente in eine Verbindung, die keiner äußeren Regel unterworfen ist, die trotzdem aber mit der Außenwelt interagiert und kompatibel bleibt. Durch das organische Zusammenspiel der Elemente entsteht eine relative funktionale Geschlossenheit: Kant sagt, »etwas wie« ein System. »Etwas wie«: denn die logische Reflexion dieser Form, so Kant, muss sich metaphorischer Übertragung bedienen, da ihre Entwicklung und Funktion nicht im Voraus feststeht und sie daher nicht vollständig unter allgemeine Klassifikationssysteme zu fassen ist. Die innere Form erklärt sich nicht als Verwirklichung bestehen29 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Wozu Bergson lesen?

der Potentialitäten, sondern als eine neue und eigenständige Aktualität 18, deren wirkende Elemente nur aus ihrem konkreten Zusammenspiel heraus unterschieden werden können. Darum wird sie mit den Begriffen »Geist«, »Gestalt« und »Kraft« in Verbindung gebracht. Auch mit dem Werkbegriff wird sie verknüpft, denn nicht nur hat das Werk eine innere Dynamik, die nur teilweise aus den aktiven Setzungen des Schaffenden zu erklären ist, sondern die Rezeption des Werkes bedarf auch des empfindenden Nachvollzugs. Hier finden wir also die aktive und die passive Seite der Erfahrung unter dem Namen des »Geistes« vereint und mit dem organischen, leiblichen Aspekt des Wirkens von Kräften verbunden. Denn auch die natürlichen Kräfte lassen sich nicht auf reine Kausalität reduzieren, sondern entwickeln eigene Regeln der Gestaltung. In diesem Zusammenhang lässt sich auch die Frage nach dem freien Handeln neu stellen. Für Bergson entspringt Freiheit einem gesteigerten Bewusstsein oder Empfinden der konkreten Zusammenhänge, in denen die eigene Handlung steht. Das ähnelt nicht der formalen Eigentlichkeit im Sinne Heideggers. Es geht vielmehr um ein Aufnehmen und Reflektieren von Wirkursachen. Das bedeutet u. a., dass die eigene, lebendige Erfahrung und das eigene Selbst mit dem, was der Gesellschaft widerfährt und was diese Gesellschaft »tut« – wie etwa Kriege zu führen –, untrennbar, medial verwoben ist. 19 Diese Verbindung ermöglicht erst Handeln und Erschaffen, weil erst sie dem Handeln und Schaffen überhaupt Raum eröffnet und Stoff bietet. Aber sie steht umgekehrt auch für Teilnahme, durch die ich selbst Raum eröffne, selbst zum Stoff werde für die Ereignisse, die sich auch an mir vollziehen. Sie steht für die Unmöglichkeit, alles aus eigener Hand zu steuern und durch eigene Aktivität und subjektive Setzung zu bestimmen. Es gibt Freiheit: aber diese Freiheit liegt nicht in einem aktivistischen, progressiven Einswerden mit Staat oder Volk, mit einer höheren Variante des subjektiven Selbst, wie bei Hegel oder bei Heidegger. Freiheit muss die Persönlichkeit enthalten und spiegeln. Das kann kein Makro- und Mikrokosmos-Verhältnis sein, denn eine »Persönlichkeit« ist kein »Subjekt«. Persönlichkeit muss selbst erst entVgl. dazu auch Agamben 1999. Schon die Rede davon, dass eine Gesellschaft etwas tut oder beschließt, setzt eine mediale Dynamik voraus, die nichts zu tun hat mit einer bloßen Ansammlung von Individuen.

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Wahrnehmung als dynamische Basis

wickelt und entfaltet werden. Freie Handlungen werden zum Ausdruck dieser werdenden Persönlichkeit. Freiheit bedeutet zuerst Erfahrung und Erleiden, Teilnahme im Sinne von pathein, bevor sie schöpferisch tätig werden und eine eigenständige Form und Individualität gewinnen kann. Dieser Erfahrungsbegriff ist es, der durch eine Ästhetik der »inneren Form« entwickelt werden soll, um in der Hermeneutik des Wirklichen die Grenzen zu suchen und damit zu gestalten, die der Eigengesetzlichkeit realer Entwicklungen entsprechen. Als Begriff wird die »innere Form« nur von Cassirer genutzt, aber die Konstellation, für die sie steht, nämlich »intensive« oder »reale« Wirkrelationen aus der Mathematik und Naturphilosophie mit subjektiven Gestaltungsformen der neuzeitlichen Ästhetik zu verknüpfen, spielt bei Bergson und Whitehead eine entscheidende Rolle.

6.

Wahrnehmung als dynamische Basis

Kehren wir vor dieser kurzen Skizze des begrifflichen Hintergrunds, der in Teil II genauer ausgeführt wird, zu der Überlegung zurück, die Bergson, Cassirer und Whitehead in der Analyse des Formbegriffs durchführen. Sie gehen davon aus, dass die Statik des Wesens und die Instantaneität des Überblicks, die traditionell mit dem Formbegriff in der Erkenntnislehre verbunden wurden, sich als illusorisch erwiesen haben. Aus diesem Grund schlagen alle drei Philosophen vor, das Konzept Form zwar beizubehalten, aber auf die Abhängigkeit von einer visuell geprägten Statik zu verzichten. Also dynamisieren sie zunächst den Substanzbegriff. Das bedeutet ganz einfach die Annahme, dass sich die Wirklichkeit selbst in Bewegung befindet. Es gibt gar kein bleibendes Wesen, das wir abbilden könnten. An die Stelle einer Selbstständigkeit des Wesens soll eine dynamische »Basis« 20 treten und als Grundlage für Formbildungsprozesse dienen.

Beide Begriffe, »Substanz« und »Basis«, lassen sich inhaltlich auf die griechischen Begriffe hypokeimenon, das zu Grunde Liegende, und ousía, Wesen oder beständiges Sein, zurückführen. Auch der Begriff »Subjekt« ist eine Übertragung von hypokeimenon. Es handelt sich um verschiedene Versuche, das Sein als Wesen oder Basis der Dinge in der Welt zu konzipieren. Für die Philosophiehistoriker sind daher Substanz,

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Wozu Bergson lesen?

Um dieser Dynamisierung ein logisches Rahmenwerk zu liefern, rücken die drei Philosophen statt der Kategorie der Substanz die Kategorie der Relation in den Vordergrund. Wenn die Wirklichkeit sich in Bewegung befindet, dann wird zuerst und vor allem diese Bewegung erfahren, und zwar als Wirkung auf die Erfahrung. Damit verschiebt sich das Verhältnis von Erfahrung und Wirklichkeit von einer zweistelligen zu einer mehrstelligen Relation. 21 Ein solcher mehrstelliger Erfahrungsbegriff lässt sich nicht mehr in Einklang bringen mit der Vorstellung eines für sich bestehenden Subjekts, das auf ein Stückchen Wirklichkeit trifft und sich von diesem ein adäquates Abbild erstellt. Erfahrung ist eine Neu-Gliederung komplexer Verhältnisse, denen die erfahrenden oder handelnden Personen zugleich selbst angehören. Die Tatsache, dass etwas erfahren wird, ist bereits eine Neu-Strukturierung der Realität. Daraus folgt einerseits, dass Wirklichkeit für uns nur perspektivisch zu erfassen ist. Jede Ordnung ist in diesem Sinne ein Konstrukt, nicht willkürlich, aber kontingent. Auch die Zeitfolge von Möglichkeit und Verwirklichung zeigt sich damit als perspektivische Ordnung. Das ist natürlich das Lieblingsthema Bergsons. Die Wirklichkeit, so schreibt er, folgt nicht auf die Möglichkeit, sondern umgekehrt. Reale Potentialitäten beschreibt er als komplexe, bewegliche Verknüpfungen, die wir als Tendenzen zu Entwicklungen denken können. Diese Tendenzen fehlten lange Zeit in den klassischen Formen der Logik. In der Analytischen Philosophie hat man sie inzwischen unter dem Namen der »Dispositionen« 22 entdeckt. Andererseits folgt daraus, dass Erfahrung nun als eine Konfiguration des Wirklichen auf verschiedenen, untereinander zu vermittelnden Ebenen zu denken ist. In diesem Konzept von Erfahrung, das ich »medial« genannt habe, dient die sinnliche Wahrnehmung nicht länger als Übermittlerin von Material. Sie nimmt selbst den Charakter einer inneren Form an. Denn sie integriert verschiedenartige Elemente als wirkende Faktoren und wird damit für die Erfah-

Wesen, Basis, Fundament, Substrat und Subjekt einander nah verwandte und teils austauschbare Konzepte, wenn das auch kontraintuitiv scheint. 21 Mathematisch gesprochen, begeben wir uns damit in den Bereich der Mereologie, der Lehre von den Beziehungen zwischen einem Ganzen und seinen Teilen, die eng verknüpft ist mit der mathematischen Topologie, der Lehre von den Verhältnismäßigkeiten des Ortes. 22 Vgl. dazu Vetter (Hg.) 2013.

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Wahrnehmung als dynamische Basis

rung tatsächlich zu der geforderten dynamischen Basis, die ich im Folgenden als »ästhetische Medialität« bezeichnen möchte, also als Vermittlung durch die sinnliche Wahrnehmung. Cassirer spricht dabei von einem »sinnlichen Gefühlsgrund«. Für diese ästhetische Medialität hat schon Herder eine starke Metapher gewählt: die des Verwebens 23 von Empfindungen. Im Prozess des Verwebens werden physische Wirkungen nicht in sinnliche Empfindungen umgewandelt, zumal gar nicht zu klären ist, wie das vor sich gehen sollte. Vielmehr werden physische Wirkungen miteinander und mit sinnlichen Empfindungen in Beziehung gesetzt. Jetzt geht es nicht mehr darum, zu fragen, was eine sinnliche Empfindung sei und welcher physischen Wirkung sie entspreche, so als ginge es um Substanzen oder um Gegenstände, die in Kausalbeziehungen stehen. Es geht darum, zu fragen, was vor sich geht, wenn sich eine sinnliche Empfindung ereignet. Dabei ist es vor allem das Aufeinandertreffen der verschiedenen Faktoren, das als Veränderung erlebt wird. Eine einzelne Wahrnehmung oder Vorstellung kann auf dieser Ebene gar nicht gedacht werden, so wie man einen einzelnen Gegenstand denken kann. Auch lässt sich die Wahrnehmung nicht analytisch von ihren Eigenschaften trennen; sie ist selbst nichts anderes als eine komplexe Relation von Qualitäten. Versucht man, diese Qualitäten von einander abzutrennen, sie einzeln zu erfassen oder ganz zu neutralisieren, ergibt sich höchstens ein Effekt wie beim Auftrennen eines Gewebes. Man erhält unterschiedlich gefärbte Fäden, aber weder Stoff noch Muster oder Bild. Cassirer nennt diese Bündelung von Qualitäten die Ausdrucksfunktion. Schon in der Ausdrucksfunktion, so meint er, erscheint die Welt uns als geformt. Diese Formen können zwar in sich selbst sehr simpel sein wie ein Laut oder ein Strich, sind aber insofern komplex, als sie in Pluralitäten von Verbindungen stehen können. Dieselbe Überlegung finden wir heute in der physikalischen Analyse von Kristallbildungen (und auch in der Kristall-Metaphorik bei Cassirer selbst): Je komplexer die innere Relationalität eines Elementes ist,

Die Metapher des Webens ist nicht nur mit Tun, sondern auch mit Erkennen verbunden. Tatsächlich stammt gr. epistéme von gr. stemon oder stamen, was den Aufzug der Kettfäden am Webstuhl bezeichnet. Epi-stéme ist dem entsprechend der Ent-Wurf einer bildhaften Ordnung der Welt, analog zum Entwerfen am Webstuhl. Vgl. dazu Harlizius-Klück 2004.

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Wozu Bergson lesen?

desto vielfältiger sind die äußeren Relationen, in die es eingebracht werden kann. Diese Pluralität der Verbindung ist eine notwendige Bedingung für den Repräsentationscharakter von Formen, sowohl von Worten als auch Mustern oder Bildern. Auch Abbildverhältnisse und Ähnlichkeitsbeziehungen beruhen auf übergeordneten Strukturen. Die Art, wie eine Form repräsentiert, ergibt sich aus einer Struktur, die die Präsenz der Form erst möglich macht. Sie erscheint rückblickend so, als sei sie notwendigerweise immer schon da gewesen, was dazu führen kann, sie für ein Apriori zu halten, während in Wahrheit die Repräsentation allein von der Präsenz der Form lebt. Repräsentierende Strukturen haben selbst Inhalts- und Werkcharakter. Sie sind Entwicklung und Veränderung unterworfen. Cassirer nennt sie symbolische Formen. Sie eröffnen die Sinnzusammenhänge, die jeweils den Kontext liefern für die Definition eines Gegenstandes. In diesem Sinn lässt sich sagen, dass eine Ästhetik der inneren Form zur Basis einer neuen Erkenntnistheorie wird. Denn von diesen Sinnzusammenhängen und ihren Strukturen hängt die Möglichkeit gegenständlicher Erkenntnis ab.

7.

Zum Aufbau der Arbeit

Teil I der Untersuchung habe ich unter den Titel gestellt: »Eine neue Philosophie der Erfahrung«. Er enthält die ersten drei Kapitel, in denen ich die Philosophie der Erfahrung vorstelle, wie sie von den drei Denkern jeweils im Rahmen ihres Gesamtwerks entwickelt wird: »Wirklichkeit ist Bewegung« (Bergson), »Das Ereignis der Kreativität« (Whitehead) und »Die lebendige Form« (Cassirer). Die Werke Cassirers, Bergsons und Whiteheads sowie die häufig verwendeten Kritik der reinen Vernunft und Kritik der Urteilskraft Kants werden im Fließtext mit Kürzel und Seitenzahl zitiert (vgl. S. 306–308). Bergson zitiere ich in den jeweils angegebenen deutschen Übersetzungen. Wo es keine gibt, übersetze ich selbst und gebe zugleich das französische Original wieder. In Bezug auf Whitehead habe ich mich entschieden, die englischen Originaltexte zu zitieren, da die deutschen Übersetzungen missverständlich sind. Teil II versucht sich an einer eigenen »Ästhetik der inneren Form«. In den Kapiteln »Die Erfahrung und der Formbegriff« und »Im Zwischen. Das mediale Konzept der inneren Form« stelle ich die 34 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Zum Aufbau der Arbeit

historisch-philosophischen Hintergründe des Denkens der drei Abenteurer des Geistes genauer vor und ordne die wichtigsten Begrifflichkeiten – Erfahrung, Form, Medialität, Intensität – in ein systematisches Bezugsfeld ein. In den beiden letzten Kapiteln »Das dynamische Schema« und »Das Ereignis der Prägnanz« verbinde ich die Errungenschaften, die in Teil I vorgestellt wurden, und entwickle sie weiter im Sinne einer aktuellen, zeitgenössischen Ästhetik der inneren Form, in der Form und Medium nicht länger unversöhnt auseinanderfallen, sondern zu einem offenen, dynamischen Wirkungsganzen zusammengefügt werden.

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Teil I Eine neue Philosophie der Erfahrung

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Kapitel 1 Henri Bergson: Wirklichkeit ist Bewegung Ein Bild entsteht aus der Koordination beherrschter Rhythmen. (Henri Matisse)

1.

Zeit und Werk

Henri-Louis Bergson wurde 1859 in Paris geboren und verbrachte einen Großteil seiner Kindheit in London. In Paris studierte er zunächst vor allem Mathematik und Naturwissenschaften am Lycée Condorcet, wo er 1875 den Prix d’Honneur de Rhétorique, 1877 den Ersten Preis in Mathematik erhielt. Erst 1877 begann er sein Studium der Literatur und Philosophie an der École Normale Supérieure Paris (ENS) und promovierte 1889 an der Sorbonne mit dem Essai sur les données immédiates de la conscience als Hauptthese. Die thèse supplémentaire betrifft den Ortsbegriff bei Aristoteles: ein topologisches Thema, das den relationalen Status des Ortes (topos) vor die allgemeine These von der Metrik des dreidimensionalen Raumes stellt. Zuvor hat Bergson bereits 1886 in der Revue philosophique Théodule Ribots eine Arbeit zur Hypnose veröffentlicht. 1896 verfasste er Matière et mémoire, was zur ersten Professur an der ENS Paris und zur Aufnahme ins Collège de France führte. Die experimentelle Psychologie ist neben der Mathematik eine starke Motivation des jungen Bergson. Günter Pflug beschreibt seine philosophische Situation in Frankreich zwischen dem Positivismus von Auguste Comte in der Zeitschrift La philosophie positive und der antipositivistischen oder »spiritualistischen« Bewegung von Jules Lachelier und Félix Ravaisson, der auch Pierre Janet angehörte. Ribot, Comte und Hippolyte Taine gibt Pflug als positivistische Einflüsse auf den jungen Bergson an, ergänzt durch die deutschen Psychologen Helmholtz, Weber und Fechner und durch den Evolutionismus Herbert Spencers, dessen System of Synthetic Philosophy zwischen 1855 und 1896 erschien. Natürlich ist in diesem Zusammenhang auch der Einfluss Charles Darwins zu nennen, dessen On The Origin of Species by Means of Natural Selection 1859 erschienen ist. Ein Erbe des 38 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Zeit und Werk

Evolutionismus ist, von der Konkretion auszugehen und diese als Formentstehung in der Natur anzusehen. Mit welchen Philosophen sich Bergson selbst intensiver auseinandergesetzt hat, ist oft nicht eindeutig zu erkennen. Herders Ästhetik des Gefühls kann als Verständnishorizont für Bergsons Theorie der Wahrnehmung dienen, aber ein direkter Einfluss Herders auf Bergson lässt sich nicht belegen. Selbst Leibniz wird von Bergson kaum erwähnt, hauptsächlich zum Ende der Schöpferischen Entwicklung. Kant und Hegel behandelt er kritisch, aber flüchtig. Die Ablehnung der Transzendentalphilosophie führt Pflug auf die französische Kantrezeption der Zeit zurück, die Bergson durch Lachelier erfahren hat. 1 Mit Lachelier verbindet ihn auch die Methode der Induktion. Das Freiheitsproblem, das sich Bergson in seinem ersten Hauptwerk stellt, muss vor diesem Hintergrund einer Verknüpfung von Induktion und experimenteller Psychologie verstanden werden. In seinem späteren Leben wurde Bergson viel gelesen und geehrt. 1911 erhielt er die Ehrendoktorwürde in Oxford, 1920 in Cambridge. 1914 wurde er in die Académie française aufgenommen und erhielt 1927 den Nobelpreis. Worms und Soulez erzählen eine Anekdote, nach der Bergsons erster Vortrag in den USA an der Columbia University 1913, »Spiritualité et liberté«, eine solche Menge anzog, dass der Broadway seinen ersten Verkehrsstau erfahren haben soll. 2 Im Ersten Weltkrieg wurde Bergson mit diplomatischen Aufgaben betraut und, durch Vermittlung William James’, mit Woodrow Wilson in Kontakt gebracht, um die USA zum Eintritt in den Krieg zu bewegen. 3 1922 ernannte man ihn für drei Jahre zum Präsidenten der Völkerbundkommission für geistige Zusammenarbeit, der auch Albert Einstein und Marie Curie angehörten: eine Vorläuferorganisation der UNESCO. Ein Ziel des Instituts, das aus der Kommission hervorging, war zum Beispiel die Neufassung von Schulbüchern im Geiste der Völkerverständigung. Doch Bergsons Popularität hat nicht dazu geführt, dass seine Werke überdauerten. Möglicherweise war sie sogar hinderlich, da sie so manches Inhaltliche überdeckt hat, vor allem im deutschen

Vgl. Pflug 1959, S. 7. Worms und Soulez 2002, S. 134. 3 Vgl. dazu den 2014 erschienenen Band der Annales bergsoniennes VII., der sich mit Bergsons Rolle im Ersten Weltkrieg und dem Verhältnis seiner Philosophie zu den Kriegsereignissen befasst. 1 2

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1 · Henri Bergson: Wirklichkeit ist Bewegung

Sprachraum. Im Französischen hat sie eine fast religiöse Gefolgschaft und damit bei der folgenden Generation die Notwendigkeit zur Abgrenzung hervorgerufen. Im angloamerikanischen Bereich wurde Bergson zunächst positiv aufgenommen durch den Pragmatismus, vor allem William James, und die Prozessphilosophie bei Whitehead. Doch diese Strömungen wurden im Lauf des 20. Jahrhunderts von der Analytischen Philosophie fast vollständig aus den Universitäten verdrängt. Russell hat es den ›Analytikern‹ mit seiner verständnislosen Kritik nicht eben nahegelegt, Bergson zu lesen. 4 Erste Annäherungen gibt es hier erst seit kurzem, zum Beispiel in England durch A. R. Lacey. 5 In Deutschland war Georg Simmel ein Hauptvertreter von Bergsons Philosophie. Er bewirkte die deutschen Ausgaben der »Introduction à la métaphysique« und der Évolution créatrice. Cassirers Auseinandersetzung mit Bergson muss im Kontext Simmels gelesen und darum mit großer Vorsicht behandelt werden: Cassirers Bergson ist ein simmelscher und damit ein »lebensphilosophischer« Bergson. »Lebensphilosophie« wird »nur im deutschen Sprachraum zum philosophiegeschichtlichen Fachterminus« 6. Vrhunc bezeichnet ihn als plakative »Etikettierung […] [einer Philosophie], die sich der Analyse und der Argumentation verweigert« 7. 1913 schreibt Max Scheler: »Der Name Bergson durchtönt gegenwärtig in so aufdringlich lauter Weise die Kulturwelt, daß die Eigentümer feinerer Ohren zweifelnd fragen mögen, ob man wohl solchen Philosophen lesen soll.« 8

So snobistisch diese Einschätzung auch anmutet, das Übertönen feinerer Klänge durch das Einordnen in eine Modeströmung hat gewiss nicht dazu beigetragen, dass Bergson ernst genommen wurde. Wo er nicht als Lebensphilosoph gefeiert oder verachtet wird, da liest man ihn in Deutschland vor dem Hintergrund von Kant und Husserl. Dabei wird die Dynamik des Bergsonschen Denkens ignoriert, da es mit den Maßstäben des kritischen Idealismus und der Transzendentalphilosophie gemessen wird. 9 Vgl. Kelly 2010, S. 3. Vgl. Lacey 1989. 6 Weinmann, Martin: »Einleitung.« In: Deleuze 2001, S. 11. 7 Vrhunc 2002, S. 11. 8 Scheler 1972, S. 323. 9 Auch auf Bergsons Verhältnis zur deutschen Philosophie geht der 2014 erschienene Band der Annales bergsoniennes VII. in mehreren Beiträgen ein. 4 5

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Zeit und Werk

Dabei hätte man im Deutschen zum besseren Verständnis Bergsons auf Herders Ästhetik zurückgreifen können, in der die Entstehung von Ordnungsprinzipien als »inneren Prinzipien« (Leibniz) durch das Gefühl beschrieben wird, oder auf Novalis’, Herders und Schellings Begriff der Intensität. Cassirer stellt diese Ideen, zusammen mit der Entelechie bei Leibniz, der Ästhetik von taste, conformation und intuition bei Shaftesbury und Hume und der Einbildungskraft bei Kant, in die Tradition der inneren Form. Doch auch Cassirer selbst sieht Bergson nicht in dieser Tradition und erkennt daher auch nur ganz selten seine eigene Übereinstimmung mit ihm, gerade was das zentrale Motiv der Vermittlung betrifft. Alles ist ihm verstellt durch die Überzeugung, Bergson achte das Wirken des Geistes gering und strebe nach einer Art von Unmittelbarkeit, die ständig in Aberglauben zu versinken droht. Ein intensiver Austausch Bergsons mit Husserl scheint nicht stattgefunden zu haben, obwohl die Phänomenologen Bergson schätzten und er sie. 10 Husserl sendet ihm 1913 ein Exemplar der Ideen I zu, und Bergson äußert sich dazu höflich und anerkennend. 11 In Frankreich hingegen scheint es eine Art Bergson-Überbegeisterung gegeben zu haben, die bei der folgenden Generation von Philosophen gefühlte Notwendigkeit zur Abgrenzung hervorrief; so klingt es zumindest an bei Sartre, dem frühen Merleau-Ponty 12 und Bachelard. 13 Jean Hyppolite meint: »[Z]weifellos um ihn zu verwerfen, aber wir sind von ihm geprägt.« 14 Die ›Wiederentdeckung‹ durch Deleuze führt zwar zu einer deleuzianischen Lesart, wie es für ihn ja Interessanterweise erzählt Ingarden, Husserl habe Bergson erst 1914 auf seinen Hinweis hin gelesen, vgl. Ingarden 1968, S. 116; die Zusendung der Ideen soll aber schon im Sommer 1913 stattgefunden haben laut Kelly 2010, S. 19, Fußnote 13. Erik Oger schließlich berichtet, Husserl habe Bergson bereits 1911 während eines Vortrags Alexander Koyrés in Göttingen kommentiert und die Phänomenologen als konsequente Bergsonianer bezeichnet. Vgl. Oger, Erik: »Einleitung.« In: MG, a. a. O., S. IX-LVII, hier S. XLVII. 11 Bergson schrieb an Husserl: »Je tiens à vous remercier tout de suite pour l’aimable envoi de votre très important ouvreage ›Ideen zu einer reinen Phanomenologie.‹ […] Laissez-moi, en attendant, vous dire en quelle haute estime je tiens vos travaux. Nos vues diffèrent peut-être sur certains points; mais il y en a plus d’un aussi sur lequel elles s’accorderaient facilement ensemble.« Kelly 2010, S. 19, Fußnote 13, zitiert nach R. Ji-Soek: Une contribution à la recherche de la pensée d’Henri Bergson. Dissertation, Universität Charles de Gaulle, Lille III, 2000. S. 358. 12 Vgl. dazu Rodrigo 2004. 13 Vgl. MG, S. XL f. 14 Hyppolite, Jean: »Bergson et Nous.« Zitiert nach: MG, S. XXXIX. 10

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1 · Henri Bergson: Wirklichkeit ist Bewegung

auch zum Prinzip der philosophischen Arbeit gehört, doch sie hat endlich eine Bergson-Renaissance mit herbeigeführt 15, wie die eingangs bereits erwähnten Neuerscheinungen seiner Werke und die ausführlichen Annales bergsoniennes bei den Presses Universitaires de France beweisen. Und nun ist es auch für uns »an der Zeit, Bergson wieder zu lesen.« 16

2.

Zum Essai sur les données immédiates de la conscience: Die Logik der Dynamik

2.1. Präzision durch Intensität: Die relationale Logik Die Kritik an einer deterministischen ›Freiheits‹-Theorie, die Bergson im Essai durchführt, ist psychologisch gesehen eine Kritik an der Assoziationspsychologie, die sich aus dem Sensualismus und der Assoziationslehre Humes entwickelt hat. Diese Kritik hat eine erkenntnistheoretische Basis in der Neudeutung der stoischen Philosophie, der Bergson die Ursprünge seiner relationalen Logik verdankt: »Das Problem der Freiheit ist […] für die modernen Menschen […] dasselbe gewesen, was für die Alten die Sophismen der eleatischen Schule waren, und wie diese Sophismen selbst hat es seinen Ursprung in der gleichen Illusion: in der Vermengung von Sukzession und Simultaneität, Dauer und Ausdehnung, Quantität und Qualität.« (ZF 177)

Mit der Psychometrie bei Helmholtz und Fechner setzt sich Bergson dabei insofern kritisch auseinander, als die Intensität psychischer Zustände für sie eine messbare, eine quantitative Größe darstellt. Damit schließt sie die Veränderung der Qualität aus, die für Bergson und die Stoiker eine echte Verbindung zwischen Wirklichkeit und Erfahrung ausmacht. 17 Die Kritik an der Assoziationspsychologie geht in dieselbe Rich-

Vgl. dazu den Band Bergson, Deleuze, la phénoménologie. Annales bergsoniennes II., Worms/Marion 2004. 16 Vrhunc 2002, S. 11. 17 Mit der metaphysischen Frage nach Freiheit und Determination setzt Bergson sich auch mit dem Determinismus Hippolyte Taines auseinander, der sich auf Spinoza und Marc Aurel beruft. Der absolute Determinismus durch die Allgegenwart und Wirkung Gottes wird dabei von Bergson nicht übernommen. Der Kosmos ist für ihn auch kein einheitlicher Körper wie bei Chrysipp oder Seneca. 15

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Zum Essai sur les données immédiates de la conscience

tung wie die an der Psychometrie. Die Assoziationen, die die Vorstellungen miteinander verknüpfen sollen, werden mit Beziehungen der Ähnlichkeit verglichen und so kausal erklärt. Sowohl diese Ähnlichkeitsbeziehungen als auch die Quantifizierungen der Psychometrie verwandeln intensive in extensive Relationen, verwechseln also, wie im obigen Zitat, Qualität mit Quantität. Qualität aber bedeutet Sukzession und Dauer, Quantität hingegen Ausdehnung und Simultaneität. Es geht um eine Analyse logischer Kategorien und ihrer Anwendung. Wo liegt das Problem dieser Vermischung? Die Konsequenzen sind, kurz gesagt, dass Ereignisse wie Gegenstände behandelt werden. Das führt dazu, dass ihre Verknüpfungen untereinander nur noch äußerlich gedacht werden können, also nicht von ihren inneren Gesetzmäßigkeiten beeinflusst. Während dabei einerseits viele Verbindungen der psychischen Ereignisse untereinander gar nicht reflektiert werden, geraten wir andererseits in Erklärungsnot für die Arten von Verbindungen, die wir fälschlicherweise annehmen. So dient das Gehirn letztlich als logische Endlagerstätte, als materieller Objektträger für die kausal determinierte Verkettung der vereinzelten Eindrücke. Daraus folgt wiederum, dass auch das Handeln gedacht wird als Verkettung von Einzelhandlungen. Handeln wird ein Umsetzen vorgefasster Möglichkeiten, eine Wahl zwischen einzelnen Motiven, die wir nacheinander erwägen oder nebeneinander betrachten können. Wo eine solche, am dreidimensionalen Raum und der Gegenständlichkeit orientierte Zerteilung des emotionalen Lebens erst einmal vollzogen ist, lässt sich kein Rückweg mehr finden. Die Wirklichkeit spiegelt sich dann nur noch in ihren Fragmenten und wird künstlich durch die externen Relationen von denotativer Logik, Abbild und Modell wieder zusammengesetzt. »Mit andern Worten, die Sprache zwingt uns, unter unsern Vorstellungen dieselben scharfen und genauen Unterscheidungen, dieselbe Diskontinuität herzustellen wie zwischen den materiellen Gegenständen.« (ZF 7)

Wenn Bergson hier von Formung spricht, so geht es um die Unterwerfung unter einen subjektiv-mechanischen Prozess. Diese Art von Formung ist eine Analogie zur denotativen Sprache. Eigentlich handelt es sich bei dieser künstlichen Homogenisierung zunächst um eine De-Formation, um eine Entleerung der »echten« Formen der Erfahrung, die wie formneutrales Material behandelt werden. Bergson nennt das Abstraktion und beschreibt es als Merkmal der stati43 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

1 · Henri Bergson: Wirklichkeit ist Bewegung

schen Systeme der Philosophie. In Denken und schöpferisches Werden formuliert er die Kritik an diesen Systemen als Mangel an Präzision. »Die philosophischen Systeme sind nicht auf die Wirklichkeit, in der wir leben, zugeschnitten. Sie sind zu weit für sie. […] Ein richtiges System ist eben eine Gesamtheit von so abstrakten und infolgedessen unbestimmten Begriffen, daß man hierin neben dem Wirklichen alles Mögliche und selbst Unmögliches unterbringen kann.« (DSW 21)

Die fehlende Präzision zu erreichen, bemüht er sich durch Konzentration auf die durée, »eine Kontinuität, die weder Einheit noch Vielheit ist« (DSW 24), sondern eine »Kontinuität des Übergangs, das ist die Veränderung selbst. Diese Veränderung ist unteilbar, sie ist sogar substantiell.« (DSW 27) Die gewöhnliche Logik sieht »[i]n einer neuen Form oder einer neuen Qualität […] nur eine Neugruppierung alter Elemente, niemals etwas absolut Neues. Jede Vielheit löst sich für sie in eine bestimmte Anzahl von Einheiten auf. Sie erkennt nicht die Idee einer unbestimmten Vielheit oder gar einer ungeteilten Vielheit an, die rein intensiver oder qualitativer Art ist, die eine unbegrenzt wachsende Zahl von Elementen in sich einschließt in demselben Maße, wie in der Welt die neuen Gesichtspunkte auftauchen, von denen man aus sie betrachten kann.« (DSW 38)

In den klassischen Typen der Logik ist ein Übergang diskontinuierlich. Meist bedeutet er einen Kategorienwechsel. Kontinuität dagegen heißt Stetigkeit und Selbigkeit, die in der klassischen Logik durch Substantialität repräsentiert wird. Das bedeutet, dass die Kategorie der Substanz im Zentrum steht, also die des Unveränderlichen, Wesenhaften. Die Kategorie der Relation dagegen beschränkt sich auf Relationen zwischen klar abgegrenzten Größen, in erster Linie die zwischen den Substanzen und ihren Akzidenzien. Die wichtigste Relation ist dabei meist die urteilslogische Funktion von Identität und Differenz, da sie das höchste Maß an Klarheit und Eindeutigkeit erzielen kann. Dies wirkt sich vor allem auf die Beschreibung von Veränderungen aus, die Veränderungen von Akzidenzien sind und damit in äußerlichen Beziehungen zu den Substanzen stehen. Es gibt also sozusagen keine »inneren« Veränderungen an der Substanz, zu deren Wesen ja gerade das Stetige und Selbe gehört. Darum werden die Veränderungen in mechanischen Modellen von Kausalität erfasst, die eigentlich auf Identitäts- und Inhärenzbeziehungen beruhen. Bergson spricht von dem 44 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Zum Essai sur les données immédiates de la conscience

»von vorn herein bestehende[n] Bedürfnis […], eine Beziehung logischer Notwendigkeit zwischen der Ursache und ihrer Wirkung herzustellen, und überall wird man sehen, wie sich dies Bedürfnis in einer Tendenz äußert, die Sukzessionsbeziehungen in Inhärenzbeziehungen zu verwandeln, die Tätigkeit der Dauer zu beseitigen und die erscheinende Kausalität durch eine fundamentale Identität zu ersetzen.« (ZF 155)

Worin besteht diese Tätigkeit (energeia) der Dauer? Offenbar erreicht sie eine Vermittlung von Elementen, die nicht identisch sind und dennoch verbunden. Bergson spricht von der »erscheinende[n] Kausalität«. Erscheinung, aisthesis, ist ein Vorgang, oder viele Vorgänge, die durch die »Tätigkeit« der Dauer in Verbindung gehalten werden, so dass sie als Kausalität, als Wirkung untereinander in Erscheinung treten. Diese Tätigkeit ist also eine dynamische, das heißt, eine Verknüpfung von Elementen, die selbst beweglich sind und sich verändern. Dynamis heißt Bewegung. Bewegung ist bei Bergson nicht länger nur Attribut eines substantiellen Trägers, sondern übernimmt selbst einige Funktionen, die wir traditionell der Substanz beilegen, so dass Bergson auch von der »Substantialität der Veränderung« spricht. (DSW 169). »Es gibt eine äußere Wirklichkeit, die dennoch unmittelbar unserem Geist gegeben ist. […] Diese Wirklichkeit ist reine Bewegung.« (EM 211) Andererseits bedeutet Dynamik auch Möglichkeit. Dynamis ist bei Aristoteles nämlich das Prinzip der Bewegung 18, kinesis. Diese aristotelische Unterscheidung einer passiven, möglichen von der aktiven, verwirklichenden Kraft, die Aristoteles energeia nennt, wird von Bergson nicht übernommen. Er schließt sich keiner der beiden Interpretationslinien von energeia als potentia an, die sich durch Mittelalter und Frühneuzeit bis zur Aufklärung ziehen: weder der Interpretation als zu verwirklichende Möglichkeit, die passiv in den Dingen ruht, noch der Interpretation als subjektives Vermögen. In beiden dieser klassischen Traditionslinien würden die Qualitäten als Produkt von Kräften angesehen werden. Das aber ist bei Bergson nicht der Fall. Seine logischen Verknüpfungen von Qualität und Relation sind vielfältiger. Ist die Qualität ein Produkt der Kraft, fallen statischer Zustand (Qualität) und dynamisches Ereignis (das Produzieren, der Prozess) auseinander, und gerade das will er vermeiden, da sein wichtigstes Anliegen darin besteht, zu zeigen, dass Qua18

Gr. archê kinêseôs, Met. 5, 12, 1019 a 15.

45 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

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litäten nichts anderes als Prozesse sind. Dynamis denkt Bergson darum sowohl als Zustand als auch als Ereignis, aber eben als in sich dynamischen Zustand, der in sich die Konstellation zur Veränderung enthält und sich bereits im Ansatz zur Bewegung befindet. Dabei treffen nicht unbestimmte Materie und bestimmende Form aufeinander, sondern Konstellationen bereits geformter Stofflichkeit. Diese Konstellationen sind immanent gegliederte Strukturen. Dynamis bringt sie in einen Zusammenhang, der ihre Wirkung in einen neuen Prozess verschmilzt. Das ist der eigentliche Sinn der eingangs zitierten Behauptung, die Wirklichkeit sei reine Bewegung. Es gibt nichts Unbewegliches: diese Spannung, die in jedem Zustand liegt, nennt Bergson auch Tendenz, ein Ausdruck, der über Leibniz direkt auf die stoischen Ursprünge des Intensitätsbegriffes zurückgeführt werden kann. Darum ist die dynamis als Zustand oder Möglichkeit auch nicht real, sondern nur perspektivisch zu trennen von dynamis als Ereignis oder Wirklichkeit. Eine Logik der Dynamik kommt darum nicht ohne das Einbeziehen der Erfahrungsperspektive aus. Und so kommen wir zum Motiv der durée.

2.2. Durée 2.2.1. Schöpferisches Werden: Aktivität und Passivität Mit Vrhunc 19 bin ich der Meinung, dass es besser ist, den Begriff der durée nicht durch die deutsche ›Dauer‹ zu ersetzen, denn diese legt strukturelle Zuständlichkeit nahe: etwas dauert an, d. h. es bleibt sich selbst gleich. Im Französischen aber zielt der Begriff ja gerade auf die Substantialität der Veränderung, darauf, das Kontinuum aus seiner Statik zu lösen. Die Basis, platonisch ousía, soll der Wirklichkeit eine materiale Grundlage liefern. Dazu können wir eine zentrale These der Prozessphilosophie formulieren: nämlich, dass diese Grundlage nicht in materialer Unveränderlichkeit, sondern gerade in materialer Veränderung liegt. Auch schwingt im Französischen die Härte mit, le dure, die im Deutschen fehlt, und die Passivität des englischen enduring, dessen Doppelsinn wir in Whiteheads enduring objects wiederfinden. Enduring ist zugleich ein Prozess des Widerfahrens und Ertragens wie 19

Vrhunc 2002, S. 15, Fußnote 2.

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auch ein Adjektiv, das auf jemanden angewendet wird, der zu ertragen bereit ist, der duldet. In Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung steht der »Dulder«, der homerische Odysseus, für die passive Erfahrungsleistung des entstehenden Individuums. Die Veränderbarkeit, die mit Passivität assoziiert wird, also das Geformt-Werden, wird hier in einer speziellen Weise gedacht: Passivität ist keine neutrale Stofflichkeit wie der Sand, der sich in Kuchenformen pressen lässt, diesen gegenüber aber wesenhaft gleichgültig bleibt und stets in neue Formen gebracht werden kann, ohne sich dadurch zu verändern. Das Widerfahren beruht vielmehr auf einem Passivitätsbegriff wie dem Schillers, der fordert, die Passivität zu steigern, also mehr Eindrücke lebendiger und wirklicher aufzunehmen, um dann die eigene aktive Leistung dadurch mit gestalten zu lassen. Wenn wir das als die passive Seite der durée und des enduring objects ansehen, dann ist die Substantialität nicht mehr nur aktiv, was bedeuten würde, dass sie selbst etwas anderes formt. Aber sie wird auch nicht bloß passiv, obwohl sie reine Veränderung, reines Geformtwerden sein soll. Die Formentstehung wird schon hier als medial gedacht, im Sinne einer Vermittlung, einer Wechselwirkung zwischen aktivem Formen und passivem Geformt-Werden, SichFormen-Lassen. Später spricht Bergson vom »schöpferischen Werden«: Schaffen ist aktiv, Werden passiv, und beides kann nur vermittelt geschehen. Durée ist begrifflich angelehnt an den stoischen Kosmos und entwickelt aus Begriffen stoischer Logik, nämlich aus der »kontinuierlichen«, »intensiven« Einheit einer »vollständigen gegenseitigen Durchdringung«. Calcidius übersetzt diese von Chrysipp beschriebene Einheit in den Begriff concretio: »Konkretion« als das individuelle Resultat eines Prozesses, dessen Elemente einander vollständig durchdringen, ohne dabei ihre jeweiligen Qualitäten zu verlieren. 20 Diese »gegenseitige Durchdringung« schließt Wechselwirkung ein, in diesem Sinne ist sie selbst schon medial. Bergsons durée meint also eine kontinuierliche, intensive gegenseitige Durchdringung. Was soll das bedeuten? Erinnern wir uns kurz, dass Bergsons Essai zugleich mit seiner thèse supplémentaire erschienen ist, der zweiten Untersuchung, die für die Erlangung des Doktorgrades notwendig war. In dieser geht es um den Ortsbegriff bei Aristoteles und damit um den Ursprung der 20

Wildberger 2006, S. 8.

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mathematischen Topologie, wie sie später durch Leibniz, Gauß und Listing entwickelt wird. Bernhard Riemann prägt dann die Richtung der mengentheoretischen Topologie, und aus diesem Kontext stammen Bergsons Begriffe der quantitativen und qualitativen Mannigfaltigkeiten. Die Begriffe »kontinuierlich«, »intensiv« und »wechselseitige Durchdringung« sind hier der qualitativen Mannigfaltigkeit zuzuordnen. 2.2.2. Die topologischen Mannigfaltigkeiten Riemann wählt den Begriff der Mannigfaltigkeit, um die möglichen Beziehungen zwischen Flächen auszudrücken 21, auf die sich wiederum mit Bezug auf die Gauß’sche Flächentheorie 22 alle geometrisch relevanten Relationen zurückführen lassen. 23 In der Riemann’schen Geometrie entstehen die Möglichkeiten zur Messung, zur Bestimmung quantitativer Größen, aus intensiven topologischen Relationen. Mit »intensiven Relationen« sind hier solche gemeint, die sich aus qualitativen Eigenschaften ergeben und nicht aus äußeren Verhältnissen zu etwas anderem. Im Fall der Topologie geht es dabei um Eigenschaften der Gestalt, der Fläche und der Lage. Die Metrisierung, der Übergang zu messbaren Größen, ist ein Prozess; hier sollen also intensive Relationen als Basis für extensive dienen. Riemann versteht den Raum nicht als vollen oder leeren, dreidimensionalen Newton-Raum, sondern als relationale Invariante von Transformationen. Der dreidimensionale Raum wird erst berechenbar auf Grund dieser topologischen Transformationen, deren Regeln sich wiederum durch verschiedene Typen von Mannigfaltigkeiten erschließen. Riemann »erkannte, dass Metriken keine notwendige Eigenschaft von Räumen sind, dass Räume vielmehr verschiedener Metriken fähig sind und dass das Raumhafte selbst so etwas wie ein ›topologisches Substratum‹ ist.« 24

Bei Riemann sind Mannigfaltigkeiten also Modalitäten der Berechnung von Räumen. Bergson weitet diese Funktion aus: Er nutzt sie als Modalitäten zur Analyse jeglicher Art von Formentstehungen.

21 22 23 24

Vgl. Riemann 1990. Vgl. Gauß 1894. Bornschlegell 2007, S. 167. Heuser 2007, S. 197.

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Für ihn ist die Formentstehung selbst ein Substrat (hypokeimenon): die dynamische Basis, die Substantialität der Veränderung. Riemann unterscheidet zwischen diskreten Vielheiten, die selbst Träger ihrer Metrik sind, und kontinuierlichen Vielheiten, die eine Maßeinheit außerhalb ihrer selbst benötigen. Die Unterscheidung geht auf die stoische Naturphilosophie zurück, wobei der Bezug auf die »Maßeinheit außerhalb ihrer selbst« sich offensichtlich der mathematischen Integral- und Differentialanalyse verdankt (vgl. Kap. 5). Denn bei den Stoikern ist die kontinuierliche Vielheit keine messbare Größe. Die diskrete Vielheit hingegen ist eine Verknüpfung einzelner Einheiten, die jedoch in einem funktionalen Zusammenhang stehen. Seneca gibt als Beispiel die coniunctio intermissa, die räumlich-funktionale Verknüpfung, wie sie etwa in einer Armee vorliegt 25: eine Mannigfaltigkeit, deren Einheiten einzeln und klar definiert sind, aber auf Grund ihrer regelhaften Verknüpfung eine gemeinsame Wirkung ausüben. Eine diskrete Vielheit ist die Zahlenreihe. Sie ordnet sich ihrer eigenen Metrik zu Folge, das heißt, dass ihre Metrik genau in der Anzahl ihrer Einheiten und der Art der Relation zwischen diesen Einheiten besteht. Die Drei folgt auf die Zwei auf Grund des Verhältnisses zwischen Eins und Zwei, aus dem notwendigerweise ein Drittes folgt und so fort. Bergson, Cassirer und Husserl beschreiben alle die Reihe der natürlichen Zahlen als »diskrete Mannigfaltigkeit«. 2.2.3. Der Raum Im Essai beginnt Bergson die Diskussion der durée mit dem Hinweis, dass die Zahlen üblicherweise als eine Art Synthese von Einheit und Mannigfaltigkeit verstanden würden und dass diese Unschärfe in der Definition darauf beruhe, dass sie eben eine diskrete Mannigfaltigkeit seien, also eine solche, die Trägerin der Metrik ihrer Einheiten ist. Als diskrete, d. h. aktuelle, numerische, unstetige Vielheit bezeichnet Bergson auch den Raum. Eine solche besteht aus voneinander getrennten einzelnen Elementen, die einander homogen sind. Nur diese Homogenität verbindet sie untereinander. Diese Homogenität ist allerdings keine qualitative »Gleichartigkeit«, als seien die Elemente alle von derselben »Beschaffenheit«: es ist eine Gleichartigkeit der Präsentationsform. 25

Wildberger 2006, S. 10.

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Das heißt, es ist eine Folge der Art der Vermittlung, denn diese Elemente sind nicht »unmittelbar gegeben«. Die Topologie lehrt uns, dass jede Art von Metrik einer Kombination von Transformationen entspringt. Das heißt, sie ist das Ergebnis einer Reihe von Prozessen der Aktualisierung. Deleuze nennt in diesem Sinne das Objektive aktuell. 26 Im »leeren homogenen Medium« (ZF 73) des Raumes wird das Aktuelle, das Objektive, nebeneinandergestellt. Das bedeutet auch, dass es als Objektives in diesem homogenen Medium entsteht. Die Form des Objektiven entspringt der Übertragung in das objektive Schema einer realitas, die in sich durch simultan darstellbare Kausalbeziehungen verknüpft ist. Dem entsprechend ist der Grundtenor von Bergsons Kritik die Verallgemeinerung und Dominanz dieses objektiven Schemas, das auch dort zum Medium der Aktualisierung wird, wo es nicht hingehört. Der Raum wird im Essai mit Bezug auf Kants Beschreibung der Sinnlichkeit definiert als »das, was uns gestattet, mehrere identische und simultane Empfindungen voneinander zu unterscheiden« (ZF 73 f.), und das gibt uns ein »anderes Differenzierungsprinzip als das der qualitativen Differenzierung, und mithin eine Realität ohne Qualität.« (ZF 74) Es ist die Anschaulichkeit, die nun zum Zwecke des Überblickes fordert, die Zahlenreihe als Sukzession und die Raumelemente als Nebeneinander zu betrachten, sie also durch extensive Relationen zu verknüpfen. Daraus folgt Bergsons Kritik an der traditionellen metaphysischen Konzeption der Zeit: Sie würde als diskrete Vielheit betrachtet, weil sie unter der Forderung der Anschaulichkeit vorgestellt wird als eine Folge von Momenten, die einander äußerlich bleiben wie die Zahlen und die Dimensionen des Raumes. Die Formen des Objektiven sind untereinander durch externe Relationen verbunden, die zugleich extensional sind im Sinne der Extension des klar definierten Begriffes. Darin liegt Bergsons Verknüpfung der Räumlichkeit mit der Begrifflichkeit im Sinne der Denotation: Beide dienen zur eindeutigen Abgrenzung von Objekten bzw. Inhalten. Die Form des Objekts und die Form des Begriffs sind diskrete und wohldefinierte Einheiten. In Georg Simmels Philosophie des Geldes finden wir ein schön anschauliches Beispiel für die Funktion des homogenen Mediums: 26

Deleuze 2001, S. 57.

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eine Verknüpfung dieser extensiven Relationen zwischen diskreten und wohldefinierten Einheiten, die Objekt und Begriff kennzeichnen, mit der Tauschbeziehung, die den Tauschwert ergibt. Das Geld betrifft eine ›reine Setzung‹, entworfen vor dem Hintergrund der Geltungs- und Wertphilosophie im Neukantianismus. Die Geltung des Geldes aber verdankt sich dem Prozess des Tauschgeschehens, der Zirkulation. Prozess und Setzung, so steril und qualitätslos sie auch abstrahiert sind als Zirkulation und Wert, ergeben dennoch den Effekt einer Wechselwirkung und somit eine homogene Medialität des Geldes. Raumpositionen folgen demselben Prinzip: Ihre Setzungen beruhen auf der Möglichkeit der Zirkulation, des Tauschwertes. Nebeneinander und Nacheinander sind nichts anderes als virtuelle Tauschbeziehungen auf der Ebene des Objekts. 2.2.4. Die intensive Mannigfaltigkeit Das homogene Medium des Raumes weist also die Modalität extensionaler Relationen auf, und die durée ist im Gegensatz dazu durch die Modalität intensiver Relationen geprägt. Der Gegensatz ist im Grunde einfach. Wenn psychische Zustände intensiv sind, dann sind ihre Qualitäten untereinander verbunden, und die Auflösung dieser Verbindung würde das Ganze verändern. Cassirer spricht bei solchen Einheiten von einer »immanenten Gliederung«. Das führt dazu, dass die verschiedenen Zustände nicht nur jeweils in sich gegliedert sind, sondern dass sie auch zu einander in intensiven Verbindungen stehen und die Art dieser Verbindung durch die innere Relation der Elemente der Verbindung gestaltet wird. Homogene Elemente können alle auf dieselbe Weise miteinander verbunden werden, wie sich Würfel stapeln lassen. Heterogene Elemente können nur auf die Weise verbunden werden, die sich zwischen ihnen auf Grund ihrer jeweiligen Qualitäten ergibt. Das Zusammentreffen dieser Qualitäten ergibt eine neue, eigene Qualität ihrer Beziehung. Damit ist ihr Verhältnis weder im Voraus bestimmbar, noch lässt es sich normieren oder systematisieren. Intensive Zustände können nur gemeinsam auftreten, abgegrenzt durch Übergänge und Kontraste, für die beide Elemente konstitutiv sind. Das heißt, es gibt für sie kein getrenntes Nebeneinander. Die Übergänge sind stetig, kontinuierlich: das heißt, es gibt auch kein klar getrenntes Nacheinander. Eher wäre von »Miteinander« und »Ineinander« zu sprechen, um ein gemeinsames Auftreten zu be51 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

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schreiben, das durchaus Unterscheidung ermöglicht, aber nur innerhalb eines gemeinsamen Ganzen. Die Wirkung, die sich in und zwischen den psychischen Zuständen vollzieht, hat keine externe Ursache. Eine Qualität ist für die Wahrnehmung Ursache und Wirkung zugleich. Ein Zustand, der Ursache und Wirkung zugleich ist, also sowohl Zustand als auch Ereignis, wird von Whitehead später als causa sui bezeichnet. Natürlich geht es dabei nicht um eine unabhängige Substanz im spinozanischen Sinne. Was ›objektiv‹ gesprochen ein Ereignis der Veränderung genannt werden kann, ist ›subjektiv‹, für die Erfahrung ein Ereignis des Hervortretens, bei dem zugleich die gerade neu wahrgenommene Qualität und ihre Beziehung auf ein Ganzes erfasst wird. Für die Wahrnehmung ist die Qualität selbst die Ursache der qualitativen Wahrnehmung. Qualität ist Wahrnehmung des eigenen Zustandes. Aber auf das lebendige Ganze der Erfahrung bezogen, ist die Qualität der Wahrnehmung relational entstanden aus der immanenten Wechselwirkung der durée. Die intensive Relationalität der durée zeichnet sich durch Spannung, Kohärenz, und Eigenbewegung aus. Schon bei den Stoikern war die letztere das Merkmal des Lebendigen. Die Spannung steht für die grundsätzliche dynamische Tendenz zur Bewegung, die Kohärenz für die Verbindung durch inneren Zusammenhang. Darüber hinaus ist das stoische lebendige Individuum durch die Heterogenität seiner Teile definiert. Heteron bedeutet in diesem Zusammenhang so viel wie »weder dasselbe noch etwas anders Geartetes«. Die einzelnen Elemente des lebendigen Individuums besitzen eine relative Eigenständigkeit als Organe in einem Organismus: sie haben ihre eigenen Funktionen, können aber nicht außerhalb des gegliederten Ganzen weiter existieren. Die qualitativen Zustände, die Bergson in der durée beschreibt, haben ebenfalls eine solche relative Eigenständigkeit. Sie sind selbst Formen, nicht nur Übergänge oder Eigenschaften. Sie sind mit dem Ganzen der durée nicht identisch. In diesem Sinne ist die durée keine eigene kategoriale Form, sondern besteht in der Relationalität der Formen. Qualität ist nicht messbar, weil sie kein »Außen« hat, das es ermöglichen würde, sie an etwas Gleichartigem zu messen. Sie besteht darin, dass und wie sie sich auswirkt. Aber sie erschöpft sich nicht in der Wirkung alleine, sonst wäre sie keine Form. Denken wir uns eine einzige Qualität, so müssten wir uns eine ganzheitliche Präsenz denken, ein reines Dass, einen einzigen ungeteilten Zustand, der alles 52 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

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einnimmt. Das aber ist nicht möglich; wir könnten diese einzige Qualität von nichts Anderem unterscheiden. Qualität ohne Relation ist kein »Wie«, sondern ein bloßes »Dass« und damit ausdruckslos. Das Verhältnis zum Ausdruck, der Übergang zu möglicher Artikulation und Beschreibung, liegt schon in der inneren Relationalität der Qualitäten selbst. Wahrnehmung ist in sich strukturiert, und nur das macht es überhaupt möglich, sie zu vermitteln.

2.3. Das Problem der »unmittelbaren Gegebenheit« 2.3.1. Relationale Qualität Wie aber sind dann die »Unmittelbarkeit« und »Gegebenheit« in Bergsons données immédiates zu verstehen? Schließlich waren es diese unmittelbaren Gegebenheiten, die zu scharfer Kritik an Bergsons Denken geführt haben, gerade im deutschen Sprachraum und gerade auch durch Cassirer, weil die Vermittlung ein zentrales Motiv des Deutschen Idealismus und der Transzendentalphilosophie ist. Der Schlüssel liegt in dem Zusatz »de la conscience«, der eine reflexive, mediale Gegebenheit ausdrückt statt einer passiven. Es handelt sich um dem Bewusstsein Gegebenes ebenso wie um Gegebenheiten des Bewusstseins. 27 Der qualitative Zustand, in dem ich mich befinde, ist ein Zustand für mich, donné à moi, und zugleich ein Zustand von mir, dessen ich mir bewusst werde: un état de la conscience. Unmittelbar gegeben sind die Zustände des Bewusstseins darum, weil das Bewusstsein selbst nichts anderes ist als sie. Es besteht darin, sich zu dem Kontinuum seiner Zustände zu verhalten. Diese komplexe Relation aber, die darin besteht, dass ich meine Zustände kontinuierlich erlebe und mich zugleich – nicht etwa daneben oder danach – auch zu ihnen verhalte, ist eine intensive Relation, sie ist die Grundlage aller Unterscheidungen, die ich treffen kann, und lässt sich in keiner Weise von etwas anderem ableiten. Ich bin immer schon in der Bewegung und in diesem komplexen Verhältnis, ich lebe ›darin‹ – und schon zeigt sich, wie unzulänglich die Raummetapher dieses ›darin‹ ist. Mein Leben besteht darin: das ist das intensive ›darin‹, nicht das räumliche. In Bezug auf Leibniz nennt Cassirer das Bewusstsein den »Aus27

Vgl. dazu auch Worms 2010, S. 247.

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druck des Vielen im Einen« (FF 44), was sowohl bedeutet, dass das Viele im Einen enthalten ist, als auch, dass es darin seinen Ausdruck findet. Genau diesen Ausdrucksbegriff werden wir auch bei Bergson wiederfinden, wenn es um die Frage geht, wie wir die Qualitäten unseres Bewusstseins für uns selbst interpretieren und sie sprachlich, bildlich, künstlerisch, aber auch einfach in der Wahrnehmung unser selbst zum Ausdruck bringen. Denn ›in‹ dieser lebendigen Beziehung bin ich selbst aktiv, beweglich und tätig. Meine Aufmerksamkeit kann von mir gerichtet, intensiviert werden, ich kann mich gezielt organisieren. »Die Aufmerksamkeit ist ein Erwarten, und es gibt kein Bewußtsein ohne eine gewisse Aufmerksamkeit auf das Leben.« (SEN 5) Aufmerksamkeit ist Konzentration, gesteigertes Empfinden, und Ausrichtung auf etwas. Sinnliche Wahrnehmung wird »durch die Aufmerksamkeit strukturiert und als Aufmerksamkeit verfasst« 28. Ganz ohne meine eigene Beteiligung ist auch meinem Bewusstsein nichts »gegeben«. Aber meine Aufmerksamkeit ist zugleich auch immer schon Re-Aktion. Darum ist hier der klassisch mediale Ausdruck der Wechselwirkung so passend. Meine Tätigkeit, meine Ausrichtung auf die Welt und das, was mir widerfährt und auf mich wirkt, sind Faktoren, die sich gegenseitig formen und in der Qualität meiner Erfahrung zum Ausdruck kommen. Es wäre also verfälschend, Bergsons Kritik an sprachlichen und begrifflichen Formen so zu lesen, dass die qualitativen Zustände ganz in ihrem So-Sein aufgingen. Im Gegenteil: das So-Sein der Qualitäten hat, genau wie bei Cassirer, durch seine immanente Relationalität immer schon eine virtuelle Ausdrucksform, die sich »kristallisiert« oder »entfaltet« 29, wenn sie sich zum sprachlichen oder bildhaften Ausdruck differenziert. Für falsch hält Bergson hingegen die Behauptung, eine Qualität könne als Ding erfasst und sprachlich oder bildhaft reproduziert werden, oder es bestünde eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen den qualitativen Formen als Zuständen und ihren Erscheinungen im sprach-

Thums 2008, S. 11, vgl. auch Kapitel 1: »Selbstbildungen: Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und Diätetik.« Ebd., S. 33–136. 29 Die Kristallisation, das Entfalten von Stoff oder Blüte (vgl. Deleuze’ Falte) und natürlich das organische Wachsen, Aufblühen etc. sind topologische Metaphern, die wir immer wieder in diesen Kontexten finden, Bilder für den Formenwandel, der messbare Gesetzmäßigkeit aus den ihm eigenen Qualitäten entwickelt. 28

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lichen oder bildhaften Ausdruck. Vielmehr besteht auch zwischen diesen wieder eine intensive Relation oder ein ›Wirkzusammenhang‹. 2.3.2. Die Immanenz des Kontinuums Für Bergson ist also das Kontinuum, anders als z. B. für William James, keine apriorische Grundlage. Die »dynamische Basis« ist eben kein Apriori, dazu fehlt ihr die analytische Unabhängigkeit. James ist der Meinung, dass wir die Diskontinuität der Wahrnehmung als Abweichung von der Kontinuität des Fließens erfassen, nicht aber dieses selbst. Als »Funktion« 30 hat James’ Bewusstsein eine kategoriale Form. Roman Ingarden fordert eine solche kategoriale Form auch für die durée, wenn er zweifelnd fragt, ob die données immédiates »wirklich […] von jeder ›Form‹, und insbesondere von jeder kategorialen Form frei« 31 seien? Husserl dagegen sucht Ingarden von dieser Lesart Bergsons abzubringen und weist ihn darauf hin: »Es gibt da einen teuflischen Zirkel: die ursprünglichen zeitkonstituierenden Erlebnisse sind selbst wiederum in der Zeit.« 32 Dieser Zirkel beruht auf der Architektonik des Bewusstseins, das auch die »ursprünglichen zeitkonstituierenden« Erlebnisse als Erlebnisse in eine noematische Ordnung bringen muss. Bergsons Pointe ist dagegen die Realität des Kontinuums. Das Kontinuum als kategoriale Form zu verstehen, würde eine Abstraktionsleistung des Bewusstseins bedeuten, das sich selbst als ein dauerhaftes »Ding« missdeutet. Bergsons Bewusstsein ist keine Funktion, sondern eine Mannigfaltigkeit von Ereignissen in der wirklichen Welt, in die das lebendige Individuum jeweils in verschiedener Weise einbezogen wird. Wenn es überhaupt sinnvoll ist, »etwas so Konkretes, etwas der Erfahrung eines jeden von uns so unablässig Präsentes […] [zu] definieren« (SEN 5), können wir das Bewusstsein nur als eine sehr variable Einheit aus beliebig vielen durées definieren. Die Intensität der durée ist keine »Innerlichkeit«, und die Einheit, auf die ihre Qualitäten bezogen sind, ist nicht die Einheit eines

Vgl. James, William: »Gibt es ein ›Bewußtsein‹ ?« In: James 2006, S. 7–27. Darin v. a. S. 8: »Diese Funktion besteht im Erkennen.« 31 Ingarden 1968, S. 122. 32 Ebd. 30

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1 · Henri Bergson: Wirklichkeit ist Bewegung

Subjekts, die etwa apriorisch gegeben wäre, sondern die Einheit der realen Veränderung. Bergsons ›Immanenz‹ ist keine Immanenz des Bewusstseins, der Substanz, des Subjekts. Sie besteht im Bewirken qualitativer Veränderungen über Innen und Außen hinaus, die als »Bewegungen« das eigentlich Wirkliche sind. Der Naturphilosophie Schellings steht Bergsons Denken also nahe, nicht aber dessen Philosophie der Subjektivität. Das Bewusstsein unternimmt niemals eine aktive Setzung aus seiner eigenen Form heraus. Die apriorische Gegebenheit einer solchen Form ist im Rahmen einer dynamischen Logik eine unpräzise Fehlleistung, da es den gedachten Punkt der rein aktiven Setzung nicht gibt. Ebenso wenig wird das Bewusstsein jemals in einer rein passiv aufnehmenden Rolle von außen affiziert. Das heißt, dass es tatsächlich kein Innen des Bewusstseins gibt, sondern nur eine Teilhabe an diesen Bewegungen, eine Perspektive auf sie – genau genommen beliebig viele Perspektiven – und die verschiedenen Ordnungssysteme, die sich aus diesen Perspektiven ergeben, wie der Raum aus dem Ort entsteht. Das beeinflusst natürlich auch Bergsons Vorstellung vom Handeln, so dass er die Frage nach der Freiheit so beantworten kann: Freies Handeln ist möglich in einer Situation, in der ein Mensch alle relevanten Aspekte der lebendigen Erfahrung aufnimmt und einbezieht, die ganze Fülle seines Erlebens, um aus der Konkretion seiner Erfahrungswelt heraus aktiv zu werden. Je mehr gefühlte, erlebte Faktoren darin erfasst und eingebracht werden, desto »freier« ist die Handlung, d. h. desto genauer und besser entspricht sie der Wirklichkeit der Situation. 33 Die dynamische Einheit meiner eigenen, persönlichen Erfahrung und die Art, wie ich durch mein Wahrnehmen und Handeln an der Wirklichkeit teilnehme, kommt daher für Bergson hauptsächlich durch eine Art der Verbindung mit der Vergangenheit zustande: eine eigene durée, die alle diese Perspektiven und Ordnungen miteinander verknüpfen kann. Diese Verbindung ist das Gedächtnis.

Das erinnert an Schillers Forderung, die Passivität zu steigern: Passivität kann als intensive Rezeption gedeutet werden, wenn sie vermittelt ist mit Tätigkeit, wenn also die Intensität dieser Rezeption in relevante Veränderungen umschlägt. Bleibt Passivität aber bloße Abwesenheit von Tätigkeit, dann ist sie auch keine Rezeption von Qualitäten, sondern das bloß äußerliche Geformtwerden einer formlosen Masse.

33

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Zu Matière et mémoire: Die lebendige Wirklichkeit

3.

Zu Matière et mémoire: Die lebendige Wirklichkeit

3.1. Das Wahrnehmungsbild Die folgenden Werke Bergsons sind zwar jeweils eigenständige Untersuchungen, über die er gesagt haben soll: »Jedesmal, wenn ich eines meiner Bücher geschrieben habe, vergaß ich alle anderen.« 34 Wenn man sie jedoch gemeinsam liest, wird deutlich, wie sehr sie inhaltlich auf einander aufbauen, da sie ja alle verschiedene Konstellationen um die durée darstellen. Erik Oger meint, dass im Essai die durée grundsätzlich im Verhältnis von Raum und Zeit als intensive Mannigfaltigkeit herausgearbeitet wird, in Matière et mémoire als individuelles, personales Gedächtnis expliziert und zugleich mit den anderen durées und den eigenen Rhythmen der Materie ins Verhältnis gesetzt wird. In L’Évolution créatrice folgt dann die Ausdehnung auf das Leben und in den Deux sources auf Geschichte und Gesellschaft. 35 Da die Erfahrung des Individuums ein anderes dynamisches Ganzes ergibt als das dynamische Ganze eines psychischen Zustands, wird es durch das Gedächtnis möglich, auf Qualitäten eine Perspektive einzunehmen. Das ist auch hier natürlich wieder kein äußerlicher Blick auf ein Objekt, sondern bleibt eine intensive Verbindung wie alles in unserem psychischen Leben, aber diese Verbindung lässt sich als perspektivische reflektieren. Das beste Beispiel ist eben die Erinnerung selbst, die uns ja auch als Blick auf ein vergangenes Erlebnis erscheinen kann. Am ehesten lässt sich diese Perspektivierung vielleicht als ein Außen im Innen beschreiben: Ich betrachte meine eigene Situation oder meine Vergangenheit und erlebe sie zugleich, ich bin sowohl involviert als auch fokussiert. Aus dieser Perspektivierung heraus entsteht das Verständnis der durée als Prozess. Die Relationsbegriffe, die diesen Prozess auf der Ebene des Individuums strukturieren, sind das Gedächtnis und das Wahrnehmungsbild. Entscheidend ist außerdem die eigene Relationalität der Materie. 36 Schon im Titel betont Bergson, dass es hier um Relationen geht: und zwar um die Relation zwischen Körper und Geist. Denn

34 35 36

In einem Gespräch mit Jean de la Harpe, zitiert nach MG, S. IX. Oger, ebd., XII ff. Vgl. dazu Riquier 2004.

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»[d]aß alle Wirklichkeit eine Verwandtschaft, eine Analogie, mit einem Worte einen Bezug zum Bewußtsein habe, das räumen wir dem Idealismus schon damit ein, daß wir die Dinge ›Bilder‹ nennen.« (MG 228)

3.1.1. Ein kleiner Exkurs über Wahrnehmungs- und Bildtheorie Bergsons Theorie des Bildes und der Wahrnehmung in Matière et mémoire ist originell, und zwar gemessen an so gut wie jeder anderen bekannten Theorie der Wahrnehmung und des Bildes. Wahrnehmung wird in der überwiegenden Mehrheit der Wahrnehmungstheorien an einem Paradigma gemessen, das denselben Wertvorstellungen folgt wie die Erkenntnis: Klarheit und Deutlichkeit. Sowohl die Begeisterung für Klarheit und Deutlichkeit als auch die Einordnung der Wahrnehmung als eine primitive Form von Erkenntnis gehören zur Grundausstattung der neuzeitlichen Ästhetik, in der die sinnliche Wahrnehmung nach Baumgarten als Erkenntnisvermögen (potentia) des Subjekts verstanden wird (vgl. Kap. 4). Da zur Unterscheidung von klaren und deutlichen Einheiten vor allem die visuelle Wahrnehmung dient, konzentriert sich die Ästhetik auf das Wahrnehmungsbild. Diese Wahrnehmungstheorien haben gemeinsam, dass sie eine vermittelnde Beziehung zwischen Selbst und Welt aufstellen, die sie erst konstruieren wollen und die noch nicht besteht. Die Relata Selbst und Welt stellen sie dabei einander grundsätzlich selbständig gegenüber, so als seien beide vorher schon da gewesen und zufällig aufeinander getroffen. Wenn man Wahrnehmung mit Erkenntnis verwechselt oder für ihre Grundlage hält, gerät man in die Widersprüche, die Hegel in der Phänomenologie des Geistes beschrieben hat. Die Wahrnehmung wird in ein »allgemeines Medium des Erkennens« verlegt, das sich an den Verknüpfungsmechanismen der Sprache orientiert. Hegels allgemeines Medium des Erkennens ist Bergsons homogenes Medium (ZF 95) von Intellekt, Sprache und Raum. 37 Auch unser Bildbegriff ist von einer Vorstellung der instrumentellen Vermittlung zwischen zwei bereits existierenden Größen geprägt, die in dieses Paradigma des Erkennens gehört. Üblicherweise Vgl. Hegel 1988. Allerdings geht es bei Hegel weiter mit »Kraft und Verstand«: Er lässt die Wahrnehmung hinter sich zurück und folgt der Erkenntnis zum Intellekt und dessen Auffassung der Kraft als Naturgesetz, und damit trennen sich sein und Bergsons Weg für immer. Die Übereinstimmung währt also nur kurz.

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Zu Matière et mémoire: Die lebendige Wirklichkeit

denken wir uns ein Bild als etwas Geschaffenes, entweder durch den Künstler, durch die photographische oder projizierende Technik, durch sogenannte bildgebende Verfahren, oder, wie in Sartres Das Imaginäre, als Produkt der Phantasie. Außerdem denken wir uns dieses Bild bis zu einem gewissen Grade als statisch und mit sich selbst identisch. Seine Eigenschaften sind entweder durch die Vorstellungskraft zusammengefügt oder werden in einem materiellen Substrat wie Farbe und Leinwand aufbewahrt. Sie machen es uns möglich, das Bild wiederzuerkennen. In einem Paradigma des Erkennens ist Bildwahrnehmung wesentlich unterschieden von jeder anderen Wahrnehmung. Denn das Bild gilt nicht als reales Objekt. Oder genauer: es gilt nur insofern als reales Objekt, als es sich zum Beispiel um ein Gemälde oder eine Fotografie handelt, also um einen materiellen Träger. Dieser materielle Träger ist das reale Objekt. Aber das Bildobjekt, also das, was bei der Bildwahrnehmung präsent wird, ist, wie Husserl in Phantasie und Bildbewusstsein betont 38, ein Nichts: Sein ontologischer Status ist nicht derselbe wie der eines realen Objektes. Dieser ontologische Status wird von der Art der Präsenz des Bildes abhängig gemacht. Lambert Wiesing nennt es die »artifizielle Präsenz« 39 des Bildes, die durch andere Mittel als Anwesenheit eines Objekts hergestellt wird. Dieter Mersch spricht von einer »Anwesenheit ohne Gegenwart« 40. Die Anwesenheit einer Form ist eine Frage der Kraft als Produktionsmittel. Wir sind seit Newton daran gewöhnt, eine Kraft in einem naturwissenschaftlichen und mechanistisch geprägten Weltbild anzusiedeln als etwas, das wie in Hegels »Kraft und Verstand« in den Bereich der Naturgesetze gehört und durch den Intellekt erschlossen wird. Eine Kraft ist eine messbare, gerichtete physikalische Größe. Wenn wir uns die Kraft so vorstellen, erlangt sie ebenfalls einen eigenen ontologischen Status. Es ist aber nicht der Status einer Präsenz ohne Gegenwart, sondern genau das Gegenteil. Die Kraft lässt sich berechnen, sie ist gegenwärtig in ihrer Wirkung auf etwas anderes als sie selbst, aber sie ist nicht präsent, nicht anwesend. Ihr ontologischer Status ist selbst ein Bild: eine Figuration oder ein Modell, in dem die Kraft auf Grund ihrer Berechenbarkeit sichtbar gemacht wird, wo sie die Richtung einer Bewegung oder die Geschwindigkeit 38 39 40

Husserl 2006, S. 46. Wiesing 2005. Mersch 2002, S. 11.

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eines Objektes verändert. Diese Sichtbarkeit ist eine Projektion von Substantialität. Die Kraft wird zum Bildobjekt gemacht, zum nicht existierenden Ding. 3.1.2. Das sinnliche Bild Für Bergson ist Wahrnehmung keine Erkenntnis, der Erkenntnis auch nicht ähnlich, und darum nicht in erster Linie mit ihren Kriterien zu ergründen. Sie ist vielmehr »beginnende Tätigkeit« – diejenigen Bewegungen, die sich zu den Bewegungen des tätigen Handelns weiterentwickeln. Als solche ist die Wahrnehmung selbst ein Prozess. Sie verliert ihre Statik, durch die zwei Größen – zum Beispiel das existierende Ding und unsere Wahrnehmung von dem existierenden Ding – neben einander gestellt werden könnten. Eine solche Vermittlung kann erst auf der Ebene des Geistes stattfinden, als eine Synthese des Erkennens, und hat mit der Entstehung der Wahrnehmung nichts zu tun. Das Bild hat bei Bergson auch keine »Anwesenheit ohne Gegenwart«. Es ist im Gegenteil selbst gegenwärtig, auch ohne anwesend zu verweilen und ohne wahrgenommen zu werden. Bergsons Bild ist, den oben beschriebenen Kriterien gemäß, sowohl Bild als auch Kraft. Dabei geht es ihm um das genaue Gegenteil von Kants Bild, das die transzendentale Einbildungskraft liefert und das gerade darin besteht, »einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart in der Anschauung vor[…]stellen« (KrV, B 151) zu können. Bergsons Bildbegriff ist in der Philosophiegeschichte außergewöhnlich. Das Bild ist nicht, wie in der Philosophie sonst üblich, primär eine Vorstellung oder ein Abbild, obwohl auch Vorstellungen Bilder sind. Zunächst aber ist Bergsons Bild ein sinnliches Bild: etwas, das erscheint. Bekannt ist seine Definition des Bildes als etwas dazwischen, à mi-chemin entre la chose et la répresentation. Dieses Zwischen ist zunächst ein Zwischen der Bezeichnung. Das Bild ist nicht zwischen Ding und Vorstellung, sondern zwischen dem, was man Ding und Vorstellung nennen würde, wenn man in die unpräzisen philosophischen Extreme des »Realismus« und des »Idealismus« fiele. Denn Ding und Vorstellung sind ebenso konstituiert, ebenso abgeleitet wie Abbild und Vorstellungsbild. Das Ding wird konstituiert als etwas Transzendentes in dem Sinne, dass sein wahres Wesen sich unserer Wahrnehmung entzieht oder zumindest entziehen kann. Eine Vorstellung dagegen kann dem Bewusstsein immanent sein bis zu dem 60 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

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Grade, da sie nichts mit der restlichen Welt gemeinsam zu haben braucht. Das Bild ist eine Existenz dazwischen: nicht zwischen dem Ding und der Vorstellung, sondern zwischen diesen beiden Extremen. Es verbindet in sich zwei wesentliche Merkmale, die den Extremen angehören: eine Existenz unabhängig von Wahrnehmung oder Bewusstsein; und eine Qualität, die wahrnehmbar macht. Umgekehrt ist die Kraft bei Bergson keine Figuration eines nicht existierenden Dinges, sondern tritt als Wirkung in Erscheinung, als Formung oder Deformation. Die Kraft, die in Matière et mémoire zuerst ausführlich thematisiert wird als Impuls, Elan, Vermögen und schließlich als Virtualität, ist eine »poetische«, d. h. schöpferische Kraft im Sinne der Stoiker, die ihre eigenständige Ausführung als élan vital in L’Évolution créatrice erhält. 3.1.3. Medialitätskonzepte in Matière et mémoire Sucht man nach vermittelnden Konzepten in Matière et mémoire, so begegnen sie überall, im Bildbegriff selbst, im Gedächtnis, in der Materie. Die gegenseitige Durchdringung, die für durée kennzeichnend ist, taucht häufig auf. Dabei wird stets besonders betont, dass gegenseitige Durchdringung einen wesenhaften Unterschied zwischen ihren Elementen voraussetzt. Nur dann kommt es zu realer Wechselwirkung und nicht nur zu gradueller Veränderung, eine Unterscheidung, auf der Bergson besonders besteht, weil viele philosophische Fehlurteile sich ihrer Verkennung verdanken. Nur graduell ist ein Wandel der Empfindung, aber ihr Zusammenspiel mit der Wahrnehmung bringt wesenhaft Verschiedenes in Korrelation. Gegenseitige Durchdringung betrifft immer wieder das Zusammenwirken von wesenhaft unterschiedlichen Vorgängen zu einem neuen, komplexen und konkreten Ganzen: sei es Wahrnehmung und Empfindung, sei es Erinnerung und »reine« Wahrnehmung. Ein zweites mediales Motiv, das Bergson häufig gebraucht, ist das des Zwischen, der Mitte, des Mittelpunktes oder des Zentrums. Damit zeigt er an, wo ein Prozess der Vermischung und der Wechselwirkung stattfindet, zum Beispiel in den affektiven Zuständen oder in der »Zone der Indeterminiertheit« mit dem lebendigen Körper im Zentrum. Hier macht er klar, dass der Leib eben kein mathematischer, sondern ein medialer Mittelpunkt ist, ein Zentrum gegenseitiger 61 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

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Durchdringung (MG 45). Die Wahrnehmung »ist das Maß der Komplexheit der Beziehungen zwischen beiden [in diesem Fall zwischen sensorischem Prozess und motorischer Tätigkeit] und ist da, wo sie erscheint.« (MG 32) Schließlich bedient er sich auch gerne einer Mittel- und Werkzeugmetaphorik. Die Funktion des Gehirns und des Nervensystems, das er auch als »Telefonzentrale« bezeichnet, sieht er als Funktion eines Werkzeugs zur Abstandsgewinnung, zur topologischen Erweiterung von Komplexität mit dem Ergebnis eines »Spielraums« (MG 15), also eines neuen medialen Bereiches. Werkzeuge dienen in dieser Metaphorik Bergsons, topologisch gesprochen, nicht nur der »Selektion«, sondern auch der »Transformation« durch Übertragung. Sie betreffen die Auswahl von Qualitäten, die zu einer Neukonstellation führen und damit die Entstehung von Bedeutung prägen. Will man nun aber Stufen der Vermittlung im Rahmen von Matière et mémoire unterscheiden oder, präziser gesagt, Grade der Ausdifferenzierung, dann eignen diese verschiedenen Konzepte – Wechselwirkung, Zwischenbereiche, Instrumente – sich nicht dazu. Denn sie treten meist gemeinsam auf; sie alle gehören zum Beispiel zur Entstehung des Wahrnehmungsbildes dazu. Eher eignen sich Modalitäten: Arten der Transformation, wiederum topologisch gesprochen, die sich auf wirkende Faktoren zurückführen lassen. Diese wirkenden Faktoren sind die Kräfte. Wir können drei verschiedene Begriffe von Kraft unterscheiden, die jeweils eine Art der Strukturierung von Bildern beschreiben.

3.2. Kraft der Bilder 3.2.1. Kraft der Materie: Das Schema der objektiven Realität Kraft tritt einmal auf als force oder impulsion, als Wirkung. Die Wirkung ist das Verhältnis der Bilder untereinander in dem Schema, das wir die objektive Realität nennen. Hier werden Ursache und Wirkung nach den Gesetzen der Physik ins Verhältnis gesetzt. Die Kraft als Wirkung bestimmt die Materie als eine Gesamtheit von Bildern. Diese Gesamtheit ist keine abstrakte Totalität, keine bloße Summe, sondern im Französischen ein ensemble des images, ein Zusammenspiel von Bildern. Nur durch ihr gemeinsames Auftreten »sind« die Bilder Materie. Auch wenn wir die Materie ihrer physika62 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

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lischen Qualitäten berauben und sie als Bewegung von Atomen, als Zentren der Kraft (centres de force), oder als kontinuierliches Fluidum denken wollen: sie muss dennoch eine Beziehung zur Erscheinung der physikalischen Objekte behalten, und diese Beziehung ist ihr Bildcharakter. (MG 20) Diese drei Versuche übrigens, die Materie zu beschreiben, können als klassische Positionen der modernen Physik bezeichnet werden. Die Bewegung von Atomen muss in die Theorie von den Kraftzentren übergehen: das sind die Grundlagen von Elektrodynamik und Quantenmechanik. Das kontinuierliche Fluidum ist Bernhard Riemanns Versuch einer Definition der Materie und dient als Basis für Heisenbergs Entwürfe zu allgemeinen Feldtheorien. 41 Bergson hat hier also die Wissenschaft fest im Blick und respektiert durchaus diese Theorien zur Materie; doch betont er, dass sie alle etwas Wesentliches über die Materie zeigen, was im Rahmen dieser Theorien noch nicht ausgeschöpft wird: Sie kann nur gedacht werden als Reflexionsbegriff im Verhältnis zur Form. Jede Wirkung, das heißt, jede reale Veränderung kann im Denken Bergsons durch Neubestimmung eines Verhältnisses von Teilen und Ganzem beschrieben werden. Wenn etwas wirklich Neues entsteht, dann ein neues Ganzes. Jede Veränderung im materiellen Bereich ist also eine Veränderung des ensemble, des Zusammenspiels von Bildern. Innen und Außen spielen dabei keine Rolle, denn »von der Gesamtheit der Bilder kann man nicht sagen, daß sie in uns, und ebensowenig, daß sie außer uns sei, da ja Innen und Außen nur Beziehungen zwischen Bildern sind.« (MG 10) Die Wirkung der Bilder auf einander ist ihre dynamis: die Bewegung der Materie und Bedingung ihrer Form. Bergson nennt sie Gegenwärtigkeit: présente. Das Bild »kann sein, ohne wahrgenommen zu werden, es kann gegenwärtig sein, ohne vorgestellt zu werden« (MG 20). Diese Gegenwärtigkeit, présente, ist objektive Realität. Aber sie ist nicht statisch, sondern dynamisch. »Man definiert willkürlich die Gegenwart als das was ist, während sie einfach nur das ist, was geschieht. Nichts ist so wenig wie der gegenwärtige Augenblick«. (MG 145) Das gegenwärtige Bild ist das, was geschieht, bzw. das, was

Vgl. Heuser 2007, S. 197. Das soll hier nur nebenbei erwähnt sein, um zu zeigen, dass Bergsons Kommentare zur Materie mitnichten willkürlich sind oder gar, wie Erik Oger meint, einem »naiven Realismus« entspringen würden (Oger 1991, S. XXX).

