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German Pages 129 Year 1965
Die Revision des Marxismus-Leninismus Chancen und Grenzen einer Ideologie
Von
Herbert Schack
Zweite, neubearbeitete Auflage
Duncker & Humblot . Berlin
HERBERT
SCHACK
Die Revision des Marxismus-Leninismus
Die Revision des Marxismus-Leninismus Chancen und Grenzen einer Ideologie
Von HERBERT
SCHACK
Zweite, neubearbeitete Auflage
D Ü N C K E R & H U M B L O T
/
BERLIN
Alle Rechte vorbehalten © 1965 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1965 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany
VORWORT ZUR 2. AUFLAGE Ich folge in der Darstellung und Beurteilung des Marxismus dem Grundsatz von Paul Valéry: „La première chose à faire, si l'on veut détruire quelque opinion, elle est de s'en rendre maître un peu plus que ceux qui la soutiennent le mieux." In freier Ubersetzung: „Wenn man eine Meinung widerlegen will, ist es das erste, daß man sie sich ein wenig besser zu eigen macht, als jene es tun, die sie am besten verteidigen." Wir wollen den Marxismus besser verstehen, als die Marxisten ihn verstehen. Gemeint ist vor allem der durch Partei und Staat fixierte orthodoxe Marxismus sowie der sich (auf seinem Boden) in gewissem Gegensatz zu ihm entwickelnde Revisionismus. Wir nehmen jedoch auch auf Karl Marx und Friedrich Engels Bezug, da in ihrer Auffassung, besonders in der von Engels, der Ursprung der späteren ideologischen Verengung und Verflachung liegt. Wir können den Marxismus und die ihm innewohnende Dynamik am besten verstehen, wenn wir ihn im Sinne der eigenen (dialektischen) Methode begreifen. Beurteilen werden wir ihn im Hinblick auf das ihn leitende Menschenbild. Danach wird er uns als nicht weit und tief genug erscheinen. Erfahrung, wissenschaftliche Erkenntnisse und philosophische Einsichten widerstreiten gewissen Grundthesen. Denn wie immer sich der Marxismus auch entwickelt hat, er schöpft gedanklich nicht alle dem Menschen gegebenen Möglichkeiten aus, weder in der Breite der geistigen Fähigkeiten noch in der vertikalen Sicht der Selbstbesinnung. Sind den Marxisten aller Richtungen auch die Spannungen zwischen fachwissenschaftlichen Erkenntnissen und philosophischen, auf Ganzes und Wesentliches gerichteten Einsichten vertraut, so doch nicht auch die Spannungen zwischen dem, was innerhalb jenes Ganzheitlichen und Wesentlichen sichtbar und vernehmbar ist. Über einem durchaus gegebenen Totalitätsverständnis, welches den Sinn für das Kollektive in den verschiedensten Formen in sich schließt, wird die personale 5
Sphäre in ihrer Breite und Tiefe nicht hinreichend beachtet und geachtet. Unsere Kritik trifft in dieser Ausrichtung nicht nur den Marxismus bzw. den marxistischen Revisionismus, sondern die ,moderne' Lebens- und Weltanschauung überhaupt. Infolgedessen führen unsere kritischen Studien am Ende auch zu einer Klärung der eigenen geistigen Position und in diesem Zusammenhang auch zu einer Erhellung unserer politischen und sozialökonomischen Situation. Berlin, im August 1965 Herbert Schuck
VORWORT ZUR 1. AUFLAGE Die kommunistische Bewegung unserer Zeit wurde durch ein demagogisches Meisterwerk ohnegleichen (zugleich von wissenschaftlichem Rang): das Kommunistische Manifest bzw. das „Manifest der Kommunistischen Partei" (1848) eingeleitet. „Ein Gespenst geht um in Europa — das Gespenst des Kommunismus." Alle Mächte des alten Europa hätten sich zu einer „heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst" verbündet. Es sei aber „hohe Zeit, daß die Kommunisten ihre Anschauungsweise, ihre Zwecke, ihre Tendenzen vor der ganzen Welt offen darlegen". Heute ist das kommunistische Programm in einem großen Teil der Welt, wenn auch nicht ganz im Sinne seiner Urheber, verwirklicht worden. Doch seltsam: In der kommunistischen Welt selbst geht nun ein Gespenst um, das zwar nicht Dynastien, wohl aber Diktatorensessel erschüttert: der Revisionismus. Wenn es aber in jenem Manifest heißt: „Der Kommunismus wird bereits von allen europäischen Mächten als eine Macht anerkannt", so gilt dies doch nicht auch vom Revisionismus. Hier und da sind wohl revisionistische Ideen laut geworden. Dann und wann ist es auch zu Revolten gegen das herrschende System gekommen. Eine wirkliche Gefahr für den sowjetischen Marxismus/Leninismus aber bildet dort nur die heimliche 6
geistige Widerstandsbewegung, die in langen nächtlichen Erörterungen in Familie und Freundeskreis ihren Anfang nimmt. Diese Situation ist der westlichen Welt bekannt. Nicht hinreichend bekannt aber ist hier der Gegenstand revisionistischer Kritik. Was wird kritisiert? Was wird bezweifelt und woran wird gezweifelt? Die vorliegende Abhandlung soll in gedrängter Kürze über die Fragen orientieren, die von Marxisten seit mehr als einem halben Jahrhundert an den orthodoxen und seit Oktober 1917 auch institutionell verankerten Marxismus gestellt worden sind. Die revisionistische Bewegung in Kunst und Literatur konnte nur am Rande vermerkt werden. Gemeint ist jene sozialistische Kunstrichtung, in der sich eine echte, vorerst nur utopische Perspektive zeigt. Was hierunter zu verstehen ist, mag der Leser dem kürzlich erschienenen Buch von Georg Lukdcz „Wider den mißverstandenen Realismus" (Claasen, Hamburg 1958) entnehmen. Berlin-Dahlem, im April 1959 Herbert Schack