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sich hervorbringt: ce qui se fait. Es ist selbst in Bewegung. Das Bild zeichnet sich aus durch den »Zwang, dem es untersteht, mit allen seinen Punkten auf alle Punkte der übrigen Bilder zu wirken, […] mit einem Wort, nichts anderes als ein Schnittpunkt der Veränderungen im unendlichen Weltall zu sein.« (MG 21)

Darum ist die Materie die »Gesamtheit der Bilder, und Wahrnehmung der Materie diese selben Bilder bezogen auf die mögliche Wirkung eines bestimmten Bildes, meines Leibes.« (MG 6) Diese materielle, relationale Kraft der Bilder kann als Umkehrung der transzendentalen Einbildungskraft in Kants Kritik der reinen Vernunft gelesen werden: diese ist ein Erkenntnisvermögen, das die sinnliche Mannigfaltigkeit zur Einheit des Bildes zusammenfasst in der synthesis speciosa. 42 Bei Bergson ist es das Zusammenspiel der Bilder, aus dem umgekehrt das Erkenntnisvermögen hervorgeht. Er kehrt damit das transzendentale Schema im Sinne Herders um: Einheit kann nur aus der wirklichen Erfahrung selbst entstehen, niemals ihr ein vorgefertigtes Schema bieten, das in der Anwendung subjektiver Vermögen gegeben wäre. Herder führt diese Umkehrung in der »Metakritik der reinen Vernunft« durch: »Alle unser Vorstellen, Bilden, Einbilden, Verlangen, Wollen, Begehren beziehet sich auf diese Drei [Raum, Zeit und Kraft, V. N.] und wird aus ihnen; Raum und Zeit aber sind nichts als die Medien, in denen Kraft wirket. […] durch ein Drittes, das beide setzt, bestimmt, ordnet und in sich selbst darstellt, werden sie modi einer organischen Kraft, Hülfsbegriffe zum Begriff einer Substanz, eines Wesens.« 43 […] »Verstandesbegriffe […] heben sich über Raum und Zeit […] Dadurch schaffen sie sich selbst Zusammenhang der Dinge aus innerem Grunde.« 44

3.2.2. Kraft des Leibes: Das Schema der Wahrnehmung Die zweite Kraft, puissance, ist die »reflektierende Kraft des Körpers« (MG 43). Sie reguliert das spezielle Verhältnis zwischen dem Bild, das

Vgl. dazu Cassirers Transformation der Einbildungskraft von der Kritik der reinen Vernunft über die Kritik der Urteilskraft hin zu einer Formung der Erfahrung selbst, in Kap. 3. Es gibt mehrere Wege, das Vermögen der Einbildungskraft zu entsubjektivieren und durch ein dynamisches Schema zu ersetzen. 43 Herder 1998a, S. 368. 44 Ebd., S. 484. 42

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wir unseren Körper nennen, und den anderen Bildern. Durch dieses spezielle Verhältnis entsteht ein neues Schema: »ein System von Bildern, das nenne ich meine Wahrnehmung des Universums; in ihm ändert sich alles von Grund auf, wenn sich an einem bevorzugten Bilde, meinem Leib, leichte Veränderungen vollziehen. Dieses Bild befindet sich im Mittelpunkte; nach ihm richten sich alle anderen […]« (MG 9)

Beide Schemata, das der objektiven Realität und das der entstehenden Wahrnehmung, existieren und wirken gemeinsam, ohne einander auszuschließen. Das funktioniert darum, weil die Kraft des Körpers diesen zum »Zentrum der Indeterminiertheit« macht. Durch diese Hervorhebung im Zentrum entsteht der wesenhafte Unterschied zwischen Empfindung, die den Körper als aktuelle, objektive und unmittelbare Wirkung betrifft, und Wahrnehmung, die einen Zwischenraum zwischen den Bildern entstehen lässt und damit die Möglichkeit zur Vermittlung eröffnet. Auch hier finden wir wieder eine kontinuierliche Immanenz des lebendigen Bewusstseins in den Ereignissen der Wirklichkeit, »da sich die reine Wahrnehmung zur Materie wie der Teil zum Ganzen verhält.« (MG 60) Die Empfindung oder Affektion steht bei Bergson in der Tradition Spinozas, als eine Wirkung auf den Körper. Spinoza beschreibt eine Wechselwirkung, die zu einer intensiven Relation führt, nämlich die zwischen den Affektionen selbst als physischen Vorgängen und dem Vermögen des Körpers, affiziert zu werden. Vermögen ist hier zu lesen im Sinne von dynamis, nicht im Sinne eines subjektiven Vermögens, sondern einer passiven Kraft. Als Wechselwirkung stehen diese unterschiedlichen Kräfte in einem gemeinsamen Prozess, dem sie immanent sind und aus dem sie nur rückblickend analytisch abstrahiert werden können. Und wir finden auch schon bei Spinoza den Gedanken, dass die Prozesse der Affektivität den Körper auf neue Möglichkeiten hin öffnen, dass sie ihn in seinem Tätigkeitsvermögen verändern und dass sie ihm zugleich eine Ausdrucksform für diese Veränderung bieten. Bergson interpretiert diese Affektivität neu. Denn bei ihm sind es nicht aktive und passive Kräfte, die in Wechselwirkung treten, sondern zwei Sorten poietischer Kräfte 45. Es ist eine Wechselwirkung Wir erinnern uns, dass die poetische Kraft bei den Stoikern eingeführt wurde, um eine Wechselwirkung aktiver Kraft und passiven Stoffs zu erhalten, also eine Kraft,

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zwischen der Empfindung und der Wahrnehmung, die beide aktiv und passiv zugleich sind, die beide eine qualitative Vielfalt bieten. Und es ist diese qualitative Vielfalt, die sich dann miteinander vermischt. Damit eröffnet die Wahrnehmung, in Wechselwirkung mit der Empfindung, dem lebendigen Körper einen affektiven, prozessualen Wahrnehmungsraum. Erst jetzt gibt es wirklich eine Perspektivierung, in der ich mich in der Welt wahrnehme. Das heißt, der Raum, in dem ich mich befinde, ist von Grund auf affektiv geprägt, er entsteht erst in und mit der Relationalität meiner leiblichen Empfindungen. In diesem Raum bietet sich mir die Möglichkeit, mich aktiv zu bewegen, tätig zu werden und selbst Richtungen auszuwählen. In diesem Sinn ist Wahrnehmung virtuelle, d. h. beginnende, prästrukturierte Tätigkeit. Es ist immer noch der Körper oder Leib, der hier ›wählt‹, und wir dürfen nicht vergessen, dass echte ›Wahl‹ bei Bergson niemals dezisionistisch ist, einem visuellen Paradigma folgend, in dem das wählende Subjekt zwei klar definierte Möglichkeiten vor sich sieht. Wählen bedeutet das Auswirken oder Absterben bereits in Bewegung befindlicher Tendenzen. Reflexe und Automatismen gehören auf diese Stufe, aber sie werden bereits vermischt mit nicht determinierten, sondern ausdrucksorientierten Verhaltensweisen. Denn es ist mein Körper, der auf meine Befindlichkeiten eingeht und aus ihnen heraus agiert. Wir müssen uns die Zone der Indeterminiertheit immer als einen Schnittpunkt oder Schnittraum der verschiedenen Schemata vorstellen, die Bergson beschreibt, als gemeinsamen Bereich der Wirkzusammenhänge von Empfindung, Wahrnehmung und Tätigkeit. Das erste Schema, das Schema der objektiven Realität, hat kein Zentrum. Es wird »von unwandelbaren Gesetzen beherrscht« (MG 10). Das Schema der gegenwärtigen Erfahrung hat das Zentrum der Indeterminiertheit, das Virtualität erzeugt. Und das dritte Schema ist natürlich die durée: »die Kontinuität von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft« (MG 11). Zum Scheitern verurteilt ist jeder Versuch, eines dieser Schemata absolut zu setzen und die anderen daraus abzuleiten. Es versteht sich auch aus den bisherigen Ausführungen, dass es sich um kein Aufeinander-Folgen verschiedener Studie schafft und sich dabei zugleich selbst verändert, weil sie in sich materiale Relationalität hat.

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fen handelt, sondern dass die Schemata gleichzeitig ineinander spielen: sich gegenseitig durchdringen. Wenn die reine Wahrnehmung, die ja zum Ganzen der Materie gehört, sich nun mit der lebendigen durée schneidet, erhalten wir die »komplexe und konkrete Wahrnehmung«. Denn in diese wird die Erinnerung einbezogen, und erst dadurch wird die Wahrnehmung überhaupt meine Wahrnehmung. Das heißt, sie erhält eine neue Qualifizierung, eine neue Unterscheidung, und damit werden auch wieder Unterscheidungsmöglichkeiten eröffnet. »Selbst die ›Subjektivität‹ der Empfindungsqualitäten besteht […] hauptsächlich in dieser Kontraktion des Wirklichen, die unser Gedächtnis leistet.« (MG 19) Kontraktion ist wieder ein topologischer Begriff. Er steht für Verdichtung, ein Zusammenziehen von Qualitäten, bis sie in eine Form des Ausdrucks umschlagen, aber auch für eine neue Spannungserzeugung: denn es entsteht eine neu gegliederte Konkretion. Die komplexe und konkrete Wahrnehmung ist selbst ein Teil der Wirklichkeit. 3.2.3. Virtualität: Tätigkeit als Ausdruck Durch die gegenseitige Durchdringung von Empfindung und Wahrnehmung wird die Qualität der Empfindung mehr als bloße Wirkung, ohne sich dabei aber in ihrem Wesen zu verändern. Sie wird vielmehr umgedeutet durch die Einmischung des Persönlichen. Sie wird von der Wirkung auf mich umgedeutet zu meiner Erfahrung. Mit der Virtualität wird die Wahrnehmung perspektivisch. Was Bergson »Aktivität« oder »wirkliche Tätigkeit« nennt, kommt erst durch diese Umdeutung ins Persönliche zustande, durch das Zu-Eigen-Machen der Virtualität, die eine gewisse Freiheit des Orientierens und Handelns eröffnet. Später, wenn vom Gedächtnis die Rede ist, bezeichnet er auch die Erinnerung als einen »Akt«. Hier besteht die Aktualisierung darin, dass das Gedächtnis, als durée ein heterogenes Medium, sich des Körpers bedient. Das geschieht in zwei Formen: als bildhafte Erinnerung und als motorisches Gedächtnis. Beide müssen wir in die »komplexe und konkrete Wahrnehmung« mit einbeziehen. Erst mit dieser Wechselwirkung ist die lebendige Erfahrung auf der Ebene des Geistes angelangt. Bergson entwickelt den Begriff der Virtualität aus dem französischen Begriff virtuel, der sich dem lateinischen vis verdankt. Virtuel 67 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

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heißt so viel wie »fähig zu wirken«, und vis ist Kraft oder Macht. Als dynamis ist Virtualität in sich relational und steht im Verhältnis zur Aktualisierung, und zwar so, dass sie nur aus ihr heraus rückblickend bestimmt oder fixiert werden kann: »denn das Mögliche ist nur das Wirkliche mit einem zusätzlichen Geistesakt, der dieses Wirkliche, wenn es einmal da ist, in die Vergangenheit zurückwirft.« (DSW 119) Mit dem ›Möglichen‹ meint Bergson an dieser Stelle eine fiktive Konstruktion: so, wie Möglichkeit üblicherweise gedacht wird, aber in Wahrheit gar nicht existiert. Es wird gedacht, dass etwas im Zustand des Möglichen existiere und sich dann, nachfolgend, »durch einen Zuerwerb von Existenz realisiert« (DSW 121). Diese Fiktion ist in Bezug auf das Virtuelle eine Fixierung, die künstliche Verfestigung von etwas eigentlich Fließendem als das, dem nichts im Wege steht. So beschreibt Leibniz seine Kraft. Doch diese Fixierung ist Bergson zu idealistisch im Sinne einer Hypostase des nur Gedachten: es ist eine bloße Vorstellung. »Möglich-sein bedeutet eben noch ›Fehlen von Hindernissen‹ ; man macht daraus jetzt eine ›Vorherexistenz in Gestalt einer Idee‹, was etwas ganz anderes ist.« (DSW 122) Das Virtuelle ist genau das Gegenteil: Es existiert zwar »in idealer Hinsicht vorher« (ebd.), aber nur als eine Deutung aus dem Wirklichen und damit als eine Schöpfung des Wirklichen. (DSW 124) Virtualität ist eine Komplexitätsstufe unter den verschiedenen sich schneidenden Relationen, in diesem Fall Empfindung, reine Wahrnehmung und zwei Formen des Gedächtnisses, deren Komplexität Abstand schafft. Durch den Zwischenraum, der hier entsteht, ergibt sich »der Ausdruck einer virtuellen Handlung.« (MG 44) Die Kräfte der Tätigkeit – Wahrnehmung und Gedächtnis – und die der Affektivität – Empfindung und die eigenen Wirkungen der komplexeren Bilder – können dabei als zwei Tendenzen angesehen werden. Tätigkeit bedeutet eine Tendenz zur Strukturierung, ein Streben nach diskreter Formbildung durch Reduktion und Selektion. Sie erfolgt durch die Organisationsform der Vorstellungen. Die Affektivität kann dagegen eine Tendenz zur kontinuierlichen Formbildung bedeuten, die latente Wirkungen in die Ausdrucksformen mit einfließen lässt. Sie erfolgt durch die Sinnlichkeit als Gefühl.

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3.3. Die Vielfalt der Vorstellungen und die Einheit des Gefühls Die Vorstellung dient Bergson als »virtueller Punkt« zur Erzeugung der werdenden Tätigkeit. Johann Benedict Listing erfindet 1847 eine funktionale Dynamik zwischen virtuellen und effektiven Raumpunkten. 46 Virtuelle Punkte dienen nur zur Berechnung; effektive Punkte sind tatsächliche Grenzen der geometrischen Gebilde, die aber durch diese erst hergestellt werden. Der virtuelle Punkt ist rein funktional, er wird in der Tätigkeit der Berechnung erzeugt und hat keine eigene Existenz. Einen Bezug auf diese Funktionalität müssen wir annehmen, wenn Bergson seine Vorstellungen als virtuelle Punkte beschreibt. »Die Vorstellung ist ja immer da, aber immer nur virtuell, da sie in dem Augenblick, wo sie aktuell werden würde, neutralisiert wird durch den Zwang, sich fortzusetzen und in etwas Anderem aufzugehen.« (MG 21)

Sie ist ein Bild, das aus dem unmittelbaren Wirkzusammenhang des Materiellen herausgelöst wird und nicht mehr »eingeschachtelt wie ein Ding«, sondern »herausgehoben wie ein Gemälde« (MG 21) betrachtet wird, auf französisch ein tableau. Ein Tableau zeichnet sich dadurch aus, dass die Beziehungen der Teile untereinander zu einem Ganzen insgesamt überschaubar sind: sie werden anschaulich gemacht, das heißt, sie werden extensional dargestellt. Der Unterschied ist hier also kein Wesensunterschied, sondern ein gradueller (MG 60): ein Verlust an Komplexität, weil nur noch das reflektiert wird, was als Ausdruck für die Wahrnehmung relevant und darstellbar ist. Diese Auswahl ist immer eine Selektion und Reduktion, wobei »die Materie hier wie überall das Vehikel einer Tätigkeit und nicht das Substrat einer Erkenntnis ist« (MG 62). Die Aktivität der Wahrnehmung verändert die Relation, die die Bilder untereinander verbindet, nicht aber das Wesen der Bilder selbst. Die immanente Gliederung der Vorstellung kommt durch eine darstellende Vermittlung von Qualitäten mittels extensiver Relationen zustande: durch Sprache, Maß und Begriff. Sie ist eine statische Projektion dynamischer Relationen, die durch den Zwang des Intellekts zur »Festigkeit« zustande kommt. Denn wenn der Verstand mit

Vgl. Listing, Johann Benedict: »Vorstudien zur Topologie.« In: Göttinger Studien 1847. Zitiert nach Heuser 2007, S. 192.

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der durée konfrontiert wird, kann er sie nicht abbilden, er muss sie berechnen. Er »beschränkt […] sich […] darauf, die Gleichzeitigkeit von zwei virtuellen Punkten zu konstatieren: den Punkt, in dem die betrachtete Bewegung fixiert wird, und den möglichen Ruhepunkt einer anderen Bewegung, deren Verlauf als diejenige der Zeit angesehen wird.« (DSW 26)

Philosophisch gesehen ist diese Fixierung verfälschend, doch für die praktische Tätigkeit kann sie nützlich und angemessen sein. Die Vorstellung ist selbst ein solcher virtueller Punkt, der dafür benötigt wird, Entwürfe für die Praxis anzustellen. Solange wir sie nicht für ein Abbild des Gegenstandes halten, liegt darin kein Problem. Alle Konstellationen des Denkens, die komplexer sind als reine Mechanik, entstehen durch Deutung, Selektion und aktive Neuverknüpfung, für die die Virtualität der Vorstellung erforderlich ist. Dabei geht von der Komplexität der Wirklichkeit viel verloren. »Aber in dieser notwendigen Armut unserer bewußten Wahrnehmung steckt etwas Positives, etwas, das bereits den Geist ankündigt: das Vermögen zu unterscheiden.« (MG 23) Hier tritt nun erstmals das »Vermögen« an die Seite der Kraft, das mit seiner Ankündigung des Geistes auch Person und Subjekt mit ankündigt. In einigen Formulierungen erkennen wir Kants reflektierende Einbildungskraft wieder, die auch für Cassirer die Basis des dynamischen Schemas der Erfahrung liefert. Sie erzieht die Sinne und »setzt sie untereinander in Übereinstimmung«. (MG 34) So produziert sie die Einheit des Gegenstandes: indem sie zwischen den Qualitäten »den Zusammenhang her[…]stell[t], den unsere Bedürfnisse zerstört haben.« (MG 36) Natürlich bedient sie sich dazu auch der Sprache, die in ihrer homogenen Medialität Objekte, einheitliche Gegenstände und Vorstellungen sowie kausale Beziehungen und Effekte untereinander zu einem einheitlichen Konzept von Realität vermittelt. Hier muss noch einmal betont werden, dass diese Realität keine Illusion ist: sie erfüllt vielmehr eine bestimmte Funktion. Nur ist es die Aufgabe der Philosophie, über sie hinaus zu sehen. Virtualität ist die Dynamik, die bewegliche Relationalität der Wirklichkeit selbst, aus der heraus wir dann deuten können, aus welcher Richtung die Ereignisse kommen und in welche Richtung sie führen. Das Mögliche entsteht aus dem Wirklichen: als mögliche Wirkung. Aber von Möglichkeit und Wirklichkeit lässt sich nur sprechen als Formen für die Erfahrung. Wirklichkeit und Erfahrung sind 70 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

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durch dieses prozessuale Verständnis von Wirklichkeit als Aktualisierung auf eine Weise verknüpft, die jede Abbildtheorie der Erfahrung oder Erkenntnis von vornherein ausschließt. Aus diesem Grund muss eine Einheit der Erfahrung gedacht werden, nicht als apriorisches Schema, sondern als Tatsache der Formbildung. Diese Tatsache korrespondiert der Tätigkeit in der virtuellen Entstehung der Ausdrucksformen als diejenige Kohärenz, die uns die immanente Gliederung liefert. Die Form der Erfahrung ist eine Vielheit in der Einheit: sie ist, durch all ihre Veränderungen, Affektionen und durch ihre Eigenbewegung und Tätigkeit hindurch, stetig als »meine« Erfahrung. Ihre Gliederung entsteht durch den steten Bezug auf mich. Diese Stetigkeit wird natürlich durch die durée als Gedächtnis geleistet, die als Aktualisierungsform Erinnerungsbilder in das leiblich-motorische Schema hineinspielt. Das aber könnte sie nicht als in sich geschlossenes Gedächtnis leisten, sondern sie kann es nur in Wechselwirkung mit den affektiven Zuständen, der aktuellen Wahrnehmung und Empfindung, und damit auch im Wechselspiel mit der wirklichen, materiellen und leiblichen Bewegung der Welt. Diese Einheit, als kontinuierliche Mannigfaltigkeit, ist also eine Einheit des Gefühls, immer sowohl tätig als auch affektiv, aktive Elemente des Orientierens und Aussuchens vermittelnd mit passiven Elementen des Aufnehmens und Durchlebens. Ihre Heterogenität ist die einer Fülle wirklicher Ereignisse, die so erscheinen und sich auswirken, wie sie mit meiner Wahrnehmung in Berührung kommen. So werden sie zur Basis für die Formen des Ausdrucks.

4.

Intuition und Allgemeinheit

4.1. Das Staunen Wie Herder wehrt sich Bergson gegen die Simultaneität des Überblicks und gegen die Logik der »Wortwelten«, der visualisierenden und denotativen Schemata. In den verschiedenen Arbeiten zu Bergson ist diese Kritik an diskreten Symbolen und dem homogenen Medium des Raumes oft verwechselt worden mit einer Kritik an jeder Art von sprachlicher Reflexion des Allgemeinen. Sowohl diskrete Symbole als auch das homogene Medium des Raumes sind aber für Bergson Elemente der Wirklichkeit, die in ihrer angemessenen Funk71 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

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tion völlig legitim sind und nicht verworfen werden sollen. Die Sprache kann und muss natürlich eingesetzt werden. Es geht eher darum, ihre alltäglichen Funktionen zu reflektieren, so dass es möglich wird, sie strategisch auszugleichen, wenn man Empfindungen mitteilen, Kunst beschreiben oder über philosophische Themen sprechen möchte. Bergson hat seine eigene philosophische Motivation an verschiedenen Stellen beschrieben und benutzt dabei eine ähnliche Figur wie später Heidegger, wenn dieser meint, dass jeder Denker nur einen einzigen Gedanken denkt, um »[…] dieses Eine als das Selbe zu denken und von diesem Selben in der gemäßen Weise zu sagen.« 47 Das könnte fast ein Bergson-Zitat sein: »Ein Philosoph, der dieses Namens würdig ist, hat im Grunde nur immer eine einzige Sache im Auge gehabt, […] und er hat nur von diesem Einen gesprochen, weil er seinen Blick nur auf einen einzigen Punkt richtete.« (DSW 131)

Hier begegnet uns wieder der virtuelle Punkt, dessen Existenz in der Aktualisierung seiner Wirkung besteht. Bergsons zentraler und wichtiger Begriff der Intuition ist dem entsprechend nicht, wie wir es aus der Tradition nach Leibniz kennen, ein Begriff der unmittelbaren Anschauung. Denn der virtuelle Punkt ist nicht schon selbst etwas, das bereits da ist und das von außen betrachtet, kontempliert werden könnte. Bergsons Intuition ist vielmehr eine Art und Weise, sich durch etwas in Bewegung versetzen zu lassen. »[…] dabei war es eigentlich weniger eine innere Schau als ein unmittelbarer Kontakt; dieser Kontakt hat ihm einen Antrieb gegeben, aus diesem Antrieb ging eine geistige Bewegung hervor […]« (DSW 131)

Bergson bezeichnet diese Bewegtheit durch den einzigen Punkt oder Gedanken als eine philosophische Intuition, die sich in ihrer Einfachheit nicht ausdrücken lässt, aber allen Ausdrucksformen der Philosophie zu Grunde liegt: »die ihre Einheit, ihre qualitative Originalität, ihr ganzes Leben und ihre Seele ausmacht.« 48 Intuition ist Motivation, Auslöser geistiger Bewegung. Die ganze Lebensarbeit des Philosophen besteht dann darin, so lange darüber zu sprechen (DSW 127), bis er sie aus allen möglichen Perspektiven eingekreist und ausdifferenziert hat: eine Aufgabe, die an Adornos 47 48

Heidegger 2002, S. 53. Jankélévitch 2004, S. 69.

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von Benjamin entlehnten Begriff der Konstellation zur Annäherung an das ›inkommensurable‹ Nichtidentische 49 erinnert. Trotz seiner Zweifel an der Möglichkeit, eine Intuition für sich zum Ausdruck zu bringen, hat Bergson sie doch selbst in eine Beschreibung gefasst, und zwar in einem Brief an William James. Er erzählt nämlich von der Motivation seines zentralen philosophischen Konzeptes, der durée: »Je m’aperçus, à mon grand étonnement, que le temps scientifique ne dure pas …« 50 »Mir ist zu meinem großen Erstaunen dabei aufgefallen, dass die wissenschaftliche Zeit niemals dauert …«

Das Staunen ist nach Descartes die erste der Leidenschaften der Seele, die von der unerwarteten Begegnung mit etwas Neuem kündet. Luce Irigaray beschreibt sie als Begegnung mit dem Anderen, »jene Leidenschaft, die kein Gegenteil und keinen Gegensatz hat, und die immer ein erstes Mal ist.« 51 Für Irigaray ist diese Art der Begegnung auch das Urverhältnis zu dem Geschlecht, zu dem ein erotisches Verhältnis entstehen kann. Eine ähnliche Verbindung stellt Derrida her, wenn er, sich auf Nietzsche beziehend, die Verhüllung der Wahrheit mit der Verhüllung der Frau hinter einem Schleier vergleicht. 52 Irigaray und Derrida denken beide den Eros als eine ordnende Kraft, die Harmonie im Chaos herstellt, indem sie zugleich verbindet und trennt: eine mediale, intensive Kraft. Die erotische Begegnung ist eine Begegnung mit einer Wahrheit, auch einer Wahrheit über sich selbst. Und das Staunen, die erste Leidenschaft der Seele, entspringt dieser Begegnung und drückt sie zugleich in ihrer besonderen Bedeutung aus. Bergsons grand étonnement ist aber noch mehr, es ist ein Staunen von besonderer Art. Es kennzeichnet die Entdeckung eines FehAdorno 1990, S. 164 f.: »Konstellationen allein repräsentieren, von außen, was der Begriff im Innern weggeschnitten hat […]. Indem die Begriffe um die zu erkennende Sache sich versammeln, bestimmen sie potentiell deren Inneres, erreichen denkend, was Denken notwendig aus sich ausmerzte.« Und ebd., S. 166: »Als Konstellation umkreist der theoretische Gedanke den Begriff, den er öffnen möchte, hoffend, daß er aufspringe […] nicht nur durch einen Einzelschlüssel […], sondern eine Nummernkombination.« Die Kritik am Identitätsdenken bei Adorno und Heidegger ist von Bergson beeinflusst, wie ihre Ausdrucksweise zeigt. 50 Brief an William James, 9. 5. 1908. In Mélanges 765 f. 51 Irigaray 1991, S. 20. 52 Vgl. Derrida 1986. 49

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1 · Henri Bergson: Wirklichkeit ist Bewegung

lens: der fehlenden Repräsentation der Dauer. Zugleich bringt es diese Entdeckung, ihrem Sinn gemäß, in einen poetischen und bildhaften Ausdruck. Denn die fehlende Repräsentation der Dauer hat natürlich damit zu tun, dass sich die Dauer nicht schematisch abbilden oder intellektuell vergegenwärtigen lässt. Was ist die angemessene Reaktion auf die fehlende Repräsentation der Dauer, die sich im Staunen äußert? Eine andere Ausdrucksform zu finden, die das Problem nicht löst, indem sie es beseitigt, sondern die es erst wahrhaft artikuliert, ohne das Staunen dabei zum Verschwinden zu bringen. Das philosophische Staunen ist die Begegnung mit der Intuition der Wahrheit, die als einfacher Punkt zum Kern (mehr dazu vgl. Kap. 7) der Bedeutung wird. Um diesen Kern der Bedeutung herum ordnen sich die möglichen Formen des Ausdrucks, die wiederum einander ergänzend die immanente Gliederung der Bedeutung selbst hervorbringen. Bergsons Intuition bedarf also einer schöpferischen Kraft, wie sie Cassirer im Zusammenhang mit Hume, Shaftesbury und Goethe immer wieder anführt. Intuition bedeutet, sich in die Fülle des dynamischen Ganzen erfahrend hineinzubegeben und es dann zu artikulieren, das heißt umzubilden in eigene Formen des Ausdrucks. So beschreibt Maritain auch das Vorgehen der Intuition bei Bergson im Gegensatz zum Intellekt: »elle produit en elle-même une ressemblance vivante de la chose connue, qui l’identifie avec la chose […]« 53

Die Intuition ist damit weniger der simultanen, intellektuellen Anschauung als vielmehr der produktiven Einbildungskraft verwandt. Sie bedeutet eine reale Veränderung durch das Intuierte, ein ›Einswerden‹ mit ihm und ›Bewegtwerden‹ von ihm. Zugleich bleibt sie bewusst reflektierend. Da Erkenntnis nur auf die Wahrnehmung aufbauen kann, muss das Denken, sowohl als Intuition als auch als Intellekt, mit der Wahrnehmung zusammenarbeiten. Es muss sich ihrer bedienen. In diesem Zusammenhang kommt die Anschaulichkeit bei Bergson wieder ins Spiel, und zwar in der Form der Bildlichkeit. Hier handelt es sich aber nicht um eine anschauliche Selbstgegebenheit der Dinge, sondern um bildliche Ideen.

53

Maritain 1930, S. 154.

74 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Intuition und Allgemeinheit

»Die Intuition wird sich übrigens nur durch die Intelligenz mitteilen können. Sie ist mehr als Idee; sie wird sich jedoch, um sich mitzuteilen, der Idee bedienen. Wenigstens wird sie sich vorzugsweise den konkreten Ideen zuwenden, die noch einen Anflug von Bildhaftigkeit besitzen.« (DSW 58)

4.2. Der Geist Schon in Matière et mémoire wird deutlich, dass eine Vielfalt sprachlicher und bildhafter Ausdrucksformen für die Strukturierung des Geistes notwendig ist. Geist und Sprache bedürfen konkreter Formen und Strukturen, die als ›Werke‹ analog zu den ›Organismen‹ der konkreten Lebensformen gedacht werden können. Diese einzelnen Formen haben, im Organismus wie in der geistigen Artikulation, ihre Eigengesetzlichkeit und Selbstständigkeit. Diese Analogie ist keine der »inneren Zweckmäßigkeit«, sondern eine analoge Entwicklung, ein gemeinsamer Artikulationsprozess der »äußeren Zweckmäßigkeit« (SE 47). Ein Kontinuum, das von schöpferischen Kräften durchdrungen ist, bildet Formen heraus. Das heißt, es beinhaltet ein Element des Diskontinuierlichen: der Struktur. »Ensuite parce qu’on ne peut pas réduire la durée bergsonienne à la continuité, fut-elle dynamique.« 54

Bergson verzichtet also auf ein festes Schema für die metaphysische Allgemeinheit und sieht sie stattdessen in der Dynamik eines Artikulationsprozesses. Dieser Verzicht bedeutet umgekehrt, dass Bergson tatsächlich meint, die Heterogenität der Wirklichkeit in der Bewegung als solcher zum Ausdruck bringen zu können. Diese metaphysische Allgemeinheit, die den Zusammenhang der Wirklichkeit reflektieren soll und nur durch Intuition, nicht durch Analyse gewonnen wird, »ergreift« sogar das Absolute (EM 181), verstanden als das, was nicht systematisch, also über seine Eingebundenheit in eine Relationalität erschlossen wird. Das aber kann nichts anderes sein als diese Relationalität selbst, verstanden als konkrete Totalität, sozusagen als »große« durée im Sinne von Whiteheads Verbundenheit aller Dinge. Die Vorstellung, dass die Metaphysik alle Einzelwissenschaften und Einzelerkenntnis54

Cariou 2008, S. 4.

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1 · Henri Bergson: Wirklichkeit ist Bewegung

se reflektierend umgreifen sollte, bringt Bergson noch von seiner Spencer-Lektüre mit (vgl. DSW 22). Das heißt aber nicht, dass die Metaphysik als Wissenschaft vom Geist alles enthielte. Sie enthält vielmehr gar nichts im Sinne des Beinhaltens, sondern umgreift und verbindet im Sinne des Medialen. Auf dieser Ebene wird deutlich, dass es sich bei der Aktualisierung der Erfahrung um eine »innere Form« oder »lebendige Form« im Sinne Cassirers handelt. Weder entelecheia (Aktualisierung, Wirklichkeit) noch energeia (Tätigkeit), noch ergon (Werk) alleine könnten die Bedeutung der inneren Form abdecken, weswegen Cassirer in den »Basisphänomenen« (ECN 1, 113–195) mit Bezug auf Humboldt eine Ergänzung, ein Zusammenspiel von Ich, Wirkung und Werk (»die Ich-Basis, die DuBasis, die Es-Basis« (ECN 1, 167)) beschreibt. Da Cassirer Bergsons Metaphysik auf die Ich-Basis beschränkt, gemäß seinem Verständnis von Intuition, das sich an Leibniz und Husserl orientiert, deutet er sie nicht als Denken der inneren Form. Bergsons »Intellekt« in der Schöpferischen Entwicklung versteht Cassirer als Geist 55, womit diesem die vermittelnde Funktion natürlich fehlen würde. Der Ursprung der intellektuellen Formen aus der Wahrnehmung als Tätigkeit schränken sie, so Cassirer, auf rein technische Werkzeuge, »Mittel zum Zweck« 56 ein. Während Cassirer selbst den Intellekt oder Verstand in die ganze Vielfalt geistiger Formgebung mit einbezieht, definiert ihn Bergson als genau das Element, das zur Zurichtung und Mechanisierung der Welt dient, letztlich mit dem Ziel, sie zu beherrschen. Hier greift er wieder dem Adorno der Dialektik der Aufklärung vor. Den Geist aber beschreibt Bergson an anderen Stellen als die individuelle durée des lebendigen Einzelnen, die Wechselwirkung von Wahrnehmung und Gedächtnis, aus der sich die Eigenständigkeit der Person entwickelt. Dieser Geist entspricht Cassirers lebendiger Form des Individuums. An anderen Stellen spricht Bergson vom Geist als dem Medium der metaphysischen Allgemeinheit, die das Absolute ergreift (s. o.). Dieser Geist ähnelt Cassirers lebendigem Geist, der »Verkörperung des Logos« (PSF III, 124). Das Missverständnis scheint in der strengen und prinzipiellen Trennung von Metaphysik und Wissenschaft zu liegen, die Cassirer bei Bergson diagnostiziert und auf Grund derer »[a]lle echte Evidenz 55 56

Vgl. Möckel 2005, S. 274. Ebd., S. 275.

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Intuition und Allgemeinheit

[…] der Wissenschaft versagt« (ECN 1, 175) bleibt. Dann wäre es in der Tat unlogisch, in der Schöpferischen Entwicklung auf biologischen Induktionen aufzubauen. Aber trifft das wirklich das Wissenschaftsverständnis Bergsons? Wenn wir Bergsons Erwartungen an die Metaphysik und die Wissenschaft als eine Erwartung der geistigen Vermittlung deuten, wird die Wissenschaft dabei nicht entwertet. Sie liefert keine »echte Evidenz« in Husserls Sinn, doch hat Bergson gar nicht diese Erwartung an die echte Evidenz, da er nicht dasselbe Verständnis von Anschaulichkeit hat. Er teilt nicht die Ansprüche der Phänomenologie und auch nicht ihre Aporien. Schon die durée des Bewusstseins im Essai ist nicht anschaulich im Sinne des Simultanen, Instantanen, Transparenten (Diaphanen). Es gibt bei Bergson auch nicht die Anschaulichkeit allgemeiner Schemata, nicht einmal als Theorie der Invarianten oder Universalien wie bei Cassirer und bei Whitehead. Formen des Ausdrucks der metaphysischen Allgemeinheit können nur in Konstellationen bildhafter Übertragung funktionieren. Dennoch können wir auch die dritte Form der Erkenntnis, die Cassirer in den »Basisphänomenen« unterscheidet, nämlich die werkorientierte Erkenntnis der »Kontemplation« (ECN 1, 167) für Bergson in Anspruch nehmen. Anschaulichkeit ist eben bei Bergson gerade niemals unmittelbar, sondern muss durch die Intuition und durch Prozesse der Artikulation erst hervorgebracht werden. Und auch dann wird die artikulierte Intuition niemals etwas abbilden und auch keine Modelle entwerfen. Sie wird, mit Benjamin gesprochen, Konstellationen hervorbringen: Konstellationen konkreter Ideen. Diese Konstellationen bedienen sich vorzugsweise der Spuren des Bildhaften, um »poetisch« zu werden im Wortsinn des Schöpferischen, so dass etwas Neues verstanden werden kann, das vorher nicht verstanden wurde. Am Beispiel der durée lässt sich dieser philosophische Prozess zeigen. Spielen wir ihn einmal andeutungsweise vor. Durée ist eine Konstellation, die sich einer Reihe von Bildern oder Spuren des Bildlichen bedient, durch deren Zusammenspiel ein neues Konzept entsteht. Bildhafte Spuren sind zum Beispiel die Härte, le dure, die an das Zugrunde-Liegende, die Basis, das platonische hypokeimenon denken lässt. Aber diese Assoziation wird konterkariert von anderen Bildern: zum Beispiel von der Fülle und Vielfalt der Qualitäten, die uns über topologische Metaphern vor Augen geführt werden, die Kristalle, die 77 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

1 · Henri Bergson: Wirklichkeit ist Bewegung

sich entfaltende Blüte, die in einander übergehenden Emotionen, die Farbenspiele etc. Das Dauerhafte liegt also in diesem Schillern, verstehen wir, und das sei das Leben des Bewusstseins. Aber wo ist das Subjekt, der feste Punkt, den wir zu suchen gewohnt sind, der Träger unserer aktiven Vermögen, das Substrat des Wandels? In den Zuständen selbst, heißt es nun, im reinen Fließen des Erlebens, denn das Fließen ist das Feste und Stetige, das alles verbindet, und der Punkt ist es, der immer schon verschwunden ist, wenn wir ihn anblicken wollen. Das Fließen ebenso wie der Punkt sind Metaphern, Anordnungen von Bildern, deren Wirkungen sich verbinden und die konkrete Idee erzeugen. Und wie, wenn das Ich die Fülle selbst ist und nicht der Punkt, wie kann ich mich darin wiederfinden, wie kann ich mich an meine eigenen Erlebnisse erinnern und sie von denen der anderen unterscheiden, Realität von Phantasie unterscheiden und die Zukunft von der Vergangenheit? Durch die Qualitäten selbst, so zeigt sich, denn sie könnten als Qualitäten nie erscheinen, wenn sie nicht untereinander verknüpft wären in einer Weise, die mich die Welt stets in Bezug auf mich erfahren lässt. Denn Qualität ist die echte Relation. Alle anderen Relationen sind ihr nachgestellt, sind künstliche Modelle des Intellekts. Jede meiner Bewegungen verändert diese Verknüpfung und verändert den Zustand, der mein Weltverhältnis darstellt. Und so fein gegliedert ist diese Verknüpfung, dass jeder Zustand tausendfach mit dem verbunden ist, woraus er gerade entstand und wohin er strebt. Ob ich den Kopf wende und mich umsehe oder ob ich mich in das Gefühlsleben eines anderen Menschen versetze, beides sind solche Bewegungen, die mir einen Wandel meiner Wirklichkeit vermitteln. Immer ist diese meine Wahrnehmung eingeschränkt, perspektivisch, aber gerade darin liegt ihre Stärke, denn das ermöglicht ihre tausendfachen Verbindungen. Und die Gesamtheit dieser Verbindungen, ganz wie Cassirer sagen würde, ist die Wirklichkeit – und ist zugleich der Geist. Das alles ist durée. Die philosophische Intuition wird also letztlich einen philosophischen Sinn hervorbringen, der selbst zwar nichts Anschauliches oder Abbildendes hat, sich aber der Anschauungen und Bilder bedient. Der philosophische Sinn wird ein eigener Denkprozess sein, der als Neukonfiguration von Bedeutungen funktioniert.

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Kapitel 2 Alfred North Whitehead: Das Ereignis der Kreativität »In mathematics you don’t understand things. You just get used to them.« (John von Neumann)

1.

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1.1. Philosophy of organism Alfred North Whitehead wurde 1861 in England geboren, in Ramsgate, East Kent. Diesen Hintergrund beschreibt er als prägend für sein ganzes Leben und Denken. Dabei verwendet er das organische Motiv einer »Prägung« durch die individuelle Wirkung der Persönlichkeit 1, statt durch gezielte intellektuelle Formung. »England was governed by the influence of personality: this does not mean ›intellect‹. […] Such was England in those days, guided by local men with strong mutual antagonisms and intimate community of feeling. This vision was one source of my interest in history, and in education.« (ESP 4)

Da er als Philosoph erst viel später an die Öffentlichkeit trat, übte der annähernd gleich alte Bergson direkten Einfluss auf ihn aus. Eines seiner Ziele sei es, so Whitehead, das Denken Bergsons, James’ und Deweys vor dem Vorwurf des Anti-Intellektualismus zu retten (PR xii), sinngemäß erhoben von Bertrand Russell. Whitehead hält Russell in seiner Eigenschaft als Mathematiker für einen neuen Aristoteles; von seinen philosophischen Fähigkeiten ist er weniger überzeugt. Die Aristoteles-Analogie ist zudem ein eingeschränktes Kompliment. Das bekannteste Whitehead-Zitat lautet schließlich: »The safest general characterization of the European philosophical tradition is that it consists of a series of footnotes to Plato.« (PR 39) In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass Whiteheads Perspektive auf Bildung und Erziehung in letzter Zeit auch neue Aufmerksamkeit erfährt, vgl. dazu etwa Sölch (Hg.) 2014 und Allan 2012.

1

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2 · Alfred North Whitehead: Das Ereignis der Kreativität

Man sollte bemerken, dass diese Aussage so allgemein gehalten ist wie eben möglich. Es geht, wie Whitehead sogleich ausführt, nicht um Systematisierungen der platonischen Philosophie, sondern um den Reichtum von Ideen, »wealth of general ideas«, die verstreut, »scattered« in diesen Systematisierungen anzutreffen sind. Hinzu kommt, dass die europäische Tradition nicht eigentlich auf Platon Bezug nimmt, sondern eine series of footnotes konstituiert, also eine eigene Ordnung der Bezugnahme, die sich aus Motiven der platonischen Philosophie entfaltet. Für den Mathematiker ist eine Serie oder Reihe eine sequentielle Transformation. Das heißt, dass die Bezugnahme über Fußnoten die Motive immer weiter transformiert, genau genommen, dass sie immer das transformiert, worauf gerade Bezug genommen wird, und eben nicht das Original. Dieses kann eher als Motiv gelten im Sinne der Motivation, wie Bergsons Intuition: das, was einen ganz eigenen Prozess ursprünglich in Bewegung gesetzt hat und mit dem Ergebnis zwar intensiv verbunden ist, ihm jedoch durchaus nicht ähnlich sein muss. Whitehead will sich in diese europäische Tradition stellen. Er will darüber hinaus aber auch Bezug nehmen nicht nur auf die Vermittlung dieser Tradition, sondern auf die Art der Vermittlung im platonischen Denken. Denn »[b]ei Platon sieht Whitehead […] sein metaphysisches Prozeß-Paradigma bzw. die Vorstellung vom Sein als Werden begründet.« 2 Es ist die Medialität des Kontinuums als Werden sowie der Einheit von Denken und Sein im logos als reflektierende Durchdringung des Werdens, auf die sich Whitehead bezieht. Er schreibt sich also in die Tradition ein und greift zugleich über sie hinaus, auf ihren Ursprung zurück. Damit ist die Bedeutung Platons für das Zusammenspiel von Denken und Sein in Whiteheads Philosophie schon hoch angesetzt, jedoch noch nicht hoch genug. »But I do mean more: I mean that if we had to render Plato’s general point of view with the least changes […], we should have to set about the construction of a philosophy of organism.« (PR 39)

Das Eigenständige am platonischen Denken im Vergleich zu dem, was der Tradition als vorplatonisches Denken bekannt ist, liegt für Whitehead in der intensiven Verknüpfung von Kontinuum und Struktur

2

Kann 2001, S. 29.

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Spekulative Systeme und natürliche Prozesse

durch die Dynamik der Erfahrung. Das ist die Grundidee seiner philosophy of organism. Im Vorwort zu Adventures of Ideas (AI vii) weist Whitehead seine Referenzautoren aus. Zur Kosmologie sind das genau zwei Werke: A. E. Taylors Commentary on Plato’s Timaeus und Cyril Baileys The Greek Atomists and Epicurus, also gewissermaßen ein Kommentar zur Quelle des Kontinuums und einer zum Ursprung des Diskontinuums. Den Timaios selbst zitiert er nicht. Im Allgemeinen scheint Whitehead der Meinung zu sein, dass man des Lesens der »großen« Philosophen auch zu viel tun kann und durchaus ohne sie auskommt. »So you will not be surprised when I confess to you that the amount of philosophy I have not read passes all telling, and that as a matter of fact I have never read a page of Hegel.« (ESP 116)

Ein größerer Kontrast zu Cassirers sorgfältigen geisteswissenschaftlichen Studien ist kaum denkbar. Doch der »Organismus der Vernunft«, den Cassirer bei Kant sieht, ähnelt der philosophy of organism als dynamisches Schema, das zwischen Ereignis und Erfassen, zwischen Denken und Sinn vermittelt und beides zugleich erzeugt. Das ergibt kein einheitliches Ordnungssystem, sondern die heterogene Koexistenz einer Pluralität von Eigenkonfigurationen, die sich – je nach Perspektive – gegenseitig ausschließen oder miteinander in Wechselwirkung treten können. Heterogen sind sie insofern, als sie zugleich ›dasselbe‹ und ›etwas anderes‹ sind. Sie befinden sich immer bereits in Vorgängen der concrescence und der transition, die beide dem Erfassen, prehension angehören. Diese beiden Tendenzen ähneln Bergsons Tendenzen zum Verlauf und zur Strukturierung. Konkreszenz (concrescence) strebt nach Homogenisierung, Übertragung (transition) bringt heterogene Elemente mit ein. Beide gemeinsam leisten erst Formenwandel. Lebendige Organismen und die immanente Gliederung von Formen oder Werken sind einander analog, wie bei Bergson, nicht durch Ähnlichkeit, sondern durch vermittelnde Übertragung von Ereignissen der prehension. Das Ereignis der »symbolic reference« (SME 30), der Entstehung von Bedeutung, entspringt einer Wechselwirkung verschiedener Typen von Wahrnehmungsereignissen, namentlich der »perception in the mode of presentational immediacy« und der »perception in the mode of causal efficacy«. Beides sind Typen von Ereignissen der Objektivierung, die jedoch erst aus der Relationalität 81 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

2 · Alfred North Whitehead: Das Ereignis der Kreativität

der symbolic reference heraus analysierbar sind, welche Whitehead auch »synthetic activity« nennt (SME 18). Symbolische Referenz entspricht also in gewisser Hinsicht den medialen Ereignissen der Wahrnehmung, die Cassirer als Artikulation beschreibt. Das »Symbolische« hat in diesem Zusammenhang nichts mit der abstrakten, symbolischen Logik der Mathematik zu tun, die laut Whitehead dazu dient, sich Tätigkeit im Denken zu ersparen, sondern im Gegenteil gerade mit der Tätigkeit des Wahrnehmens und des Denkens selbst, also mit dem intensiven Übergang zu einer Form, die Bedeutung in einem Sinnzusammenhang gewinnt.

1.2. Der mumifizierte Dinosaurier In Europa wurde Whitehead sehr wenig gelesen. Die Sperrigkeit der Sprache und die mathematische Prägung des Denkens tragen zu diesem Mangel an Rezeption bei, aber auch die »fehlende Negativität«, das naiv anmutende Urvertrauen in die Möglichkeit der Metaphysik, das konterkariert wird von der alles andere als naiven Komplexität dieses metaphysischen Denkens. Schwemmer hat Whitehead einmal als den interessantesten Philosophen des 20. Jahrhunderts bezeichnet, aber nur, wie er sagte, wenn man »mit Whitehead gegen Whitehead« lesen würde. Denn Whiteheads Denken verbindet tatsächlich äußerst überzeugende und originelle Einsichten mit verschiedenen eigenwilligen, teils auch verfälschenden oder nachlässigen Herangehensweisen, die vielfach eine verwirrende Mischung erzeugen. Zudem gebraucht Whitehead nicht die philosophische Sprache der europäischen Tradition, sondern kreiert fast vollständig eine ihm eigene Sprache. Das Werk als Ganzes ist unübersichtlich und herausfordernd. Hampe sieht die Reaktion einer »Mischung aus Ehrfurcht und Hilflosigkeit« 3. Reiner Wiehl, einer der ersten deutschen Whitehead-Experten, bezeichnet Process and Reality als einen »mumifizierten Dinosaurier«, auf Grund seiner metaphysikgläubigen Komplexität »unschädlich für die Gegenwart« 4. Inzwischen wurden aber Wege gefunden, die Wirkmacht der Mumie zu entfalten. Schon 1988 freute sich George L. Kline über das zunehmende Interesse, das zur Neuauflage des 1963 von ihm he3 4

Hampe 1991a, S. 10. Wiehl 1959, S. 106.

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rausgegebenen Bandes Alfred North Whitehead: Essays on his Philosophy führte. 5 Auf die neue Reihe Whitehead-Studien, die im Verlag Karl Alber erscheint, wurde bereits hingewiesen. Die Wiederentdeckung von Whiteheads Philosophie hat gewiss auch mit neuen Perspektiven auf die Naturwissenschaften zu tun. 6 Dabei sind u. a. David Bohm, Joseph Needham und Ilya Prigogine zu nennen. 7 In Brüssel ist Michel Weber Direktor des Centre de philosophie pratique »Chromatiques whiteheadiennes« und gibt Process Studies mit heraus, das interdisziplinäre Studien zur Prozessphilosophie enthält und als zentrale Vordenker Whitehead, Hartshorne, James, Peirce und Bergson nennt. In Leuven fand 2005 eine Konferenz zu »Whitehead, Deleuze and the Transformations of Metaphysics« 8 statt, wobei Whitehead und Deleuze auch als Philosophen des »Ereignisses« gelesen wurden. Beide vertreten eine bergsonianische Philosophie des Ereignisses, die alltäglich, pragmatisch und realistisch sein will, d. h. anders als die Heidegger folgende Variante der dramatischen Ereignisphilosophie als Metaphysik des Umsturzes und Augenblicks (vgl. Kap. 7). Als direkte Bezüge für seine Philosophie von Ereignis und Wahrnehmung nutzt Whitehead u. a. Locke und Hume, wobei die Forschung sich einig ist, dass er seinen Referenzautoren nicht gerecht wird. Specht schreibt: »Ich kritisiere die Locke-Deutung Whiteheads in fast allen Punkten […], auch das ist eine Weise, ihn ernst zu nehmen.« 9 Whitehead entwickelt seinen Erfahrungsbegriff aus einer Revision des Sensualismus, den er dabei vollständig umschreibt. Eigentlich übernimmt er nur genau eine Grundidee Lockes: dass alles Wissen und alle Erkenntnis aus der Erfahrung stammen. 10 Mit Wittgenstein hätte Whitehead auch schreiben können: Kline 1989, Preface To The University Press of America Edition. Allerdings gibt es auch eine Bewegung, die gerade durch die Tatsache, dass man Naturwissenschaft heute auch als kulturelles Phänomen begreift, kulturphilosophische Referenzen auf Phänomenologie oder Strukturalismus aufbaut und naturphilosophische Arbeiten vernachlässigt, weil sie zuvor nie so bekannt geworden sind. Der amerikanische Philosoph Manuel deLanda bezieht sich zum Beispiel in Intensive Science and Virtual Philosophy ausschließlich auf Deleuze, aber nicht auf Whitehead oder Bergson (deLanda 2002). 7 Vgl. dazu Hauskeller 1994, S. 139, und Vrhunc 2002, S. 60 f., sowie Griffin 1986. 8 Dazu erschien der Tagungsband von Cloots und Robinson 2005. 9 Specht 1986, S. 47. 10 Auch Locke erfährt übrigens dabei die Ehre der Platon-Analogie: er sei der »Platon der britischen Philosophie.« (PR 60) 5 6

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2 · Alfred North Whitehead: Das Ereignis der Kreativität

»Was der Sensualismus meint, ist ganz richtig, nur lässt es sich nicht sagen …« 11 Im Fall Lockes und Humes lässt sich darum nicht sagen, was sie eigentlich meinen, weil sie dem cartesischen subjektiven Schema der Erfahrung verhaftet sind. »[T]hey utilize those elements in their own experience which lie clear and distinct, fit for the exactitude of intellectual discourse. […] This deduction presupposes that the subject-object relation is the fundamental structural pattern of experience.« (AI 175)

Wie Bergson sieht Whitehead bei Berkeley ein Hinterfragen dieser Selbstverständlichkeit der unmittelbaren Anschauung. (SMW 66 ff.) Daraus folgt, dass Whiteheads Philosophie der Erfahrung etwas ganz anderes als experience reflektiert als die Verknüpfung von Impressionen in der Psychologie des Sensualismus, nämlich eine Form der durée. Direkte Einflüsse auf die philosophy of organism sind eher Leibniz und Spinoza, die frühneuzeitlichen Metaphysiker dynamischer Systeme. Whitehead gebraucht den Begriff der »Monade« für seine actual entities (AI 177) und spricht bei den vermittelnden Funktionen des Prozesses als Ereignis (occasion) von »modes of functioning« (AI 176).

1.3. Das spekulative System In England wurde die Aufstellung eines spekulativen Systems durch Francis Herbert Bradley, John McTaggart und Samuel Alexander unternommen, die Denker des »British Idealism«. Im selben Absatz von Process and Reality, in dem er sich auf Bergson beruft, positioniert sich Whitehead »in sharp disagreement with Bradley«, dennoch sei »the final outcome […] after all not so greatly different.« (PR xiii) Die Wahl des Titels Process and Reality verweist auf Bradleys Appearance and Reality (vgl. das Kapitel »Appearance and Reality« in 11 Im Tractatus logico-philosophicus gebraucht Wittgenstein die Formulierung: »Was der Solipsismus nämlich meint, ist ganz richtig, nur läßt es sich nicht sagen, sondern es zeigt sich.« Wittgenstein 1963, S. 90, Satz 5.62. Daraus folgt, dass das, was der Solipsismus sagt, falsch sein muss, weil er nicht sagen kann, was er meint. Ich verstehe dieses Argument nicht als Polemik für mystisches Schweigen, sondern als eine Frage der Topik: wie nach etwas zu fragen sei. Ähnlich scheint mir Whiteheads Haltung zu Locke zu sein.

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AI 209–219). Bradley steht bei Whitehead auch für ein System im Geiste Hegels, den er ja bekanntlich nicht gelesen hat. Wenn sich Übereinstimmungen mit einem dialektischen System hegelianischer Prägung in Whiteheads Metaphysik und Ideengeschichte finden oder Abgrenzungen gegen solche, so ist das eher zu beziehen auf Bradley oder McTaggart. Whiteheads metaphysische Systematik besteht im Wesentlichen im Prinzip der relatedness, der Verbundenheit aller wirklichen Ereignisse, aus der sich durch die Tendenzen zu Konkreszenz und Übertragung Formen entwickeln. Er geht also von Anfang an von einem dynamischen Verständnis von Erfahrung aus, das die statischen Strukturen der Subjektphilosophie als erkenntnistheoretisch geprägte »high abstraction« ansieht (AI 175). Die materiale Komponente der Erfahrung ist von dem Prozess der Erfahrung nicht zu trennen. Darum ist die Vermittlung von Wirklichkeit und Erfahrung keine logisch-dialektische Vermittlung der Vernunft oder des Begriffs, sondern eine ästhetische Vermittlung. Kausalität ist eine Art der Formbildung unter vielen (PR 80). Alle Formbildungsverhältnisse bezeichnet Whitehead als prehension: wahlweise als Aufnehmen, Vernehmen, oder Erfassen. Zwar löst diese Behauptung auf elegante Weise alle Zweifel am Dualismus, auf die wir bei Bergson stoßen, und alle Zweifel an der Selbsttransparenz des Geistigen, die in Bezug auf Cassirer aufkommen könnten. Die argumentative Stütze besteht darin, dass die menschliche Erfahrung gar nichts von der Wirklichkeit erfassen könnte, wenn nicht das Formprinzip des Erfassens als solches schon in der Wirklichkeit selbst angelegt wäre. Hätte nun Whitehead einmal eine Seite Hegel gelesen, nämlich die erste Seite der Einleitung zur Phänomenologie des Geistes, so hätte er genau diese Begründung dort vorgefunden. Und es scheint, dass sich auch eine ähnliche Problematik daraus ergibt. Bei Hegel »endet« es mit der Selbstidentität und Selbsterkenntnis des Absoluten. Bei Whitehead befürchtet man Ähnliches für das Prinzip des Erfassens. Wenn alles Erfassen ist, wo sind dann die echten Widersprüche? Wo sind die Kriterien, die realen Grenzen? Wie erhalten wir adäquate Formen für die qualitative Unterscheidung der Wirklichkeit auf der Ebene des Geistes? Mit Bergson können wir hier schon vermuten: durch die Dynamik, d. h. die Strukturierung des Kontinuums.

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2 · Alfred North Whitehead: Das Ereignis der Kreativität

1.4. Der natürliche Prozess Alles Kontinuierliche ist für Whitehead process oder physis. Letztere wird in der europäischen Philosophie meist irrtümlich als Vorgang der Aktualisierung gedacht. Das Kontinuum aber ist nicht aktual, sondern dynamisch. Bergson würde sagen, es ist real, aber virtuell. Whitehead drückt dasselbe im Begriff der Potentialität aus. »Continuity concerns what is potential; whereas actuality is incurably atomic.« (PR 61) Im Bereich des Kontinuums entsteht eine logische Ordnung als Muster: eine Form der Organisation, die jeweils von einer ursprünglichen »realen Potentialität« (PR 43) der universalen Verbundenheit zu einer »Fülle« von actual occasions übergeht. (PR 77) Das Muster ist die Struktur dieser »Fülle«. Occasion bedeutet einerseits Ereignis, andererseits Zusammentreffen im Sinne von symbebekos. Ein einziges Zusammentreffen reicht dabei aus, um eine relationale Ordnung der ganzen Welt herzustellen – wenn natürlich auch nur eine unter vielen. Der Viktorianer Whitehead kann bei dieser Wortwahl durchaus an die social occasion gedacht haben, die »Gelegenheit« für bürgerliche Subjekte, die eigenen sozialen Wirkungskräfte zu entfalten und eine Selektion und Konfiguration anderer Subjekte vorzunehmen. Dass auch die viktorianische Weltordnung nur eine unter vielen ist, gibt der relationalen Ordnung einen ironischen Anstrich, wobei Whitehead durchaus reflektiert, dass einige Systeme andere unterdrücken und zerstören können. Nur sieht er das nicht als ihre wesenhafte Überlegenheit an, sondern als einen Effekt der jeweiligen Organisationsform. Denjenigen Prozess, der gerade unter dem Gesichtspunkt betrachtet wird, dass er ein wirkendes Element in sich aufnimmt, nennt Whitehead »Subjekt«. Der Gebrauch dieses Ausdrucks ist damit natürlich für die philosophische Tradition kontraintuitiv. Das hängt auch damit zusammen, dass er besonders skeptisch ist gegenüber der von ihm sogenannten »Subjekt-Prädikat-Form« der Aussagenlogik, die der subject-object relation in der traditionellen Philosophie der Erfahrung entspricht. Das Gegenstück zum Subjekt ist also kein Prädikat und auch nicht das Objektivierte, sondern der gesamte Rest der Welt, unter dem Gesichtspunkt ihrer Konkretion betrachtet. Subjektivierung oder subjektive Form ist jeder Prozess der Formbildung, der sich von der Gesamtheit alles Übrigen abgrenzt. Alle anderen qualitativen Aspekte des kosmologischen Zusammen86 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Spekulative Systeme und natürliche Prozesse

hangs können in den Prozess einbezogen oder von ihm unberührt gelassen werden: beides ergibt eine symbolische Relation, nämlich entweder die der prehension oder der negative prehension, die aber ebenfalls ein bond, eine Verknüpfung bedeutet. (PR 41) Aufnahme oder Ausschluss sind die beiden Möglichkeiten, die sich aus dem Zusammentreffen ergeben. Jede Aufnahme bedeutet eine Verwandlung des dynamischen Ganzen. Die occasion ist ein medialer Mittelpunkt, wie Bergsons »Zentren der Indeterminiertheit« und »virtuelle Punkte«, und eine topologische Singularität. Wie Charles Sanders Peirce hängt auch Whitehead der mathematischen Überzeugung an, dass nur die topologischen Singularitäten Identität und Individualität besitzen. 12 Aber diese Singularitäten sind selbst nichts – oder, wie Whitehead sagt, sie sind reine Möglichkeiten – und damit, wie wir schon von Bergson gelernt haben, formlos. Reale »Möglichkeiten« und Individualitäten werden sie erst als Lokalisierungen der Perspektive: Sie existieren nur in Bezug auf den Rest der Welt. So werden sie zum Kern von Ereignissen, die als relationale Ursprünge von Prozessen danach streben, das Kontinuum zu individualisieren, es in eine Struktur zu überführen. Es sind die Ereignisse, die miteinander verknüpft sind in dem, was Whitehead später nexus (PR 18) nennt. In spinozanischer Diktion bezeichnet er das Ereignis auch als »Substanz«, entsprechend Bergsons »Substantialität der Veränderung«. Kontinuierlich ist der Wandel. Jedes Ereignis ist nicht nur eine occasion, sondern, präziser, eine occasion of experience. »An occasion of experience is an activity, analysable into modes of functioning which jointly constitute its process of becoming. Each mode is analysable into the total experience as active subject, and into the thing or object with which the special activity is concerned.« (AI 176)

Diese aktiv-passiven, subjektiv-objektiven Relationen konstituieren die Ereignisse der Aktualisierung, die miteinander durch Kontraste im Kontext der jeweils entstehenden »Ordnung« verbunden sind. Ein solcher Ereigniskontext kann mit Leibniz auch eine intensive Realität genannt werden (vgl. Kap. 5), wobei die Pluralität von Kontrasten, die aufzunehmen möglich wird, die Intensität steigert. (PR 83 ff.) 12

Vgl. Heuser 2007, S. 192.

87 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

2 · Alfred North Whitehead: Das Ereignis der Kreativität

Wie bei Bergson finden wir hier wieder das Motiv der Fülle (gr. plenum), die als Gegenbegriff zum Kontinuum dient und durch gesteigerte Vielfalt auch die Präzision des Aufnehmens steigert. In Bezug auf ihre jeweils eigene Individualität heißen die intensiven Realitäten actual entities. Hat eine actual entity ihre Konkretion, ihre satisfaction (»Erfüllung« – das heißt, Entsprechung der jeweils aufzunehmenden Fülle) erreicht, so ergibt sich eine vollständige Struktur aller anderen Konkretionen im Verhältnis zu ihr: eine vollständige Struktur des Universums. Da die Aktualisierung jedoch ein dynamischer Vorgang ist, kann das Ganze einer Konkretion zugleich wieder als Teil, als wirkendes Element mit etwas anderem zusammentreffen und eine neue intensive Realität, einen Vorgang des Erfassens auslösen. Die Prozesse des Erfassens sind somit nicht beliebig: sie sind durch die occasions lokalisiert. Auch die Erkenntnis, die über prozessuale Funktionen der Wahrnehmung entsteht, kann vor Beliebigkeit und Willkür geschützt werden, indem man sie als Ereignisse der Objektivierung unter anderen deutet. »The process creates itself, but it does not create the objects which it receives as factors in its own nature.« (AI 179) Wie Cassirer nimmt Whitehead ein Interpretationsverhältnis als Grundrelation des Ereignisses an. Die Selbsterschaffung und Neudeutung steht in prozessualer Kontinuität, in Formangleichung (conformity) mit dem, worauf sie sich bezieht. Der Zufall ist ihr Wesen, weil das, was sie ist, durch ihn entsteht. In dieser Entstehung ist er kein Zufall mehr, sondern wandelt sich um zur Notwendigkeit. Actual entity und actual occasion sind zwei Namen für dasselbe, für eine intensive Realität: einmal betrachtet unter dem Aspekt ihrer Individualität, die sich in ihrer eigenen Dauer erfüllt und zu ihrer eigenen, immanenten Gliederung (satisfaction) kommt, und einmal betrachtet unter dem Aspekt ihrer Relationalität zu allem anderen, also zu einer übergeordneten Gliederung. Die komplexe Struktur, die jeder intensiven Realität entspricht, ist zugleich jeweils die neue Potentialität, das neue »Plenum« aller Dinge, für eine andere Transformation. (PR 77) In dieser Weise werden natürliche Prozesse zur Dynamik des spekulativen Systems. Whitehead überträgt also das Verhältnis von Erfassen und Ausdruck, das für Bergson und für Cassirer das Spezifikum der sinnlichen Wahrnehmung ausmacht, auf eine kosmologische Ebene. Erfassen ist eine Grundfunktion jeder echten Veränderung; und die Ereignisse der 88 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Spekulative Systeme und natürliche Prozesse

sinnlichen Wahrnehmung und des bewussten Erfassens und Unterscheidens sind Spezifika der allgemeinen Erfassensvorgänge, die sich allerdings durch ihre Modi, die ihnen eigenen Arten der Strukturierung auszeichnen. Wie Cassirer betrachtet Whitehead die physis durchaus als erklärbar, insofern ihre Medialität des Kontinuums, die alles umgreift, durchdrungen wird von der Medialität des Geistes, die ihrerseits alles umgreift. Das aber kann, auch hier stimmen sie überein, nur erreicht werden durch die ästhetische Medialität der Erfahrung, die es den komplexeren Formen des Geistes möglich macht, die ihnen eigene Struktur des Erfassens zu reflektieren, sie im Wandel der Natur wiederzuerkennen und als solche zu deuten. Die actual entity definiert Whitehead darum in Analogie zur fundamentalen Basis unserer sinnlichen Wahrnehmung, die er gleichsetzt mit der Intensität von Wirkung überhaupt: dem Gefühl, feeling. Jede Wirkung in der Dauer eines Prozesses ist das GefühltWerden eines Faktors, die zugleich die Aufnahme dieses Faktors als neues Element in das dynamische Ganze ist. Feeling ist die Intensität als Sympathie, als Mit-Fühlen und Verändert-Werden. »Each actual entity is conceived as an act of experience […] It is a process of ›feeling‹ the many data, so as to absorb them into the unity of one individual ›satisfaction‹.« (PR 40) »[A] datum […] is describable without reference to its entertainment in that occasion. An object is anything performing this function of a datum provoking some special activity of the occasion in question. Thus subject and object are relative terms. […] Such a mode of activity is termed a ›prehension‹.« (AI 176)

Data (das »Gegebene«) sind Objektivierungen anderer actual entities, insofern sie in die einbezogen werden, die wir gerade betrachten. »Datum« ist eine Abstraktion dieses Vorgangs, insofern er nur aus der Perspektive des einbeziehenden, erfassenden Prozesses betrachtet wird; für sich genommen, sind diese Objekte selbst subjektive Prozesse. »This use of the term ›feeling‹ has a close analogy to Alexander’s use of the term ›enjoyment‹ ; and has also some kinship with Bergson’s use of the term ›intuition‹.« (PR 41)

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2 · Alfred North Whitehead: Das Ereignis der Kreativität

2.

Naturphilosophie in England

2.1. Ein tiefer Denker 2.1.1. Tiefe und Fülle. Her vivid life Als besondere Nähe des Denkens beschreibt Whitehead sein Verhältnis zu Samuel Alexander. Die Konzeption des Prozessualen als ästhetischer Medialität, die Whitehead mit Bergson gemeinsam hat, teilt Alexander in dieser Form jedoch nicht, denn er begreift das Verhältnis von Raumzeit und materiellen Individualitäten als ein Verhältnis von Stoff und Form. Für ihn ist die Raumzeit eine empirische Realität. Die Nähe zu Bergson wirkt sich entscheidender aus. Bergson hat diese Nähe auch gesehen und Whitehead sehr geschätzt. 1923 diskutierten einige Wissenschaftler aus Harvard ein Berufungsverfahren Whiteheads und brachten für ihn vor, Bergson habe ihn als den »best philosopher writing in English« 13 bezeichnet, was ihn noch vor William James stellen würde. Die Hauptwerke Science and the Modern World (1925), Process and Reality (1929) und Adventures of Ideas (1933) waren zu dieser Zeit noch nicht erschienen, nicht einmal Symbolism. Its Meaning and Effect, die Barbour-Page Lectures von 1927. Umso interessanter ist es, dass Bergson die innere Übereinstimmung aus den naturphilosophischen Arbeiten wie Concept of Nature (1920), An Enquiry Concerning the Principles of Natural Knowledge (1919) und The Principle of Relativity (1922) erkannt hat. Vrhunc bezeichnet Whiteheads Verhältnis zu Bergson als den Versuch, »die Bergsonsche Philosophie der durée, der Bewegung und der Zeit in einen allgemeinen kosmologischen Kontext zu rücken« und dabei »das Fließen mit der Idee der Formbildung […] zu verknüpfen.« 14 Das soll nicht bedeuten, dass Bergson alle Formung in reines Fließen auflösen möchte, sondern dass die Verschiebung in den kosmologischen Kontext die Dichotomie von Fließen und Form Lowe 1990, S. 133. Henry Osborn Taylor, der das laut Lowe gesagt haben soll, stellte Harvard auch das Geld für Whiteheads Berufung zur Verfügung, was dieser erst nach Taylors Tod 1941 erfuhr. Die Berufung wäre sonst nicht genehmigt worden. 1933 widmete Whitehead ihm und seiner Frau, »to whose friendship I owe so many happy hours«, die Adventures of Ideas. 14 Vrhunc 2002, S. 68. 13

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Naturphilosophie in England

von der subjektiven Philosophie phänomenologischer Prägung endgültig ablöst, ohne dabei aber in parmenideische oder heraklitische Naturphilosophie zurückzufallen. In Denken und schöpferisches Werden spielt Bergson selbst auf das zentrale Konzept der Vermittlung von Kontinuum und Diskontinuum an, das ihn mit Whitehead verbindet. Er schreibt, die Physik sei jetzt dazu geführt worden, »eine Art von Fusion zwischen der Wellentheorie und der Korpuskulartheorie anzunehmen, wir würden sagen, zwischen der Substanz und der Bewegung. Ein tiefer Denker, der von der Mathematik zur Philosophie herkommt, sieht ein Stück Eisen beispielsweise als eine ›melodische Kontinuität‹ an.« (DSW 90)

Bergson zitiert Whitehead hier nach Jean Wahls Vers le concret, erschienen 1932, in dem dieser »die Ideen von Whitehead und die Verwandtschaft mit den unsrigen« (ebd.) behandelt. Ein »tiefer Denker« zu sein, ist sicher eines der höchsten Komplimente, die man von Bergson erwarten kann. Denn die Individualität der Persönlichkeit entfaltet sich ja nur in der Tiefe, und die philosophische Intuition folgt dieser Individualität in ihre Tiefe hinein. Die »Tiefe« korrespondiert mit der »Kontinuität« des Eisens, des Physikalischen, erschlossen durch die ästhetische Formendifferenzierung des »Melodischen«. Die »Verwandtschaft« dieser Ideen mit den »unsrigen«, also Bergsons, nennt auch Whitehead kinship (s. o.) in Bezug auf feeling und Intuition. Verwandtschaft ist nicht Identität, sondern wesenhafte Ähnlichkeit durch gemeinsame Zugehörigkeit zu einem Ursprung oder einer Familie, kin. In Bezug auf feeling und Intuition liegt der gemeinsame Ursprung in der Topologie und bei Leibniz, und die wesenhafte Ähnlichkeit liegt darin, dass beides Formen der Dauer und der Verwandlung sind. Intuition bei Bergson wandelt das Denken durch die Erzeugung neuer Formen des Ausdrucks, feeling bei Whitehead wandelt das Ereignis durch die Aufnahme wirkender Faktoren zu einer neuen und ganz eigenen Individualität. Whitehead kommt, wie Bergson selber, von der Mathematik her zur Philosophie. Nach der Schulzeit im Sherborne Internat in Dorsetshire studiert er Mathematik am Trinity College in Cambridge, wird dort in die Cambridge Conversazione Society (»the Apostles«) gewählt, der er seine kulturelle Bildung zuschreibt 15 (denn im Studi15

Vgl. Hocking 1989.

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um beschäftigt er sich nur mit Mathematik), und nach dem Studium zum Fellow ernannt. Bei den »Tripos« 1883 wird er Vierter (Fourth Wrangler). 1884 beginnt er, in Cambridge Mathematik zu unterrichten. 1890 wird Bertrand Russell sein Schüler; 1903 beginnen sie die Arbeit an den Principia Mathematica. 1890 heiratet Whitehead Evelyn Willoughby Wade. »The effect of my wife upon my outlook on the world has been so fundamental, that it must be mentioned as an essential factor in my philosophic output. […] Her vivid life has taught me that beauty, moral and aesthetic, is the aim of existence; and that kindness, and love, and artistic satisfaction are among its modes of attainment.« (ESP 8 f.)

Schönheit als Streben (aim ist nicht telos, sondern Tendenz oder Richtung 16) der Existenz ist ein Kerngedanke der Ästhetik Whiteheads. Bezeichnend ist in dieser Erzählung auch das vivid life der energischen Gattin. Es ist eine zeittypische Metaphorik der Intensität, die in englischen Romanen des 19. Jhs. vielfach auftaucht und eine natürliche Kraft des lebendigen Individuums als Streben nach erfüllter Existenz beschreibt. »Lebendigkeit«, vividitas gehört in den Bereich der unbestimmten Fülle, der »Prägnanz des Dunklen« (Herder, vgl. Kap. 7), aus der die Erfahrung umso breiter schöpft, je weniger sie im Voraus festgelegt ist. 17 Darum darf vividness nicht, wie z. B. bei Hume 18 (vgl. SME 30–37), auf die unmittelbare Anschauung beschränkt werden, in der es nur Präsentation gibt und keine Wirkung, keine Relationalität (Bergson sagt »Realität ohne Qualität«, vgl. Kap. 1). Vividness kann nur vorliegen, wo etwas in Bewegung ist. Denn sie entfaltet sich im Streben nach der Form und im Schöpfen aus dem Unbestimmten.

»Aim« ist das Ziel, auf das der Bogenschütze zielt und auf das er die Spannung seines Bogens ausrichtet. Die Berührung mit ihm ist eine intensive, eine Spannungsbewegung, und hat nichts mit Identität zu tun: es ist kein Ziel der Verwandlung, sondern der perspektivische (virtuelle) Punkt einer Ausrichtung von Aktivität. 17 Baumgarten nennt vividitas die Qualität, »aus deren ungewöhnlich weitläufigem Reichtum zu einem Teil jenes Schimmernde und jener Glanz der Überlegung aufsteigen mag, deren Ganzes gleichwohl faßlich und absolut klar sein muß.« Aesthetica § 619, zitiert nach Menke 2008, S. 41. 18 Es gibt zwei Bedeutungen von vividness: »Klarheit« und »Lebhaftigkeit«. Whitehead kritisiert bei Hume einen Gebrauch von »Klarheit«, der sich auf statische Verbindung von Sinnesdaten beschränkt, statt die dynamische »Lebhaftigkeit« der causal efficacy in die Sinneswahrnehmung schon mit einzubeziehen. 16

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2.1.2. Schöpfen aus dem Unbestimmten. Metaphysik aus der Topologie 1906 erscheint in den Philosophical Transactions der Royal Society of London 19 eine Arbeit Whiteheads, »On Mathematical Concepts of the Material World«, die nebenher aus den Principia Mathematica hervorgeht und nicht nur seine Kritik am »scientific materialism« (SMW 36) vorwegnimmt, sondern auch die Relationalität von Raum, Materie und Erfahrung. Im April 1914 spricht er bei einem Kongress für Philosophie der Mathematik in Paris über »the necessary mathematical relations between space and matter« 20. Der Text erscheint in der Revue de Métaphysique et de Morale als »La Théorie Relationniste de l’Espace«. Auch diese Arbeit wird Bergson bekannt gewesen sein. Diese frühen philosophischen Arbeiten sind noch nicht spekulativ, sondern sollen der Mathematik als Rahmenwerk dienen 21, wenn auch der spätere Kollege in Harvard, William Hocking, darauf hinweist: »[…] his speculative structure, which came to fruition during his American years, was already well advanced in its main outlines. […] Any impression that he began his mature philosophical work in America is far from the fact.« 22

In der Tat kommt, was wir später als actual entity und actual occasion kennenlernen, in den frühen Arbeiten schon zu fast vollständiger Erscheinung im naturphilosophischen Kontinuum des Ereignisses, als event. 23 In diesem Sinne kann man sagen, dass Whiteheads Philosophie wirklich aus der Topologie stammt. So beschäftigt er sich in der Universal Algebra mit »positional manifolds«, die den topologischen Mannigfaltigkeiten bei Riemann entsprechen: »the general idea of space of any arbitrarily assigned number of dimensions, but excluding all metrical spatial ideas« 24.

Vgl. zu Erscheinen und Bedeutung dieser Arbeit auch Lowe 1985, S. 296 ff. Whitehead in einem Brief an Gregory Foster, Provost des University College, vom 16. 3. 1912, zitiert nach Lowe 1990, S. 13. 21 Vgl. dazu Lowe 1990, S. 93. 22 Hocking 1989, S. 8. 23 Zum Ereignisbegriff bei Whitehead vgl. auch Faber/Krips/Pettus (Hg.) 2010. 24 Whitehead, Alfred North: A Treatise On Universal Algebra, with Applications. Vol. I. Cambridge University Press, Cambridge 1898. Buch III., Sektion 22, zitiert nach Lowe 1985, S. 193. 19 20

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Die eigentlich philosophische Diskussion der topologischen Mannigfaltigkeiten entsteht dann aus dem Versuch, einen weiteren Band der Principia zur Geometrie zu schreiben, und aus dem Enthusiasmus für die Bedeutung dieser Thematik, die sich auch auf die Struktur von Raum, Zeit und materialer Welt erstreckt. »The whole depends on the discussion of the connective properties of multiple relations. This is a grand subject. […] I call such things ›multifolds‹.« 25

Die spätere Bedeutung von »inneren« und »äußeren« Relationen tritt hier bereits zu Tage. Auch die »properties«, die Eigenschaften, werden eine zentrale Rolle spielen. Eigenschaften werden in Whiteheads Philosophie nicht den Substanzen zugeordnet wie in der aristotelischen Logik, sondern wie in der mengentheoretischen Topologie als Produkte von Relationen angesehen. Diese Relationen sind Verhältnisse zwischen Ereignissen, die eine raumzeitliche Lokalisierung von Objekten (extensive properties) und Qualitäten (intensive properties) ermöglichen. »Thermodynamic properties can be divided into two general classes, namely intensive and extensive properties. If a quantity of matter in a given state is divided into two equal parts, each part will have the same value of intensive properties as the original, and half the value of the extensive properties. Pressure, temperature, and density are examples of intensive properties. Mass and total volume are examples of extensive properties.« 26

Auch bei Whitehead sind qualitative Eigenschaften Objektivierungen von Ereignissen: alle properties sind relational. Hier sind Intensitäten Größen, genauso wie Extensionen, nur von anderer Art, d. h. die Modalität des Ereignisses ist eine andere. Auch die Physiker haben festgestellt, dass hier noch einmal eine Unterscheidung vorgenommen werden muss, die über Teilbarkeit oder Unteilbarkeit alleine nicht funktioniert, nämlich eine Unterscheidung, die die Entstehung von Qualitäten betrifft. DeLanda schlägt vor: »[W]hile two extensive properties add up in a simple way (two areas add up to a proportionally larger area), intensive properties do not add up but rather average. This averaging operation is an objective operation, in the sense that placing into contact two bodies with different temperatures will Whitehead in einem Brief an Russell im Oktober 1913, zitiert nach Lowe 1990, S. 93. 26 Van Wylen 1963, S. 16. 25

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trigger a spontaneous diffusion process which will equalize the two temperatures at some intermediate value.« 27

Hier erkennen wir die gegenseitige Durchdringung der Stoiker wieder. Ihr klassisches Beispiel, die Vermischung von Wasser und Wein, stellt genau diese vollständige Gleichheit her, die schließlich zu einer neuen Qualität führt. Qualitäten sind also ebenso durch Ereignisse relational hervorgebracht wie Objekte, doch intensive Relationen sind nicht selbst Qualitäten. Für Whitehead sind intensive Relationen das eigentlich Ereignishafte am Ereignis, die reale Veränderung oder Aktualisierung, die er später als feeling bezeichnen wird. Objektivierte Qualitäten sind partikular und können nur im Zusammenhang des Ereignisses identifiziert werden: als Element eines dynamischen Ganzen.

2.2. Raum, Zeit und Ereignis 2.2.1. Das Ereignis als dynamisches Ganzes In The Organisation of Thought (1916) definiert Whitehead die Aufgabe der Wissenschaft als Organisation der »actual experience« (AE 105), deren Relationen im »flux« (AE 105) oder »continuum« (AE 106) gegeben seien – wir hören die Anklänge an James und Bergson –, doch fragmentarisch und undifferenziert. Es sind intensive Relationen, die in der Organisation des Denkens zu begrifflichen und objektiven Extensionen geordnet und systematisiert werden können. Aber sie dürfen – ganz wie bei Bergson – nicht mit den abstrakten, in ihrer Extension bereits vollständig definierten Konzepten des Intellekts verwechselt werden. »This fact is concealed by the influence of language, moulded by science, which foists on us exact concepts as though they represented the immediate deliverances of experience. The result is, that we imagine that we have immediate experience of a world of perfectly defined objects implicated in perfectly defined events […] the neat, trim, tidy, exact world which is the goal of scientific thought.« (AE 106)

Induktion ist für Whitehead die bevorzugte Methode, die intensiven Relationen der Erfahrung zu extensiven Relationen der wissenschaft-

27

DeLanda 2002, S. 60.

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lichen Darstellbarkeit zu systematisieren. Die Basis dafür liefern »intimate connections« (AE 135): die intensiven Relationen zwischen Teil und Ganzem. Sie ersetzen in Bezug auf die Wahrnehmung die Unterscheidung zwischen »Innen« und »Außen«: ein Wahrnehmungsereignis ist ein Ganzes, die Ereignisse, die wir als innere und äußere benennen wollen, sind seine Teile. Eine solche »intimate connection« besteht, laut »Space, Time and Relativity« (1915), auch zwischen Raum und Zeit (nicht durée, sondern messbarer Zeit). Auch sie verbinden sich durch die Mediation des Ereignisses. »In analysing our experience we distinguish events, and we also distinguish things whose changing relations form the events […] which we consider as relations between the space extensions of the things […]. A point in space is nothing else than a certain set of relations between spatial extensions. […] Spatial relations are expressed by relations between objects, temporal extensions by relations between events.« (AE 157 f.)

Mit Bezug auf Leibniz 28 macht Whitehead hier deutlich, dass Raum und Zeit aus intensiven Relationen heraus verstanden werden müssen, also topologisch. Der Raum ist keine stetige Folge von Punkten, Linien oder Flächen. Die Zeit ist keine stetige Folge von Momenten oder Intervallen. In der Enquiry Concerning the Principles of Natural Knowledge (1919) zieht er den weiteren Schluss, dass auch die Materie kein stetiges Substrat ist. Nichts hat Stetigkeit an sich selbst, sie wird relational erzeugt durch Ereignisse, die »ultimate facts of nature« (ECN 4). Wie bei Bergson und Cassirer wird die Kategorie der Substanz abgelöst durch das relationale Kontinuum und seine mediale Funktion. Leibniz kennt Whitehead aus Russells Darstellung A Critical Exposition of the Philosophy of Leibniz (1900) sowie aus La Logique de Leibniz von Louis Couturat (1901). Ob ihm die Leibniz-Diskussion zwischen Cassirer, Russell und Couturat 29 bekannt war, ist schwer zu sagen. Für Whiteheads eigenes Leibniz-Verständnis ist dieser breitere Horizont allerdings auch nicht notwendig. Er stellt seinen Bezug so dar: »You will remember that the idea of perspectives is quite familiar in philosophy. It was introduced by Leibniz, in the notion of his monads mirroring

28 29

Vgl. dazu Basile 2009. Vgl. Ferrari 2003, S. 48.

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perspectives of the universe. I am using the same notion, only I am toning down his monads into the unified events in space and time. In some ways, there is greater analogy with Spinoza’s modes; that is why I use the terms mode and modal.« (SMW 70)

Die logische Funktion der Substantialität will Whitehead umgehen. Weder geht er auf Leibniz’ Dynamisierung der Entelechie näher ein, noch setzt er sich mit Spinozas Argumentation zum Sein der Substanz auseinander, sondern ersetzt sie einfach durch das mediale Kontinuum des Prozesses, insofern es eine Pluralität von Formen hervorbringt: »In the analogy with Spinoza, his one substance is for me the one underlying activity of realisation individualising itself in an interlocked plurality of modes. Thus, concrete fact is process.« (ebd.)

Auch Spinozas Philosophie muss jedoch überarbeitet werden, weil die Modi eine kohärente eigenständige Begründung als relationale Qualitäten erfahren und nicht von der Substantialität des dynamischen Ganzen abhängig sein sollten. »The gap in the system is the arbitrary introduction of the ›modes‹. […] The philosophy of organism […] differs by the abandonment of the subject-predicate forms of thought. […] The result is that the ›substance-quality‹ concept is avoided.« (PR 6 f.)

2.2.2. Das Kontinuum als »ether of events« Die Diskussion der Relativitätstheorie dreht sich u. a. um eine wortwörtliche Stofflichkeit des medialen Kontinuums, nämlich des »material ether«, von dem die Physik nur sehr unwillig ablässt. »The material called ether is merely the outcome of a metaphysical craving« (ECN 25), nämlich das Bedürfnis nach einer Vermittlung von Kräften im leeren Raum. Bei Aristoteles ist der Äther ein Garant für Stetigkeit: als feinstoffliches Medium soll er zwischen den metaphysischen Extremen des parmenideischen Plenums, in dem Stetigkeit durch absolute unteilbare Fülle geleistet wird, und des demokritischen Vakuums vermitteln, dem Stetigkeit ganz fehlt. Auf diese Tradition spielt Whitehead an, wenn er den Äther, dessen stoffliche Nichtexistenz durch das Michelson-Morley-Experiment bewiesen wurde, aufgreift und ihn durch das mediale Kontinuum des Prozesses ersetzt, und zwar zunächst in der Form eines »ether of events«: »The continuity of nature 97 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

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is the continuity of events; […] something is going on everywhere and always.« (ECN 25) Whitehead ist der Ansicht, dass die Punkte eines Kontinuums keine individuelle Identität besitzen (s. o.). Traditionell gesprochen, ist das die aristotelische Position des topos gegen Zenon von Elea (vgl. PR 68 f.), die auch Bergson und Cassirer vertreten 30 und auf die sich die Topologie bezieht: Die einzelnen Abschnitte des Kontinuums sind keine individuellen Einheiten. Ebenso wenig ist das Kontinuum selbst als allgemeine oder gar kategoriale Form anzusehen, die für die Übergänge, die transitions, als verbindendes Substrat dienen könnte. 31 Es ist vielmehr die Übertragung selbst, die Verbindung erst herstellt. Daher ist eine mediale Dynamik im Kontinuum zum Ausdruck der »intensiven Realität« notwendig, die zwischen Zustand und Übergang vermittelt. Bei Aristoteles leistet das der Ort in Abhängigkeit von der Erfahrung. Die echten individuellen Einheiten, die eine Stetigkeit des Übergangs möglich machen, sind mediale, relationale Einheiten. Sie bilden je ein dynamisches Ganzes, das die wirkenden Elemente Zustand (Qualität) und Übergang (Relation) als Elemente enthält. Die virtuellen Zentren dieser Einheiten heißen in der Mathematik nach Listing »topologische Singularitäten« 32. Eine solche ist Whiteheads Ereignis. Der Bezug auf Leibniz verbindet Whiteheads Ereignisbegriff mit der bergsonianischen Dynamik. Dazu wiederum eine Leibniz-Paraphrase von Cassirer: »Indem für das Problem des Subjekts der Bewegung der ›einfache‹ inextensive Massenpunkt eintritt, wird damit zugleich der Begriff des räumlich ausgedehnten Atoms für die Konstruktion der Körperwelt entbehrlich gemacht.« (LS 307)

Das räumlich ausgedehnte Atom wird durch den intensiven oder virtuellen Punkt ersetzt, der nichts anderes ist als die topologische Singularität, die Whitehead das Ereignis nennt. Genau in diesem Sinne schreibt er später: »Each atom is a system of all things.« (PR 36) Er bezieht sich dabei nicht auf ein etwa räumlich ausgedehntes Vgl. dazu Bergson in Denken und schöpferisches Werden (DSW, S. 151 f.) und Cassirer in Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs (WWS, S. 221). 31 Ein solches Verständnis des Kontinuums finden wir in Roman Ingardens BergsonDeutung, vgl. Ingarden 1968, S. 122, aber auch bei William James, vgl. Vrhunc 2002, S. 62 ff. Vgl. Kap. 1. 32 Vgl. Heuser 2007, S. 192. 30

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Atom, sondern auf einen intensiven Partikel, das virtuelle Zentrum oder den ›Kern‹ eines Ereignisses, das mit allen anderen Ereignissen in Verbindung und in potentieller Wechselwirkung steht. Gerade die Unteilbarkeit des Atom-Begriffs kehrt er um, so wie er überhaupt jede seiner Metaphern im Spannungsverhältnis zu ihrer konventionellen Bedeutung benutzt. Ein Atom ist tatsächlich unteilbar, insofern es eine Singularität ist – aber eine Singularität ist selbst nur eine Potentialität. Die Verwirklichung besteht erst im Ereignischarakter, in den Beziehungen zum Rest der Welt. Indem das Atom Ereignis wird, wird es ein System aller Dinge. »The occasion arises from relevant objects, and perishes into the status of an object for other occasions. But it enjoys its decisive moment of absolute selfattainment […]. [T]he words ›individual‹ and ›atom‹ have the same meaning, that they apply to composite things with an absolute reality which their components lack. […] The term ›monad‹ also expresses this essential unity at the decisive moment […] between its birth and its perishing.« (AI 177)

Whitehead scheint hier in logische Schwierigkeiten zu geraten, weil er (wie im stoischen Sympathiekosmos) eine Verbundenheit aller Dinge annimmt. Denn es entstehen ja logische Strukturen und Ordnungen, die nicht miteinander kompatibel sind. Das klassische Beispiel ist die Wellen- und die Teilchentheorie der Quanten. Doch sind diese Strukturen und Ordnungen keine »Produkte« der wirkenden Verbindungen aller Dinge, wie man in einer newtonianischen Physik annehmen würde. Sie entstehen vielmehr durch Metrisierung, durch Objektivation im Ereignis. »The attainment is partial, and thus there is ›disorder‹ ; but there is some attainment, and thus there is some ›order‹.« (PR 83 f.)

2.2.3. Eternal objects. Bedeutung als Muster Das heißt, die Strukturen oder Ordnungsprinzipien selbst – die Wellentheorie und die Teilchentheorie – sind nicht miteinander wirkend verbunden. Sie sind Prinzipien des Erfassens verschiedener Ereignisse, und diese Ereignisse sind miteinander verbunden, was das Wesen des Ereignishaften überhaupt ist. Aber aus dem Objekt des einen Ereignisses folgt nicht die Art der Objektivierung des anderen. Darum ist es kein Problem, diverse logische Ordnungen ›parallel‹ zueinander anzunehmen, ebenso wenig, wie die verschiedenen Wahrnehmungen verschiedener Menschen einander ausschließen. 99 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

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Sie können ja ohnehin keine schematische Geltung für das Universum als Ganzes beanspruchen, sondern hängen von der individuellen Einheit der Aktualisierung ab. »The proper balance between atomism and continuity is of importance to physical science. […] the doctrine […] conciliates Newton’s corpuscular theory of light with the wave theory. For both a corpuscle, and an advancing element of a wave front, are merely a permanent form propagated from atomic creature to atomic creature. […] Thus the train of waves starts as a corpuscular society, and ends as a society which is not corpuscular.« (PR 36)

In diesem Sinn ist es zu verstehen, wenn Whitehead die eternal objects als »Potentialitäten« bezeichnet. Den durch Bergson geschulten Sprachgebrauch stört dieser Ausdruck der Potentialität, mit der Formloses assoziiert wird. Eternal objects sind jedoch gerade Formen oder, genauer zu sein, Muster, cases of patterns. Als »Potentialitäten« gehören sie dem Kontinuum an, in dem sie sich als Muster entwickeln können. Real sind sie jedoch nur als Ordnungsprinzipien der Relevanzbeziehungen zwischen actual entities. Eternal objects sind Formen betrachtet unter dem Aspekt ihrer Wiederholbarkeit, aber Insubstantialität. Sie sind »relationale Invarianten« (Cassirer) und existieren in der Relationalität ihrer Wiederholungen. In diesem Sinne sind sie »eternal«, als Grundprinzip der Wiederholbarkeit selbst. In der Funktion von Mustern ordnen sie die Übergänge zwischen ›echten‹ Formen, actual entities. Die Muster sind die Objektivierungen des aim, der Spannungsbewegung, der Tendenz oder Richtung der Aktualisierung. Whitehead nennt sie auch Lockmittel, »›objective lure‹ for feeling: the concrescent process admits a selection from this ›objective lure‹ into subjective efficiency.« (PR 87) Die eigentliche Spannungsbewegung ist die Intensität des Gefühls selbst, dem das wiederholbare Muster die Richtung vorgibt. »Feelings are ›vectors‹ ; for they feel what is there and transform it into what is here.« (Ebd.) Auf rein naturphilosophischer und mathematischer Basis entwickelt Whitehead also bereits eine bergsonianische durée mitsamt einem Konzept zur Entstehung von Bedeutung. Das »wahrnehmende Ereignis« liefert die Perspektivierung der wiederholbaren Muster und wird zum Fluchtpunkt des Ganzen, »forming a partially discerned complex within the background of a simultaneous whole of nature […] This background is that complete event which is the whole of nature simultaneous with the percipient event, which is itself

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part of that whole. Such a complete whole of nature is called a ›duration‹. […] A duration […] is not an abstract stretch of time […] In perception the associated duration is apprehended as an essential element in the awareness, but it is not discriminated into all its parts and qualities. […] the whole continuum of nature ›now-present‹ means one whole event (a duration).« (ECN 68) 33

Im Werk zur Relativitätstheorie (1922) werden dazu die Ausdrücke significance und passage geprägt. Ereignisse sind untereinander wechselseitig von Bedeutung, significance (R 25). Das ist nichts anderes als die Wechselwirkung der Ereignisse, ihre raumzeitlichen Relationen. Daher nennt Whitehead sie auch den Ablauf des Ereignisses, passage (R 68). Sowohl Qualität als auch Relation sind hier bereits in die komplexeren Gebilde von Bedeutung und Verlaufsform gefasst. Die Annahme einer einheitlichen Struktur von Raum und Zeit ist eine Abstraktion aus der kontinuierlichen Einheitlichkeit dieser mit einander verbundenen Ereignisformen, nach Whitehead der uniform significance of events (R 64). In Process and Reality definiert er das Ereignis in Abhängigkeit vom Begriff der actual occasion: »An event is a nexus of actual occasions inter-related in some determinate fashion in some extensive quantum. […] For example, a molecule is a historic route of actual occasions, and such a route is an ›event‹.« (PR 80)

Es sind diese naturphilosophischen Thesen, die Whitehead den Ruf nach Harvard eingetragen haben. Ivor Leclerc ist der Meinung, dass die Potentialität des Kontinuums den eigentlichen Schritt zur Konzeption von Process and Reality ausmache. Doch das Kontinuum der Ereignisse hat bereits mediale Funktion; es ist keine reine Aktualisierung, sondern intensive Relationalität, und vermittelt schon in Whiteheads naturphilosophischer Phase zwischen Aktualisierungen. Auch hier gilt schon: »Whitehead holds, with Leibniz, that extension must be an order of relatedness between actualities and not itself an actuality; but he is able to maintain that the order is a real relatedness.« 34

Diese Simultaneität ist nicht die Simultaneität, die Bergson an Einstein kritisiert in Durée et Simultanéité. Whiteheads Kritik an Einstein argumentiert vielmehr parallel zu der Bergsons. 34 Leclerc 1989, S. 121. 33

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3.

Metaphysik in Harvard und Edinburgh

3.1. Pure Bergsonianism! Ein frischer Ansatz Josiah Royce hat in Harvard eine Tradition der Verbindung von Metaphysik mit Mathematik und Naturwissenschaften eingeführt. Inspiriert von Peirce etablierte er Kurse in symbolischer Logik und wissenschaftlichen Methoden. Eine Gruppe Kollegen führt nach seinem Tod 1916 den »Royce Club« weiter, der indirekt verantwortlich ist für Whiteheads Ruf nach Harvard. 35 In Harvard und Radcliffe, wo er parallel Veranstaltungen hält, verlässt sich Whitehead weniger auf philosophische Bildung, sondern auf seine eigene Originalität. »He felt quite sure that he was right in the basic criticisms he would make of Descartes’ position and Hume’s. But he would not undertake an examination of their texts […] What he had to say would not be said as a scholar; his fresh approach would in fact be more valuable.« 36

Die erste Vorlesung stößt nicht auf ungetrübte Begeisterung. Einige Hörer erwarten Naturphilosophie, erhalten aber schon einen »frischen Ansatz« zur Metaphysik. Henry Sheffer »was heard to mutter as he left the room, ›Pure Bergsonianism: Pure Bergsonianism!‹« 37 Erfahrung, Werden und Prozess werden also offenbar bereits miteinander verknüpft. Das war nicht, was man in Harvard erwartet hatte. Offenbar entfaltet sich nun die metaphysische Dimension von Whiteheads Denken, die in seiner frühen Philosophie des Ereignisses schon angelegt ist, nämlich die Dimension der Entstehung des Neuen auf der Basis von Medialität. Was im naturphilosophischen Kontinuum der Ereignisse noch fehlt, ist eine metaphysische Deutung der significance. Hier ist bereits der process beschrieben, aber wir wissen noch nichts von reality. Die »Natur« in Whiteheads früheren Schriften ist nicht die Wirklichkeit, die apprehension ist noch keine prehension. Es gibt noch keine Form. Das geschieht erst in den sich ergänzenden metaphysischen Hauptwerken, und zwar durch die Einführung des Konzeptes der 35 36 37

Vgl. Hocking 1989, S. 9. Lowe 1990, S. 141. Ebd., S. 142.

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Kreativität. Denn »[d]ie Kreativität ist – ähnlich wie in Bergsons L’évolution créatrice – aus einem primär anthropologischen Begriff zu einem metaphysischen Universalbegriff geworden.« 38 Unter Kreativität versteht Whitehead nämlich die Entstehung des Neuen durch intensive Relationalität, die der Basis in einem medialen Kontinuum bedarf und dieses mediale Kontinuum auf die vielfachen Perspektiven der Sinnzusammenhänge hin dynamisiert.

3.2. Erfahrung als Basis der Logik. Die Lowell Lectures In Boston hält Whitehead im Februar 1925 die Lowell Lectures, veröffentlicht als Science and the Modern World. In diesem Rahmen führt er die Begriffe eternal object, concrete event, prehension und actual occasion ein, um die Strukturierung der Realität vor dem Hintergrund einer Strukturierung der Erfahrung zu beschreiben. Die Einfügung von Wirkzusammenhängen in Sinnzusammenhänge, aus denen allein sie verständlich werden, wird hier zum ersten Mal als kulturelle Übertragung beschrieben, ähnlich wie später in Adventures of Ideas. Die kulturell vermittelten Formen der Wissenschaft entstammen der Erfahrung, ohne dem Bewusstsein immanent zu sein. Bedeutung hängt nicht vom Bewusstsein ab: sie muss mehr sein als das. Whitehead fordert einen realen, intensiven Zusammenhang zwischen Wirkung, Veränderungen in der Wirklichkeit, und Bedeutung, Veränderung im Sinnzusammenhang. Dieser reale, intensive Zusammenhang ergibt sich aus den Ereignissen der Erfahrung. »I differ from the idealists, so far as they consider such an external significance as peculiar to consciousness and thence deduce that the things signified have a peculiar dependence to consciousness.« (ESP 142)

Die idealistische Vorstellung solcher Abhängigkeit führt zur irrtümlichen Trennung von Natur und Geist, da Bedeutung (significance) zwar in Relation zu Bewusstseinsereignissen steht, aber nicht zu Ereignissen der Natur. Der »Geist« verliert dann seine Medialität und wird zum Sammelbegriff für Bewusstseinsereignisse, ohne eigene Kohärenz. Daraus folgt wiederum die Verwechslung von Konkretion

38

Fetz 1986, S. 208.

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und Abstraktion, wie sie an zentraler Stelle an der Figur der fallacy of misplaced concreteness (SMW 51) thematisiert wird. Die Art, wie wir Wissenschaft betreiben, ist ein kulturelles Phänomen. Diese Tatsache wird nicht ausreichend reflektiert, wenn die mathematisch-naturwissenschaftliche Systematisierung der Wirklichkeit als diese selbst genommen wird, also die Abstraktion als Konkretion, Naturwissenschaft als Materialismus und die Wissenschaften vom Geist als etwas von ihnen prinzipiell Getrenntes. »Thereby, modern philosophy has been ruined.« (SMW 55) Dieser Gedanke behält immer zentrale Bedeutung. Whiteheads letzter öffentlicher Vortrag »Immortality« endet mit den Worten: »My point is that the final outlook of philosophic thought cannot be based upon the exact statements which form the basis of special sciences. This exactness is a fake.« (ESP 96)

Die Lösung des Problems liegt in der Entwicklung der Naturwissenschaft selbst, vor allem in einer Verbindung von Relativitätstheorie und Quantenmechanik. Indem die Naturwissenschaft sich dem Zauber der scheinbaren Vernünftigkeit zu entziehen beginnt, hört sie auf, die Wirklichkeit zu verdinglichen. Stattdessen erfährt sie die Macht des Absurden als neue Kategorie der Bedeutung, die sich auf eine neue Art in Erfahrung bringen lässt. Un-Sinn kommt zu seinem Recht in der prozessualen Entwicklung von Sinn. »The eighteenth century opened with the quiet confidence that at last nonsense had been got rid of. To-day we are at the opposite pole of thought. Heaven knows what seeming nonsense may not to-morrow be demonstrated truth.« (SMW 114)

Diese Entwicklung wurde, so Whitehead, vor allem durch eine neue materiale Qualität von Instrumenten vorangetrieben, die es dem Wissenschaftler ermöglichen, sich von der Illusion der Anschaulichkeit zu lösen. Das Zeichen oder Instrument wird zur virtuellen Strukturierung des Wahrnehmbaren (vgl. auch Kap. 7). Als Beispiel nennt Whitehead das Michelson-Morley-Experiment, das die Verabschiedung des materiellen Äthers ermöglicht. Der zentrale Begriff der prehension wird mit Blick auf Berkeley entwickelt und vom bewussten Auffassen unterschieden. »The word perceive is, in our common usage, shot through and through with the notion of cognitive apprehension. So is the word apprehension, even with the adjective cognitive omitted. I will use the word prehension

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for uncognitive apprehension: by this I mean apprehension which may or may not be cognitive.« (SMW 69)

Zwar sei Berkeley noch in der verfälschenden Trennung von mind und matter befangen, die erst im 20. Jahrhundert durch das neue Denken physikalischer Wirkzusammenhänge relativiert wird. Aber Wahrnehmung bedeute für ihn, so Whitehead, bereits mehr als bloßes Ansammeln von sensations oder impressions, nämlich eine dynamische, perspektivische Einheit, die er irrtümlich aus der Relationalität eines »Geistes« herleitet statt aus der dynamischen Relationalität der Natur selbst, die der Geist seinerseits durchdringt. »We can substitute the concept, that the realisation is a gathering of things into the unity of a prehension; and that what is thereby realised is the prehension, and not the things. […] For Berkeley’s mind, I substitute a process of prehensive unification.« (SMW 69)

Ein solcher process of prehensive unification ist die Symbolisierung. In Radcliffe wird Whitehead von Susanne Langer aufgesucht, angezogen durch seine prozessuale Logik, die für sie eine interessante Alternative zu Royce und Sheffer darstellt. 39 Whitehead betreut ihre Dissertation und unterstützt ihre erste Publikation, »Confusion of Symbols and Confusion of Logical Types«, die Russells Typentheorie kritisiert. 40 Das Nachdenken über symbolische Logik verbleibt für Langer ebenso wie für Whitehead nicht im Bereich des mathematischen Kalküls, sondern beschäftigt sich mit der Tätigkeit des Denkens selbst und der Entstehung von Bedeutung aus intensiver Relationalität, die sie beide feeling nennen. Lachmann argumentiert, Whiteheads Symbolisierung nehme eine besondere Stellung ein zwischen Symbolisierungstheorien, die idealismuskritisch argumentieren – dazu nennt Lachmann Cassirer – und Symbolisierungstheorien, die empirismuskritisch argumentieren – dazu nennt er Merleau-Ponty. 41 Whitehead schließt beide Kritikformen in seine Philosophie der Symbolisierung ein. Ich werde argumentieren, dass Cassirer das ebenfalls und sogar recht ausführlich tut. Die Übereinstimmung zwischen beiden, ganz unterschiedlich formulierten Symbolisierungskonzepten sehe ich in 39 40 41

Vgl. Lachmann 2000b, S. 21. Lowe 1990, S. 148. Vgl. Lachmann 2000a.

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ihrer prozessualen Entstehung aus intensiver Relationalität, die zu medialer Verknüpfung von sinnlicher Wirkung und sinnhafter Bedeutung führt.

3.3. Wirkung und Bedeutung des Symbolischen. Die Barbour-Page Lectures Whitehead definiert sein Konzept des Symbolischen über eine mathematisch funktionierende symbolische Logik hinaus in Symbolism. Its Meaning and Effect wie folgt: »The organic functioning whereby there is transition from the symbol to the meaning will be called ›symbolic reference‹.« (SME 8) Es überrascht nicht, dass diese Schrift, die Veröffentlichung der Barbour-Page Lectures in Virginia 1927, vielfach auf empörte Kritik stieß. Sie ignoriert bewusst sämtliche Konventionen des Nachdenkens über Wahrnehmung. »Our most fundamental conscious experience has generally been taken to be the perception of sensa, i. e., of relatively clear and distinct objects such as red, bitter, etc. Whitehead disagrees. The most basic conscious experience is emotional rather than cognitive, an affective response (expansion or retreat) to some vague presence dimly felt.« 42

Affektivität, emotionales Bewegt-Werden als Ereignis, ist die Basis jeder Art von Wahrnehmung und macht zugleich das aus, was Wahrnehmung, auch die bewusste, mit anderen Ereignissen gemeinsam hat: die Intensität des Bewirkt-Werdens. Der zweite Punkt, an dem sich Whitehead in Übereinstimmung mit Bergson von den Konventionen des Nachdenkens über Wahrnehmung absetzt, ist sein Verständnis der Wahrnehmung als Tätigkeit. Er verbildlicht dieses Verständnis in einer charmanten kleinen Szene, in der zwei Protagonisten, nämlich ein Künstler und ein kleiner Hundewelpe, auf einen Stuhl treffen. Der kleine Hund springt auf den Stuhl: er erkennt ihn, indem er ihn benutzt, beides ist Teil einer Bewegung. Nur ein gut dressierter Hund, so fährt Whitehead fort, würde davon absehen, auf den Stuhl zu springen. Ihn zu benutzen, ist also der natürliche Impuls, ihn aber abstrakt zu betrachten ist das Ergebnis sorgfältigen Trainings. An diesem Beispiel lässt sich zeigen, dass Whitehead gerade nicht ein Paradigma der Wahrnehmung pos42

Brennan 1973, S. 274.

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tuliert, in dem zunächst »farbige Formen« gesehen würden, wie manche diese Stelle missdeutet haben. 43 »I am very sceptical as to the high-grade character of the mentality required to get from the coloured shape to the chair. One reason for this scepticism is that my friend the artist, who kept himself to the contemplation of colour, shape and position, was a very highly trained man, and had acquired this facility of ignoring the chair at the cost of great labour. We do not require elaborate training merely in order to refrain from embarking upon intricate trains of inference.« (SME 3)

Die farbige Form ist eben nicht das Erste. Sie ist eine fehlerhafte Abstraktion, die von Theoretikern vorgenommen wird, welche die arbeitsintensive Fähigkeit, den Stuhl zu ignorieren, für basal halten. Wieder erkennen wir hinter dieser leisen Ironie die fallacy of misplaced concreteness: diesmal sind es die komplexen Inferenzen, die vergessen oder für einen Automatismus gehalten werden, wenn die Abstraktion »farbige Form« konkret gesetzt wird. Die Konkretion ist der Stuhl, insofern wir mit ihm umgehen. Das Argument wird später bekannt aus Heideggers Philosophie des Zuhandenen. Hier ist es das Zu-Sitzende, das sich nur dem hochtrainierten Künstler als Objekt der Kontemplation anbietet. Die Klarheit und Distinktheit der theoretischen Wahrnehmung ist also etwas Erlerntes und Eingeübtes, während die praktische Wahrnehmung uns das Ding immer in Bewegung, im Gebrauch, als funktionales Element präsentiert. Das Wirkliche an der Wahrnehmung ist damit nicht die scheinbare Klarheit der abgegrenzten Einzeldinge, die uns das Sehen vortäuscht, sondern die funktionalen Formverläufe, aus denen die Konfigurationen resultieren. Whitehead führt zwei distinkte Formprinzipien der Wahrnehmung ein: das Prinzip der präsentativen Unmittelbarkeit und das Prinzip der kausalen Wirksamkeit. Er bezeichnet sie in spinozanischer Diktion als Modi, wobei die causal efficacy, wie Whitehead gegen Hume argumentiert, den allgemeineren und basaleren Modus darstellt, die presentational immediacy aber den spezifischeren und selteneren Modus. »[S]ense-perception is mainly a characteristic of more advanced organisms, whereas all organisms have experience of causal efficacy whereby their functioning is conditioned by their environment.« (5) 43

So etwa MacLachlan 1992, S. 227.

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Die beiden Modi sind unterschiedliche Prinzipien der Selektion und Konfiguration von Elementen der Wirklichkeit, die für die Wahrnehmung zu Objekten werden. Daraus geht natürlich hervor, dass auch andere Wirkelemente prinzipiell auf unsere Wahrnehmung einwirken, sie aber durch die Organisation der Wahrnehmung selbst ausgeschlossen, unterdrückt oder überschrieben werden. Nun haben wir aber nicht ein Selektionsprinzip, sondern zwei. Das eine Prinzip lässt uns Elemente der Wirklichkeit als unmittelbar präsente Dinge erscheinen, das andere Prinzip erschließt uns die prozessualen Zusammenhänge kausaler Wirksamkeit. Während wir die anschauliche presentational immediacy für die »eigentliche« Wahrnehmung halten, repräsentiert sie in Wahrheit nur unser objektivierendes Verhältnis zur Welt, das Schema der Interaktion organischer Formen in einem gegebenen Moment (SME 22). Ohne Wechselwirkung mit dem Prinzip der causal efficacy bleibt sie »barren« (SME 24), »fruchtlos« 44 (im Gegensatz zur schöpferischen Fülle der vividitas einer eigentlichen Wahrnehmung). Denn sie zeigt uns nur, was sie zeigt, ohne dass wir aus der Anschauung heraus etwas über die Dinge selbst erfahren würden. Erst die Verschmelzung beider Modi durch die kreative Eigenaktivität der Wahrnehmung führt zur Übertragung, zu Entstehung von Bedeutung durch symbolic reference. »These modes do not repeat each other; and there is a real diversity of information. Where one is vague, the other is precise: where one is important, the other is trivial. But the two schemes of presentation have structural elements in common […]. The schemes only partially intersect, and their true fusion is left indeterminate. The symbolic reference leads to a transference of emotion, purpose, and belief, […] [for which] justification […] must be sought in a pragmatic appeal to the future.« (SME 30 f.)

Im Grunde behauptet Whitehead also, dass wir in der Wahrnehmung immer komplexe Formen, immer eine Gestaltung zugleich mit ihren Relationen erfahren. Wirkung und Bedeutung sind Pole eines einzigen semantischen Kontinuums. Er wendet sich damit gegen eine Wahrnehmungstheorie des bloß assoziativen Aneinanderfügens, die, 44 Barren bedeutet im Englischen so viel wie unfruchtbar, steril, und kann nicht nur als Gegenbegriff zur vividness, sondern auch zur Prägnanz mit ihrer Tendenz zur Fruchtbarkeit, pregnancy verstanden werden. Was barren ist, daraus wird nichts folgen (keine Frucht getragen) und kann nichts verstanden werden (keine Einprägung, keine Lebendigkeit, keine Entfaltung). Es ist wie ein Boden, in dem nichts wachsen kann.

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wie bei Hume, auch die Kausalität als Assoziation begreift. Whitehead ist dagegen überzeugt, dass wir die Kausalität als solche erfahren. Der zentrale Begriff der conformation, der Formangleichung, beschreibt das aktive Einbinden von Wirkungen in die Aktualisierung der Erfahrung. Genau das ist die Erfahrung von Kausalität: die Intensität der Wirkung. Diese Interpretation von Relationen ist für die Erfahrung das Erste und Prägende. Symbolisierung ermöglicht erst einen Realitätsbegriff im Sinne des assertorischen Urteils in der Sprache Kants, und Symbolisierung ist zunächst eine Funktion des Ausdrucks von Relationen. »Indeed ›expression‹ is ›symbolism‹.« (SME 62) Die Modi der Wahrnehmung sind also keineswegs gleichberechtigt, wenn auch beide notwendig sind, um symbolic reference zu konstituieren. Ohne causal efficacy aber wäre die Wahrnehmung unbeweglich. Das heißt, sie könnte keine Tätigkeit sein, keine Bewegung auslösen und kein Verstehen. Ähnlich wie bei Bergson spielt das Gedächtnis die entscheidende Rolle in dieser komplexen Vermittlung. Die Relationen gehören zur Erfahrung selbst, aber nicht als Abbilder des Vergangenen, sondern indem die Erinnerungen als wirkende Elemente in die Wahrnehmung eintreten. Erfahrung ist zunächst Selbstinterpretation und schlägt dann um in aktive Selbsterzeugung. Der symbolische Bezug ist bereits eine hohe Komplexitätsstufe der Wahrnehmung. Die Gestaltwahrnehmung vervollständigt sich erst auf dieser Stufe: das heißt, wir sehen nichts klar und deutlich, was nicht zugleich auch ein Ergebnis unserer Erinnerungen und erlernten Strukturen wäre. Symbolische Formen haben keinen Primat des Geistigen in dem Sinne, dass sie reine oder gar apriorische Strukturen wären, die dann auf die unstrukturierte Welt treffen. Sie entstehen nach und nach als extrem hochentwickelte und komplexe Prozesse, die letztlich weltumspannend sind. »Thus […] the perception is an internal relationship between itself and the things perceived.« (SME 9) Whitehead bezieht sich auch und gerade in seiner Philosophie der Wahrnehmung auf Aristoteles’ Lehre von Werden und Vergehen, perishing. Ein Denken, das in der Lage ist, das prozessuale Zusammenspiel im Werden von Wirklichkeit zu erkennen, muss auch den nächsten Schritt machen, das Vergehen dieser Wirklichkeit mitzudenken. Das Vergehen aber trägt zum Werden anderer Wirklichkeit bei. Erst Werden und Vergehen gemeinsam ist Wandel im aristotelischen Sinne; erst wenn man beides zusammen denkt, lässt sich 109 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

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mit hinreichender Legitimation behaupten, dass der Prozess selbst die Wirklichkeit sei. Das ist die tiefe Bedeutung, der eigentliche Sinn der causal efficacy. (SME 47) Whitehead betont, dass das Vergehende nicht verschwindet: so wenig, wie etwas aus nichts entsteht, so wenig entschwindet es auch ins Nichts. Vergehen bedeutet Erhaltenbleiben in einer anderen Form, als Sein des Vergangenen im Gegenwärtigen. »It is emotional conformation to a given situation, an emotional continuity of past with present. It is a basic element from which springs the self-creation of each temporal occasion. Thus perishing is the initiation of becoming. How the past perishes is how the future becomes.« (AI 238)

Da alle Formen prozessual sind, bleibt auch die Kontinuität des Verlaufs in der neuen Form erhalten. Und das ist nur möglich, indem der endende Prozess in einen anderen Prozess eintritt. Das Vergehende ist etwas für das neu Entstehende: es wird »objektiviert.« Das Vergangene wird ein Objekt für die Erfahrung in der Relation der Erinnerung; das Bewirkende wird ein Objekt für das Entstehende in der Relation der Kausalität. Memory und causality sind die beiden Beispiele, die Whitehead nennt. Es ist kein Zufall, dass er eine Form wählt, die als typisch subjektiv oder geistig gilt, und eine Form, die als materiell und real gilt, ja sogar die Grundverkettung des Objektiven überhaupt bilden soll. Er will damit betonen, dass ein Prozess des kausalen Wirkens auf demselben Prinzip des Aufnehmens wirkender Elemente basiert wie ein Prozess der Entstehung von Sinnzusammenhängen. Die Art und Weise der Selbstorganisation dieser Prozesse ist unterschiedlich. Aber sie sind allesamt Wirkprozesse. Dorothy Emmet stört sich an dieser Metaphorik: »I have the greatest difficulty in seeing how one thing can feel the feelings of something which has actually perished.« 45 Vor dem Hintergrund der verschiedenen Formen von Intensität lässt sich diese Verwirrung auflösen. Es handelt sich hier ja nicht um zwei Objekte, die zeitgleich existieren und sich austauschen würden. Dann wäre es in der Tat unmöglich, sich vorzustellen, wie das nicht mehr Existierende auf das Existierende wirken soll, noch dazu, indem es »gefühlt« würde. Erinnern wir uns: Whiteheads feeling bedeutet nichts anderes als Sich-Auswirken. Das Vergangene tritt in den Wirkprozess eines

45

Emmet 1986, S. 77.

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Aktualen ein, indem es sich auswirkt; darüber hinaus hat es keine eigene Existenz mehr: es ist in sich bereits abgeschlossen. Aber es verschwindet niemals. Actual entities sind, was sie sind, sie lösen sich nicht in Nichts auf. Es gibt kein Nichts, es gibt nur die Übertragung in einen neuen Kontext. Daraus entsteht die Intensität einer neuen immanenten Gliederung. Darum ist auch Emmets Ansicht zweifelhaft, dass concrescence transition dominiere: »Certainly in Process and Reality ›Concrescence‹ has won over ›Transition‹, in that the latter now becomes the conformation of a new concrescence to its predecessors, and not a passing over from predecessor to successors.« 46

Im Denken Whiteheads, vor allem in Process and Reality, steht concrescence für die kreative Aktualisierung, die zu einer eigenständigen Form führt und zugleich der Vorgang dieser Formwerdung ist. Sie ist selbst die Konkretion. Die Formangleichung an das Vergangene trägt einen Aspekt der Homogenisierung, der für mediale Übertragung unerlässlich ist. Ohne transition gäbe es keine concrescence. Beide sind nicht wirklich verschiedene Vorgänge, sondern verschiedene Aspekte der Entwicklung einer Konkretion, und diese Entwicklung einer Konkretion ist die eigentliche und einzige Wirklichkeit. Insofern sehe ich keine Konkurrenz zwischen beiden Übertragungsformen. Sie machen den Wandel aus, ohne den weder Wirkung noch Erinnerung, weder Wirklichkeit noch Erfahrung konsistent gedacht werden kann, weil der Wandel (wie bei Bergson) die eigentliche Wirklichkeit ist. »The notion of the prehension of the past means that past is an element which perishes and thereby remains an element in the state beyond, and thus is objectified. That is the whole notion. If you get a general notion of what is meant by perishing, you will have accomplished an apprehension of what you mean by memory and causality, what you mean when you feel that what we are is of infinite importance, because as we perish we are immortal. That is the one key thought around which the whole development of Process and Reality is woven.« (ESP 117)

46

Ebd., S. 76 f.

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3.4. Der Prozess. Die Gifford Lectures Im März 1927 hält Whitehead ein »Seminar über Logik«, dessen Mitschriften in einem Text unter dem Titel »Das metaphysische Schema vom März 1927« zusammengefasst sind. 47 Es ist eine Art knapper Vorentwurf für die Vorlesungen, die in Process and Reality resultieren werden, einem Buch, das er ein Jahr später in einem Brief an seinen Sohn bezeichnet als »schwerer Lesestoff […], [der] die philosophische Welt – wie ich erwarte – nicht erfreuen« 48 wird. In der Tat scheint er sie eher in Angst und Schrecken versetzt zu haben. Whitehead beginnt mit dem Argument, dass die Komplexität sinnvoller Aussagen ebenso wie die Komplexität anderer Entitäten von der »individuellen Vereinigung des Universums in jeder aktualen Entität« 49 abgeleitet sein muss. Diese These ist tatsächlich ein Nukleus (ein virtuelles Zentrum oder prägnanter Kern, vgl. Kap. 7) seiner Philosophie. Das Universum individualisiert sich selbst. Mit diesem Motiv sucht Whitehead den »Kosmos aus dem Chaos« (Cassirer) entstehen zu lassen, indem er eine klassische Deutung Platons umkehrt, nämlich die Ableitung der Einzeldinge von Universalien. Stattdessen entstehen Universalien als Verknüpfung der Konkretionen der Einzeldinge, und diese sind abgeleitet nicht von Formen, sondern von der Medialität des Prozessualen. Im medialen Mittelpunkt steht jeweils eine occasion, ausgehend von der sich alles in eine relative Ordnung fügt. Jede Einheit ist neu. Als nächsten Schritt führt er eine Reihe von möglichen Beschreibungen seines key concepts, der actual entity an. Jede dieser Beschreibungen ist signifikant. Er beginnt mit der »Synthese der Wahrnehmungsvermögen anderer Erfahrungsakte« als einer Synthese von Qualitäten, des »Wie«. Eine qualitative Synthese ist eine intensive Relation, die im zweiten Punkt präzisiert wird: »die emotionale oder ästhetische Intensität, die die uranfängliche Tatsache darstellt, welche die Bedeutung oder das Ergebnis dieser Einheit konstituiert.« Dann folgt die »Funktion des Begriffs«, nämlich die Unterscheidung zwischen Erfassen und Ausschließen, Einheit und Verschiedenheit. Als nächstes nennt er die »Handlung des Selbsturteils«, die Eigendynamik der Aktualisierung, die sich auf sich selbst 47 48 49

»Das metaphysische Schema« in Hampe 1991b, S. 62–69, übers. v. Michael Hampe. Ebd., S. 83, übers. v. Michael Hampe. »Das metaphysische Schema«, a. a. O., S. 62.

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bezieht und die emotionale Intensität zu Relevanzbeziehungen transformiert, »so daß die ästhetische Betonung der früheren Phasen kontrolliert und angepaßt wird«. Schließlich gibt es die Beziehung auf ein latent wirkendes Außerhalb, auf einen »neuen kreativen Zug«, der nicht Teil der Reflexion ist, sondern im Dunkeln bleibt: er »weiß nicht von sich selbst.« 50 Damit sind alle unterscheidenden Faktoren der actual entity versammelt. Lowe hält es für »in schmerzlicher Weise offensichtlich, daß Whiteheads Gifford-Vorlesungen als öffentliche Veranstaltung ein Fiasko werden mußte.« 51 Sicher ist dieses Fiasko (von der zweiten Vorlesung an sollen von 600 Zuhörern angeblich ein halbes Dutzend verblieben sein 52) mit verantwortlich für die geringe Rezeption des Werks in der Philosophie. In den USA wurde Whitehead vor allem in der Theologie rezipiert, u. a. durch Charles Hartshorne, Henry Nelson Wieman, Lewis S. Ford und David Ray Griffin. 53 Die theologische Stärke des Werks mag darin liegen, dass Whitehead in seine mathematisch scharf geschulte Logik das ästhetische Denken einer Prägnanz des Dunklen einfließen lässt und die Intensität der »realen Relationen« nicht wie in der Scholastik nur dem Verhältnis Gottes zur Welt zuschreibt, sondern auch dem umgekehrten Verhältnis der Welt zu Gott bzw. Gottes zu sich selbst. »Wie das, was vieles ist, auch Eines sein kann, verlangt nach einer allgemeinen Erklärung, die völlig außerhalb der Logik liegt.« 54 Für Whitehead ist die Medialität realer Relationen, die »real communication between ultimate realities« (AI 134), die Basis jeder möglichen Transformation und damit von Prozessualität überhaupt. Wie Thomas von Aquin sieht er in der göttlichen Schöpfung eine reale Relation. Fetz betont diese systematische Parallele und schlägt vor, Whiteheads Kreativität als Transzendentale zu lesen in einem »vorkantischen, scholastischen Sinn […] jene[r] Bestimmungen, die allen Seienden zukommen und das auslegen, was ein jedes Seiendes

Ebd., S. 64. Lowe, Victor: »Whiteheads Gifford-Vorlesungen«, üb. v. Helmut Maaßen, in Hampe 1991b, S. 75–88. S. 86. 52 Nach einem Brief von J. M. Whittaker an Victor Lowe, vgl. ebd., S. 87. Whittaker berichtet von dem halben Dutzend aus zweiter Hand, da er selbst »einer der Abtrünnigen war«. 53 Vgl. Hauskeller 1994, S. 139 f. 54 »Das metaphysische Schema«, a. a. O., S. 62. 50 51

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2 · Alfred North Whitehead: Das Ereignis der Kreativität

ist« 55; er betont aber auch, dass dieser Charakter des Transzendentalen über die scholastische Bedeutung hinausgeht. Whitehead weitet die reale Relation der Kreativität aus und kehrt sie um: Gott schafft sich selbst, die Schöpfung ist für das göttliche Wesen ebenso eine ultimate reality wie umgekehrt. Realität ist dem entsprechend nicht nur die göttliche Wirkung auf das Sein oder, bezogen auf einen Erfahrungsvorgang, die präzisierende Deutung des Seienden durch die klare und deutliche Erkenntnis. Die eigentliche Realität – immer bezogen auf die realen Relationen – ist die Medialität des Prozesses selbst: Gottes Wirkung auf das Sein ist Selbstverwirklichung in Ausrichtung auf Ideen. Die Wirkung des Erkennens auf das Seiende ist Selbstverwirklichung eines Deutungsprozesses in Ausrichtung auf Qualitäten und Objekte. In diesem Sinne nennt Whitehead Gott selbst eine actual entity. Das ist kongruent, weil jede actual entity ohnehin zu allem im Verhältnis steht. Gott wird so nicht auf ein Element als Teil der Welt reduziert, sondern ist das dynamische Ganze aller Dinge. Was das göttliche Sein dennoch von anderen Prozessen unterscheidet, ist seine ultimative Verbundenheit: Gott schließt nichts aus, er enthält auch alle Widersprüche. An dieser Stelle unterscheiden sich entity und occasion, die sonst dasselbe sind, nur betrachtet unter dem Gesichtspunkt der unterscheidenden Verwirklichung oder des Zusammentreffens. Gott ist actual entity, also unterscheidende Verwirklichung, aber kein Zusammentreffen, keine actual occasion. (PR 88) Being, becoming, und relatedness sind die Attribute der Verwirklichungen, die nur gemeinsam, in Kohärenz verstanden werden können. Eine actual entity hat den Aspekt des being in der Aktualität: sie macht die Faktizität aus, ist aber zugleich ein Verlauf, ein ständiges becoming bis hin zur satisfaction. Gäbe es nur die beiden Elemente being und becoming, so stünden bei Whitehead eine Vielzahl geschlossener Monaden neben einander, die sich in sich selbst zu Perfektion nach ihrem je eigenen Maßstab entwickelten. »Actual entities perish, but do not change; they are what they are.« (PR 35) »This is a theory of monads; but it differs from Leibniz’ in that his monads change. In the organic theory, they merely become […], housing the world in one unit of complex feeling.« (PR 80)

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Fetz 1986, S. 207.

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Das wichtigste der drei Attribute ist darum die relatedness, die intensive Verknüpfung mit der Welt in einer »Einheit komplexen Fühlens«. Ereignisse spielen sich nicht innerhalb von geschlossenen Substanzen ab. Alles, was für ihren Verlauf relevant ist, ergibt sich aus Beziehungen zwischen Formungsprinzipien: nämlich einerseits den Prinzipien, die ihnen selbst angehören, und andererseits den Prinzipien, mit denen sie zusammentreffen. Gott dagegen ist die »entire multiplicity of eternal objects« (PR 31). Hier bringt Whitehead einen etwas naiven Platonismus zum Ausdruck: Alle Ideen sind Gottes Ideen, sonst würden sie außerhalb ihrer jeweiligen Einzelaktualisierungen gar nicht existieren. Die Idee Gottes stützt als »condition […] [of] creativity« (ebd.) die universale Verbundenheit, die jede Veränderung und das Denken der Veränderung zugleich ermöglicht. »The non-temporal act of all-inclusive unfettered valuation is at once a creature of creativity and a condition for creativity. It shares this double character with all creatures. By reason of its character as a creature, always in concrescence and never in the past, it receives a reaction from the world; this reaction is its consequent nature. It is here termed ›God‹ ; because the contemplation of our natures, as enjoying real feelings derived from the timeless source of all order, acquires that ›subjective form‹ of refreshment and companionship at which religions aim.« (PR 31 f.)

Diese »Erfrischung und Gemeinschaft«, nach der Religionen »streben«, scheint die protestantisch-anglikanische Variante eines Ideals der Vernunft zu sein. Unsere eigene Natur an der »zeitlosen Quelle jeder Ordnung« trinken zu sehen, ist ein romantischer Gedanke der Optimierung unseres Wesens durch die Vorstellung unserer gemeinsamen intensiven Verbundenheit mit dem Göttlichen. Zugleich wird hier das Konzept der topologischen Singularität auf der gigantischen Skala eines Pantheismus wiederholt: Gott als zeitlose Quelle jeder möglichen Ordnung ist der Kern aller Ereignisse, das Noch-Nicht aller Potentialität im Zentrum des Seins. Hier lesen wir Whitehead als romantischen Viktorianer: so nüchtern und alltäglich seine Philosophie des Ereignisses ist, so ausschweifend und überschwänglich entfaltet sich sein theologisches Denken. Doch auch diese romantische Vision vom religiösen Empfinden entspricht einer Logik der Medialität. Die Verbundenheit mit der Welt, »always in concrescence and never in the past«, ist die doppelte Beschaffenheit von creature und condition. Denn das Entstanden115 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

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Sein verbindet jedes Seiende (creature) durch seine Wirkung auf die Welt mit der Welt, und durch diese Verbindung wird es zur Bedingung (condition) für schöpferische Gestaltung. Dabei bedeutet condition zugleich Zustand, Beschaffenheit. Die Aktualität selbst ist also nur dann »der Prozess«, wenn sie in Verbindung mit allen anderen Aktualitäten steht; und in einer Verbindung des positiven, nicht ausschließenden Erfassens mit allen anderen Aktualitäten steht nur Gott.

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Kapitel 3 Ernst Cassirer: Die lebendige Form »Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.« (Johann Wolfgang von Goethe)

1.

Keine Angst. Dynamische Interpretation statt negativer Theologie

1.1. Das Vergessen und Wiederfinden eines originellen Philosophen Im Verhältnis zu Bergson und Whitehead ist Ernst Cassirer, 1874 in Breslau geboren, der deutlich Jüngere. Wie Whitehead tritt er erst im 20. Jahrhundert an die philosophische Öffentlichkeit. Seine eigenständige philosophische Arbeit fällt hauptsächlich in die Zeit ab 1910, dem Erscheinungsjahr von Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Sie entwickelt sich auf einem Substrat der europäischen Geistesgeschichte und vollzieht schließlich eine Umdeutung dieses Substrats zu der funktionalen und schöpferischen Basis einer Kulturphilosophie. Ausgangspunkt dieser Umdeutung ist die Ablösung von der »Substanzmetaphysik« (Dilthey), die zugleich zu einem neuen Zeitbegriff führt. Nicht das Dauerhafte, sich selbst gleich Bleibende bestimmt die Formen der Wirklichkeit, sondern das, was sich wiederholend in einander spielt und was wir als Muster und Funktionen in den Veränderungen der Wirklichkeit erkennen. »Hierbei darf freilich die ›Form‹, eben weil sie das aktive und gestaltende, das eigentlich schöpferische Moment darstellt, nicht als starre, sondern sie muß als lebendige und bewegliche Form gefaßt werden.« (ER 82)

Damit wird die europäische Geistesgeschichte rückblickend dynamisiert, und neue Interpretationskomplexe werden ermöglicht (wie zum Beispiel Verbindungen von Vico und Shaftesbury, Kant und Goethe, Leibniz und der modernen Topologie). Die Philosophie der symbolischen Formen entwickelt ihre Allgemeinheit als Gegenkonzept zu der des transzendentalen Apriori: keine Gegebenheit, sondern eine Art Zirkel des déjà-toujours 117 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

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(Lacan), eine voraus- und rückgreifende Allgemeinheit, die durch die virtuelle Anwendbarkeit ihrer Funktionalität entsteht. Diese Eigendynamik der symbolischen Bedeutung führt Cassirer als Paradigma des Gelingens in der Wissenschaft (ERT) und als kulturelle geistige Leistung (PSF I-III) aus. Er bedient sich dazu des Begriffs »Stil«, den er von Goethe entlehnt hat. Stil ist eine Tendenz zur Formung, die funktionale und ästhetische Angleichung zwischen bildenden Kräften und ihrem Material bewirkt. Schwemmer entwickelt diesen Gedanken weiter in seinem Konzept der »Stimmigkeit« 1, das die Anwendbarkeit dynamischer Schemata im sozialen, kulturellen und geistigen Leben charakterisiert. In seiner Darstellung Cassirers als »Philosophen der europäischen Moderne«, was genau diese Umdeutung der europäischen Geistesgeschichte ausdrückt, spricht Schwemmer von einer »fast stürmische[n] Wiederentdeckung«, nachdem Cassirer »[v]or wenigen Jahren noch mehrheitlich und umstandslos dem Neukantianismus zugeordnet« 2 wurde. Den Beginn der Wiederentdeckung setzt er 1987 mit John Michael Krois’ Standardwerk Symbolic Forms and History und 1988 mit dem Sammelband von Hans-Jürg Braun, Helmut Holzhey und Ernst Wolfgang Orth an, der aus einem Symposion 1986 in Zürich hervorging 3. Dass die Zuordnung zum Neukantianismus kaum in Cassirers eigenem Sinn gewesen sein kann, beweist seine Aufforderung an Heidegger in Davos, ihm doch einmal den existierenden Neukantianer zu zeigen: Er wisse nicht, wer das sein solle. 4 Eigenständigkeit des Denkens beansprucht Cassirer mit dieser Spitze nicht nur für sich, sondern gleichermaßen für Hermann Cohen, Paul Natorp und andere der Marburger Schule. Noch 1988 fragt Orth, warum Cassirer »in Deutschland so wenig studiert wird.« 5 Enno Rudolph spitzt diese Frage zu in der Formulierung, warum die Philosophie Heideggers so dominant geblieben

Vgl. Schwemmer 2011, S. 153–158. Schwemmer 1997a, S. 9. 3 Orth 1988, S. 11. 4 Vgl. Gründer 1988, S. 298. Heidegger nennt Cohen, Windelband, Rickert, Erdmann. 5 Orth, Ernst Wolfgang: »Zugänge zu Ernst Cassirer. Eine Einleitung.« Orth (Hg.) 1988, S. 7. 1 2

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sei, während die Cassirers ignoriert wurde. 6 Interessant ist dazu der Vorschlag von Marion Lauschke, Cassirer fehle zur Massenverwertung nach 1945 das Versprechen einer erlösenden Kraft des Göttlichen. 7 Metaphysikkritik, Pessimismus und Reflexion von Negativität prägten die deutschsprachige Philosophie des 20. Jahrhunderts noch lange Zeit nach den Weltkriegen, was nicht nur für Heidegger, sondern auch für Adorno gilt. Cassirer fehlen diese Züge ebenso wie Bergson und Whitehead. Ein Faktor ist natürlich auch, dass Cassirer bald nach Davos in die Emigration getrieben wurde. Eigentlich wäre die Emigration kein Grund gewesen, Cassirer in Deutschland nicht mehr zu lesen. Schmücker und Frede vermuten sogar eine schamhafte Verdrängung der »Bedeutung der in die Emigration Getriebenen«, finden allerdings auch, dass Cassirer die »griffigen Grundvorstellungen« 8 fehlen: Es gibt keine Formel für Cassirers Philosophie. Aus heutiger Perspektive scheint das eher ein Vorteil zu sein als ein Mangel, da die Griffigkeit von Grundvorstellungen nicht immer mit ihrem Nutzen für das Denken einhergeht. Auch die Tatsache, dass Cassirer über lange Strecken wirklich Geistes- und Kulturgeschichte betreibt, hat sicher lange Zeit von seinem eigenständigen Denken abgelenkt. Durch die Wirkung in den USA werden als unmittelbar von ihm beeinflusste Denker meist Susanne K. Langer und Nelson Goodman genannt, wobei Langer die Schnittstelle zur Rezeption von Whitehead darstellt. Es war Oswald Schwemmer, der eine vergleichende Rezeption von Cassirer mit Bergson und Whitehead angeregt hat. Vrhuncs Studie zu Bergson 9 und Lachmanns Buch über Susanne K. Langer 10 sind durch diese Anregungen motiviert entstanden. Eine vergleichende Arbeit über die drei Erfahrungsphilosophen Bergson, Whitehead und Cassirer stand jedoch bisher noch aus.

Rudolph 2003, S. IX. Lauschke 2007, S. 18. 8 Schmücker/Frede 1997. S. VIII. 9 Vrhunc 2002. 10 Lachmann 2000b. 6 7

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1.2. Die Krise von Davos: Medialität und Aktivismus 1.2.1. Härten des Schicksals Die Geschichte von Davos 1929 ist die Geschichte einer Krise, die von den Teilnehmern der Tagung und auch danach als solche wahrgenommen wurde. Sie muss im Kontext einer Stimmung der Zeit gedacht werden, die das Misstrauen gegenüber der Weimarer Republik auch als Misstrauen gegen die Tradition des Humanismus und der europäischen Geistesgeschichte empfand. Der »Olympier« 11 zu sein, ist vor dem Hintergrund dieser Stimmung der Zeit ein zweischneidiges Kompliment. Respekt einflößend, aber entrückt; erhaben, aber weltfern und ätherisch; elegant und gebildet, aber für die Welt der Menschen nicht wirklich relevant. Die positiven Attribute des Bürgertums wirkten vor dem Hintergrund der politischen Probleme der Weimarer Republik nicht länger vertrauenswürdig, sondern sahen nach Verbindlichkeit, Kompromiss und Konservatismus aus. Vielversprechender schienen Respektlosigkeit, Umbruch und Neubeginn. Heidegger wurde der Mut zugeschrieben, die Radikalität des Ereignisses und die Härten des Schicksals anzuerkennen, was schön in eine präfaschistische Rhetorik passt. »Seine philosophische Schärfe gewinnt dieser Gestus alleine durch den ausdrücklichen Selbstbezug auf seine Radikalität.« 12 Dass Heidegger, gekleidet in einen Skianzug und die Sprache einer aktuellen Bewegung, als Existenzialien in Sein und Zeit etwas den Kategoriensystemen der Scholastik verdächtig Ähnliches konstruiert hatte, fiel dabei nicht weiter auf oder ins Gewicht. Die Stimmung der Zeit ist jedenfalls einer der Gründe, warum Cassirers Originalität des Denkens lange nicht als solche eingeschätzt wurde. So wurden die »Grundprobleme der philosophischen Anthropologie« in Davos von manchen als Beitrag wahrgenommen, der in der langen, ermüdenden Geschichte idealistischer Metaphysik nur eine neue Umdeutung vornimmt, wo man sich doch nach großen Gesten, Umstürzen und Aktivismus sehnt. Selbst Husserl (der es bes-

Toni Cassirer erzählt, dass er diesen Spitznamen zur Studentenzeit in Marburg bekam (2003, S. 74), Karlfried Gründer (1988, S. 299) zitiert den Bericht Ludwig Englerts aus Davos, der ihn ebenfalls benutzt. 12 Schwemmer 2005, S. 121. 11

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ser hätte wissen müssen) hat Cassirer 1922 neben Hartmann, dem »schwer Ringenden« 13, als nicht originell genug für den Lehrstuhl in Marburg beurteilt. Cassirer aber will weder schweres Ringen noch Eigentlichkeit, noch die Angst als etwas an und für sich selbst Positives und Wünschenswertes herausstellen. Angst, Härte und Sorge gehören natürlich zum Leben. Aber sie sind nicht der einzige Umsturzpunkt im Drama des Entwurfs einer neuen Existenz. Diese Rhetorik Heideggers lässt Cassirer in Davos mit einem ironischen Unterton als überspitzt in Erscheinung treten. Die wahre Ironie liegt aber darin, dass es bald darauf Cassirer ist, der mit dem ›Entwurf‹ einer neuen ›Existenz‹ in der Emigration zu ›ringen‹ hat und dem entsprechend in die ›Härten des Schicksals‹ geworfen wird, ohne sich in den »faulen Aspekt eines Menschen, der bloß die Werke des Geistes benutzt« 14, flüchten zu können. Letztere Rolle fällt eher Heidegger zu, der sich nicht nur in der Schicksals- und Härte-Rhetorik des Nationalsozialismus, sondern auch in dessen Gesellschaftsform einzurichten wusste. 1.2.2. Usurpation der transzendentalen Einbildungskraft Heidegger vertritt die Meinung, dass der Neukantianismus (d. h. auch Cassirer) Kant verfehlt, weil der »Kern der transzendentalen Problematik als einer ontologischen« 15 nicht erfasst wird. Man betreibt noch mathematische und naturwissenschaftliche Grundlagenforschung, während es doch jetzt ums Ganze des Seins geht, weil sich die Kritik der reinen Vernunft als »eine, bzw. die erste, ausdrückliche Grundlegung der Metaphysik« 16 ausweist und die Geschichte der Metaphysik als überwunden gelten kann. Die Einheit der Erkenntnis wird von Heidegger im kantischen Denken als eine ontologische, eine Wesenseinheit hypostasiert, deren »Quellen«, »Stämme« oder »Wurzeln« auf die transzendentale Einbildungskraft zurückgehen. In der Bedeutung der transzendentalen

Husserl an Natorp, 01. 02. 1922, cit. nach Möckel 1998, S. 142. Husserl revidiert offenbar später diese Ansicht, denn 1927 bezeichnet er Hartmann in einem Brief an Roman Ingarden als »Blender«, vgl. Husserl 1968, S. 39. 14 Heidegger 1991, S. 291. 15 Ebd., S. 265. 16 Ebd., S. 271. 13

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Einbildungskraft für Kants Denken stimmen Cassirer und Heidegger überein, wobei sich gerade daran der entscheidende Unterschied in der Weise ihres Denkens zeigt. Denn Heidegger nimmt die transzendentale Einbildungskraft als fundamentale Erschütterung der Metaphysik, die als Wendepunkt im Verlauf des Dramas der Philosophie »eine radikale erneute Enthüllung des Grundes der Möglichkeit der Metaphysik« verlangt. Darin liegt eine Forderung, vor der Kant »zurückschrecken« 17 musste, nämlich die nach dem Aktivismus der Eigentlichkeit: durch die tiefer verstandene, der wahren Ontologie angemessene Tätigkeit zur Setzung neuer Grundlagen zu gelangen. Aus der Perspektive einer Philosophie der Medialität ist das eine verfehlende Deutung der reinen Aktivität als unvermittelter Eigendynamik und eine Hypostasierung dessen, was medial sein sollte, als Substrat. Die Quellen, Wurzeln und Stämme sprießen oder sprudeln aus einem Grund, der als hypokeimenon, Boden und Ursprung fixiert wird. Cassirer hingegen liest die transzendentale Einbildungskraft in der Kritik der reinen Vernunft als medial Umgreifendes der aktiven Verstandestätigkeit und der passiven Sinnlichkeit, und zwar als eine bedeutungserzeugende Medialität, analog zum Medium der Sprache. Die transzendentale Einbildungskraft soll nicht hypostasiert werden als monistisches Fundament der Erkenntnisvermögen, sondern ist als funktionale Vermittlung der sinnlichen und intelligiblen Welt zu denken, denn sie ist sowohl Teil der Sinnlichkeit für den Verstand als auch eine erste Anwendung des Verstandes auf die Sinnlichkeit. (ECW 17, 238, vgl. KrV B 151 f.) Bedeutung kommt durch die Anwendung der »Grundkraft des reinen Denkens auf die Anschauung« 18, die synthesis speciosa der produktiven Einbildungskraft zustande. Sie fasst das Mannigfaltige zur Einheit des Bildes zusammen, sie liefert also Formen für die Erfahrung, so »daß die Erkenntnis, sofern sie nicht ins ›Überschwengliche‹ hinausgreift, sondern sich in dem ihr eigenen und zugemessenen Felde bewegt, in ihm keineswegs als bloß ›endliche‹ und als bloß empfangende, rezeptive bezeich-

17 18

Ebd., S. 273. Cassirer, in Heidegger 1991, S. 276.

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net werden kann. Hier, im Gebiet der Erfahrung und ihrer Phänomene, besitzt sie einen durchaus schöpferischen Charakter.« (ECW 17, 231)

An dieser Stelle ist übrigens Cassirer in seinen Kommentaren zu Heideggers Auslegung der Kritik der reinen Vernunft, nach allerhand lobenden Äußerungen, nicht länger konziliant. Er erkennt einen Gegner und scheut sich auch nicht, ihn zu beschreiben: »Hier spricht Heidegger nicht mehr als Kommentator, sondern als Usurpator, der gleichsam mit Waffengewalt in das Kantische System eindringt, um es sich zu unterwerfen und um es seiner Problematik dienstbar zu machen.« (ECW 17, 240)

Ihre eigentlich mediale Rolle entwickelt die Einbildungskraft dann erst in der Kritik der Urteilskraft, denn hier wird sie im Verlauf der Erfahrung tätig, ebenso wie die Urteilskraft als reflektierende selbst. Diese Tätigkeit, energeia, erhält aber nicht die Bedeutung eines von Material und Situation prinzipiell unabhängigen Aktivismus, wie wir ihn bei Heidegger auch im »am Werke sein« der ›Rektoratsrede‹ 19 1933 vorfinden: eine qualitätslose Aufforderung, die jeden möglichen Inhalt rechtfertigt. Sie ist vielmehr eingebunden in Wechselwirkung mit der Sinnlichkeit, denn die produktive Einbildungskraft liefert ästhetische Ideen, also sinnliche Anschauungen. Werk und Tätigkeit zu vermitteln, bedeutet bei Cassirer aber auch nicht, dass jede Tätigkeit nur durch ein von ihr getrenntes Ergebnis gerechtfertigt würde. Wie bei Aristoteles ist energeia eine wirkliche Tätigkeit, sobald sie einen Unterschied ausmacht, auch wenn es nicht zum vollendeten Werk kommt. Die geistige Bewegung bei Cassirer, die er immer wieder mit dem medialen Begriff der Wechselwirkung bezeichnet, bezieht sich auf diese Analyse der reflektierenden Urteilskraft, die in Form einer Tätigkeit zu Begriffen gelangen kann. Hier gibt es einen prozessualen Formbegriff, der über die apriorischen Verstandesbegriffe und die fixierbaren Strukturen der Synthesis hinaus oder ihnen voraus geht.

Vgl. Heidegger 1983. Zur »Eigentlichkeits- und Aufbruchsmetaphorik« vgl. auch Safranski 2003, Kap. 10, S. 197–216.

19

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1.3. Die Kritik der Urteilskraft und Cassirers Philosophie der Erfahrung 1.3.1. Heraustreten aus der Transzendentalphilosophie Die transzendentale Ästhetik hat sich ja gerade nicht mit Formen der Erfahrung befasst in dem Sinne, dass diese Formen aus der Erfahrung stammen oder dass es die Formen des Verlaufs der Erfahrung wären. Es geht vielmehr um die Bedingungen der Erfahrung als formales Strukturprinzip. Aber in der Kritik der Urteilskraft setzt Kant den Akzent stärker auf die Formung, die in der – nach wie vor subjektiven – Erfahrung tatsächlich geschieht. »Alle Form der Gegenstände der Sinne […] ist entweder Gestalt oder Spiel.« (KdU B 42) Durch die Zweckmäßigkeit, verstanden als »Gesetzlichkeit des Zufälligen« (KLL 340), werden diese Formen der Sinnlichkeit in Analogie zu einem Werk beurteilt, d. h. als »Ausprägung einer inneren Form« im Sinne eines gestaltenden Prinzips. Die für Cassirer bedeutende Verknüpfung der ästhetischen mit der teleologischen Urteilskraft ist diese Analogie, die wie bei Bergson und Whitehead nur als mediale Übertragung funktionieren kann. Denn die Zweckmäßigkeit ist nicht etwas Gegebenes, was Organismus, Kunstwerk und die schöne Gestalt der Blume gemeinsam hätten. Wie die strukturelle Ähnlichkeit in der Philosophie der Metapher wird sie nicht aufgefunden, sondern erzeugt. Darum kann sie als Gesetzlichkeit des Zufälligen bezeichnet werden, weil das Zufällige ein nicht vorherbestimmtes Zusammenstimmen, eine Stimmigkeit oder Anpassung beschreibt. Dass sie auch anders hätte ausfallen können, bedeutet nicht, dass sich aus ihr nicht eine innere Gliederung des Gegenstandes für die »Erkenntnisvermögen«, wie Kant sagt, ergibt; und diese ist die Zweckmäßigkeit. Teleologie in diesem Sinne bedeutet weniger eine Richtung der Entwicklung auf ein Ziel hin, sondern die Tendenz zur Entsprechung einer inneren Form und einer Formung der Erfahrung. Denn ein Organismus könnte nicht aus logischen Formen heraus verstanden werden, weder aus analytischen noch aus synthetischen Urteilen. Er erhält seine formale Allgemeinheit über die Gemeinsamkeit der Organismen, nämlich ihre »innere Zweckmäßigkeit« (KU B 296). Die Zweckmäßigkeit ist für die Urteilskraft ein regulatives, kein konstitutives Prinzip. Denn der reflektierende Gebrauch der Ur-

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teilskraft bezeichnet einen Prozess, keine Urteilsform, die instantan anzuwenden wäre. Die produktive Einbildungskraft kann, im freien Spiel mit dem Verstand, eigenständige Formen bilden, die ihre Ganzheit nicht als synthetische Summe, sondern als innere Gliederung ihrer Teile, als gestaltete, ästhetische oder organische Form haben. Die Kraft als Tätigkeit wird an eine Verlaufsform gebunden, die ein dynamisches, konkretes Substrat benötigt und ein dynamisches Schema erzeugt. »Aus dem Rahmen der ›Transzendentalphilosophie‹, aus der allgemeinen Aufgabe einer Analyse der Erkenntnisinhalte und Erkenntnismittel ist die Lehre Kants freilich hierbei nicht herausgetreten. […] [D]er ursprüngliche Erkenntnisbegriff Kants [hat] hier eine Erweiterung und Vertiefung erfahren […], die ihn jetzt erst wahrhaft befähigt, das Ganze des natürlichen und des geistigen Lebens zu überblicken und von innen her als einen einzigen Organismus der ›Vernunft‹ zu begreifen.« (KLL 346)

Das geistige Leben selbst, dem die reflektierende Urteilskraft angehört, ist nach Cassirer »von innen her«, also in seiner Eigengesetzlichkeit und seiner eigenen Form, als Organismus der Vernunft zu verstehen. Damit kann man aus dem Rahmen der Transzendentalphilosophie heraustreten, was Cassirer selbst in der Folge auch tut. Die mediale Verbindung der Formen muss darum reflektiert werden: nicht die Entwicklung einer einzelnen, inneren Form nach ihrem eigenen Prinzip der Zweckmäßigkeit, sondern ein Wechselspiel von Formen, das bei Cassirer meist bezeichnet wird durch den Ausdruck der »Korrelation«.

1.3.2. Zwei Wege zur Medialität des Ästhetischen In Kap. 1 habe ich die »Kraft der Bilder« in Bergsons Philosophie der Wahrnehmung beschrieben. Von unterschiedlichen Seiten her nähern sich Bergson und Cassirer beide demselben Ziel, nämlich einer Reflexion auf die Entstehung von Formen für die Erfahrung durch die Erfahrung, ohne dabei auf einen transzendentalen Schematismus zurückgreifen zu müssen. Dazu müssen sie jeweils ein dynamisches Schema der Erfahrung entwickeln, das als ästhetische Medialität dienen kann. Bergson entwickelt es aus der Wechselwirkung materieller Kräfte selbst, insofern sie uns im Zusammenspiel der Bilder erscheinen und durch die Eigentätigkeit der leiblichen Wahrnehmung zu Formen 125 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

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selektiert und kontrahiert werden. Ein »Subjekt«, d. h. ein lebendiges, bewusstes Individuum entsteht dann wiederum durch die Wechselwirkung dieser Formen in der Dauer, in der sie als Bilder und Schemata aufgehoben sind und durch neue Tätigkeiten in auf einander folgenden Situationen kontinuierlich modifiziert werden. Präsubjektive und prä-formative Medialitätsstufen der Empfindung und der Bewegung gehen also der subjektiven Konfiguration des Individuums voraus. Cassirer geht den umgekehrten Weg und dynamisiert die subjektiven Erkenntnisvermögen, die er in der kantischen Philosophie vorfindet. Auch er will nicht von einem statischen Subjekt ausgehen, denn auch er will das lebendige Individuum denken. Da er aber bei der produktiven Einbildungskraft beginnt, muss er nicht bis zu materiellen Kräften ›herabsteigen‹ : Es genügt, wenn er die Stufe erreicht, auf der echte Wechselwirkung, echte Formentstehung in der Erfahrung gegeben ist. Bergson erreicht sie von ›unten‹, durch Reflexion und Dynamisierung der materiellen Basis mit dem Prinzip der Virtualität. Cassirer erreicht sie von ›oben‹, indem er die subjektiven Vermögen in Ansehung ihrer Formbildungskraft vom Subjekt befreit, sie aus den allzu starren subjektiven Relationen loslöst und sie auf einer Ebene flexibler, dynamischer Relationen der Intensität reflektiert. So verstanden, ist das Ziel tatsächlich dasselbe: die ästhetische Medialität eines dynamischen Schemas, in dem Wirken, Wahrnehmen und Reflexion durch intensive Relationalität verbunden sind. Die doppelte Intensitätsbeziehung von Sympathie und Symbol, auf die ich in Kap. 7 eingehe, besteht in der Erfahrung des sympathischen Zusammenwirkens, die als Erfahrung eine eigene immanente Gliederung gewinnt, und ihrem Verhältnis zum Ausdruck. Dieses Verhältnis ist ein Übergang, als Spannungsbewegung, zu einer neuen immanenten Gliederung des Ausdrucks, die dann die Eigendynamik des Symbolischen entfaltet. Beide Begriffe, Sympathie und Symbol, tragen in der Vorsilbe sym- das Motiv des Zusammenspiels, das sich als mediale Wechselwirkung denken lässt. Cassirer findet die doppelte Intensitätsbeziehung von Sympathie und Symbol in der intensiven Relation von produktiver Einbildungskraft und reflektierender Urteilskraft gespiegelt und reflektiert. Es ist die produktive Einbildungskraft, die im Zusammenspiel mit dem Verstand die prägnante, gegliederte Konkretion der ästhetischen Idee erzeugt, und es ist die reflektierende Urteilskraft, die in einem Prozess 126 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

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des Nachdenkens diese konkrete Gestalt zum Prinzip ihrer Gestaltung zurückverfolgt. Das bedeutet die Eingliederung in einen Sinnzusammenhang, der durch eine Funktion der Bedeutung ausgedrückt werden kann, so zum Beispiel der Organismus als System. So wird Konkretion als intensive Realität gedacht. 1.3.3. Erfahrung der kontingenten Einheit Die Einbildungskraft wird in dieser Interpretation Cassirers zur Vermittlung des Heterogenen, während der Verstand natürlich weiterhin nach dem homogenen Schema strebt. Ihm liefert die Einbildungskraft dazu die Einheit und Regelmäßigkeit des Gegenstandes, damit er in die »Stimmung zur Ordnung [versetzt wird], die er allerwärts bedarf« (KdU B 72), »und da diese Zusammenstimmung des Gegenstandes mit den Vermögen des Subjekts zufällig ist, so bewirkt sie die Vorstellung einer Zweckmäßigkeit desselben in Ansehung der Erkenntnisvermögen des Subjekts.« (KdU B XLV)

Diese »Zufälligkeit« darf natürlich nicht als Willkür gelesen werden, sondern als tyche: als kontingentes, nicht vorherbestimmtes So-Gewordenes. Die »Zweckmäßigkeit« als Vorstellung schafft, wie Cassirer deutlich macht, die Einheit der sinnlichen Form. Diese soll nicht etwas anderem zum Zweck dienen oder ein telos erfüllen, sondern in sich selbst eine Entelechie bilden, eine immanente Gliederung. Zweckmäßig ›ist‹ sie nur in Bezug auf sich selbst und auf die Einbildungskraft, die sie als solche wahrnehmen kann, weil sie ebenfalls in ihre intensive Relationalität einbezogen wird. Das subjektive »Urteil« korreliert bei Kant intensiv mit dem »Gegenstand«, d. h., beide sind nur durch und in einander zu bestimmen. Cassirer zieht daraus den Schluss, dass auch die Reflexion des Gegenstandes an seiner Gestaltung als Gegenstand mitwirkt, indem sie die metabasis eis allo genos liefert, das Medium für seine Form der Erscheinung. Der Zusammenhang der konkreten Gestalt mit der wirkenden Tätigkeit der Gestaltung, der produktiven Einbildungskraft, ist also eine intensive Relation. Bei der Beziehung auf die Reflexion, deren subjektives Vermögen die reflektierende Urteilskraft ausdrückt und die Kant auch als Überlegen beschreibt, handelt es sich ebenfalls um eine intensive 127 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

3 · Ernst Cassirer: Die lebendige Form

Relation, die sich dann über Urteile und Begriffe in extensionale Relationen ausdifferenziert. »Hier, nicht im Schematismus, kommt es erst zu Kants eigentlicher ›Fundamental-Ontologie‹« (ECW 17, 240), und hier tritt eine Beziehung auf das Unendliche ein. Es geht um »die eigentümliche Richtung, die unsere Erkenntnis nimmt, wenn sie ein Seiendes als zweckmäßig, als Ausprägung einer inneren Form beurteilt.« (KLL, 274) Die Unendlichkeit des Erhabenen wird erfahren, d. h., sie widerfährt dem Subjekt, indem sie die stückweise Gegebenheit seines Wahrnehmungsmaterials überschreitet und sich nicht in einer comprehensio aesthetica zusammenfassen lässt. (KdU B 91) Die einzige Kontinuität, die das Subjekt kennt, ist seine eigene; gespiegelt sieht es sich im Universum. Zudem spiegelt das Subjekt auch seine eigene, als unendlich imaginierte Macht in der Macht des dynamisch Erhabenen. (KdU B 102 ff.) Sowohl diese Strukturierungsmächte des Subjekts und der Natur als auch die beiden Kontinuums-Figuren, die Selbigkeit des Subjekts und die Unendlichkeit der Welt, entziehen sich der Erfahrung, insofern diese als Anwendung von Strukturprinzipien betrachtet wird. In der Kritik der Urteilskraft wird also bereits der Bedarf an einer dynamischen Verknüpfung des Kontinuierlichen mit dem Diskreten, mit festen Strukturen, in einem dynamischen Schema der Erfahrung akzentuiert. Aber erst durch Cassirers symbolische Formen wird die »innere« Zweckmäßigkeit von der Entelechie eines Dinges losgelöst und wird zur »inneren Form« einer Entwicklung im Prozess der Wirklichkeit, oder wie Schwemmer schreibt, zum »Ereignis der Form«.

2.

Von der symbolischen Prägnanz zum Ereignis der Form

2.1. Die qualitative Relationalität der Form als Gestaltung John Michael Krois hat zuerst das Augenmerk auf die Denkfigur der symbolischen Prägnanz 20 gerichtet, die trotz ihrer unauffälligen Stellung im Text eine zentrale Bedeutung für das Ganze einer Philosophie der symbolischen Formen einnimmt. Denn sie verknüpft die intensive Relationalität der mathematischen Topologie mit der Entstehung 20

Vgl. Krois 1987, 1988.

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Von der symbolischen Prägnanz zum Ereignis der Form

von Qualitäten aus der Gestaltpsychologie. Damit stellt sie in systematischer Hinsicht die Verbindung der Kategorien von Relation und Qualität dar, die notwendig ist für Cassirers Konzept der Form. Dieses Verständnis von »Form« bei Cassirer ist nahezu synonym mit »Gestalt« oder »Phänomen« im Sinne des Erscheinenden, Hervortretenden. Es bezieht sich auf qualitative Unterscheidung in der Wahrnehmung, die darin besteht, dass etwas sich ›abzeichnet‹, Form gewinnt im Sinne von Gestalt, und damit zeichenhafte Referenz darauf möglich wird. »Ohne diese Beziehung wäre nicht einmal der Eindruck als ›eben dieser‹, als tode ti im Aristotelischen Sinne bestimmt.« (PSF III, 157) Somit ist auch der Bereich der qualitativen Unterscheidung, der Wahrnehmung, dominiert von der Kategorie der Relation. Das Ereignis der Gestaltung findet sich bei Cassirer auf verschiedenen Ebenen: als Konkreszenz in der mythischen Unmittelbarkeit, in der das wahrgenommene Ding mit seinen Eigenschaften verschmilzt oder der Ort und die Richtung selbst erfahrbare Bedeutung haben; als Figuration in der anschaulichen Darstellung, die das VorAugen-Stellen einer Gestalt mit der sie tragenden Struktur von Sinn als Vorstellung leistet; als Verweisung, Bezeichnung, Symbolisierung in der Sprache bis hin zur Interpretation der Erkenntnis, die die Modalitäten der Wirklichkeit als Bedeutungsfunktionen aufdeckt wie die Einsteinsche Relativitätstheorie. Das ist kein Modell, in dem die Stufen einander ablösen. Sie sind gemeinsam da, sie sind keine Stufen, sondern Formen der Ausdifferenzierung in einem gemeinsamen Bereich. Schließlich ist auch der Moment, in dem ich auf einmal begreife, dass die bis eben völlig unverständliche Zeichnung auf der Tafel eine mathematische Funktion darstellt und was sie bedeutet, zugleich auch ein Moment der Konkreszenz. Die Wahrnehmung ist immer dabei. »Jede dieser Formen nimmt vom Sinnlichen nicht nur ihren Ausgang, sondern sie bleibt auch ständig im Kreise des Sinnlichen beschlossen. Sie wendet sich nicht gegen das sinnliche Material, sondern lebt und schafft in ihm selbst.« (ECW 16, 82)

Die Form als Gestalt hat bei Cassirer zwei Hauptkonnotationen: die der figura, des perspektivischen »Hervortretens«, der scharfen Abgrenzung. Das ist eine deutliche und klare, zweiwertige oder extensionale Relation von Vorder- und Hintergrund, die jegliche komplexe Strukturierung und Textur der Qualitäten dominiert. Die zweite 129 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

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Konnotation ist die des (Um-)Bildens, nämlich die geistige Leistung der »Formung«, die in die Entstehung der Gestalt mit eingeht, durch »Korrelation« verbunden mit der qualitativen »Strukturierung« des Materials. Gestalt ist das Produkt eines Gestaltungsprozesses. Die Tätigkeit des Bildens kann als solche nur gedeutet werden aus dem Prozess der Entstehung heraus; die Qualitäten des Materials treten mit der geistigen Leistung des Bildens (das, als schöpferisches, ähnlich gedacht werden muss dem Herderschen »Wirken«) in Wechselwirkung; und die »immanente Gliederung« der so entstandenen Gestaltung, also die Relation ihrer Elemente zu einander stehen zum »Prinzip« ihrer Gestaltung in einem je individuellen Zusammenhang. Da Cassirer keine substantielle Kategorie zu Grunde legt, in der das Wesen der Gestalt als Form enthalten wäre, haben wir ›nur‹ die Gestalt selbst. Es ist also bereits ein Vorgang der Reflexion und der Interpretation darin enthalten, zu unterscheiden, was als aktive, leistende, formende Form in die Gestalt eingegangen ist (»Formung«), was passiv, material, strukturierend mit eingespielt hat (»Strukturierung«) und welche »durch das spezifische Medium bedingten Formgesetze […] sie bestimmen« 21 (»Korrelation«). Diese intensiven Relationen des »Hervortretens«, der »Formung«, der »Strukturierung« und der »Korrelation« gehören zur konkreten Form als Gestalt. Die Reflexion auf die Form als Gestalt führt also notwendigerweise zur Reflexion auf die Form als Relation. Die Form als Relation ist darum eine symbolische Relation. Ein Element der Setzung, der aktiven Formung, gehört dem Symbolischen immer an. Bei Cassirer wird die symbolische Relation aber niemals als reine Setzung gedacht, als bloß aktives Zusammensetzen separater Einzelteile. Vielmehr ist diese Relationalität eine Funktion der intensiven Vermittlung zwischen allgemeinen Prinzipien der Formung und konkreten, individuellen Gestalten. Symbolische Relationen lassen sich nicht auf andere Relationen zurückführen. Sie können nicht durch Kausalität oder andere logische Grundprinzipien erklärt oder auf diese reduziert werden. Die Relation des »Hervortretens« bedarf homogener Medialität: der Positionierung in einem Schema, das ein Verhältnis zwischen Gleichartigem zur Darstellung bringt. Die Relationen der »For-

21

Lauschke 2007, S. 56.

130 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Von der symbolischen Prägnanz zum Ereignis der Form

mung«, der »Strukturierung« und der »Korrelation« hingegen sind verschiedene Übertragungsfunktionen des Heterogenen. Die »Strukturierung« ist die qualitative Strukturierung des Materials. »Formung« bezieht sich entweder auf die aktive Formung, die geistige oder schöpferische Leistung, oder auch auf den dauerhaften Prozess des Umbildens selbst, der sich nach und nach vollzieht und die Form als Gestalt durch verschiedene Tätigkeiten weiter modifizieren kann, ohne sie dabei durch etwas anderes zu ersetzen. Die »Korrelation« zwischen beiden wird anschaulich gemacht in der Bedeutungsfunktion, als Gesetz. Dieser spezielle, funktionale Sinn der »symbolischen Form« ist bei Cassirer von den funktionalen Symbolbegriffen bei Hertz, Leibniz und Duhem abgeleitet und bezieht sich auf die relationale Invarianz, die als Beziehung zwischen abstrakten und symbolischen Begriffen dargestellt wird und es erlaubt, das Gesetz zu formulieren. »Denn Gesetze sind nie und nimmer bloße Zusammenfassungen wahrnehmbarer Tatbestände, durch die die Einzelerscheinungen nur wie an einer Schnur aufgereiht würden. […] Es kommt nur dadurch zustande, daß an Stelle der konkreten Data, die die Beobachtung liefert, symbolische Vorstellungen gesetzt werden, die ihnen auf Grund bestimmter theoretischer Voraussetzungen […] entsprechen sollen. Jedes physikalische Urteil bewegt sich notwendig in diesem Kreise: Es ist keineswegs die bloße Konstatierung einer Mannigfaltigkeit beobachtbarer Einzeltatsachen, sondern es spricht eine Beziehung zwischen abstrakten und symbolischen Begriffen aus. Die Bedeutung dieser Begriffe liegt nicht der unmittelbaren Empfindung offen, sondern kann erst durch einen höchst komplexen intellektuellen Deutungsprozeß bestimmt und sichergestellt werden.« (PSF III, 24)

Die immer wiederkehrende Verbindung zwischen der Form als Gestalt und der Form als Relation lässt sich in etwa so formulieren: Jede Gestaltung ist ein Ereignis, ein Hervortreten. Die Gestalt lässt sich dann prägnant von ihrer ›Umgebung‹ abgrenzen und steht so zu ihr in einer extensionalen Relation, was es möglich macht, sie in vergleichende und gegenständliche Beziehungen zu setzen. Dieses Hervortreten wird ermöglicht auf Grund eines gestaltenden Prinzips, das sich wiederum aktualisiert durch eine Wechselwirkung oder »Korrelation« aktiver, formbildender geistiger Leistungen und qualitativer, materialer Strukturen. Die Aktualisierung ist sowohl ein wirklicher Prozess der Formung als auch ein Prozess der geistigen Artikulation. Das gestaltende Prinzip wird durch diesen Prozess der geistigen Artikulation selbst 131 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

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anschaulich gemacht als Gesetz oder Funktion, was wiederum ein Ereignis der Gestaltung auf der höchsten reflexiven Ebene ist. Das Ereignis der Gestaltung ist also eine intensive Realität, und jede »Form« in diesem Sinne steht in intensiver Verbindung mit dem Prozess der Artikulation, der zu ihrer Bildung geführt hat.

2.2. Symbolische Relation als Intensität der Ausdrucksfunktion Ausdruck, Darstellung und Bedeutung sind verschiedene Momente der Artikulation einer Form, und die symbolische Prägnanz steht für die intensive Verknüpfung von Qualität und Relation, die in der Artikulation strukturiert und neu interpretiert wird. »Jetzt gewinnen sie [die Eindrücke, V. N.] in der Differenzierung und Scheidung, die ihnen zuteil wird, zugleich eine neue inhaltliche Fülle. Denn das Lautzeichen ist nicht der bloße Abdruck solcher Unterschiede, die im Bewußtsein schon bestehen, sondern ein Mittel und eine Bedingung der innerlichen Gliederung der Vorstellungen selbst. Die Artikulation des Lautes spricht nicht nur die fertige Artikulation des Gedankens aus, sondern bereitet ihr erst selbst den Weg.« (ECW 16, 82)

Wenn die symbolische Prägnanz in systematischer Hinsicht für die Verbindung von Qualität und Relation auf allen Ebenen steht, so bildet sie in methodischer Hinsicht die Verbindung von Ästhetik im Sinne von aisthesis, die sich mit Prozessen des Erscheinens befasst, und Naturphilosophie, die sich Prozessen des Werdens widmet. Die Naturphilosophie tritt hier in der Gestalt der Mathematik auf, die sie seit Leibniz und bis zu Gauß, Riemann und Poincaré angenommen hat, weil diese in der Lage ist, die Relationen des Werdens auf ein einheitliches Prinzip der Logik zu beziehen. Das ist Leibniz’ Ideal der mathesis universalis. Die Verbindung der solcherart mathematisierten Naturphilosophie und der (nicht mehr transzendentalen) Ästhetik wird zur Basis von Cassirers Verständnis des Symbolischen. Denn symbolische Relationen betreffen immer sowohl eine Veränderung des Gegenstandes als auch eine Veränderung seines Sinnzusammenhangs, der Art, wie er erscheint und wahrgenommen wird. »Diese ideelle Verwobenheit, diese Bezogenheit des einzelnen, hier und jetzt gegebenen Wahrnehmungsphänomens auf ein charakteristisches Sinnganzes, soll der Ausdruck der ›Prägnanz‹ bezeichnen.« (PSF III, 231)

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Je nach Kontext unterscheidet Cassirer Veränderungen im Ausdruck, in der Darstellung oder der Bedeutung. Die »Grundfunktionen« von Ausdruck, Darstellung und Bedeutung entsprechen drei Formen der Synthesis bei Kant. In der Kritik der reinen Vernunft geschieht die Synthesis der Eindrücke des Mannigfaltigen durch die Einbildungskraft als Apprehension, eine unmittelbar an den Wahrnehmungen ausgeübte Tätigkeit. Sie muss sich mit der Synthesis der Reproduktion und der Rekognition verbinden, um ihre transzendentale Funktion der notwendigen Einheitsbildung auszuüben. »Zudem scheint es, als habe Cassirer mit seiner Unterscheidung von Darstellung und Bedeutung die Kantische Unterscheidung von Anschauung und Begriff ohne weiteres genutzt und ihr, als seine eigene Neuerung, lediglich die Funktion des Ausdrucks als kritisches, weil zugleich relativierendes und fundierendes Moment hinzugefügt.« 22

Mir scheint, dass dieses »zugleich relativierende und fundierende« Moment sowohl verknüpft als auch in seiner Relationalität zur Basis dient. Wenn diese basale oder fundierende Verknüpfung als die doppelte Intensitätsbeziehung der intensiven Realität gelten kann, dann übersteigt und transformiert die Ausdrucksfunktion als eigene Neuerung Cassirers tatsächlich die von Kant übernommenen Strukturen. Cassirers eigene Darstellung der Entwicklung von der Kritik der reinen Vernunft zur Kritik der Urteilskraft weist in diese Richtung. Das bedeutet, dass die Ausdrucksfunktion mehr ist als die Einheitsbildung der Apprehension. Sie betrifft die Vorgänge, in denen die sympathischen Wechselwirkungen des Fühlens und Empfindens mit der Reflexion in intensive Verbindung gebracht werden. Dabei entsteht nicht eine synthetische Einheit durch apperzeptive Akte, sondern eine intensive Realität aus medialer Wechselwirkung, die sich artikulierend in einen Sinnzusammenhang eingliedern lässt und diesen wiederum transformiert. »Was sich aufzeigen läßt, ist kein […] ›Früher‹ oder ›Später‹, sondern nur der innere Zusammenhang, der zwischen den beiden Grundformen und Grundrichtungen der geistigen Gliederung besteht.« (PSF III, 127)

Diese beiden Grundrichtungen gehören zum Ausdruck. Die intensive Verdichtung von Empfindungsqualitäten und ihre Spannungsbewegung in sympathischer Wechselwirkung mit den eigenen »Schwin-

22

Schwemmer 1997a, S. 65 f.