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INHALTSVERZEICHNIS Einleitung Erster
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Teil
Die Problematik des Marxismus-Leninismus
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I. Die philosophischen Probleme 1. Der Empirismus 2. Der naturwissenschaftliche und historische Materialismus 3. Die Realdialektik
15 15
II. Die soziologischen Probleme 1. Klassenbewußtsein und Parteilichkeit 2. Die „neue Klasse" 3. Das Freiheitsinteresse der Intelligenz 4. Das Lebensinteresse der Massen
18 24 32 32 41 43 47
III. Die ökonomischen Probleme 1. Die ZentralplanWirtschaft 2. Der sozialistische Wettbewerb 3. Die Sozialisierung
50 50 54 56
IV. Die politischen Probleme 1. Der Weg zur Macht 2. Die sozialistische Demokratie 3. Die sozialistische Weltpolitik
61 61 63 66
Zweiter
Teil
Die Anziehungskraft des Marxismus-Leninismus V. Die Anziehungskraft der Ideologie 1. Die Sozialkritik
69 69 69 9
2. Der humanitäre Sozialismus 3. Die moderne Weltanschauung 4. Der sozialistische Realismus (Die marxistische Ästhetik)
71 74 77
VI. Die Anziehungskraft der kommunistischen Bewegung . . 1. Die Bildungsarbeit 2. Die Kollektivierung 3. Der Reformkommunismus
81 81 83 86
Dritter
Teil
Die Grenzen der Chancen VII. Die Stärke und Schwäche der Ideologie 1. 2. 3. 4.
Der Totalitätsanspruch Der Widerstreit mit der Erfahrung Wissenschaftliche Irrtümer Die unzureichenden philosophischen Einsichten
92 93 94 97 99 103
VIII. Die Stärke und Schwäche der kommunistischen Bewegung 109 1. Die Liberalisierung 109 2. Die Politik der nationalen Interessensicherung 115 Schluß Die Wahrheitsfrage
118
Namenverzeichnis
123
Sachverzeichnis
124
EINLEITUNG
Als Alfred Nossig im Jahre 1901 sein Werk über „Die Revision des Sozialismus" veröffentlichte, ahnte er nicht, daß das von ihm geprägte Wort „Revisionismus" einmal weltpolitische Bedeutung haben würde. Denn heute ist der Revivisionismus ein in mannigfacher Variante auftretendes geistiges Phänomen, das in Ost und West — aus verschiedenen Gründen und in verschiedenem Grade — beachtet wird. Im „sozialistischen Lager" will man allerdings von einer weltpolitischen Bedeutung des Revisionismus nichts wissen. Natürlich gäbe es „Marxisten", die ihrer Meinung nach den Marxismus in Wort und Schrift vertreten; in Wahrheit seien sie aber Abtrünnige des Marxismus. Interne Meinungsverschiedenheiten gingen übrigens Außenstehende nichts an. „Kamerad Tito" habe zum Beispiel sehr originelle Gedanken über den Marxismus-Leninismus, sagte Chruschtschow s. Z. zu Adelai Stevenson. Die Auseinandersetzung mit Tito sei jedoch eine Familienangelegenheit. Die ideologischen Differenzen würden zu gegebener Zeit intern besprochen und bereinigt werden. Revisionistische Gedanken und Bestrebungen im östlichen Lager werden, wie man sieht, nach außen hin oft bagatellisiert. In Wirklichkeit aber ist der Revisionismus das Schreckgespenst der sozialistisch-kommunistischen Machthaber, der Parteifunktionäre, der kleinen und großen Diktatoren. Ist ihre Ideologie doch gleichsam der Panzer, in dem sie sich unüberwindlich wähnen. Was nützt aber der stärkste Panzer, wenn er durch eine heimlich-unheimliche geistige Macht von innen her aufgerissen wird? Die Führung vermag wenig ohne den Glauben der Massen an die programmatischen Ziele und an die Richtigkeit der von Partei und Regierung getroffenen Maßnahmen. Darf also an Partei und Regierung Kritik geübt werden? Darf eine Kritik laut werden? Vielleicht sieht die Führung selbst eine Diskrepanz zwischen Ideologie und Lebenspraxis, zwischen Programm und Wirklichkeit. Vielleicht ist 11
sie selbst einem Revisionismus zugeneigt. Wäre es aber taktisch richtig, weithin verkündete Grundsätze zu ändern oder gar aufzugeben? Man fürchtet sich insgeheim vor einem Revisionismus in der eigenen Brust; man fürchtet sich vor den wiederholt auftretenden revisionistischen Bestrebungen der wissenschaftlich und künstlerisch tätigen Intelligenz und schließlich vor einem Revisionismus in der mehr oder weniger lauten Kritik der werktätigen Massen. Der Revisionismus ist der Albtraum der selbständig denkenden Kommunisten. Der nachdenkliche Marxist kann ja nicht nur immer Lehren annehmen und aufnehmen, sondern er fühlt sich verpflichtet, sie auf ihre Folgerichtigkeit und ihre Übereinstimmung mit der Lebenswirklichkeit zu prüfen. Nun werden orthodoxe Marxisten wohl nichts dagegen haben, wenn dieser oder jener beiläufige Gedanke von Marx und Engels korrigiert bzw. revidiert wird. Anders verhält es sich aber mit Grundthesen. Wieweit ist hier eine Umdenkung oder Umdeutung zulässig? Dabei geht es nicht nur um die Ideologie. Denn mit den marxistischen Grundsätzen sind bestimmte praktische, parteipolitische, staats- und wirtschaftspolitische Konsequenzen verbunden. Der Revisionismus ist nicht eine außer- bzw. antimarxistische, sondern eine mit dem Marxismus wesentlich verbundene Bewegung. Er ist der in mannigfachen Varianten auftretende dialektische Gegenspieler des orthodoxen und amtlich festgelegten Marxismus und kann nur aus dem Marxismus selbst verstanden werden. Welches sind nun die für den Marxismus charakteristischen Probleme? Wie stellen sie sich in der innermarxistischen Dialektik dar? Wie in der Sicht der Orthodoxie und des Revisionsmus? Um welche Ziele handelt es sich jeweils, und wie werden sie verwirklicht oder könnten sie verwirklicht werden? Zur Realität einer geistigen, ideologischen Bewegung gehört ihre Anziehungskraft. Je stärker die Anziehungskraft ist, um so größer ist die Gefolgschaft. Seit den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ist die Anziehungskraft der von Marx und Engels verkündeten Lehre von Jahrzehnt zu Jahrzehnt gewachsen. Seit der Oktoberrevolution von 1917 darf sich die inzwischen etwas revidierte Ideologie auf eine reale, machtpolitische Bewegung stützen und erhält von hier aus weitere 12
starke Impulse. Diese Weiterentwicklung wird aber wiederum Gegenstand der Kritik und Ansatzpunkt von Forderungen, die auf eine Korrektur gewisser in die Machtpolitik eingegangener ideologischer Grundsätze zielen. So müssen wir zwei geschichtlidi bestimmte Formen des Revisionismus unterscheiden. Der ältere Revisionismus, wie er von Eduard Bernstein, Alfred Nossig, Karl Kautsky u. a. in den neunziger Jahren und nach der Jahrhundertwende sozusagen begründet worden ist, stellt eine Kritik am traditionellen Marxismus dar, so am historisch-ökonomischen Determinismus und an der Verelendungstheorie. Solche Kritik vollzog sich im Rahmen und in den Formen einer geistigen Auseinandersetzung. Mit der Entwicklung einer machtpolitischen kommunistischen Bewegung wird die Kritik an der kommunistischen Ideologie grundsätzlich und zugleich eine Kritik an den kommunistischen Institutionen, d. h. an Partei und Staat. Der neuere, moderne Revisionismus trifft und betrifft also den institutionellen Marxismus. Es bleibt dann je nach der Situation offen, ob die Kritik zu einem innerparteilichen Meinungsaustausch führt oder eine Bestrafung des Kritikers zur Folge hat und mit einer Gefahr für Leib und Leben verbunden ist. Wir nehmen nicht nur Interesse an der Ideologie der kommunistischen Bewegung in ihrer institutionalisierten Form, sondern auch an den sich mannigfaltig abzeichnenden revisionistischen Abweichungen. Gerade diese erscheinen uns besonders wichtig. Denn erst durch eine Revision gewisser marxistischer Grundsätze wird ein Gespräch mit Andersdenkenden möglich. Das ausschließliche, starre, intolerante Festhalten an ideologischen Leitsätzen läßt einen fruchtbaren Gedankenaustausch nicht zu. Die revisionistischen Abweichungen zielen mehr oder weniger auf eine Lockerung marxistisch-leninistischer Positionen, im Grunde auf eine größere Freiheit im ideologischen, wissenschaftlichen, philosophischen, künstlerischen) und gesellschaftlichen, politisch-ökonomischen Bereich. Die im Marxismus liegenden Spannungen und Gegensätze treiben zu philosophischer und ideologischer Weiterentwicklung. Der Revi13
sionismus bildet den Schrittmacher. Man sieht die Grenzen des Marxismus. Man erkennt die Möglichkeit und Unmöglichkeit, ein Marxist zu sein1. Um aber eine Grenze wahrnehmen und als solche erkennen zu können, muß man schon in Blick und Gedanken darüber hinaus sein.
1
Vgl. Leszek Kolakowski, Der Mensch ohne Alternative. Von der Möglichkeit und Unmöglichkeit, Marxist zu sein. Dtsch.: München, 1960. 14
Erster Teil DIE PROBLEMATIK DES MARXISMUS-LENINISMUS I. Die philosophischen Probleme 1. D er E m p i r i smus Der Marxismus ist eine von der Praxis ausgehende und auf die Praxis gerichtete, auf Weltveränderung zielende Ideologie. Philosophen mögen die Welt so oder so interpretieren, Ideologen aber wollen sie verändern 2. Der erste Schritt einer zur Praxis drängenden Lehre ist die Orientierung über die Dinge und Verhältnisse, um die es sich handelt. Wie orientiert sich der Mensch? Wie geht er an die Dinge heran? In dieser Frage ist die Antwort bereits enthalten. Er ist tätig, und in mannigfachem Umgehen mit dem Wirklichen lernt er die Wirklichkeit kennen. Marx ist ein Schüler Hegels. So sehr er aber auch das Gedankengut Hegels aufgenommen und verarbeitet hat, so nimmt sein Denken doch einen anderen Ausgang. ,Sein' Problem ist nicht das menschliche Bewußtsein, nicht der personale, objektive und absolute Geist, sondern der Mensch, der wirklich tätige Mensch. Ludwig Feuerbach hatte den ersten Schritt zu einer philosophischen Neuorientierung getan. Er hatte die Philosophie des Geistes zu einer ^Philosophie des Menschen zurückgebogen. Allein auch Feuerbach dachte, wie Marx und Engels meinten, noch zu abstrakt. „Weder von der wirklichen Natur, noch von dem wirklichen Menschen weiß er uns etwas Bestimmtes zu sagen3. 2 Vgl. Karl Marx, Thesen über Feuerbach (1845). Anhang zu: Friedrich Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie (1888). Ost-Berlin, 1952, S. 63. 3 Engels, Ludwig Feuerbach usw., S. 39.