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gungen« und »Stimmungen« des Wahrnehmenden bewirken ein Umbilden in den Ausdruck. Es ist die Intensität der Ausdrucksfunktion, die symbolische Relationen auf allen Ebenen erzeugt. Der Vorgang dieser Erzeugung wird durch die symbolische Prägnanz beschrieben. »Hier handelt es sich nicht um bloß ›perzeptive‹ Gegebenheiten, denen später irgendwelche ›apperzeptive‹ Akte aufgepfropft wären, durch die sie gedeutet, beurteilt und umgebildet würden.« (PSF III, 231) »Wieder offenbart sich hierbei die unlösliche Einheit des psychophysischen Zusammenhangs. Die Grundkraft der ›Reflexion‹ wirkt in jedem ihrer Akte zugleich ›nach innen‹ und ›nach außen‹ : Sie tritt auf der einen Seite in der Gliederung des Lautes, in der Artikulation und Rhythmisierung der Sprachbewegung, auf der anderen in der immer schärferen Differenzierung und Abhebung der Vorstellungswelt zutage. Der eine Prozeß wirkt ständig auf den anderen hinüber: Und diese lebendige dynamische Wechselbeziehung ist es, aus der allmählich ein neues Gleichgewicht des Bewußtseins entsteht, aus der ein stabiles ›Weltbild‹ sich herstellt.« (PSF III, 128)

Die »Reproduktion« als Darstellungsfunktion und die »Rekognition« als Bedeutungsfunktion bleiben in diesem neuen medialen Gleichgewicht also keine Synthesen der Einheitsbildung aus apperzeptiven Akten heraus, sondern werden zu Aspekten der Reflexion »im Sinne des Herderschen Begriffs« (PSF III, 134) oder der Artikulation, die sich als geistige Prozesse aus der Ausdrucksbeziehung heraus ergeben. Darum sind sie auch von ihr nicht streng zu trennen: »Sobald der Ausdruck nicht mehr nur als ein Naturereignis, sondern, wie im Mythos, als eine gestalterische Leistung verstanden wird – und nur als solche ist er ja eine geistige ›Grundfunktion‹ –, ist auch der Ausdruck selbst eine Form der Darstellung.« 23

Als Formtypen lassen sie sich unterscheiden wie Konkreszenz, Figuration und Funktion. Aber zugleich steht jeder dieser Formtypen als mehr oder weniger komplexe und abstrakte Differenzierung mit den anderen in Verbindung. So muss die Funktion als Darstellung bildhaft werden, und die Darstellung dient der Ausdrucksform zur Schematisierung. Der Ausdruck ist selbst eine relationale Funktion und kann in seiner Bedeutung analysiert und beschrieben werden. Die Verknüpfungen, die jede dieser Funktionen auslösen kann 23

Schwemmer 1997a, S. 65.

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und die Cassirer gerne durch Metaphern der Kristallisation beschreibt, die an Leibniz’ Ideal der Simultaneität in der cognitio intuitiva erinnern, sind Neustrukturierungen des Ganzen. »Das mannigfaltig Verstreute sammelt sich nicht nur, sondern es tritt zu selbständigen und eigentümlichen Gebilden, zu Gebilden höherer Ordnung, zusammen. Diese bilden fortan die eigentlichen Kristallisationsmittelpunkte, an die alles neu Entstehende anschießt.« (PSF III, 129 f.)

Es geht also nicht darum, Anschauung und Begriff funktional, aber äußerlich auf einander zu beziehen. Auch Darstellungs- und Bedeutungsfunktion sind durch die immanente Gliederung ihres Gegenstandes intensiv miteinander verbunden. Diese Verbindung leistet die Intensität des Ausdrucks.

2.3. Intensität und Intentionalität Cassirer führt die symbolische Prägnanz im Zusammenhang mit Husserl ein, nachdem er klargestellt hat, dass erst Husserls phänomenologischer Intentionalitätsbegriff eine vollständige Überwindung der Probleme des Sensualismus darstellt, in denen noch Kant befangen war. Denn erst mit Husserls Intentionalität ist klargestellt, dass es sich bei psychischen Phänomenen um Einheiten handelt, die sich in direkter Weise weder durch Projektion noch durch Zusammensetzung, noch durch irgendeine Funktion der Abbildung oder Adäquation aus den Einheiten der objektiven Realität ableiten lassen. Sie sind also intensive Realitäten im Sinne Leibniz’. »Nach dem Modell ursprünglicher Ganzheit von ausschließlich analytisch Teilbarem interpretiert Cassirer auch den intentionalen Charakter der Erlebnisakte bei Husserl.« 24 Wir können sagen, dass Cassirer ein anderes Ideal von Anschaulichkeit verfolgt als Husserl. Wie Bergson glaubt er nicht an die Simultaneität und Instantaneität der intuitiven Erkenntnis. Die Instantaneität wird verworfen und durch die echte Entwicklung sympathischer Wechselwirkungen ersetzt, die sowohl Passivität als auch Aktivität als Verlaufsformen beinhaltet: erfahrendes Fühlen, deutendes Erfassen. Beide werden überführt in das schöpferische Bilden der eigentlichen Konkretion. 24

Möckel 1998, S. 147.

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Ein funktionaler Ersatz für die Simultaneität der Elemente wird jedoch durch den Verweisungszusammenhang geleistet. Die intensive Realität als Ganzes steht in einem Sinn-Ganzen: durch Ausdrucksformen wie Reihenbildung, sprachliche Bezüge, poetische Logik. In diesem Sinn ist sie eine ursprüngliche Ganzheit, aber eben eine dynamische. Husserls Intentionalität hat zwar, in Cassirers Interpretation, die Form dieser Einheit, dieser ursprünglichen Ganzheit; doch hat sie diese Form als Akt des Bewusstseins. Husserl, so Cassirer, begeht nicht länger den Fehler, Formen des Bewusstseinserlebnisses aus einer Fiktion sinnlicher Stofflichkeit abzuleiten, wie es der Sensualismus tut. Er verfällt jedoch in den umgekehrten Fehler, eine Art stofflicher Restbestände dieser Ableitungsbeziehung als »hyletische Daten« in das Erlebnis mit hineinzunehmen. Das Problem liegt darin, dass Intentionalität als Akt des Bewusstseins gedacht wird. Der aktive, formende Bezug wird damit einseitig, nicht wechselseitig. Hier taucht eine alte Verwechslung wieder auf: die Verwechslung der Form mit dem Grund oder der Ursache. Intentionalität ist als Akt des Bewusstseins die Ursache des gegliederten Ganzen. Sie ist eine Spannungsbewegung, die jedoch nicht aus der intensiven Relation anderer Formverhältnisse heraus als Ausdruck von Qualitätsverhältnissen entsteht, sondern als aktive Setzung. Die einheitliche Form der Intentionalität ist dann die Ursache des Phänomens, insofern dieses vom Bewusstsein erfasst wird. Cassirer setzt dagegen natürlich die symbolische Prägnanz, die Ausdruck einer Wechselwirkung ist. »Wir suchen diese Wechselbestimmung dadurch zum Ausdruck zu bringen, daß wir für sie den Begriff und Terminus der ›symbolischen Prägnanz‹ einführen. Unter ›symbolischer Prägnanz‹ soll also die Art verstanden werden, in der ein Wahrnehmungserlebnis, als ›sinnliches‹ Erlebnis, zugleich einen bestimmten nicht-anschaulichen ›Sinn‹ in sich faßt und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt.« (PSF III, 230 f.)

2.4. Umsetzung statt Übersetzung. Zeichen statt Projektion Der symbolischen Vermittlung des Zeichens und der »unmittelbaren konkreten Darstellung« für das Bewusstsein steht Husserl skeptisch gegenüber. 25 Die Selbsttransparenz, die der Phänomenologe metho25

Vgl. dazu Möckel 1998 in Bezug auf die Entwicklungsstadien von Husserls Phäno-

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disch fordert, wird auf einer sprachlogischen Ebene durch adäquate Übertragung identischen Inhalts von einem Schema in ein anderes geleistet. Cassirer nennt diese Übertragung in homogene Schemata »Übersetzung«. »Als eigentlicher Quell der aufgewiesenen Aporien und Antinomien erscheint nicht sowohl die Umsetzung eines metaphysischen Grund- und Urverhältnisses in begriffliche Symbole, als seine Übersetzung in räumliche Schemata.« (ECN 1, 14)

Interessant ist der Gegenbegriff, den Cassirer wählt: die »Umsetzung« in begriffliche Symbole. Das Symbolische, so lässt sich diese Wortwahl deuten, ist nicht homogen wie die reine Ordnungsform, in die man etwas adäquat übersetzen kann. In symbolische Relationen wird umgesetzt, wie man eine Pflanze umsetzt: es findet ein Ortswechsel in einen neuen Boden statt und damit eine Verwandlung, eine Neuentstehung, eine Transformation. Es ist die Entstehung einer neuen Gestalt, die jedoch in einer intensiven Verbindung zu dem solcherart umgesetzten »Grund- und Urverhältnis« steht. Darin lässt sich eine gewisse Nähe zu den Ideen zur sprachlichen Übersetzung bei Walter Benjamin im Gegensatz zu Heidegger sehen: »Für Heidegger bleibt die Übersetzung ein Sprung, weil es kein Mittel gibt, anders zum anderen Ufer einer fremden Sprache zu gelangen. Für Benjamin jedoch ist das Übersetzen eine stetige Transformation, also die Überführung der einen Sprache in die andere, durch ein Kontinuum von Verwandlungen&‹&.« 26

Aber in Cassirers Begriff der Umsetzung liegt noch weit mehr als ein Überführen von einer Sprache in die andere, nämlich die eigentliche Entstehung von Bedeutung, im Kontext der Entstehung von Sinn. Die Umsetzung in begriffliche Symbole ist nichts anderes als die philosophische Reflexion selbst, die zu ihrer Gliederung symbolische Relationen verwendet. Schon auf der Ebene der Wahrnehmung ist es ja

menologie, von den erkenntnistheoretischen Ursprüngen der Logischen Untersuchungen (S. 15–66) zu den drei von Husserl selbst als Einführungen präsentierten Werken, den Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie I, (S. 67–154), den Cartesianischen Meditationen (S. 155–211) und der Krisis der europäischen Wissenschaften (S. 213–305). 26 Krämer 2008, S. 178. Sie zitiert an dieser Stelle Benjamins Text »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen«.

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»die Wahrnehmung selbst, die kraft ihrer eigenen immanenten Gliederung eine Art von geistiger ›Artikulation‹ gewinnt – die, als in sich gefügte, auch einer bestimmten Sinnfügung angehört.« (PSF III, 231)

Als in sich gefügte, kraft ihrer eigenen Gliederung, gewinnt die Wahrnehmung selbst eine geistige Artikulation. Das heißt, dass sie in diesen Artikulationsprozess ihre eigene Gliederung einbringt und diese sich als Kraft auswirkt. Das ist wie bei Bergson die Spannungsbewegung aus der Kontraktion, der verdichteten Wahrnehmung. Der zweite Teil der Definition beschreibt genauer den Prozess der Artikulation: er ist zwar ein Prozess, zugleich aber auch eine Zuordnung, ein Angehören. Diese Zuordnung erhält die Dynamik. Sie sorgt dafür, dass die einzelnen Glieder der wahrgenommenen Konkretion auch jeweils für sich, wie die selbstständigen Organe im Organismus nach Bergson, in Verbindung mit der übergeordneten Sinnfügung treten. In diesem Sinne ist die Konkretion heterogen: sowohl sie selbst als auch zugleich etwas anderes. Nur so lässt sich die von Leibniz gewünschte Fülle, plenum, der intuitiven Erkenntnis gewährleisten: »Die ›symbolische Prägnanz‹, die sie gewinnt, entzieht ihr nichts von ihrer konkreten Fülle – aber sie bildet zugleich die Gewähr dafür, daß diese Fülle nicht einfach verströmt, sondern sich zu einer festen, in sich geschlossenen Form rundet.« (PSF III, 233)

Diese feste Form entsteht durch das Einordnen der Konkretion in einen Sinnzusammenhang. Soweit die Wahrnehmung. Bei der »Umsetzung« auf der Ebene der philosophischen Reflexion vollzieht sich ebenfalls ein symbolischer Prozess. Nur ist die »Fügung« hier komplexer und abstrakter. Fügung hat den Doppelsinn der immanenten Gliederung, des Ineinanderpassens der Teile eines Ganzen, und der individuellen Verknüpfung dieser einzelnen Elemente mit der »Sinnfügung«, in welche das Ganze »eingefügt« wird. Die Zimmerleute-Metaphorik des Fügens zeigt deutlich, dass es nicht um homogene Ordnungsformen geht, sondern um solche, die sich aus dem Bauen und Werken ergeben: die dann zwar »mit Fug und Recht« gelten, aber erst, nachdem sie sich individuell ineinander »gefügt« haben und sich dabei auch darin »fügen«, wie es das Schicksal »fügt« oder eben das Material, mit dem zu arbeiten ist. Sinn bedeutet das dynamische Einfügen der Transformationen des Umsetzens in die Zusammenhänge symbolischer Relationen, aus 138 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

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dem heraus sich wiederum eine »Bedeutung« des Umgesetzten formulieren lässt. Umsetzen deutet also nicht nur auf reale Ortsveränderung hin, sondern auch auf das aktive, tätige Ausführen eines Plans. Etwas wird umgearbeitet, in der eigenen Dauer eines Prozesses der Umbildung. Was dabei aber entsteht, nämlich die Symbole als funktionierende und wirkende, drücken das Umgesetzte aus. Das ist weder eine Abbildfunktion noch ein Verhältnis des Einschließens. Sie enthalten oder spiegeln es nicht, sondern sie wirken auf die Erfahrung so, dass das Gefügte als Ergebnis der Fügung, das symbolisch »Artikulierte«, verstanden werden kann. Dieser Prozess des Fügens unterscheidet das Symbol prinzipiell vom Gegenstand. Das Symbol ist materiell fassbar, weil es sich durch die Verhältnisse des Fügens für die Wahrnehmung und das Verstehen manifestiert, aber es ist kein Objekt. Es ist über seine Wirkung definiert, die mit seiner Bedeutung zusammenfällt. Die Konstitution des Gegenstands dagegen lässt sich verstehen durch die wirkende Bedeutung des Zeichens als energeia, das Objektivierung ermöglicht. Denn ein Gegenstand wird immer nur aus einem bereits gefügten Sinnzusammenhang heraus als solcher gedeutet und wahrgenommen. Darum kommt es darauf an, »das Erkenntnisproblem und das Wahrheitsproblem als Sonderfälle des allgemeinen Bedeutungsproblems [zu] begreifen.« (ECW 17, 16) »Denn das Zeichen ist keine bloß zufällige Hülle des Gedankens, sondern sein notwendiges und wesentliches Organ. Es dient nicht nur dem Zweck der Mitteilung eines fertig gegebenen Gedankeninhalts, sondern ist ein Instrument, kraft dessen dieser Inhalt selbst sich herausbildet und kraft dessen er erst seine volle Bestimmtheit gewinnt.« (PSF I, 16)

2.5. Prägnanz als Formungsereignis Schwemmer hat darauf hingewiesen, dass die symbolische Prägnanz nicht für alle Verwendungen des Formbegriffs bei Cassirer als Paradigma dienen kann. Der Begriff der Form ist natürlich der allgemeinere Begriff, während die symbolische Prägnanz einen zentralen Aspekt der Formung als Prozess betrifft. Die Prägnanz ist ja selbst auch keine Form, auch nicht eigentlich eine Funktion, denn sie lässt sich nicht in dieser Weise schematisieren oder darstellen. Man kann sie allgemein nur als Formungsereignis fassen. Die symbolische Prägnanz nimmt eine zentrale Stellung ein 139 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

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»als dynamische[r] Grund der symbolischen Formung« 27, aber eher für die symbolische Form als Medium, als für den Formbegriff überhaupt. Es gibt andere Verwendungen des Formbegriffs, die sich nicht in erster Linie über ihre Medialität bestimmen lassen, zum Beispiel die »reine Form« oder die »Einheit der Form«. Cassirers Invariantentheorie, die Formen als Strukturen durch Metrisierung gewinnt, ist ein weiteres Beispiel für einen wichtigen Formbegriff, der wenig mit der Medialität der Prägnanz als erscheinender Konkretion zu tun hat, sondern gerade im Gegenteil die prägnante Form durch Abstraktion erst schafft. Hierin stimmt er mit Whitehead überein, der ebenfalls die Entstehung von Strukturen durch Objektivierungen im Ereignis beschreibt. Nicht für den Formbegriff überhaupt, sondern für die symbolische Form als Medium ist die symbolische Prägnanz von besonderer Bedeutung. Schwemmer zählt einige Polaritäten des Formgeschehens in Cassirers Philosophie auf, namentlich Struktur und Dynamik, Funktionalität und Eigenkonfiguration, Gesetz und Tradition, Intention und Kontraktion, Korrespondenz und Korrelation, subjektive und objektive Form, Sein und Werden, Typisches und Individuelles, das Ganze und seine Teile, die Form als Sinnbegriff und die mechanische Kausalität. 28 Einige dieser Polaritäten bezeichnen Gegensätze von Entwicklungen und Fixierungen, so etwa Dynamik und Struktur, Eigenkonfiguration und Funktionalität, Tradition und Gesetz, Individuum und Typ, Werden und Sein. Sie stehen als Gegensätze im Denken Cassirers keinesfalls unversöhnt einander gegenüber, können aber auch nicht wie bei Hegel als dialektische These und Antithese gedacht werden. Vielmehr sind sie wirklich Polaritäten einer einzigen Bewegung, die beide als wirkende, als bestimmende Faktoren einschließt. Eine besondere Stellung nimmt dabei die letzte der genannten Polaritäten ein, nämlich die zwischen der Form als Sinnbegriff und der mechanischen Kausalität. Für sie spielt die symbolische Prägnanz tatsächlich eine paradigmatische Rolle. Denn auch die Form als Sinnbegriff ist ein Formungsereignis. Die mechanische Kausalität ist das genaue Gegenteil: ein Ereignis, das jedoch keinerlei Formung enthält, das keine echte Formveränderung auslöst. Sie ist die Abstraktion 27 28

Stoellger 2000, S. 101. Vgl. Schwemmer 2011, S. 113–138.

140 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Struktur und Dynamik: Das mediale Kontinuum

einer symbolischen Relation. Als Verhältnis von Ursache und Wirkung stellt sie den Grenzbegriff der Veränderung dar, die qualitätsneutrale Zuordnung zweier Gegenstände in einem mechanischen Prozess. Verstanden werden kann sie nur im Zusammenhang eines Sinns. In dieser Polarität ist es also so, dass die Form als Sinnbegriff die ganze Bedeutung liefert, während die mechanische Kausalität eine abstrakte Ableitung aus dieser Bedeutung darstellt. Diese Form als Sinnbegriff, die symbolische Form als Medium, lässt sich von den anderen Formbegriffen nicht vollständig abtrennen. Gerade diese Verbundenheit macht ihren medialen Charakter aus. So geht die Abstraktion der Invariantenbildung als Prozess von der Konkretion aus. Die reine Form als aktive Setzung kann nicht alleine stehen, sondern befindet sich immer in Wechselwirkung. Aktivität und Passivität sind Unterscheidungen aus einem medialen Zusammenhang heraus. Form ist also bei Cassirer nicht gleich Form, aber dennoch steht jeder Gebrauch des Formbegriffs letztlich in einer Beziehung zur Medialität des Symbolischen.

3.

Struktur und Dynamik: Das mediale Kontinuum

3.1. Die Einheit der Form als Einheit der Struktur Zehn Jahre später fanden sich die Protagonisten der Wiederentdeckung Ernst Cassirers zu einem Sammelband zu Werk und Wirkung zusammen. 29 Schwemmers darin erschienener Text »Die Vielfalt der symbolischen Welten und die Einheit des Geistes« 30 war schon als erstes Kapitel seines Cassirer-Buches konzipiert. Er hebt besonders den schöpferischen Aspekt der Symbolisierung hervor. Jede Produktion von Werken als eine schöpferische Gestaltung zu sehen, ist Voraussetzung für die Analyse einer medialen Basis im Denken Cassirers. Der Aspekt der poiesis stellt die Verbindung zur schöpferischen Kraft bei Bergson und der Kreativität bei Whitehead dar. Als mediales Motiv beschreibt Schwemmer die doppelte geistige Heimat Cassirers im kantischen Einheitsanspruch der Vernunft und 29 30

Schmücker/Frede 1997. Vgl. Schwemmer 1997a, S. 15.

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im goetheschen Konzept einer Vielfalt der Vernunft. Aber er hebt dabei auch das Verständnis von Vernunft selbst hervor, das Cassirer auf Grund dieses doppelten Anspruchs entwirft: Vernunft ist nicht abbildendes, sondern gestaltendes Erfassen; sie ist medial und wird dadurch, in der Sprache des Deutschen Idealismus verbleibend, zum Geist. »In diesem Begriff des Schöpferischen […] glaubt er die Spontaneität der Kantischen Vernunft und die Kreativität des Goetheschen Geistes zugleich fassen zu können, trotz der bleibenden Unterschiede«. 31

Die Spontaneität ist unerlässlich, denn sie ist nichts anderes als der Actus des Subjekts (KrV, B 132), die energeia als formbildende Kraft. Dabei liest Cassirer Kant durchaus so, dass auch Bergson damit zufrieden sein könnte: Die formbildende Kraft ist weder als newtonianisches Produzieren gedacht noch als Realisierung eines Vermögens als reine Setzung aus einer leeren Form des Bewusstseins. Eher ist es die Tätigkeit als Bewegung und Deutung, wie wir sie auch bei Leibniz finden. Cassirer kritisiert hier Kants Ausdrucksweise, die den von ihm, Cassirer, gewünschten Kant teilweise verstellt: »Die neue ›transzendentale‹ Einsicht, die er zu gewinnen und zu sichern bestrebt ist, spricht sich in den Begriffen der Vermögenspsychologie des achtzehnten Jahrhunderts aus. Und so kann es scheinen, als würden ›Rezeptivität‹ und ›Spontaneität‹, als würden ›Sinnlichkeit‹ und ›Verstand‹ hier doch wieder als seelische ›Grundkräfte‹ gedacht, deren jede für sich als psychische Wirklichkeit besteht und die sodann in ihrem realen Zusammenwirken, in ihrem ursächlichen Ineinandergreifen, die Erfahrung als ›Produkt‹ hervorbringen.« (PSF III, 222)

Cassirer will eindeutig nicht eine Einheit des Produktes durch seelische Vermögen erreichen (und schreibt Kant zu, dass er dies auch nicht wollte). Aber er muss den formbildenden Akt als Spontaneität behalten. Wollte er darauf verzichten, so müsste er nicht die Einheit der Vernunft in ihrem Endprodukt aufgeben, auf die er gar keinen Wert legt, sondern die Einheit der jeweiligen Form. Das aber würde jede Möglichkeit einer Vermittlung der Formen untereinander ausschließen. Die Einheit der einzelnen Formen ergänzt sich zur Vielfalt der Formen, die nicht eine vom Subjekt abhängige Welt bilden wie bei

31

Ebd., S. 25.

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Heidegger oder Wittgenstein, auch nicht die Lebenswelt wie bei Husserl, sondern die Vielfalt der symbolischen Welten, vermittelt durch die Einheit des Geistes. Was in dieser Vermittlung zusammenwirkt, sind keine seelischen Grundkräfte oder Vermögen, sondern die Formen selbst als intensive Realitäten: als ästhetisch erfahrbare Einheiten, die selbst eine Wirkung haben. »Kunst gibt uns eine Einheit der Intuition; Wissenschaft gibt uns eine Einheit des Denkens; Religion und Mythus geben uns eine Einheit des Fühlens. Kunst öffnet uns das Universum der ›lebenden Formen‹ ; Wissenschaft zeigt uns ein Universum von Gesetzen und Prinzipien; Religion und Mythus beginnen mit dem Gewahrwerden der Universalität und grundsätzlichen Identität des Lebens.« (MS 53)

Die Formen, die Cassirer als »rein« bezeichnet und für die er den Ausdruck actus purus gebraucht, sind keine Setzungen des Bewusstseins. Sie können darum reine Formen genannt werden, weil sie selbstständige Ganzheiten sind, die Funktionen der Mathematik, Gestaltungen der Kunst oder Ideen des Schönen zum Ausdruck bringen können. Sie können aber auch nichts oder nur sich selbst zum Ausdruck bringen und trotzdem selbstständige Formen sein. Denn Gestaltung hat eine eigene Dynamik, die nicht bloß der Referenz oder der Erkenntnis von Objekten unterworfen ist. Die ursprüngliche scholastische Bedeutung des actus purus war die der Natur Gottes 32: sich selbst genügend, ohne Bedarf an etwas anderem. In diesem Sinn ist eine reine Form auch eine causa sui.

3.2. Die vermittelnde Einheit der Idee Cassirers Kantverständnis entwickelt sich in der Auseinandersetzung mit Hermann Cohen. Cassirer hat bei Georg Simmel in Berlin studiert und ging 1896 auf dessen Empfehlung hin zu Cohen nach Marburg. Cohens Gesichtspunkt der transzendentalen Methode stellt Cassirer in dem späteren Aufsatz »Hermann Cohen und die Erneuerung der kantischen Philosophie« als Umformung einer Gegebenheit

Ich verdanke den Hinweis auf diesen Zusammenhang Oswald Schwemmers Vortrag »Der Sinn der Sinnlichkeit« auf der Tagung Bodies in Action and Symbolic Forms des Kollegs »Bildakt / Verkörperung« zum Gedenken an John Michael Krois, Humboldt-Universität Berlin, 04. 11. 2011.

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des transzendentalen Apriori in eine »Beziehung zwischen der Erfahrung und der Idee« 33 dar. Die Idee dient dabei als eine bildhafte Form zur Vermittlung von Wirklichkeit und Erfahrung: eine Rückdeutung Cassirers von Goethes Begriff der Idee auf den Kants. Idee ist hier bereits kein regulatives Ideal oder Schema, sondern die in sich schon gestaltete »Form des objektiven Werdens« (FF 209). »So erkennt auch diese Lehre durchaus ein ›Gegebenes‹ an, an dem die philosophische Betrachtung sich zu orientieren hat; aber es ist gleichsam ein Gegebenes höherer Stufe, das nicht in der materiellen Bestimmtheit von Dingen, sondern in der logischen Struktur von Prinzipien und Ideen besteht.« (ECW 9, 124)

Die Einheit der Form ist keine Einheit des Subjekts, sondern eine Einheit der Idee bzw. der von ihr gestalteten Struktur. Der Gegensatz des Subjektiven und Objektiven ist damit aufgehoben. Ferrari zitiert dazu Cassirers Grußwort an den IV. Ästhetikkongress in Hamburg 1930, in dem er die Goethe’sche Metapher der wiederholten Spiegelungen als Bild oder Symbol des menschlichen Lebens bezeichnet, aber auch für die »gegenseitige Befruchtung der verschiedenen geistigen Gebiete« 34 nutzt. Die Einheit der Form ist eine Spiegelung der Form: Dort, wo sie etwas von sich wiederfindet, erkennt sie sich selbst. Es sind also nicht immer wieder dieselben Formen, oder gar nur eine Form. Es geht um den Austausch von Formen, die in Korrespondenzbeziehungen stehen können. Sowohl das Leben als auch die »gegenseitige Befruchtung« im Geist sind Bereiche der Medialität, die eine solche Einheit der Struktur sowohl voraussetzen als auch erzeugen. Die Einheit der Struktur ist eine Einheit der Wechselwirkung, die Cassirer immer wieder betonen wird. Er bezeichnet sie meist als Korrelation und schreibt sie den Denkern zu, die er dem Deutschen Idealismus zuordnet, zum Beispiel Leibniz: »Der wichtige systematische Hauptgedanke der notwendigen Korrelativität von Bewußtseinsfunktion und Bewußtseinsinhalt ist hier erreicht.« (LS 471)

33 34

Kajon 1988, S. 250. Ferrari 2003, S. VII.

144 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Struktur und Dynamik: Das mediale Kontinuum

3.3. Organische Qualität und mathematisches Kontinuum Am deutlichsten zeige sich die notwendige Korrelation von Idee und Wirklichkeit in der Kunst, weswegen Cohen von der Kritik der reinen Vernunft zur Kritik der Urteilskraft übergehe. Gerade in der Interpretation der dritten Kritik weichen Cassirer und Cohen aber stark von einander ab. Denn für Cohen fallen die beiden Teile zur ästhetischen und zur teleologischen Urteilskraft auseinander. Er deutet die Ästhetik als Richtung des Bewusstseins, der ein bestimmter Bewusstseinstyp entspreche: das Gefühl. Die teleologische Urteilskraft dagegen gehört für ihn in den Bereich einer beschreibenden Wissenschaft der Natur, so dass er den Zweck als Kategorie des reinen Denkens einordnet. 35 Für Cassirer ist die Verbindung ästhetischer Zweckmäßigkeit mit derjenigen der Natur der zentrale Punkt der Kritik der Urteilskraft, denn sie dient der Reflexion kontingenter Wirklichkeit, der Entwicklung realer Formen unter Einfluss des Zufalls. Cohen denkt die Dynamisierung des transzendentalen Apriori von einer logisch notwendigen Mit-Gegebenheit jeder Relation hin zu einer Eigenschaft, die aus der Relationalität selbst erst entsteht. Das nimmt die Gestalt des mathematischen Kontinuums an, auf die wir ebenfalls schon bei Leibniz stießen. Erfahrung und Wirklichkeit sind keine starren Strukturen, sondern Verlaufsformen, die Interferenzen bilden. Doch aus dem mathematischen Kontinuum alleine ergibt sich, wie wir schon bei Bergson gesehen haben, keine Qualität; qualitative Stetigkeit oder Gestaltung lässt sich nicht durch die infinitisemale Berechnung ihrer Einzelelemente adäquat erfassen. Denn »Punkte sind nicht Teile, sondern Grenzen der Linie. Das Stetige läßt sich daher weder in Punkte auflösen, noch besteht es aus ihnen. Schon hier [bei Leibniz 1676, V. N.] tritt uns der Zweifel an dem absoluten Dasein des Unendlich-Kleinen entgegen, das in seinem Rechte als Instrument der Wissenschaft erkannt ist.« (LS 468)

Cohens Kontinuum ist eine Ansammlung von Punkten, eine infinitisemale Berechnung von Intervallen. Stetigkeit des Übergangs soll mit der Infinitisemalmethode durch unendliche Annäherung an den Schritt des Übergangs geleistet werden. Auch hier ist die Infinitisemalmethode also in ihrem Recht als 35

Vgl. dazu Ferrari 2003, S. 80 f.

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3 · Ernst Cassirer: Die lebendige Form

Instrument der Wissenschaft erkannt. Aber ein rein mathematisches Kontinuum hat keine Medialität. Die Bewegung des naturwissenschaftlichen Objekts (ECW 9, 127), die hier berechnet wird, kann keine Qualität für die Erfahrung leisten. »Das Problem des Organismus, das Problem des Lebens geht niemals in den Bewegungsformen der reinen Mechanik auf.« (ebd., 128) Eine Theorie der Erfahrung ist eine Theorie logischer Relationen als Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung. Cohen »selbst aber zieht hieraus die Folgerung, daß die Logik, als Logik der reinen Erkenntnis, nichts anderes als Logik der mathematischen Naturwissenschaft sein kann.« (ECW 16, 5) Cassirer dagegen sieht zunehmend Erfahrung als Erfahrung von Formen an, und das heißt, dass die Bedingungen ihrer Möglichkeit nicht im Voraus abschließend bekannt sein oder theoretisch erschlossen werden können. Sie sind lebendige Formen in der lebendigen Erfahrung, die nicht der Logik der Mechanik, sondern der Metaphorik des Organischen angehören. Sie wollen, wie Cassirer hier Cohen zitiert, »in der Qualität ihrer Structur bestimmt sein.« (ebd.) Irene Kajon sieht die Lösung für das Problem der »Einheit des Bewußtseins […] keinen nennenswerten Veränderungen unterworfen […]. In Cassirers erster Veröffentlichung erscheint sie in genau derselben Gestalt wie in seinem letzten Werk.« 36 Das aber bedeutet gerade nicht ein Verbleiben in einem transzendentalen Schematismus. Es bedeutet, dass Cassirer nie ein transzendentales Apriori im üblichen Sinn gesetzt hat. Transzendental sei, so deutet er auch Cohen, immer nur die Betrachtungsweise gewesen, die von der Art der Erkenntnis ihren Ausgang nimmt. (ECW 9, 122) Diese Erkenntnisarten sind Formen; die »Einheit des Bewußtseins« ist eine Kontinuität der Form. Das »echte […] ›Apriori‹« ist die symbolische Prägnanz (PSF III, 231). Auch die Erkenntnistheorie fällt wie jede »Sinndimension« unter die »Sonderfälle des allgemeinen Bedeutungsproblems«. (ECW 17, 16) Die Erkenntnistheorie muss von dem Ereignis des Hervortretens als Ereignis ausgehen. Der Grund dafür ist eine der zentralsten Thesen Cassirers: »Von einer neuen Seite her zeigt somit dieser Prozeß [nämlich der symbolische, der Wahrnehmung als Leben im Sinn deutet, V. N.], wie die Analysis des Bewußtseins niemals auf ›absolute‹ Elemente zurückführen kann – weil

36

Kajon 1988, S. 254.

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Struktur und Dynamik: Das mediale Kontinuum

eben die Relation, weil die reine Beziehung es ist, die den Aufbau des Bewußtseins beherrscht.« (PSF III, 231)

3.4. Das »echte Apriori« Das echte Apriori ist der qualitative Wandel. Eine Einheit des Bewusstseins kann nur eine Einheit der reinen Beziehung sein, wie sie in den Formen der Erfahrung als wirkende Relation ausfindig gemacht wird. Die Vernunft aber ist keine einheitliche Form, die sich selbst immer gleich wäre, ebenso wenig das Subjekt. Beide Konzepte gehen in den medialen und prozessualen Bereichen von »Geist« und »Leben« auf, die Cassirer auch das Leben im Sinn oder den symbolischen Prozess nennt. Symbolische Prozesse bilden eine kontinuierliche Dynamik aus Konkretion und Strukturierung. Cassirer führt die Doppelfigur von Konkretion und Strukturierung auf mehreren Ebenen durch, wobei der Kerngedanke in seiner Beschreibung der symbolischen Prägnanz enthalten ist. Die oft unklare Beziehung zwischen der symbolischen Prägnanz und den symbolischen Formen beruht nach dieser Interpretation auf dem elementaren Status der symbolischen Prägnanz: Sie steht für Konkretion als Ereignis und lässt sich damit auf allen möglichen Ebenen einsetzen. Ihre Beziehungen zum Begriff der symbolischen Form sind nicht abstrakt bestimmbar, sondern können unterschiedliche Charakteristika annehmen. Prägnanz bezeichnet ein Ereignis des Hervortretens, das sich dabei zugleich in eine Qualität, eine konkrete Eigenschaft verwandelt. Die symbolische Form in der klassischen Definition der »Energie des Geistes, […] durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird« (ECW 16, 79), wird in diesem Ereignis zur aktiven Wirkursache. Das lässt die Art und Weise der Konfiguration jeweils offen, sowohl das Gestaltungsprinzip der Energie des Geistes als auch die Konkretion des sinnlichen Zeichenhaften. Die intensive Relationalität, die beide verbindet, bewirkt die immanente Gliederung des »innerlichen Zueignens«, woraus die ebenfalls intensive Spannungsbewegung des »Knüpfens« folgt, vollzogen als Tätigkeit des Geistes. Sie erzeugt erst die repräsentativen und nachvollziehbaren Relationen der »Bedeutung« des geistigen Gehalts im Medium des Zeichenhaften, der Konkretion. Die Entsprechung der Bedeutung auf geisti147 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

3 · Ernst Cassirer: Die lebendige Form

ger und der Konkretion auf sinnlicher, zeichenhafter Ebene ist das Ergebnis einer Tendenz der Erfahrung, der »inneren Form« des Wirklichen zu entsprechen. Wie Kants Zweckmäßigkeit ist sie Gesetz des Zufälligen, das durch Reflexion nachvollzogen wird. Dazu aber ist das Entäußern der geistigen Leistung notwendig, die Artikulation in einem sinnlichen Medium. Semiotik spielt bei Cassirer also nicht die Rolle einer Transzendentalphilosophie, wie Karl-Otto Apel nahelegt, wenn er schreibt, Cassirer habe »in seiner ›Philosophie der symbolischen Formen‹ gewissermaßen die Zeichenfunktion in die transzendentale Synthesis der Apperzeption ein[ge]baut« 37. Das ist nicht die angemessene Beschreibung für die einheitliche Grundtendenz von Cassirers Philosophie. Synthesis ist für ihn eine Tätigkeit des Geistes und bildet eine symbolische Einheit, deren Gegenstand als wirklich oder unwirklich bestimmt werden kann, aber nur anhand des jeweiligen dynamischen Prinzips, das es ermöglicht, ihn in einen Zusammenhang einzuordnen. Darin stimmt sie mit der »Synthesis« Whiteheads überein, die als synthetic activity von keiner theoretischen Einheit ausgeht, sondern die je eigene Einheit der Aktualisierung erst zustande bringt. Die Grenze und Begründung von Formen, die durch den Begriff des »Transzendentalen« exakt fixiert und schematisiert werden soll, ist bei Cassirer nicht absolut, sondern relativ im Sinne des Symbolischen. Sie ist auch nicht, wie bei Hegel, eine bloße Schranke des Denkens. Sie ist beweglich und flexibel durch ihre Einordnung in ein größeres, dynamisches Ganzes, in dem auch andere symbolische Formen eine Rolle spielen. Im Verhältnis zu diesen bewegt sie sich und kann nur als Ausdruck dieses Verhältnisses reflektiert werden. Bei Kant sieht Cassirer eine Starrheit, die einen lebendigen Ausdruck von Sinn nicht mehr zulässt (eine Starrheit allerdings, die sich in der dritten Kritik durch das eigene Prinzip der Urteilskraft zu lösen beginnt, vgl. KdU, B XXI). »In der Sorge um die Festigkeit und Bestimmtheit der Terminologie, um die Genauigkeit in den Begriffsbestimmungen und Begriffseinteilungen, um die Übereinstimmung und den Parallelismus der Schemata scheint Kants natürliche, geistig und persönlich lebendige Ausdrucksform wie erstarrt zu sein.« (KLL 135)

37

Apel 1973, Bd. II, S. 188.

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In einer früheren Version seines Titels spricht Schwemmer noch von der »Einheit der Vernunft« 38, obwohl er auch da schon ein mediales Konzept der »konkrete[n] Totalität des Wechsels zwischen Formen« 39 beschreibt. 1997 zitiert er dann aus dem Essay on Man: »Reason is a very inadequate term with which to comprehend the forms of man’s cultural life in all their richness and variety. But all these forms are symbolic forms.« 40 Wenn die Welten symbolisch geformt sind, dann bedeutet das, dass in sie sowohl gestaltende Aktivität des Bewusstseins eingegangen ist, die sie überhaupt erst der Erkenntnis zugänglich macht, als auch die Eigenkonfigurationen des Sinnlichen. Heute nennt Schwemmer diese Prozesse »das Ereignis der Form« 41.

4.

Geist und Leben als Symbolprozess

4.1. Daimon und Symbol Ende der 80er Jahre begann die Arbeit an Cassirers Nachlass in der Beinecke Rare Book Library in Yale, wo er in der Emigration während des Zweiten Weltkriegs lehrte. Dieser Nachlass enthält u. a. Skizzen zu einem vierten Band der Philosophie der symbolischen Formen, welcher neue Perspektiven auf die Ausrichtung des Gesamtwerks wirft: ein weiteres Beispiel für die bereits zitierte »literarische Offenheit« (Vrhunc), die den Begrifflichkeiten Cassirers eine spezielle Dynamik verleiht. Ein Aspekt von Cassirers Denken, der durch die Arbeit am Nachlass in den Vordergrund gerückt wurde, ist Ästhetik als Vermittlung von Geist und Leben: das Konzept der lebendigen Form. 2002 erschien der Tagungsband Cassirer und Goethe. Die »Wahlverwandtschaft« 42 Cassirers mit Goethe hat viel mit der ästhetischen Vermittlung von Geist und Leben zu tun. Sie führt zu Cassirers Erfahrungsbegriff, den er in die geistige Tradition von Vico, Shaftesbury, Herder und Goethe stellt. Kant und Goethe sind ja Hauptreferenzen des Cassirerschen Denkens, natürlich neben Leib-

38 39 40 41 42

Vgl. Schwemmer 1995. Ebd., S. 38. Schwemmer 1997a, S. 31. Vgl. Schwemmer 2011. Recki/Naumann 2002.

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niz. 2008 erschien ein weiterer Tagungsband unter dem Titel Lebendige Form. Zur Metaphysik des Symbolischen in Ernst Cassirers »Nachgelassenen Manuskripten und Texten«. Trotz dieser Beschäftigung mit Einbildungskraft, Leben und lebendiger Form und der Bezüge auf Goethe sieht Lauschke noch 2007 eine »Lücke« 43 in der Forschung zu Cassirers Ästhetik, die sie mit Ästhetik im Zeichen des Menschen schließt. Das von Cassirer geschätzte Goethe-Zitat über die »geprägte Form, die lebend sich entwickelt« 44 eröffnet einen neuen Deutungsbereich des Geistigen, fern von der Selbstreflexion des Begriffes: den Bereich der lebendigen Form, die zugleich eine geprägte Form ist: eine entstandene, entwickelte, Bedeutung tragende, geschichtlich überlieferte Form. Als lebendiges Individuum kommt hier die »innere Form« als »lebendige Form« zu wahrer Einheit, die zunächst nichts mit der Einheit von Vernunft oder Erkenntnis zu tun hat. Diese Einheit ist keine subjektive, schematische Einheit, sie ist in keiner Einzelgestalt fassbar: sie besteht im Prozess des schlechthin Wandelbaren selbst und ist doch eine dauernde Form. Es ist die Einheit der Erfahrung. »Die ›Einheit der Mannigfaltigkeit‹ findet erst in ihm ihre letzte Deutung und ihre eigentliche Bestätigung. Im Ich erst werden wir in intuitiver Gewißheit gewahr, wie mitten im schlechthin Wandelbaren eine dauernde ›Form‹ sich erhält, die, selbst in keiner Einzelgestalt faßbar, doch das Fundament und den Kern aller Gestaltung ausmacht.« (FF 91)

Goethe stellt das Gedicht, in dem diese Form vorkommt, als erstes in einen Zyklus, den er »Urworte. Orphisch« überschreibt. Die orphischen Mythen sind in Cassirers Deutung von einer Dynamik von Harmonie als Werden einerseits und dem Verlust von Kohärenz und Begrenzung andererseits bestimmt. Vor diesem Hintergrund ist es bezeichnend, dass diese Form durch »keine Zeit und keine Macht zerstückelt« werden kann. 4.1.1. Der Mythos von Harmonie und Zerstörung Nietzsche hat bereits das Kontinuum als dynamischen Prozess zur ästhetischen Vermittlung des »Apollinischen« und »Dionysischen« 43 44

Lauschke 2007, S. VII. Goethe 1982, S. 360.

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umgedeutet, zum Wechselspiel von formbildenden Kräften und entgrenzenden, potenziell zerstörerischen Kräften, die beide in ihrer Wirkung auf einander ästhetische Dimensionen annehmen. 45 Noch direkter bietet sich die ästhetische Metapher des Orphischen an, da sie beide Kräfte, »apollinische« und »dionysische«, bereits in eine gemeinsame ästhetische Dimension integriert. Cassirer beschreibt die orphischen Mythen als Reflexion der griechischen Kultur auf »jene tiefe Krisis«, ausgelöst von »den dämonischen Kräften, […] die im Kult des Dionysos erschienen.« (MS 57) Er deutet das »System« der »orphischen Theologie« (MS 59) als Integration des dionysischen Kultes von Tanz und Ritus in den Zusammenhang der »vollständig[en]« Logik des »griechische[n] Geist[es]« (MS 58) und spielt auf die Entstehung der mythischen Erzählung von Dionysos Zagreus an, die das Zerreißen des Gottes im dionysischen Kult »erklärt«. Der Mythos vom Sänger Orpheus ist bekannt durch Vergils 46 und Ovids 47 spätere Erzählungen von Orpheus und Eurydike. Es geht um eine Wechselwirkung des Ästhetischen mit den Vorgängen der Natur. Formentstehung wird als rhythmisch motivierter, melodischer Vorgang interpretiert, symbolisch im Sinne von Harmonie, Zusammenklang oder-spiel in Ausrichtung auf einen Zweck, auf das Zeugen oder Zusammenfügen einer neuen Form. Aber zugleich ist das Diabolische vertreten, das Zerstückelnde als Disintegration und Auflösung. Die Kraft des Orpheus kann nicht nur ein intensives Kontinuum harmonischer Klänge hervorbringen, sondern auch diskontinuierlichen, disharmonischen Wahnsinn und Zerstörung auslösen. Orpheus’ Musik hat schöpferische Macht, kann alles in harmonische Bewegung versetzen, aus Steinen Gebäude errichten und Pflanzen wachsen lassen. Aber nach Eurydikes Verlust verfällt er dem Wahn und wird schließlich selbst leiblich von den Mänaden, die ihm zuvor folgten, in Stücke zerrissen: Die Zerstörung des Kontinuums, das zu schaffen Orpheus die Kraft hatte, schlägt so auf ihn zurück, dass sogar der eigene Leib seine Kohärenz verliert. Dieser Mythos handelt nicht in erster Linie von ästhetischer Fixierung und ästhetischer Entgrenzung, sondern von Schöpfung und Zerstörung in der Natur, die durch die ästhetische Medialität der or45 46 47

Vgl. Nietzsche 1997. In den Georgica. Hg. v. Otto Schönberger. Reclam, Stuttgart 1994. In den Metamorphosen. Hg. v. Michael von Albrecht. Reclam, Ditzingen 1994.

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phischen Musik reflektiert wird. Auch Nietzsche will ja beide Kräfte in die verschiedenen Formen der Kunst eingehen lassen, nicht etwa das Apollinische auf die Klassik und die Bildhauerkunst, das Dionysische auf Musik, Tanz und Rausch beschränken. Er strebt nach dem Ausdruck einer Wechselwirkung. Im orphischen Mythos scheinen diese Kräfte aus demselben Ursprung, das Schöpferische und das Zerstörerische als Kräfte der physis und des Lebens gedacht zu werden, die durch das Wunder der Musik ästhetisch erfahrbar sind. Zugleich ist die schöpferische und die zerstörerische Kraft der Musik im Mythos real. Sie drückt nicht nur aus, sondern wirkt sich tatsächlich auf die Natur wieder aus. Ästhetische Erfahrung und geistige Kraft sind selbst wirkende Faktoren. Der Verlust der individuellen Integrität kann ebenso zerstörerisch sein wie das Zerreißen des organischen Körpers. Ästhetische Konfiguration bedarf der intensiven Harmonie, deren Verlust nicht ins Wirkungslose, sondern ins Zerstörerische mündet. 4.1.2. Individualität und Kontingenz Die Zerstückelung des Orpheus oder des Dionysos Zagreus durch die Mänaden hat ihren Platz im Wandel der Natur, in dem Disintegration sozusagen »von innen«, durch die Zeit, oder »von außen«, durch eine entsprechende Macht, zum Geschehen gehört. In diesem Sinne gibt es in der Natur keine Individualität. Denn die geprägte Form, die lebend sich entwickelt, steht im Gedicht »Daimon« nicht ›nur‹ für den Organismus, sondern für das Individuum. Das bedeutet eine Konkretion, die auch am Leben des Geistes teilhat. Sie steht für das lebendige Individuum selbst und das teils vorherbestimmte (»Gesetz, wonach du angetreten«), teils selbstbestimmte (»dir kannst du nicht entfliehen«) Schicksal seiner Entwicklung. Auf »Daimon« folgt in den orphischen Urworten »Tyche«, der Zufall: »Die strenge Grenze doch umgeht gefällig / Ein Wandelndes, das mit und um uns wandelt«. Diese strenge Grenze ist auch nicht im strengen Sinn ein Allgemeines; denn das Gesetz der Planeten zum Zeitpunkt der Geburt meint kein allgemeines, sondern ein individuelles Gesetz. Es entsteht aus der Wechselwirkung zwischen individuellen Umständen und individuellem Handeln, die den »Daimon«, den persönlichen Geist ausmacht. Das Zufällige, das »Wandelnde, das mit und um uns wandelt«, ist der Austausch mit der übrigen Welt. Sowohl »mit uns« als auch »um uns« sind grammatische Ausdrucks152 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

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formen von Medialität, gebündelt in dem Komplex des »schlechthin Wandelbare[n]«. (FF 91) Tyche (ver)wandelt sich: sie ist kontingent, zufällig, geworden und entstanden. Sie wandelt: sie bewegt sich und umgeht gefällig die Grenzen. Sie wandelt mit uns: unsere Individualität bleibt in diesem Prozess erhalten, wir sind, so wie wir sind, mit dabei. Tyche ist das Mitgegangene, symbebekos, das mit dabei ist, das vielleicht auch eine Ursache sein könnte. 48 Sie wandelt um uns, in einem gemeinsamen Bereich. Aber in der Mitte der Zeile dreht sich die grammatische Referenz um: Sie wandelt nicht nur um uns, sondern wandelt uns um. Zur Transformation, zur lebendigen Entwicklung der geprägten Form, bedarf es also des medialen Prozesses, des medialen Bereiches und der medialen Wechselwirkung. Ohne die Wandelbarkeit der gemeinsamen Welt im Sinne des Kontingenten und Zufälligen könnte diese lebendige Entwicklung nicht ihren Lauf nehmen. In alldem aber bleibt die Individualität des uns erhalten, angezeigt durch den Ausdruck mit uns. Medialität erscheint darin als Mit-Sein, Vermittlung, Austausch. Die Individualität der geprägten Form, ihre Eigengesetzlichkeit einerseits und die Kontingenz ihrer lebendigen Entwicklung andererseits, können durch eine Vorstellung der Symbolisierung als Konkretion versöhnt werden: es gibt nicht nur den Bereich des Wandel(n)s, in dem wir umgewandelt werden durch Bewegung um und über Grenzen, sondern es gibt zugleich den Bereich des Mit-Seins, in dem wir abgegrenzt bleiben und uns austauschen. Darum bleibt die geprägte Form intakt, unzerstückelt. Ihre Entwicklung ist ein dynamisches Kontinuum.

4.2. Die Einbildungskraft zwischen Konkretion und Geist Die lebendige Form bedarf der Formen der Symbolisierung, die ihr das orphische Reich der Wandlung, in dem sie sich befindet, zum Ausdruck bringen. In diesem Sinn argumentiert Cassirer gegen Heidegger, dass es »keinen anderen Weg von Dasein zu Dasein [gibt] als durch diese Welt der Formen« 49. Vgl. Aristoteles, Metaphysik 6, 2, 1026 b 3 f., 25 f. Symbebekos ist der »Stoff« der Tyche, vgl. Elm 1996, S. 73. 49 Cassirer, in Heidegger 1991, S. 292 f. Vgl. dazu auch Schwemmer 2011, S. 113. 48

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3 · Ernst Cassirer: Die lebendige Form

Das Konzept von Konkretion, das Goethe mit dem Kant der Kritik der Urteilskraft zu einem Denken der lebendigen Form verbindet, ist das der Einbildungskraft. »Denn für ihn stand es fest, daß alle Form nur als lebendige Form zu denken und zu verstehen ist und daß sich die Welt der Formen in ihrer Einheit und in ihrer Fülle nur dem erschließt, der in diese Fülle einzugehen und sie in sich selbst innerlich nachzuerzeugen vermag. Diese Nacherzeugung kann niemals das Werk des bloßen Verstandes sein: Es gehört zu ihr eine bildende und gestaltende, eine echt synthetische Kraft. Und diese Synthese, die für die Forschung gleich wesentlich wie für die künstlerische Gestaltung ist, sah Goethe in der Einbildungskraft begründet und in ihr beschlossen.« (ECW 18, 438)

Die Einbildungskraft als gestaltende Tätigkeit steht im Zusammenhang mit der auch von Whitehead vertretenen, prozessualen Seite der vividitas. Ihre synthetische Kraft besteht in ihrer »Lebendigkeit«, mit der sie aktiv und beweglich die lebendige Form nacherzeugt, im aktiven »Eingehen« in die Fülle, sowie in der »Lebhaftigkeit« oder »Klarheit«, die durch das passive Sich-Aussetzen erzeugt wird. Denn die Passivität als mediale Steigerung der Intensität bringt die latente Fülle der Erfahrung zur Wirkung. Die Synthese liegt dann im Nacherzeugen. Als eine Gestaltung, deren Ergebnis noch unbestimmt ist, wird die Synthese zur Form des Geistes, nicht als von apriorischen Prinzipien bestimmte, mechanische Zurichtung. In ihrer »echt synthetischen Kraft« ist die Einbildungskraft der Übergang von der ästhetischen Konkretion zur allgemeinen Form des Geistes, die »für die Forschung gleich wesentlich wie für die künstlerische Gestaltung ist«. Sie ist die formende Kraft des lebendigen Geistes. Christian Möckel widmet dem »Urphänomen des Lebens« 50 im Denken Cassirers ein Buch, in dem er Cassirers Verhältnis zur Lebensphilosophie untersucht, u. a. zu Scheler, Klages, Nietzsche, Spengler, Simmel und auch zu Bergson. Möckel arbeitet Cassirers eigenes, vielschichtiges und vielfältiges Verhältnis zum Begriff des Lebens heraus: Leben des Individuums, Leben als Erleben, Organismus und Geist, Dichtung und Kultur. Das Ausdrucksphänomen erscheint dabei als »Grundphänomen des Lebendigen überhaupt« 51, die einzige Form der Unmittelbarkeit, 50 51

Möckel 2005. Ebd., S. 192.

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durch die sich der Gegensatz von Geist und Leben letztlich überwinden lässt. Die Einbildungskraft kann als eine Übertragungsfunktion des Ausdrucksphänomens gelten, die von der Unmittelbarkeit des Ausdrucks, der Konkretion oder Gestalt in der Wahrnehmung, übergeht zu sinnhaften Formen, die aber auch wieder Formen dieses Ausdrucks sind. Sie haben nur durch die Vermittlung der synthetischen Kraft eine allgemeine Bedeutung und einen übergeordneten Zusammenhang gewonnen. Ferrari meint, die Texte zu Bergson und Scheler von 1934 und 1930 »zeigen Cassirer als Philosophen des Lebens ohne Lebensphilosophie.« 52 Denn die Beschäftigung mit Geist und Leben ist keine Entgegensetzung des Lebensbegriffs gegen traditionell idealistische Konzepte. Möckel zeigt, dass Cassirer »den lebendigen Geist sehr wohl im Sinne eines Organismus und nicht eines mechanischen Aggregates verstanden wissen« 53 will. Die Einbildungskraft kann als strukturierendes Merkmal des lebendigen Geistes dienen. Das dazu gehörige Konzept der Ordnungsbildung, als symbolische Ordnung, Sinn-Ordnung oder Lebensordnung, steht dabei für eine Entwicklung der »Beziehung von Variation (Beweglichkeit) und Gesetz (Stabilität).« 54 Ordnungen entwickeln sich relativ zu den Dynamiken jeweils sich umsetzender Prinzipien. Mit dem Begriff der Lebensordnungen als »bildsame Formen«, »innerhalb derer sich die geistigen Kräfte des Individuums bewähren können« 55, ist, wie Orth und Möckel feststellen, der symbolischen Form eine Basis geliefert, die Formen des Geistes in ihrer Korrelation und Systematik mit organischen Formen verbindet. Hier sieht auch Cassirer selbst einmal eine Nähe zu Bergson, in dessen L’évolution créatrice er eine »Scheidung« von pflanzlichem Leben, tierischem Instinkt und »Leben der Vernunft« als »jeweils divergierende Richtungen« des élan vital sieht, die ihn an die eigene Philosophie der symbolischen Formen erinnern. 56 Die geistigen Kräfte des Individuums müssen sich als Mittel zur Artikulation der Funktion der Darstellung bedienen, wobei die »reine Darstellungsfunktion« eine Abstraktion ist. Zwar beschreibt Cassirer

52 53 54 55 56

Ferrari 2003, S. 306. Möckel 2005, S. 161. Ebd., S. 210. Ebd., S. 211. Vgl. ebd., S. 274.

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3 · Ernst Cassirer: Die lebendige Form

sie als etwas, was sich im Verlauf der stets ausdrucks- und affektionsbegleiteten Sprachentwicklung »Bahn bricht«, um schließlich die »Herrschaft über das Ganze der Sprache zu gewinnen« (PSF III, 122). Diese kriegerische Diktion macht deutlich, dass hier ein regulatives Ideal der Vernunft in die philosophische Analyse hereinspielt. Zugleich stellt Cassirer jedoch klar, dass die Reinheit der Darstellungsfunktion eine Abstraktion ist. Sie wird aus einer sprachlichen Gesamtsituation heraus destilliert und tritt in Wirklichkeit nur begleitet von Ausdruckscharakteren auf, die von ihr niemals völlig abzutrennen sind. »[A]uch jetzt bleibt unverkennbar, daß sie diese Herrschaft mit anderen geistigen Motiven und Grundtendenzen zu teilen hat.« (PSF III, 122) Offenbar ist die Herrschaft der Klarheit und Reinheit nicht mehr als ein Postulat. Eine geteilte Herrschaft aber ist keine Herrschaft. Es scheint, als würde Cassirer an dieser Stelle seine eigene Diktion des auf Vernunftherrschaft ausgerichteten Idealismus unterlaufen, ohne sie aufzugeben. Auf einer zweiten Ebene erklärt er uns, dass relationale, qualitative, kontingente Elemente in jedes Sprachverstehen mit einfließen, dass Sinnverstehen immer auch ästhetisch ist im Sinne affektiver Verlaufsformen, auf die sich nicht verzichten lässt, wie »objektiv« der Sinn sich auch immer (re-)präsentieren mag. Das Leben des Geistes nimmt hier im Pulsieren dieser Verlaufsformen die Gestalt eines Lebens der Sprache an: »So bestätigt sich auch hier wieder, wie eng das ›geistige‹ Moment der Bedeutung an die Art der ›sinnlichen‹ Ausdrucksmomente gebunden ist – wie beide, erst in ihrer Wechselbestimmung und Durchdringung, das eigentliche Leben der Sprache ausmachen. Dieses Leben ist sowenig jemals ein bloß sinnliches, wie es ein rein geistiges sein kann; es kann stets nur als Leib und Seele zugleich, als Verkörperung des Logos, erfaßt werden.« (PSF III, 123 f.)

Bedeutung als Element der lebendigen Sprache ist niemals bloße Referenz. Sie kann nur verstanden werden als etwas, das für die Erfahrung – das sinnliche und geistige Leben – aus den Phänomenen, die als solche immer schon gestaltet sind, entsteht. Die Bedeutung ist dann rein, wenn sie diese ganze Bewegung in sich selbst reflektieren kann, wenn sie also ihren eigenen Charakter der Gestalt mit ihrem eigenen Charakter der Relation als Form vermittelt. Die Gestalt selbst enthält, als Bedeutung, sowohl ihre Entstehung wie auch ihre Wirkung in einer abstrakten Form, deren Darstellungscharakter ein symbolischer ist, zum Beispiel der einer mathematischen Funktion. 156 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Geist und Leben als Symbolprozess

4.3. Wahrnehmung als ästhetische Medialität Cassirer stellt sich damit in eine Tradition von der Basis der Sinnlichkeit und des Gefühls, von Vico über Hamann und Herder zu Goethe. Diese Tradition steht immer in Opposition zu einem emphatischen Rationalismus, Vico zu Descartes, Herder zu Kant. Cassirers hohe Wertschätzung Kants und Leibniz’, der auch manchmal als Rationalist bezeichnet wird, widerspricht dem nicht, da es ihm stets um eine »Ergänzung« geht – so spricht er auch von einer »Ergänzung« der cartesischen Philosophie durch Vico (LS 402), der diese allerdings scharf und grundsätzlich kritisiert und sie vermutlich eher verwerfen als ergänzen möchte. Da zeigt sich wieder einmal Cassirers charakterliche und philosophische Versöhnlichkeit. Cassirer betont den ursprünglichen Gefühlsgrund jedes realen Unterscheidungsprozesses. Der Höhepunkt einer Ästhetik des Geschmacks ist für ihn mit und nach Kants Kritik der Urteilskraft erreicht, nachdem Dubos und Hume die sinnlichen Wirkungen des Kunstwerks selbst hervorgehoben haben (PA 315 ff.) und Hume in »Of the standard of taste« daraus die Bedeutung der Einbildungskraft herausarbeitet. (PA 319) Durch Shaftesbury, Hutcheson und Burke wird die Kritik der Urteilskraft dann weiter vorbereitet. Sie steuern die entscheidenden Aspekte der inneren Form und der Analytik des Erhabenen bei, das die Formen und Gestaltungen sprengende Beziehung auf die Unendlichkeit betrifft. Erfassen ist nicht allein passiv: Erfassen ist ein Hervortreten von Qualitäten, das einer aktiv-lebendigen Eigenbewegung und Deutung bedarf. Gestalten ist nicht allein aktiv: Gestalten ist ein Umgang mit stofflicher Sinnlichkeit, ein Umbilden und Neugestalten, das kein transparentes Abbild erzeugt, sondern mit dem gegebenen Material arbeitet. Wahrnehmung ist also schon die mediale Basis für Geist und Leben: das Ereignis der Form vollzieht sich durch das Leben im Sinn, das in der Vielfalt seiner Formen durch den Geist als »symbolischer Prozess« reflektiert und kontinuierlich und kohärent gedacht wird. »In ihrer vollen Aktualität, in ihrer Ganzheit und Lebendigkeit, ist sie [die Wahrnehmung, V. N.] zugleich ein Leben ›im‹ Sinn. […] Der symbolische Prozeß ist wie ein einheitlicher Lebens- und Gedankenstrom, der das Bewußtsein durchflutet und der in dieser seiner strömenden Bewegtheit erst

157 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

3 · Ernst Cassirer: Die lebendige Form

die Vielfältigkeit und den Zusammenhang des Bewußtseins, erst seine Fülle wie seine Kontinuität und Konstanz zuwege bringt.« (PSF III, 231 f.)

Sowohl Schwemmer als auch Krois haben bereits betont, wie konzentriert hier, im Kapitel zur symbolischen Prägnanz, ein philosophischer Grundgedanke in wenigen einfachen Sätzen ausgedrückt wird. Die volle Aktualität der Wahrnehmung ist ein Prozess, ein Vorgang der Aktualisierung; das ist ihre Ganzheit und ihre Lebendigkeit. Da diese Lebendigkeit ein Leben im Sinn ist, ist der Prozess ein symbolischer Prozess, ein Prozess der Sinnerzeugung und des Sinnverstehens, der sich zeichenhafter Substrate bedient. Als solcher geht er immer schon über Wahrnehmung hinaus in das Leben des Geistes, er ist ein einheitlicher Lebens- und Gedankenstrom. Einheitlich bedeutet hier nicht gleichförmig oder gar identisch, sondern stetig, kontinuierlich, verbunden, unzerstückelt, syneches. »Im« steht in Anführungszeichen, es hat metaphorischen Charakter: Sinn hat kein ›Innen‹, sondern eine relationale Medialität, eine Vermittlungsfunktion. Innen und Außen werden dann jeweils neu bestimmt durch das jeweilige Ganze einer Gestaltung, die im und durch den symbolischen Prozess entsteht. Ein solches Ganzes kann das lebendige und leibliche Selbst einschließen oder in ihm eingeschlossen sein, oder gerade einen gemeinsamen Zwischenbereich für Ich und Welt bieten. Cassirer greift zur Metapher des Fließens, um den Prozesscharakter des Symbolischen auszudrücken, und gebraucht diese Metapher in einer Weise, die präzise die Eigenheit von Bergsons durée als Form des Lebens trifft. In der Bewegtheit treten sowohl Vielfältigkeit wie Zusammenhang des Bewusstseins hervor: das ist die qualitative Mannigfaltigkeit, die als Mannigfaltigkeit unter die Kategorie der Relation fällt und diese mit der Kategorie der Qualität verknüpft, so dass Wahrnehmung, Symbol und Sinn sich ereignen. Darin liegt die Lösung des alten naturphilosophischen Problems, Heraklits Fließen mit der parmenideischen Fülle des Seins zu versöhnen. Struktur und Kontinuum treten in die Wechselwirkung der Strukturierung; nur der symbolische Prozess leistet Kontinuität und Konstanz in der Fülle des Lebens im Sinn. Diese Verbindung, also den Verlauf eines Prozesses als eigentlicher Gestaltung zu denken, steht bei Cassirer unter dem Titel der »inneren Form«.

158 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Teil II Die Ästhetik der inneren Form

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Kapitel 4 Die Erfahrung und der Formbegriff »In each period there is a general form of the forms of thought; and like the air we breathe, such a form is so translucent, and so pervading, and so seemingly necessary, that only by extreme effort can we become aware of it.« (Alfred North Whitehead)

1.

Eine kurze Geschichte des Formbegriffs in der Erkenntnistheorie

1.1. Form als Identität, Wesen und Substanz In der Geschichte des Formbegriffes führt ein weiter Weg zu einer Ästhetik der inneren Form, die Formung als Ereignis begreift. Die Form sollte im Gegenteil immer von der Erfahrung unabhängig bleiben. Das vorherrschende Ziel war, alles Relationale und Qualitative, was der Gestaltung oder bloßen Verbindung entspringt, also das Zufällige zu entfernen. Der Ursprung des philosophischen Formbegriffs in der platonisch-aristotelischen Philosophie betrifft den Übergang von der Vielfalt des Wahrgenommenen zur Einheit der Erkenntnis. Abgrenzung der Formen von ihrer Umgebung, ihrem sinnlichen Material oder von der Unbestimmtheit des Formlosen soll zur Identität der Formen führen, die fortan als Momente der Bezugnahme und Verknüpfung von Strukturen des Denkens dienen werden. 1 Für die Erkenntnis, die nach Unterscheidung strebt, ist die Form, gr. eídos, zunächst ein wiedererkennbares Moment in der sinnlich erfahrbaren Kontinuität des Wandels. »Ferner, da sie sehen, daß sich diese Natur in ihrem ganzen Umfang in Bewegung befinde, und es von dem sich Verändernden keine wahre Aussage gebe, so meinten sie, daß man über dieses auf alle Weise durchaus sich Verändernde nichts mit Wahrheit aussagen könne.« 2 1 2

Vgl. Schwemmer 2005, S. 91–104. Aristoteles: Metaphysik 4, 5, 1010 a 5–9.

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Eine kurze Geschichte des Formbegriffs in der Erkenntnistheorie

So kritisiert Aristoteles die vorsokratische Logik gegensätzlicher Prinzipien (arché) in der Naturphilosophie. Dagegen nimmt er selbst den Wandel ernst. Die Erfahrung lehrt uns, dass er existiert, und von dieser Basis müssen wir ausgehen. Wandel bedeutet immer eine doppelte Relation: ein Verhältnis der wirklichen Dinge untereinander und zugleich ein Verhältnis zur Erfahrung. Die Philosophie soll bestimmen, ob die verschiedenen erfahrenen Formen demselben wirklichen Ding angehören. Eine Philosophie des Wandels ist durch die Erfahrung etabliert, insofern diese auf der sinnlichen Wahrnehmung basiert und Erscheinung, Begrenzung und Veränderung kennt. Diese wahrnehmbaren Dinge auf ein intelligibles Prinzip zurückzuführen, heißt, die Erfahrung in Wissen zu überführen. Cassirer resümiert: »Denn gerade dies ist die Funktion des Wissens, daß es in der gleichartigen Inhaltlichkeit des Bewußtseins, die zunächst allein gegeben zu sein scheint, die konstanten und gleichförmigen Elemente von den veränderlichen und von Fall zu Fall wechselnden unterscheidet.« (EP III, 80)

Es gibt zwei typische Stellen, wo dieses konstante und gleichförmige Element aufgefunden wird: in der konkreten, sich selbst gleich bleibenden Form, und in einem regelhaften Verlauf. »Damit gehen aber die Qualitäten des Sichtbaren auch in die Strukturierung des Denkbaren ein.« 3 Die äußere Form als Erscheinung gilt als dauerhaft, insofern sie wesenhafte Merkmale enthält, an die man sich erinnern kann. In ihrer Persistenz für die Erfahrung erhält sie bereits einen Doppelcharakter: sie wird wahrgenommen sowohl als die jetzt gerade gesehene Form als auch als Form des vorhandenen Dinges. Sie verweist auf etwas anderes als sich selbst. Die eigentliche Form ist die Funktion ihrer Präsenz als Repräsentation: Sie eröffnet der Erfahrung nicht nur ihre Erscheinung in einem gegebenen Moment, sondern die Möglichkeit der Einordnung dieser Erscheinung in einen größeren Zusammenhang, über diesen Moment hinaus. Was die dauerhafte Form repräsentiert, ist vorgegeben durch das telos sowohl der Erkenntnis wie auch der Entfaltung des Wesens. Dabei wird von einer formalen Analogie zwischen dieser Erkenntnis und dieser Entfaltung ausgegangen, einer Analogie, die den Kern der Erkenntnistheorie über lange Zeit hinweg ausmacht. Begriffe werden an ihrem Verhältnis zu einander gemessen in einem 3

Schwemmer 1995, S. 99 f.

161 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

4 · Die Erfahrung und der Formbegriff

perspektivischen Feld der gemeinsamen Darstellung, in dem alle Relationen reine Referenzbeziehungen sind. Diese Logik beruht auf der Grundannahme, dass das Wesentliche bereits feststeht. Substanz stellt darum eine übergeordnete Einheit dar für Vorgänge, die auf die Erfüllung eines Formprinzips hinsteuern. Eine Vielzahl von Gestalten kann so unter verschiedene Stufen der Aktualisierung eines einzigen Prinzips subsumiert werden, mit einer fertigen Gestalt am Ende eines kontinuierlichen Verlaufs. Von »Form« lässt sich dabei in einem doppelten Sinn sprechen. Form kann die einzelne Gestaltung sein, morphé, oder das Prinzip, entelecheia, das die einzelnen Gestalten gemeinsam haben.

1.2. Die Visualität der Figur Die Form ist das am Phänomen, was wir anschaulich erfassen, zum Beispiel umrissene Flächen, die als Figur in Platons Menon den Prototyp der visuellen Erscheinung bilden. Dabei kommt der Anschauung nicht nur logische, sondern ästhetische Überzeugungskraft zu. Aristoteles meint, dass die Liebe zur Klarheit aus der Liebe zur Schönheit folgt: »Alle Menschen streben von Natur nach Wissen. Dies beweist die Liebe zu den Sinneswahrnehmungen; denn auch ohne den Nutzen werden sie an sich geliebt und vor allen anderen die Wahrnehmungen mittels der Augen.« 4

Die äußere Form ist also die Sichtbarkeit, die durch das Wiedererkennen die reine Form des Erkennens ermöglicht. »Das Erscheinende ist das Wahrgenommene.« 5 Grundlage des Erscheinens ist die Substanz als Substrat ihrer Erscheinungen. Dieses Verhältnis in einer Hierarchie von Begriffen zu schematisieren, macht sich Aristoteles zur Aufgabe. Merkmale, visuell auffällige Züge der Erscheinungen, sind Eigenschaften der zu Grunde liegenden (gr. hypokeimenon) wesenhaften Form. Die Logik einer Hierarchie von Begriffen ist ein repräsentatives Schema dieser Merkmale.

4 5

Aristoteles: Metaphysik 1, 1, 980 a 21–24. Platon: Theaitetos, 152 b 11.

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Eine kurze Geschichte des Formbegriffs in der Erkenntnistheorie

Die Figur der visuellen Wahrnehmung stellt eine Sonderform der Gestalt dar. Sie ist lokalisiert durch die Perspektive, strukturiert durch Umriss, Hintergrund und Oberfläche; ihre Intensität aber liegt darin, wie wir sie sehen. Daher abstrahieren wir von der Intensität und sprechen von der Figur als mathematischer Figur, die von der Qualität der Erfahrung unabhängig wäre. Nur diese mathematischen, qualitätsunabhängigen Aspekte der Figur sind in die theoría, in das interesselose Betrachten der Wahrheit eingegangen. Ihre externen Relationen sind sichtbar. »Die Prägnanz des Sehens erzeugt die Identität des Gesehenen.« 6 Erkennen setzt mit dieser Identität ein und richtet den metaphorischen Blick auf die »reine Form, ohne die Abgrenzung aus dem Ungeformten.« 7 Die griechischen Bedeutungsfelder von Form als Wesen, Bild und Abbild leben im semantischen Komplex der »Idee« fort. In englischer und französischer Sprache wird idea, idée für das benutzt, was im Deutschen Vorstellung heißt. Darin bleibt die strukturelle Verbindung der äußeren Form zum Wesen erhalten, wird aber in die assoziative, synthetisierende Tätigkeit des Bewusstseins verschoben. Die Wahrnehmung liefert dem Bewusstsein sensations oder impressions, die es durch Assoziation, Wiederholung und Erinnerung zu ideas verknüpft. Im sensualistisch geprägten 18. Jahrhundert wird idée, idea dann zunehmend gleich als impression oder perception gedeutet. Die das Wesen der Dinge strukturell abbildende Vorstellung heißt im Französischen folgerichtig représentation. Bei Descartes, Leibniz und Spinoza ist die Idee nie einfach nur ein sinnlicher Eindruck, sondern immer das Produkt von Unterscheidungen, und zwar möglichst klarer und deutlicher Unterscheidungen anhand distinkter Merkmale. Das Vermögen, potentia oder facultas, zu unterscheiden wird mit dem Vermögen zu erkennen analog gesetzt. Klarheit und Deutlichkeit sind Eigenschaften der Unterscheidung und darum auch der Idee. »Es ist also eine Erkenntnis entweder dunkel oder klar, die klare wiederum verworren oder distinkt, die distinkte entweder adaequat oder inadaequat, symbolisch oder intuitiv; die vollkommenste Erkenntnis endlich wird die sein, welche zugleich adaequat und intuitiv ist.« 8

6 7 8

Schwemmer 2005, S. 95. Ebd., S. 96. Leibniz 1924a, S. 22.

163 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

4 · Die Erfahrung und der Formbegriff

Symbolisch bedeutet bei Leibniz etwas Ähnliches wie das, was wir heute diskursiv oder begrifflich nennen würden: ein deutendes Verbinden von Zeichen gemäß relationaler Regeln. Intuitiv aber bedeutet: aus der Anschauung. Es gibt eine klare Hierarchie der Erkenntnisse und Vorstellungen: von dunkel und verworren hin zu klar und deutlich. Auf dieser Ebene stellt sich erst die Adäquatheit ein, wobei Leibniz der adäquaten Erkenntnis aus der Anschauung den Vorzug gegenüber adäquater Erkenntnis aus Begriffsverknüpfung gibt. Denn die intuitive Erkenntnis von Relationen hat Evidenz, die Synthese der Begriffe bleibt zweitrangig. Erkenntnis ist hier selbst eine Art des Sehens. Neben der Idee als Vorstellung hält sich auch die näher an Platon anschließende Idee als Vernunftbegriff. Sie muss von den aus Wahrnehmung und Verstand gewonnenen Vorstellungen, auch den klarsten und deutlichsten, unterschieden werden. Kant definiert: »Ein Begriff aus Notionen, der die Möglichkeit der Erfahrung übersteigt, ist die Idee, oder der Vernunftbegriff.« (KrV, B 377) Als Figuration der theoría erscheint in der Erkenntnistheorie auch das Ordnungsverhältnis. Wenn wir geordnet denken, können wir diese (An-)Ordnung vor unserem ›geistigen Auge‹ sehen. Was dem Blick entzogen ist, ist auf die Unzulänglichkeit des sinnlich-körperlichen Blicks zurückzuführen; das geistige Auge sieht mehr und klarer. In diesem Sinn sind Reflexion und Repräsentation Funktionen der Distanzierung, die sichtbar machen, weil sie die Perspektive additiv erweitern; »[…] denn das Bild des Menschen ist erst möglich, wenn man sich zuerst den Menschen selbst gibt und dann noch einen Spiegel.« (DSW 121) Erkenntnis der »wahren Idee« fordert die Perspektive auf ein Ganzes. Der Leitfaden der visuellen Rhetorik führt von der fragmentarischen Perspektive der visuellen Wahrnehmung zu der ganzheitlichen Perspektive des reflektierenden Denkens und der adäquaten Darstellung. Die Form als Wesen beinhaltet bereits ein Verhältnis zu ihren Erscheinungen und damit auch ein Verhältnis dieser Erscheinungen untereinander. Wird sie durch Wesensschau vollständig erkannt, dann sind die Erscheinungen in eine Struktur eingebettet, die ihnen den wahren Sinn gibt. Das bedeutet einerseits eine visuelle Anordnung von Struktureinheiten und andererseits eine Notwendigkeit, die sinnlichen Phänomene an ihren richtigen Platz einzuordnen. Diese Erkenntnistheorie funktioniert analog zur Grammatik in der Sprache. Denn auch in der Sprache kann das sinnlich wahrnehm164 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Eine kurze Geschichte des Formbegriffs in der Erkenntnistheorie

bare Zeichen oder Wort nur ›Sinn ergeben‹, wenn es an der richtigen Stelle innerhalb der Struktur des Satzes gebraucht wird. Die Logik des Substanzbegriffes und die Grammatik der Sprache weisen also eine ›homologe‹ Struktur ihrer Bausteine auf, die regelhaften Verhältnissen entspricht und in räumlicher Anordnung visualisiert wird.

1.3. Der Formbegriff der Methode und die transzendentale Ästhetik Cassirer beschreibt die Hierarchie von Art- und Gattungsbegriffen als logisches Schema des Substanzbegriffs, das durch eine teleologische Ausrichtung des Ganzen geprägt ist und sich im Wesentlichen über die Beziehung von Ding und Eigenschaften ausdrücken lässt. Dinge und Eigenschaften sind einzelne logische Bausteine, deren Verbindung in einer Zuordnung besteht. Diese Zuordnung spielt selbst keine weitere Rolle: die Kategorie der Relation nimmt eine untergeordnete Stellung ein. Auch die übrigen Kategorien sind Akzidenzien, doch während z. B. Qualität auch als Akzidens bedeutungsunterscheidend ist, erhält die Relation den Charakter des Zufälligen und Hinzugefügten. Relationen dienen dazu, die wichtigeren Bausteine des Schemas unter- oder nebeneinander anzuordnen. Sie dienen der Visualisierung eines Ganzen aus hierarchischen Ordnungen. Zustände sind nur auszudrücken, wenn sie sich vollständig aus dem Schema erklären lassen. »Das kategoriale Grundverhältnis des Dinges zu seinen Eigenschaften bleibt fortan der leitende Gesichtspunkt, während alle relativen Bestimmungen nur insofern in Betracht gezogen werden, als sie sich zuletzt, durch Vermittlungen irgendwelcher Art, in Zustände an einem Subjekt oder an einer Mehrheit von Subjekten umdeuten lassen.« (SF 7)

Dieses Schema der Formung durch systematische Visualisierung durchläuft in der europäischen Philosophie eine Entwicklung zur Selbsttransparenz der Methode. Methode stammt von gr. méthodos, verfolgen. Im Verfolgen ist Visualisierung enthalten: es spielt sich in einem perspektivischen Seh-Raum ab, in dem eine Richtung eingeschlagen wird, die sich durch die Bewegung des Erkenntnisobjekts abzeichnet. Das impliziert eine nach-folgende, eine mimetische Bewegung der Erkenntnis als Methode, die Formangleichung der Struktur der Vorstellung an das 165 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

4 · Die Erfahrung und der Formbegriff

Wesen des Dinges anstrebt. Methode als visualisiertes Schema arbeitet das mimetische Verfolgen in eine Technik der Darstellung um. Die Form als erscheinende Gestalt wird in einen darstellbaren Kausalzusammenhang eingebunden als Teil eines objektiven Schemas, im Rahmen dessen sie als verdoppeltes Objekt neben das ›wirkliche‹ Objekt gestellt und mit ihm verglichen werden kann. Wahrnehmung wird zum »Repräsentationsvorgang, bei dem sich die Entstehung der Repräsentation im wahrnehmenden Subjekt kausal – sei es physikalisch oder neurophysiologisch – beschreiben läßt.« 9

Identifikation, Ähnlichkeit und Abbildung sind drei typische Verhältnisse der adaequatio, die durch Darstellung und Vergleich im Rahmen methodischer Objektivierung entstehen. Voraussetzung für den Vergleich bleiben Klarheit und Deutlichkeit; die Qualitäten für die Wahrnehmung werden umgedeutet in Merkmale der Identifikation oder Ähnlichkeit. Die Relation des Merkmals zu dem, was es anzeigt, ist prädikativ oder akzidentiell. Was hier erkannt wird, sind statische, extensionale Relationen, die die Präsenz des realen Objektes als Teil der Realität festlegen und vermitteln. Sehen als Erkennen realer Objekte ist schon der Übergang vom Reich des Sichtbaren ins Reich des Denkbaren. Man kann so weit gehen zu sagen, dass es in dieser Erkenntnistheorie gar keine Theorie der unmittelbaren visuellen Wahrnehmung gibt. Mathematische Einheiten und Relationen werden betrachtet, von Euklid über die cartesische Klarheit und Deutlichkeit bis zur Analytischen Philosophie. Interessant ist, dass niemand in dieser Tradition des visuellen Erkennens dem Augenschein zu trauen scheint. Gerade die Empirie schiebt das Experiment und die Methode als zurichtende Form zwischen sich und die Erfahrung, um eine Äquivalenzrelation zu schaffen, die den Vergleich erlaubt. Das Sehen der Formen ist zugleich ein Entzug des unmittelbaren Sehens. 10 Das technikbegeisterte 17. Jahrhundert macht die Methode selbst zum Thema. Titel wie Discours de la méthode (1637) und Ethik, nach geometrischer Methode dargelegt (1677) sind typisch für diese Zeit. Spinoza wählt für seine Ethica den Ausdruck ordine: ordnungsgemäß. Die Visualisierungstechnik bezieht sich auf den mi9 10

Wiesing 2002, S. 24. Wildgruber 2007, S. 209.

166 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Erfahrung als Entwicklung und Erfahrung als Erfassen

litärischen Ausdruck des Antretens, in ordinem ire. Einen technischen Höhepunkt erreicht die Methode als Visualisierungstechnik darin, dass sie selbst visualisiert wird. Kants Formen der Synthesis bedeuten nicht mehr visuelle Identifizierbarkeit der synthetisierten Figur, sondern visuelle Identifizierbarkeit der Prinzipien und Bedingungen der Möglichkeit von Identität. »Auch die Transzendentalphilosophie will und muß von den verschiedenen Formen der Gegenständlichkeit handeln; aber jede gegenständliche Form ist ihr erst durch die Vermittlung einer bestimmten Erkenntnisform faßbar und zugänglich.« (KL 149)

Die erkenntnistheoretisch angestrebte Einheit liegt nicht mehr in der Substanz der Dinge, sondern in der Koordination von Relationen. Die repräsentative Logik der Substanz, die zu adäquaten Vorstellungen führt, wird abgelöst von der begrifflichen Logik der Funktion: begrifflich nicht »abstrakt als Gattungsbegriffe«, sondern »als Möglichkeitsbedingung von Konkretem«. Die Form als Prinzip kommt durch die Forderung zustande, »hinter jeder Form die eigentliche logische Funktion sichtbar zu machen, der sie ihre Existenz verdankt.« Eine sichtbar gemachte Funktion ist selbst eine Form. Kant nennt das Schema die »Vorstellung […] von einem allgemeinen Verfahren der Einbildungskraft, einem Begriff sein Bild zu verschaffen«. (KrV, B 179 f.) Mit Kants Schema der Apperzeption werden aus den darstellbaren Relationen Objekte konstruiert, und die Evidenz der Formen tritt in eine neue Phase.

2.

Erfahrung als Entwicklung und Erfahrung als Erfassen

2.1. Ein Prinzip der Kunst und des Wissens Cassirer, Bergson und Whitehead stehen in einer Tradition, die das Misstrauen gegen die theoría als Projektion in räumliche Überschaubarkeit zum Ausdruck bringt und durch ästhetische Medialität zu überwinden sucht. Mit dieser Kritik wenden sie sich, jeder auf seine Weise, gegen die uralte Überzeugung, dass Erfahrung nur auf dem Weg zur Erkenntnis eine Rolle spiele, dass die eigentliche Funktion einer Philosophie der Wahrnehmung die einer Basis für die Erkenntnistheorie sei. Als Folge ihrer eigenständigen Philosophie der Erfahrung entwickeln sie darum eigenständige Theorien der Erkenntnis, 167 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

4 · Die Erfahrung und der Formbegriff

die sich nicht mit Erkenntnisinhalten als Abbildern der Dinge in der Wirklichkeit befassen, sondern mit den dynamischen Relationen, die zwischen den Prozessen der Wirklichkeit und den Vorstellungen bestehen, die wir uns von ihnen machen. Es ist der Begriff der Erfahrung selbst, der diesen medialen Bereich als Bereich der Formerscheinung erbringen soll. Darum kann hier von einer »Theorie« der Erfahrung keine Rede mehr sein. Cassirer steht Kant im Gegensatz zu Bergson positiv gegenüber. Aber er deutet ihn und auch Cohen, durch den er Kant im Wesentlichen rezipiert hat, auf seine eigene Weise. Seine Deutung der transzendentalen Ästhetik geht bereits über das Ideal der Visualisierung hinaus, da das, was sichtbar gemacht wird, sich vor allem durch seine Bezüge der Bedeutung (und nicht der Abbildung) auf das auszeichnet, was nicht sichtbar ist: die Möglichkeitsbedingungen des Konkreten. In einem anderen Kontext notiert Cassirer, wie oben bereits zitiert: »Als eigentlicher Quell der aufgewiesenen Aporien und Antinomien erscheint nicht sowohl die Umsetzung eines metaphysischen Grund- und Urverhältnisses in begriffliche Symbole, als seine Übersetzung in räumliche Schemata.« (ECN 1, 14)

Die visuelle Prägung dieser Schemata äußert sich in Kants Auffassung von Raum und Zeit, den Formen der Anschauung, als Bedingung der figurativen Relationen des Nebeneinander und Nacheinander. Die Funktion dieser beiden Formen für die Materie der Empfindung ist die Unterscheidung zweier Parameter einer gedachten, objektiven Folge, unter Dominanz der Zeit, des Nacheinander, als Form des inneren Sinnes, während die Räumlichkeit, das Nebeneinander, durch die zeitliche Aufeinanderfolge perspektivisch konstituiert wird. Die Kritik an einer Übersetzung in räumliche Schemata, die an einer denotativen Vorstellung von Äquivalenz der Bedeutung orientiert ist, stellt einen gemeinsamen Kerngedanken der Erfahrungsphilosophie auch bei Bergson und Whitehead dar. Die Umsetzung dagegen ist ein Begriff der Transformation, nicht der Äquivalenz. Sie ergibt keine instantane Übertragung von Inhalten, sondern eine Entwicklung von Formen. Entwicklung aber erfordert einen Bereich und eine Dauer. In der Theorie der Erfahrung haben diese keinen Platz. Das ist jedoch der Entwicklung des visuellen Schemas geschuldet. Es gab durchaus einen Erfahrungsbegriff der kontinuierlichen, lebendigen Entwick168 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Erfahrung als Entwicklung und Erfahrung als Erfassen

lung, der in der Theorie der Erfahrung abgetrennt wird. Sie kennt nur die Erfahrung als Erfassen im subjektiven Urteil. In der antiken Philosophie gilt die Erfahrung, empeiria, als Übergangsbereich von der Wahrnehmung (aisthesis) hin zu einem formenden Prinzip. Wahrnehmung ist für Aristoteles das Aufnehmen von Eindrücken im jeweiligen Moment. Erfahrung besteht im Gegensatz dazu bereits aus dynamischer Formentwicklung in einem zeitlichen Verlauf. Wahrnehmungsbilder werden in der Erinnerung angesammelt und treten in Wechselbeziehung miteinander im Medium des Geistes, wodurch sie selbst zu Faktoren in der Entstehung neuer Formen im Umgang des Selbst mit der Wirklichkeit werden. Dieses Konzept der Erfahrung schließt eine vermittelnde Wechselwirkung von Sinnlichkeit und Tätigkeiten ein. Die »Sinnlichkeit« beschränkt sich allerdings auf Sammeln und Speichern von Abbildern. Die Tätigkeit dagegen ist schon ziemlich reflektiert und führt dazu, dass die Erfahrung durch Wahrnehmen, Denken und Handeln eine Eigendynamik entwickelt. Ursprünglich knüpft Aristoteles den Begriff der energeia an kinesis, Bewegung: darunter lässt sich ein nachvollziehbarer Verlauf für die Erfahrung verstehen. Später aber wird die energeia als wirkliche Tätigkeit in Abhängigkeit von der Verwirklichung gebracht. Von wirklicher Tätigkeit lässt sich nur sprechen, wenn eine wesenhafte Entwicklung vollzogen wird. Das ist nur bei Tätigkeiten der Fall, die auch dann eine Veränderung bewirken, wenn sie nicht zum Abschluss gebracht werden. Eine solche Tätigkeit ist z. B. das Denken. 11 Aristoteles beschreibt die Eigendynamik der Erfahrung als Entstehung eines allgemeinen Prinzips, vermittelt durch Kunst (téchne) und verallgemeinert zum Wissen (epistéme). »Und aus der Erfahrung oder aus dem ganzen Allgemeinen, das in der Seele zur Ruhe gekommen ist, […] entsteht ein Prinzip der Kunst und des Wissens.« 12 Die Kunst und das Wissen sind formende Prinzipien, die sich aus der Erfahrung entwickeln. Die Erfahrung selbst aber orientiert sich an der Konkretion. Ihre Leistung besteht darin, kein allgemeines, sondern ein singuläres Urteil zu fällen, eine Situation zu beurteilen und mit ihr umzugehen. 13 Dabei schließt der Erfahrungsbegriff sowohl erworbene Fähigkeiten und Kenntnisse, Vertrautheit mit den 11 12 13

Aristoteles: Metaphysik 9, 6, 1048 b 30–34. Aristoteles: Analytica posteriora 2, 19, 100 a. Vgl. Elm 1996, S. 96 ff.

169 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

4 · Die Erfahrung und der Formbegriff

Dingen ein als auch körperliche Gewohnheiten, Übung, Nachahmung und das, was wir heute als Körpergedächtnis und Körperschema bezeichnen. Erfahrung als empeiria bedeutet also einerseits Erfassen und Erzeugen der Struktur von Gegenständen, andererseits den kontinuierlichen Verlauf der lebendigen Dauer, in dem dieses Erfassen und Erzeugen vor sich geht. Erfahrung als Ereignis des Auffassens und Erfahrung als Entstehung eines »Prinzips der Kunst und des Wissens« können nicht getrennt voneinander verstanden werden, ohne je eine Reduktion vorzunehmen: auf der einen Seite den Verlust eines Verständnisses von Wirklichkeit als Wirkung, auf der anderen Seite den Verlust einer Eigendynamik von Sinnkonfigurationen.

2.2. Das Vermögen zu urteilen 2.2.1. Unterscheiden und Verknüpfen In der Philosophie der frühen Neuzeit entstehen Erfahrungsbegriffe, die sich auf das Erfassen konzentrieren und den körperlich-kontinuierlichen Aspekt der Entwicklung als unberechenbar und, mangels Klarheit und Allgemeinheit, als zweitrangig außer Acht lassen. Erfahrung wird mit dem subjektiven Konzept des Urteils verbunden. Nach Descartes und Leibniz ersetzt das Subjekt die Substanz als dauerhafte, sich selbst gleich bleibende Einheit. Ihm werden Vermögen zugeschrieben. In der scholastischen Tradition wurde bei den unterschiedlichen Verwendungen der dynamis zwischen Kraft und Vermögen noch nicht klar unterschieden. Erst bei Leibniz wird das Vermögen dem Subjekt zugeordnet, und zwar deswegen, weil Leibniz im Gegensatz zu Descartes die Qualifikationen von Klarheit und Deutlichkeit auch auf die sinnlichen Vorstellungen anwendet. 14 Sinnliche Vorstellungen sind zwar nicht ohne weiteres begrifflich definierbar, daher gelten sie bei Leibniz als verworren und nicht deutlich. Aber sie können klar sein im Gegensatz zu dunkel. Wir können sie qualitativ unterscheiden und wiedererkennen, aber nicht beschreibend vermitteln. Wir können also auch über die Sinnlichkeit etwas wissen, und das macht sie zum Gegenstand eines Vermögens. Vermögen, potentia, wird als subjektives immer in den Bereich der 14

Vgl. Leibniz 1924a.

170 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Erfahrung als Entwicklung und Erfahrung als Erfassen

aktiven Potenz gerückt. Erkenntnis ist keine passive Rezeption, sondern ein aktiver Vorgang, der die Anwendung von Urteilsregeln einschließt. Die potentia wird zur facultas: zur Fähigkeit. Bei Locke, Hume und Berkeley wird Erfahrung als assoziative Kette von Impressionen gedeutet. Die Sinnlichkeit, die aus der aisthesis als Wahrnehmung stammt, wird als Urteil des Subjekts gedeutet, ohne den Anspruch auf objektive Allgemeinheit. Whitehead weist darauf hin, dass auch hier der Hang zur Klarheit die Hauptrolle spielt: »this tendency […] [to assume] that the more fundamental factors will ever lend themselves for discrimination with peculiar clarity«. Erfahrung soll der Erkenntnis dienen: die Struktur von Subjekt und Objekt wird mit der repräsentierenden Funktion der Erkenntnis verwechselt. (AI 175) Die Entstehung der Wahrnehmung in diesem Paradigma ist eine Vermittlung zwischen einem gegebenen Ding und dem Subjekt, das mit einer Reihe von Vermögen ausgestattet ist. Wahrnehmung wird ein zwischen Ich und Welt geschaltetes Instrumentarium, das Zugang zur Welt eröffnet oder über Interpretation der Welt funktioniert und Verhältnisse von Äquivalenz und Differenz extensional erzeugt. Hegel empfiehlt: »Statt mit dergleichen unnützen Vorstellungen und Redensarten von dem Erkennen, als einem Werkzeuge, des Absoluten habhaft zu werden, oder als einem Medium, durch das hindurch wir die Wahrheit erblicken und so fort, […] könnten sie als zufällige und willkürliche Vorstellungen geradezu verworfen, und der damit verbundene Gebrauch von Worten als dem Absoluten, dem Erkennen, auch dem Objektiven und Subjektiven, […] sogar als Betrug angesehen werden.« 15

Ich und Welt sind Konzepte, die einer hochkomplexen erkenntnistheoretischen Vermittlung entstammen, ohne dass diese sich selbst in ihrer Entstehung reflektiert hätte. Darin liegt der »Betrug«. Denn für eine Vermittlungstheorie der Erfahrung soll die Form der bestehenden Dinge möglichst wenig beschädigt werden, sie soll in ihrer Klarheit erhalten bleiben. Die Form soll einen Inhalt über Distanz transportieren, nicht aber sich selbst kompromittieren, indem sie mit Material in Berührung kommt. Darum werden Ich und Welt als zwei Extensionen gedacht, zwei getrennte Behälter oder klar abgesteckte Felder, die Inhalte enthalten. 15

Hegel 1988, S. 59.

171 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

4 · Die Erfahrung und der Formbegriff

Diese Inhalte müssen zur Sicherung der Erkenntnis fixiert und miteinander verglichen werden, durch die bereits bekannte Methode als Visualisierungstechnik, die die potentia zur facultas des Urteilens entwickelt. Wahrnehmung oder Erfahrung, in diesem Schema praktisch austauschbar, sind nichts anderes als verknüpfende Prinzipien der Formung. Statt Figuration durch Abbildung ist die Form jetzt eine Figuration durch Struktur und zugleich die Figuration des Strukturprinzips. 2.2.2. Der Actus der Spontaneität Die Stabilität des Strukturprinzips wird durch Bindung an etwas Stetiges (gr. syneches) erreicht. Der Funktionsbegriff verschiebt die Stabilität von der substantentiellen auf die relationale Kategorie. Das Kontinuum reduziert sich auf einen Fixpunkt: das Subjekt. Es »bezeichnet den Ausgang […] von einer spezifischen Gesetzlichkeit der Erkenntnis, auf die eine bestimmte Form von Gegenständlichkeit (sei sie theoretischer oder ethischer oder ästhetischer Art) zurückgeführt werden soll. […] Der Beginn mit der Eigenart der Erkenntnisfunktion, um in ihr die Eigenart des Erkenntnisobjekts zu bestimmen: das also ist die ›Subjektivität‹, die hier allein in Frage kommt.« (KLL 148)

Erfahrung als Basis der Erkenntnis ist die Anwendung objektivierender Prinzipien des Auffassens. Auffassen bedeutet, dass Inhalte der Erfahrung in prädikativer Relation an den Punkt des Subjekts geknüpft werden. Das schematische Prinzip des Urteils regelt die Verknüpfung der Erfahrungsinhalte untereinander. Die einzelnen Iterationen des Auffassens verbinden sich durch ihre Relation zu der kontinuierlichen Stetigkeit und Identität des Subjekts. Was an der Erfahrung nicht Erkenntnis ist, wird subjektiv genannt in einem anderen Sinn: subjektiv als das, was keine Stabilität der gesicherten Verbindung von Subjekt und Objekt aufweist, keine Struktur, sondern nur von der reinen willkürlichen Sukzession unbestimmter Zustände des Subjekts abhängt. »Trotz alledem bleibt in der Ansicht der physischen und psychischen Wirklichkeit, die sich auf dieser Grundlage aufbaut, der allgemeinen Kategorie der Substantialität ihre entscheidende Bedeutung erhalten. […] Nach wie vor herrscht die Überzeugung, daß nur dasjenige als wahrhaft ›wirklich‹ und als Grund alles Wirklichen zu gelten habe, was für sich allein steht

172 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Erfahrung als Entwicklung und Erfahrung als Erfassen

und rein aus sich selbst, als isolierter Bestand faßbar und verständlich ist.« (SF 358)

Auch in Kants Schema vollzieht sich, wie Cassirer meint, erst einmal nur eine Umwendung, während es eigentlich notwendig wäre, einen vollen Kreis zu schlagen, in dem die Erfahrung sich selbst als dynamisches Schema, als »Werden zur Form« erkennt. Die Substanz ist in der Philosophie des Subjekts nur an den anderen Pol des Schemas verrückt worden. Das führt zu der Statik einer »reinen Setzung«, die zwar dynamisch ist in ihrer Wiederholbarkeit, da sie ja in jedem Zusammenhang aufs neue angewendet wird, jedoch ihrer Form nach statisch bleibt. Aus diesem Denken heraus besteht die Gefahr, dass Existenz mit einem Prädikat verwechselt wird, was sowohl Kant 16 als auch Aristoteles 17 als Fehler betonen. Die »dynamischen« Kategorien von Relation und Modalität, die auf Existenz der Gegenstände gerichtet sind (KrV, B 110), bleiben an die Aktivität des Subjekts gebunden. In der formalen Stetigkeit und Selbigkeit als Prinzip ist die Kategorie der Substantialität weiterhin wirksam. Dem entsprechend verändert sich die formale Anwendung der Logik. Sie wandelt sich von der subsumierenden, denotativen Begriffslogik zu einer prädikativen Urteilslogik. Dabei geht es darum, die Kategorien als Regeln für die Verhältnisse des Verknüpfens und Unterscheidens zu gebrauchen, die im Urteil gesetzt bzw. erkannt werden. Das Urteilen gilt als eine Handlung der Beurteilung, die als aktive Setzung aus der Wahrnehmung resultiert. Bei Hume ist sie direkt aus der »Kraft« und »Lebendigkeit«, also der Qualität der Wahrnehmung selbst als unmittelbarer Gegebenheit motiviert: »’Tis merely the force and liveliness of the perception, which constitutes the first act of the judgement.« 18 »Denn wenn ihr auch alles Setzen (unbestimmt, was ihr setzt) Realität nennt, so habt ihr das Ding schon mit allen seinen Prädicaten im Begriffe des Subjects gesetzt und als wirklich angenommen, und im Prädicate wiederholt ihr es nur. […] Sein ist offenbar kein reales Prädicat, d. i. ein Begriff von irgend etwas, was zu dem Begriffe eines Dinges hinzukommen könne. Es ist bloß die Position eines Dinges […]« KrV, B 625. 17 »Wenn er nun ›seiend‹ als Gattung angegeben hat, so ist klar: Es wäre Gattung von allem, wenn es doch davon ausgesagt wird. […] da doch ›seiend‹ und ›eines‹ schlechterdings über alles und jedes ausgesagt werden […]«. Aristoteles: Topik, 127 a 26 ff. 18 Hume 2007, S. 61. Zu Humes »liveliness« vgl. Whiteheads Kommentar zur »vividness«, in Kap. 3. 16

173 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

4 · Die Erfahrung und der Formbegriff

Auch im Denken Kants ist das Subjekt nicht nur ein kontinuierlicher Fixpunkt der Funktionen. Es ist definiert durch die Tätigkeit des Verstandes, die auffassende Form des Urteils oder die subjektive Apperzeption: den »Actus der Spontaneität« (KrV, B 132). Der Akt, lat. actus, ist eine Übersetzung der aristotelischen energeia, der aktiven Potentialität oder wirkenden Kraft. Das Subjekt erhält so eine doppelte Funktion. Es ist das Subjekt der sprachlichen Form des Urteils, dem das Prädikat zugeordnet wird, und es ist aktiv als Funktion des Urteils, das diese Zuordnung vornimmt. Energeia ist damit die einzige ›Eigenschaft‹, über die wir das Subjekt definieren können: kein Prädikat, sondern selbst eine Funktion. 2.2.3. Das Integral des Gegebenen Die subjektive Urteilsfunktion erzeugt eine Struktur, wobei das vollständige Urteil die vier Kategorien Quantität, Qualität, Relation und Modalität einschließt. Als Urteil versteht Kant die Funktion der Einheit unter den Vorstellungen: die Erkenntnis des Allgemeinen. Spontan soll die Strukturierung in dem Sinne sein, dass sie nicht motiviert ist, dass nichts Äußerliches sich einmischt. Die genuine Beurteilung als Verknüpfung und Unterscheidung findet nur auf Grund der Charakteristika des Verstandes statt. Die Kategorien werden zu logischen Formprinzipien, die Aspekte der erfahrbaren Wirklichkeit erfassen. Sie sind die Form, verstanden als Funktion, in der die Erscheinungen »gegeben« sind. Die Erscheinungen, phainomena, sind keine Abbilder des Existierenden. A priori ist keine Bedingung der Möglichkeit von Existenz, sondern eine Bedingung der Möglichkeit von Darstellung in einer Schematisierung. Eine Theorie der Erfahrung, die sich auf die Formprinzipien der subjektiven Apperzeption konzentriert, ist dem gemäß eine Darstellung der Form des Erfahrenen in einem homogenen Schema, das ein Schema der Erfahrung sein soll. Aber sie lässt darüber hinaus keine Schlüsse über die Wirklichkeit zu. Genau das betont Kant in seiner Unterscheidung von phainomenon und noumenon. Das noumenon ist ein »Gedachtes«, weil nur durch logische Schlussverfahren Thesen über die Wirklichkeit aus der Erfahrung abgeleitet werden können, die als solche aber niemals überprüfbar sind, weil sie nicht in der Form der Erfahrung selbst enthalten sind. Darum brauchen wir die Vernunft, damit sie durch regulative Prinzipien den Gebrauch unseres Verstandes anleitet. Eine Ein174 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Erfahrung als Entwicklung und Erfahrung als Erfassen

heit der Erfahrung erhalten wir, in der Argumentation Kants, überhaupt nur durch die Anwendung reiner Verstandesbegriffe, also aus einer Regulation und Ordnung der Erfahrung und nicht aus der Erfahrung selbst. Das subjektive Prinzip der Erfahrung kann also als reines Formprinzip des Urteils nichts beitragen zu einem Konzept, das Erfahrung als dynamischen Prozess begreift. Erfahrung als Dynamik der Formen kann nicht an ein subjektives Prinzip gebunden sein. Denn die subjektiven Konzeptionen von Erfahrung beschreiben eine kontinuierliche Folge von Momenten der Anwendung eines auffassenden Formprinzips. Die Erfahrung selbst wird dabei aber nicht prozessual dargestellt im Sinne einer echten Veränderung. Erfahrung in diesem Sinne ist nur eine Integration von Daten, von »Gegebenem«. Cassirer argumentiert, dass der Fehler der neuzeitlichen Philosophie des Subjekts darin liegt, nicht zu erkennen, dass der Funktionsbegriff einen Verzicht auf die Kategorie der Substanz ermöglicht hätte. Die Fixierung auf das Einheitliche, Unveränderliche hätte unterbleiben können, weil Stetigkeit auch auf mathematischem Wege als Stetigkeit in einer Vielheit erreicht werden kann, ohne eine künstliche Einheit setzen zu müssen. Sowohl Peirce als auch Cohen nehmen, unabhängig von einander, eine solche Ersetzung der Substantialität durch das mathematische Kontinuum vor. 19 Durch Infinitisemalrechnung wird es möglich, ein Kontinuum als Integral zu berechnen. In diesem Sinn lässt sich Kants Einheit der transzendentalen Apperzeption, verstanden als Prinzip der Synthesis, als ein solches Integral deuten. Damit wird allerdings die Stabilität zunächst in den Bereich der Messbarkeit verschoben und durch Grundlagenforschung von Setzung und Geltung gesichert, bei Cohen ausgedrückt durch die Theorie der Erfahrung. Theorie der Erfahrung steht unter dem Zeichen einer Suche nach dem Integral der Erfahrung, einer mathematischen Darstellung des Kontinuums, das die Sichselbstgleichheit und Stetigkeit des Subjekts ausdrücken soll. Hier gibt es also noch keine ›Befreiung‹ von der Substanz, sondern nur eine Mathematisierung dessen, was ursprünglich als Substanz gedacht war: des wesenhaft Unveränderten. Die eigentliche Dynamisierung erfolgt erst, wo das wesenhaft Unveränderte aufgegeben und durch die Vielfalt der Veränderung ersetzt wird. Die Idee vom Integral der Erfahrung setzt sich nicht nur im Neu19

Vgl. dazu Krois 1995.

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4 · Die Erfahrung und der Formbegriff

kantianismus, sondern auch im Pragmatismus und in der Phänomenologie als Element einer kategorialen Funktionalität fort. James greift dazu auf die »Funktion« des Erkennens zurück, die das Bewusstsein ausmacht, was ihn trotz der Ähnlichkeit in der Metaphorik des stream of consciousness von Bergson unterscheidet (vgl. Kap. 1). Ein genauer Vergleich der Philosophie der Erfahrung bei Bergson, Cassirer und Whitehead auf der einen mit der Phänomenologie Edmund Husserls auf der anderen Seite ist hilfreich, um zu sehen, inwiefern trotz großer Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen mit der Phänomenologie doch durch die drei Denker ein anderer Weg mit entscheidend anderen Ergebnissen eingeschlagen wird.

3.

Das Verhältnis zur Phänomenologie Edmund Husserls

3.1. Das Feld der Theorie Für Bergson, Cassirer und Whitehead ist Erfahrung nicht etwas, das sich als funktionales Integral transparent der Anschauung darbietet. Aktivitäten des Bewusstseins sind in der Erfahrung zwar immer dabei, aber sie können niemals an und für sich selbst die Form des Erfahrbaren bestimmen und abgrenzen. Formentstehung kommt nicht durch Ergänzung aktiver Tätigkeit und passiver Stofflichkeit zustande, sondern durch Wechselwirkung zwischen bereits strukturierten Aktivitäten und Tätigkeiten, die selbst durch Erfahrung entwickelt wurden, einerseits und den materiellen, affektiven Eigenstrukturen der sinnlichen Wahrnehmung andererseits. Sinnlichkeit ist darum kein Erkenntnisvermögen des Subjekts, sondern die prozessuale Entfaltung von Qualitäten für die Erfahrung. Sie liefert damit, metaphorisch gesprochen, Stoff und Raum für die Entwicklung eines eigenständigen, fixierbaren Selbst. Das lebendige Individuum konstruiert sich also buchstäblich selbst, doch nicht durch subjektive Setzung, sondern in der eigenen Erfahrung. Das »Subjekt« wird damit als rein intellektuelles Konstrukt entlarvt, als virtueller Punkt, der einer Statik des Charakters, der Persönlichkeit und der Eigenschaften dienen soll. Das kann ein solcher Punkt jedoch gar nicht leisten, da er, wie Bergson sagt, verschwindet, sobald ihn jemand genauer in Augenschein zu nehmen versucht. Die letzten Reste dieser Statik finden sich noch im Denken des Integrals, zum Beispiel in der Phänomenologie. 176 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Das Verhältnis zur Phänomenologie Edmund Husserls

Den Begriff einer »Theorie« der Erfahrung meidet Husserl zwar, da er ihn für zu anspruchsvoll hält. Dennoch ist für ihn die Erfahrung am Prinzip der Anschauung orientiert. Sie bietet ein visuelles »Feld […] der Erfahrungsphänomene und Erfahrungsgegebenheiten«, das der Phänomenologe »wirksam kultivieren« will, um den »Nachkommenden den Anbau der höheren Problemformen« 20 zu ermöglichen. Das phänomenologische Motto »Zu den Sachen selbst!« erteilt der methodischen Konstruktion der ›Sachen‹ als Objekte eine klare Absage. Doch das Wesen der Sachen selbst ist für die Phänomenologie ein allgemeines, das durch die eidetische Anschauung einer Wesenswissenschaft erfasst werden kann. So ist auch die phänomenologische Methode eine Visualisierungstechnik.

3.2. Zwei verschiedene Konzepte von der Allgemeinheit der Form Gerade für Cassirer ist die Allgemeinheit des Geistes ebenfalls sehr wichtig. Aber diese Allgemeinheit ist selbst eine entstandene. Die funktionale Allgemeinheit jeder symbolischen Form entfaltet ihre Geltung aus der ihr immanenten Konsistenz und Kohärenz. Sie ist transzendent, da sie ihre einzelnen Konkretionen jeweils überschreitet, aber sie ist nicht transzendental im Sinne einer apriorischen Grundlegung, nicht substantiell im Sinne eines Wesens, und weder ewig noch absolut. Die phänomenologische Ausrichtung, die Cassirer selbst ebenfalls hat und die er auch so nennt, wandelt sich so durch die Bedeutung der Konkretion (Prägnanz) zu einer prozessualen Auffassung der Entstehung von Formen. Das Allgemeine ist keiner reinen oder unmittelbaren Anschauung zugänglich, sondern erschließt sich durch mediale Verknüpfung von Symbol, Begriff und Zeichen, die aus einer Reflexion der Relationalität sinnlicher Qualitäten gewonnen werden. 21 »Für uns jedenfalls steht fest, daß ›Sinnliches‹ und ›Sinnhaftes‹ uns rein phänomenologisch immer nur als ungeschiedene Einheit gegeben sind.« (ECW 17, 259) Die Form erhält dabei den von Cassirer formulierten Doppelsinn Husserl 1992, S. 4. Zur Anschaulichkeit des Allgemeinen vgl. »Die anschauliche Natur des ideierend abstrahierten Allgemeinen. Eine Kontroverse zwischen Husserl und Cassirer« in Möckel 2003, S. 43–62.

20 21

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4 · Die Erfahrung und der Formbegriff

der forma formans und forma formata (ECN 1, 17 f.): der formenden, prägenden Wirkung und der entstandenen, erfahrbaren Gestalt. »Das Wechselspiel zwischen beiden macht erst den Pendelschlag des geistigen Lebens selbst aus.« (ECN 1, 18) Diese Konzentration auf die reale Veränderung und Entstehung des Neuen durch prozessuale Formbildung ist der Hauptunterschied zu Husserls Phänomenologie. »Obwohl er mit dem Phänomenologen das Bestehen auf einem eigenständigen Erfassen des Ideellen als dem wahren Allgemeinen teilt, deutet Cassirer das »Ideenschauen« als symbolischen und unanschaulichen Akt des Denkens, Entwerfens und Bildens, während Husserl einen unmittelbaren und intuitiven Akt annimmt.« 22

In der Phänomenologie werden strukturelle Verknüpfungen zwischen Formen in derselben figurativen Evidenz dargestellt wie die wesenhaften Formen selbst. Husserl vertritt wie Kant eine transzendentale Ästhetik. Er konzentriert sich auf die allgemeine logische Form als Struktur der Gegebenheit des Phänomens für das Bewusstsein. Stoff, hylé, wird dabei auf der formalen Ebene reflektiert, aus der Überzeugung, dass jede Gegenständlichkeit formal logisch vermittelt dargestellt werden kann. 23 »Auf der anderen Seite aber steht […] eine bloße Wesensform, die zwar ein Wesen, aber ein völlig ›leeres‹ ist, ein Wesen, das in der Weise einer Leerform auf alle möglichen Wesen paßt, das in seiner formalen Allgemeinheit alle, auch die höchsten materialen Allgemeinheiten unter sich hat und ihnen durch die ihr zugehörigen formalen Wahrheiten Gesetze vorschreibt.« 24

Diese leere Form, die nichts enthält, sondern Gesetze vorschreibt, ist genau das Merkmal, was vom statischen Formprinzip des Subjekts übrigbleiben muss: figurative Sichtbarkeit in der Darstellung einer relationalen Struktur. Sie wird minimal garantiert durch Flächen als Grenzen (wie bei Newton und Hegel), die gegeben sind durch die »formale Allgemeinheit« einer umfassenden Fläche, die wiederum unterteilt ist in »materiale Allgemeinheiten«, welche sie »unter sich hat«, d. h. in sich schließt. Form ist damit die Sichtbarkeit selbst und ihre perspektivische Einteilungs- und Begrenzungsfunktion. Cassirer erklärt: Möckel 2003, S. 11. Zu Cassirers Kritik an Husserls Trennung formender und stofflicher Elemente des Bewusstseinserlebnisses vgl. Möckel 1998, S. 147 f. 24 Husserl 1992, S. 26. 22 23

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Das Verhältnis zur Phänomenologie Edmund Husserls

»Diese Funktion beruht darauf, daß der leere Raum und die leere Zeit reine Ordnungsformen sind – Ordnungsformen, die nicht bloß auf das Wirkliche, sondern darüber hinaus auf das Mögliche gehen.« (ECW 17, S. 189)

Als »reine Ordnungsformen« sind Raum und Zeit Konstruktionen zur Visualisierung eines Schemas. Bergson bezeichnet sie als homogen, d. h. gleicher Art oder gleichen Ursprungs. Im strengen Sinn heißt das qualitätsneutral, weil Qualitäten als Differenzierungen für die Wahrnehmung erscheinen. Homogene Ordnungsformen drücken keine Qualitäten aus. Sie bringen Gegenstände hervor, die, wie auch das »Wesen« in der Phänomenologie, »zum Subjekt von wahren und falschen Prädikationen gemacht werden« können. 25

3.3. Erinnerung als Retention oder als Ausdrucksform Im Schema dieser Gegenständlichkeit bewegt sich auch eine Vorstellung von der Funktion des Gedächtnisses, die eine Spur oder einen Nachklang des vergangenen ins sukzessiv folgende Erlebnis projiziert. »Diese Form der phänomenalen Differenzierung bildet das eigentliche Problem.« (PSF III, 200) Gegen Husserls Konzept der Retention stellt Cassirer die Repräsentation als »Wissen vom Vergangenen als vergangen«. (PSF III, 197) »Die Gegenwart, das Jetzt empfängt den Charakter als Gegenwart nur durch den Akt der Vergegenwärtigung, durch den Hinweis auf Vergangenes und Künftiges, den sie in sich schließt.« (PSF III, 193)

Die symbolische Beziehung zum Vergangenen kann nicht aus einer Folge von Zuständen oder Bewusstseinserlebnissen heraus erklärt werden (das wäre ein bloßes Integral), sondern ist eine intensive, reale oder qualitative Relation. Vergegenwärtigung ist Ausdruck eines qualitativen Verhältnisses, das einem Erlebnis den »Charakter als Gegenwart« verleiht. Erinnerung ist eine geistige Leistung, eine Sinnkonfiguration. Als solche hat sie eine immanente Gliederung, die ihre Individualität ausmacht. Diese Eigenstrukturierung ist aus bereits sinnhaften Qualitäten entstanden. Sie ist keine Zusammenfügung von Qualität und Relation, sondern basiert schon auf dieser Zusammenfügung. 25

Ebd., S. 15.

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4 · Die Erfahrung und der Formbegriff

»Die Theorie der ›Mneme‹ aber kann im günstigsten Falle nur die reale Inexistenz des Früheren im Späteren erklären, nicht aber begreiflich machen, wie es dazu kommt, daß an dem hier und jetzt gegebenen Inhalt eine Gliederung sich vollzieht, kraft deren einzelne Bestimmungen aus ihm herausgehoben und in eine zeitliche Tiefendimension verlegt werden.« (PSF III, 200) 26

Das entspricht Whiteheads Kritik an Hume in Symbolism. Its meaning and effect, wenn er schreibt: »Even memory goes: for a memoryimpression is not an impression of memory. It is only another immediate private impression.« (SME 33) Gegen diese sensualistische Gefahr eines Verlustes des Gedächtnisses stellt Cassirer die »Kettenassoziation« nach Katz: »Die einzelnen sinnlichen Erscheinungen werden nicht äußerlich durch ihre bloße empirische Ähnlichkeit oder durch Verhältnisse empirischer Sukzession und Koexistenz miteinander verbunden, sondern sie werden durch das gemeinsame Medium des einheitlichen Gegenstandes, den jede von ihnen symbolisch repräsentiert, zusammengeschlossen und ›in eins gesetzt‹.« (PSF III, Kap. 2, Fußnote 56)

Repräsentation soll, wie Schwemmer schreibt, nicht als Retention, »nicht als ein Fortbestehen des Vergangenen im Gegenwärtigen, als ›Inexistenz‹ des Vergangenen im Gegenwärtigen oder als ›reale Koinzidenz‹« 27 aufgefasst werden. Trifft diese Kritik nicht eher Bergson als Husserl, der sich doch auch über »Akte« des Bewusstseins und deren Konstitution dem Erlebnis nähert? Retention beschreibt Husserl als »Bewußtsein vom eben Gewesenen.« 28 Cassirer deutet das als »›Spur‹ der vergangenen Empfindung im gegenwärtigen Bewußtsein« 29. Eine solche Spur der vergangenen Empfindung gibt es bei Bergson nicht, weil es keine Sukzession von aufeinander bezogenen Einzelerlebnissen gibt. Die Vergangenheit bei Bergson ist real, sie existiert und besteht fort. Aber sie besteht nicht als Vergangenes im Gegenwärtigen fort, hinterlässt dort auch nicht die Spur ihrer Inexistenz, und hat schon gar keine Realität als Mit der »Theorie der Mneme« meint Cassirer nicht Husserl, sondern den Naturalismus nach Semon und Russell. Aber das Fortbestehen des Erinnerten im Gegenwärtigen lässt sich ebenso auf Husserls Retention anwenden, vgl. Schwemmer 1997a, S. 98. 27 Schwemmer 1997a, S. 99. 28 Husserl 1980, S. 392. 29 Schwemmer 1997a, S. 98. 26

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Das Verhältnis zur Phänomenologie Edmund Husserls

Koinzidenz mit dem Gegenwärtigen. Bergsons Kritik an der Simultaneitätsvorstellung, die er Einsteins Kontinuum unterstellt, macht deutlich, dass »Koinzidenz« kein Konzept sein kann, das wir in Bergsons eigenem Denken finden. Wenn dies also Cassirers Kritikpunkte an Husserls Konzept der Retention sind, insofern es das Verhältnis von Gegenwart und Vergangenheit erklären soll, so treffen sie Bergson nicht. Was für Cassirer die Vergegenwärtigung ist – nicht die intellektuelle Vergegenwärtigung, sondern der oben erwähnte Akt der Wahrnehmung des Gegenwärtigen –, ist für Bergson die Aktualisierung. Und die Aktualisierung in der gegenwärtigen Wahrnehmung ist von keiner Spur der eben vergangenen gezeichnet, weil es keine einfache Sukzession von Erlebnissen der Wahrnehmung gibt. Sie bezieht die Erinnerung mit ein und stellt in dieser Einbeziehung qualitative Relationen her. Als »Ausdruck einer virtuellen Handlung« (MG 44) ist sie zugleich Ausdruck dieses qualitativen Verhältnisses von Erinnerung und Gegenwart, wie die Vergegenwärtigung Cassirers. Whitehead nennt dieses qualitative Verhältnis conformation. Gegenwärtigkeit entsteht nur als expressive, derivative Formangleichung an die Vergangenheit: Ereignisse werden erinnert, d. h. sie werden objektiviert in die neue Situation einbezogen und werden so zum wirkenden Faktor der Gegenwärtigkeit. Die Sukzession ist, wie auch Whitehead meint, eine qualitätsneutrale Abstraktion aus dieser Formangleichung. »Time in the concrete is the conformation from state to state, the later to the earlier; and the pure succession is an abstraction from the irreversible relationship of settled past to derivative present.« (SME 35)

3.4. Zwei verschiedene Konzepte von Intuition und Präzision Die Intuition ist bekanntlich eine der wichtigsten Konzeptionen im Denken Bergsons, und Intuition heißt nichts anderes als »Schau«. Dennoch hat Bergsons Philosophie der Erfahrung nichts gemein mit Husserls deutschsprachiger Tradition von Intuition, die von Leibniz stammt: das klare und deutliche Schauen von einzelnen Teilen, die simultan und überschaubar in ihrem Verhältnis zueinander als Ganzes erfasst werden. 30 Ihre Totalität bildet das Ideal einer Erkenntnis, 30

Vgl. Lauschke 2007, S. 32 f.

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die »alle in sie eingehenden Merkmale zugleich denken« 31 kann. Dieses Ideal gibt es bei Bergson nicht. Was simultan und abgegrenzt überblickt werden kann, bildet für ihn so etwas wie eine Reihe von ausgeschnittenen Pappfiguren, welche die Wirklichkeit repräsentieren sollen. Anders Husserl. »Ein Reales originär gegeben haben, es schlicht anschauend ›gewahren‹ und ›wahrnehmen‹ ist einerlei.« 32 »Durch reflektiv erfahrende Akte allein wissen wir etwas vom Erlebnisstrom und von der notwendigen Bezogenheit desselben auf das reine Ich«, denn die »reine Intuition« als »Urquellen der Geltung« sorgt für das »Prinzip aller Prinzipien«, »daß vollkommene Klarheit das Maß aller Wahrheit ist.« 33 Diese vollkommene Klarheit ist etwas Anderes als die Präzision, die Bergson fordert. Denn dieser glaubt nicht, dass alle Relationen anschaulich gemacht werden könnten. Wie Husserl sehen Bergson, Whitehead und Cassirer die »neuere Mathematik« als »praktisches Ideal« 34, und zwar im Hinblick auf eine metaphysische Überwindung des Substanzbegriffes. Die Kategorie der Relation soll nicht länger von der Kategorie der Substanz abhängen. Wirklichkeit wird zum Relationsbegriff. Doch bei Husserl bedeutet das, dass es für diese Relationen allgemeine Prinzipien gibt, die wiederum anschaulich gemacht werden können. Die phänomenologische Methode tritt an die Stelle der Klassifizierung durch den Substanzbegriff. Transzendentale Phänomenologie ist eine Wesenswissenschaft, die sich von den Fakten zunächst fernhalten muss. 35 Es sind auch nicht nur die Phänomene, die das Bewusstsein in einem visuellen Feld überschauen kann, sondern auch und gerade die höheren metaphysischen Wesenheiten. Denn sie alle sind relational bestimmt, und Relationen sind für Husserl immer etwas, das auch für das Bewusstsein anschaulich gemacht werden kann. Die heterogene Medialität der intensiven oder realen Relationen als qualitativen Veränderungen, die das anschaulich Darstellbare mit dem Latenten verknüpfen, das im Dunklen wirkt (Herder), gibt es bei Husserl nicht.

31 32 33 34 35

Leibniz 1924a, S. 25. Husserl 1992, S. 11. Ebd., S. 168 f. Ebd., S. 21. Vgl. ebd., S. 6.

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Das Verhältnis zur Phänomenologie Edmund Husserls

3.5. Zwei verschiedene Konzepte des Wahrnehmungserlebnisses Husserl fordert das Zurücktreten (epoché), den Urteilsverzicht, in der Tradition des cartesischen Zweifels, weil er die Regeln der physikalischen objektiven Welt aufheben möchte, um die konstitutiven Regeln des Bewusstseins hervortreten zu lassen. Aus diesem Grund nimmt er eine Trennung zwischen dem Vorgang und dem Bild an, nämlich zwischen dem Erlebnis und dem Wahrgenommenen. In den Ideen I drückt er das so aus: »[…] das volle konkrete Erlebnis von dem hier liegenden Papier […] ist eine cogitatio, ein Bewußtseinserlebnis. Das Papier selbst mit seinen objektiven Beschaffenheiten, seiner Ausdehnung im Raume, seiner objektiven Lage zu dem Raumdinge, das mein Leib heißt, ist nicht cogitatio, sondern cogitatum, nicht Wahrnehmungserlebnis, sondern Wahrgenommenes […] ein Sein von total verschiedener Seinsart.« 36

Ein Sein von total verschiedener Seinsart: das klingt genau wie Bergson, wenn er fordert, graduelle Unterschiede nicht mit Wesensunterschieden zu verwechseln. Und tatsächlich hält Bergson, der oft als induktiver oder gar empiristischer Metaphysiker bezeichnet wird, in Wahrheit dasselbe Ideal hoch wie Husserl: Metaphysik als Wesenswissenschaft. Das Verstehen von Wesensunterschieden ist die Bedingung jeder Wissenschaft und weist dieser erst ihren Bereich zu. Aber genau da, wo Husserl einen solchen Wesensunterschied zieht, sieht Bergson einen graduellen Unterschied: zwischen dem Erlebnis der Wahrnehmung und dem Wahrgenommenen. 37 Sein Prinzip, das der Époché diametral entgegensteht, lautet: »Für uns ist die Materie eine Gesamtheit von Bildern.« (MG I) Er fügt später klärend hinzu, dass »es zudem überhaupt unmöglich ist, etwas anderes als Bilder zu setzen. Keine Theorie der Materie kommt um diese Notwendigkeit herum.« (MG 19 f.) Und kurz darauf: »Damit aber ist gesagt, daß zwischen dem Sein und dem bewußten Wahrgenommenwerden der Bilder nur ein Unterschied des Grades und nicht des Wesens ist.« (MG 22) Erst wenn Bergson zu der konkreten und komplexen Wahrnehmung vordringt, also zu dem, was wir tatsächlich erleben, scheinen sich die beiden wieder anzunähern. Denn in der konkreten und kom-

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Ebd., S. 71. Zur Wahrnehmung bei Husserl und Bergson vgl. auch Blanc 2004.

183 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

4 · Die Erfahrung und der Formbegriff

plexen Wahrnehmung spielt das Gedächtnis mit, und das Gedächtnis unterscheidet sich wesenhaft von der reinen Wahrnehmung. Das einzige, was wir mit dem Verstand isolieren und intellektuell betrachten können, ist diese reine Wahrnehmung, und die ist eine Abstraktion bzw. ein mathematischer Grenzbegriff. In der realen Erfahrung des Individuums kommt sie gar nicht vor. Sie ist Zusammenfallen mit dem Wahrgenommenen und hat die durée und den Rhythmus der Materie, nicht aber die durée und den Rhythmus des Bewusstseins oder der Person. Die Bildhaftigkeit der Materie spielt auch in der komplexen und konkreten Wahrnehmung eine wirkende Rolle bei der Entstehung von Ordnungsformen. Aber diese Konkretion ist nicht an Visualität orientiert und lässt sich auch nicht in einer allgemeinen Form anschaulich machen. Man kann sie nicht von außen betrachten; sie entwickelt ihre eigenen Qualitäten, ihre eigene Intensität. Die Materie ist per definitionem qualitativ. Denn was es nicht geben kann, ist »eine unbegreifliche Wirkung dieser Materie ohne Form auf dieses Denken ohne Materie.« (MG 7) Sowohl Form als auch Materie sind draußen in der Welt. Ihre Immanenz beruht auf der Art ihrer Verknüpfung und nicht auf ihrer Anschaulichkeit. Form und Materie können nicht auseinanderfallen, sie stehen in einer intensiven Relation: einer Relation der Wirkung. Husserl dagegen ist der Meinung, dass die reine Anschauung als reine theoretisch erfasst und in ihrem Wesen evident werden kann, indem man sie in ihrer allgemeinen Form von der Materie reinigt. Das bedeutet, dass sie selbst zum Thema werden soll in ihrer »Inaktualität« 38. Der Akt kann Form werden, indem er in den Modus der Inaktualität versetzt wird. Die Inaktualität ist für Husserl ein »Medium«, und zwar das, was Bergson ein »homogenes Medium« nennt: es ist dem Akt gegenüber gleichgültig, dieser wird in seinem Wesen durch den Modus der Inaktualität nicht verändert. Form und Materie sollen ineinander greifen, aber ihre Relationen sollen selbst für das Bewusstsein darstellbar sein, so dass auch sie eine Form für die Anschauung sind. Daraus ergeben sich die hyletischen Daten, die im konkreten Erlebnis als bloße Chiffren dienen. Sie sind Träger der Intentionalität, aber

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Ebd., S. 72.

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Das Verhältnis zur Phänomenologie Edmund Husserls

selbst qualitätslos. 39 So ist die Form in der Phänomenologie von der Materie frei.

3.6. Immanenz des Bewusstseins oder Immanenz der Wirklichkeit Für Bergson ist das Bewusstsein der Wirklichkeit immanent, und Wirklichkeit ist reine Bewegung. Jede Strukturierung von Wahrnehmung und Erfahrung, die sich daraus ergibt und zu Ausdrucksformen und Bedeutungsstrukturen führt, ist eine Aktualisierung. Damit ist sie zunächst ein Wirkzusammenhang, der durch eine Wechselwirkung von Kräften entsteht und immer einen materiellen Aspekt hat. Das gilt für die Kontraktion, die das mémoire-habitude vornimmt, wenn es die verschiedenen qualitativen Momente der Wahrnehmung in einen konkreten Augenblick zusammenzieht und sie in feste Schemata des Handelns einbindet. Ebenso gilt es für die träumende Bildhaftigkeit des mémoire-souvenir »in eine Gegenwart hinein, die sich aus der Vergangenheit bereichert.« (MG 234) Bei Husserl gibt es umgekehrt eine Immanenz des Bewusstseins, die alle entscheidenden Relationen als intentionale Relationen anschaulich werden lässt. Sie werden evident. So erhält er ein relationales Gefüge, das er als cartesische Grundlage der Philosophie bezeichnet, eine Grundlage, die auch Selbstanschauung ermöglicht. Bewusstseinsakte können als Akte thematisiert werden, Erfahrungen werden als Bewusstseinserlebnisse gegenwärtig. Später entwickelt Husserl die Konzepte der Lebenswelt, in der Krisis der europäischen Wissenschaften, und der Intersubjektivität, in den Cartesianischen Meditationen. Beide haben den konzeptuellen Raum der Medialität zum Ziel. Sie sollen dabei helfen, zu verstehen, was in die Konstitution von Formen des Bewusstseins eingeht, wie sie entstehen. Doch auch hier bleibt Husserl bei den Metaphern von Fundament und Horizont. Das ego cogito cogitatum wird konstituiert als fundamentum inconcussum relationalis 40 der Intentionalität. Es bleibt strengstens relational und nicht qualitativ. Die Lebenswelt ist ein Fundament; das Bewusstsein ist eine Architektur. Husserl betrachtet hylé als einen »hyletischen Aspekt« an der Konstitution des Gegenstandes im Rahmen dieser Architektur des 39 40

Ebd., S. 75. Wiesing 2009, S. 82 ff.

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4 · Die Erfahrung und der Formbegriff

Bewusstseins. Gegenstandskonstitution entsteht im Erlebnis, aber sie wird als statisches Schema philosophisch reflektiert. Diejenigen Aspekte, die sich dieser Reflexion entziehen, gelten als philosophisch unsicheres Terrain. Husserls Anspielung auf Descartes indiziert den Anspruch, Reflexion auf sicheren Boden zu stellen, und diesen Boden gibt nur der Bereich der Logik, den Kant als rein definiert hat: die »Vernunft, aber nur in Ansehung des Formalen ihres Gebrauchs, der Inhalt mag sein, welcher er wolle (empirisch oder transscendental)«. (KrV B 77)

Dem statischen Formprinzip dieser reinen Logik in der Subjektphilosophie entspricht ein Verhältnis der Form zu ihrem Inhalt, das diese unberührt lässt. So verstehen wir auch alltagssprachlich die Beziehung von Form und Inhalt auf einer metaphorischen Ebene. Ein Becher hat eine Form, und sein Inhalt nimmt diese Form an. Sobald der Inhalt aber kein Inhalt mehr ist, verliert er auch die Form. Das auf den Boden geschüttete Wasser hat nicht länger die Form des Eimers. Ein qualitativer Eigen-Sinn des Sinnlichen ist in der Phänomenologie nicht vorgesehen. Materie kann nicht als qualitativer Relationsbegriff der Erscheinung dienen wie bei Bergson, und sie wird auch nicht durch den qualitativen Relationsbegriff des Zeichenhaften ersetzt wie bei Cassirer und bei Whitehead. Was für Husserl eine »Korrelation« im Sinne einer logisch fundierenden Wechselbeziehung von Intention und Anschauung darstellt, ist für Cassirer mehr als nur eine konstitutive Relation. Wo Cassirer von »Korrelation« spricht, meint er auch eine reale Wechselwirkung. Und diese Wechselwirkung zieht weite Kreise, da sie sich nicht auf das idealisierte Einzelbewusstsein bezieht, sondern auf die kulturell und sozial vermittelte Erfahrung. »Nicht die ursprüngliche Gerichtetheit als Struktur des Bewußtseins ermöglicht Beziehung und damit Welt, vielmehr ist es im Prozeß der Symbolisierung selber beschlossen, Abgrenzung und Bezug in einem herzustellen, um auf diese Weise Vermittlungen zu stiften.« 41

41

Mersch 2002, S. 171.

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Kapitel 5 Im Zwischen. Innere Form als mediales Konzept »die […] Instanz dessen […], was dazwischen liegt, das, was zwischen Unwissenheit und Erkenntnis das Werden möglich macht.« (Luce Irigaray)

1.

Magie. Ein kleiner Beitrag zur Medienphilosophie

1.1. Struktur und Ereignis vermitteln Die »reale Wechselwirkung« trägt, der Tradition gemäß, den Namen des Mediums oder des Medialen. Eine Philosophie der Erfahrung, die reale Wechselwirkung als Basis ihres Verstehens von Erfahrung nimmt, kann daher als eine frühe Medienphilosophie gelesen werden. Ebenso wie der Begriff einer »Theorie der Erfahrung« dazu nicht passt, weil er auf visuellen Schematisierungen beruht, betreffen auch »Medientheorien« einen ganz anderen Bereich. Das liegt vor allem daran, dass Medientheorien dazu neigen, ein Ding oder einen Gegenstand als Medium zu konstruieren und seine Medialitätsfunktion in ein theoretisches Schema zu bringen, das sich wiederum von den Eigenschaften des betreffenden Gegenstandes ableiten lässt. Diese Verdinglichung des Mediums führt zu einer Metaphorik industrieller Fertigungsprozesse, die ihre einzuspeisenden, formatierten und reproduzierten Inhalte im Wesentlichen unberührt lassen. Solche medientheoretische Metaphorik begegnet uns wieder in Kybernetik, Systemtheorie und auch im Konstruktivismus. In Bezug auf eine Philosophie der Erfahrung kann diese Herangehensweise an das Mediale nicht weiterhelfen, wenn auch des öfteren versucht wird, etwas im weitesten Sinne Gegenständliches zu konstruieren, das für die Erfahrung als Medium dienen kann. 1 Dagegen hat sich die Medienphilosophie in den letzten Jahren zu Vgl. dazu Wiesing 2005, S. 152, wo er treffend »Medientheorien von Dingen, die ohne diese Theorie keine Medien wären« beschreibt.

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5 · Im Zwischen. Innere Form als mediales Konzept

einer viel beachteten Forschungsrichtung entwickelt 2 und legt ihr Hauptaugenmerk auf aisthesis, den Vorgang des Erscheinens. 3 Eine bleibende Schwierigkeit ist dabei die notwendige Materialität des Medialen. Medialität als »Struktur« und Sinn als »Ereignis« fallen immer noch häufig unversöhnt auseinander, wie Dieter Mersch beispielsweise in Bezug auf Derrida diagnostiziert. 4 Dabei geht es natürlich in einer philosophischen Reflexion des Medialen gerade um die Vermittlung. Whitehead beschreibt das Problem dieses Auseinanderfallens des Materiellen und des Sinnhaften, das im Grunde eine Variante des Körper-Geist-Dilemmas ist, als ein Zerfallen von Struktur und Kontinuum parallel zum Zerfallen der aktiven und passiven Elemente in den traditionellen Erfahrungsbegriffen. Dabei wird üblicherweise das Kontinuum, das Verbindende, mit der Materie und dem passiven Verlauf assoziiert und die Struktur, das Geformte und Repräsentierbare, mit dem Geist und der aktiven Setzung. Ein Hauptargument dieser Arbeit ist es, dass Medialität gerade in der Dynamik zwischen beiden Polen besteht und beide durch ein echt medienphilosophisches Denken aus der logischen Isolation gelöst werden, in der sie durch ihre strenge Trennung gefangen sind. Die Trennung ist vor allem eine sprachliche, in der der Sprachgebrauch das Denken beeinflusst und die Logik des alltäglichen Objektbereiches auf andere Bereiche überträgt. Whitehead nennt das »the consequent dangers of a logic which presupposes linguistic adequacy.« (AI 139) Oswald Schwemmer setzt gegen diese Gefahren das »Ereignis der Form« 5, das dazu dienen soll, die Transformationen und Entstehung von Strukturen ohne Kluft oder Entzug denkbar zu machen. Das Medium beschreibt er dabei als »dynamisches System, in dem die Artikulationsprozesse dessen Selbststrukturierung in Gang setzen bzw. nutzen.« Vgl. u. a. Oswald Schwemmer 1997b und 2005, Sybille Krämer 2004 und 2008, Dieter Mersch 2001, Martin Seel 2000 und 2007, Stefan Münker, Alexander Roesler und Mike Sandbothe 2003. Auch neue Entwicklungen der Bildtheorie tragen zu Konzepten ästhetischer Medialität bei, vgl. z. B. Gottfried Boehm und Gabriele Brandstetter 2007 und Lambert Wiesing 2005 und 2009. 3 Vgl. Krämer 2008, S. 18 f.: »[…] nicht in Kategorien des Kommunizierens und Verständigens, sondern eher in solchen des ›Wahrnehmbarmachens‹ und ›Erscheinenlassens‹« sei eine Medienphilosophie anzusetzen. 4 Vgl. Mersch 2005, S. 119. 5 Schwemmer 2011, v. a. S. 106–112. 2

188 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Magie. Ein kleiner Beitrag zur Medienphilosophie

1.2. Das dynamische Ganze Auch Sybille Krämer denkt Medialität als Mitte und als Zwischen einer »Unidirektionalität« der Übertragung, die nicht erst durch Austauschbeziehungen bereits konstituierter Positionen bestimmt wird. An Walter Benjamins Text »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen« zeigt sie, dass Sprache als nicht strukturapriorisches Prinzip der Mitteilbarkeit auf Grund von Übertragungsverhältnissen verstanden werden kann. 6 »Das Medium ist nicht als Vehikel der Transferierung eines Inhalts zu verstehen, sondern als das, was es möglich macht, dass etwas sich mitteilt. […] Benjamin kennzeichnet diese Unmittelbarkeit des Mediums auch als ›magisch‹.« 7

Wenn Benjamin die Unmittelbarkeit des Mediums als »magisch« bezeichnet, so beschreibt er Formentstehungen, die nicht durch kausale Objektrelationen erklärt werden können, weil sie der symbolischen Konstruktion von Gegenständlichkeit, von objektiver Welt vorausgehen. Magisch ist eine Wirkung, die wir nicht im Rückgriff auf etwas Anderes erklären können. Dennoch erschließt sich uns etwas an ihr, es teilt sich mit. Die Art, wie es sich mitteilt, ist unmittelbar, da nicht durch kausale Relationen zwischen bereits konstituierten Positionen bedingt. Zugleich ist sie vermittelt: im Zwischen als Bereich der Formentstehung, in dem es sich selbst mitteilt, sich ausdifferenziert und entfaltet. Diese »Unmittelbarkeit« Benjamins entspricht den »données immédiates« Bergsons (vgl. Kap. 1). Denn auch diese sind nicht »unmittelbar gegeben« im Sinne einer reinen Präsenz des An sich. Sie sind unvermittelt in dem Sinne, dass sie nicht durch externe Relationen des Verstandes vermittelt werden, sondern umgekehrt die qualitative Grundlage für diese externen Relationen liefern. Die Qualitäten von Bergsons Bewusstsein »teilen sich mit«, indem wir die Welt wahrnehmen. Einen solchen scheinbar paradoxen Prozess des unidirektionalen Sich-Mitteilens sieht auch Cassirer in der Intensität »geistiger Wirklichkeit« und in jeder »Lebenserscheinung«: 6 7

Krämer 2008, S. 41–54. Ebd., S. 48.

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»Gefordert wird ein Teil, der nicht im Verein mit anderen das Ganze erst ›zusammensetzt‹, sondern der, rein in sich selbst verharrend, dennoch bereits das Ganze ›ist‹. Das scheint ein Rätsel und eine Paradoxie: Aber jede Lebenserscheinung und jede geistige Wirklichkeit ist die unmittelbare Lösung dieses Rätsels. Die Welt des Bewußtseins zeigt uns eine Mannigfaltigkeit, in der jedes Glied das andere nicht außer sich hat, sondern intensiv in sich begreift.« (FF 44)

Eine Mannigfaltigkeit, in der jedes Glied das andere intensiv in sich begreift, ist ein dynamisches Ganzes, dessen wichtigste interne Relationalität diejenige der Wechselwirkung ist. Wechselwirkung ist eine der ursprünglichen Bestimmungen des Medialen, vor allem im Hinblick auf seine strukturgenetische Bedeutung, wie sie exemplarisch in der platonischen chôra ausgeführt ist. Im Griechischen ist das triton genus des Medialen auch ein genus verbi, eine Tätigkeitsform zwischen Aktivität und Passivität, die Wechselwirkung von beiden einschließt. Auf diesen grammatischen Ursprung des Medialen hat der Sprachwissenschaftler Émile Benveniste wieder aufmerksam gemacht. 8 Doch die Wechselwirkung spielt nach der platonischen chôra nie wieder eine so bedeutende Rolle in der Metaphysik wie Aktivität und Passivität, die in Form und Stoff zerfallen und fortan während der ganzen Philosophiegeschichte immer einzeln betrachtet werden, wobei die Aktivität besonders in der Philosophie des Subjekts dominiert. Wechselwirkung bleibt als logische Form in Gebrauch, verliert aber ihre mediale Funktion, da sie als Korrelation substantieller Bestimmungen verstanden wird. Kant nennt sie die Kategorie der Gemeinschaft, eine von mehreren Kategorien der Relation, und kennzeichnet sie durch »Wechselwirkung zwischen dem Handelnden und Leidenden« (KrV B 106). Allerdings schreibt er ihr eine »ubiquitäre Gleichzeitigkeit« 9 zu: Ihr Schema ist das der »wechselseitigen Kausalität der Substanzen […] [als] Zugleichsein der Bestimmungen« (KrV B 183 f.). Gleichzeitigkeit bedeutet parallele Positionierung einzelner Punkte, die für Momente oder Intervalle eines linearen Zeitverlaufs gehalten werden, abhängig vom Schema der Substanz, der »Beharrlichkeit des Realen in der Zeit« (KrV B 183). Eine so gedachte »Wechselwirkung« verliert ihr Merkmal der Transformation in rea-

8 9

Vgl. dazu Benveniste 1974. Gloy 1996, S. 86.

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Magie. Ein kleiner Beitrag zur Medienphilosophie

ler Dauer. Dieses Merkmal, ohne das Wechselwirkung keine strukturgenetische Medialität mehr ist, ist Cassirers »intensives […] [B]egreifen«. Medialität philosophisch zu reflektieren bedeutet also, das wechselseitige Umgreifen und Ineinanderwirken dessen zu denken, was die Logik uns als getrennte funktionale Sphären oder Ordnungen darstellt. Das geschieht in der Ästhetik der »inneren Form«, indem die Relation der Intensität aus den Bereichen von Mathematik und Naturphilosophie übertragen wird in den Bereich der Ästhetik. Erfahrung wird dann als ein solches intensives Zusammenspiel von Faktoren innerhalb eines dynamischen Ganzen gedacht, und dieses dynamische Ganze erscheint in der philosophischen Reflexion als Schwemmers mediales »dynamisches System«. In Schwemmers Kulturphilosophie stellt sich Wechselwirkung auf der Ebene der Sprache und der Schrift ein, also der Medien, die der Mensch gebraucht und deren Eigenkonfiguration auch auf ihn zurückwirken und seine Erfahrung prägen. Darum behält Schwemmer auch die »innere Form« der sprachlichen Konfiguration vor, in deren Bereich »sich Bezüge [ergeben], die über das Tatsächliche hinausführen.« 10 Die materielle Eigenkonfiguration der Medien und ihr Einfluss auf die Logik der Artikulation werden bei Cassirer, so findet Schwemmer, im Vergleich zu wenig berücksichtigt. 11 Denn Cassirer interessiert sich viel für die »Reinheit« und »Selbstständigkeit« der Form. Die unterschiedlichen Einwirkungen materieller Transformationen betrachtet er nicht genauer. Doch er weist immer wieder auf ihre Notwendigkeit hin. Seine Philosophie hat den Vorteil einer breiter angelegten ästhetischen Medialität, die reflektiert, wie komplexe Unterscheidungsformen, zum Beispiel die Funktion der Darstellung, mit ursprünglicheren, unbestimmteren Unterscheidungsformen, zum Beispiel der Ausdruckswahrnehmung, in Wechselwirkung treten. Wechselwirkung ist bei ihm allgemeiner angelegt als im Gebrauch symbolischer Medien, nämlich in der ästhetischen Orientierung und Gestaltung des Raumes.

10 11

Schwemmer 2011, S. 106. Vgl. Schwemmer 2005, S. 54.

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1.3. Drei Arten, Medialität zu denken Cassirer, Bergson und Whitehead bringen die Ästhetik sowohl mit der Erkenntnistheorie einerseits als auch mit der Naturphilosophie andererseits in Austausch. Sie unterscheiden und verknüpfen drei Typen von Medialität, die auf die antike Philosophie zurückgehen. – Ästhetische Medialität betrifft den Bereich der sinnlichen Wahrnehmung und den Prozess des Wahrnehmens oder ErscheinenLassens als Prozess der Formentstehung, aisthesis. – Naturphilosophische Medialität betrifft Sein und Werden, Vergehen und Veränderung, reflektiert durch die Relationalität der Materie, sei es als Stoff, Material, Substrat, dynamische Relationalität oder Qualität. – Erkenntnistheoretische Medialität betrifft die Möglichkeiten des intellektuellen Erfassens und Einordnens von Formen in eine kohärente Struktur durch logische, begriffliche, technische oder instrumentelle Vermittlung. Das ist der traditionelle Bereich des Geistes, der »allumfassende[…] geistige[…] Maßstab[…]« (FF 27), der es ermöglicht, überhaupt erst über »direct intuitive observation« (AI 177) hinauszugehen. Hier wird sich als wichtigstes Konzept für die Prozesse der Formentstehung die Übertragung erweisen, gr. metaphorein. In den Arbeiten Cassirers lassen sich diese drei Typen von Medialität besonders klar unterscheiden, und zwar anhand der unterschiedlichen Formtypen. Er beschreibt sie als »verschiedene Straßen, die zu einem gemeinsamen Mittelpunkt führen«, und fügt hinzu, es sei »die Aufgabe einer Philosophie der Kultur, diesen Mittelpunkt ausfindig zu machen und zu bestimmen.« (VM 10) Die »Ausdrucksfunktion« als primäre symbolische Formung in der Sinnlichkeit selbst findet sich ebenso bei Bergson und bei Whitehead. Der Ausdruck wird als unmittelbar wahrgenommen, da die virtuellen Punkte, die ihn zur Artikulation bringen, im Vollzug wieder verschwinden. Cassirer beschreibt den Ausdruck daher als die subjektive Richtung der Gestaltung, während die objektive Richtung durch die Funktion der Darstellung vertreten ist, welche auf das Objekt oder den Gegenstand gerichtet ist. Den Begriff der Darstellungsfunktion übernimmt er von Bühler und Husserl. Doch der Punkt bei seiner Unterscheidung dieser drei »Richtungen« oder »Dimensionen« symboli192 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Magie. Ein kleiner Beitrag zur Medienphilosophie

scher Formung ist ihre Medialität. Denn die Darstellung kann ihren Gegenstand nur durch Figuration objektivieren, und als solche bedarf sie der Ausdrucksfunktion, um ihre »Setzung« (ebd., 261) sinnlich wahrnehmbar zu machen. »Aber über diese Funktion der Darstellung erhebt sich nun noch eine andere und dritte Sphäre, die wir als die der reinen Bedeutung bezeichnen wollen. […] Das Zeichen im Sinne des reinen Bedeutungszeichens drückt nichts aus und stellt nichts dar – es ist Zeichen im Sinne einer bloß abstrakten Zuordnung. Was in ihm festgehalten wird, ist eine wechselseitige Beziehung und Entsprechung, die in ihrem allgemeinen Gesetz erfaßt wird, während wir darauf verzichten müssen, uns die Elemente, die in diese Beziehung eingehen, als selbständigen Bestand, als Inhalte, die außerhalb der Beziehung noch etwas sind und bedeuten, vorstellig zu machen.« (ECW 17, 261)

Zwar unterscheidet sich die Bedeutungsfunktion von der Darstellungsfunktion durch ihre Unabhängigkeit von sinnlicher Anschaulichkeit, doch das bezieht sich auf ihren Inhalt, nicht auf ihre Funktion. Die Darstellung soll uns den Gegenstand vor Augen stellen. In der Bedeutungsfunktion wird das »Objekt« nicht anschaulich, ebenso wenig das »Subjekt«, wohl aber die »Korrelation«, die »wechselseitige Beziehung und Entsprechung«: die Medialität, die Bedingung sowohl der Funktion als auch ihrer Darstellbarkeit ist. Außerhalb dieser Beziehung können wir uns die Elemente nicht zur Darstellung bringen. Erst Ausdruck und Bedeutung gemeinsam, denen die Darstellung als Instrument der Artikulation dient, können die Aufgabe einer Reflexion von Medialität erfüllen, die Herder noch dem Ausdruck zuschrieb: die »Kraft« als Beziehung, als heterogenes »Übergehen des Einen ins Andere, im Hervorgehen des Anderen aus dem Einen« 12 zu denken. »Seine eigentümliche Relevanz erhält es erst dann, wenn wir erkennen, daß bei diesem Nebeneinander verschiedener symbolischer Formen […] diese selbst innerlich verwandelt werden.« 13

Die Funktion der Darstellung ist die artikulierende Funktion des Zeichenhaften, die den ausdifferenzierenden Übergang von der Unmittelbarkeit des Ausdrucks hin zur Bedeutung ermöglicht. Die Bedeutungsfunktion ist die eigentliche Erkenntnistheorie als Reflexion der 12 13

Menke 2008, S. 52. Fetz 1988, S. 186.

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Medialität, die durch Figuration, die methodische Zurichtung des Ausdrucks möglich wird. Hier spielt die Anschaulichkeit der Methode eine ebenso wichtige Rolle wie in der ganzen Geschichte des Formbegriffs: aber »nur« als Vermittlung der Erfahrung, die aus der Ästhetik eine Erkenntnistheorie, ein Prinzip der Kunst und des Wissens schafft. Auf der Stufe der Bedeutungsfunktion tritt das Zeichen selbst erst in Erscheinung als Symbol. Natürlich ist das ein Stufenmodell, doch hat es vom medienphilosophischen Standpunkt aus den Vorteil, dass die Stufen einander nicht ablösen, sich auch nicht ergänzen, sondern einander in realer Wechselwirkung transformieren. Erst auf dem Niveau der Bedeutungsfunktion, das heißt für Cassirer der modernen Physik, können wir die Wirkzusammenhänge der Natur denken, die doch zugleich diesen ganzen Prozess umfassen. Aber eine Bedeutungsfunktion können wir nur denken, indem wir sie uns bildhaft machen, sie in eine Darstellung bringen. Darstellung wiederum ist nichts anderes als eine Tätigkeit der Wahrnehmung, die durch ihre Wechselwirkung mit der Erkenntnis transformiert wird. Wechselwirkung geschieht hier tatsächlich auf allen Ebenen. Die kulturelle und geistige Entwicklung findet nicht durch ein Überspringen oder Umschlagen in eine neue Ordnung statt, auch nicht als Rückdeutung aus der Einheit des objektiven Geistes, sondern als echte Transformation des ästhetischen Lebensbereichs, des Zwischen. Darum verlassen wir in Cassirers Philosophie den Bereich des Mythos auch niemals. Wir transformieren und differenzieren ihn, aber bewegen uns immer noch in ihm. Das mythische Denken ist von Qualitätskomplexen erfüllt, die sich entfalten und sich durch unsere kulturelle und praxisorientierte Aktivität der Deutung bis hin zu den reinen Bedeutungsfunktionen ausdifferenzieren. Aber wir befinden uns immer noch in der mythischen Ausdruckswahrnehmung, die allerdings für unsere Erfahrung differenzierter geworden ist. Das schließt nicht aus, dass bestimmte Formen des Denkens die Deutung der Welt dominieren können, so wie das mythische Denken in Vom Mythus des Staates. Etwas Ähnliches scheint auch in Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung gedacht zu sein, denn auch hier verlässt uns der Mythos niemals, auch wenn die Aufklärung glaubt, ihn abgelöst zu haben. Doch Adorno und Horkheimer arbeiten mit dialektischer Logik, während Cassirer die symbolische Relation aus mathematischer Logik ableitet, die erlaubt, mehr als einen Zustand zugleich in den Blick zu nehmen. Dialektisch gedacht, 194 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

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schlägt der Mythos zurück, nachdem versucht wurde, ihn zu verdrängen. Hier geht es nicht um Wechselwirkung, sondern um ein bipolares Wechselspiel von Dominanzen und letztlich um Identität, wenn deutlich wird, dass auch die Aufklärung nichts anderes ist als eine Form des Mythos. Cassirers mythisches Denken hingegen setzt sich durch, ohne zu verdrängen. Es transformiert und nimmt die Bereiche des Sprechens, Denkens und Bedeutens dabei als Instrumentarien in seinen Dienst. In diesem Sinne ist zum Beispiel Hegels Philosophie des Geistes keine mediale Philosophie der Erfahrung. Denn nur der Geist selbst umgreift hier alle anderen Ordnungen, die sich nur scheinbar von ihm unterscheiden. In der Ästhetik der inneren Form dagegen ist es die Wahrnehmung als Basis des Weltverhältnisses, die alle anderen Ordnungen umgreift und in sich vermittelt, wobei aber eine reale Wechselwirkung zwischen den verschiedenen Ordnungen besteht. Es könnte nämlich gar nichts wahrgenommen werden, wenn unsere Wahrnehmung nicht schon geprägt und gestaltet wäre durch geistige Erfahrungen und sinnliche Einflüsse. Für die Wahrnehmung gibt es sozusagen keine Null-Position, keine tabula rasa. Darum kann die menschliche Erinnerung auch nicht hinter einen bestimmten Punkt zurückgehen, an dem schon ein strukturiertes Weltverhältnis des kleinen Kindes vorhanden ist. Diese Überzeugung, dass Wahrnehmung niemals neutral ist, sondern immer schon geformt, und dass sie gerade darum als ästhetisches Medium für die Entwicklung aller Formen des Denkens, Erkennens und Handelns dienen kann, ist die Grundüberzeugung einer medialen Philosophie der Erfahrung. Die Wirklichkeit ist in diesem Sinne ›in der Erfahrung enthalten‹, aber umgekehrt ist die Erfahrung als Prozess auch Teil der Wirklichkeit. Beide strukturieren sich gegenseitig. Die verschiedenen Formen der Logik können als Gesetzmäßigkeiten gedacht werden, die aus dieser gegenseitigen Strukturierung entstehen. Für eine mediale Philosophie der Erfahrung bedarf es also logischer Instrumentarien, die über Objekt- oder Sprachlogik hinausgehen: die komplexen Verhältnisse zwischen Teil und Ganzem, die in der mathematischen Mereologie behandelt werden, und die Prozesse der situativen Formgestaltung, die zu den Themen der mathematischen Topologie gehören.

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1.4. Mediale Begrifflichkeiten bei Whitehead, Cassirer und Bergson Bergson und Cassirer gebrauchen die Ausdrücke »Medium« oder »Medialität« nur selten. Cassirer nennt die symbolischen Formen Medien in Anlehnung an Optik und Farbenlehre, wenn er ihren »Brechungsindex« thematisiert: Philosophie der symbolischen Formen soll sich »bewußt in dieses Zwischenreich, in dieses Reich der bloßen Mittelbarkeit« begeben, um daran zu lernen, dass »Gedanke und Wirklichkeit […] einander nicht nur in irgendeinem Sinne ›entsprechen‹, sondern […] einander durchdringen«. (PSF III, 1) Die Sprache ist das »Medium […], in dem alles psychologische Fassen und Verstehen sich bewegt«, an welcher Stelle Cassirer auch gleich den Hinweis gibt: »hier kann nur ein Rückschluß vom Geformten zum bildenden Prinzip, von der ›forma formata‹ zur ›forma formans‹ versucht werden.« (ECW 17, 115) Medialität wird bei Cassirer als gemeinsamer Bereich von Formen gedacht, aus denen sich über ihre Gemeinsamkeit im Medium ihres Erfassens Rückschlüsse auf ihr »bildendes Prinzip« ziehen lassen. Bergson gebraucht den Ausdruck »Medium« ähnlich wie Hegel, nämlich kritisch für ein homogenisierendes Schema der Übertragung. Bei Bergson ist das die dreidimensionale Räumlichkeit und die denotative Sprache, bei Hegel ist es ein fälschlicherweise imaginiertes Medium des Erkennens. 14 Bergson bedient sich aber im positiven Sinne einer Vielzahl medialer Begriffe: Zwischen, Zone, Zentrum, Mitte, Vermittlung, Wechselwirkung, gegenseitige Durchdringung, Solidarität, Harmonie und Sympathie. Auch Geist und Leben sind natürlich Konzepte mit einem medialen Charakterzug, ebenso Kraft, élan, und das später von Deleuze aufgenommene Konzept der Virtualität. Nur Whitehead benutzt den Begriff »Medialität« ausdrücklich als philosophischen Reflexionsbegriff. Er bezeichnet die universal

Vgl. Hegel 1988, S. 58: »Oder wenn die Prüfung des Erkennens, das wir als ein Medium uns vorstellen, uns das Gesetz seiner Strahlenbrechung kennen lehrt, so nützt es eben so nichts, sie im Resultate abzuziehen; denn nicht das Brechen des Strahls, sondern der Strahl selbst […] ist das Erkennen, und dieses abgezogen, wäre uns nur die reine Richtung, oder der leere Ort bezeichnet worden.« Diese Kritik greift nicht für die Medialität der symbolischen Formen, deren »Strahlenbrechung« eine reale und dynamische Sinnerzeugung ausmacht und eben nicht vorgibt, ihr Objekt an und für sich selbst unberührt zu lassen.

14

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connectedness aller Dinge als Medialität und Platons Lehre von der chôra als Lehre vom Medium. »Plato enunciates the doctrine that ›action and reaction‹ belong to the essence of being: though the mediation of ›life and mind‹ is invoked to provide the medium of activity. This notion of a medium, connecting the eternality of being with the fluency of becoming, takes many shapes […].« (AI 120)

Medialität ist für Whitehead das Kennzeichen gelingender Prozessphilosophie. Das zentrale Motiv dieser Philosophie ist die Überzeugung, dass Wirklichkeit Verwirklichung ist: »schöpferisches Werden«. Nimmt man die Realität der Veränderung an, so bedeutet Aktualisierung keine Erfüllung vorgefertigter Schemata oder bereits bestehender Wesensformen, sondern die Entwicklung der eigenen, inneren Gesetzmäßigkeiten des Konkreten: der inneren Form.

2.

Die Elemente der inneren Form

2.1. Der Traum vom Ursprung Im Dialog Timaios erzählt Platon eine Geschichte von der Entstehung der sinnlichen Welt als Kosmos. 15 Dabei unterscheidet er das ideelle und ewige Sein vom irdischen und vergänglichen Werden. Es gibt jedoch zwischen diesen beiden Prinzipien ein drittes Prinzip bzw. eine dritte Gattung, triton genus (48e, 52a). Das ist der erste Hinweis auf Medialität: das Dritte zwischen Sein und Werden, das beides umgreift und vermittelt. So wird die chôra eingeführt. (52d2-e1) Chôra ist abgeleitet von gr. choros, Tanzraum, und bedeutet allgemein Umgebung, Platz oder Gegend. Auch als philosophischer Terminus behält sie Konnotationen eines Tanzraums: sie wird zum Bereich chaotischer Bewegungen und Tendenzen der Körper und nimmt ihre Spuren in sich auf. »Da sie aber weder von ähnlichen, noch von im Gleichgewicht stehenden Kräften erfüllt werde, befinde sie sich in keinem ihrer Teile im Gleichgewicht.« (52 e2–5) Sie ist ein schöpferisches Chaos, eine Prä-Strukturierung, eine Art Urmutter von Cassirers »innerer Form«. Die eingeschriebenen Spuren der Bewegungen in die chôra, die als form- und strukturlose Masse beschrieben wird, entwickeln sich 15

Vgl. dazu auch Böhme 2000, S. 297–301.

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dann zu Formen, schêmata des Seienden, die von der chôra Ausdehnung erhalten. Rapp und Horn sprechen von einer »Einprägung« 16 der Spuren, die uns im Zusammenhang mit der symbolischen Prägnanz noch beschäftigen wird (vgl. Kap. 7). Auch die »Tendenzen«, die Richtungen von Bewegungen, die den Tanzraum gestalten, tauchen als »Bestrebungen« und »Spannungen« im Begriff der Intensität wieder auf und spielen für die Entwicklung der inneren Form eine entscheidende Rolle. In der chôra selbst beginnt die Entstehung der sinnlich wahrnehmbaren Formen. In Platons Erzählung ist es der Demiurg, der mittels geometrischer Formen aus den schêmata, also aus der Ausdehnung heraus die Elemente, Feuer, Wasser, Erde und Luft erschafft. Die Elemente treten dann als sinnliche Gestalten aus der chôra hervor. Im Schöpfungsmythos der chôra verbindet sich ästhetische Medialität des Erscheinen-Lassens mit naturphilosophischer Medialität des Werdens und schaffen schon einen Übergang zur Möglichkeit der Erkenntnis, die darin besteht, genau diese Verbindung zu reflektieren. Diese Bedeutungsfelder werden in der Philosophiegeschichte immer wieder auftreten, aber kaum mehr in einer einzigen Erzählung. Platon nennt die chôra »Worin«, gr. hypodoché, das »alles Aufnehmende«, gr. pandechês, und die »Amme des Werdens«, gr. genéseōs tithēnē. Er spricht auch von ihr als »Gebärmutter«, métra, woraus im Lateinischen die »Matrix« wird. Julia Kristeva nutzt den Begriff der »semiotischen Chora« für einen vorsprachlichen Bereich, in dem Spuren physischer Ereignisse für Bedeutungsentstehung latent wirksam sind. Wie Luce Irigaray bezieht auch sie die Chora metaphorisch auf den Leib der Mutter als Raum der Entstehung des Neuen, der weder innen noch außen ist und der erst dadurch zum Raum wird, dass eine lebendige Entwicklung vor sich geht. Irigaray macht deutlich, dass die Überbetonung des aktiven Formbegriffs, die in der Geschichte der Philosophie zu strenger Reinigung von passiver Körperlichkeit und zur Hypostase des Subjekts führt, eine traditionell »männlich« konnotierte Aktivitäts- und Subjektsvorstellung hervorbringt. Der so gedachte Mensch ist ein Mann, aber nur insofern dieser als Standardmodell gilt, denn das philosophische Subjekt ist von jeder Körperlichkeit unabhängig. Rapp, Christoph und Christoph Horn: »Chôra.« In: Wörterbuch der antiken Philosophie. Beck, München 2002.

16

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Was versteckt und verborgen ist, was dunkel bleibt und »latent« wirkt, d. h. so, dass die Wirkungsweise nicht überschaubar ist, was im Inneren des Körpers wächst, bleibt im Reich des Mythos. 17 Die innere Form aber ist gerade darum medial, weil sie dieses Dunkle und Latente, die passive Fülle, die Intensität des verborgenen Wachstums vermittelt mit dem Klaren und Deutlichen der hervorgetretenen Form, von der die philosophische Tradition unter ihrer Doktrin der Sichtbarkeit meint, sie stünde der Erkenntnis zur Verfügung. Darum beschreibt Whitehead Platons chôra als Ursprung der prozessualen Form. »The notions of Harmony and of Mathematical Relations are only special exemplifications of a yet more general philosophic concept, namely, that of the general interconnectedness of things, which transforms the manifoldness of the many into the unity of the one. We speak in the singular of The Universe, of Nature, of physis, which can be translated as Process. There is the one all-embracing fact which is the advancing history of the one Universe. This community of the world, which is the matrix for all begetting, and whose essence is process with retention of connectedness – this community is what Plato terms The Receptacle (hypodoché).« (AI 149 f.)

2.2. Das Problem der »Verdinglichung« Derrida verwahrt sich dagegen, wie es sonst für Kommentatoren des Timaios üblich sei, chôra als Metapher zu verstehen. Er begründet es damit, dass sie sich nicht in einen »Aufenthalt« 18, frz. situation, bringen lässt, da sie es ist, die situiert. Auch Whitehead betont, dass Platons Lehre von der chôra nicht als Metapher oder Allegorie gelesen werden darf. Denn das klassische Verständnis der Metapher nach der aristotelischen Rhetorik ist das einer Figuration, die sich der Bildlichkeit bedient, um rhetorische Evidenz zu erlangen. 19 Etwas soll als ähnlich wie etwas anderes dargestellt werden. Diese Anwendung der Metapher greift auf eine zum Grunde liegende logische Struktur zurück, und das ist meistens die denotative Logik der »Verdinglichung« (Cassirer). 17 18 19

Vgl. Irigaray 1991, S. 46–70. Derrida 2005, S. 16. Vgl. dazu Campe 2007, S. 167.

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Es ist die Verwechslung von Maßbegriffen mit Dingbegriffen, so stellt Cassirer in Zur Einsteinschen Relativitätstheorie fest, die zu unreflektierter Verdinglichung gewisser physikalischer oder metaphysischer Größen führt. So kommen auch Verwechslungen von »Dingen« und »Wirkungen« zustande. In Bezug auf den Äther in der Physik handelt es sich zum Beispiel um eine Verdinglichung der Kategorie der Wechselwirkung, des Medialen. Das ist der logische Fehler des Materialismus, wie er in ähnlicher Form schon durch Leibniz gegen Hobbes formuliert wurde. »Aller Materialismus – und es gibt einen Materialismus nicht nur der eigentlichen ›Materie‹, sondern auch der Kraft, der Energie, des Äthers usf. – geht, erkenntnistheoretisch betrachtet, auf dieses eine Motiv zurück.« (ERT 9)

Für die chôra bedeutet das, dass sie zum subjektiven Ding oder zur Trägersubstanz wird. Solcherart »verdinglicht«, meint Whitehead, wird sie gedeutet in der Ideengeschichte der Emanationslehre. Die parmenideische Fülle des Seins wird hier als gleich oder ähnlich gesetzt einer Weltseele, von der sich die Wesensformen ableiten in Form einer großen Kette der Wesen, der »Great Chain of Beings« (Lovejoy) 20. Diese Kette kann als schematischer Querschnitt des echten Prozesses gedacht werden, in dem aber der Übergang von einer Form zur nächsten durch die Emanation aus einem Prinzip des Seins – als Abbilder – oder einem Prinzip des Werdens – als Produkte – dargestellt wird. Das Prinzip des Werdens wird dann zur »Weltseele« mit der Kraft der Emanation »verdinglicht«. »The World-Soul, as an emanation, has been the parent of puerile metaphysics, which only obscures the ultimate question of the relation of reality as permanent with reality as fluent: the mediator must be a component in common, and not a transcendent emanation.« (AI 130)

Auch Bergson beklagt den Denkfehler, auf Virtualität und Präformation die Logik des bereits Geformten in »allzu groben Bildern« (ZF 7) anzuwenden. Whitehead stimmt ihm zu, wobei er aber bemerkt, dass der Intellekt in diesen Fehler nicht verfallen muss. »This simple location of instantaneous material configurations is what Bergson has protested against […]. I agree with Bergson in his protest: but I do not agree that such distortion is a vice necessary to the intellectual 20

Vgl. Lovejoy 1993.

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Die Elemente der inneren Form

apprehension of nature. […] There is an error; but it is merely the accidental error of mistaking the abstract for the concrete. It is an example of what I will call the ›Fallacy of Misplaced Concreteness‹.« (SMW 50 f.)

Es geht hier also eigentlich darum, Konkretion zu denken. Das bedeutet eine Vermittlung von Konkretion und Allgemeinheit, aber ohne Ausgang von einem vorgefertigten System. Misplaced, sowohl in der Anwendung ›fehl am Platze‹, als falsches Instrument, wie auch innerhalb einer theoretischen Beschreibung ›falsch platziert‹, am falschen Ort, ist die Konkretion in ihrer naiv gesetzten Präsenz, d. h. eigentlich schon, indem man sie überhaupt ›platziert‹ im Sinne einer statischen Setzung. Die eigentliche Vermittlungsfunktion der chôra, die Strukturierung aus der Strukturlosigkeit 21, geht in der Philosophiegeschichte also zunächst verloren. Praktisch gesehen liegt das daran, dass die Funktion des formlosen Substrats bei Aristoteles von der Materie eingenommen wird. 22 Materie hat nicht die Eigenschaft der Selbsttransformation, nur die der Relationalität des Substrats: d. h., der Verbindung von Formen untereinander. Denn alle Qualifikationen der Materie kommen durch die Form zustande und nicht durch ihre eigene Entwicklung. Die in sich selbst relationale hypodoché wird erst im 17. Jahrhundert unter dem Namen der Matrix wieder als präformierendes Schema gedacht. Die Medialität des Aufnehmens dagegen verlagert Aristoteles in den Ort, topos, womit er zwei metaphysische Medialitätskonzepte der chôra, das Substrat und den Ort, trennt und in einzelne, physikalische Medialitätskonzepte aufteilt.