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Lenin und Mao Tse-tung haben den aktualistischen Empirismus von Marx und Engels weiterentwickelt, Lenin in seiner Schrift „Materialismus und Empiriokritizismus" (1908) und Mao in seiner Abhandlung „Über die Praxis. Über den Zusammenhang von Erkenntnis und Praxis, von Wissen und Handeln" (1937). „Der Gesichtspunkt des Lebens und der Praxis," betonte Lenin, „muß der erste und grundlegende Gesichtspunkt der Erkenntnistheorie sein4. Mao Tse-tung schildert den Weg der praktischen Erfahrung: Der Mensch gewinnt die erste Orientierung bei der Begegnung mit seinesgleichen und der Umwelt durch Empfindungen und Eindrücke. Dieses ist „die emotionale Stufe der Erkenntnis". Die Eindrücke vermitteln uns ein Vorstellungsbild von den äußeren Zusammenhängen der Gegenstände. Wiederholen sich Eindrücke und Bilder, so entspringt diesen Erlebnissen der Begriff. „Der Begriff spiegelt schon nicht mehr nur die Erscheinungsformen, einzelne Seiten und den äußeren Zusammenhang der Dinge wieder, sondern er erfaßt ihr Wesen, ihre Ganzheit, ihren inneren Zusammenhang." Dies ist „die Stufe der rationalen Erkenntnis". Nach marxistisch-leninistischer Auffassung kommt im Begriff das Allgemeine, sich in jenem gleichsam widerspiegelnd, zum Ausdruck. „Zur vollständigen Widerspiegelung des Dinges in seiner Gesamtheit, seinem Wesen und seinen inneren Gesetzmäßigkeiten ist die Funktion des Denkens, die Verarbeitung des reichen Materials der Sinneswahrnehmungen notwendig, wobei die Spreu vom Weizen gesondert, das Falsche ausgemerzt, das Tatsächliche erhalten und vom einen zum anderen, vom Äußeren zum Inneren vorgeschritten wird 5 ." Diese dritte, rational-theoretische Erkenntnisstufe ist durch die Erfahrung des Wesentlichen in den Zusammenhängen der Dinge gekennzeichnet. Die „logische Erkenntnis" (wie Mao sie auch nennt) „führt zur Aufdeckung der inneren Widersprüche der uns umgebenden Welt und gibt so die Möglichkeit, die Entwicklung der Welt in ihrer Gesamtheit und ihrem allseitigen inneren Zusammenhang zu be4
W. I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus (1909). Dtsch.: Ost-Berlin, 1952, S. 131. 5 Mao Tse-tung, Über die Praxis (1937). Dtsch.: Ost-Berlin, 1952, S. 9. 16
greifen" 6. Nur was so im Denken auf der Grundlage der Praxis verarbeitet wird, spiegelt das objektiv existierende Ding richtig und vollständig wider 7 . Die marxistische Erkenntnistheorie ist über diese Thesen nicht hinausgekommen. Es ist zwar richtig: Alle Erfahrung entspringt Eindrücken und Erlebnissen. Diese Erkenntnis führt jedoch keineswegs „unvermeidlich zum Materialismus" 8. Denn schon Wahrnehmungen, geschweige denn Vorstellungen, Begriffe oder gar Theorien setzen eine subjektive (geistige) Gestaltungsmacht voraus. Aus den physiologischen Untersuchungen von Iwan Petrowitsch Pawlow (1849—1936) geht hervor, in welchem Maße und Grade der Mensch nicht nur auf Sinnreize reagiert (erstes Signalsystem), sondern auch Signale höherer Art, d. h. solche von Wort und Vorstellung aufnimmt und beantwortet. „Das zweite Signalsystem ist die physiologische Grundlage der Sprache, die ihrerseits zu einer der Kräfte wurde, die die Herauslösung des Menschen aus der Tierwelt begünstigt9." Es gibt jedoch nicht nur objektiv registrierbare Äußerungen, sondern auch jemand, der sich äußern will. Dieses Wollen, Bilden und Gestalten aber ist „subjektive" Wirklichkeit. Die marxistisch-leninistische Erkenntnistheorie ist unvollständig, weil sie den Bereich der inneren Erfahrung, zumal des persönlichen Erlebens nicht hinreichend berücksichtigt. Durch die bloße Bezugnahme auf „Äußerungen" verschwindet jedes Subjekt hinter diesen Objektivationen, seien es nun Worte oder Werke, Verhältnisse, Ordnungen und Institutionen. So kommen Marx, Engels, Lenin und Mao Tse-tung folgerecht, aber eben einseitig, zu einer objektivistischen Weltanschauung, die sie als philosophischen (naturwissenschaftlich und historisch fundierten) Materialismus bezeichnen. 6
a.a.O.S. 10. Vgl. a. a. .O S. 18. 8 Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, S. 119. 9 J. W. Schorochowa, Die Bedeutung der Lehre Pawlows für die atheistische Weltanschauung. Dtsch.: Ost-Berlin 1956, S. 17. 7
2 Schack
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2. D e r n a t u r w i s s e n s c h a f t l i c h e u n d historische Materialismus Die Wirklichkeit ist nach marxistischer Lehre durch ihr vom pienschlichen Bewußtsein unabhängiges Dasein charakterisiert. Sie ist, wie besonders Engels und Lenin betonen, objektive, gegenständlich erklärbare Realität. Die natürliche Umwelt und die gesellschaftliche Mitwelt sind gleicherweise Wirklichkeit. Natur und Gesellschaft sind gewiß da, ehe der Mensch um sie wußte und über sie nachdenken konnte. Er vermochte dann aber dank seiner Erfahrung und seines mit der Praxis verbundenen Denkens, die natürlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse zweckentsprechend zu verändern. So ist die Kultur das Werk tätiger Menschen, die sich nach den Gesetzen der Wirklichkeit richten, und die sie im Sinne der eigenen Lebensinteressen nutzen. Diese sachlich orientierte, gesellschaftlich notwendige Tätigkeit ist Arbeit. Im Begriff der Arbeit liegt enthalten, daß Widerstände bewältigt werden müssen und nach einem Plan gehandelt werden muß. Jedweder Plan aber setzt voraus, daß sich die Dinge (im weitesten Sinne des Wortes) in einer voraussehbaren, wohl gar berechenbaren Weise verhalten. Wenn die Natur nicht ihren Gang hätte, könnte sich niemand, selbst für die nächste Stunde, etwas vornehmen; wenn die Gesellschaft, in der wir leben, nicht ihre Ordnung hätte und wahrte, könnten wir nicht miteinander leben und uns in die verschiedensten Aufgaben teilen. Kein praktisch denkender, arbeitender Mensch würde daher auf den „idealistischen" Gedanken verfallen, die Wirklichkeit nur als eine Welt der Vorstellung anzusehen. Natur und Gesellschaft haben ihre Ordnung und ihre Geschichte. Das Naturgeschehen stellt sich dem Betrachter im Bilde eines schier unendlichen Kreislaufes dar. Sonnen, Sonnensysteme und Milchstraßen entstehen und vergehen. Auch unsere Erde ist in diesen Kreislauf des Werdens und Vergehens einbezogen. Infolgedessen hat auch das Leben auf der Erde seine Zeit. „Unerbittlich rückt die Zeit heran, wo die sich erschöpfende Sonnenwärme nicht mehr ausreicht, das von den Polen heranrückende Eis zu schmelzen, wo die sich mehr und mehr um den Äquator zusammendrängenden Menschen auch dort endlich 18
nicht mehr Wärme genug zum Leben finden, wo nach und nach auch die letzte Spur organischen Lebens verschwindet und die Erde, ein erstorbner, erfrorner Ball wie der Mond, in tiefer Finsternis und in immer engeren Bahnen um die ebenfalls erstorbne Sonne kreist und endlich hineinfällt. Andre Planeten werden ihr vorangegangen sein, andre folgen ihr 10 ." In diesem Kreislauf und Wandel der Formen bleibt, gleichsam als „das Subjekt aller Veränderungen" (Marx) 11 , etwas bestehen: die Materie. „Die Materie enthält selbst alles Notwendige, um sich aus einer Form in die andere zu entwickeln. Atome, Elektronen, Moleküle, alle Körper und Erscheinungen der anorganischen Natur, die organische, die lebende Natur — die lebende Materie: die Zelle, die Pflanze, das Tier und schließlich der Mensch, das höchste Glied in der Entwicklung der Natur — alles das stellt verschiedene Äußerungen der sich bewegenden Materie auf den verschiedenen Stufen ihrer Entwicklung dar 12 ." Da es keinerlei Materie ohne Bewegung gibt, erklärte Engels: „Bewegung ist die Daseinsweise der Materie 13 ." Die „Materie als solche" sei freilich „eine reine Gedankenschöpfung" und „im Unterschied von den bestimmten, existierenden Materien" „nichts SinnlichExistierendes" 14. Lenin meinte demgegenüber, der Materie doch eine Eigenschaft zuerkennen zu müssen: „Die einzige ,Eigenschaft' der Materie, an deren Anerkennung der philosophische Materialismus gebunden ist, ist die Eigenschaft, objektive Realität zu sein, außerhalb unseres Bewußtseins zu existieren 15." Als „unabhängig vom menschlichen Bewußtsein existierende und von ihm abgebildete Realität" 10 10 Friedrich Engels, Dialektik der Natur. (Nachlaß) Ost-Berlin, 1952, S. 24. 11 Marx meint „Substanz". 12 M. M. Rosental, Der dialektische Materialismus (Große SowjetEnzyklopädie). Dtsch.: Ost-Berlin, 1953, S. 62/63. 13 Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (Anti-Dühring, 3. Aufl. 1899). Ost-Berlin, 1953, S. 70/71. 14 Engels, Dialektik der Natur, S. 312. 15 Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus. Dtsch.: Ost-Berlin, 1952, S. 250/51. 16 a.a.O.S. 119,251.
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ist die Materie Gegenständlichkeit, deren Inhalt sich stetig wandelt und verwandelt. Eine Äußerung und Daseinsweise der Materie ist also auch das menschliche Geistesleben. Tut aber dieser monistische Materialismus, richtiger: Realismus unserem Vorstellungs- und Begriffsvermögen nicht geradezu Gewalt an? Ferner: Warum soll die Wirklichkeit in Natur und Geschichte nur eine „objektive" Realität sein? Warum sollen unsere Gedanken und Gefühle nur als gegenständlich fixierbare Reaktionen oder Äußerungen Realität haben? Warum diese Beschränkung auf die Außenansicht der Welt? Die Antwort liegt in dem Hinweis auf die gesellschaftliche Lebenspraxis. Nur objektiv-reale Beziehungen und Verhältnisse ließen sich experimentell beobachten und in ihrer Art und in ihrem Verlauf in beweisbaren Urteilen und Theorien darstellen. Objektiv gültige Erkenntnisse aber bildeten die sichere Orientierungsgrundlage für ein objektivzweckmäßiges Handeln, für eine sachgemäße, objektiv-zweckmäßige Technik (auf der Grundlage der exakten Naturwissenschaften) und für eine objektiv richtige Politik (auf der Grundlage einer exakten Geschichtstheorie). Die objektive Realität der geschichtlichen Lebenswirklichkeit bildet innerhalb des Naturgeschehens einen realtiv kurzen Prozeß. Dieser stelle sich allerdings als eine Epoche dar, in welcher nicht blinde Naturgesetze walten, sondern Gesetzmäßigkeiten, die sich aus dem Zusammenwirken bewußt handelnder Menschen, ihren gesellschaftlich notwendigen Zwecken, Zielen und Mitteln ergeben. Die Menschen müssen „ihr Leben produzieren" (Marx). Ihre physiologische Konstitution zwingt sie, für die notwendigen Mittel der Bedarfsbefriedigung zu sorgen. Die hierbei entwickelten Produktivkräfte erscheinen gleichsam als eine „Naturmacht" gegenüber dem „Naturstoff". Mensch und Natur sind durch einen „Stoffwechsel" verbunden, den der Mensch freilich „durch seine eigene Tat vermittelt, regelt und kontrolliert" 17 . Das Wesen dieser Tat besteht in einem planmäßigen Einsatz aller körperlichen, seelischen, geistigen Kräfte zur Herstellung der für die Deckung des Lebensbedarfs notwendigen Werkzeuge, Geräte und Anlagen. Genau genommen ist also 17
20
Marx, Das Kapital (1867), Bd. I I , Ost-Berlin, 1957, S. 185.