2.3. Die Materie Form und Materie sind auch bei Aristoteles Relationsbegriffe und bezeichnen keine Gegenstände, sondern auf einander bezogene Aspekte von Prozessen. 23 »Unter Materie aber verstehe ich das, was nicht der Wirklichkeit nach, sondern nur der Möglichkeit nach eine In der Bedeutung dieser Funktion sind sich sowohl »kreative« Kommentatoren wie Derrida als auch »wissenschaftlich« orientierte wie Böhme, Rapp und Horn einig: Derrida 2005, Böhme 2000, Rapp/Horn 2002. 22 Aristoteles, Physik 2, 2, 194b9 ff. 23 Vgl. Aristoteles, Physik, 1, 2, 185 a 4 und II, 2, 194 b 9. 21

201 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

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Bestimmtheit an sich trägt.« 24 Die intensive Relation von Materie und Form ist nicht zwei bestimmten Größen äußerlich, sondern ermöglicht erst die Bestimmung der Relata. Die Form bestimmt die Materie, aber die Materie auch die Form: als dynamis ist sie ihre relationale Basis. Die Materie ist hier denkbar weit von einer cartesischen Definition über ihre Ausdehnung, extensio, entfernt. Sie ist weder Körper noch Substanz, noch ist sie ausgedehnt. Im Gegenteil ist die Relation der Bestimmbarkeit eine intensive Relation. Zu dieser Definition der Materie kehrt auch Leibniz zurück, entgegen der Ausdehnungsdefinition des Descartes (vgl. LS 307). Auch die Stoiker halten zwar die Materie für ausgedehnt, aber sie definieren sie nicht, indem sie sie von dem abgrenzen, was nicht ausgedehnt wäre, wie Descartes: »unter einem Körper verstehe ich […], was einen Raum so einnimmt, daß es aus ihm jeden anderen Körper ausschließt.« 25 Dagegen ist für die Stoiker ein Körper etwas, das Widerstand für die Berührung bietet und wirken oder leiden kann, aber nicht aus sich selbst heraus existiert oder andauert und auch keine Eigenschaften hat, also keine Substanz. 26 Das ist ein wichtiger Unterschied, weil unser heutiger Gebrauch des Ausdrucks »Extensionalität«, bezogen auf Objekte, aber auch auf Begriffe, sich an der cartesischen Definition der klaren Unterscheidung durch Abgrenzung zum Nicht-Ausgedehnten orientiert. In ihrer Geschichte als Substrat wird die Materie nie wirklich formlos gedacht. Duns Scotus, Wilhelm von Ockham und Giordano Bruno geben ihr eine eigene Aktualität, derselben medialen Logik folgend, die Bergson formuliert: es sei unmöglich zu denken, wie eine »Materie ohne Form auf [ein] […] Denken ohne Materie« (MG 7) wirken solle. Erst im transzendentalen Idealismus tritt die Materie wirklich als rein logisches Substrat auf, womit sie ihre eigene Aktualität verliert. Diese findet sich parallel zu ihr nur noch in den Kräften, die zu aktiven, subjektiven Vermögen oder Setzungen umgedeutet werden. Mit dem Verlust der Materie als relationale Qualität geht die Hypostase des absoluten Raumes einher. Erst im relationalen Denken

24 25 26

Aristoteles, Metaphysik, 8, 1, 1042 a 28 f. Descartes 2008, S. 51. Seneca, Epist. 117, 7: »quod tangit, corpus est.«

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Die Elemente der inneren Form

der modernen Physik, so Cassirer, geschieht eine Rückbesinnung auf die Bedeutung der chôra, denn nun »tritt an die Stelle des Einen ›absoluten‹ Raumes der Begriff des metrischen Feldes. Und dieses besitzt dem Stoff, besitzt der ›Materie‹ gegenüber keineswegs mehr die gleiche Unabhängigkeit, da es vielmehr erst durch sie bestimmt und konstituiert wird. […] Das ›metrische Feld‹ steht in Abhängigkeit von dem Materiellen, das die Welt erfüllt.« (ECN 1, 22)

Whitehead betont: »The real point is that the essential connectedness of things can never be safely omitted. This is the doctrine of the thoroughgoing relativity which infects the universe and which makes the totality of things as it were a Receptacle uniting all that happens.« (AI 153 f.)

Das Entscheidende für das Medialitätskonzept prozessualer Philosophie ist diese »alles durchdringende« Relationalität. Erst die Mathematisierung durch Leibniz wendet die Medialität der Materie prozessual zur Medialität der Kräfte und ihrer Wechselwirkungen. 27 Auf die dynamische Medialität der Kräfte bei Leibniz beziehen sich Whitehead, Cassirer und Bergson. Die Argumentation funktioniert ungefähr so: Wenn den Formen eine Materie entsprechen soll, muss die Materie als Substrat des Wandels dienen, weil wir sehen, wie Formen sich verändern, die Materie aber bleibt. Wenn es echten und nicht nur scheinbaren Formenwandel geben soll, so muss die Materie in sich qualitativ sein, weil zwischen dem Bleibenden und dem sich Wandelnden eine Verbindung bestehen muss, die über den Wechsel hinaus erhalten bleibt. Eine völlig unbestimmte Materie kann aber keine Wechselwirkung ermöglichen. Als bloßes logisches Substrat wird die Materie auf ihre Funktion als Garant der Stetigkeit (»Beharrlichkeit«) reduziert (KrV B 18). Damit wird sie allerdings entbehrlich, wie Ernst Mach und mit ihm Cassirer argumentieren, denn Stetigkeit kann durch »gesetzmäßige Zusammenhänge« 28, das heißt, durch relationale Invarianten repräsentiert werden.

27 28

Vgl. dazu Möckel 2005, S. 27 ff. Mach 2008, S. 270 f.

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2.4. Das Kontinuum und der Ort Die naturphilosophische Forderung nach Stetigkeit, gr. syneches, stammt aus der Fülle des Seins, die im »Lehrgedicht« des Parmenides beschrieben wird. Das absolute Sein, gedacht in der vollkommenen Form der Kugel, ist ein unteilbares Ganzes der Materie. Denken und Sein fallen zusammen: gr. tó hólon bedeutet »das Ganze« sowie »das Wesen« in einem kontinuierlichen Zusammenhang. 29 Demokrit von Abdera setzt dagegen den leeren Raum und die diskontinuierliche Struktur der Atome. 30 Daraus ergibt sich natürlich das uralte physikalische Problem des Vakuums. Aristoteles sucht diesen Konflikt aufzulösen, indem er Kontinuum und Diskontinuum in eine Stetigkeit von Übergängen bringt. Zenon von Elea hatte die Stetigkeit der Bewegung als eine Folge von Einzelmomenten gedeutet, wobei er in die Paradoxe der immanenten Unendlichkeit gerät: der endlos teilbare Moment kann nicht überschritten werden. Aristoteles leugnet diese Zusammengesetztheit des Kontinuums aus einzelnen Momenten 31, weil man dann eigentlich das Kontinuum als Diskontinuum denkt, in dem die Lücken zwar verschwindend klein sind, aber dennoch eine strukturlogische Notwendigkeit bilden. Die zenonischen Paradoxien zeigen, dass man so kein Kontinuum hat. Das Stetige selbst kann nur als Verlauf gedacht werden, der in sich nicht teilbar ist. Aristoteles’ Lösung, das Stetige als eines zu denken und ihm doch die Möglichkeit der Struktur zu erhalten, ist die Bindung des syneches und damit auch der Bewegung, gr. kinesis, an die Erfahrung. In diesem Verhältnis zur Erfahrung ist das Kontinuum nichts Gegebenes, sondern ein Ereignis, das Kontiguität, also Berührung voraussetzt. Stetigkeit »liegt dort vor, wo die sich berührenden Enden der beiden Gegenstände zur völligen Identität verschmelzen und also, wie der Name sagt, die Gegenstände zusammenhängen. Das ist nicht möglich, solange die beiden Grenzen noch als zwei auseinanderzuhalten sind. Diese Definition macht deutlich, daß ein stetiger Zusammenhang nur zwischen solchen Gegenständen besteht, die zu einem einzigen einheitlichen Gegenstand werden.« 32

29 30 31 32

Vgl. dazu Geyer 1995, S. 81 ff. Vgl. dazu Böhme 2003. Vgl. Aristoteles, Physik 6, 231 a 21 ff. Aristoteles, Physik 5, 227 a 10 ff.

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Die Elemente der inneren Form

Mit dieser Überlegung avanciert das Kontinuum zum wichtigsten ästhetischen und naturphilosophischen Medialitätskonzept. Es wird zu einem dynamischen Prozess der Strukturierung und überwindet so die alte Dichotomie zwischen Fülle und Leere, zwischen Unteilbarkeit und einzelnen Punkten bzw. Intervallen. Das gestaltet die Vorstellung von Raum und Zeit neu. Dingbegriffe und Maßbegriffe, so auch die Möglichkeit, Raum und Zeit zu messen und die Dinge in Raum und Zeit anzuordnen, können nicht als natürliche Folge von Einheiten angesehen werden. Sie werden von Konkretionen abgeleitet, die individuelle, qualitative Relationen zur Erscheinung bringen. So entsteht der Raum durch Metrisierung aus dem Ort. Der Ort, gr. topos, wird von Aristoteles »etwas wie ein Gefäß« 33 genannt, aber nicht in dem Sinne einer »Containertheorie« 34, wie Einstein die newtonianische Theorie vom dreidimensionalen Raum bezeichnet hat. Einsteins Kritik bezieht sich auf die unreflektierte Abstraktion der Metrisierung, die den Raum verdinglicht, ihn mit einer Art Schachtel verwechselt. Das Problem stellt sich für den aristotelischen Ort nicht. Das »Gefäß« des Ortes hat keine festgelegten Dimensionen, es wird konstituiert durch das, was »in« ihm geschieht und wahrgenommen wird – durch intensive Relationalität. Verlässt ein Tier beispielsweise seinen Ort, so bleibt der Ort zurück. Nimmt etwas anderes den Ort ein, verändert er sich in einer Hinsicht, bleibt aber in einer anderen gleich. Der Ortsbegriff ist von Anfang an ein Konzept des Heterogenen.

2.5. Die realen Relationen Grundideen der mathematischen Topologie nach Leibniz, Gauß und Listing sind in dieser aristotelischen Theorie des Ortes bereits enthalten. 35 Metrisierung ist eine Abstraktion aus konkreter Lokalisierung, und die Quantität, die sich messen lässt, wird als Größe erst durch eine Unterteilung gewonnen, die die Erfahrung tätig vornimmt. Aristoteles, Physik 4, 208 a 27 ff., »etwas […] wie ein Gefäß«: 209 b 30. Vgl. Einstein 2008, S. 92 ff. 35 Der alte naturphilosophische Gegensatz von Kontinuum und Diskontinuum wird in der Quantenfeldtheorie, die auf Riemann zurückgeht, zum prozessual strukturierenden Kontinuum, das beide in einer »Einheit der Natur« (Riemann) versöhnen soll. Vgl. dazu Heuser 2007, S. 197. 33 34

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»Ein durch Faulheit geprägtes Verhältnis zur Mathematik«, schreibt Michel Serres, »führt zu der Ansicht, in der Geometrie sei der Raum stets mit einer Metrik oder gar einem Maß verbunden.« Stattdessen betrifft Topologie »sämtliche Realitäten ohne Maß, aber mit Relationen.« 36 Diese Realitäten ohne Maß, aber mit Relationen finden wir in der Scholastik beschrieben als »reale Relationen«. C. S. Peirce schreibt: »A real relation subsists in virtue of a fact which would be totally impossible were either of the related objects destroyed; while a relation of reason subsists in virtue of two facts, one of which only would disappear on the annihilation of either of the relates.« 37

Als real relation bezeichnet Peirce die intensive oder qualitative Relation, ohne die ihre Relata nicht das wären, was sie sind. Sie können nur gemeinsam existieren, weil sie als Gemeinsames existieren, und bedürfen daher medialer Verknüpfung. Die relation of reason indessen kann eine extensive Relation sein, eine äußerliche Beziehung, die selbst erst aus der definitorischen Abgrenzung der Relata stammt und die Relata darum prinzipiell unverändert lassen muss. Reale Relationen sind zwar unumkehrbar und betreffen beide Relata, nicht nur das Geschaffene, sondern auch das Schaffende, nicht nur das Material, sondern auch die Form. Aber zugleich sind sie als »vorsymbolische[…] Ereigniszusammenhänge« 38 die Basis jeder symbolischen Relation. Die wirkende Intensität von etwas ›Vorsymbolischen‹ kann natürlich nur im Rückblick aus der Symbolisierung bestimmt werden, also aus den Formen der Artikulation oder Unterscheidung, die den wirkenden Zusammenhang zum Ausdruck bringen. Ebenso wie die Ordnung des Raumes ist also auch die Folge der Zeit abhängig von diesen wirkenden Zusammenhängen, die als Basis der Symbolisierung dienen. Dazu schreibt Cassirer: »Raum und Zeit sind keine Substanzen, sondern vielmehr ›reale Relationen‹ ; sie haben ihre wahrhafte Objektivität in der ›Wahrheit von Beziehungen‹, nicht an irgendeiner absoluten Wirklichkeit.« (MR 415)

Diese zuvor von substantieller Metaphysik überlagerte Implikation des aristotelischen Denkens, so argumentieren Cassirer und White-

36 37 38

Serres 2005, S. 67. Peirce 2000, S. 177. Wiehl 2000b, S. 45 (in Bezug auf die realen Relationen bei Whitehead).

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head, wird durch die mathematische Topologie und die Physik im 19. und 20. Jahrhundert entwickelt. Die Entwicklung der »inneren Form« der Ästhetik ist so mit einer Mathematisierung der Naturphilosophie verknüpft. Formbildungskräfte und ihr Zusammenspiel mit subjektiven Vermögen werden thematisch. »Jeder Punkt des physischen Raumes kann jetzt ›seine‹ Metrik haben, ohne daß doch diese unendlich-vielfältigen Bestimmungen auseinanderfallen, ohne daß die Möglichkeit aufgehoben wird, sie in ihrer Konkretion und ihrer Individualität zu einer gesetzlichen Einheit zusammenzuschliessen.« (ECN 1, 22)

Der Analytische Philosoph A. R. Lacey 39 wundert sich über Bergsons Verwendung von Intensität als qualitative Relation, nicht als Größe. Aber die intensive Relation, die Formen oder Qualitäten in einem Prozess hervorbringt, hat eine viel ältere Tradition bei den Stoikern sowie in der neuplatonischen Emanationslehre. Die neuzeitliche Tradition der Intensität als Größe geht auf die intensive Realität bei Leibniz zurück. Sie wird bei ihm erst berechenbar durch Projektion auf die Anschauung, d. h. durch intellektuelle Vergegenwärtigung. Nach Leibniz wurde Intensität entweder als graduelle Skalierung, als Maßeinheit gedeutet wie in der Physik und der Analytischen Philosophie, oder als ein Komplex »innerer« Relationen und Prozesse, wie in der Romantik. 40 Der Entwicklung dieser Projektion, der Intensitätsfigur als skalierender Größe im 18. Jahrhundert, aber auch als dynamischer Kraft wie bei Novalis und Herder hat Erich Kleinschmidt ein Buch gewidmet. Er nennt sie eine Denkfigur, die »Wahrnehmung und Darstellung nicht an das Prinzip von statischen Aus- und Einschlüssen bindet, sondern sie energetisch in gradual verfassten Übergängen dynamisiert.« 41 Den prozessphilosophischen Zusammenhang dieser dynamis zwischen qualitativer Mannigfaltigkeit und intensiver Relation arbeitet er allerdings nicht heraus, obwohl er sich nicht erst bei Bergson, sondern schon bei Leibniz und Herder finden lässt. 42 Lacey 1989, S. 3. Zu beiden Denkfiguren vgl. Kleinschmidt 2004, zur Intensität in der Romantik S. 70 ff. 41 Kleinschmidt 2004, S. 11. 42 Auch zu Heideggers Philosophie meint Safranski: »Eigentlichkeit ist Intensität, 39 40

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5 · Im Zwischen. Innere Form als mediales Konzept

3.

Intensität und schöpferische Kraft. Von den Stoikern zu Leibniz

3.1. Spannung Reale oder intensive Relationen werden in der vorneuzeitlichen Naturphilosophie als Kräfte gedacht, und zwar als solche, die wir »poietische« oder schöpferische Kräfte nennen können. Die »passive Kraft« nach Aristoteles stammt aus der Materie und ihrer Verbindung des Geformten mit allen Dingen; die aktive oder schöpferische Kraft liegt für ihn auf der Seite der Form, diese nennt er dynamis tou poiein. 43 Die Stoiker verwandeln die Kraft zur realen Relation: Die Kraft ist selbst die Verbindung von Stoff und Form. Daraus ergibt sich die Bedeutung der Wechselwirkung bei den Stoikern als »gegenseitiger Durchdringung« oder concretio, in der Präsenz und Wirkung zwei Aspekte desselben Prozesses sind. Die Konkretion taucht hier auf als eine Einheit, die ihre eigene interne Gesetzlichkeit entwickelt, als ein dynamisches Ganzes, also genau das, was Cassirer später eine »innere Form« nennen wird. Für die Stoiker ist jede Kraft poietisch, d. h. aktiv und schöpferisch. Eine Kraft ist immer zugleich die wirkende Ursache. Die Materie allein kann nicht wirksam werden, daher gibt es keine passive Kraft. Es gibt auch keinen Impuls und keine Trägheit, denn eine Veränderung oder ein qualitativer Zustand koexistieren mit ihrer Ursache. 44 Die Art aber, wie Gottes Wirken Bewegungen und Eigenschaften bewirkt oder verändert, ist von der Stofflichkeit nicht zu trennen: Nur Stoffliches kann wirken und bewegt werden. Das geschieht über Kontraktion und Expansion, also über Spannungsbewegungen. Poietische Kraft »wendet« die Materie, ruft Ortswechsel und Richtungstendenzen hervor. 45 Sie ist eine Kraft prozes-

nichts anderes.« Safranski 2003, S. 196. Doch Eigentlichkeit hat nicht die kontingente, qualitative Differenz, die in Intensitätskonzepten bei Bergson, Cassirer und Whitehead entfaltet wird. Entschlossenheit und Entwurf sind aktive, letztlich subjektive Setzungen. Darum fehlt der Intensität als Eigentlichkeit die mediale Vermittlung mit Passivität. 43 Aristoteles, Metaphysik 9, 1, 1046 a 20. 44 Vgl. Wildberger 2006, S. 38. 45 Vgl. ebd., S. 62 ff.

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Intensität und schöpferische Kraft. Von den Stoikern zu Leibniz

sualen Gestaltens und darf nicht als Verschmelzen des eidos (Form) mit einer hylé (Stoff) gedacht werden. 3.1.1. Spannkraft Bei Chrysipp und Seneca ist die Spannung, gr. tónos, lat. intentio, zunächst eine intensive Relationalität der Elemente. So hat z. B. das Feuer hohe Spannung und Kohärenz, während Erde nahezu spannungslos, atona ist. Was hohe innere Kohärenz hat, kann nicht passiv von außen bewegt werden, sondern reagiert auf äußere Einflüsse durch erhöhte Eigenbewegung. Spannung löst also innerhalb einer Wechselwirkung auch Tätigkeit und Bewegung aus. Sie ist Kraft und Widerstand, zugleich Festigkeit und Beweglichkeit. Seneca nennt zum Beispiel Luft ein »einheitliches, gespanntes Kontinuum.« 46 Eine ganz andere Art von Einheit bildet dagegen die Dichte, etwa der Erde oder eines Steins. Sie ist durch extensive Relationalität bestimmt: eine fixierte, unbewegliche Form. Den Stein kann man leicht zerstückeln, er hat keine intensiven Relationen: keine Spannkraft. Seine Einzelteile sind homogene Brocken eines Steins. Kant definiert die Dichte als »Grad der Erfüllung eines Raums von bestimmtem Inhalt.« 47 Ihr Gegensatz ist die Leere oder das Vakuum. Noch heute bedeutet Extension in der Mathematik und der begrifflichen Logik, über einen bestimmten Inhalt wohl definiert, genau abgegrenzt zu sein. In diesen Zusammenhang gehört Bergsons »Verdichtung«, die Kontraktion von Wirkzusammenhängen in Bildern, Vorstellungen und Tätigkeitsfeldern. Wenn es sich um eine Verdichtung der wirklichen Wahrnehmung handelt, dann hat sie zwar einerseits eine klare, bildliche oder begriffliche Extension, aber dennoch zugleich die »innere[…] Spannkraft« (DSW 75) der Intensität. Sie ist ein Vorgang der Prägnanzbildung. So lässt sich Bergsons Zusammenspiel von Wahrnehmung und Ausdruck beschreiben, das Cassirers Einheit von Präsenz und Repräsentation entspricht. Präsenz ist qualitative, intensive Spannkraft, Repräsentation ist Verweisung durch extensionale Relation zu anderen Realitäten. Diese Verweisung ist es, die dann auch die »Einfügung« in einen Sinnzusammenhang ermöglicht.

46 47

Ebd., S. 73. Kant 1957, S. 86.

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»[D]ieser Spannungsunterschied mißt ganz genau den Abstand zwischen dem physikalischen Determinismus und der menschlichen Freiheit, indem er gleichzeitig ihre Polarität und ihre Koexistenz erklärt.« (DSW 75)

Eine Einheit, die wie der Stein aus extensiver Relationalität heraus fixiert ist, kann als Ergebnis einer Formung angesehen werden, als Produkt von Kräften, die diese unbewegliche Form zusammengefügt haben. Intensive Relationen sind dazu nicht unbedingt notwendig. Eine Einheit dagegen, die durch intensive Relationen im Sinne der Spannkraft gekennzeichnet ist, erhält damit per definitionem sowohl räumlichen als auch dauerhaften Charakter. Sie kann sich als Einheit behaupten. Sie ist zwar veränderbar, löst sich dadurch aber nicht auf. Sie ist flexibel. Man kann sie nicht in einzelne Teile zerbrechen, die einander homogen bleiben würden: wird sie zerstört, können vielleicht neue Individuen entstehen, aber diese wären ihr dann heterogen. Diese individuelle Einheit kann sich aber auch so vollständig wandeln, dass sie zugleich dasselbe und etwas ganz anderes ist. Eine solche Einheit nennt Bergson mit den Stoikern eine heterogene und kontinuierliche Mannigfaltigkeit. Wenn sich diese Einheit als Einheit durch intensive Relationalität formt und erhält, kann sie auch nicht durch äußere Verhältnisse erschöpfend beschrieben werden. Sie zeichnet sich durch das aus, was Cassirer die immanente Gliederung nennt. Durch ihre Qualitäten schafft sie selbst die Modalität ihrer Beschreibung. Ihre Teile lassen sich als Elemente unterscheiden, indem sie im Verhältnis zu ihrem Ganzen stehen.

3.1.2. Spannungsbewegung In diesem Verhältnis von Teil und Ganzem liegt einerseits ihre Deutung, also die Möglichkeit, sie in sinnhafte Bezüge zu bringen; andererseits ihre Wirkung: die immanente Gliederung ist dynamisch und strebt nach Veränderung. Die zweite stoische Bedeutung von Spannung ist die intensive Relation als ›Spannungsbewegung‹, die bei Leibniz zu Tendenz und Streben wird. Die Spannung selbst ist formlos: sie besteht in und zwischen den Formen. Aber die aus ihr erwachsende Spannungsbewegung bewirkt Ausdehnung und Abgrenzung, also Prägnanz. Sie bringt eigenständige, qualitative Formen hervor, sie erzeugt die immanente Gliederung einer kontinuierlichen Mannigfaltigkeit. Sie bringt auch indi210 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Intensität und schöpferische Kraft. Von den Stoikern zu Leibniz

viduelle Organismen hervor, deren Organe zwar eigene Bewegungstendenzen haben, aber zugleich in die Spannungsbewegung des ganzen Organismus eingebunden sind. 48 Für die Stoiker ist der Kosmos ein solcher Organismus. In diesem Sinne können wir bei der intensiven Relation also von Eigengesetzlichkeit oder Eigenkonfiguration sprechen, denn die Regel der Konfiguration geht aus der inneren Gliederung ihres Ursprungs hervor. Es gibt also zwei miteinander verknüpfte Arten intensiver Relationen: die der qualitativen Kohärenz in einer Einheit, und die der qualitativen Veränderung in einem dynamischen Ganzen. Die Relationalität dieses Ganzen ist nicht nur immanent gegliedert, so dass ihre Relata als Qualitäten nur durch und mit einander bestimmt werden können. Sie ist gerade dadurch intensiv in einem zeitlichen Sinne, nämlich dass weder die Relata der Relation, noch diese ihnen vorhergehen kann. Erst durch die Verknüpfung beider Intensitätsbeziehungen erhalten wir eine »innere Form«, die sich entwickelt und dabei doch erkennbar bleibt.

3.2. Intensive Realität Die Stoiker beschreiben die Welt als Organismus, als Sympathiekosmos. Diese Vorstellung von einem kosmischen Lebensprinzip der Naturphilosophie zieht sich bis in die Renaissance, wie Cassirer an den Beispielen von Paracelsus, Bruno und Leonardo darstellt (EP II). Ein dynamisches Schema für die Erfahrung kann dieser Sympathiekosmos nicht leisten. Denn dazu bedarf es der Medialität der Übertragung, durch die das Ereignis über seine Wirkung auf die Wahrnehmung zum Ausdruck wird. Der mythisch geprägte Begriff des »Lebens« oder des »Lebendigen«, der das kontinuierliche Werden und sympathische Wirken der Natur verbildlichen soll, bleibt eben eine mythische, eine bildhafte und äußerliche Beschreibung und kann die Erfahrung des Lebendigen nicht reflektieren. Leibniz dagegen, so Cassirer, mathematisiert das lebendige Individuum 49, wobei er zunächst die Wirklichkeit über die Begriffe von Kraft und Raum dynamisiert. 48 49

Vgl. Wildberger 2006, S. 84 ff. Vgl. dazu Möckel 2005, S. 29 f.

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5 · Im Zwischen. Innere Form als mediales Konzept

»Ich begann jedoch allmählich zweifelhaft darüber zu werden, ob ein Wesen in der Art, wie man den Raum denkt, in der Natur vorhanden ist, woraus sich auch der Zweifel an der absoluten Bewegung ergab […] Es schien hieraus zu folgen, daß alles Reale und Absolute in der Bewegung nicht in dem besteht, was – wie die Veränderung der Lage gegen die benachbarten Körper – an ihr rein mathematisch ist, sondern in der bewegenden Kraft selbst.« (LS 470 f.)

Nachdem Leibniz diese bewegende Kraft als Dynamik in der Physik identifiziert hat, indem er sie als intensive Größe fixiert, »die nur von dem (Anfangs- und) Endzustand des Systems, nicht aber von der Art des Übergangs abhängig ist« (LS 299), definiert er sie als »intensive Realität, Tendenz und Streben«, womit eine logische Funktion gemeint ist: »daß in dem einzelnen Moment des Realen zugleich die Bedingungen seiner Veränderung mitzudenken sind.« (LS 300) Wir erkennen hier die scholastischen »realen Relationen« wieder als »intensive Realität«. Die Bedingungen der Veränderung liegen in einem gerichteten Spannungsverhältnis, das Leibniz mit »Tendenz« – von intentio – benennt und das zwar ein Streben auf die Veränderung zu impliziert, jedoch fragil und beeinflussbar ist: Die Veränderung tritt keinesfalls notwendigerweise ein, andere Kräfte können sie hindern oder umlenken, und auch ihre Bedingungen selbst sind veränderbar. Das ist gerade, was sie »real« macht: ihr Ausgesetztsein, ihre Wechselwirkung mit anderen Realitäten, die als Wirkungen zu betrachten sind und noch nichts mit einer Realität im Sinne einer Ordnung von Objekten zu tun haben. Bergson definiert Wirklichkeit auch als »Tendenz […], Richtungsänderung in statu nascendi« (DSW 211). Cassirer beschreibt die qualitativen Richtungen, die zur Metrisierung des mythischen Raumes führen, ebenfalls als Tendenzen. Als Ausdruck dieser logischen Funktion, im »Moment des Realen zugleich die Bedingungen seiner Veränderung mitzudenken«, führt Leibniz den Begriff der Tätigkeit ein. Vor dem Hintergrund von Cassirers Verständnis der aristotelischen energeia lässt sie sich auch in diesem Zusammenhang als Realisierung deuten im Sinne der Erzeugung intensiver Relationen. Sie bringt Verknüpfungen hervor, nicht Inhalte; aber Verknüpfungen, die selbst wirkend sind, also reale Relationen. Das heißt, die Realität von Tendenz und Streben besteht darin, sich umzuwandeln. Intensive Realität ist notwendigerweise Veränderung, auch wenn das Ergebnis nicht im Voraus feststeht. 212 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Intensität und schöpferische Kraft. Von den Stoikern zu Leibniz

Die intensive Realität als Veränderung bringt Leibniz mit dem mathematischen Kontinuum zusammen, das die Relation einer übergeordneten Einheit (Integral) zu den ihr zugeordneten Intervallen (Differential) durch die Infinitisemalmethode in eine mathematische Skalierung bringen soll. Die Formwerdung der intensiven Realität wäre also berechenbar, in diesem Sinne auch vorhersehbar: insofern sie kontinuierliche Bewegung ist, können wir sie durch eine Methode anschaulich machen und sie, wie Bergson sagen würde, in den Raum projizieren. Aber der Zweifel am absoluten Raum ergibt bei Leibniz, im Gegensatz zu Descartes, auch einen Zweifel an der absoluten Bewegung: die eleatische Aporie tut sich auf. Es darf keine einzelnen Punkte des Kontinuums geben, aber auch keine Intervalle, überhaupt keine diskreten Einheiten. Wenn die Wirklichkeit nicht nur eine Ansammlung bereits vorgefertigter Formen sein soll, verbunden durch absolute Größen, kann das Kontinuum der realen Bewegung als intensive Realität nur eine Formwerdung für die Erfahrung sein. »Es ist zunächst klar, daß die aktuelle Unendlichkeit der Teile nicht ihre gesonderte, an sich vorhandene Existenz bedeuten kann. Die Materie und ihre Bestimmungen sind als reine Phänomene charakterisiert. Somit ist auch die unendliche Teilbarkeit nicht als Eigenschaft absoluter Dinge behauptet, sondern als ein Prinzip für die Auffassung der Erscheinungen.« (LS 310)

Diese leibnizsche Definition intensiver Realität, die die aktuelle Unendlichkeit der Teile als Prinzip für die Auffassung der Erscheinungen deutet, nutzt auch Kant: »Alle Erscheinungen überhaupt« bezeichnet Kant als »continuierliche Größen, sowohl ihrer Anschauung nach als extensive oder der bloßen Wahrnehmung (Empfindung und mithin Realität) nach, als intensive Größen.« (KrV, B 212)

Als »kontinuierliche Größen« vereinen die Erscheinungen eine Relation, nämlich die der Stetigkeit, mit der Qualität ihrer Erscheinung. Die hier gemeinte Anschauung oder intellektuelle Vergegenwärtigung 50 deutet die Stetigkeit als extensive Größe, also mittels einer

Diese Anschauung Kants als intellektuelle Vergegenwärtigung entspricht ungefähr Cassirers Repräsentation als Einordnung in einen Sinnzusammenhang, vgl. Schwemmer 1997a, S. 91.

50

213 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

5 · Im Zwischen. Innere Form als mediales Konzept

extensionalen Relation. Als auffassendes Prinzip kann sie die Erscheinungen als aktuelle Unendlichkeit denken, indem sie sie durch eine Regel verknüpft, nämlich die Methode des Infinitesimalen. Die Empfindung aber durchlebt dieselbe Stetigkeit als intensive Größe. Sie ist Realität, weil sie selbst zur Qualität der Erscheinung gehört und beiträgt, statt sich diese in der Anschauung zu vergegenwärtigen. Ohne diese Realität der Empfindung gäbe es auch nicht die Anschauung als Prinzip der Sinnlichkeit (das natürlich bei Kant logisch gesehen a priori ist, aber dennoch bekanntlich »mit der Erfahrung anhebt«). Die intensive Realität als Größe bei Kant ist die der Kohärenz in einer Einheit: der prozessualen Einheit der Empfindung. Die intensive Relation beschreibt eine Entstehung von Qualitäten. Erst durch diese können verschiedene intensive Einheiten, wie zum Beispiel Empfindungen, mit einander in wirkende Relation gebracht werden. Leibniz hatte ursprünglich auch die Intensität selbst als mathematische Größe gedacht, von Descartes beeinflusst (LS 13 ff.). Für Descartes sind sowohl diskrete Vielheit als auch Stetigkeit Größen, magnitudo in genere, (LS 16) und beide berechenbar. »Groß sein aber und eine Größe sein sind ganz verschiedene Begriffe (magnitudo und quantitas)«, (KdU, B 80) bemerkt Kant, für den die unendliche Größe des Erhabenen natürlich auch keine quantitas bedeutet, wohl aber als Wirkung auf die Einbildungskraft, die sie nicht komprehensieren kann, die ihrer magnitudo entsprechende Intensität entfaltet. (KdU, B 91 ff.) Mit der Analysis situs geht Leibniz hinter die messbaren Größen der allgemeinen Mathematik zurück »auf das qualitative Moment, das sich in ihnen darstellt« (LS 131). Das ist die Grundlage sowohl für das nicht metrische Verständnis von Raum und Räumlichkeit, also für die mathematische Topologie, als auch für die oben zitierte Definition der Kraft als »intensive Realität, Tendenz und Streben«.

3.3. Leibniz und die Entwicklung eines dynamischen Schemas Die Rede von der intensiven Realität betrifft also bei Leibniz und Kant eine Einheit der Form für die Erfahrung, verstanden als Prozess. Cassirer resümiert:

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Intensität und schöpferische Kraft. Von den Stoikern zu Leibniz

»Das Desiderat der Einheit […] stellt das tiefere Problem einer Identität, die im Wechsel sukzessiver Zustände sich erhält. So bedeutete uns die Kraft den Ausdruck für die Einheit eines Prozesses.« (LS 313)

Als Ausdruck für die Einheit eines Prozesses ist die Kraft sowohl Möglichkeit des intensiven Übergangs als auch die intensive Bewegung selbst. Bei Leibniz entsteht das »Prinzip für die Auffassung der Erscheinungen« aus dieser Bewegung. Es ist kein Prinzip eines transzendentalen Schematismus, sondern entsteht, wie die Metrik des Raumes, dynamisch: aus einer relationalen Wechselwirkung von Qualitäten. Materialität ist ein wirkender Faktor in dieser relationalen Logik, dynamis eines Formbildungsprozesses. Leibniz schreibt, »[…] daß es nicht möglich ist, die Prinzipien einer wahrhaften Einheit in der bloßen Materie oder in dem Passiven zu finden, weil hier alles nur eine Ansammlung oder Anhäufung von Teilen bis ins Unendliche ist.« 51

Materie ohne Form ist nicht nur eine unwirkliche Abstraktion, sondern auch für das Denken nutzlos. Die Materie einer Formbildung muss daher in sich bereits relational sein. Für Cassirer ist bei Leibniz die »neue geistige Einheit« (FF 24) zu finden. Dort sei sogar das »charakteristische Doppelverhältnis« der deutschen Philosophie »am reinsten […] ausgeprägt« (FF 25), nämlich das zwischen dem »Fortgang im Tun«, den gestaltenden Kräften des Philosophierens selbst, und ihrer Reflexion auf die eigenen Grundlagen (ebd.). In diesem Doppelverhältnis sind zwei Formbegriffe miteinander vermittelt: die Tätigkeit, energeia, insofern sie aus der Gestaltung heraus als gestaltende Kraft und damit als eigenständige Form identifiziert werden kann; und das Prinzip der Gestaltung, das ihr zu Grunde liegt. Die vollständige Erklärung der relationalen Dynamik von Kräften sieht Cassirer erst in der Leibnizschen Metaphysik, da er für die Monadologie ein »inneres Prinzip« fordert, eine Einheit der Wirkungen, in die nichts Äußeres einströmen könnte. Leibniz’ Monaden sind dynamisierte Substanzen, ihr »inneres Prinzip« die dynamisierte Entelechie. Als Prinzip kann es nur in der medialen Verknüpfung mit der Eigenkonfiguration der »Ereignisse« und »materiellen Gestaltungen« analysiert und reflektiert werden, die in einer kontinuierlichen »Ent-

51

Leibniz 1924d, S. 448.

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5 · Im Zwischen. Innere Form als mediales Konzept

wicklung« entstehen und in eine »Gesamtreihe« schematisiert werden. »Nun aber gibt es auch eine Betrachtung, die […] nach dem Grunde der Bestimmung der Gesamtreihe selbst fragt. Und hier erweist sich denn dasjenige, was zuvor als eine bloße Sukzession materieller Gestaltungen erschien, als Ausprägung einer organischen ›Form‹, die in den späteren Bildungen reiner und klarer als in den früheren heraustritt. Was zuvor als gleichmäßiger Ablauf von Ereignissen galt, das weist jetzt eine bestimmte Richtung, eine ›Entwicklung‹ zu einem Ziele hin, auf. Denn alles ›Äußere‹ deutet auf ein ›Inneres‹, alle Notwendigkeit der Gesetze auf die Freiheit ursprünglicher schöpferischer Kräfte zurück, in welcher sie erst ihre vollständige Erklärung findet.« (FF 47 f.)

Die Einheit der Wirkungen wird als Tätigkeit definiert: »die Tätigkeit des inneren Prinzips […] kann als Streben bezeichnet werden«. 52 Diese Tätigkeit ist weder ein aktives Vermögen zu wirken, noch die Wirkung selbst, sondern eine intensive, dynamische Relation zwischen Vermögen und Wirkung. So definiert Herder die Kraft als vermittelnde Konstellation intensiver und extensiver Relationen: »In allem, was Kraft ist, lässet sich Innigkeit und Ausbreitung unterscheiden.« 53 Kraft als inneres Prinzip ist eine Entelechie sinnlicher Tätigkeit, die Neugestaltung eines Ganzen in einer neuen Ordnung, der keine Norm oder allgemeine Formel vorausgeht. Sie entspricht Bergsons »intime[r] Organisation von Elementen« (ZF 78). Leibniz nennt sie ein relationales Verhältnis im Zwischen, das durch innere Erfahrung vorgestellt wird. 54 Intensive Realität lässt sich damit immer auf ein einheitliches, nicht abstraktes, sondern ihr eigenes Prinzip der Entstehung zurückbeziehen. Die Relation zwischen Einheit und Vielheit, dem Ganzen und seiner »immanenten Gliederung«, ist nichts anderes als die Entstehung von Qualitäten. Die subjektive Form Whiteheads, die Kontraktion Bergsons und die Prägnanz Cassirers sind solche intensiven Realitäten, ebenso die symbolische Relation, »die sich weder in eine Dingbeziehung noch in eine Kausalbeziehung umdenken läßt. Hier gibt es ursprünglich weder ein Innen und Außen, noch

52 53 54

Leibniz 1924d, S. 445. Herder 1994b, S. 390. Vgl. Leibniz 1926, S. 145–147.

216 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Intensität und schöpferische Kraft. Von den Stoikern zu Leibniz

ein Vorher oder Nachher […], hier waltet ein […] sinnerfülltes Ganzes […] das sich selbst interpretiert.« 55

Die »Immanenz«, »Innigkeit«, »Intimität« oder »Innerlichkeit« der »inneren Form« leitet sich also nicht aus räumlichen Vorstellungen von »Innen« und »Außen«, sondern aus der Dynamik der Intensität her: aus dem Gegensatz der intensiven, qualitativen, realen Relationen und der extensiven, schematisch darstellbaren Relationen. Mit dem Intensitätsbegriff steht das dynamische Schema der Erfahrung in der Tradition einer Ästhetik des Gefühls. »Der Kräftekomplex, der den ästhetischen Zugang zur Welt gewährleistet, wird von Cassirer mit Hamann und Herder ›Gefühl‹ genannt.« 56 Eine zweite relevante neuzeitliche Tradition ist die einer Ästhetik des Geschmacks nach Hume und Shaftesbury. Beide bieten mediale Alternativen an zum schematischen Vermittlungskonzept des analogon rationis bei Baumgarten. In Shaftesburys Ästhetik findet Cassirer den Doppelcharakter der »inneren Form« wieder, die kein Abbild der äußeren Form oder systematische Anleitung zu ihrer Entstehung ist, sondern »gestaltende Kraft und geistig-leibliche Gestalt«. Als solche berührt sie sich mit der »organischen Form« der Ästhetik Schleiermachers und der »inneren Form« Wilhelm von Humboldts.

3.4. Die Leibniz-Lektüren Die Leibniz-Lektüren stellen ein wesentliches Bindeglied zwischen Bergson, Cassirer und Whitehead dar. Cassirer sieht Leibniz’ Philosophie als den Beginn des Deutschen Idealismus an, dem er sich selbst zurechnet. Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen (1901) ist seine erste Publikation, bei der Lauschke die »ästhetische Vorgeschichte« der Philosophie der symbolischen Formen ansetzt. 57 Für Bergson spielt Leibniz ebenfalls eine zentrale Rolle, die sich (da Bergson sich zu seinen Quellen selten selbst äußert) durch eine Paraphrase Cassirers am besten auf den Punkt bringen lässt:

55 56 57

Krois 1995, S. 63. Lauschke 2007, S. 57. Ebd., S. 25 ff.

217 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

5 · Im Zwischen. Innere Form als mediales Konzept

»Der Ausgangspunkt des Leibnizischen Denkens liegt […] in dem Nachweis, daß der Inhalt der reinen Geisteslehre und der der reinen Körperlehre […] völlig getrennten Dimensionen angehören. Die ›Perzeption‹, die als Faktum der inneren Erfahrung jedem unmittelbar zugänglich ist, läßt sich aus mechanischen Gründen, aus Größe, Gestalt und Ortsveränderung nicht ableiten.« (FF 38 f.)

Bergsons selbst erklärter »Dualismus« zielt auf die Vermittlung dieser »getrennten Dimensionen«, ohne sie mit einander zu verwechseln. Wie Whitehead entwickelt er seine Prozessphilosophie als Philosophie des Organischen, insofern organischer Formenwandel eine Eigendynamik aufweist, die sich nicht auf ein Aggregat, eine neue Summe von bereits bekannten Teilen reduzieren lässt, sondern es erlaubt, Formentstehung als Entstehung des Neuen zu reflektieren. Dazu muss die »innere Form« des gestaltenden Prinzips mit der »äußeren Zweckmäßigkeit« verbunden werden: der medialen Verknüpfung durch reale Relationalität der wirklichen Ereignisse untereinander. Es ist das Verständnis dieser »äußeren Zweckmäßigkeit« (Bergson), das die Leibniz-Deutungen Bergsons und Whiteheads auf der einen und Cassirers auf der anderen Seite von einander unterscheidet. Aus Cassirers Sicht besteht die Errungenschaft der Philosophie Leibniz’ in einem Verständnis des natürlichen, organischen Wirkens und Werdens durch die Erfahrung des eigenen Selbst. Das heißt also, eine Erkenntnistheorie auf Basis der Ästhetik. Die Individualität und Eigengesetzlichkeit des Naturprozesses wird nach dem Vorbild der Individualität der Person verstanden und gestaltet. »Jener Akt der ›Apperzeption‹, in dem wir unser Ich zuerst finden, erschließt uns zugleich eine neue Form der Gewißheit […] und einen neuen Inbegriff von Erkenntnismitteln, kraft deren wir fortschreitend die Welt des Wirklichen als einen Organismus der Vernunft entdecken und umfassen.« (FF 51)

Cassirer sieht bei Leibniz also schon die Argumentation Kants in Bezug auf die Organismus-Analogie in der Kritik der Urteilskraft angelegt. Er schreibt auch Kant diese Entdeckung eines »Organismus der Vernunft« zu, einer Figur, die die funktionale Wechselwirkung zwischen ästhetischer und erkenntnistheoretischer Medialität zum Ausdruck bringen soll. Bergson und Whitehead kehren diese Sicht auf Leibniz insofern um, als sie die Analogie zwischen geistiger Tätigkeit und natürlicher Entwicklung als idealistische Ableitung der letzteren aus der ersten 218 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Intensität und schöpferische Kraft. Von den Stoikern zu Leibniz

sehen, die gerade nicht dazu geeignet ist, den ›schlechten‹ Dualismus, also die cartesische Trennung der Substanzen zu überwinden. Beide geben daher Spinoza den Vorzug vor Leibniz, während Cassirer bei Leibniz den wesentlichen Medialitätsgedanken sieht, der Spinoza fehlt: »Spinozas Logik wie seine Ethik tragen die Züge des Naturalismus. Leibniz hingegen bewährt in seinem Entwurf der ›Scientia generalis‹, der seine Philosophie von Anfang bis zum Ende begleitet, den Gedanken, der seinem System eigentümlich und wesentlich ist. Dies Allgemeine, das er sucht, soll das Besondere nicht zum Verschwinden bringen, sondern es in seiner selbständigen Bedeutung bestehenlassen und begründen.« (FF 28)

Dagegen wendet Bergson ein: »Bei Spinoza stehen die beiden Reihen Denken und Ausdehnung wenigstens prinzipiell auf gleicher Stufe, sind also zweierlei Übertragungen eines selben Originals […]. Und diese beiden Übertragungen […] werden hervorgerufen, ja gefordert von jenem Original selbst […]. Für Leibniz dagegen ist zwar die Ausdehnung auch noch eine Übertragung; das Original aber ist das Denken, und dieses könnte auf die Übertragung verzichten, die nur für uns gemacht ist. […] Mit einem Worte, Leibniz weicht von Spinoza dahin ab, daß er den universalen Mechanismus als einen Aspekt faßt, den die Realität für uns annimmt, während ihn Spinoza zu einem Aspekt macht, den die Realität für sich selbst annimmt.« (SE 353 f.)

Diese Argumentation lässt sich so deuten, dass Bergson den Ursprung der Medialität im reflektierten Naturalismus sieht, Cassirer aber im Geist als Prinzip des Denkens selbst. 58 Bergson und Whitehead halten »das Denken« für ein Formbildungsereignis unter anderen. Diese Variante von »Denken« kann nicht mit dem gleich gesetzt werden, was Cassirer »Geist« nennt; und auch wenn Bergson von »Geist« spricht, denkt er dabei nicht an Intellekt oder Bewusstsein. Cassirer sieht in Leibniz’ »Begründung des Besonderen« eine reflektierte Medialität, eine Funktionalität als Basis modaler Formen der Wirklichkeit, und das ist genau, was Bergson und Whitehead von ihm fordern. Man muss natürlich bedenken, dass es hier nicht um die korrekte oder angemessene Leibniz-Interpretation gehen kann, sondern nur um die Bedeutung und Wirkung der Lektüren auf das je eigene Den58

Vgl. Möckel 2005, S. 45.

219 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

5 · Im Zwischen. Innere Form als mediales Konzept

ken. Während Cassirer ein Leibniz-Gelehrter war, der im Detail genau wusste, wovon er schrieb, ist im Falle Whiteheads alles Mögliche zu befürchten, zum Beispiel, dass er gar nicht Leibniz, sondern »nur« Couturat gelesen haben könnte. In unserem Kontext ist das glücklicherweise irrelevant. Eher lässt sich eine Grundrichtung der Interpretation herausarbeiten, die auf einer Grundüberzeugung dessen beruht, wie Vermittlungsformen entstehen. Auch Whitehead bemängelt an Leibniz’ Philosophie eine Füruns-Perspektive, ironischerweise eine Perspektive, die ihm selbst oft unterstellt wird. Kann unterscheidet drei Hauptkritikpunkte Whiteheads an Leibniz: die Ableitung der Materialität vom Geist, wie Bergson im eben angeführten Zitat; die Knüpfung der Monaden an Bewusstseinsvorgänge, ebenfalls wie Bergson; und die Skepsis gegenüber dem Begriff der Substanz als Träger von Qualitäten. 59 Letzteres Argument wendet er auch auf Spinoza an: seine eigene philosophy of organism soll die Modi von ihrer Abhängigkeit von der Substanz befreien, so dass kein Bezug auf einen höheren Grad des Realen mehr nötig wäre. »Spinoza’s ›modes‹ now become the sheer actualities; so that, though analysis of them increases our understanding, it does not lead us to the discovery of any higher grade of reality. The coherence […] is the discovery that the process, or concrescence, of any one actual entity involves the other actual entities among its components. In this way the obvious solidarity of the world receives its explanation.« (PR 6 f.)

Trotz Kritik nennt Whitehead Leibniz als Quelle für die philosophy of organism. Er unterscheidet zwei widersprüchliche Positionen, die er Leibniz zuschreibt: »One was that the final real entity is an organising activity, fusing ingredients into a unity, so that this unity is the reality. The other point of view is that the final real entities are substances supporting qualities. The first point of view depends upon the acceptance of internal relations binding together all reality. The latter is inconsistent with the reality of such relations.« (SMW 155)

Die organising activity, in der sich intensive Relationen zu einer Einheit verbinden und zugleich in Beziehung mit der Realität als dynamisches Ganzes setzen, stimmt mit Cassirers Leibniz-Deutung überein. Die Realität dieser Relationen wird durch die Mathematisierung 59

Kann 2001, S. 205 f.

220 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Das Dritte zwischen Ausschließung und Teilnahme

von Kräften gezeigt, die keine substanzabhängigen Qualitäten sind: keine passiven, sondern poietische Kräfte. Die Reflexion dieser Kräfte wird möglich in dem, was wir das dynamische Schema der Erfahrung nennen wollen.

4.

Das Dritte zwischen Ausschließung und Teilnahme

4.1. Vom mythischen Bild zur symbolischen Relation Für den Sympathiekosmos der Stoiker und die Naturphilosophie der Renaissance gilt die wechselseitige Durchdringung der Naturprozesse als ausreichend, um Wirklichkeit zu denken. Dieses Wirklichkeitsbild bleibt mythisch, denn es gibt keine wirkliche Verbindung zur Erfahrung und damit auch keine Unterscheidung des Wirklichen und Unwirklichen. Der platonische Demiurg stellt ein mythisches Bild der Wirklichkeitsveränderung dar: einen Handwerker, der manuell eingreift und die Dinge schafft. Das stoische pneuma hat als lenkender und bewegender Geist eine materielle und bildhafte Funktion. Auch das ist misplaced concreteness. Denn in einem reinen Sympathiekosmos (darin besteht auch Cassirers Vorwurf der Unmittelbarkeit an die Lebensphilosophie) fehlen die Medialität des Symbolischen, die Reflexion des Ausdrucks und die innere Form des Individuums. Für die Cassirer-Forschung ist Konsens, dass Cassirer diesen Fehler vermeidet. Er übernimmt die intensive Medialität von Sympathie und Leben, die aber mit der Medialität der symbolischen Formung zu intensiver Realität verbunden wird. So entsteht das Leben des Geistes. Auch die symbolische Relation stammt aus intensiver Unbestimmtheit, geht aber durch Intensitätsbeziehungen mittels des Zeichens zur Bestimmung über. Sowohl gegen Bergson als auch gegen Whitehead wird der Vorwurf der Unmittelbarkeit jedoch erhoben, sei es durch die Forschung oder durch zeitgenössische Kommentatoren. So erklärt Cassirer zum Beispiel Bergsons Lehre von der Intuition zur »radikalste[n] Absage gegen den Wert und das Recht jeder symbolischen Formung« (PSF III, 42) 60, womit er sich allerdings auf eines seiner verschiedenen 60

Vgl. dazu auch Möckel 2005, S. 254 ff.

221 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

5 · Im Zwischen. Innere Form als mediales Konzept

Konzepte symbolischer Formung bezieht, nämlich auf die funktionale Symbolisierung von Wirkzusammenhängen. Cassirer deutet Bergson als einen Anhänger der Unmittelbarkeit, für den jede Anwendung des Mittelbaren verstellend und verfälschend sei. Das aber greift zu kurz, wie wir gesehen haben. Bergson kritisiert in erster Linie eine Neigung der Metaphysik und der Wissenschaft, das Mittelbare für Unmittelbares zu halten, die ziemlich genau Whiteheads fallacy of misplaced concreteness entspricht. Instrumente, Kalküle, Symbole und Zeichen dürfen und müssen benutzt werden. Aber ihre zurichtende, homogenisierende Funktion muss reflektiert werden. Das ist genau, was Cassirer tut: die ganze Philosophie der symbolischen Formen kann als eine Reflexion auf die Funktion von Symbolen und die Bedeutung dieser Funktion betrachtet werden. Bergson selbst führt eine solche elaborate Reflexion nicht durch, denn ihn interessiert das Andere des Funktionalen, das Heterogene. Dennoch lässt sich eine Übereinstimmung, trotz unterschiedlicher Ausführung, der drei Philosophen zu diesem Thema zeigen. Ihre Einigkeit besteht in dem zentralen Gedanken, dass sowohl homogene wie heterogene Übertragungsformen in der Erfahrung und dem die Erfahrung reflektierenden Denken eine Rolle spielen. Bergson übernimmt gerade nicht den Sympathiekosmos der Stoiker als Kosmos, sondern als durée. Sympathische Durchdringung und intime Organisation kennzeichnen die Kohärenz der durée; schon die Wahrnehmung aber (vgl. MG) und umso mehr die organische und physische Welt (vgl. SE) stellen eine Vielfalt intensiver Realitäten dar. Sie sind medial verknüpfte durées, die mit ihren unterschiedlichen »Rhythmen« und »Tonarten« für komplexe Relationen von Ausdruck, Bezugnahme und Bedeutung sorgen. Diese werden zur Basis für symbolische Relationen. Bergsons philosophische Intuition ist keine unmittelbare Anschauung des Gegebenen, sondern eine Erfahrung, die zu einem komplexen Prozess des Denkens anregt und sich geistiger Ausdrucksformen bedienen muss. Bergson verbleibt also nicht in der Unmittelbarkeit mythischer Naturphilosophie, sondern reflektiert die Entstehung der Erfahrung in einem dynamischen Schema und die Modalität ihrer Formen, die Cassirer »symbolisch« nennt. Er beschäftigt sich mit der Symbolisierung selbst kaum; doch er leugnet nicht ihre Notwendigkeit und nähert sich ihr über die Formen von Ausdruck und Reflexion. 222 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Das Dritte zwischen Ausschließung und Teilnahme

4.2. Prozess denken Für Whitehead müssen wir eine noch umfassendere Umkehrung der Perspektive annehmen. Whiteheads Kosmos ist kein Organismus. Es gibt weder ein solches Ding wie den Kosmos, noch ein solches Ding wie den Organismus. Die Denkfiguren der modernen Physik, die das Kontinuum als medial Strukturiertes anlegen und die Cassirer sich nach und nach aus der Geschichte der Mathematik erarbeitet, stellen für Whitehead bereits die Ausgangsposition dar. Wie Bergson übt Whitehead eine Sprachkritik, die häufig missverstanden wird als die Behauptung, es sei generell unmöglich, klare Aussagen in Alltagssprache zu formulieren: »In the first place, the fact that Whiteheadian unrepeatable entities can only be described in token-reflexive statements means that we shall never, ever, be able to describe any such entity other than, perhaps, ourselves.« 61

Das ist ein Missverständnis. Die actual entities sind individuell, konkret, und in diesem Sinne »unwiederholbar«, und sie lassen sich nicht durch einfache Ding-Referenz, durch objektive Gegenständlichkeit zum Ausdruck bringen. Aber das bedeutet nicht, dass sie nicht zu beschreiben wären. Die Vermutung, wir könnten höchstens »uns selbst« zum Ausdruck bringen oder, objektiv gesprochen, nicht einmal das, geht an Whiteheads Sprachkritik vorüber. Natürlich kann über actual entities gesprochen werden, nichts anderes tut Whitehead. »Uns selbst« zum Ausdruck zu bringen ist aber gerade nicht durch einfache Referenz möglich, und »wir selbst« »sind« auch keine actual entities. Um Whiteheads Sprachkritik zu verstehen, müssen wir Bedeutung nicht als Referenz, sondern aus einer Logik der Übertragung heraus verstehen. Das beginnt damit, die Verknüpfung der actual entities untereinander zu denken als Prozess. Zwar haben alle Ereignisse, »das einzig Wirkliche im Universum«, eine »subjektive Form«, einen Aspekt der prehension, des Erfassens. Aber keinesfalls bedeutet das eine mythische Vorstellung von der Beseeltheit des Kosmos oder eine Analogie dieser subjektiven Form zum Subjekt. Im Gegenteil argumentiert Whitehead, dass sowohl die mythischen Vorstellungen als auch das subjektive Prinzip der Philosophie des Idealismus aus einem umgekehrten Anthropo61

Rorty 1989, S. 144.

223 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

5 · Im Zwischen. Innere Form als mediales Konzept

morphismus folgen: der Verdinglichung der Strukturen des Wandels, die als Strukturen der Erfahrung aufgefasst werden. Lebendige, bewusste Erfahrung ist ein spezieller Fall von intensiver Relation. Nicht jede prehension ist bewusst, aber es ist notwendig, einen Vorgang des Wirkens als Erfassen zu denken, um überhaupt echte Veränderung denken zu können. Für Ausdruck und Bedeutung gilt dasselbe: die symbolischen Relationen unseres Geistes sind Entfaltungen von Relevanz-Beziehungen, die in den Ereignissen selbst liegen, insofern diese für uns erfahrbar werden. Erfahrung steht bei Whitehead immer in einer intensiven Relation zur Wirklichkeit. Dann wird sie Basis für Erkenntnis, Verstehen und Ausdruck. In den Kapiteln zur Kosmologie in Adventures of Ideas beschreibt Whitehead die Medialität der chôra als kosmologische Basis der Medialität von Leben und Geist (AI 120). Sie ermöglicht es durch ihre mathematische Präformation, die Naturgesetze als der Natur selbst immanent zu denken, was die Atomlehre nicht kann. »[T]he Atomic Theory of Epicurus lends itself most readily to a fusion of the Doctrines of Imposition and of Description.« (AI 122) Sie sei der zweiwertigen Logik von Sein und Nichts, von Setzung und Ableitung verpflichtet. Funktion und Gestalt können nach Platon als mediale, prozessuale Entwicklungen gedacht werden, nach Epikur aber nur als Zufallsverteilung: »The paths of the molecules can be ascribed to mere chance. They are random distributions, each path being entirely disconnected from any other path, and each continuation of one path being unconditioned by the earlier portion of the same path.« (AI 123)

Diese Beschreibung ist sinngemäß dieselbe, die Bergson gebraucht für die Funktion des Intellekts, einen Verlauf in Intervalle zu zerteilen und diese zu einem gedachten Punkt der Zeit ins Verhältnis zu setzen (DSW 26). So erhält man eine Naturbeschreibung der reinen Struktur, aber ohne Kontinuität oder innere Form, und damit ohne Medialität, ohne Möglichkeit der Vermittlung. Denn das eigentliche Dritte von Ausschließung und Teilnahme ist nicht der Mythos (Derrida), sondern der Prozess: das Werden zur Form.

224 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Kapitel 6 Das dynamische Schema »Aber nun begibt sich das Wunder, daß diese einfache sinnliche Materie durch die Art, in der sie betrachtet wird, ein neues und vielgestaltiges geistiges Leben gewinnt.« (Ernst Cassirer)

1.

Die »innere Form« als Selbstorganisation

1.1. Orientierung im Raum Im prozessualen Denken Bergsons, Cassirers und Whiteheads bleibt die Reflexion der Erfahrung nicht auf ein Integral von Daten beschränkt, berücksichtigt aber die Formung der Erfahrung als Modalität. Zugleich wird der Aspekt der Entwicklung wieder in die Philosophie der Erfahrung eingebracht. Damit erhalten wir ein dynamisches Schema der Erfahrung: die Entwicklung eines Prinzips des Erfassens von kontingenten Ereignissen der Wirklichkeit. Auch die naturphilosophische Medialität von Sein und Werden befreit sich auf der Stufe der Bedeutungsfunktion vom naiven Naturalismus, da sie ja als »wechselseitige Beziehung und Entsprechung« reflektiert wird, als »Werden zur Form«. So wird auch sie zur Entwicklung einer »inneren Form«, die zugleich in gegenseitiger Abhängigkeit mit anderen Prozessen der Wirklichkeit steht. Die Abgrenzung der inneren Form bedeutet die Wahl einer erkenntnistheoretischen Perspektive, die sich durch nichts anderes behaupten kann als durch die Kohärenz eines dynamischen Schemas, das ihr zu Grunde liegt. Die »innere Form« einer Gestaltung des Lebens setzt Cassirer gegen die »äußere Form« einer Gestaltung des Werks. Innere Form ist nicht nur, wie man zunächst meinen könnte, das »Eigene« einer Form oder gar das »Innere« eines Subjekts, sondern bezeichnet das Prozessuale als Selbstorganisation: kontingente Ereignisse in stetiger Wechselwirkung, die Strukturierung ergeben. Die »äußere Zweckmäßigkeit« (Bergson) als Medialität der wirklichen Ereignisse, die einander beeinflussen, muss in diese »innere Form« einbezogen wer225 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

6 · Das dynamische Schema

den. Ein Prozess der Strukturierung kann so zugleich als Selbstorganisation und als wirkliche Veränderung gedacht werden. Auch in diesem allgemeineren Gebrauch der inneren Form als Selbstorganisation kann man also durchaus mit Schwemmer sagen, dass von innerer Form, ja überhaupt von Form erst gesprochen werden soll oder kann, wenn die Bezüge dieser Form über ihre reine faktische Existenz hinausweisen. 1 Für denkende und sprechende Menschen stellt sich dieses Hinausweisen immer in sprachlicher oder zeichenhafter Form dar. Aber das, worauf es hinausweist, ist die reale Veränderung selbst. Es liegt gerade in der Selbstorganisation der inneren Form, dass sie für die Erfahrung darstellbar wird, aber ihre Realität ergibt sich nicht erst rückwirkend aus ihrer Darstellbarkeit. Der Aspekt des Sinnhaften ist in Bezug auf qualitative Relationen vom Aspekt des Wandels nicht zu trennen, und darum sind es diese Relationen, die »reale« Formveränderung ergeben. Die Kontingenz des Wirklichen erhält ihre erste Ausdrucksform durch räumliche Orientierung, und zwar zunächst im mythischen Ort und seinen Richtungen. Die Modalität der Form entwickelt sich mit und durch Konzeptionen vom Raum. Kants Text »Was heißt: sich im Denken orientieren?« benutzt Cassirer, um zu beschreiben, »[…] wie alle Orientierung mit einem sinnlich gefühlten Unterschied […] beginnt – wie sie sich sodann in die Sphäre der reinen, der mathematischen Anschauung erhebt, um zuletzt zur Orientierung im Denken überhaupt, in der reinen Vernunft aufzusteigen.« (PSF II, 110)

Für Cassirer steht der perspektivische Aspekt von Raum und Form im Vordergrund. Hier dominiert die räumliche, figurale Darstellung, die Tradition der intellektuellen Anschauung. Aber er leitet die Raumstruktur als sinnliche von einer »Sinnfunktion« ab, die für alle Aspekte der sinnlichen Erfahrung offen ist, nicht nur für den distanzierten Blick. »Der Raum besitzt nicht eine schlechthin gegebene, ein für allemal feststehende Struktur; sondern er gewinnt diese Struktur erst kraft des allgemeinen Sinnzusammenhangs, innerhalb dessen sein Aufbau sich vollzieht. Die Sinnfunktion ist das primäre und bestimmende, die Raumstruktur das sekundäre und abhängige Moment.« (MR 419)

1

Vgl. Schwemmer 2011, S. 106.

226 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Die »innere Form« als Selbstorganisation

Gerade in der mythischen Wahrnehmung bei Cassirer sind der Ort und die Richtungen (Tendenzen), die die Orientierung unterscheidet, atmosphärisch aufgeladen. »Ihr ganzer Gehalt, ihr Sinn, ihr spezifischer Unterschied hängt von dieser Qualität ab.« (MR 420) Die daraus folgende Raumkonzeption setzt Cassirer zwar schon in der Renaissance an, doch sie findet erst durch und nach Leibniz ihre philosophische Reflexion der Räumlichkeit als Produkt von Metrisierung. Diese Entwicklung führt schließlich zum physikalischen Wirklichkeitsverständnis von Raumzeit-Kontinuum und QuantenMechanik. »In die Frage nach dem Wesen der Form kann […] erst Klarheit kommen, wenn zuvor die Vorfrage nach dem Wesen des Raumes und der räumlichen Darstellung gestellt und geklärt ist. […] Spinnen wir die Analogie zwischen dem erkenntnistheoretischen und dem ästhetischen Problem weiter aus, so erscheint vielleicht die Hoffnung berechtigt, daß gerade das Raumproblem zum Ausgangspunkt einer neuen Selbstbesinnung der Ästhetik werden könne.« (MR 412 f.)

1.2. Strukturierung durch Dynamik von Teil und Ganzem Die Selbstbesinnung der Ästhetik auf Basis des Raumproblems schließt ein Verständnis von Relationalität ein, das der Dreidimensionalität des Räumlichen und dem Unterschied von Innen und Außen vorausgeht. Die intensive Dynamik dieser Relationalität kann auch als Dynamik eines Ganzen und seiner Teile gedacht werden, deren Verhältnis sich wandelt und so neue Strukturen erzeugt, d. h. ein jeweils neues, aber bewegliches Ganzes. Aktiv und passiv können die Elemente hier jeweils in unterschiedlichen Funktionen sein. »This basic situation […] as a whole is active with its inherent creativity, but in its details it provides the passive objects which derive their activity from the creativity of the whole. The creativity is the actualization of potentiality, and the process of actualization is an occasion of experiencing. Thus viewed in abstraction objects are passive, but viewed in conjunction they carry the creativity which drives the world. The process of creation is the form of unity of the universe.« (AI 179)

Die gestaltende Kraft äußert sich immer in einer neuen Relation zwischen Teilen und Ganzem, woraus folgt, dass sich jeweils ein neues Ganzes, eine neue Konkretion ergibt. Dieses neue Ganze steht immer 227 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

6 · Das dynamische Schema

in kontinuierlicher Verbindung mit einem oder mehreren anderen Ganzen, aus denen es entsteht oder von denen es sich abgrenzen lässt. Was sonst subjektiv und objektiv, aktiv und passiv genannt wird, wird zu wirkenden Faktoren in diesen Wandlungen zu neuen Einheiten. »Teil« und »Ganzes« hat hier eine ähnliche Bedeutung für die Erfahrung wie bei Leibniz, der Stufen der Erkenntnis danach unterscheidet, ob ein Ganzes erkannt, als Ganzes wiedererkannt, oder auch als Ganzes in Bezug auf alle seine Teile analysiert werden kann. 2 Denn er geht nicht davon aus, dass wir nur ein Prinzip und eine Anzahl von Elementen kennen, die entsprechend zusammengesetzt werden, sondern davon, das wahrgenommene Ganze durch seine Teile erschließen und ein Prinzip folgern zu können. Bergson, Cassirer und Whitehead dynamisieren dieses Vorgehen der Erfahrung noch weiter: nicht das »Ganze« eines Gegenstandes ist entscheidend, sondern das Ganze der Prozesse, die seine Gegenständlichkeit ausmachen. Zu diesem dynamischen Ganzen gehören die Form und ihre Entwicklung, ihre wirkenden Elemente, und das Prinzip ihres Zusammenwirkens. »Diese Wechselbeziehung, keineswegs aber die ›Form‹, das noetische Moment allein, ist es, worauf alle Beseelung und ›Begeistung‹ beruht.« (PSF III, 231.) In Kants Kritik der Urteilskraft wird diese Wechselbeziehung analog zum Organismus verstanden. Ein räumliches »Außen« des Organismus wäre nicht zu bestimmen, da dieses, wie die beiden Substanzen des Descartes, binäre Relationen erfordern würde. Wir können die äußeren Grenzen vom Inneren des Körpers leicht unterscheiden, wenn wir diesen Körper als dreidimensionales physikalisches Objekt betrachten; nicht aber, wenn wir ihn als lebendigen Organismus ansehen, der in vielfältigen und komplexen Austauschbeziehungen mit seiner Umgebung existiert und sich in diesem Sinne stets in prozessualer Bewegung befindet. »Der Unterschied zwischen Innen und Außen«, so resümiert Bergson, »läuft so auf den Unterschied zwischen Teil und Ganzem hinaus.« (MG 33) Die Rede vom »Organismus« bezieht sich also immer auf ein Ganzes, das durch Verknüpfung von logischen Strukturen mit der kontinuierlichen Veränderung von Qualitäten eine Einheit bildet, deswegen aber nicht einheitlich sein muss als Substanz oder Gegenstand in der Welt. Betrachtet man sie als Gegenstände, dann »sind« Sinnzusam2

Leibniz 1924a, vgl. dazu auch Adler 1990, S. 4 ff.

228 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Die »innere Form« als Selbstorganisation

menhänge Organismen: selbstorganisierte komplexe Ganzheiten. Dieses Organismus-Modell ist ein Beispiel für Whiteheads fallacy of misplaced concreteness (SMW 51), also die Verwechslung von Abstraktem und Konkretem. So formuliert Uexküll 1913 in einem Text über die räumliche Orientierung des Individuums: »Kant hat uns gelehrt, dass unsere Seele ein Organismus ist. […] Bei jedem lebenden Organismus finden wir drei Grundelemente, die nach einem gemeinsamen Plane ineinandergreifen. Das sind 1. die dauernden Strukturteile, 2. die wirkenden Kräfte, 3. die äußeren Eindrücke.« 3

1.3. Analogie verstehen: Organismus und Werk Damit verfehlt er eine Pointe von Kants Organismus-Analogie. Kant erklärt, dass wir den Organismus seiner Zweckmäßigkeit wegen als System deuten, statt ihn für ein Aggregat zu halten. Funktionalität wird aus relationaler Geschlossenheit abstrahiert, die zugleich eine Offenheit für Wirkungen in nicht-mechanischem Sinn ist. Deleuze schreibt zu Bergson: »[N]icht das Ganze schließt sich nach dem Bild eines Organismus zusammen, umgekehrt, der Organismus öffnet sich auf ein Ganzes hin und wird zum Bild dieses virtuellen Ganzen.« 4

Der Organismus ist als konkreter störbar, beeinflussbar und wandelbar. Er hängt in seinem Funktionieren von seiner Umgebung ab. Er ist kontingent, denn er hat sich entwickelt und vergeht auch wieder. Insofern er aber als Organismus funktioniert, kann er als zweckhaftes System im Wechselspiel seiner Elemente beschrieben werden. Kant gibt für den Organismus eine mediale Definition als »das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist. Nichts an ihm ist umsonst, zwecklos, oder einem blinden Naturmechanism zuzuschreiben.« (KdU, B 296)

Die reflektierende Urteilskraft geht nicht naiv vor: Sie weiß, dass sie sich ein Modell entwirft. Für Kant ist »die Natur für unser Erkenntnisvermögen zweckmäßig« 5, insofern sie sich überhaupt erkennen

3 4 5

Uexküll 2006, S. 85. Deleuze 2001, S. 132. Emundts 2001, S. 504.

229 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

6 · Das dynamische Schema

lässt. Es wird jedoch nicht postuliert, dass sie an und für sich zweckmäßig sei. »Genau zu reden hat also die Organisation der Natur nichts Analogisches mit irgend einer Kausalität, die wir kennen.« (KdU, B 294) Dina Emundts weist in ihrer Rekonstruktion des Arguments 6 darauf hin, dass die reflektierende Urteilskraft auf eine empirische Grenze stößt, jenseits der sie keine objektive Gültigkeit des Urteils mehr sichern kann. Sie bleibt subjektiv. Das aber bedeutet, sie bleibt der Konkretion verhaftet: der jeweiligen Gelegenheit (occasion), zu der sie urteilt. Die Zweckmäßigkeit bietet ihr dafür ein regulatives Prinzip, das wie jedes kantische regulative Prinzip aus Vernunftgründen selbst gewählt wird. Daher verstehen wir den Organismus »in Analogie« zur zweckmäßig orientierten Tätigkeit des Menschen, also zum Werk. Dieser Analogiebegriff erinnert an Duns Scotus, dem der menschliche Geist als Analogie Gottes darum eine der höchsten Formen von Wirklichkeit ist, weil er selbst die Kunst des Analogieverstehens beherrscht. Die Analogie zu verstehen, ist eine Form schöpferischer Wirkung, die als Aktualisierung die ›bloß reale‹, faktische Wirklichkeit übersteigt. Auch Kant sieht in diesem Analogie-Verstehen etwas Schöpferisches, weil die Analogie nicht einfach nur da ist: in ihr und mit ihr entsteht erst die systemische Einheit des Organismus. Die Individualität des Konkreten, die Duns Scotus haecceitas nennt, ist nicht gegeben. Sie ist konkret als Funktion, in Verknüpfung mit und Abgrenzung von der Umgebung: eine prozessuale Singularität. Ebenso wird die Prozessualität des Organismus durch die reflektierende Urteilskraft Schritt für Schritt verstanden durch Herstellung einer Analogie. Cassirer beschreibt einen ähnlichen Gedanken bei Vico als »poetische Logik« (PSF I, 89): eine Logik, die etwas hervorbringt, indem sie etwas versteht. Sowohl Vico als auch Duns Scotus beschreiben dieses Hervorbringen als die »Entstehung von Bedeutung«. Vor diesem Hintergrund des Hervorbringens von Bedeutung muss man stets auch Cassirers Formulierungen von der »geistigen Leistung« betrachten. Die Pointe von Whiteheads philosophy of organism liegt nun darin, die Metaphorik des Organischen in diesem Sinne umzukehren 6

Vgl. ebd.

230 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Die Medialität des dynamischen Schemas

und nicht die Seele als ein Ding wie den Organismus anzusehen, sondern vielmehr die organische Form wie die subjektive Form als einen Prozess der Formwerdung zu verstehen. Denn bei Whitehead gibt es gar keine äußere Beschreibung, die nicht aus der medialen Logik einer inneren Form abgeleitet wäre. »Das Entscheidende der Whiteheadschen Organismusanalogie ist die Tatsache, daß wir die Gestalt eines Lebewesens als das Produkt der kausalen Interaktion seiner Teile und seiner Geschichte betrachten. Der Organismus hat seine Gestalt nicht unabhängig von der Interaktion mit anderen Einzeldingen, sondern er muß sie in dieser Interaktion erhalten. Im ständigen Materialaustausch mit seiner Umwelt wiederholt er in Komplexen aus immer neuem Material dieselbe Organisation, d. h. dieselbe Gestalt.« 7

Auch Bergson betont, dass »ein organisches Gebilde durchaus die Summierung der winzigen Verschiebungen selbst ist, die die Entwicklung zu seiner Erreichung durchmachen mußte.« (SE 62) Eine äußere Beschreibung ist unabhängig von dieser Entwicklung unmöglich, sie ist nur möglich aus der Organisation selbst heraus. Zugleich macht Bergson deutlich, dass die kantische Zweckmäßigkeit nicht haltbar ist, wenn man sie auf den vereinzelten Organismus bezieht: sie wird sinnvoll nur durch Verknüpfung mit anderen Formen, aus der »Idee einer äußeren Zweckmäßigkeit, dank deren die Wesen aufeinander angelegt wären« (SE 47). Die Vorstellung der Entelechie als Selbstzweck muss aufgegeben werden. Die innere Form ist nicht in ein Inneres beschlossen, sondern entwickelt sich in medialer Verknüpfung mit anderen Formen. Sie kann nur in einem dynamischen Schema reflektiert werden.

2.

Die Medialität des dynamischen Schemas

2.1. Geist des Systems und systematischer Geist Unter einem Schema versteht man den darstellbaren Aspekt einer Verlaufsform. Ein statisches Schema ist eine regelhafte Form, an der sich prinzipiell nichts ändert und die iterativ angewendet wird. Ein dynamisches Schema aber kann sich verändern, es ist selbst beweg-

7

Hampe 1990, S. 175.

231 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

6 · Das dynamische Schema

lich. Dabei wird es nicht willkürlich, sondern behält den kohärenten Zusammenhang der inneren Form. In Cassirers Kantverständnis ist es der systematische Geist, der die fortschreitende Analyse des kritischen Idealismus durchführt und der dann den Schritt von der Logik der Kritik der reinen Vernunft zur Ästhetik der Kritik der Urteilskraft bewirken kann. Cassirer deutet diese Entwicklung als Dynamisierung des Schemas durch den systematischen Geist, bezogen auf d’Alemberts Unterscheidung von ésprit systématique und ésprit de système. 8 Bei Hegel dagegen setzt der Geist das System zum Ziel: das statische Schema wird zum in sich geschlossenen System des Geistes entwickelt. Das dynamische Schema, das Cassirer aus seiner Kant-Darstellung herleitet, ergibt ein ›offenes‹ System (PSF III, 24). Eigentlich handelt es sich um eine Vielzahl von Systemen, die auch miteinander in Widerspruch geraten können bzw. in ein Verhältnis, das widersprüchlich wäre, wenn man von einer übergeordneten logischen Kohärenz ausginge. Diese aber könnte nur wieder durch ein einheitliches System geleistet werden. Kurz, es kann auf Grund dynamischer Schemata keine konsistente Einheit des Denkens entstehen, ohne dass das Denken darum in Beliebigkeit zurückgeworfen werden müsste. Identität zum Beispiel muss heterogen gedacht werden: etwas kann zugleich dasselbe und etwas anderes sein. Sein muss prozessual gedacht werden, als etwas, das im Wandel begriffen und mit Anderem verknüpft ist. Ein Gegenstand kann nur definiert werden im Zusammenhang eines spezifischen Sinns bzw. durch eine spezifische Bedeutungsfunktion. Die Entstehung von Ordnung wird auch im kosmischen Sinne analog zum Schaffen und Bilden gedacht, ohne dabei von einem schöpferischen telos auszugehen, sondern umgekehrt von der erscheinenden Konkretion. Denn jede Ordnung entsteht durch Selektion von Relationen. Die Wandlung des geschlossenen Systems zu einer Vielfalt offener Systeme durch dynamische Schemata bedeutet eine Notwendigkeit der Vermittlung von Physik und Psychologie. Philosophisch gesprochen, erfordert das die Vermittlung verschiedener Typen von Logik. Bergson beansprucht diese mehr patriotisch als unparteiisch für die französische Philosophie.

8

Vgl. dazu Pätzold 2002.

232 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Die Medialität des dynamischen Schemas

»[E]lle répugne le plus souvent à prendre la forme d’un système. Elle rejette aussi bien le dogmatisme à outrance que le criticisme radical […] C’est une philosophie qui serre de près les contours de la réalité extérieure, telle que le physicien se la représente, et de très près aussi ceux de la réalité intérieure, telle qu’elle apparaît au psychologue.« (M 1187)

Die Psychologie, die sich mit der »Erscheinung« der »inneren Wirklichkeit«, und die Physik, die sich mit der »Repräsentation« der »äußeren Wirklichkeit« befasse, sollen verbunden und auf ihre Grenzen hin befragt werden. In seiner Kritik an der Psychologie Ernst Machs beschreibt Cassirer, was Mach sich zum Ziel setzt, nämlich genau diese »gemeinsame Basis für den Gegenstand der Psychologie und der Physik« sowie eine »lebendige Wechselwirkung zwischen ›innerer‹ und ›äußerer‹ Erfahrung«, dass er aber an substantieller Logik scheitert: »Die Empfindung wird hier nicht in ihrer reinen Aktualität, nicht als Prozeß genommen, sondern sie ist von Anfang an als Substanz, als der universelle ›Weltstoff‹, gefaßt und demgemäß verdinglicht. Das Ding, das Mach als einfache Empfindung benennt, sollte das Substrat des physischen wie des psychischen Seins bilden – macht man aber mit seiner Setzung Ernst, so zeigt sich vielmehr, daß mit ihr die eigentliche Form beider Arten von ›Wirklichkeit‹ verkannt und im Grunde negiert wird.« (PSF III, 33 f.)

Zur Reflexion dieser beiden Arten von Wirklichkeit soll die symbolische Form auf der Bedeutungsebene dienen, wie etwa die mathematische Funktion. Sie symbolisiert das Allgemeine, die Form des Invarianten, am Prozess der Entstehung von Bedeutung. Als Paradigma für die Gesetzgebung durch die Form dient darum die Kunst: erst durch die ästhetischen Formen wird die Funktion der Form für die Wissenschaft deutlich. »Die Selbstgesetzlichkeit des Kunstwerkes erscheint […] als Folge und Ausdruck der fundamentalen ›Selbstgesetzlichkeit des Geistes‹, die sich in den Gebilden der Kunst unverstellter als auf anderen Gebieten des Geistigen zeigen kann.« 9

9

Schmitz-Rigal 2002, S. 40.

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6 · Das dynamische Schema

2.2. Invarianten und Universalien Die systematische Entsprechung von Logik und Ästhetik, die zur Bedingung für die Reflexion eines dynamischen Schemas der Erfahrung wird, finden wir in der Invariantenbildung. 10 Denn »[d]ie Einheit des Wissens fordert die Entfaltung in eine Fülle und Mannigfaltigkeit wissenschaftlicher Formen, deren jede einem spezifischen Gesetz untersteht.« (FF 26) Die Unterscheidung von Maßbegriffen und Dingbegriffen macht bei Leibniz und Kant darum Fortschritte, weil die relationalen Invarianten aus individuellen Beziehungen herausgehoben und verallgemeinert werden. Invariante Strukturen werden durch Vorgänge der Reflexion und Repräsentation gewonnen, die Cassirer in Anlehnung an die topologische Diktion »Metrisierung« nennt. Dieses Motiv findet er in der Gestalttheorie wieder. »Die Möglichkeit, eine Beziehung ihrem Sinne nach als invariant festzuhalten, während die Beziehungsglieder die mannigfachsten Umformungen erfahren, wird in den rein psychologischen Erwägungen nur von einer neuen Seite her beleuchtet und sichergestellt.« (SF 365) 11

Eine ähnliche Rolle spielen im mathematischen Denken Whiteheads die eternal objects, die als relationale Universalien verstanden werden müssen (vgl. Kap. 2). »Objekte« sind es in Whiteheads Diktion darum, weil sie in den Aktualisierungsvorgängen objektiviert werden, und zwar als Muster. Sie gehören nicht zur dynamischen, erfassenden Seite, die er subjektiv nennt, sondern zu dem, was gestaltet, geformt wird. Die Entstehung von Objekten als Entstehung von Objektbedeutung ist eine Form der Metrisierung. Whiteheads Konzept von »Objektivierung im Ereignis« spiegelt diesen Gedanken Cassirers: »So ist das ›Ding‹ nicht mehr die unbekannte Sache, die als bloßer Stoff vor uns liegt, sondern ein Ausdruck für die Form und den Modus des Begreifens selbst. All das, was die Metaphysik den Dingen an und für sich als Eigenschaft beilegt, erweist sich jetzt als ein notwendiges Moment im Prozeß der Objektivierung.« (SF 328) Vgl. Ihmig 1997, S. 217. Kurt Goldstein, Cassirers Cousin und mit ihm in reger Diskussion stehend, deutet den Organismus als Form der Selbstorganisation, der z. B. bei Aphasiephänomenen eine neue Balance für die Funktion des Ganzen sucht (Goldstein 1934), wie die Organe bei Adler. Der derzeit oft gebrauchte Begriff der »Resilienz« steht in Zusammenhang mit diesen Überlegungen.

10 11

234 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Die Medialität des dynamischen Schemas

Die eternal objects werden immer in derselben Weise ins Geschehen einbezogen und haben darin den Charakter von Universalien, ohne an sich oder außerhalb der Aktualisierungsvorgänge zu existieren. Ihre relationale Invarianz macht ihre Universalität aus. Auch Whitehead verweist auf die Gestaltpsychologen, die eine Invarianz der Verknüpfung in ihre Lehre von der Gestalt eingebunden haben. »There is one point as to which you – and everyone – misconstrue me […]. I mean my doctrine of eternal objects. It is a first endeavour to get beyond the absurd simple-mindedness of the traditional treatment of Universals. […] This is the great merit of the ›Gestalt‹ people.« 12

Die »kritische Erfahrungslehre« nennt Cassirer eine »allgemeine Invariantentheorie der Erfahrung« (SF 289). Dieser naturphilosophischen These folgt auch das »Erlanger Programm«: »Die geometrischen Gegenstände sind demnach als Invarianten bestimmter Transformationen gegeben. Sie werden erst durch die Transformation erzeugt.« 13 Diese Parallele zwischen Transzendentalphilosophie und Geometrie in Bezug auf die Methode der Metrisierung (SF 289) sieht Cassirer später bestätigt (DI 167), als er seine eigenen Formulierungen bei Dirac wiederfindet. Doch die allgemeine Invariantentheorie der Erfahrung bleibt eine Theorie. Kants Invarianten der Erfahrung sind die Kategorien, und das Objekt wird nur unter ihnen gemeinsam als Objekt vollständig bestimmt. 14

2.3. Das sich selbst organisierende System Schwemmer weist darauf hin, dass Cassirer sich häufig auf Hegel als einen »Stammvater« der »Beschreibungen von sich selbst organisierenden Systemen« 15 bezieht. Hegels System ist in der Tat selbstorganisierend und dynamisch, aber es ist nicht offen. Vielmehr ergibt sich die Möglichkeit seiner dynamischen Selbstorganisation gerade aus seiner Geschlossenheit: aus der zu erreichenden Identität der erscheinenden Formen mit ihrem Prinzip. 12 13 14 15

Whitehead an Charles Hartshorne, am 2. 01. 1936. In: Kline 1989, S. 199. Heuser 2007, S. 197. Vgl. Gloy 1996, S. 82 f. Schwemmer 2011, S. 118 f.

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6 · Das dynamische Schema

In Hegels Phänomenologie ist dieses Verhältnis der Erscheinung, dessen Thematisierung für jede Phänomenologie charakteristisch ist, zugleich ein Verhältnis der Begründung durch Identität, die zwar durch den dialektischen Prozess der selbstbezüglichen Organisation erreicht wird, als geheimes Gesetz jedoch immer schon zu Grunde lag. Das statische Schema als Prinzip des Subjekts ist auch für das dynamische System Hegels die Basis. Der Unterschied zu Kant liegt hauptsächlich darin, dass das Subjekt durch die dialektische Logik des Begriffs schöpferisch wird. Hegel hinterfragt die Rolle der Anschauung als erkenntnistheoretische Vermittlung. Die sinnliche Gewissheit disqualifiziert sich selbst als unmittelbare Erkenntnis, weil sie von ihrem vollständigen Gegenstand nichts aussagen kann. Ihr fehlt die Distanz und Abstraktionsfähigkeit, also die anschauliche Vermittlung. Das einzige, was sie sagen kann, ist: es ist. Sobald aber die sinnliche Gewissheit dahinterkommt, dass sie einen Gegenstand hat, also durch diese Konstruktion des Erkennens bereits vermittelt ist, verliert sie ihre Unmittelbarkeit und Aussagekraft des Hier und Jetzt. Dafür erkennt sie die Allgemeinheit ihres Gegenstandes an und wird zur »Wahr-Nehmung«, nämlich der Wahrnehmung des Dinges mit vielen Eigenschaften. Hegel beschreibt diese allgemeine, sprachliche Bestimmung des Dinges mit vielen Eigenschaften als Bestimmung in einem »abstrakten allgemeinen Medium« 16, ähnlich wie Bergsons homogenes Medium. Die Vermittlung, die die Wahrnehmung durch Position und Negation in diesem »gleichgültigen« Medium erhält, ist nichts anderes als die »Dingheit« oder »Einheit« 17 selbst. Das Ding hält Hegels Bewusstsein für sich selbst gleich oder identisch, weswegen es seine Wahrnehmungen des Dinges immer aufs neue anpasst. Ihre Variabilität muss an der Wahrnehmung liegen; denn das Bewusstsein kennt nur das identische Ding und seine ihm äußerlichen Eigenschaften. Es muss die Mannigfaltigkeit der Wahrnehmung abtrennen, um die Einheit des Gegenstandes zu erhalten. Aus diesem Widerspruch, der in der Erkenntnis eines gegenwärtigen, gesetzten Seins auftritt, zieht dann Hegels lernendes Bewusstsein die Notwendigkeit der Bewegung, der Dynamik: nämlich die der newtonianischen Naturgesetze in »Kraft und Verstand«. Die Dyna16 17

Hegel 1988, S. 80. Ebd., S. 81.