die „Arbeit" die den „Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur" vermittelnde Tätigkeit. Nützliche, gesellschaftlich notwendige Arbeit ist „eine von allen Gesellschaftsformen unabhängige Existenzbedingung des Menschen, ewige Naturnotwendigkeit" .. .„Die Arbeit ist der Vater und die Erde ist die Mutter allen stofflichen Reichtums", sagte der englische Nationalökonom William Petty. So dachten auch Adam Smith und David Ricardo. Allein die Arbeit habe eine sehr viel größere Bedeutung. Schon in der „Deutschen Ideologie" (1846) schrieben Marx und Engels: „Man kann die Menschen durch das Bewußtsein, durch die Religion, durch was man sonst will, von den Tieren unterscheiden. Sie selbst fangen an, sich von den Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren, ein Schritt, der durch ihre körperliche Organisation bedingt ist. Indem die Menschen ihre Lebensmittel produzieren, produzieren sie indirekt ihr materielles Leben selbst18." Engels verfolgte diesen Gedanken weiter. In seiner Schrift „Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen" (1876) weist er die Auffassung der englischen Klassiker zurück. Die Arbeit ist nicht nur die Quelle allen Reichtums. „Sie ist noch unendlich mehr als dies. Sie ist die erste Grundbedingung alles menschlichen Lebens, und zwar in einem solchen Grade, daß wir in gewissem Sinne sagen müssen: Sie hat den Menschen selbst geschaffen." Nur der Mensch arbeitet, wie schon Marx betonte. Von keinem Tier dürfe man sagen, es arbeite, selbst wenn es die kunstvollsten Bauten errichtet: „Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommr ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war 19 ." Arbeit ist Produktion. Produktion ist Betätigung der Arbeitskraft nach Maßgabe eines vorgefaßten Planes an einem Arbeitsgegenstand, der Natur, dem natürlichen Rohmaterial usw. Mit der fortschreitenden Umgestal18
Marx/Engels, Die deutsche Ideologie (1846). Ost-Berlin, 1953,
S. 17. 19
Marx, Das Kapital, Bd. I, S. 186. Vgl. den ganzen Abschnitt über den Arbeitsprozeß, S. 185 ff. 21
tung und Nutzung der natürlichen Stoffe und Kräfte hat der Mensch sich selbst entwickelt, seine Sinnesorgane und Gliedmaßen vervollkommnet. Mit der Entwicklung der Arbeitswerkzeuge entsteht ein neuer, noch nicht dagewesener Bedarf, der Sachbedarf. Marx spricht in diesem Zusammenhang von der „beständigen Produktion von Bedürfnissen" 20. Arbeit ist nicht bloß individuelle Tätigkeit. Sie ist gesellschaftlich notwendige Produktion. „ I m Prozeß der Arbeit, in der materiellen Produktion haben sich das Denken, die Erkenntnis, die Sprache und die Schrift als die wichtigsten Mittel des menschlichen Verkehrs und zugleich als Mittel des kulturellen Wachstums der Menschen allmählich herausgebildet21." So sind auch die von der Arbeit bzw. Produktion geschaffenen Produkte gesellschaftlich bedingte Erzeugnisse. „Niemand vermag zu sagen, wer die Menschen den Gebrauch des Feuers ,lehrte', wer als erster Bogen, Pfeil, Hammer, Axt, Säge und die anderen Werkzeuge anfertigte, denn dies alles resultiert aus der kollektiven Tätigkeit zahlreicher Geschlechter22." Arbeitsfähigkeiten und -fertigkeiten mit den demit verbundenen Kenntnissen und Erfahrungen und die durch beides erstellten Produktionsinstrumente werden unter dem Begriff der gesellschaftlichen Produktivkräfte zusammengefaßt. „Produktionsinstrumente, mit deren Hilfe materielle Güter produziert werden, Menschen, die diese Produktionsinstrumente in Bewegung setzen und die Produktion materieller Güter dank einer gewissen Produktionserfahrung und Arbeitsfertigkeit bewerkstelligen — alle diese Elemente zusammen bilden die Produktivkräfte der Gesellschaft 23." Wie arbeiten die Menschen zusammen? „Um zu produzieren, treten sie in bestimmte Beziehungen und Verhältnisse zueinander, und nur innerhalb dieser gesellschaftlichen Beziehungen und Verhältnisse findet ihre Einwirkung auf die Natur, findet die Produktion statt 24 ." 20
Ich unterscheide „arbeiten" und „schaffen". Vgl. S. 105 ff. M. D. Kammari, Uber die Rolle der Volksmassen im Leben der Gesellschaft. Dtsch.: Ost-Berlin, 1956, S. 4. 22 a.a.O.S.6. 23 J. Stalin, Der dialektische Materialismus (1936). Dtsch.: OstBerlin, 1955, S. 25. 24 Marx, Lohnarbeit und Kapital. Marx/Engels, Ausgewählte Schriften, Bd. I, Ost-Berlin, 1955, S. 77. 21
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Diese Produktionsverhältnisse sind Verhältnisse technisch-ökonomischen Zusammenwirkens wie auch Austauschverhältnisses und — je nach der Geseilschafts- und Wirtschaftsordnung — Verhältnisse der Ausbeutung und Unterdrückung. Wer in vorgeschichtlicher Zeit mehr Güter produzierte, als er ihrer bedurfte, war versucht, diese Uberschüsse gegen fremde Erzeugnisse auszutauschen. Er gewann Interesse an ausschließlich ihm gehörenden Produktions- und Erwerbsmitteln. Mit der Ausbreitung des Erwerbsinteresses und des Privateigentums änderte sich die Struktur der menschlichen Gesellschaft von Grund aus. Wer über Erwerbsmittel verfügte, hatte Macht über Güter und Menschen; über Menschen insofern, als er diejenigen von sich abhängig machen konnte, die keine materiellen Erwerbsmittel besaßen und nur ihre Arbeitskraft als Tauschobjekt anbieten konnten. Die Arbeitskraft hat vor allen anderen Gütern die Eigenschaft, mehr Produkte hervorbringen zu können, als zu ihrer eigenen Reproduktion notwendig ist. Nachdem diese wunderbare Fähigkeit der Arbeitskraft entdeckt war, suchten die irgendwie Mächtigen möglichst viele Arbeitskräfte, keineswegs nur auf dem Wege des Austausches, heranzuziehen. Die Geschichte ist, wie Marx ganz richtig sagt, „keine sanfte Idylle" 2 5 . Die Schriftzeichen im Buch der Geschichte sind „Züge von Blut und Feuer". In der bisherigen Geschichte treten die Verhältnisse der Zusammenarbeit zurück hinter den Verhältnissen der Ausbeutung. So ist „die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft" „die Geschichte von Klassenkämpfern" (Kommunistisches Manifest). Trotz der „antagonistischen Entwicklungsform der Produktion", trotz der gegensätzlichen Klassenverhältnisse und Klasseninteressen hat sich die gesellschaftliche Produktion fortschreitend erhöht und verbessert. Rationeller als der Sklave konnte der Leibeigene, und wieder besser als dieser, der mit einem Besitz beliehene Gefolgsmann arbeiten. Die Feudalordnung aber zerbrach unter dem Ansturm der heraufkommenden neuen Klasse, der Bourgeoisie. Mit der Entfesselung der bürgerlichen Energien hob eine neue Epoche an. 25
Marx, Das Kapital I, S. 752, 791. 23
Die Bourgeoisie, heißt es im Kommunistischen Manifest, hat bewiesen, was die Tätigkeit der Menschen zustande bringen kann. Sie „hat massenhaftere und kollossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen. Unterjochung der Naturkräfte, Maschinerie, Anwendung der Chemie, auch Industrie und Ackerbau, Dampfschiffahrt, Eisenbahnen, elektrische Telegrafen, Urbarmachung ganzer Weltteile, Schiffbarmachung der Flüsse, ganze aus dem Boden hervorgestampfte Bevölkerungen — welches frühere Jahrhundert ahnte, daß solche Produktionskräfte im Schöße der gesellschaftlichen Arbeit schlummerten". Die bürgerliche Gesellschaft aber habe ihre Möglichkeiten erschöpft. Der Gewinnanreiz, früher der gewaltige Antriebsfaktor des wirtschaftlichen Fortschritts, sei jetzt zu ihrem Verhängnis geworden. Die bürgerliche, kapitalistische Wirtschaft gehe an der „Produktion von Mehrwert oder Plusmacherei", an dem „absoluten Gesetz dieser Produktionsweise" zugrunde. Die politischen Verhältnisse spitzen sich bis zur Unerträglichkeit für die wirtschaftlich und politisch anhängige Klasse zu. Die menschlichen Verhältnisse entwickeln sich zu unmenschlichen Verhältnissen, die nur diejenigen befriedigen, die für eine menschliche Situation und für den „ganzen Menschen" keinen Sinn mehr besitzen. Die „Herrschaft der sachlichen Verhältnisse über die Individuen" erreicht ihren Höhepunkt. Die Verhältnisse „müssen" umschlagen. Der ganze bisherige geschichtliche Prozeß „muß" ein Ende finden. Die Klasse, die die traditionelle Geschichte zu Ende bringt und damit die Voraussetzungen für ein neues gesellschaftliches Leben schafft, ist das Proletariat. 3. D i e
Realdialektik
Marx ging offenen Auges durch die Welt. Er sah die gegensätzlichen Klasseninteressen und die durch Klassengegensätze gespaltene soziale Lebenswirklichkeit. Und die Schlußfolgerung? Er war überzeugt, daß die gesellschaftliche Lebenswirklichkeit nur dialektisch verstanden werden kann. Die Alltagserfahrung legte ihm nahe, nicht nur seine Zeit, sondern auch die ganze geschichtliche Entwicklung aus ihren inneren Gegensätzen zu begreifen. Die philosophische Methode Hegels schien ihm das geeignete Werkzeug bzw. Verfahren zu sein, zu einer 24