236 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Die Medialität des dynamischen Schemas

mik wird jedoch nicht mit der Erfahrung selbst verknüpft. Sie wird als Naturgesetz anschaulich gemacht, während die Eigenbewegung des Geistes sich selbst nicht anschaulich werden kann. Im weiteren Verlauf der Phänomenologie zeigt sich, dass dem Bewusstsein nichts anderes übrig bleibt, als sich selbst zu setzen und mit sich selbst identisch zu werden, d. h. seine eigene Dynamik umzusetzen. Alle Bezüge zu Wahrnehmung, visueller Anschauung, Gefühl, Intuition oder Sinnlichkeit werden an dieser Stelle von Hegel verabschiedet. Die Eigendynamik des Bewusstseins geht also strukturell über die Wahrnehmung hinaus und in den Bereich des Subjekts selbst. Phänomenologie des Geistes lehrt, wie der Geist sich selbst erscheint und für diesen Prozess selbst die Regeln setzt. Darauf spielt Cassirers Phänomenologie der Erkenntnis an, denn auch er geht von einer Entwicklung des Erkennens aus, in welcher die Rolle des Subjektiven im Verhältnis zum Objektiven deutlich wird. Aber Hegels Prinzip bleibt statisch. Es gibt sich zu erkennen und wird dann verwirklicht im Gang der Geschichte, auch wenn das statische Prinzip der Anschaulichkeit des Dinges zum Widerspruch geführt wurde. Das statische Prinzip der Identität des Subjekts kann hingegen nicht zum Widerspruch führen, weil es die Gewähr der dialektischen Logik selbst ist.

2.4. Die dynamische Korrelation von Subjekt und Gegenstand Prauss argumentiert, dass Kant Gegenständlichkeit und Wirklichkeit kritisch unterscheidet. Nur die statische Gegenständlichkeit wird durch das Subjekt mit hervorgebracht, die dynamische Wirklichkeit nicht. Denn das Prinzip des Subjekts bleibt statisch und kann aus sich selbst heraus auch nicht schöpferisch werden. 18 Cassirer ersetzt die Leistung des statischen Prinzips durch die symbolische Form als je eigenständiges Prinzip der Korrelation von Subjekt und Gegenstand. Bei Kant ist das Korrelationsprinzip die systematisch-subjektive Einheit der Vernunft. »[D]ieses transzendentale Ding ist bloß das Schema jenes regulativen Prinzips, wodurch die Vernunft, soviel an ihr ist, systematische Einheit über alle Erfahrung verbreitet.« (KrV, B 710)

18

Vgl. Prauss 1996, S. 217 ff.

237 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

6 · Das dynamische Schema

Aus ihm (dem Noumenon) gewinnt die Vernunft systematische Einheit, indem sie dieses Schema regelhaft anwendet. Kant ist nicht mit Hegel der Meinung, dass aus der systematischen Einheit der Vernunft letzten Endes systematische Einheit des Seins folgt: Sie ist ›nur‹ ein Formprinzip. Die Philosophie des Subjekts dagegen denkt das Sein (oder die Welt) als Wahrheit. Das Andere des Wahren ist das Falsche; das Andere des Ganzen (oder des Seins) ist das Nichts. »Das reine Sein und das reine Nichts ist also dasselbe [nämlich, wie zuvor beschrieben, »unbestimmbar«, »inhaltslos« (V. N.)]. […] Ihre Wahrheit ist also diese Bewegung des unmittelbaren Verschwindens des einen in dem anderen: das Werden« 19,

schreibt Hegel. Die Momente des Werdens sind für ihn Zustände, logisch atomar und ohne innere Verbindung zu einander. Das Werden wird so zur logischen Negation: »Sie sind, aber die Wahrheit dieses Seins ist ihr Ende.« 20 Das Substrat, das die Momente miteinander verbindet, ist das Verschwinden selbst. Nur die Schranken des Denkens, so Hegel, sind als selbst gesetzte auch zu überwinden. Andere Grenzen gibt es in der Identitätslogik des Denkens nicht, da »darin selbst, daß etwas als Schranke bestimmt ist, darüber bereits hinausgegangen ist. […] Der Stein, das Metall ist nicht über seine Schranke hinaus, darum weil sie für ihn nicht Schranke ist.« 21

Kant wäre von dieser Kritik unbeeindruckt geblieben, denn »[d]as regulative Princip der systematischen Einheit der Natur für ein constitutives nehmen […], heißt nur die Vernunft verwirren.« (KrV, B 721 f.) Cassirer wendet dies zur Pointe, indem er behauptet, dass ein Formprinzip ausschließlich »reine symbolische Bedeutung« (EP II, 633) hat. Kants Versuch, die Korrelation von Subjekt und objektiver Wirklichkeit auf ein Formprinzip zu reduzieren und ein einheitliches System zu entwickeln, muss laut Cassirer scheitern, da »[…] der Begriff der ›Wirklichkeit‹ selbst kein eindeutiger, von vornherein feststehender Terminus ist, sondern […] je nach der Bewußtseinsfunktion, als deren Korrelat er dient, verschiedenen Gehalt und verschiedene Bedeu-

19 20 21

Hegel 1993, S. 83. Ebd., S. 139. Ebd., S. 145.

238 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Die Medialität des dynamischen Schemas

tung besitzt. Jede dieser Funktionen erfüllt sich erst in einer bestimmten Art von ›Wirklichkeit‹.« (FF 160)

Das System kann damit nur noch relative Einheit haben. Unterschiedliche ›Systeme‹ der Gegenständlichkeit sind zwar in sich kohärent, folgen aber keinem übergeordneten Gesetz, nicht einmal dem der Identität. Schon in der früheren Kantdarstellung betont Cassirer die Kontingenz jeder systematischen Einheit als regulativem Prinzip: »Die apriorische Synthesis ist lediglich von empirischem Gebrauch; sie kennt kein anderes Material ihrer Betätigung als die Erfahrung selbst.« (EP II, 569.)

Die Kontingenz der Erfahrung muss sich auf die Anwendung des Schemas und damit auf die Bildung des Systems auswirken. Wenn das Schema keine Geltung über seine Anwendung hinaus aufweisen kann, sondern eben nur »symbolische Bedeutung« für diese, wird mit der Anwendung auch das Schema transformiert: und wird damit zum dynamischen Schema. Das dynamische Schema als Gestaltungsprinzip nennt Whitehead, insofern es auf die individuelle Aktualisierung bezogen ist, auch eine »subjektive Form«. Ihre »Gegebenheiten«, die wirkenden Faktoren der Veränderung, sind Objektivationen anderer Ereignisse, die durch ihre neue Zusammenführung in einem neuen Ereignis zu neuer Wirkung gelangen. »The individual immediacy of an occasion is the final unity of subjective form, which is the occasion as an absolute reality. This immediacy is its moment of sheer individuality, bounded on either side by essential relativity. The occasion arises from relevant objects, and perishes into the state of an object for other occasions.« (AI 177) »For these data in their own separate natures do not carry any regulative principle for their synthesis. The regulative principle is derived from the novel unity which is imposed on them by the novel creature in process of constitution. Thus the immediate occasion from the spontaneity of its own essence must supply the missing determination for the synthesis of subjective form.« (AI 255)

Auch für Cassirer ist Subjektivität nicht länger statisch geregelt, sondern wird zur echten Spontaneität. Das Subjekt hat keine Eigengesetzlichkeit, die für alle Formen der Erfahrung gleich gelten würde. Seine »Synthesis« ist die Einheit der Form, aber nicht des Subjekts, sondern des individuellen Prozesses der Verwirklichung, den Cassirer auch als »wechselseitige Entsprechung« von Subjekt und Objekt 239 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

6 · Das dynamische Schema

durch die Form als »Inbegriff von Relationen« (ECN 3, 54) bezeichnet. 22 Ebenso wenig wie die Identität des Gegenstandes durch bloße Zusammensetzung diskreter Elemente nach allgemeinen Prinzipien gewonnen werden kann, kann die Identität des Selbst als additives Produkt der Selbstwahrnehmung unter Anwendung allgemeiner Urteilsfunktionen verstanden werden. Identität ist eine allgemeine Form aus einem individuellen Prozess. Wie bei Whitehead entsteht sie als neue Wirkung in einem neuen Ganzen, einem intensiven, dynamischen Ganzen. »Was die mannigfachen Vorstellungsinhalte zu einer psychischen Grundgestalt verknüpft, das ist nicht in einem dieser Inhalte selbst noch in ihrem bloßen aggregativen Beieinander aufzufinden: Sondern es liegt hier eine neue Leistung vor, die sich zugleich in einem selbständigen Gebilde von bestimmt aufweisbarer Beschaffenheit verkörpert. […] Ein Ganzes bilden heißt im psychologischen Sinne nichts anderes denn als Ganzes wirken.« (SF 360 f.)

Identität ist individuelle Identität und folgt nicht aus dem Urteil, sondern ist die Bedingung der Möglichkeit des Urteils. 23 »A priori« wird damit als Behelfsbegriff entlarvt, der kontingente Form mit logischer Notwendigkeit verwechselt, statt ihre je spezifische Verknüpfung als Dynamik von Teil und Ganzem zum Ausdruck zu bringen.

2.5. Die Medialität der »symbolischen Form« Die Medialität der symbolischen Formen sollte also nicht als »neues Apriori« eines Schemas der Formentstehung verstanden werden. Sie ersetzt das Apriori und beseitigt seine Notwendigkeit, indem sie Allgemeinheit von Formen allein durch deren eigene Kohärenz erzeugt. Diese Medialität auf der Stufe des Geistes kommt durch eine Vielfalt von Ausdifferenzierungen der Erfahrung in Sprache, Kunst und Gesellschaft zustande.

Vgl. dazu Schwemmer 2011, »Die Polarität zwischen Subjektivem und Objektivem.« S. 127–129. 23 »Als ob ein Urteil den Ausdrücken, die es zusammensetzen, vorhergehen könnte!« Bergson, DSW 33. 22

240 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Die Medialität des dynamischen Schemas

»Die Erkenntnis wie die Sprache, der Mythos und die Kunst: sie alle verhalten sich nicht wie ein bloßer Spiegel, der die Bilder eines Gegebenen des äußeren oder des inneren Seins, so wie sie sich in ihm erzeugen, einfach zurückwirft, sondern sie sind statt solcher indifferenter Medien vielmehr die eigentlichen Lichtquellen, die Bedingungen des Sehens wie die Ursprünge aller Gestaltung.« (PSF I, 24 f.)

Cassirers Begriff des Symbolischen entwickelt sich zu Prinzipien der Gestaltung, die selbst in der Gestaltung entstehen und weiter modifiziert und transformiert werden. Durch die innere, relationale Kohärenz erhält das Formprinzip Konsistenz, ohne statisch zu bleiben. So entsteht die symbolische Form als sich selbst organisierender Prozess. Sie kann als Bedeutungsfunktion reflektiert und verallgemeinert werden. Die Übertragung der relationalen Orientierung auf die Ebene des Geistes bildet die Grundlage der zunehmenden Ausdifferenzierung symbolischer Formen im Medium des Geistes, von der unmittelbaren mythischen Konkreszenz von Qualität und Erscheinung bis hin zur modalen Selbstexplikation der reinen Bedeutungsfunktion. Insofern überhaupt ein Übergang vom Mythos zu differenzierteren »Sinndimensionen« beschrieben werden kann, handelt es sich um Metrisierung der individuellen mythischen Relationen in verschiedenen Perspektiven. Die Medialität liegt dabei auch in dem Aspekt der Kontingenz, der »Berührung« bedeutet. Medialität wird auch als medialer Bereich gedacht, in dem Ereignisse einander berühren und eine gemeinsame neue Wirkung erzeugen. Bekannte Beispiele sind Sprache, Mythos, Wissenschaft oder Religion. Sie enthalten eine Vielzahl von Formen und Formungsprinzipien, die aber in einen gemeinsamen Sinnzusammenhang eingebunden sind. Symbolische Formen sind also selbst Medien auf einer hohen Komplexitätsstufe, die unsere Wahrnehmung gestalten und unsere kreativen Tätigkeiten ermöglichen. Die Welt als bloße Gegenständlichkeit ›ohne‹ symbolische Formung betrachten zu können, ist ein Modell, dem in der Wirklichkeit nichts entspricht. Für den Formbegriff ergibt sich durch diese neue Philosophie der Erfahrung eine entscheidende Veränderung. Form kann nach wie vor ein Bild oder ein Abbild bedeuten, eine Struktur, ein Strukturprinzip oder eine Funktion. Aber es ist jetzt nicht mehr notwendig, eine Stabilität der Form durch ihre eigene Dinglichkeit oder ihre strukturelle Konstitution als Objekt oder Gegenstand zu garantieren. Denn als wirkliche Formen sind sie nicht stabil, sondern dynamisch. Sie treten 241 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

6 · Das dynamische Schema

einerseits als Gestalten in unsere Wahrnehmung, sie sind andererseits wirkende Relationen, die durch ihre Form auf eine andere Form wirken. 24

3.

Wirklichkeit

3.1. Realität und Aktualisierung Form als Gestalt und Form als Relation wird so zum Doppelcharakter jeder Form. Diese Differenzierung ist nicht dieselbe wie die von forma formans und forma formata. Denn auch die formende Form kann dargestellt und gestaltet werden, und auch die geformte Form steht in Relationsbeziehungen. Vielmehr ist eine Dynamik von Gestalt und Relation in jedem Begriff einer Form der Wirklichkeit enthalten. »Wirklichkeit« bezieht sich auf Wirkzusammenhänge zwischen Dingen. Werden Dinge über ihre Wirkzusammenhänge erschlossen, so können sie nicht als logisch atomare Einzelelemente verstanden werden. Sie sind keine »building blocks – the symbols used in thought« 25. Denn solche Geschlossenheit könnte Wirkung weder ausüben noch empfangen. Sie müssen als Wirkende und Bewirkte von Grund auf einen porösen, fließenden Charakter haben. Im Deutschen geht der semantische Komplex von Wirken, Wirkung und Wirklichkeit auf Meister Eckarts Übersetzung von actualitas zurück. Der zweite semantische Bezug des Wortes ›Wirklichkeit‹ ist das Reale. Das Reale wird traditionell als Modus des Seins verstanden, gebunden aber an einen Modus des Erkennens. Bei Kant ist es Ergebnis der Urteilsfunktion und wird durch die Visualisierung eines objektiv gültigen Verhältnisses bestimmt. (KrV, B 142) »Das Schema der Ursache und der Causalität eines Dinges überhaupt ist das Reale, worauf, wenn es nach Belieben gesetzt wird, jederzeit etwas anderes folgt. Es besteht also in der Succession des Mannigfaltigen, insofern sie einer Regel unterworfen ist.« (KrV, B 184)

Das Andere des Realen ist also nicht etwa das Nichts, sondern das Imaginäre. So kann die figurative Synthesis auch eine imaginäre Verknüpfung sinnlicher Gegebenheit ergeben. Die ›Inhalte‹ selbst kön24 25

Vgl. Schwemmer 2005, S. 36. Lakoff 1990, Preface, xiii.

242 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Wirklichkeit

nen nicht imaginär sein, wohl aber kann die Art, wie man sie auffasst, als Realitätsauffassung missdeutet werden. (KrV, B 151 f.) Vermeidet man dies, so lässt sich der Imagination durchaus ihre eigene Wirklichkeit zusprechen, da sie eine eigene Wirksamkeit und Dynamik entfaltet. Cassirer zitiert dazu Bouhours: »Le figuré n’est pas faux, et la métaphore a sa vérité aussi bien que la fiction.« (PA 316) Diese beiden aufeinander angewiesenen Bezugsfelder von Aktualisierung und von Realität machen deutlich, dass das Wirkliche konfiguriert ist. Wirklichkeit ist eine Vielfalt von Gestaltungen, die sich in durch Logik und durch Einbildungskraft eingegrenzten Bereichen entwickeln und aus Ereignissen bestehen, aus deren Formen die Erfahrung oft nur mangelhafte Rückschlüsse ziehen kann. Wenn Wirklichkeit als Realität verstanden werden soll, muss das Zustandekommen des Erkennens ebenso reflektiert werden wie das Zustandekommen der Wirklichkeit selbst, und zwar in einem gemeinsamen Wechselspiel der Aktualisierung. Das Bezugsfeld der Aktualisierung ergänzt das starre Schema der »Ursache und Causalität eines Dinges«, das Reale, um diejenigen Wirkzusammenhänge, die sich nicht durch methodische Visualisierung von Kausalität erfassen lassen. »Es ist somit die logische Differenzierung der Erfahrungsinhalte und ihre Einordnung in ein gegliedertes System von Abhängigkeiten, was den eigentlichen Kern des Wirklichkeitsbegriffs bildet.« (SF 302)

Was uns in der Erfahrung begegnet, ist die Konkretion, die Form des Wirklichen. Wirklichkeit steht damit auch für Widerstand und Eigen-Sinn. Sie ist kein Produkt subjektiver Setzung. 26 Sie verweist auf den Sinnzusammenhang, durch den sich ihre Existenz erschließt. Sie bringt für die Erfahrung nicht nur die Gestalt des Wirklichen zum Ausdruck, sondern auch seine Wirkung und sein Verhältnis zu anderen Formen. Was wirkt, aber selbst nicht geformt ist, kann für die Erfahrung als dynamisches Schema keinen Sinn ›ergeben‹. Doch die Erfahrung schließt auf das sinnfreie, latent Wirkende und kann es thematisieren, wenn auch nur indirekt, wie zum Beispiel im Traum oder im Zweifel. Die Ursprünge des Wirklichen sind heterogen, was die Erfahrung von Unklarheit und Ambiguität ausdrückt. Dasselbe gilt für die zukünftigen Entwicklungen und die Auswirkungen des eigenen

26

Vgl. Blumenberg 2001a, S. 53.

243 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

6 · Das dynamische Schema

Verhaltens: Sie sind nicht vollständig in eine sinnhafte Form eingeschlossen, sonst ließe sich die Zukunft prinzipiell vorhersagen. Wirklichkeit ist keine einfach gegebene Präsenz, sondern eher ein komplexes Gewebe von Wirkungen, die auch gerade dadurch Spuren hinterlassen können, dass sie eben nicht wahrgenommen werden. Auch das Fehlen oder Sich-Entziehen von Zusammenhängen kann in der Wahrnehmung des Wirklichen auftauchen.

3.2. Modalität der Wirklichkeit Die komplexe Prozessualität der Wirklichkeit wird durch Whiteheads Titel Process and Reality deutlich gemacht, aber auch durch Bergsons »Existenz« der Vergangenheit (MG 144 f.). Das Vergangene existiert, es ist real, aber nicht in der unmittelbaren Wirkung des Aktualen. Es kann jedoch in die Aktualität wieder einbezogen, wirkend gemacht werden: indem beispielsweise das virtuelle Erinnerungsbild in die Aktualisierung der konkreten Wahrnehmung einbezogen wird. Darin liegt der modale Sinn des Formbegriffs. Dynamisch zu sein bedeutet auch, Möglichkeit zu sein, sich selbst zu verändern. Die Möglichkeit ist keine modale Entgegensetzung der Wirklichkeit, sondern sie ist, wie Bergson betont, in der Wirklichkeit selbst enthalten: jeder andere Begriff von Möglichkeit ist eine Fiktion. Möglichkeit darf nicht mit einer modallogischen Komponente der Wirklichkeit qua Existenz verwechselt werden. Denn »[…] die der Mehrzahl der Philosophen immanente und dem menschlichen Geist natürliche Vorstellung einer Möglichkeit, die sich durch einen Zuerwerb von Existenz realisiert, ist […] eine reine Illusion.« (DSW 121)

Doch da die Formen der Erfahrung auf die Formen der Wirklichkeit einwirken, spielt auch der Blick auf die Möglichkeiten eine gestaltende Rolle. Als Fiktionen bilden sie ein Verhalten unserer Erkenntnis zu dem heraus, was wirklich ist. Die »Modalität« der Formen organisiert das Verhältnis von Möglichkeit und Wirklichkeit für die Erfahrung, die »geistige Auffassung« und »geistige Formung«. »Die Sprache und die Religion, die Kunst und der Mythos besitzen je eine selbständige, von anderen geistigen Formen charakteristisch unterschiedene Struktur – sie stellen jede eine eigentümliche ›Modalität‹ der geistigen Auffassung und der geistigen Formung dar.« (ECW 16, 8)

244 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Wirklichkeit

In Geist und Leben zitiert Cassirer Kant, die produktive Einbildungskraft müsse auch ein Ingrediens jeder möglichen Wahrnehmung bilden, und kommentiert: »[S]o kommt auch das, was wir die Anschauung des ›Wirklichen‹ nennen, nicht zustande ohne den Vorblick und Ausblick ins ›Mögliche‹ […]« (GL 48)

Dieser Blick lässt die geistig-spielerische Distanz und Beweglichkeit aufkommen, die uns erst eine erkennende Perspektive auf die Wirklichkeit ermöglicht. Ricœur bemerkt dazu: »Die Hermeneutik des ›Wirklichen‹ und des ›Unwirklichen‹ verläßt den Rahmen, der der Frage nach der Referenz von der analytischen Philosophie zugewiesen wurde.« 27 Die Modalität der Formen ermöglicht es trotz dieser Variabilität der Perspektive, die von Aktualisierungsvorgängen abhängig bleibt, Erkenntnisse zu formulieren. Denn ihr Verhältnis zur Wahrheit ist nicht ein Enthalten, sondern ein Ausdruck. »[A]ll knowledge is derived from, and verified by, direct intuitive observation. I accept this axiom of empiricism […]. The question then arises how the structure of experience […] is directly observed.« (AI 177)

Hier zeigt sich Whiteheads Nähe zu James’ »radikalem« Empirismus und Deweys Begriff der experience. Die ›Faktizität‹ der Wirklichkeit, ihr Entstanden-Sein, spiegelt sich in der ›Verifikation‹ der Erkenntnis, ihrem Zur-Wahrheit-Werden. Reine Beobachtung der Struktur der Erfahrung ist nicht möglich, sie muss als modale Formwerdung reflektiert werden: darin besteht die Ableitung von Wissen aus der Beobachtung. Bergson schildert zustimmend James’ Verständnis von Wahrheit und Wirklichkeit: »Wir definieren für gewöhnlich das Wahre durch seine Übereinstimmung mit dem, was schon existiert; James definiert sie [sic] durch ihre Beziehung zu dem, was noch nicht existiert. […] [W]ährend für die anderen Lehren eine neue Wahrheit eine Entdeckung ist, ist sie für den Pragmatismus eine Erfindung.« (DSW 240 f.)

Wahrheit wird nicht aufgefunden, sondern erfunden oder »gestiftet«. Cassirer schreibt: »Der Wahrheits- und Wirklichkeitsbegriff der Wissenschaft ist ein anderer, als es der der Religion oder der Kunst ist – so wahr es ein besonderes und

27

Ricœur 1991, S. 11.

245 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

6 · Das dynamische Schema

unvergleichliches Grundverhältnis ist, das in ihnen zwischen ›Innen‹ und ›Außen‹, zwischen dem Sein des Ich und der Welt nicht sowohl bezeichnet als vielmehr gestiftet wird.« (PSF I, 22)

Der Formbegriff übernimmt im Rahmen dieser »Stiftung« die Funktion, die in der Erfahrungstheorie des subjektiven Urteils von den Kategorien geleistet worden ist, und zwar durch die reflektierende Struktur des Ausdrucks. Wahrheit ist »Ausdruck eines inneren Bedingungszusammenhangs« (FF 28). »Sie behauptet sich, nicht in der Form eines bestimmten Inhalts, sondern in der Form eines allumfassenden geistigen Maßstabes.« (FF 26 f.) Form-Werdung ist Teil eines Prozesses der Selbstorganisation mit dem subjektiven Faktor des Erlebens. Das dynamische Schema lässt sich als Prozessualisierung Platons ansehen, den Cassirer mit seinem Ausdruck der werdenden Form, γένεσιϚ είϚ ούσίαν (ECN 1, 15) zitiert. Das Prinzip dieses Werdens soll, wie Goethes Idee des Lebens, der Wirklichkeit selbst angehören als Gliederung, die sich aus dem Wirklichen ergibt. »Denn die Regel, die alles organische Geschehen beherrscht, ist zwar fest und ewig, aber zugleich lebendig, so daß die Wesen zwar nicht aus derselben heraus, aber doch innerhalb derselben sich umbilden können.« (ECW 18, 417)

Eine solche Regel ist immer selbst eine materiale Gestaltung. Praxis und Poiesis werden von Goethe zur Annäherung an eine Idee empfohlen: die reine Schau der Erkenntnissuche reicht dazu allein nicht aus. An die Stelle einer repräsentativen Logik tritt eine relationale Logik, in der Formen nur im Verhältnis zu ihrer Entstehung zu begreifen sind. Für die Gestaltung dieses Verhältnisses, um es anschaulich zu machen, brauchen wir das Zeichen.

3.3. Die Zeichenbeziehung 3.3.1. Das Zeichen als energeia Erfahrung des Wirklichen ist erfassende Sinnstiftung aus der Sinnlichkeit, die durch die symbolische Funktion des Zeichens eine allgemeine Dimension im Begriff des Geistes gewinnt. Bergson drückt das durch die Bildhaftigkeit der Materie aus, die im und durch den Umgang mit Dingen zur Erscheinung kommt. Bei Cassirer und Whitehead ist die Bedingung für das Erfassen materialer Eigenstrukturen der Zeichengebrauch, denn 246 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Wirklichkeit

»[n]icht erst die Fügung und Gliederung der Begriffswelt, sondern die phänomenale Struktur der Wahrnehmung selbst ist es, worin sich die Kraft der sprachlichen Formung vielleicht am deutlichsten und am schlagendsten erweist.« (PSF III, 17)

»Fügung« gebraucht Cassirer immer wieder für das Einfügen in einen übergeordneten Zusammenhang, der sich durch diesen Vorgang erst zusammenfügt. Die Metapher drückt die mediale Wechselwirkung des Symbolischen zwischen (Ausdrucks-) Form und Sinn aus und trägt zugleich einen Anklang der Schicksals-Fügung, des Zusammenspiels mehr oder minder zufälliger Ereignisse, durch die sich Form und Sinn ergeben. »Gliederung« steht für Artikulation, den geistigen Aspekt, der aktiv in die Wechselwirkung des »Fügens« eingeht. Am deutlichsten erweist die »Kraft der sprachlichen Formung« sich in der Wahrnehmung, weil in der »Fügung« und »Gliederung« der Begriffswelt die sprachliche oder zeichenhafte Formung selbst schon als Ding, Wort, Symbol oder Gegenstand gegenwärtig ist. Die Funktion ist als Begriff schon thematisch geworden. In der »phänomenalen Struktur« der Wahrnehmung aber fungiert die Formung durch sprachliche und zeichenhafte Funktion, ohne dass das Zeichen selbst schon als Gegenstand erschiene: hier wird das Zeichen als Aktivität, als Vorgang der Verweisung thematisch. Wahrnehmung bedeutet nicht ein Lesen von Empfindungen als Zeichen. Vielmehr ist sie prozessual auf die Bedeutungsentstehung ausgerichtet, und das Zeichenhafte materialisiert sich in ihr; doch es ist noch kein Ding, Wort oder Gegenstand. Nur als Ding betrachtet, wäre das Zeichen kein Zeichen. Zeichen zu ›sein‹ ist weder Substanz noch Eigenschaft, sondern relationale, strukturierende Tätigkeit, energeia, die nach Humboldt zum ergon einer Sinnstruktur wird: einer Konfiguration. Diesen Prozess nennt Cassirer »symbolisch«. Als energeia ist das Zeichen kein actus, keine reine Setzung, und korrespondiert weder einer dynamis, die potentia wäre als Vermögen des Subjekts, noch einer passive Kraft der Materie. Es entsteht vielmehr prozessual und funktional aus der Sinnlichkeit selbst, also aus den qualitativen Formen der Erfahrung. »Daß alles Einzelne des Bewußtseins nur dadurch ›besteht‹, daß es das Ganze potentiell in sich schließt und gleichsam im steten Übergang zum Ganzen begriffen ist, hat sich bereits gezeigt. Der Gebrauch des Zeichens aber befreit diese Potentialität erst zur wahrhaften Aktualität.« (PSF I, 43)

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6 · Das dynamische Schema

Diese Aktualität besteht gewissermaßen in einer Materialisierung des Sinns, der in der symbolischen Prägnanz zur faktischen Gestalt wird. Dieses »faktisch« schließt sowohl die Bedeutung von facere ein, da Sinn immer ein Element des Hergestellten enthält, als auch die Bedeutung der Faktizität verstanden als Realität, als das, was wirklich da ist. Die funktionale Gestaltung durch Zeichen oder Instrument bedeutet eine vorläufige Fixierung und löst gerade dadurch jeweils neue Resonanzen aus. »Jetzt schlägt in der Tat ein Schlag tausend Verbindungen, die alle in der Setzung des Zeichens zum mehr oder minder kräftigen und deutlichen Mitschwingen gelangen.« (PSF I, 43)

3.3.2. Das Zeichen als Instrument »Symbol« bezieht sich hier nicht auf die volle Weite des »Symbolischen«, wie sie Cassirer in der Rede von der symbolischen Form oder vom Symbolprozess ausschöpft, also noch gar nicht auf ein »Leben im Sinn«, sondern auf ein Mittel oder Instrument: ein mittelbares Zeichen, das im Gegensatz zum Bild im Mythos gerade nicht das Wesen ausdrücken will (vgl. ECN 1, 25). Symbolische Erkenntnis bei Leibniz betrifft die Zusammensetzung einer Vorstellung durch Hilfsmittel. Leibniz benutzt den Symbolbegriff als Werkzeug zur Konstruktion diskursiver Begriffe und der mathematischen Logik. »[I]nnerhalb dieses Entwurfs bleibt das Symbol, wie wir sahen, darauf beschränkt, das Zeichen und die abgekürzte Wiederholung eines Inhalts darzustellen. Es bildet daher nur ein technisches Mittel […]. Das endgültige Ziel des Denkens ist nicht auf die Bewahrung, sondern auf die Aufhebung des figürlichen Inhalts gerichtet.« (LS 418)

Das mathematische Symbol oder Zeichen, wie Cassirer es bei Leibniz, Hertz und Duhem findet, betrifft keine schematische Figuration von Qualitäten, sondern ihre instrumentelle Vermittlung durch Verknüpfungen von Referenzbeziehungen. Diese Verknüpfungen sind es, die in der von diesem Zeichenbegriff abgeleiteten physikalischen Theorie bewahrt werden, insofern sie sich als funktional invariant erweisen. Als solche werden sie Basis der symbolischen Form als Form der Betrachtung, die nicht länger die Gegenstände anschaulich machen will, sondern ihre gesetzmäßige Verbindung. 28 28

Vgl. dazu Möckel 2003, S. 11.

248 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Wirklichkeit

»Jedes Gesetz schließt […] eine metabasis eis allo genos – einen Übergang in eine neue Form der Betrachtung ein. […] Und ebendieser Prozeß, ebendiese gedankliche Interpretation ist es, die das Wesen der physikalischen Theorie ausmacht.« (PSF III, 24) – »Duhem […] [hat] diese Wechselbeziehung, die zwischen dem physikalischen Faktum und der physikalischen Theorie obwaltet, auf den einfachsten und schärfsten Ausdruck gebracht«. (SF 155)

Das so verstandene Zeichen repräsentiert selbst nichts, sondern verweist. Es soll im Gebrauch wieder verschwinden, wie die Vorstellung als »virtueller Punkt« bei Bergson sich im Vollzug der Wahrnehmung wieder auflöst. Die symbolische Form als physikalische Theorie des Heterogenen ist eine Theorie, eine Form der Betrachtung. Aber auch in der sinnlichen Wahrnehmung selbst gibt es Mittel zur Formung, zur Gestaltung oder Erschließung. Qualitäten sind nicht einfach da, sondern sie erscheinen, und unsere aktive Zurichtung der sinnlichen Welt ist ein wirkender und zugleich gestaltender Faktor dieses Erscheinens. Zeichen und zeichenhafte Wahrnehmung orientieren uns in der qualitativen Welt. »Daß das Denken nicht in einem Zeitpunkt zustande kommen kann«, so Charles S. Peirce, »sondern eine Zeit verlangt, heißt daher nur, daß jeder Gedanke durch einen anderen interpretiert werden muß oder daß alles Denken in Zeichen geschieht.« 29

Sprache, Vorstellung und mathematisches Zeichen bzw. funktionales Kalkül sind Instrumente des Denkens. Das Denken, als Tätigkeit des praktischen Reflektierens, ist auf diese Mittel angewiesen und kann sich ihrer Verwendung bewusst werden. »Denn jedes Denken bedarf, als ›diskursives Denken‹, des Umweges, einer Hinblicknahme auf ein Allgemeines, durch das hindurch und von dem her das mehrere einzelne begrifflich vorstellbar wird.« (ECW 17, 228)

Da wir aber nicht zuerst wahrnehmen und danach denken, sondern beide Tätigkeiten in Wechselwirkung stehen, hängt auch die Wahrnehmung von instrumentellen Mitteln ab. 30 In Bergsons Philosophie der Wahrnehmung spielen die Mechanismen der Handlungen, das Peirce 1967, S. 175. Vgl. dazu auch den Abschnitt »Figurative Dynamik« in Schwemmer 2005, S. 238– 244.

29 30

249 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

6 · Das dynamische Schema

motorische Schema bzw. das Körpergedächtnis diese Rolle des instrumentellen Zurichtens der Wahrnehmung. Mémoire-habitude, Vorstellungsbild und Zeichen sind »intelligent montierte […] Mechanismen, welche eine passende Antwort auf die verschiedenen möglichen Fragen verbürgen.« (MG 146) Wahrnehmung entsteht durch die ihr eigene pragmatische Beschränkung (MG 26), reflektiert aber nicht auf ihre eigene Tätigkeit. Die Art unserer Anwendung von Zeichen, Mitteln und Instrumenten lässt sich nicht vollständig in eine Funktion bündeln, weil sie zwar einen Aspekt des Allgemeinen, aber auch einen Aspekt der individuellen Entwicklung hat. Die Erscheinung von Qualitäten funktioniert nicht instantan wie eine schematische Projektion, sondern entwickelt sich und verwendet Zeichen als »virtuelle Punkte« und »intelligent montierte Mechanismen« ihrer Entwicklung. Als allgemeinstes Instrument geht ihnen die Hand voraus, die laut Heidegger »das Wesen des Menschen inne« 31 hat. Schwemmer beschreibt die Gestensprache, die motorische Schemata zu Ausdrucksformen umbildet und der Wortsprache bei- oder vorgeordnet wird. 32 Auch das Handeln der Hand hat Bedeutung für eine Funktion des »Begreifens«, die nicht nur der Kommunikation dient, sondern auch die eigene Wahrnehmung gestaltet. Schon das motorische Schema, das mir ›mitteilt‹, was ich berühren könnte, die Reichweite der Hand, ist ein Mittel der Gestaltung. Dabei verschwindet die Hand in dieser Gestaltung wieder. Auch sie ist virtuell im Sinne Bergsons, d. h. sie befindet sich nur auf dem Weg zur Formung, ohne in der Form selbst thematisch zu werden. Mit der Wortschöpfung des »Zuhandenen« drückt Heidegger etwas Ähnliches aus: das »Zeug« erschließt sich uns in und durch seine Beziehung zur Hand, und damit für uns. Die Hand »selbst« kommt in der Erscheinung in ihrer Funktion des erschließenden, gestaltenden Mittels gar nicht mehr vor. Cassirer führt in diesem Zusammenhang mit Bezug auf Humboldt auch den Laut an, der ebenfalls instrumentelle Gestaltung bewirkt und im Vollzug wieder verschwindet. »Denn das Lautzeichen ist nicht der bloße Abdruck solcher Unterschiede, […] sondern ein Mittel und eine Bedingung der innerlichen Gliederung der Vorstellungen selbst. Die Artikulation des Lautes spricht nicht nur die

31 32

Heidegger 1982, S. 18. Schwemmer 2011, S. 18.

250 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Ausdruck und Bedeutung

fertige Artikulation des Gedankens aus, sondern bereitet ihr erst selbst den Weg.« (ECW 16, 82)

4.

Ausdruck und Bedeutung

4.1. Bergson: Anruf und Ausdruck Artikulation ist nichts anderes als eine selbstständige Entwicklung von Ausdrucksformen. Derrida hebt in seiner Interpretation der chôra hervor, dass die Formen, die aus ihr entstehen, nicht nur die Formen der Dinge sind, sondern zuallererst die Formen des Ausdrucks. Chôra ist für ihn kein Begriff, sondern ein Name. Sie ist nicht selbst etwas, sondern existiert oder entsteht als ein Gewebe von Bezugnahmen, durch Einschreiben in eine »geordnete Polysemie« 33. Das bedeutet, dass chôra weder dem Logos angehört, durch den sie wesenhaft erfasst und beschrieben werden könnte, noch dem Mythos, weswegen auch die mythische Erzählung im Timaios sie in ihrer Unbestimmtheit nicht vollständig ausdrücken kann. Stattdessen wird sie immer wieder und in verschiedenen Weisen beim Namen genannt. Dieser »Anruf« führt zu einer Vielfalt von Ausdrucksformen in einem spielerischen Prozess zwischen Erzählung und Bezugnahme oder Zuordnung, im Französischen beides relation. 34 Bergson hat mit dem Begriff der interpellation bereits eine solche Doppelfigur geschaffen, die allerdings konkreter wird als die bleibende Unbestimmtheit der chôra. Hier geht es ebenfalls um eine dialogische Figur, nicht des Benennens, sondern des Hervortretens, also der Prägnanz. In seiner Philosophie der Wahrnehmung ist es der »Anruf eines gegenwärtigen Zustandes«, den das vollständige Gedächtnis (also das mémoire-habitude und das mémoire-souvenir) »mit zwei gleichzeitigen Bewegungen« beantwortet (MG 164), näm-

Derrida 2005, S. 42. Vgl. ebd. Eine ähnliche Doppelfigur von Erzählen und Zuordnen hat der Begriff der Erzählung im Deutschen, in seiner Verwandtschaft mit der Zahl, und im englischen tale. Telling heißt sowohl erzählen als auch zählen oder abzählen und zuteilen, und telling the difference bedeutet unterscheiden, erkennen. To relate something bedeutet etwas erzählen, während to relate to something bedeutet, Stellung zu nehmen, ein Verhältnis zu setzen oder zu reflektieren, und im übertragenen Sinn auch Verstehen.

33 34

251 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

6 · Das dynamische Schema

lich zwei mathematischen Typen von Übertragung: Translation und Rotation. 35 Als topologische Figuren unterscheiden sich Translation und Rotation in Bezug auf ihr Verhältnis zur entstehenden Metrik. Bei der Translation bleibt die bisherige Symmetrie erhalten, bei der Rotation wird sie aufgebrochen, und die Erinnerung »orientiert« sich »auf die momentane Lage hin«, »um ihr die nützliche Seite zuzuwenden« (MG 164 f.). Die Translationsbewegung entspricht ungefähr dem, was Cassirer und Whitehead »Konkreszenz« nennen: einem Zusammenwachsen der ins Momentane gezogenen Bilder aus der Erinnerung mit Aspekten der aktuellen Wahrnehmung. Die Rotationsbewegung dagegen ist schon der Impuls zur Einordnung des Kontrahierten in ein komplexeres Sinn-Ganzes, in dem es als Ausdruck der Situation gelten kann. Die Kontraktion oder Verdichtung bei Bergson ist die Spannungsbewegung, die zur immanenten Gliederung des Ausdrucks führt. Eine Form des Ausdrucks ergibt sich, wenn die Kontraktion für die momentane Lage von Bedeutung ist und in einen Sinnzusammenhang eingegliedert wird. Die durée des Gedächtnisses wird durch den »Anruf« aufgebrochen und zur Aktualisierungsbewegung gebracht. So entsteht die relationale Struktur eines konkreten Wahrnehmungsereignisses. Ein Wahrnehmungsereignis bezieht in seine Entwicklung sowohl Kontraktion als auch Entfaltung ein. Entfaltung bedeutet eine Ausdifferenzierung intensiver, wirkender Relationen. Dabei gehen in die Aktualisierung der Wahrnehmung auch Wirkungen ein, die nicht vorhersehbar sind, sowohl aus der Erinnerung als auch aus der aktualen Empfindung heraus. »Jenseits der ›Schwelle‹ des Gegenwärtigen gibt es das Latente, das von überall her das Aktuelle einwickelt und überbordet.« 36 Die Relation des kontinuierlichen Verlaufs wird also durch Aktualisierung aufgebrochen und in die Relation der Struktur transformiert. Zugleich aber wird die Struktur des Ereignisses wieder zur Erinnerung, sie wird in die durée des Gedächtnisses oder der Erzählung eingeordnet. Die komplexe und konkrete Wahrnehmung besteht in genau dieser Dynamik von relation als ›Erzählung‹, dem persönlichen Gedächtnis, und relation als Zuordnung, dem gegenwärtig erlebten 35 36

Vgl. dazu Heuser 2007, S. 198 f. Jankélévitch 2004, S. 92.

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Ausdruck und Bedeutung

Zustand. Beide beziehen einander ein, ›enthalten‹ einander. So wird Wahrnehmung zum Ausdruck, zur relationalen Basis des Verstehens.

4.2. Cassirer: Anspruch und Ausdruck Cassirer formuliert ein entsprechendes Verhältnis als Dynamik von »Anspruch« und »Ausdruck«. Schwemmer zieht zur Interpretation seines »dialogischen Bildes des Verstehens« 37 Texte aus dem Nachlass heran, in denen Cassirer notiert: »›Leben‹ ist […] ein reiches u. typisches Ausdrucksphaenomen – Ein wahrgenommener, in objektiven Merkmalen fixierbarer Gegenstand spricht uns als lebendig, als ›Leben‹ an – […] Aber menschliches […] Sein erhält noch ein ganz anderes Moment – Es ist kein bloss passives Angesprochenwerden [,] es ist ein aktives Ansprechen, ein aktiver Anspruch, das sich hier ausdrückt – […] wir setzen uns mit ihm in eine wechselseitige Verbindung – wir setzen uns mit ihm ›auseinander‹.« (ECN 3, 198) »Das sich Einlassen auf diesen Anspruch ist eine aktive Teilnahme an den inneren Formverhältnissen des zu Verstehenden«, deutet Schwemmer. »Nachvollzug und Darstellung sollen so in eine Einheit des Verstehens gebracht werden.« 38

Anspruch und Ausdruck gehören, als doppelte Relationalität des Verstehens, der Wahrnehmung des Lebendigen an. Cassirer unterscheidet typischerweise die komplexere Stufe der intersubjektiven Wahrnehmung von der Wahrnehmung im allgemeinen: ein Unterschied, den Bergson hier wie anderen Orts nicht deutlich zieht. Die eigentliche Medialität des »Auseinandersetzens«, die »wechselseitige Verbindung«, sieht Cassirer im Eingehen auf den dialogischen Anspruch des anderen Menschen. Aber schon das »reiche und typische Ausdrucksphänomen« des Lebendigen wird als eigenständige Gestaltung verstanden, was durch die doppelte Relationalität von Anspruch und Ausdruck geschieht. Verstehen bedeutet auch hier ein Auseinandersetzen, ein Sichin-Beziehung-Setzen zu der neu entstehenden Ausdrucksform aus den »inneren Formverhältnissen des zu Verstehenden« heraus. Auf allen Ebenen ist es das Lebendige, das für seine Deutung der doppelten Relationalität von Anspruch und Ausdruck bedarf, also dasjenige, 37 38

Schwemmer 2011, S. 134. Ebd., S. 135.

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6 · Das dynamische Schema

was sich selbst in Entwicklung und Bewegung befindet. Ausdrucksformen sind in diesem Sinn Vorgänge der Selbstinterpretation von intensiven Realitäten. So entsteht Bedeutung.

4.3. Die Entstehung von Bedeutung aus der Sinnlichkeit 4.3.1. Bergson und die intuitive Erkenntnis Die philosophische Intuition Bergsons ist, wie wir in Kap. 1 herausgearbeitet haben, keine intuitive Erkenntnis im Sinne Leibniz’, der in der Anschaulichkeit das Ideal einer Fülle von Merkmalen sieht, welche simultan in ihrer Beziehung zu einander erkannt werden können. Es ist der Punkt der Simultaneität, nicht aber der Punkt der Fülle, in dem Bergson einen Einwand erhebt. Wird diese Fülle mit ihrer immanenten Gliederung als dynamisches Ganzes gedacht, so dass die inneren Beziehungen denkend oder fühlend nachverfolgt werden könnten, so sieht die Sache schon anders aus. Hier muss eine Vielfalt von Ausdrucksformen entwickelt werden, durch welche die »innere Form« aus der immanenten Gliederung der Fülle sich artikuliert. So kann die Form des Ausdrucks auch bei Bergson zur Reflexion auf das Allgemeine beitragen und muss nicht in der jeweiligen Einfühlung in die jeweils individuelle Qualität verbleiben. Die Gleichzeitigkeit der Anschauung kann für menschliches, lebendiges Fühlen nicht gegeben sein: sie ist ein Grenzideal göttlicher Anschauung, die nicht nur alles im Raum, sondern auch alles in der jeweiligen Dauer überblicken könnte. Das aber, wie Bergson deutlich macht, ist eine Illusion, denn die Entwicklung steht niemals fest und ist nicht vorhersagbar, solange überhaupt noch etwas existiert und sich bewegt. Nicht einmal Gott könnte die Zukunft vorhersagen. Da das Grenzideal des simultanen Überblickens einer cognitio intuitiva sich an der Priorität des Gesichtssinnes orientiert, setzen Kritiker wie Herder und Bergson dagegen andere Sinne, die diese Illusion völliger Distanz und Perspektivität nicht nahe legen. Die Illusion der Simultaneität und Instantaneität in der visuellen Wahrnehmung folgt aus der Verflachung, die Herder eine Gewohnheit der Erfahrung nennt, Bergson eine Forderung des Intellekts. Laut Herder ist »das Gesicht nur eine verkürzte Formel des Gefühls.« 39 39

Herder 1994a, S. 250.

254 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Ausdruck und Bedeutung

Ein selektiver Schematismus wird eingeschaltet, um die Konkretionen der gefühlten Erfahrung praktisch zuzurichten, die Heterogenität in ein homogenes Schema zu projizieren. »Jeder optisch wahrgenommene Körper ist […] Resultat einer Entlastungshandlung, die ohne die vorgängige, haptische Erfahrung der Dreidimensionalität nicht möglich wäre. Die Schnelligkeit des plastischen Sehens ist eine Abbreviatur der haptischen Körpererfahrung.« 40

Diese Entlastungshandlung ist bei Bergson das tableau der Vorstellung. Auch hier wird ja Simultaneität der Elemente durch Projektion erzeugt, während andere Verknüpfungen weggelassen werden, da sie nicht in das eine, auf einen Blick zu erfassende tableau passen. 4.3.2. Symbolisierung als Reflexion: Die Kristallisations-Metapher Die Entstehung der Bedeutung als Symbolisierung nennen Bergson und Herder beide Abstraktion im Sinne des Auszuges, wobei sie Bezug auf Berkeleys »New Theory of Vision« nehmen: »es ist in der Tat klar, daß man aus einer Sache, die nichts enthält, auch nichts herausziehen kann« (DSW 135). Symbolisierung als Verallgemeinerung kann also nicht die Qualitäten des Sinnlichen abstrahieren, denn diese sind einander heterogen. Etwas Gemeinsames kann nur in der Relationalität liegen, die konkrete Prozesse verbindet. Cassirer benutzt ebenfalls das Wort »Auszug« für die Relationalität des Geistes: »Indem der Geist auf diese Weise erwirbt, was er besitzt, erkennt er in dem stetig neu zuströmenden Stoffe nur den Reflex des eigenen Wesens wieder. Er ist der ›Auszug‹ und der Inbegriff für die Gesamtheit aller Verhältnisse und Gesetze, nach denen das Universum geordnet ist.« (FF 46)

Schon Herder entwickelt die Vorstellung vom Symbolischen nicht als Addition, sondern als Reflexion oder »Besinnung« 41 zwischen der immanenten Gliederung des Konkreten und der Mannigfaltigkeit der Erfahrung. So ist das Gehör zum Beispiel der Sinn, der Artikulation zur Sprachfähigkeit vermittelt, um zum Ausdruck zu gelangen. 42 Die vielfältigen symbolischen Beziehungen kristallisieren sich heraus 40 41 42

Adler 1990, S. 103. Herder 1985a, S. 723. Ebd., S. 746 ff.

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6 · Das dynamische Schema

und reflektieren dabei auf die Erfahrung, die sie auch immer wieder neu strukturiert. »So hat auch keine Sprache ein Abstraktum, zu dem sie nicht durch Ton und Gefühl gelangt wäre.« 43 »[…] so werden alle Zustände der Besonnenheit in ihm sprachmäßig: seine Kette von Gedanken wird eine Kette von Worten.« 44

Die Kristallisations-Metaphorik, die wir in diesem Zusammenhang bei Cassirer finden, stammt aus der Topologie und beschreibt die Entstehung metrischer Strukturen. Sie steht im Zusammenhang mit den beiden topologischen Bewegungen, die Bergson das Gedächtnis ausführen lässt, wenn es sich in die Ausdrucksbewegung begibt: Translation und Rotation. Cassirers topologische Kristallisationsmetapher des »Zusammenschießens« und »Einfügens« in eine Sinnfügung gestattet es, die Form des Ausdrucks als intensive Relation von Kontraktion und Kristallisation an die Stelle der intuitiven Erkenntnis bei Leibniz zu setzen. Dazu muss nur das statische Schema der Anschaulichkeit als simultaner, instantaner Gegebenheit verworfen und durch ein dynamisches Schema ersetzt werden. Cassirers »Einheit von Präsenz und Repräsentation« beschreibt diese intensive Relation. »Präsenz« ist das prägnante Hervortreten, die immanente Gliederung des Ereignisses, das auf die Wahrnehmung wirkt: das nennt Bergson »Kontraktion«. »Repräsentation« ist die Verweisung auf die verschiedenen Zusammenhänge, durch welche die »Fülle« der Ausdrucksformen sich realisieren lässt. So schafft die Kristallisationsmetaphorik Ersatz für die Simultaneität der unmittelbaren Anschauung durch mehrdimensionale Vermittlung der Sinnzusammenhänge. Als intensive Relation ist die Bewegung des Ausdrucks zwischen Kontraktion und Kristallisation medial. Sie verwirft sowohl das Schema der Instantiierung als auch das Schema der diskreten Folge von Einzelmomenten oder Einzelphasen. Immer wieder kann eine Kontraktion das Gedächtnis als Ganzes transformieren. Die Fülle, die eine intuitive Erkenntnis bei Leibniz erfassen soll, wird zwar nicht auf einmal in ihrer inneren Gliederung ›gesehen‹, dazu ist sie in sich selbst zu komplex, zu dynamisch. Aber sie wird in eine Vielfalt von Ausdrucksformen und Artikulationsprozessen eingebracht. Das simultane Ganze der unmittelbaren cognitio intuitiva wird zu einem 43 44

Ebd., S. 758. Ebd., S. 774.

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Medialität als Logik der Übertragung

dynamischen Ganzen des Sinnzusammenhangs. »Sinn entsteht nur in Verbindung mit Sinnlichkeit: jede geistige Leistung bedarf, um ihre Identität zu erreichen, des Ausdrucks in einem symbolischen Medium.« 45 Sinn ist der Bereich, in dem Identität möglich wird, in dem also die Erkenntnis des Allgemeinen möglich wird: nicht aus der reinen Setzung eines apriorischen Subjektprinzips heraus, sondern aus der intensiven Dynamik der Erfahrung.

5.

Medialität als Logik der Übertragung

5.1. Übertragen konstituiert Verstehen und Erkennen Eine solche Versöhnung der Anschaulichkeit mit der realen Dynamik der Erfahrung prägt die heutige Beschäftigung mit der Metapher, insofern sie die Logik der Verdinglichung überwunden hat. Man geht nicht mehr davon aus, dass sich die Metapher vorgefundener, struktureller Ähnlichkeiten bedient und die Konkretion mit der Abstraktion verwechselt. Vielmehr geht man davon aus, dass die metaphorische Funktion aus einer Praxis der Deutung von Wirklichkeit entsteht, die selbst der Medialität einer strukturgenetischen Wechselwirkung bedarf. In diesem Sinne liefert Medialität eine Logik der Übertragung. In »Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Götternamen« (1925) geht Cassirer auf die Substitutionstheorie der Metapher ein und setzt dagegen die »radikale« oder »fundamentale« Metapher Friedrich Max Müllers 46, den er zitiert: »›Unter Metapher sollte man also nicht länger einfach nur die überlegte Thätigkeit eines Dichters, die bewußte Uebertragung eines Wortes von einem Objecte auf ein anderes verstehen. Dies ist die moderne, individuelle Metapher, welche von der Phantasie erzeugt wird, während die alte Metapher weit häufiger eine Sache der Nothwendigkeit und in den meisten Fällen weniger die Uebertragung eines Wortes von einem Begriffe auf einen andern als die Schöpfung oder nähere Bestimmung eines neuen Begriffs mittels eines alten Namens war.‹« (ECW 16, 300)

Diese »Schöpfung oder nähere Bestimmung eines neuen Begriffs mittels eines alten Namens« trifft ziemlich genau die metaphorische 45 46

Schwemmer 1995, S. 37. Vgl. dazu Stoellger 2000.

257 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

6 · Das dynamische Schema

Funktion, wenn man diese mit Cassirer nicht nur als Austausch oder Ersetzung, sondern als »Umsetzung« (ebd., 302), als Transformation »mittels« des Namens begreift. Das liminale Bedeutungsfeld des Übertragens betrifft die Rückdeutung aus der konkreten Deutung oder Erscheinung auf ihre Ursprünge, auf die virtuellen Strukturen, die ihr zu Grunde liegen. »Was also bedeutet ›Übertragen‹ ?« 47, fragt Krämer und kommt zu dem Schluss: »Aisthetisierung bildet den Nukleus von Übertragungsvorgängen; das Übertragen ist als ein Zeigen rekonstruierbar.« 48

Etwas wird wahrnehmbar gemacht, etwas tritt hervor oder erscheint. Dieses Erscheinen ist ein Ereignis zwischen Bereichen, die sich durch die Übertragung von einander abgrenzen. Es ist die Übertragung selbst, die die Grenzen neu oder erstmals zieht; sie gestaltet ihren »Ausgangsbereich« sowie ihren »Zielbereich«. Krämer unterscheidet zwei »Domänen« der »Aisthetisierung«: die kommunikative Funktion des Boten und die kognitive Funktion der Spur, die sie als »Verstehen« und »Erkennen« beschreibt. 49 In der chôra existiert das Problem der Zweiwertigkeit noch nicht, denn sie ist ja in sich ungeschieden: jede Übertragung ist ein Hervortreten, ein Erscheinen-Lassen ohne kausal zugeordneten Ursprung. Mit dem Erscheinen oder der Prägnanz der Gestalt entsteht die Übertragung rückwirkend als virtuelle, als möglich gewesene, über die Spur der eingeprägten Formen. Ebenso konstituiert sich die Metapher als Metapher mit dem Hervortreten der Ähnlichkeit, die durch sie erst entsteht. Metaphorische Übertragung erzeugt Ähnlichkeit, nicht umgekehrt. Sie kann sie natürlich nicht willkürlich erzeugen, sondern eben in Wechselwirkung mit einer virtuellen Struktur, einer Präformation, die Gelegenheit zum schöpferischen Prozess gibt. Derrida spricht in diesem Zusammenhang auch vom lieu donné der chôra, was im Französischen sowohl den »gegebenen Anlass« bedeutet, also die Gelegenheit zum schöpferischen Prozess, als auch das »Geben« oder Schenken von Raum. 50

47 48 49 50

Krämer 2008, S. 261. Ebd., S. 262. Ebd., S. 283 f. Derrida 2005, S. 28.

258 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Medialität als Logik der Übertragung

Die Logik des Übertragens finden wir bei Max Black, wenn er die Substitutions- und Vergleichstheorien der Metapher durch die Interaktionstheorie von I. A. Richards 51 ersetzt. Richards erklärt, dass »wir beim Gebrauch der Metapher zwei unterschiedliche Vorstellungen in einen gegenseitigen aktiven Zusammenhang [bringen], unterstützt von einem einzelnen Wort oder einer einzelnen Wendung, deren Bedeutung das Ergebnis der Interaktion beider ist.« 52

Unter Interaktion verstehen Richards und Black hier eine Wechselwirkung zwischen Kontexten, die als Prozess der Hervorbringung von Ähnlichkeiten gedeutet wird. Dieses kontextuell-kompositorische Metaphernverständnis nach Richards und Black lässt sich durch ein kognitiv-konzeptuelles Metaphernverständnis ergänzen, das George Lakoff und Mark Johnson vorlegen. 53 Diese beiden Richtungen der Metapherndeutung entsprechen in etwa dem »Verstehen« und dem »Erkennen« in Krämers ästhetischer Konzeption der Übertragung. Entscheidend ist, dass durch lebendige und pragmatische Sprech- und Denktätigkeit eine Wechselwirkung von hermeneutischen Kontexten und kognitiven Konzepten erzeugt wird, die sämtliche Komponenten verändern kann. In diesem Sinn nennt Richards Metaphorik die »konstitutive Form« 54 von Sprache und Denken.

5.2. Homogene Medialität: Übertragung als Positionierung Die kognitiven Studien Lakoffs und Johnsons stellen hier eine fruchtbare Ergänzung dar, indem sie verdeutlichen, wie sich die Logik der Übertragung sowohl auf die Konstitution als auch auf die Anwendung pragmatischer Konzepte des alltäglichen Lebens auswirkt. Indem zum Beispiel eine Metaphorik des Raumes auf die syntagmatische Struktur unseres Sprechens angewendet wird, verleiht dies der Struktur einen Aspekt des Räumlichen: Ein Wort hat seinen Platz im Satz, eine Aufzählung wird zur Konzentration semantischer Elemente, Intensivierung wird durch Iteration angezeigt. Aus dieser Vorstel-

51 52 53 54

Black 1996a, S. 69. Richards 1936, zitiert nach Black 1996a, S. 69. Vgl. Lakoff 1990 und Lakoff / Johnson 2003. Richards 1996, S. 32.

259 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

6 · Das dynamische Schema

lung heraus begreifen wir Sätze als Formen im Sinne von containers: Sie haben einen Inhalt. 55 Diese kognitive Konzeptualisierung kann zum besseren Verständnis von Bergsons kritischer Parallele zwischen Sprache und dreidimensionaler Räumlichkeit u. a. in Zeit und Freiheit beitragen, einer Kritik, die an verschiedenen Stellen auch von Cassirer und von Whitehead bestätigt wird. Das bessere Verständnis liegt darin, die »Ähnlichkeit« von Sprache und Raum nicht als »Vergleich« oder »Ableitung« zu sehen, sondern als Formung aus einem Kontinuum der Übertragung heraus. Bei genauem Lesen wird deutlich, dass auch Bergson Sprache und Raum als zwei Funktionen der Übertragung ansieht, die einen gemeinsamen Vermittler haben, nämlich den Intellekt, der nach geordneter Statik verlangt. Cassirer deutet den Schematismus des Intellekts mit Kant als eines von zwei regulativen Prinzipien des Denkens, die er Prinzipien der Homogenität und der Heterogenität nennt. (MS 13) Mit Lakoff können wir diesen Schematismus ein kognitives Prinzip der Übertragung nennen. Die Logik der »Verdinglichung« entspringt eben diesem Prinzip der Homogenität, das laut Bergson ein praxisorientiertes Prinzip ist. Insofern wir diesem Prinzip des Intellekts oder der Schematisierung folgen, betreiben wir eine qualitative Reduktion der Erfahrung, um die aktive Selektion unserer Tätigkeit zu vereinfachen. Wir verschaffen uns, ganz alltäglich gesprochen, einen Überblick. Die »räumliche[n] Schemata« (Cassirer, ECN 1, 14) sind durch Extensionsbeziehungen eingeteilt. Selektion wird ermöglicht durch klare Positionierung: räumlichen Abstand zwischen zwei Begrenzungen oder genaue Extension eines Begriffs. Positionierung ist die strukturelle Ähnlichkeit von dreidimensionalem Raum, objektiver Gegenständlichkeit, und designativer Sprache. Wie jede Ähnlichkeit wird sie durch Übertragung erzeugt, in diesem Fall durch »Übersetzung in räumliche Schemata« (ECN 1, 14). Diese Übertragung nennt Bergson die Darstellung von etwas in einem homogenen Medium. In der Erkenntnistheorie weist das Schema der Positionierung den einzelnen Elementen durch Unterscheidung ihren Platz zu. Hier taucht der platonische Begriff der chôra wieder auf als Stelle, als Position im Rahmen einer Logik. In Platons Höhlengleichnis, das Cassi-

55

Lakoff / Johnson 2003, 126 f.

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Medialität als Logik der Übertragung

rer in »Goethe und Platon« zitiert (ECW 18, 421), wird der Erkennende nach dem Verlassen der Höhle (die auch eine Art von chôra oder Matrix ist) schließlich imstande sein, auch die Sonne selbst – die das Sehen ermöglicht – »an ihrer eigenen Stelle« (chôra) anzusehen und zu betrachten. Die homogene Ordnung der Welt ist so strukturiert, dass in ihr sogar das Prinzip der Ordnung selbst seinen Platz einnimmt. Cassirer stellt dagegen die Weiterentwicklung dieses Motivs bei Goethe, aus dessen Faust er zitiert: »So bleibe denn die Sonne mir im Rücken!« (ebd.) Denn er will nicht das Schema einer Ordnung sehen, sondern den eigendynamischen »farbigen Abglanz«, nämlich das Leben. Im Schematismus der homogenen Medialität sind die Elemente durch ihre Gleichartigkeit und Gleichursprünglichkeit verbunden und gerade in Absehung ihrer qualitativen Verschiedenheit mit einander durch Positionierung verknüpft. Für Kant zum Beispiel ist das die einzig mögliche Form der Übertragung. Die Einbildungskraft, insofern sie nur das Mannigfaltige synthetisiert, nennt er in der Kritik der reinen Vernunft eine »blinde […], obgleich unentbehrliche […] Funktion der Seele, ohne die wir überall gar keine Erkenntnis haben würden, der wir uns aber selten nur einmal bewußt sind« (KrV B 103). Nur als Spontaneität des Verstandes wird sie bewusst, und dann stellt sie die figurale Synthesis her. Erst in der Kritik der Urteilskraft wird die produktive Einbildungskraft an einer heterogenen Medialität der Übertragung beteiligt, was für Cassirer und Goethe einen Wendepunkt im Denken Kants darstellt (vgl. Kap. 3). Jede strukturelle Erzeugung von Ähnlichkeit kommt durch einen gewissen Grad der Mitwirkung dieser homogenen Medialität zustande. Denn auf Grund der Homogenität dessen, was dieses Medium erscheinen lässt, wird ein Vergleich möglich. Durch Gleichheit der Gegenstände lässt sich erkennen, was an ihnen unterschiedlich ist, und so können wir sie beschreiben und mit ihnen umgehen. Die Sprache allerdings wäre unterbestimmt, wollte man sie auf homogene Medialität reduzieren. Homogene Medialität betrifft nur den designativen 56 oder operationalen Aspekt des Sprechens, der in reiner Form nur in demonstrativen Lehr- und Lernsituationen auftritt. Denn was homogene Medialität nicht leisten kann, ist, Raum

56

Vgl. Schwemmer 2011, S. 22 f.

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6 · Das dynamische Schema

für Veränderung zu geben. Sie kann Qualitäten nur reflektieren, indem sie sie in ein Verhältnis von Referenzen setzt. 57

5.3. Heterogene Medialität: Formung durch zeitliche Übertragung Whitehead und Cassirer beschäftigen sich mehr mit den schöpferischen und performativen Dynamiken der Sprache, als Bergson das tut. Gerade durch das deutliche Hervortreten der sprachlichen Ausdrucksformen und ihrer Ordnungsregeln ist es auch möglich, mit diesen Formen und Regeln kreativ umzugehen. Darin scheint die Möglichkeit des abstrakten Denkens zu liegen, des Umgangs mit Repräsentationen und ihren Beziehungen zum Repräsentierten, der Funktionalität von Modellen und der Neuverknüpfung von Strukturen. »Ihr Sinn und ihr Wert hängt nicht davon ab, was sie ›an sich‹, ihrem metaphysischen Wesen nach, sein mag, sondern von der Art ihres Gebrauchs […]. Denn es ist nicht die starre Substanz der Sprache, sondern ihre lebendige dynamische Funktion, die über diesen Sinn und Wert entscheidet. […] Faßt man die Sprache, statt sie einem bestehenden Ding zu vergleichen, vielmehr in ihrem reinen Vollzug, nimmt man sie, gemäß der Forderung Humboldts, nicht als Ergon, sondern als Energeia, so gewinnt das Problem alsbald eine andere Gestalt. Sie ist dann keine gegebene starre Form mehr; sondern sie wird zu einem Formzeugenden, das freilich zugleich ein Formzerstörendes, Formzerbrechendes sein muß.« (GL 204 f.)

In diesem Sinne lässt sich die Beschränkung des sprachlichen Denkens auf seine Ausdrucksmöglichkeiten nicht nur als Entfremdung, sondern auch als Stärke begreifen. Auch Bergson gibt zu, dass Sprache nicht nur ein Aneinanderreihen von Wortbausteinen ist, sondern ein Medium mit schöpferischer Eigenstruktur. Die ereignishaften, zeitlichen Aspekte des Übertragens sind für heterogene Medialität entscheidend, während sie in homogener Medialität ausgeblendet werden. Der zeitliche Aspekt des Übertragens wird häufig bildlich mit der Figur des Boten und des Engels in Verbindung gebracht. 58 Darum wird wohl auch die sogenannte »Qualiadebatte« der Analytischen Philosophie für immer ungelöst bleiben. 58 Krämer nennt Régis Debray, Michel Serres, Giorgio Agamben, Andrei Pleşu. Vgl. dazu und zu dem Folgenden Krämer 2008, S. 110 ff. 57

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Medialität als Logik der Übertragung

Der Bote »vermittelt zwischen heterogenen Welten« 59, wobei er in zeitlicher Übertragung, »durch seine eigene Bewegung« 60, den Zwischenraum räumlicher oder wesenhafter Entfernung überwindet. Er lässt also genau das hinter sich, was das homogene Schema ermöglicht, nämlich die extensionalen Relationen. Stattdessen teilt er etwas qualitativ Neues mit, was nicht aus der gegebenen Struktur folgt. So bewirkt er eine Veränderung. Engel sind die metaphysische Reflexion des Boten und überwinden den Zwischenraum zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen. Sie realisieren qualitative Relationen und erschöpfen ihr Wesen in der Funktion dieser Realisierung, der Macht der Botschaft. Das ist kein Transport von Information wie in einer elektronischen Datenübertragung, sondern fällt zusammen mit der Verkündigung als »Zeugung« und als »Zeugnis« 61, der Offenbarung Gottes, die selbst materielle, reale Veränderung bedeutet. Das Symbolische, sinnhaft Zusammenfügende dieser wirklichen Veränderung kann mit dem fallenden Engel ins »Diabolische« 62 umschlagen. Irigaray rückt die engelhaften Funktionen der zeitlichen, qualitativen und symbolischen Formentstehung, die Krämer analysiert, in noch ein anderes Licht, wenn sie auf die Trennung zwischen Körper und Seele in der Geschichte der Metaphysik hinweist. Das Körperliche fällt dabei der homogenen, quantitativen Schematisierung der Ausdehnung zu, während dem Seelischen die Form der Dauer vorbehalten ist. Diese Trennung, so Irigaray, macht eine metaphysische Reflexion der Medialität des Geschlechtsaktes unmöglich: die (männliche) Seele soll sich dem Ewigen und Transzendenten vermählen, »Geist und Gott«, und sich nicht vom (weiblichen) Körper korrumpieren lassen. »Aus der Nichterfüllung des Geschlechtsaktes sind viele Folgebilder […] hervorgegangen. […] [z. B.] die Engel. […] Sie versetzen die Lähmung oder die apatheia des Körpers, der Seele, der Welt in Bewegung […]« 63

Als Mythos ist der Engel ein Bild, sozusagen das Bild der Übertragung selbst. Er ver-bildlicht die medialen Aspekte der Formung durch zeitliche Übertragung: die sinnliche Berührung als In-Bewegung59 60 61 62 63

Ebd., S. 110. Ebd., S. 116. Vgl. ebd., S. 126. Vgl. ebd., S. 131. Irigaray 1991, S. 23 ff.

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6 · Das dynamische Schema

Versetzen der Apathie durch Sympathie; die Erscheinung als Zeigen oder Zeugnis, als Offenbarung; die Realisierung von Qualitäten; und die Zeugung als symbolische Formung, die auf die zerstörerische Gegenseite, das Diabolische verweist. Erscheinung und symbolische Formung sind Motive der Prägnanz; sympathische Bewegung ist ein Motiv der Resonanz. Beide gehören zur Realisierung von Qualitäten dazu. Während die Resonanz das Sich-Auswirken von Intensitätsbeziehungen betrifft, steht Prägnanz für eine bereits gestaltete Verknüpfung intensiver Relationen, für eine »immanente Gliederung« von Qualitäten in ihrem Verhältnis zu einander.

5.4. Die Logik der Artikulation Der Begriff der Artikulation beschreibt die Tätigkeit dieser Gliederung, die aktive Seite der Übertragung. Wenn Übertragungsprozesse überhaupt die Basis für ein Denken der »inneren Form« darstellen, so ist es die Artikulation, die diese Übertragungsprozesse in Gang setzen und differenzieren kann. Darum irrt auch Plümacher, wenn sie schreibt, Cassirer hätte aus »systematischen Gründen […] eigentlich auch für Ausdrucksphänomene eine Schemabildung annehmen müssen.« 64 Die Schemata und Ordnungsformen homogener Übertragung werden durch Artikulationsprozesse ins Übertragungsgeschehen einbezogen und durch sie wieder modifiziert; doch ein wesentliches Element des Ausdrucks ist immer die heterogene Übertragung, so dass es verfälschend wäre, dem Ausdruck noch einmal eine eigene Homogenisierung aufzuerlegen. Cassirers Punkt ist ja gerade, dass die Schemata von Gegenständlichkeiten und Korrelationen durch symbolische Formung immer neu »gestiftet« und transformiert werden. Schwemmer setzt in seiner Kulturphilosophie die Logik der Artikulation an die Stelle einer Logik der Referenz. Artikulation versteht er mit Cassirer als Gliederung der Form schon auf der Ebene der sinnlichen Wahrnehmung, im Verhältnis zu ihrer Repräsentation. 65 Artikulation ist einerseits eine Figuration oder wahrnehmbare Gestaltung, andererseits die Tätigkeit der Gestaltung, und bedarf 64 65

Plümacher 1997, S. 202. Schwemmer 2005, S. 49 ff.

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Medialität als Logik der Übertragung

einer Basis homogener und heterogener Medialität. Auch Bergson leugnet nicht, dass ein wirklicher oder, wie er selbst sagt, ein »konkreter« Prozess sowohl homogene Schematisierungen als auch heterogene Differenzierungen einschließt. Allgemeiner können wir Prozessualität darum als ein Zusammenspiel von Struktur und Kontinuum beschreiben, was auch genau das Verständnis des Prozessualen bei Cassirer und Whitehead trifft. Die Dynamik des Ganzen und seiner Teile, die es möglich macht, die Entstehung des Neuen zu denken, kommt zustande, wenn Artikulation als Vermittlung mit der Kontinuität der wechselseitigen Durchdringung verbunden wird. Die mediale Logik der Artikulation zeigt sich schon in den grammatischen Formen, etwas zu artikulieren oder sich zu artikulieren. Die erste Form scheint aktiv auf ein Objekt gerichtet, doch muss man bedenken, dass dieses Objekt – das zu artikulierende »Etwas« – einerseits als Artikuliertes erst hervorgebracht wird, andererseits als zu Artikulierendes gegeben ist. Die Objektivation geschieht zwar in der Artikulation, aber zugleich geschieht die Artikulation aus der Situation heraus, dass etwas zu artikulieren sei im Sinne des Ausdrückens. Hier liegt also eine aktiv-passive, tätig-rezeptive Wechselwirkung vor. Noch eindeutiger medial ist natürlich die Form des Sich-Artikulierens. Wie das Sich-Mitteilen bei Benjamin ist das Sich-Artikulieren eine gestaltende Ausdifferenzierung des medialen Bereichs, in dem die eigenen Zustände zum Ausdruck gebracht werden und so in schöpferische Tätigkeit der Aktualisierung übergehen. Es schließt Beziehungen der Differenz und der Gemeinsamkeit zwischen seinen Komponenten ein und hat räumliche und zeitliche Dimension. Seine Verhältnisse bringen Zustände zum Ausdruck, sie sind selbst Ereignisse. Schwemmer sieht die Logik der Artikulation als Rettung einer Errungenschaft der Philosophie, nämlich der »Reflexion auf die immanente Gliederung«, vor dem Dogmatismus der Transzendentalphilosophie. 66 Whitehead gebraucht den Begriff der conscious discrimination für die Ebene des erkennenden Erfassens, auf der Artikulation zur bewussten Unterscheidung wird, die den Vergleich bereits einschließt. Sie entsteht einzig auf der Basis der subjektiven Form, also der Entwicklung eines wirklichen Individuums, und wird in diese wieder einbezogen. 66

Schwemmer 2005, S. 52.

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6 · Das dynamische Schema

»All knowledge is conscious discrimination of objects experienced. But this conscious discrimination, which is knowledge, is nothing more than an additional factor in the subjective form of the interplay of subject with object. This interplay is the stuff constituting those individual things which make up the sole reality of the Universe. These individual things are the individual occasions of experience, the actual entities.« (AI 177)

Die Entwicklung und das Wechselspiel der occasions of experience müssen der vermittelnden Synthese in den Formen des Geistes, der conscious discrimination logisch vorausgehen, was den wichtigsten Gegensatz dieser Art von Prozessphilosophie zu derjenigen Hegels darstellt. Medialität ist nicht ein Drittes, das aus einer Synthese von Gegensätzen entsteht, sondern das Dritte dieser Gegensätze, in und aus dem sie entstehen. Das kann ein Vorgang des Austauschs sein, ein receptaculum, ein pandechês, oder eine Konstellation. Entscheidend ist der Charakter des Umgreifens, der sich über die kontinuierlichen Veränderungen hinweg hält. Auch die philosophische Reflexion der Metapher bei Blumenberg, Ricœur und Derrida reflektiert auf die Artikulation einer »inneren Form«, nämlich auf die Lebendigkeit des Denkens. Der Streit um den kognitiven »Gehalt« der Metapher zwischen Donald Davidson, Max Black und Paul Ricœur bezieht sich auf dieses Verständnis des Metaphorischen als Vorgang des Übertragens, als »semantische Innovation« oder »Impertinenz«, wobei auf der Seite Blacks und Ricœurs die Argumentation immer auf der Grundannahme einer ästhetischen Medialität aufbaut, die eine Eigenkonfiguration der Form ermöglicht. 67 Metaphorik erzeugt prozessual eine eigene Form der Synthesis und kann damit schließlich als Basis jeder Form der Synthesis verstanden werden, insofern jede Form der Synthesis ihre Rechtfertigung durch einen Sinnzusammenhang fordert. In diesem Sinn versteht Blumenberg Metaphorik als Praxis des Denkens mit realem Weltbezug und damit als »Unbegrifflichkeit« 68, beeinflusst durch Cassirer, dessen Leistung für eine Theorie des Unbegrifflichen er in der Entwicklung von Bedeutung im mythischen Denken sieht. 69 Cassirer betont selbst die Wichtigkeit der Metapher für das »Leben« der Sprache: 67 68 69

Vgl. zu dem »Streit« Breitling 2010, S. 192, 193, 196. Vgl. Blumenberg 2001b. Vgl. dazu Recki 1999, S. 143.

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Medialität als Logik der Übertragung

»Im Organismus der Sprache bildet die Metapher ein unentbehrliches Element; ohne sie würde die Sprache ihr Leben verlieren und zu einem konventionellen Zeichensystem erstarren.« (LKW 46)

5.5. Form, Sinn und Geist Dabei geht es nicht darum, dass jeder Sprecher ständig kreative Leistungen im üblichen Sinne erbringen müsse. Es geht um die Übertragungsvorgänge, die wir immer vornehmen, wenn wir denken und sprechen. Diese Übertragungsvorgänge enthalten eine Dynamik zwischen dem Gebrauch von Schemata einerseits, und dem Erfassen und Hervorbringen von etwas Neuem und Eigenständigem, das der Situation entsprechen soll, andererseits. Paul Ricœur illustriert diesen Zusammenhang zu Anfang von La métaphore vive mit der Feststellung, »daß das Phänomen, um das letztlich meine Gedanken kreisen, der Zusammenhang zwischen dem Schöpferischen und der Regel ist.« 70 In diesem Zusammenhang entsteht die Dynamik von »Sinn« und »Geist«. »Sinn« und »Geist« sind als Begriffe bis heute in einer idealistischen Logik der Identität gefangen und finden daher kaum mehr Gebrauch im Rahmen der Kulturphilosophie. Das ist schade, weil die Medialität von Sinn und Geist darin besteht, heterogen zu denken, also sowohl Identität als auch Differenz, sowohl Einheit als auch Wandel. »Wirklichkeit«, schreibt Petra Gehring, »ist irreduzibel sinnförmig.« 71 »So wesentlich ist hier dieses Substrat, daß es bisweilen den gesamten Bedeutungsgehalt, den eigentlichen ›Sinn‹ dieser Formen zu umschließen scheint. […] Und damit ist in der Tat ein allumfassendes Medium gegeben, in welchem alle noch so verschiedenen geistigen Bildungen sich begegnen. Der Gehalt des Geistes erschließt sich nur in seiner Äußerung; die ideelle Form wird erkannt nur an und in dem Inbegriff der sinnlichen Zeichen, deren sie sich zu ihrem Ausdruck bedient.« (PSF I, 16)

Schwemmer spricht in Bezug auf Cassirer von »Form als entscheidende[m] Faktor von Sinn und zugleich als Besonderheit des Seins

70 71

Ricœur 1986, S. I. Gehring 2010, S. 204.

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6 · Das dynamische Schema

von Sinn.« 72 »Faktor« und »Besonderheit« sind zwei Variationen auf den Vorgang der Eingliederung der Form in einen Sinnzusammenhang, den wir auch Konkretion nennen können. Der »entscheidende Faktor von Sinn« ist das Faktische, das Wirkende an der Form, durchaus auch in Herders Sinn vom »Wirken« des stofflichen Gewandes. Als Faktor von Sinn ist Form schöpferisch, sie ist die Erscheinung der Wirkung. Die »Besonderheit« der Form dagegen ist ihre konkrete Präsenz, mit der sie zugleich auf das komplexere Ganze ihres Sinnzusammenhangs verweist. Indem die konkrete Präsenz sich realisiert, verifiziert sich die Struktur der Beziehung zu etwas Allgemeinerem. Sie wird zur intensiven Realität. Die Form artikuliert das Sinn-Ganze und tritt mit der Selbstorganisation des Sinnzusammenhangs in Wechselwirkung. Damit artikuliert sie sich selbst im Medium des Sinns. In der Formel vom »Leben des Geistes« bringt Cassirer die Bedeutung dieser »lebendige[n] Wechselwirkungen zwischen der Welt des Gedankens und der Welt der Tat« (ECW 17, 291) zum Ausdruck. Ästhetische Formen sind, insofern sie in lebendiger Wechselwirkung stehen, schöpferisch und wirkungsvoll, sind lebendige bzw. innere Formen. Auch der systematische Geist, der nach Ordnung in den Formen der Erkenntnis strebt, ist eine innere Form und ist damit ästhetisch. Als geistiges Ordnungsprinzip gehört er jedoch zugleich den logischen Formen an, die Strukturen der Unterscheidung und Zuordnung liefern. So soll der Geist die mediale Kontinuität zwischen dem Schöpferischen und der Regel herstellen, allerdings in Abhängigkeit von den Werken, die Zeugnisse von Kultur und schöpferischem Individuum sind. (ECN 1, 113–195) Die symbolischen Formen erlangen objektive Allgemeinheit als Formen des Geistes, die sich von der Allgemeinheit Hegels durch ihre echte Medialität unterscheidet: Sie transformieren und deuten einander, sind aber nicht mit einander identisch, nicht das Produkt einer dialektischen Synthese. Gegen Hegel stellt Cassirer Dilthey, der den Schritt vom Erleben zum Werk vollzieht und dadurch echte, weil perspektivische Historizität gewinnt (ebd., 159). »Der durchgängigen Individualität der Ansatzpunkte entspricht die durchgängige Individualität der Entwicklungsregeln. Die Natur bildet einen unaufhörlichen schöpferischen Prozeß, der, wie er niemals zu denselben Bedingungen zurückkehrt, sich auch niemals in demselben Produkt wieder72

Schwemmer 2011, S. 139.

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Medialität als Logik der Übertragung

holt. Und dennoch ist dieses ewig quellende Leben in innere Schranken gebannt, aus denen es nicht heraustreten kann.« (FF 42)

Für Bergson sind die allgemeinen Formen des Geistes selbst prozessuale Gestalten. Aus Bergsons Sicht ergibt sich erkenntnistheoretische Medialität aus einer Wechselwirkung von Intuition und Intellekt, die er ebenfalls Geist, ésprit nennt. Wissenschaften von der Natur und vom Geist sollen sich ergänzen, sie haben jeweils ihren Gegenstand, und in ihrer Aktivität sollen sie wiederum in Wechselwirkung treten: »sich gegenseitig prüfen, bis die Berührung zur Befruchtung wird. Die beiderseits erhaltenen Ergebnisse werden sich wieder vereinigen, da die Materie sich mit dem Geist verbindet. […] Das heißt, daß Wissenschaft und Metaphysik im Gegenstand und in der Methode voneinander verschieden sind, aber daß sie in der Erfahrung sich vereinigen.« (DSW 59 f.)

Für Whitehead steht die Philosophie vor der Aufgabe, ein kohärentes System zu entwerfen, in dem Wissenschaft und Religion »aufgehoben« sind (PR 15). Dieses System soll ein »spekulatives« 73 sein: eine Form, die selbst zugleich Ausdruck und Entwicklung der philosophischen Erkenntnis ist. Cassirer beschreibt diesen Anspruch so: »Im Gebiet der Philosophiegeschichte stehen wir immer mitten inne in der Erzeugung des Gedankens, den wir in seiner Entwicklung betrachten – die Erzeugung wird uns zum Schlüssel der Entwicklung und vice versa [.] Wir sind Mitspieler in dem grossen Drama der Philosophiegeschichte […]« (ECN 3, 103)

Zu dieser Definition des Spekulativen im Vergleich zum Rationalen vgl. Reiner Wiehls Einleitung zu Abenteuer der Ideen in Wiehl 2000b, S. 14.

73

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Kapitel 7 Das Ereignis der Prägnanz »Lassen wir uns aber nicht von einer Metapher zum besten haben! Der Ort, zu dem man gelangt, malt nicht die Form des Weges, den man zu seiner Erreichung einschlug […]« (Henri Bergson)

1.

Die ästhetische Medialität als Formentstehung

1.1. Relevanz und Resonanz Heterogene Medialität entsteht nicht aus einem objektiven Schema, sondern wird zur Übertragung durch das intensive Zusammenwirken einer Vielfalt gestaltender Prinzipien. Neben der engelhaften »Offenbarung« oder symbolischen »Zeugung«, die bildlich für das Klare und Deutliche steht, das eindeutig zugeordnet werden kann, wird dabei auch das Ungestaltete, Latente einbezogen: das Wirken »dunkler« Kräfte (Herder). Wir können uns diese dunklen, lat. obscura, also nicht klaren und deutlichen Kräfte zwar nicht erleuchten, aber in ihrer Wirkung nehmen wir sie dennoch wahr. »Consciousness flickers; […] there is a small focal region of clear illumination, and a large penumbral region of experience which tells of intensive experience in dim apprehension. The simplicity of clear consciousness is no measure of the complexity of complete experience.« (PR 267)

Heterogene Medialität kommt durch jene Prozesse der Übertragung zustande, die Qualitäten unterscheiden und nicht Extensionen. Sie erzeugt kein Schema der Darstellung und des Vergleichens, sondern sie gibt Raum für Wirkungen, Effekte. Der zeitliche Verlauf, der im Begriff durée angezeigt wird, ist Bedingung für die zeitlich-räumlichatmosphärische Entfaltung von Wirkungen auf die Wahrnehmung, von »Resonanzen«. Heterogene Medialität kann nur dann Medialität sein, wenn auch in ihr eine »universale Verbundenheit« (Whitehead) ihrer Elemente sich mitteilt. Da Qualitäten sich nun gerade durch ihre quali270 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Die ästhetische Medialität als Formentstehung

tative Verschiedenheit auszeichnen, können sie nur durch Erscheinen in einem gemeinsamen Bereich verbunden sein. Das heißt vor allem: durch die Wahrnehmung der Veränderung. In Bezug auf Qualitäten, die sich verändert haben, ist der Übergang von einem Zustand zum anderen relevant. Relevanz beschreibt also ein Verhältnis von Kontrast und Kontinuität. Umgekehrt ist der Übergang in Bezug auf den jetzt aktualen Zustand resonant: Es gibt eine prinzipiell offene Vielfalt von Wirkungen, die der Übergang auslösen kann. Merleau-Ponty nennt die Wahrnehmung auch »ein System von Resonanzen«, dem das Wahrgenommene »entspricht« 1. Die Aktivität der Wahrnehmung wird durch Resonanz auf die Zustandsveränderung eingestimmt, die Aufmerksamkeit wird intensiviert oder abgelenkt. Max Black benutzt den Begriff der Resonanz als Basis für Intensivierung und »Entwicklung ihrer Implikationen« 2 auch für die Metapher. Die Resonanzbeziehung ist eine Intensitätsveränderung, die etwas in Einklang bringt, die Wahrnehmung und Wahrgenommenes auf einander einstimmt: die das »Wie« der Wahrnehmung erzeugt. Resonanz und Relevanz betreffen die Dynamik zwischen dem ›Ausstrahlen‹ einer Wirkung und ihrem ›Abprallen‹ an Hindernissen, die dem jeweiligen Zustand ganz eigen sind, aber auch die Dynamik zwischen »Anruf« oder »Anspruch« und der gegliederten Form, die für uns das Wahrnehmungsereignis annimmt, insofern es sich aus der reinen unreflektierten Verlaufsform hervorhebt, die eine künstliche Rückdeutung aus der Ausdruckswahrnehmung ist. Ein Eingestimmtsein auf das Ereignis muss gegeben sein, eine prinzipielle Offenheit der Veränderung gegenüber, damit die Entsprechung des qualitativen Erlebnisses eintritt. Mit der »Kontraktion« (MG 165) der Qualität zum Erlebnis ist schon die Relevanzbeziehung eingetreten, die es schließlich möglich machen wird, das Erlebnis zu artikulieren. Den Begriff »Resonanz« auf geistiges Leben zu beschränken wie Plessner oder Luhmann 3, würde gerade dieses Zusammenspiel von Merleau-Ponty 1984, S. 80 f. Black 1996b, S. 390. 3 Plessner verwendet den Begriff der Resonanz für die Phänomene, in denen das geistige Leben sich über die Stufen des Organischen erhebt. vgl. Schwemmer 2011, S. 149. Bei Luhmann ist Resonanz eine Übertragung zwischen sozialen Systemen, vgl. Krämer 2008, S. 220. 1 2

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7 · Das Ereignis der Prägnanz

Tönen und Einklang, von Stimmung und Stimmigkeit in der sinnlichen Wahrnehmung unterschätzen, das im »Mitschwingen« und der Intensität als Spannungsbewegung anklingt. Es ist ja gerade die Ausprägung eines qualitativen Zustands, zu deren Beschreibung dieses Bedeutungsfeld besonders gut geeignet ist, da die Ursachen im Bereich des Resonanten noch unbestimmt sind, so dass sich auch latente Wirkungen entfalten. Der Übergang zu einem neuen Zustand verändert nicht ein Partikel, sondern schafft einen insgesamten neuen Zustand: etwa so, wie sich der Klang eines Membranophons gleichmäßig in alle Richtungen ausbreitet. Dabei stößt er auf Widerstände und wird gebrochen, so wie Klang in einem unregelmäßigen Raum. »Diese Systeme zu klassifizieren, die Gesetze zu erforschen, welche sie mit den verschiedenen ›Tonarten‹ unseres geistigen Lebens verbinden, nachzuweisen, wie jede dieser Tonarten ihrerseits durch die Erfordernisse des Augenblicks sowohl als auch durch den wechselnden Grad unserer persönlichen Anspannung bestimmt ist […]: diese ganze Psychologie muß erst geschaffen werden […]« (MG 165)

1.2. Prägnanz 1.2.1. Das Ereignis der Kontrastbildung Schwemmer beschreibt als »Vektoren [der Wahrnehmung] die Gestaltungskräfte der affektiven Verstärkung und der strukturierenden Kontrastbildung« 4. Bergsons intensive Schwingungen, Spannungsbeziehungen und Tonarten müssen ergänzt werden durch die visuell konnotierte Figur der Prägnanz, der Kontrastbildung, die sowohl Cassirer als auch Whitehead aus der Gestaltpsychologie aufgreifen. Denn Qualitäten erscheinen niemals vereinzelt, sondern bereits relational verknüpft und gegliedert. Das ist schon darum einleuchtend, weil eine einzelne »Qualität« ohne Kontrast gar nicht wahrgenommen werden könnte. Die philosophische Anthropologie greift den psychologischen Begriff der »Komplexqualitäten« auf, deren Beschreibung durch Hans Volkelt Schwemmer zitiert:

4

Schwemmer 1997a, S. 56.

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Die ästhetische Medialität als Formentstehung

»Ein jedes, auch das peripherste Ereignis, wenn es nur überhaupt den Sinnen zugänglich ist, vermag die Komplexqualität zu modifizieren, ohne in der Komplexqualität als relativ selbständiger Teilinhalt zu figurieren.« 5

Auch Cassirer bezieht sich auf diesen Ausdruck Volkelts und erklärt, dass »jeder sinnliche Eindruck […] eine ihm eigene, nie wiederkehrende ›Tönung‹ oder ›Färbung‹ besitzt.« (PSF III, 134) Durch diese affektive Tönung werden Faktoren in die Wahrnehmung einbezogen, die nicht im Wahrnehmungsereignis »objektiviert« und als relevante Faktoren isoliert werden könnten. Dazu bedarf es der Prägnanzbildung, die die erscheinenden Kontraste deutlich werden lässt. Relevanzbeziehungen werden also erst aus der Prägnanzbildung heraus möglich. Prägnanz bedeutet zunächst das Sich-Abzeichnen einer Gestalt durch eine Neuverbindung von Qualitäten, durch welche sie vor einen Hintergrund tritt. Bergson bezeichnet Prägnanzphänomene mit dem Begriff der »Kontraktion«, der Verdichtung. Sie steht mit Resonanz insofern in Wechselwirkung, als sie die Aufmerksamkeit, die ja die Entsprechung der Wahrnehmung mit reguliert, auf das neu Erscheinende, prägnant Hervortretende lenkt. Auch Cassirer benutzt den Begriff der Verdichtung. 1.2.2. Prägnanz als intensive Realität Die bedeutendste Funktion der Prägnanzbildung ist die Neuverknüpfung von Qualitäten zu Gestalten. Resonanzen beziehen latente Wirkungen in die Wahrnehmung mit ein; Prägnanzbildung lässt daraus eine Gestalt entstehen und ist dabei selbst ein Ereignis. Als Bewegung des Hervortretens steht sie zugleich in einer Verbindung der intensiven Realität mit den Bedingungen der Veränderung, die das Ereignis der Prägnanzbildung ausgelöst haben. Die Prägnanz nimmt also eine zentrale Funktion für jede Art von heterogener Medialität ein. Sie verbindet die wechselseitige Durchdringung, die Intimität der Empfindungen im zeitlichen Verlauf, mit einer nicht schematisierten, sondern qualitativen, gestalthaften Räumlichkeit durch diese Bewegung des Hervortretens. Das »prägnante« Einschreiben der Spuren oder Bewegungstendenzen in die chôra ergab, wie wir gesehen haben, eine virtuelle

5

Schwemmer 1997b, S. 77.

273 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

7 · Das Ereignis der Prägnanz

Struktur der Formentstehung. Für die Medialität als Logik der Übertragung wurde die Prägnanz der Gestalt dann zur Wechselwirkung zwischen dieser Virtualität, die sich im Rückblick aus der Spur der eingeprägten Formen erschließt, und der Aktualisierung im konkreten Wahrnehmungsereignis. John Michael Krois hat den Doppelsinn des deutschen prägen und des lateinischen praegnans im Hinblick auf die symbolische Prägnanz bei Cassirer betont 6. Hans Adler wählt als Titel seines Buches über Herder »Die Prägnanz des Dunklen« und weist darauf hin, dass die intensive Relation der Fruchtbarkeit und Schwangerschaft des lateinischen praegnans zu Herders Zeit präsenter im Sprachgebrauch war als heute, so dass seine Prägnanz des Dunklen in erster Linie eine Wirksamkeit des Latenten zur Formbildung bezeichnet. 7 Schon bei Cassirer schwingt diese Bedeutung zwar sehr wohl noch mit, ist aber bereits in den Hintergrund getreten. Die Hauptbedeutung, in der Cassirer »Prägnanz« verwendet, ist die des figuralen Hervortretens und Sich-Abzeichnens. Heute kennen wir fast nur noch die Bedeutung der einprägsamen Formulierung, des prägnanten Ausdrucks. Zwei Dinge sind hier wichtig zu bemerken. Erstens sind es nicht zwei Bedeutungen, sondern drei; denn die deutsche Prägnanz zerfällt noch einmal in das Hervortreten einerseits und das Einschneiden andererseits. Das Hervortreten ist ein Ereignis. Das Einschneiden ist die Rückdeutung auf einen Vorgang mit eigener Dauer aus dem Ergebnis heraus, aus dem Kennzeichen, das sich uns eingeprägt hat, im Gedächtnis geblieben ist: der Spur. Das Hervortreten ist die Aktualität der Prägnanz, das Eingeprägte ist ihre Virtualität. Zweitens ist zu bemerken, dass für Cassirer durchaus alle drei Bedeutungen – die der Wirksamkeit des Unbestimmten zur Formbildung, die des Einschneidens oder Einprägens von Spuren, und die des anschaulichen Hervortretens der Form – eine Rolle spielen und mit einander in intensivem Zusammenhang stehen, so dass der Begriff der »symbolischen Prägnanz« immer das Ereignis des Übergangs von der latenten Wirkung zum aktuellen Hervortreten betrifft, und zwar durch Wechselwirkung mit den virtuellen, präformativen Strukturen. Er zitiert dazu Leibniz’ prozessuale Prägnanz als Fülle, als praegnans futuri. 6 7

Krois 1988, S. 25. Adler 1990, S. 91 ff.

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Synästhesie, Sympathie und Symbol

»Das Leben des Bewußtseins besteht nicht lediglich in einem Verändertwerden, in dem Wechsel der Zustände und Inhalte, den es erfährt, sondern es ist ein tätiges ›Sichverändern‹ und ›Sicherhalten‹, dessen wir hier gewiß sind. Die Bestimmtheiten rollen sich nicht einfach ab, so daß mit dem Auftreten der neuen die alte verschwindet, sondern das Gegenwärtige schließt den Gehalt des Vergangenen in sich und ist bereits mit dem Bilde der Zukunft erfüllt. ›Le présent est chargé du passé et gros de l’avenir.‹« (FF 41)

Es sind die petites perceptions, vermöge deren die Gegenwart mit der Zukunft schwanger ist. 8 Prägnanz enthält also den dreifachen Sinn der Formung als Gestalt, als strukturelle Bedingung der Veränderung, und als Veränderung selbst.

2.

Synästhesie, Sympathie und Symbol

2.1. Der Ursprung des Symbolprozesses Wenn die Entstehung von Qualitäten ein Vorgang der Prägnanzbildung ist, so ergibt sich die mediale Basis, die Verbundenheit der Wirkungen, durch ›Synästhesie‹ als gemeinsamer Wirkung des Sinnlichen. Aus dieser intensiven Verbundenheit der Erfahrung ergibt sich die Spannungsbewegung als sympathische Wechselwirkung, die Resonanzen erzeugt. ›Sympathie‹ in dem Sinne, wie die Stoiker und Bergson den Begriff benutzen, ist also die Wechselwirkung aus der intensiven Verbundenheit. Das aktive Zusammenfügen, das im Begriff des ›Symbolischen‹ liegt, ist jedoch noch mehr als nur das aktiv-passive Zusammenschwingen der sympathischen Spannungsbewegung. Hier geschieht eine Spaltung, aber ohne das Drama einer unüberbrückbaren Kluft. Denn das Auseinandertreten von Empfindung und Ausdruck bleibt dennoch in einer intensiven Relation von Empfindung und Ausdruck. Sie fallen nicht auseinander, sondern entfalten vielmehr eine neue Wirkung, sie bilden ein neues dynamisches Ganzes der intensiven Realität. Cassirer und Whitehead widmen dem Symbolischen und Zeichenhaften als Mittel der Strukturierung ausführliche Überlegungen. Dass jedoch auch Bergson die Spaltung von Ereignis und Ausdruck

8

Vgl. Leibniz 1926, S. 11.

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als wesentlich reflektiert und einbezieht, obwohl er den Begriff des Symbolischen meidet, wird in seiner Philosophie der Wahrnehmung deutlich. Nur so lässt sich eine kontingente Wirklichkeit durch die Erfahrung reflektieren. Das macht das eigentliche Wesen des Symbolischen aus, nämlich die Möglichkeit zur Bezugnahme durch die Einordnung in eine »Sinnfügung« (PSF III, 231), die aus der intensiven Relationalität der Erfahrung selbst sich ergibt. Erst durch sie kommt es zur konkreten Wahrnehmung, zum Verstehen, sich Erinnern und Interpretieren, und erst durch sie wird die ästhetische Medialität wirklich zum Umgreifenden. Die Frage nach dem Ursprung des Symbolprozesses bei Cassirer lässt sich in diesem Sinne beantworten: Wenn es einen Ursprung für diesen Prozess der kontinuierlichen (Re-) Strukturierung der Wirklichkeit gibt, liegt er in der medialen Verbundenheit aller Dinge. Die Metrisierung des Raumes kommt durch die qualitative Differenzierung des Ortes zustande, also die extensiven Relationen aus den intensiven. Diese Differenzierung geschieht gerade nicht durch die ästhetische Distanz der reinen Anschauung, sondern durch Wahrnehmung und Bewegung, die zwar ein Element der räumlichen Distanzierung an sich haben, andererseits aber auch ein Element der Intimität, der sinnlichen Wirkung.

2.2. Intimität und Distanz: (Syn-)Ästhetische Intensität 2.2.1. Orientierung im sinnlichen Universum Nicht Distanz, sondern Intimität ist in diesem Wechselspiel der leitende Aspekt der Sinnlichkeit. Intimität meint bei Bergson die reale, unvermeidliche Wirkung, die jede Sinnlichkeit auf den Körper hat, aber auch ihre intime Durchdringung. Die Empfindungen oder Affektionen der Sinnlichkeit haben, auch bei den so genannten Distanz-Sinnen, immer einen Aspekt des unmittelbaren Betreffens, der Berührung und Bewegung. Als Wirkungen können sie nicht distanziert erfasst werden, sondern verbinden sich in synästhetischem Austausch und erzeugen so die Resonanzphänomene. Synästhesie ist als neurologisches Transferkonzept sinnlicher Wahrnehmungen ein sehr neuer Ausdruck. Bis ins 20. Jahrhundert hinein wurde er nur synonym mit Sympathie gebraucht. So bezeichnet Théodule Ribot Synästhesie noch im aristotelischen Sinne als »un 276 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Synästhesie, Sympathie und Symbol

accord des états affectifs« 9 verschiedener Personen, die psychologische Vorstufe moralischer Sympathie. Aber die Idee vom medialen Zusammenwirken der einzelnen Sinne existiert schon lange zuvor unter anderem Namen. Bergson benutzt den Begriff der »intimen Organisation« psychischer Zustände. Synästhesien sind in diesem Sinne keine pathologischen Phänomene, sondern, wie auch Merleau-Ponty meint 10, das Übliche, die Regel, das Basisphänomen der Empfindung überhaupt. Er bezieht sich an dieser Stelle auf Herders mediale Konzeption von der Sinnlichkeit, mit der er den aristotelischen sensus communis 11 auf den Kopf stellt: »Wir sind Ein denkendes sensorium commune, nur von verschiednen Seiten berührt.« 12 Herders »Ich fühle mich! Ich bin!« befindet sich in einer Dynamik von Intimität und Distanz, die uns eine sinnliche, leibliche Räumlichkeit eröffnet. Darum bringt er auch in die Wechselwirkung seines sensorium commune die Eigenbewegung und Tätigkeit mit ein, die erst zum sinnlichen Gefühl des Raumes führt. Seine Metaphern dafür sind Weben und Wirken, schöpferisches Bilden am Material. »Wir nennen die Tiefe dieses Zusammenflusses meistens Einbildung: sie besteht aber nicht blos aus Bildern, sondern auch aus Tönen, Worten, Zeichen und Gefühlen, für die oft die Sprache keinen Namen hätte. Das Gesicht borgt vom Gefühl, und glaubt zu sehen, was es nur fühlte. Gesicht und Gehör entziffern einander wechselseitig: der Geruch scheinet der Geist des Geschmacks, oder ist ihm wenigstens ein naher Bruder. Aus dem Allem webt und würkt nun die Seele sich ihr Kleid, ihr sinnliches Universum.« 13

2.2.2. Gefühlsgrund des Tastsinns Herder gehört in eine Tradition des Denkens, die der Medialität des Tastsinns den funktionalen Primat vor dem Gesichtssinn einräumt. Das Zusammenspiel der Gefühle als körperliche Lokalisierung, Orientierung und Strukturierung der Empfindung wird zum »ursprüngRibot 1896, S. 238. Vgl. Merleau-Ponty 1966, S. 268. 11 Gr. koinê aisthêsis wurde von Aristoteles als innerer Sinn gedacht, der die Wahrnehmungen ordnet und zuordnet, damit keine Verwechslungen entstehen. Er ist auch für die Erfassung des Allgemeinen an den Wahrnehmungen zuständig, wie Zahl, Gestalt und Größe. Vgl. Über die Seele III, 2, 425 a 15. 12 Herder 1985a, S. 743 f. 13 Herder 1994b, S. 349 f. 9

10

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7 · Das Ereignis der Prägnanz

lichen Gefühlsgrund« (PSF II, 112) des Sinns. Unter dem Einfluss von Condillacs »Vom Sinn des Gefühls« (1769) beschreibt Herder Tasten und leibliche Berührung als Basis für die Koordination der Sinnlichkeit und des Selbstgefühls, die dann über eine Koordination von Hand und Auge zur visuellen Orientierung vermittelt wird. »Und nehmen wir hiezu noch Dunkelheit und Nacht, in der der Sinn tastet, die langsam erfühlte Einheit und Unbezeichnung, die ein solches Bild verleihet, den Begriff von Macht und Fülle […].« 14

Gerade die Unklarheit und Unbestimmtheit erlaubt es, latente Wirkungen in das Gefühl einfließen zu lassen. Adler leitet für Herder daraus eine »Gnoseologie der Haptik« 15 ab: aus der Prägnanz des Dunklen ergibt sich eine eigene Form der Erkenntnis. »Das bescheidene Gefühl tastet langsam, aber unparteiisch: es findet vielleicht wenig, aber was da ist. Es urteilt nicht, bis es ganz erfaßt hat.« 16 Wie Bergson betont Herder die Notwendigkeit der Dauer für eine Kenntnis des Gegenstandes. Diese Dauer liefert der Tastsinn: Er funktioniert langsam, ergibt erst nach und nach Muster und Formen, aber dafür wird dann auch eine gewisse Tiefenwahrnehmung entwickelt, ein Gefühl für den abgetasteten Gegenstand selbst. Nach und nach tritt das Erspürte prägnant hervor. Die Langsamkeit und Dunkelheit, im Gegensatz zur Klarheit, dieses Sinnes wendet Herder zum Vorteil. Visuelle Wahrnehmung ist oberflächlich, wenn sie nicht durch die Tiefe und Dichte der ertasteten Welt geschult wird. An einer der wenigen Stellen, da Bergson einen anderen Philosophen bespricht, lässt sich eine gemeinsame Quelle von Bergson und Herder ausmachen, nämlich Berkeleys »Essay Towards A New Theory of Vision« von 1709 (DSW 133 ff.). Auch Berkeley hat bereits argumentiert, dass optische Eindrücke durch Verbindung von Tastmit Körpergefühlen erlernt werden. Er deutet visuelle Wahrnehmung als Zeichen möglicher Körpererfahrung. Die unmittelbare Anschauung, deren distanziertes Medium im Sehen verschwindet, wird damit als funktionales Gebilde auf dem Weg zu praktischem Umgang mit den intimen Aspekten der Sinnlichkeit gedeutet und verliert ihre Evidenz für die Erkenntnis. Dasselbe beschreibt Bergson in Materie

14 15 16

Herder 1994a, S. 316. Adler 1990, S. 103. Herder 1994a, S. 307.

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Synästhesie, Sympathie und Symbol

und Gedächtnis. Wahrheit stellt er auf einen Gefühlsgrund, der sie mit der Wirklichkeit verbindet. Denn wenn die »Wirklichkeit […] multipler und beweglicher Art ist und aus Strömungen besteht, die sich durchkreuzen, dann ist die Wahrheit, die […] gefühlt wird, bevor sie begrifflich gefaßt wird – mehr fähig, die Wirklichkeit selbst zu erfassen und aufzuspeichern als die bloß gedachte Wahrheit.« (DSW 244)

Die gefühlte und dann begrifflich gefasste Wahrheit einer jeweils eigenen Gestaltung der Wirklichkeit nennen wir Sinn. 2.2.3. Gefühlsgrund des Geschmackssinns Bei Tastsinn, Geruch und Geschmack liegt die Intimität der Wirkung schon darin, dass Empfindung mit Berührung einhergeht. Das verbindet Herders Ästhetik des Tastens mit Humes aesthetics of taste. Die ästhetische Konkretion wird bei Baumgarten noch als Aktualisierung einer latenten Form gedacht. Die Logik als Abstraktion bedeutet einen Verlust an Individualität, die ästhetische Konkretion einen Verlust an Material: »die Überführung von latenter Form in aktuelle Gestalt zerstört Material und somit auch Dispositionen zu anderen Formen.« 17 Sie liefert also nicht die Fülle der Wahrheit. Dafür kann sie in sich vollständig, completa sein. Herder setzt gegen diese ästhetische Konkretion der aktuellen Gestalt die intensive Realität nach Leibniz. 18 Intensive Realität ist für ihn gekennzeichnet durch ihre »materiale Fülle« und »unendliche Formlatenz« 19, weswegen sie der Funktion des Ausdrucks bedarf, um konkret zu werden. Diese Konkretion ist jedoch keine bloße Aktualisierung einer latenten Form und schließt damit auch andere Formen nicht unbedingt aus. Bergson erklärt, dass diese Zerstörung paralleler Möglichkeiten ohnehin nie stattgefunden hat, sondern erst nachträglich konstruiert wurde. Man könne sogar fragen, ob »die Hindernisse nicht unüberwindbar geworden sind dank der schöpferischen Tat, die sie überwunden hat: die an sich unvorhersehbare Tat hätte dann also die ›Unüberwindbarkeit‹ erst geschaffen. Vor ihr waren die Hin-

17 18 19

Adler 1990, S. 45. Ebd., S. 52. Ebd., S. 53.

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dernisse unübersteigbar, und ohne sie wären sie es auch geblieben.« (DSW 122)

Für Bergson, Cassirer und Whitehead ist Aktualisierung von Formen niemals die materiale Zerstörung anderer Möglichkeiten, bzw. die Vorstellung dieser Zerstörung als Verlust ist eine reine Illusion. Statt der Präformierung der visuellen Form durch die Perspektive erhalten wir also eine noch nicht bestimmte Konkretion aus dem Gefühl heraus, die sich individualisiert und konzentriert. In »Die Grundprobleme der Ästhetik« (PA 288–375) analysiert Cassirer, wie der Gemeinsinn als sensus communis aestheticus zu einer Allgemeinheit des Geschmacksurteils umgestaltet wird. Statt Vernunft oder Verstand sollen Feinfühligkeit und Empfindsamkeit, also gerade die Sensibilität für die sinnliche Empfindung, zum Erfassen von Formen führen. Denn »[e]in ästhetischer Gedanke empfängt seinen Wert und seinen Reiz nicht durch seine Genauigkeit und Deutlichkeit, sondern durch die Fülle der Beziehungen, die er in sich faßt.« (PA 313)

Auch hier geht es um das Umbilden einer »Fülle« intensiver, unbestimmter Relationen zu einem Ausdruck, der diese »Fülle« »in sich faßt«, also symbolisiert. In Humes Essay »Of the standard of taste« wird die Einbildungskraft zur eigentlichen Grundkraft der Seele erklärt, was bewirkt, so Cassirer, dass dem Ästhetischen nicht länger die Maßeinheiten des Verstandes aufgezwungen werden, sondern eine Angemessenheit, eine intensive Entsprechung von Gefühl und Gefühltem angestrebt wird. Die Intimität des Schmeckens kann als Leitlinie für diese Angemessenheit dienen, denn sie ist Unterscheidung durch Tätigkeit. Im Schmecken fallen Empfindung und Qualität vollends zusammen, so dass sich Geschmack und Geruch oft kaum durch Sprache beschreiben lassen. Schmecken als »Probieren« verschafft unmittelbare qualitative Kenntnis einer komplexen Beschaffenheit. In diesem Sinn wird der Geschmack zum hochentwickelten Unterscheidungsvermögen, das seine Feinheit und Ausdifferenzierung allein auf der Basis der Intimität gewinnt.

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2.3. Wahrnehmung der Veränderung: Intensität als Sympathie 2.3.1. Das »Zusammenschwingen« als Formangleichung Unterscheidung wird erst möglich durch die Phänomene der Resonanz, die ein »Wirken« im emphatischeren Sinne bedeuten: die wahrgenommene Veränderung. In »Zum Sinn des Gefühls« verdeutlicht Herder die sympathische Wechselwirkung, die sich im Fühlen ergibt und zu Konkretionen in der Form des Ausdrucks führt. »Körper nimmt Körper körperlich wahr und vermittelt im Akt der haptischen Wahrnehmung die Bedingung der Form des Ertasteten mit der Bedingung des haptischen Sinnes. Beide Bedingungen nennt Herder ›Kraft‹, ›Seele‹.« 20

Die Wirkung der Sinnlichkeit auf uns, die wir Empfindung nennen, trifft nicht separat bei uns ein und lässt sich dann nachträglich in ein strukturiertes Verhältnis setzen. Sie berührt uns und befindet sich damit schon untereinander in synästhetischer Wechselwirkung. Aber nicht nur das: Wir sind auch schon tätig dabei, unsere sinnlichen Empfindungen in qualitativer Form zu deuten, nicht im Hinblick darauf, was sie bedeuten oder anzeigen mögen, sondern wie sie sind: d. h., wie sie erscheinen. »Yves Kleins Blau erscheint uns als kalt, weil wir mit dem ganzen Körper und seiner Geschichte wahrnehmen.« 21 Resonanz bedarf der Aufmerksamkeit, der Entsprechung; sie ist als aktiv-passive erst die eigentlich mediale Wechselwirkung, während Synästhesie zunächst ›nur‹ die Wechselwirkung der wirkenden Einflüsse untereinander, ihre Vermischung, und noch keine aktive Eigentätigkeit beschreibt. Obwohl »Sympathie« vielfach als identisch mit »Synästhesie« gebraucht wurde wie noch von Bergsons Lehrer Ribot, scheint mir Bergsons Sympathiebegriff erst hier einzusetzen: wenn wir »mit dem ganzen Körper und seiner Geschichte wahrnehmen«. Sympathie ist als »Zusammenschwingen« die Wechselwirkung von Verlaufsformen der Wahrnehmung oder des Bewusstseins. Durch Sympathie koordinieren sich Ereignisse, während die Synästhesie eine ganz und gar unbestimmte, ungegliederte Zusammenwirkung bedeutet. Sympathie ist die intensive Relation der Spannungsbewegung. Sie schafft den Übergang zur Prägnanzbildung. Die 20 21

Ebd., S. 110. Krois 2006, S. 174.

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Selbstorganisation der Wahrnehmung kommt durch die sympathische Intensität der Wechselwirkungen in der Begrenzung eines medialen Bereichs zustande, der durch die »Reichweite« von Wahrnehmung und Empfinden, Denken und Bewusstsein jeweils neu festgelegt wird durch, wie Bergson sagt, die Aufmerksamkeit auf das Leben. »Denn kein Gefühl will etwas Gegenständliches erfassen und bezeichnen, sondern es drückt immer nur eine gewisse Angemessenheit (conformity or relation) zwischen dem Objekt und den Organen und Fähigkeiten unseres Geistes aus.« (PA 321)

Die conformity or relation, die Cassirer bei Hume sieht, verschmilzt in Whiteheads philosophy of organism zur conformation, der Formangleichung. Whitehead spricht dabei auch von der real unity of feeling. Das Fühlen bedeutet den Vollzug der Formentstehung, die subjektive Formung betrifft die Neuverknüpfung von Qualitäten durch reale Relationen, das heißt durch intensive, wirkende Relationen. Schon auf dieser Ebene sieht Whitehead Bedeutung entstehen: Ein Verhältnis von Qualitäten lässt sich prinzipiell immer in ein Bedeutungsverhältnis übertragen, aber nur in den seltensten Fällen gelangen wirkliche Veränderungen sowohl der anorganischen Natur als auch der organischen Empfindung tatsächlich zu Bewusstsein. »Consciousness is a variable uncertain element which flickers uncertainly on the surface of experience.« (AI 253) Das Fühlen in der Sprache Whiteheads betrifft jede Art von Formenwandel, der sich als intensive Realität auswirkt. Intensität ist in seiner Philosophie durch diesen Begriff des Fühlens definiert, weil es sich bei intensiven Prozessen um Veränderungen handelt, die eine eigene Dauer und eine nicht vollständig vorhersehbare Zusammenwirkung von Komponenten einschließen, so dass ein neues Ganzes entsteht. »Thus the parts contribute to the massive feeling of the whole, and the whole contributes to the intensity of feeling of the parts. Thus the subjective forms of these prehensions are severally and jointly interwoven in patterned contrasts. […] It follows that the subjective form of a prehension is partly dictated by the qualitative element in the objective content of that prehension. There is in fact initial conformation.« (AI 252 f.)

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Synästhesie, Sympathie und Symbol

2.3.2. Bewegung und Ausdruck Dass das Sehen auch ein intimer Sinn ist, zeigt sich vielleicht am deutlichsten durch eine solche conformation im Bereich der menschlichen Entwicklung, und zwar am sympathischen Blickkontakt zwischen der Mutter und dem noch sehr kleinen Säugling. Dieser nämlich nimmt das Gesicht und den Blick der Mutter in gewisser Weise spiegelnd wahr. Er ahmt ihn nach und reagiert durch Zurückblicken und Veränderungen des Gesichtsausdrucks, welche die der Mutter imitieren. Doch der Säugling hat in diesen frühen Lebensmonaten ganz sicher noch kein Körperbild, das es ihm erlauben würde, sein eigenes und das Gesicht der Mutter als zwei einander anschauende Gesichter zu abstrahieren und seine Reaktion in diesem Sinne als ›Antwort‹ zu initiieren. Seine Bewegung gehört zur visuellen Wahrnehmung der Mutter; seine visuelle Wahrnehmung ist noch überhaupt nicht distanziert, ist ausschließlich intim. Mutter und Kind sind in affektiver Bewegung verbunden. Sie bilden in ihrer Intimität noch eine Art Dyade, eine topologische Schleife: Sie sind bereits zwei, aber nur in einem; sie können noch nicht in der Distanz existieren, sondern nur in der Intimität. »Das starke Gefühle ausdrückende Gesicht der Mutter ist die mächtigste Quelle visuo-affektiver Information, und bei Interaktionen von Angesicht zu Angesicht dient es als visuell prägender Stimulus für das sich entwikkelnde Nervensystem des Säuglings.« 22

Mutter und Kind gehören einer einzigen gemeinsamen Ausdrucksbewegung an, aus der heraus erst der Säugling nach und nach unterschiedliche, fremde und eigene Ausdrucksbewegungen zu differenzieren und zu initiieren lernt. »In der emotionalen Entwicklung ist das Gesicht der Mutter Vorläufer des Spiegels. […] Was sieht das Baby, wenn es in das Gesicht der Mutter schaut? Ich möchte behaupten, dass das, was das Baby normalerweise sieht, es selbst ist. Anders gesagt, die Mutter sieht das Baby an, und wie sie aussieht, ist mit dem verbunden, was sie da sieht.« 23

Auch die Wahrnehmung der Veränderung beim erwachsenen Menschen ist eine intensive und intime Wahrnehmung, die schon im Wechselspiel mit Distanzierung steht und so einen »Zwischenraum« 22 23

Schore 1994, S. 91. Winnicott 1995, S. 128 f.

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(MG 44) erzeugt. Das Auge wandert kontrastierende Farbfelder ab, der Blick expandiert oder kontrahiert, stellt sich sozusagen optisch auf den ganzen Sichtraum ein oder konzentriert sich auf ein hervortretendes Detail. Taktile Wahrnehmung entsteht aus Kontrasten in der Empfindung, die durch Bewegung hervorgerufen werden; eine Berührung, die längere Zeit still verharrt, wird auf der Haut nicht mehr wahrgenommen. »Man hat Mühe«, so schreibt Bergson, »sich so die Dinge vorzustellen, weil der hervorragendste Sinn der des Gesichtes ist und das Auge die Gewohnheit angenommen hat, im Ganzen des Gesichtsfeldes relativ unveränderliche Figuren herauszuschneiden, von denen man annimmt, dass sie ihren Ort verändern, ohne sich zu deformieren: die Bewegung würde sich danach dem bewegten Gegenstand hinzufügen als ein Akzidens.« (DSW 167)

Die Dynamik der Wahrnehmung versetzt uns in Bewegung. Helles Licht, scharfe Kontraste, laute Geräusche erzwingen die Aufmerksamkeit. Farben sind nicht einfach nur sichtbar, sondern wirken auf uns und entfalten ihren je eigenen Charakter der qualitativen Stimmung: trauriges Blau, fröhliches Rot, tröstliches Grün. »Man muß aber bedenken, daß unser Körper kein mathematischer Punkt im Raume ist, daß seine virtuellen Handlungen sich mit den aktuellen vermengen und durchdringen, […] daß es keine Wahrnehmung ohne Empfindung gibt.« (MG 45)

Im akustischen Bereich ist die Intimität sinnlicher Wahrnehmung noch eindeutiger. Zwar ist die qualitative Fülle der Tonlagen für die synästhetischen Verknüpfungen unbestimmter als die der Farben. Doch diese Unbestimmtheit, die latente Fülle, ist umso wirkungsvoller für die klangspezifische Resonanz, die sympathische Wechselwirkung, die die Klänge erzeugen und der wir uns kaum entziehen können. »Wir hören […] einen Ton, den wir in seiner Höhe und Lautstärke identifizieren können. Und wenn verschiedene periodische Schwingungsfolgen sich ihrerseits in die Wechselbeziehung von Teilschwingungen und umfassenden Grundschwingungen ordnen, hören wir einen Klang. Töne und Klänge sind identifizierbar, weil sie unser Hören in eine innere Ordnung von zueinander führenden und damit aufeinander verweisenden Hörereignissen hineinziehen.« 24

24

Schwemmer 2011, S. 125.

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Synästhesie, Sympathie und Symbol

Jeder Klang wird irgendwie empfunden. »Stimme« und »Stimmung« oder »Gestimmtheit« sind etymologisch verwandt, was das Wirkverhältnis der Entsprechung zwischen dem Musikinstrument, seiner Gestimmtheit und Spannung, den erzeugten Klängen und ihrer Konfiguration, und der Stimmung unterstreicht, die von diesen Klängen erzeugt wird. »Ton« ist auch dem griechischen tónos verwandt. Ton, Spannung und Stimmung sind sympathische Intensitätsbegriffe und decken den Bereich zwischen immanenter Gliederung und wirkender Entfaltung ab, der zur intensiven Realität des Ausdrucks übergeht. Obwohl keine Wahrnehmung ohne Bewegung auskommt, spielt für die sprechende Stimme die Konfiguration in der Dauer eine besondere Rolle. Melodien und Stimmen bewegen uns intensiver als Farben oder Licht. Der Fötus im Mutterleib unterscheidet sie und reagiert auf sie schon zu einer Zeit, zu der sein Gesichtssinn nur Grade von hell und dunkel kennt.

2.4. Die Intensität des Symbolischen 2.4.1. Der Ausdruck einer qualitativen Relation Dennoch lässt sich das Wesen einer Melodie nicht durch eine zeitliche Abfolge von Tönen erfassen: ebenso wenig, wie ein Bild eine räumliche Abfolge von Farbpigmenten ist. In Bezug auf ihren Effekt, die Stimmung, die wir durch sie erleben, ist eine Melodie eben eine artikulierte Konfiguration, und die sinnhaften Bezüge der einzelnen Töne untereinander sind dafür wichtiger als die bloße Tatsache der Abfolge. Susanne Langer ordnet die Musik eher der präsentativen als der diskursiven Symbolik zu. Man braucht nur an die einfache Wiederholung eines Grundtons zu denken, um das zu illustrieren. Was wir hören, ist oft gerade gar nicht die Aufeinanderfolge der einzelnen Töne, sondern der Ausdruck ihres Verhältnisses untereinander. Das symbolisch Gegliederte entwickelt also eine eigene Intensität, eine spezielle eigene Wirkung, die nichts damit zu tun hat, dass man den exakten Aufbau des Symbolischen auf einer theoretischen Ebene verstünde (obwohl die Kenntnis dieses Aufbaus die Wirkung verändern kann). Die Ausdrucksfunktion des Symbolischen führt zu einer eigenen Sympathiebewegung für unsere Wahrnehmung, die diese nachhaltig durchdringt und prägt. Die Medialität des Symbolischen für die Erfahrung beginnt mit 285 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

7 · Das Ereignis der Prägnanz

der Form des Ausdrucks, und dieser ist immer auch der Ausdruck eines Verhältnisses, einer qualitativen Relation. Darin herrscht Einigkeit unter Bergson, Cassirer und Whitehead. Der entscheidende Punkt ist dabei, dass das Symbolische mit seinem Bedeutungs- und Verweisungscharakter von der Vorstellung einer Abbildung, Kopie oder eines Produktes von Kräften losgelöst wird. Denn die symbolische Relation des Ausdrucks ist eine intensive Relation. Sie besteht im Wesentlichen darin, die immanente Gliederung eines konkreten Ganzen mit einer anderen, übergeordneten Gliederung, die Cassirer Sinnfügung nennt, zu verbinden. Das geschieht wie die Entstehung der Ähnlichkeit durch die Metapher nicht durch Verknüpfung von Vorgefundenem, sondern eben als intensive Relation, als Übertragung, die beide Relata zugleich modifiziert. Der übergeordnete Sinnzusammenhang entsteht bzw. transformiert sich durch die Einfügung des Ausdrucks; und der Ausdruck konstituiert sich natürlich als Ausdruck erst durch diese Einfügung. 2.4.2. Die Medialität der »Sinnfügung« Mit diesem Verhältnis des Symbolischen, das dem Besonderen, der Konkretion, sowie dem Allgemeinen, ihrem Zusammenhang, erst Bedeutung verleiht, ist auch die mediale Logik der Übertragung erst wirklich verständlich geworden. Die Medialität liegt dabei auch und gerade in dem Zusammenspiel von Bezügen, das sich seine eigene Dynamik schafft. Virtualität und Artikulation ergänzen sich: die Präformation der Bezugssysteme, die wir vorfinden, und die artikulierende Eigentätigkeit, die wir durch unsere Ausdrucksformen schon in der Wahrnehmung beitragen. Diese Ausdifferenzierung, die ihre Ursprünge nicht vergisst, sondern sie in einer nicht dialektischen »Aufhebung« weiter mit sich führt, nennt Merleau-Ponty mit dem Ausdruck von André Malraux kohärente Deformierung. Der Sinn »zeigt sich in einer, freilich systematisierten, Deformierung unseres Erfahrungsuniversums, ohne daß wir das Prinzip derselben bereits anzugeben vermöchten. Alle Wahrnehmung ist Wahrnehmung von Etwas nur insofern sie auch relative Nicht-Wahrnehmung eines zwar impliziten, aber nicht thematisierten Horizontes beziehungsweise Grund [fond] ist.« 25

25

Merleau-Ponty 1973, S. 53.

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Synästhesie, Sympathie und Symbol

Sinnliche Wahrnehmung ist immer präformiert durch Sinnzusammenhänge. Die kohärente Deformierung ist nicht einfach nur kontinuierlich, so dass die Formveränderungen auf einander folgen würden: sie ist kohärent als innere Form, sie hat einen inneren Zusammenhang. Jede Deformierung kann (sie muss nicht) sich auch wieder auf das Ganze des Sinnzusammenhangs auswirken. Kontinuierlich ist nicht die einzelne, konkrete Formveränderung, sondern die Neustrukturierung durch symbolische Artikulation, die die Formveränderung neu deutet und ihr neue, wirkende Intensität verleiht. Darum hat der neugeborene Säugling (s. o.) keine sinnliche Wahrnehmung in dem für uns üblichen Sinne. Seine Wahrnehmung gehört zur Wahrnehmung der Mutter. Er entwickelt erst eine eigene Ausdrucksbewegung als Abgrenzung aus ihrer gemeinsamen Bewegung heraus: erst dann beginnt er, etwas anderes zu sehen als sich selbst im Blick der Mutter. Immanente Gliederung hat natürlich auch das dynamische Ganze des Sinnzusammenhangs, in dem wir einen Ausdruck artikulieren. Die intensive Relationalität wird auf eine andere Ebene transformiert und verbindet sich dort mit den externen Relationen von Kausalität und Gegenstand, Begriff und Zeichen. Diese werden durch die Artikulation eingebracht. Sie sind ebenfalls reale Relationen, nicht real durch ihre Intensität, sondern durch ihre Materialität. Das Zeichen ist energeia durch seinen Gebrauch in der Artikulation, aber dazu muss es notwendigerweise materiell sein. Was an ihm nicht materiell ist, löst sich im Gebrauch wieder auf, verschwindet wie der virtuelle Punkt der Vorstellung in der Aktualisierung. Übrig bleibt jeweils eine zeichenhafte Neustrukturierung, eine neue Gliederung von Sprache oder Bild. Der Engel, als mythisches Bild der Übertragung, vereinte ja in sich die Funktion der Offenbarung, der Berührung, der Zeugung und der Realisierung von Qualitäten. Im Bild des Engels wird die Ereignishaftigkeit der Übertragung klar und deutlich: Übertragung ist ein Ereignis, Ausdruck und Artikulation sind Ereignisse. Aber auch die Intensität der Übertragung wird deutlich. Der Engel erscheint: Etwas geschieht, etwas wird wahrgenommen, und zugleich gibt es eine wirkliche Veränderung. Das ist darum wichtig, weil wir auch die Bedeutung des Symbolischen als Basis jeder möglichen Ausdrucksform nur durch dieses Bild der Übertragung richtig verstehen. So ist zum Beispiel die Offenbarung des Engels nicht eine bloße Übermittlung von Information. Sie fällt zusammen mit der Zeugung: Der Engel legt 287 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

7 · Das Ereignis der Prägnanz

Zeugnis ab und erzeugt zugleich etwas Neues. Die Offenbarung ist also auch schon eine reale, eine qualitative Veränderung. Zwei Charakteristika des Symbolischen sind daraus zu ziehen. Erstens ist das symballein, das Zusammenfügen, niemals nur das Zusammensetzen von zwei Hälften einer Münze. Es ist das Zusammenwirken einer wechselseitigen Durchdringung, wie es bei der Zeugung im Bereich des Organischen geschieht. Darum werden die Ursprünge des Symbolischen durch seine Verschmelzung modifiziert und neu gedeutet, und zwar sowohl das Konkrete selbst – das Wort, das Bild – als auch der Sinnzusammenhang, in den es sich einfügt – die Sprache, die Erfahrung. Beide werden zu einem neuen Ganzen, weil ihre immanente Gliederung sich ändert: die Verhältnisse ihrer Qualitäten untereinander, ihre ganz eigene Relationalität. Zweitens stehen die »Berührung« des Engels, die sympathische Wirkung auf die Wahrnehmung, und die »Offenbarung«, also die symbolische Wirkung auf die Reflexion, ebenfalls miteinander in intensiver Verbindung. Das bedeutet, dass Erfassen, Erkennen, Verstehen, Denken ihre jeweilige immanente Gliederung aus den Qualitäten der Wahrnehmung und der Empfindung erfahren, und zwar durch die transformierende Tätigkeit der Artikulation. Anderenfalls wäre Erkennen kein Erkennen und Denken kein Denken, sondern beides bliebe reine Reproduktion von bereits bestehenden zeichenhaften Modellen und Schemata. Natürlich bedient sich das Erkennen und Denken dieser Schemata, aber es benutzt sie eben als Instrumente, als Mittel und Wege der Artikulation. Das Hauptmerkmal einer intensiven Relation ist also die Neukonfiguration einer immanenten Gliederung: ein neues Verhältnis von Teil und Ganzem, wobei als neue »Teile« natürlich auch etwas einbezogen werden kann, was zuvor nicht da war oder nicht da zu sein schien. Prägnanz ist eine solche Neuverknüpfung. Sie bezeichnet als Hervortreten die Entstehung einer Konkretion, einer individuellen Gestaltung, die als einzelne zugleich auf etwas Allgemeines verweist. Das Hervortreten und das Verweisen sind ein einziges Ereignis. Auf dieser Ebene setzt die »immanente Gliederung« von Bestandteilen einer Mannigfaltigkeit in ihrer Beziehung auf ein Ganzes ein, die zur Tradition der inneren Form gehört. »Nur innerhalb einer gegliederten Mannigfaltigkeit kann ein ›Moment‹ für das ›Ganze‹ eintreten – und andrerseits bedarf das Bewußtsein, wo immer

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Synästhesie, Sympathie und Symbol

ein gestalthaftes Ganze vorliegt, nur der Vergegenwärtigung eines seiner Momente, um an ihm und in ihm das Ganze selbst zu erfassen, um es kraft dieser Vermittlung zu ›haben‹.« (PSF III, 157)

In diesem Sinn ist die Wahrnehmung ein Ereignis der Prägnanz. Durch Konkretion treten die wahrgenommenen Gestaltungen in eine neue Relation zu einander: Sie können durch den Gebrauch des Zeichens in Sinnzusammenhänge gesetzt werden. Ihre »Präsenz« ist »Repräsentation«, Verweisung auf das Ganze, dem sie als wirkendes Element angehören. 2.4.3. Prägnanz als »Schlüsselbegriff« Birgit Recki hat die symbolische Prägnanz als »Schlüsselbegriff« 26 für das Denken Cassirers bezeichnet. Aber Prägnanz »erschließt« uns nicht die Wahrnehmung, und der Begriff der Prägnanz »erschließt« nicht das vollständige Denken Cassirers. Als Ereignis erschließt sie aber Gemeinsamkeiten von Cassirer, Bergson und Whitehead, und zwar in einer Weise, die Susanne K. Langer im Titel ihres bekanntesten Buches andeutet. Der Titel Philosophie auf neuem Wege kann die Bedeutung des Originals nicht wiedergeben. Denn im Grunde gehen wir davon aus, dass sich jede echte Philosophie auf einem neuen Weg befinde, anderenfalls wäre sie redundant. Langer drückt jedoch aus, dass kein unbekanntes, sondern gerade das bekannte Terrain auf neue Art beschritten wird. Ihr Titel Philosophy in a New Key bezieht sich auf das, was das Neue ausmacht: eine neue Form des denkenden Erschließens von Wirklichkeit. Diese neue Form konzentriert sich auf die Funktion des Symbolischen, die konzentrische Kreise durch unsere Wirklichkeit zieht. 27 Prägnanzbildung ist das gemeinsame, mediale Zentrum dieser konzentrischen Kreise. Natürlich geht der Formbegriff bei Ernst Cassirer verschiedentlich über die symbolische Prägnanz hinaus. Der Prägnanzbegriff kann als key concept dienen, wenn er in die gemeinsame Mitte des DenRecki, Birgit: »Symbolische Formung als ›Verkörperung‹ ? Ernst Cassirers Versuch einer Überwindung des Leib-Seele-Dualismus.« Vortrag auf der Tagung Bodies in Action and Symbolic Forms des Kollegs »Bildakt / Verkörperung« zum Gedenken an John Michael Krois, Humboldt-Universität Berlin, 05. 11. 2011. 27 Merleau-Ponty formuliert: »Es gibt keine übergeordneten Probleme und keine untergeordneten Probleme: alle Probleme sind konzentrische.« Merleau-Ponty 1966, S. 466. 26

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7 · Das Ereignis der Prägnanz

kens von Cassirer, Bergson und Whitehead gesetzt wird. Dann erschließt er die Gemeinsamkeiten und lässt auch das sehen, was nicht gemeinsam ist. Betrachten wir kurz Langers Metapher des new key, die ihrer Funktion im Zentrum konzentrischer Kreise alle Ehre macht. Denn key kann als Tonart gedeutet werden, als Chiffre bzw. Code, oder als Schlüssel. Der dreifache Sinn von Tonart, Chiffre / Code und Schlüssel enthüllt zugleich die zentrale Funktion des Metaphorischen: die Erzeugung von Bedeutung. Die so erzeugte neue Bedeutung ist eine je spezifische, der Situation entsprechend stimmige Art der ›Erschließung‹ von Wirklichkeit. Das Konzept Tonart handelt von Klängen. Ein Klang oder Ton ist kein Phänomen, das vollständig durch Beschreibung seiner physikalischen Konstitution, z. B. durch die Metapher der Schallwellen erfasst werden kann. Zum Phänomen gehört das Hörbar-Sein. Ein Ton ist zudem eine Klangeinheit, die geschrieben werden kann. Dieses Schreiben der Töne ist nicht in erster Linie eine Repräsentation, sondern eine Codierung, deren Abspielen Musik erzeugt. Der niedergeschriebene Ton substituiert nicht den Klang, sondern bewahrt ihn auf bzw. löst ihn aus. Die intensive Relationalität von Resonanz, Prägnanzbildung und Ausdruck haben im Konzept der Tonart ihre symbolische Basis. Bergson spricht daher auch von den Tonarten des geistigen Lebens (MG 165). Das Konzept Code handelt von Zeichen: dem Zeichen als Kalkül, Mittel oder Instrument, das zur Übertragung dient. Der Aspekt der Chiffre (von arabisch sifr, Null) bezieht sich auf das Verschwinden des Zeichens in der Übertragung, auf die Leerstelle, die es zurücklässt, wenn sein Verschwinden thematisch wird. Key wird auch für die Tasten der Computertastatur, des keyboards, gebraucht: weil sie Übertragungsmittel für Zeichen sind. Key als code steht für den materialen, kalkulierenden Aspekt der Übertragung. Das Konzept Schlüssel handelt von dem Zugang zu und der Bewegung in Raum und Zeit. Hier geht es um den raumzeitlichen Aspekt der Übertragung, das Übertreten von Schwellen, das Ziehen von Grenzen. Es geht aber auch um Hermeneutik, die Erschließung des Verschlossenen, des Unzugänglichen. Die Logik als Kunst des Denkens soll zur symbolischen Logik werden, im Sinne Vicos eine »Metaphysik des menschlichen Geistes« (LS 402) unternehmen, um die Erschließung des Wirklichen zugleich als seine Erzeugung zu reflektieren. Hätten wir nur das Konzept »Schlüssel« ohne die Konzepte 290 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Synästhesie, Sympathie und Symbol

»Tonart« und »Code«, so blieben wir in dem Glauben, eine Tür des Erkennens einfach aufschließen zu können – wenn wir nur den richtigen Schlüssel finden könnten. Doch »[d]ie Betrachtung richtet sich fortan nicht mehr ausschließlich auf das Erschlossene, sondern auf den Akt, auf die Art und Weise des Erschließens selbst. Der Schlüssel, der dazu bestimmt ist, die Tore der Erkenntnis zu öffnen, soll zugleich selbst in seinem Bau, das theoretische Wissen soll in seiner ›Bedeutungsstruktur‹ verstanden werden. Zu jenem Verhältnis der ›unmittelbaren‹ Deckung und Entsprechung, wie es der Dogmatismus zwischen dem Wissen und seinem Gegenstand annahm, führt jetzt kein Weg mehr zurück.« (PSF III, 6)

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Ausblick Die poetische Logik der Prägnanz »… ich will sagen ›dich‹, wie man gleichermaßen Trauer trägt und ein Kind austrägt …« (Jacques Derrida)

1.

Imprägnation

Es ist kein Zufall, dass Cassirer für eine spezielle Art von Wechselwirkung, die der sympathischen »gegenseitigen Durchdringung« bei Bergson entspricht, den Ausdruck »imprägnieren« wählt: die Ur-Teilung im Mythos »zwischen dem Heiligen und dem Profanen, dem Geweihten und Ungeweihten« (PSF II, 94), die das mythische Ganze »durchdringe und imprägniere« (ebd.). Imprägnieren ist Befruchtung, entspricht der Insemination, doch ohne die strukturalistisch orientierte Metaphorik der atomaren Zersplitterung 1 von Semen als einzelnen Bedeutungselementen, die die Semiotik im 20. Jahrhundert von Lacan und Barthes über Kristeva bis zu Derrida kennzeichnet. Diese geht auf eine metaphysische Variante des Diskontinuums bei den Stoikern zurück: den logos spermatikos, der die einzelnen, anderen ›Keimkräfte‹ der Einzeldinge in sich enthält. 2 Logoi spermatikoi sind nicht diskrete materielle Einheiten wie Atome, sondern sozusagen Sinn-Einheiten, aus denen Wesenheiten entstehen. Sie bringen aber keine reale Veränderung hervor, sondern reproduzieren nur ihr eigenes Wesen. Sie sind die Vorläufer derjenigen Einheiten, die in der heutigen Sprachwissenschaft als Seme und Sememe bezeichnet werden. Imprägnation dagegen schafft neue Formen, nicht neue BausteiBei Bergson finden wir zwar auch Bildern von Explosionen, Raketen, Feuerwerk, Garben: den Entstehungen der Multiplizität und Diversifizität des Lebens in Schöpferische Entwicklung. Doch diese explosive Kraft ist eine Ausdifferenzierung des Kontinuums, eine Vermittlung mit dem Diskontinuum als dynamische Struktur und keine atomare Zersplitterung. Sie ist eher Valérys Deutung der Metapher als »explosiver Ohnmacht« verwandt. 2 Vgl. Armato 2005, S. 19 ff. 1

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Imprägnation

ne, und sie ist vor allem schon an einem neuen Kontinuum beteiligt. Imprägnieren bedeutet nicht nur Befruchtung, sondern auch Einfärben und damit einen ganzheitlichen Strukturwandel. Zudem kann es die Bedeutung des Schützens erhalten, eine mediale Übertragungsfunktion ähnlich der Impfung: Leder wird imprägniert, um es vor Feuchtigkeit zu schützen bzw. ihm eine neue Qualität zu verleihen, die es undurchdringlich macht. Der Strukturwandel ist also ein Wandel von Qualitäten. Nur wenn Cassirers mythisches Ganzes, die Basis jeder Ausdrucksform, als ein solcher kontinuierlicher Strukturwandel gedacht wird, lässt sich verstehen, warum der Mythos uns in Cassirers kulturellen Entwicklungen niemals verlässt. Es gibt keinen einfachen Übergang von der Basis des Mythos zu den höheren Formen sprachlicher Darstellung und funktionaler Bedeutung, in dem wir die Ausdrucksform des Mythos hinter uns lassen würden, um in der Architektur des Kulturellen weiter aufzusteigen. Der Mythos ist eine topologische Struktur, aus ihm entsteht unsere räumliche Orientierung in der Wirklichkeit. Cassirer grenzt die Raumwirklichkeit des Menschen von einem bloßen Aktionsraum nach Uexküll ab. Die menschliche Raumwirklichkeit ist symbolisch geformt. Sie ist mit dem mythischen Denken, und das heißt auch, mit Formen des Ausdrucks von Grund auf imprägniert, wie nach Bergson unsere Persönlichkeit durch unsere Bewusstseinszustände imprägniert ist. Symbolische Formen entstehen nicht durch das Aneinanderfügen semantischer Bausteine, sondern aus Wechselwirkung von Qualitäten. Insemination stammt aus dem Denken des Diskontinuums, Imprägnieren aber beschreibt ein Kontinuum. Bedeutung im Sinne Cassirers entsteht aus diesem Kontinuum. Die Fruchtbarkeit als kontinuierliche Verlaufsform im Formenwandel, für die »Prägnanz« steht, sowohl im Werden als auch im Vergehen, tritt für die Erfahrung als Bedeutung hervor; doch zugleich steht sie für eine Wechselwirkung als Bedeutungsentstehung. Imprägnation ist der eine, diffuse und virtuelle Pol dieser intensiven Relation der Bedeutungsentstehung; die symbolische Prägnanz ist der andere, klar abgegrenzte Pol, die neu entstandene Bedeutung.

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Ausblick · Die poetische Logik der Prägnanz

2.

Virtualität und Aktualisierung: Das Ereignis

Das Motiv des Durchdringens als Färben in Bezug auf die Psyche und die Empfindungen ist in der Romantik beliebt und wird durch Bergson aufgegriffen. In ihrem Roman Wuthering Heights (1847) schreibt Emily Brontë: »I’ve dreamt in my life dreams that have stayed with me ever after, and changed my ideas; they’ve gone through and through me, like wine through water, and altered the colour of my mind.«

Und Bergson reflektiert dieses romantische Motiv in Zeit und Freiheit: »[…] je mehr das Ich wieder es selbst wird, desto mehr hören auch seine Bewusstseinszustände auf, sich nebeneinander zu ordnen, um sich dafür gegenseitig zu durchdringen und ineinander zu verschmelzen, wobei die Einzelnen die Färbung aller übrigen annehmen. So hat jeder von uns seine besondere Art zu lieben und zu hassen […]« (ZF 121)

Die Entstehung der Persönlichkeit als einer eigenständigen Verlaufsform durch die Wirkung der Bewusstseinszustände finden wir bereits in der romantischen Version des Motivs. Aber Bergson fügt diesem Motiv der Imprägnierung eine philosophische Reflexion hinzu, die der wirkenden Imprägnierung durch den Mythos bei Cassirer entspricht: Ein Ganzes entsteht erst als dynamisches Ganzes, es gibt keine sukzessive Aufeinanderfolge von Traum und Einfärben der Ideen, wie Brontë mit ihrem »ever after« andeutet. Das romantische Ereignis ist ein einschneidendes, ein schicksalhaftes Ereignis, das alles verändert und in ein Vorher und Nachher einteilt. Aus der philosophischen Reflexion bei Bergson heraus lässt sich dieses einschneidende Ereignis als eine nachträglich konstruierte Fiktion deuten. Vorher und Nachher lassen sich nicht nebeneinander stellen, sie sind in ihren Wirkungen beide präsent: es handelt sich um eine gegenseitige Durchdringung von Zuständen. Formentstehung und Formenwandel lassen sich nicht trennen. Marc Rölli wendet das Ereignisdenken von Gilles Deleuze in entsprechender Weise gegen die heideggerianische Tradition, indem er ihm ein Verhältnis des Deutens auf jedes Ereignis und dessen Einzigartigkeit zuschreibt, ohne es als Grundmoment des Seins zu hypostasieren.

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Virtualität und Aktualisierung: Das Ereignis

»Das Ereignis muss, wenn nicht verstanden, so doch als solches begriffen werden. Andernfalls verliert es jede positive Bedeutung für eine differenzphilosophisch modifizierte Theorie der Erfahrung und bleibt der Entfaltung der Allgemeinheit des Seins unterworfen oder als bloßes Moment der Indifferenz seiner identitätslogischen Bestimmung unterzogen. In diesem sehr verbreiteten Fall wird es zum Spielball beliebiger religiös-esoterischer Phantasiegebilde.« 3

Auch Deleuze nutzt für seine Ereignisdeutung die Begriffe der Virtualität und der Aktualisierung, die er von Bergson entlehnt hat. Das Ereignis als Aktualisierung ist kein einschneidender Punkt oder eingekerbte Setzung, die entweder als Ausgangspunkt der Entfaltung des Seins oder als Moment der Indifferenz, als das Andere des Seins zu denken ist. Das Ereignis als Aktualisierung ist ein prägnantes Hervortreten, das zu einer neuen Deutung seiner virtuellen Bedingungen führt, die sich im Rückblick als prägnante Spuren erkennen und in ein Kontinuum der Aktualisierung einordnen lassen. Dieses Kontinuum wird ein solches für die Erfahrung, die vom Ereignis rückdeutet auf seine Entstehung. Erst im Denken Irigarays finden wir wieder ein solches Konzept von Medialität und Kontinuum in einer Epoche, »in der die Zeit den Raum neu entfalten müßte.« 4 Ein ganz anderes als Bergsons mediales, prozessphilosophisches Zeitverständnis ergibt sich, wenn man das romantische, das einschneidende, das schicksalhafte Ereignis tatsächlich als Einschnitt versteht, wenn sozusagen ein mythisches Bild des Einschnitts – der Prägnanz als Einkerbung, als Spur wie in der chôra – wörtlich genommen wird. Dann erhält man eine ursprüngliche Spaltung oder Einkerbung, die nicht die Spaltung des Symbolischen ist, sondern als schicksalhafter Moment der Wirklichkeit genommen wird. So entsteht eine Faszination mit dem Augenblick, mit dem schicksalhaften Aufbrechen, um das herum sich alles neu ordnet. Safranski diagnostiziert diese Mystik des Augenblicks nicht nur bei Heidegger, sondern auch bei Kierkegaard, der den »Augenblick« geprägt hat, bei Ernst Blochs »Dunkel des gelebten Augenblicks«, Paul Tillichs »Kairos«, Ernst Jüngers »plötzlichem Schrecken« und Carl Schmitts »Augenblick der Entscheidung« 5. Auch Spengler und 3 4 5

Rölli 2004, S. 338. Irigaray 1991, S. 26. Vgl. Safranski 2003, S. 199.

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Ausblick · Die poetische Logik der Prägnanz

Nietzsche nennt er als Philosophen von »Riß und Bruch«. In diesem Denken soll Intensitätssteigerung nicht zu gradueller, qualitativer Veränderung führen, sondern zu dramatischen Kippmomenten »aus der Freiheit, aus der absoluten Spontaneität. Aus dem Nichts.« 6 In der Einführung zu seinem Sammelband Ereignis schreibt Müller-Schöll: »Im Nachdenken über die Zeit und ihre Erfahrung bezeichnet das Wort in einer auf Heideggers ›Kehre‹ zurückgehenden Tradition des Denkens eine alle Begriffe, Traditionen und Kategorien sprengende Kategorie der Unterbrechung oder Eröffnung. […] Der Begriff wird in diesem Zusammenhang zum Synonym für den zur Regel erhobenen ›Ausnahmezustand‹.« 7

In einem solchen Ereignisverständnis wird die Figur der Prägnanz nicht prozessual entfaltet, sondern auf einen Punkt konzentriert, den Punkt des Einschnitts. Ein einziger Aspekt wird also hervorgehoben und dominiert die ganze Figur: Gegenüber dem Prozess wird die reine Setzung überbetont als »Kategorie der Unterbrechung«. Whitehead würde ein weiteres Mal die fallacy of misplaced concreteness diagnostizieren. Die Einkerbungen, die Spuren, nicht rückwirkend als virtuelle zu nehmen, sondern als Ausgangspunkte, als Konkretionen der Unterbrechung zu setzen: damit wird das Ereignis nicht nur dramatisiert, sondern auch auf einen fiktiven Einschnitt und Wendepunkt reduziert. Für den Prozessphilosophen ist das eine ebenso naive »Verdinglichung« des Ereignisses wie die Metapher, die nach gegenständlicher Ähnlichkeit sucht. Natürlich ist es nicht Heideggers Philosophie alleine, die das Ereignis in dieser Weise dramatisiert, statt es als Prägnanzbildung im Rahmen einer heterogenen Medialität zu reflektieren. Diese Figuration ist nicht auf Heideggers Tradition beschränkt. So formuliert z. B. Luce Irigaray die entsprechende Kritik an Jacques Lacans Theorie des Begehrens: »[…] während die Theorie des Begehrens oft von den Beobachtungen eines bestimmten Spannungsmoments, eines bestimmten geschichtlichen Zeitpunktes ausgeht, müßte das Begehren vielmehr als eine Dynamik betrachtet werden, deren Abläufe sich modifizieren und die sich für die VergangenEbd., S. 201. Müller-Schöll 2003, S. 9. Mit »diesem Zusammenhang« ist die Zeit seit dem 11. September gemeint, wofür Giorgio Agamben den Begriff des Ausnahmezustands von Carl Schmitt übernimmt, den Safranski einen der »Liebhaber der großen Augenblicke […] [und] Adventisten des Nichts« nennt. Safranski 2003, S. 201.

6 7

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Konkretion: Konkreszenz und Übertragung

heit, manchmal auch für die Gegenwart beschreiben, aber niemals in definitiver Form für die Zukunft programmieren läßt. Unsere Zeit hätte nicht die ganze dynamische Reserve realisiert, die das Begehren beinhaltet, wenn es auf die Ökonomie des Zwischenraums bezogen wird […]« 8

Die Medialität dieses Zwischenraums würde, so Irigaray, durch relationale »Ökonomie« eine Dynamik liefern, deren Modifikationen einem bergsonianischen Zeitverständnis entsprächen. Stattdessen ist der »Spannungsmoment«, der aktive Aspekt der Setzung, ein Punkt in einem Zeitverständnis, das ihn als ereignishaften Wendepunkt hypostasiert. Der Ereignisbegriff jeder Art von Prozessphilosophie relativiert den aktiven Aspekt der Setzung und bindet ihn in eine mediale Entwicklungs- und Erscheinungsform ein. Das Ereignis ist etwas ganz Alltägliches, das Alltäglichste und Gewöhnlichste überhaupt. Wesentlich ungewöhnlicher wäre es, wenn sich nichts ereignen würde. Dennoch behält es den Aspekt des Auffallens, des Ins-Auge- Fallens, der im deutschen Wort Ereignis enthalten sein soll: nicht in der Dramatik eines »zur Regel erhobenen Ausnahmezustands«, sondern insofern das Ereignis Bedingung für Erscheinung und Erfahrung ist.

3.

Konkretion: Konkreszenz und Übertragung

Jeder Formenwandel muss mit dem Doppelsinn von Prägnanz gedacht werden, dem Hervortreten der Form für die Erfahrung und ihrem Wirkzusammenhang mit dem, was sich diesem Erfahrungsmoment entzieht. Der Ausgang von der konkreten Form bedeutet gerade nicht, dass man auch beim Konkreten stehen bleiben müsste, aber auch nicht, dass es erst noch verwandelt werden, gewissermaßen als Konkretion zu sich selbst kommen müsste. Dieses scheinbare Paradox lässt sich nur darin lösen, dass die Konkretion selbst als die Bewegung der Gestaltung einschließend verstanden wird, als Ereignis oder Konkreszenz. An dieser Stelle nimmt Whitehead den Begriff der Konkreszenz auf. Sie bezeichnet das Zusammenwachsen, die entstehende Identität von Elementen in der real unity of feeling. Feeling, »empfinden«, betrifft das Prozessuale, Intensive an dem Aufnehmen eines Wirkele-

8

Irigaray 1991, S. 15.

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Ausblick · Die poetische Logik der Prägnanz

ments. Das Empfinden ist das Sich-Auswirken des aufgenommenen Elements, wodurch die Konkreszenz, die Verschmelzung stattfindet. Im Gegensatz zum mythischen Konkreszenzbegriff bei Cassirer bezieht sich die Verschmelzung nicht auf Eigenschaften eines Gegenstandes, sondern auf die Entstehung von Relationen zwischen eigenständigen Elementen. Cassirer nutzt den Begriff der Konkreszenz für die mythische Erfahrung der Welt, die keine abstrahierende Reflexion auf die Beziehung von Konkretion und Allgemeinheit unternimmt, sondern die Konkretion als eigenständig begreift. Konkreszenz ist dann die Verschmelzung des Gegenstandes mit den ihm beigelegten Eigenschaften: das Verhältnis, das eigentlich die Wirklichkeit ausmacht, wird nicht als bedeutungsunterscheidend erkannt, sondern verdinglicht. Es wird selbst als gegenständliches Faktum hingenommen. Whitehead benutzt dagegen einen kosmologischen Konkreszenzbegriff, der auf Grund dieser Perspektive bereits abstrakt ist. Die Neustrukturierung ist ja Teil der Verschmelzung als Ereignis. Aber diese Art von Perspektivierung ist keine Beobachterperspektive, keine Relativierung auf einen Blickpunkt, sondern eine Relativierung auf ein Ereignis hin. Was der Philosoph abstrakt betrachtet, ist das Ereignis, das heißt, die Relativierung selbst. Die Gemeinsamkeit liegt darin, dass in beiden Konkreszenzbegriffen die Wirklichkeit und Wirkmacht des Konkreszierenden nicht in einer vorausgehenden substantiellen Einheit besteht, sondern gerade im Entstehen der Einheit. Die Konkreszenz beschreibt damit immer eine Abnahme von Kontingenz. Man kann auch sagen: die lokale, situative Entstehung von Ordnung in einem relativen Chaos, um, wie Cassirer es formuliert, »das Unbestimmte zum Bestimmten, das Chaos zum Kosmos werden zu lassen.« (MR 418) Bei Bergson finden wir diese intensive Verbindung von Qualität und Relation als Aktualisierung. Bei Whitehead wird die kosmologische Struktur des Werdens noch deutlicher betont. Er bezeichnet sich selbst als »a little more Aristotelian« (ESP 116) im Vergleich zu Bergson. Damit bezieht er sich auf die Tatsache, dass er, Whitehead, die Formung der Erfahrung aus der Wirklichkeit von vornherein als einen kosmologischen Vorgang begreift. Die Kosmologie wird als ein Ganzes gedacht, indem verschiedene Aspekte der Negation in die prozessuale Veränderung eingearbeitet werden, mit denen sich Bergson nicht in dieser Ausführlichkeit befasst: das Nichts, das Verschwinden, das Vergehen, die Auslöschung, das Ende. 298 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Konkretion: Konkreszenz und Übertragung

Whitehead sieht die Notwendigkeit, zwei Richtungen der Formung zu unterscheiden: Konkreszenz und Übertragung. »One kind is the fluency inherent in the constitution of the particular existent. This kind I have called ›concrescence‹. The other kind is the fluency whereby the perishing of the process […] constitutes that existent as an original element in the constitutions of other particular existents […]. This kind I have called ›transition‹.« (PR 210)

Bergsons Substantialität der Bewegung wird hier noch einmal relativiert: Sie kann nur konsistent gedacht werden, indem sie in eine multiperspektivische Verflechtung gebracht wird, in der es immer noch etwas anderes gibt, immer eine andere Erfahrung und niemals eine einzelne – denn sonst wäre das Ende einer Erfahrung tatsächlich ein Ende, das wir uns als Beginn des Nichts vorstellen müssten. Das ist der Sinn des Ereignisses als Übertragung (transition). In der Tat ist der Tod ein solcher Beginn des Nichts – aber nicht für uns selbst, sondern für die anderen; und dieses Nichts ist gerade nicht nichts, sondern etwas, das bleibt. Es gewinnt seine eigene Form, ganz im Gegensatz zu Heideggers philosophischer Ausrichtung auf den eigenen Tod. Der eigene Tod liefert die Perspektivierung für die ganze Phänomenologie des Daseins als Struktur der Sorge. Doch dies führt auch in Sein und Zeit zu der Formulierung: »Wir erfahren nicht im genuinen Sinne das Sterben der Anderen, sondern sind höchstens immer nur ›dabei‹.« 9 Denn »[d]er Verstorbene hat unsere Welt verlassen und zurückgelassen.« 10 Heideggers Verständnis des Todes und des Anderen zeigt, dass seine Philosophie trotz des zentralen Motivs von Zeit und Zeitlichkeit nichts mit Prozessphilosophie gemein hat. Sie teilt darum auch nicht das ästhetische und ethische Denken der Prozessphilosophie, das auf einer untrennbaren, nicht nur dabeiseienden, sondern realen Verwobenheit meiner Wirklichkeit mit der des Anderen beruht, verstanden als ein echter Wirkzusammenhang. Es ist nicht meine Welt, die verlassen wird, aber an sich gleich bleibt: es ist eine Welt, eine gemeinsame Welt, die verschwunden ist und die Form des Nichts zurückgelassen hat in einer medialen Übertragung. Das ist die einzige Realität des Nichts, die wir kennen: der empfundene und erlebte Verlust. 9 10

Heidegger 1960, S. 239. Ebd., S. 238.

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Ausblick · Die poetische Logik der Prägnanz

4.

Prägnanz als Deutung der Wirklichkeit

»Die Welt ist fort, ich muß dich tragen«, zitierte Jacques Derrida ein Gedicht von Paul Celan in seiner Gedenkrede für den verstorbenen Hans-Georg Gadamer, »Le dialogue ininterrompu«, die er 2003 in der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg hielt. Dieses Tragen-Müssen des Anderen ist, als poetischer Ausdruck von Trauer als einer wirklichen Erfahrung, zugleich der Ausdruck der Übertragung als des für Prozessphilosophie charakteristischen Formenwandels. Lawlor weist darauf hin, dass das Tragen Celans und Derridas nicht nur Erinnerung als Wirkzusammenhang prozessphilosophisch reflektiert, sondern auch das Gegenstück zur Erinnerung an den Anderen, die ebenfalls tragende Erwartung in der Schwangerschaft anklingen lässt. Erinnerung und Erwartung stellt er dabei in den Kontext der Erfahrung des Ereignisses. 11 Derrida selbst bringt dieses Tragen auch mit Schwangerschaft in Zusammenhang, »ich will sagen ›dich‹, wie man gleichermaßen Trauer trägt und ein Kind austrägt«, und auf diese Weise trägt auch der poetische Ausdruck, das Gedicht, den anderen und öffnet dabei zugleich den Zwischenraum zu anderen ›dich‹ : »Das Gedicht ist das ›dich‹ und das ›ich‹, das sich an ›dich‹ wendet, aber auch jeder andere.« 12 Das Tragen als Formenwandel ist auch ein Tragen von Bedeutung: es ist bedeutungsvoll als ein Versuch oder ein Zwang, Sinn in einen sprachlichen Ausdruck zu übertragen. 13 Der poetische Ausdruck bringt die Erfahrung des Wandels als Wirkrelation – Erinnerung oder Erwartung – und die Wirklichkeit des tatsächlichen Wandels zusammen. Diese Funktion des poetischen Ausdrucks spiegelt sich in dem Begriff der Prägnanz, der sowohl den Ausdruck selbst, das Hervortreten und sich Abgrenzen des Wirklichen im Ausdruck, als auch die Vorbereitung und Andeutung des Wandels enthält: die Schwangerschaft, engl. pregnancy. Nach Adler tritt im deutschen Prägnanzbegriff noch der

Lawlor greift Derridas Celan-Zitat in dem Vortrag auf, den er am 29. September 2011 bei der internationalen Tagung der Deutschen Gesellschaft für phänomenologische Forschung an der Humboldt-Universität zu Berlin gehalten hat: »What Happened? What is Going to Happen? An Essay on the Experience of the Event«. 12 Derrida 2004, S. 35. 13 Ebd., S. 48. 11

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Prägnanz als Deutung der Wirklichkeit

»Kern« 14 der Sache hinzu, der Ausdruck des Wesentlichen: das, worum es hier eigentlich geht. Für das Worum-es-geht als prozessuales, ereignishaftes Zentrum der Entfaltung verschiedener, möglicher Ausdrucksformen wählt Whitehead den Quaker-Begriff concern. Concern entspricht Heideggers zentralem Prinzip der Sorge, jedoch nicht auf die existenzphilosophische Figur des Daseins als Subjekt beschränkt, sondern bezogen auf das prozessphilosophische »Subjekt« jedes Ereignisses. Concern hat den aktiven Aspekt der Beschäftigung mit etwas und den passiven Aspekt des Betroffen-Seins von etwas. »The occasion as subject has a ›concern‹ for the object. And the ›concern‹ at once places the object as a component in the experience of the subject, with an affective tone drawn from this object and directed towards it. With this interpretation the subject-object relation is the fundamental structure of experience.« (AI 176)

Erst die Formen des Ausdrucks, die sich um diesen Kern der Prägnanz herum bilden und gliedern, machen die Prägnanz zur symbolischen Prägnanz. Prägnanz als Übertragung wird durch poetische Ausdrucksformen angemessen erfasst, weil es sich um die Wirkung einer poetischen Kraft handelt: der Entstehung von etwas Neuem. Nach Cassirer trägt besonders Shaftesbury dazu bei, diese Wirkung der poetischen Kraft zu denken, und zwar in der Dynamik der inneren Form als Dynamik zwischen dem Ganzen und seinen Teilen. Diese Kraft geht der produktiven Einbildungskraft bei Kant voraus und ist nur durch die ästhetische Anschauung, also durch individuelle Erfahrung nachzuvollziehen. »In der Anschauung des Schönen vollzieht sich für den Menschen die Wendung von der Welt des Geschaffenen zur Welt des Schöpferischen; von dem Universum, als dem Inbegriff des Gegenständlich-Wirklichen, zu den wirkenden Kräften, die es gestaltet haben und die es innerlich zusammenhalten.« (PA 330)

Die »innere Form« der Selbstorganisation liefert dem Prozess der Erfahrung eine mediale Basis, indem die unterschiedlichen Tendenzen von Gefühl, Empfindung oder Affektivität einerseits und Eigenaktivität oder schöpferischer Tätigkeit andererseits in sympathische Wechselwirkung gebracht werden. Denn »alles Denken wie alles sinnliche Anschauen und Wahrnehmen ruht auf einem ursprüng14

Adler 1990, S. 91 ff.

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Ausblick · Die poetische Logik der Prägnanz

lichen Gefühlsgrund« (PSF II, 112). Bei Herder heißt dieser Gefühlsgrund fundus animae, der dunkle Grund der Seele. Aber die artikulierende Tätigkeit des Denkens und Wahrnehmens selbst differenziert erst diesen ursprünglichen (mythischen) Gefühlsgrund aus und kann schließlich die Formen, die sie selbst mit artikuliert hat, auf die schöpferische Kraft zurückführen, durch die sie entstanden sind. Goethe ist für Cassirer wie für Simmel 15 das Idealbild desjenigen schöpferischen Geistes, der sich die Dynamik der Erfahrung in höchster Form zunutze gemacht hat, indem er alles von Bedeutung in seiner individuellen Erfahrung erfasst und in einer besonders gelungenen Kombination von Auswahl und Gestaltung zu schöpferischer Eigenleistung überführt. Das erinnert an Bergsons Vorstellung vom freien Handeln, das aus dem individuellen Leben der handelnden Person heraus frei wird, und an seine Beschreibung des Künstlers. »Unser Auge faßt die Züge des Lebewesens auf; nur aber als bloßes Nebeneinander, nicht organisch aufeinander bezogen. Ihm entgeht die Lebensströmung, jene einfache Bewegung, die die Züge durchläuft, sie verbindet, ihnen Bedeutung verleiht. Diese Strömung aber ist es, die der Künstler zu greifen trachtet«. (SE 181 f.)

Auch für Whitehead ist die Basis des Ästhetischen in diesem Sinn zentral. Der frei Handelnde, der Philosoph und ebenso der Künstler muss eine gewisse Einheit der Erfahrung erreichen und kann eine Einheit des zu Erfahrenden erfassen, indem er sich dazu in Beziehung setzt. Das ist auch für Whitehead eine schöpferische Leistung. »Thus viewed in abstraction objects are passive, but viewed in conjunction they carry the creativity which drives the world. The process of creation is the form of unity of the universe.« (AI 179)

5.

Ereignis und Prozess

Wenn Konkretion ein Ereignis ist, dann ist Strukturentstehung ein Werden zur Form, ein Kontinuum der Strukturierung. Konkretion als Ereignis ist damit die Formel zur Verabschiedung des statischen, sich selbst gleichen Kontinuums, das als designiertes Ding gedacht wird, auf das man sich sprachlich immer in gleicher Weise beziehen kann: als Identität an sich, als Form an sich. Ein Kontinuum der 15

Vgl. Simmel 1921, S. 145.

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Ereignis und Prozess

Strukturierung ist die Stetigkeit der Veränderung, die das Werden zur Form oder die Entstehung von Sinnverhältnissen ermöglicht. Da in einem solchen Konzept von Struktur und Kontinuum nicht länger zwei getrennte Faktoren gedacht werden, sondern die intensive Beziehung zwischen diesen beiden Faktoren, wird klar, warum Formen nicht »verloren gehen«, wenn wir die Veränderung als stetig denken. Eine stetige Veränderung bedarf stetiger Qualitäten, die sie in ein je neues Verhältnis setzen kann. Würde sich bei jedem Zustandswechsel dieser stetigen Veränderung alles auflösen, so hätte gar keine Veränderung stattgefunden, weil keine Unterschiede mehr erfahren werden könnten. Eine vollständige Auflösung von Struktur und Form würde das Ende der Erfahrung bedeuten und damit auch das Ende des Lebens. Bei Bergson, und konsequenter bei Whitehead, werden die subjektiv-formalen Aspekte der allgemeinen Formen, die nur relativ zu orientierenden Perspektiven entstehen, ganz abgelöst durch die prozessuale Form. Whitehead nennt diese Form selbst die subjektive Form. Die Orientierung wird dann umgekehrt ein individuell erfahrbarer Aspekt an der Form des Prozesses, statt dass dieser als subjektiv bedingt angesehen würde. Damit ist die eigentliche Aufgabe gelöst: eine Form für die prozessuale Wechselwirkung, für das Zwischen zu finden, die nicht in die Falle der Verwechslung, der Verdinglichung gerät. Für Whitehead ist Wirklichkeit, reality, nichts anderes als die Ver-Wirklichung, die er einfach als process bezeichnet. In diesem Ausdruck spiegelt sich nicht nur der Verlaufscharakter des Prozessualen, sondern auch die Komponente des processing, des Umwandelns oder Verarbeitens von Material, und zwar über die Ideen als »Formbildner der Wirklichkeit« 16, wie Simmel sie in Bezug auf Goethe nennt. Denn auch für Simmel ist ein Kerngedanke, »daß der Lebensprozeß mit seinem beharrenden Charakter, Intention und Rhythmus als die gemeinsame Voraussetzung und Formgebung sowohl für das Erleben wie für das Schaffen wirkt.« 17

Hegels Philosophie der Wirklichkeit ist ebenfalls eine prozessuale Umarbeitung. Sie ist allerdings von einer Logik der Identität, der sich ihrer selbst gewahr werdenden Vernunft geprägt. An der Wirklich16 17

Ebd., S. 63. Ebd., S. 16.

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Ausblick · Die poetische Logik der Prägnanz

keit kann sie schließlich nur noch das erkennen und als wirklich anerkennen, was dieses Selbst der Vernunft und des Geistes reflektiert. Wirklichkeit wird Produkt, Umgearbeitetes und Hergestelltes, in dem wir als die Produzierenden uns gespiegelt wiederfinden. Das ist keine ästhetische Medialität, sondern instrumentelle Vermittlung von Aktivität zu höheren, komplexeren, wirkmächtigeren Stufen der Aktivität. Überall dort, wo gedacht wird, hat längst Vermittlung stattgefunden; wir sind immer bereits in der Vermittlung und bewegen uns mit ihr, sie ist das Vehikel unseres Denkens. »Aber dieser Gehalt der Hegelschen Logik war unlöslich mit ihrer Form, mit der Form der dialektischen Methode, verknüpft.« (ECW 16, 7) Durch die Selbstoffenbarung der Vernunft wird bei Hegel, so analysiert Cassirer, »die schlichte Einsicht verdunkelt, daß das Medium, durch das die Verwirklichung sich vollzieht, lediglich in der sittlichen Arbeit liegt, die die Individuen zu vollziehen haben. Die Kraft, die dieser Arbeit innewohnt, aber wird abgestumpft, wenn ihr ein ›absolutes‹ Ergebnis vorgehalten wird, das der ›Weltgeist‹ als solcher in der Geschichte heraufführt.« (FF 384 f.)

Die Kraft dieser Arbeit ist das, was Cassirer, Bergson und Whitehead »das Schöpferische« nennen: die Bedingung der Entstehung von etwas Neuem. Prozessdenken, das Prozesse nur als Umarbeitungsprozesse begreift, ist noch keine ›vollständige‹ Prozessphilosophie. Nicht das Ergebnis der Prozessphilosophie soll »absolut« sein, sondern die gemeinsame Basis: Whiteheads universale Verbundenheit aller Dinge. Echte Medialität ist das Dritte als Gemeinsames von Sein und Werden, nicht als ihr Produkt oder Prinzip. Nicht die Synthese ist medial, sondern das Umgreifende, das sie mit den Strukturen verbindet, aus denen sie entsteht. Darum muss von der Konkretion als Ereignis ausgegangen werden, um den Prozess als realen Formenwandel zu denken. Dieser ist nur durch intensive Relationalität denkbar, da Ereignisse nur dann als wirkende Zusammenhänge erfasst werden können, wenn das Verhältnis zwischen ihren unterschiedlichen Zustandsformen sie als Teile eines Ganzen ausweist. Damit stehen sie in einem gegenseitigen Immanenzverhältnis zu Erfahrung und Denken. Mit dem Motiv des Wandels zusammen gedacht, entziehen sich auch die Grenze als Begrenzung und die Relation als Bewegung der Darstellung durch Identitätslogik. Die Logik muss im Sinne von Leibniz zu einer Kunst des Denkens werden. Umgekehrt kann das Denken 304 https://doi.org/10.5771/9783495808344 .

Ereignis und Prozess

seine Grenzen nicht subjektiv setzen, sondern muss sie sich erst erschließen. Es muss auf Reisen gehen und Richtungen eröffnen, im Wortsinn forschen. Aus dieser tätigen Haltung auf das Verschlossene hin, einer Hermeneutik, ergibt sich ein anderer Sinn von Grenze. Sie grenzt nicht das Sein vom Nichts ab und nicht das Wahre vom Falschen, sondern wird zur Unterscheidung zwischen Bereichen mit ihren je »eigentümlichen Prinzipien der Gestaltung«. Die Kontingenz dieser Bereiche erschließt sich durch die intensive Relationalität der Gestaltung selbst, ihre »immanente Gliederung« für die Erfahrung. Die Bedeutung aber, die ihnen im Verhältnis zu einander von der denkenden, reflektierenden Erfahrung zugeschrieben wird, wird zur Basis für Erkenntnis. Darin liegt die poetische Logik, die schöpferische Ordnungsstruktur der Prägnanz.

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