objektiv-richtigen Erkenntnis der historischen Entwicklung zu gelangen. Hegel hatte die Dialektik als philosophische Logik dem rationalen Denken gegenübergestellt. Der Verstand greife Einzelheiten an einem Gegenstand auf und suche ihn an diesen Einzelheiten, Elementen und Beziehungen zu begreifen. Die Erfahrungswirklichkeit in ihrer Vielfalt und Fülle werde jedoch dadurch nicht erfaßt. Das rationale, analysierende und spezialisierende Denken führe nicht zur Einsicht in ganzheitliche Zusammenhänge. Erst das dialektische Denken sei gleicherweise synoptisch, dynamisch und konkret. „Das Einzelne für sich entspricht seinen Begriffen nicht; diese Beschränktheit seines Daseins macht seine Endlichkeit und seinen Untergang aus26." „Alles Endliche ist dies, sich selbst aufzuheben. Das Dialektische (macht) daher die bewegende Seele des wissenschaftlichen Fortgehens aus und ist das Prinzip, wodurch allein i m m a n e n t e r Z u s a m m e n h a n g u n d N o t w e n d i g k e i t in den Inhalt der Wissenschaft kommt, so wie in ihm überhaupt die wahrhafte, nicht äußerliche Erhebung über das Endliche liegt 27 ." Marx und Engels haben sich die dialektische Methode Hegels (mit gewisser Einschränkung) zu eigen gemacht. Lenin bemerkt in seinen Studien zur Hegeischen Philosophie (1914—16): „Marx hat die Dialektik Hegels in ihrer entwickelten Form auf die politische Ökonomie angewendet." Und weiter: „Die Dialektik ist eben die Erkenntnistheorie (Hegels und) des Marxismus.. , 2 8 " Lenin selbst bezeichnet die Dialektik als „eine lebendige, vielseitige (bei ewig zunehmender Zahl von Seiten) Erkenntnis mit einer Unzahl von Schattierungen jedes Herangehens, jeder Annäherung an die Wirklichkeit... — das ist der unermeßlich reiche Inhalt 2 9 ". 26
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundriß (1817). Sämtl. Werke, Bd. 5. Hrsg. v. Georg Lasson. Leipzig 1930, § 213. 27 a.a.O. §81. 28 Lenin, Aus dem Philosophischen Nachlaß. Dtsch.: Ost-Berlin, 1954, S. 288 und S. 97. 29 a.a.O.S.288. 25
Lenin hat sich mit der Hegelsdien Logik bzw. Dialektik gründlich beschäftigt. Die Dialektik ist „die Lehre von der Einheit der Gegensätze". Lenin erläutert diese These, indem er folgende Elemente der Dialektik anführt: Die Objektivität der Betrachtung, die Totalität der Beziehungen der Dinge, die Entwicklung der Dinge, die innerlich widersprechenden Tendenzen (und Seiten) in den Dingen, das Ding als Summe und Einheit der Gegensätze, Übergänge jeder Bestimmung, jeder Qualität (z. B. auch Kampf des Inhalts mit der Form, Übergang von Quantität in Qualität und umgekehrt), unendlicher Prozeß der Vertiefung der Erkenntnis des Dinges, der Erscheinungen, Prozesse usw. durch den Menschen, von der Erscheinung zum Wesen und vom weniger tiefen zum tieferen Wesen u. a. m. Ziel des dialektischen Forschens ist „die Kongruenz des Begriffs und der Realität". Lenin spricht — nicht nur gelegentlich — von einem Abbilden der Gegenstände durch Bild, Begriff und Theorie. Dabei denkt er jedoch nicht an einen starren Dualismus von Subjekt und Objekt und an eine bloße Rezeption des Bewußtseins. Er zitiert beifällig ein Wort Hegels: „Die Erkenntnis ist die ewige, unendliche Annäherung des Denkens an das Objekt. Die W i d e r s p i e g e l u n g der Natur im menschlichen Denken ist nicht ,tot', nicht »abstrakt', nicht ohne B e w e g u n g , nicht ohne Widersprüche, sondern im ewigen Prozeß der Bewegung, der Entstehung und Aufhebung von Widersprüchen aufzufassen." Richtige, wahre Erkenntnis beruht auf der Beachtung der „ G e s a m t h e i t aller Seiten der Erscheinung, der Wirklichkeit und ihrer (Wechsel-) Beziehungen30". Leider hat sich Lenin über diese von ihm selbst anerkannte Grundforderung dialektischen Denkens und Forschens theoretisch hinweggesetzt und sich auch praktisch-politisch einseitig und parteiisch verhalten. Er denkt, wie Marx, weit mehr in Gegensätzen als in Richtung auf eine mögliche Überwindung dieser Gegensätze. Die marxistisch-leninistische Gesellschafts- und Geschichtsauffassung geht von dem antagonistischen, unversöhnlichen Gegensatz zwischen den Klassen von Ausbeutern und Ausgebeuteten aus. Seit hundert Jahren sei die gesellschaftliche Situation der kapitalistischen Welt durch 30
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a.a.O.S. 115.
den unversöhnlichen Gegensatz von Bourgeoisie und Proletariat gekennzeichnet. Unversöhnliche Gegensätze könnten nur durch revolutionären Sturz der herrschenden Ordnung aus der Welt geschafft werden. Solch eine gewaltsame Beseitigung einer Klasse durch eine neue emporstrebende Klasse sei durch die französische Revolution und in letzter Zeit durch die sowjetische Oktoberrevolution 1917 erfolgt. Die Ursache antagonistischer Gegensätze liege in dem sich zuspitzenden Konflikt zwischen den fortschrittlichen Produktivkräften und den überkommenen Produktionsverhältnissen. Der „Hauptwiderspruch der kapitalistischen Gesellschaft" ist der Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktivkräfte (der kollektiven Massenenergien des Proletariats) und der privatkapitalistischen Form der Aneignung der Produkte. Aus diesem „unwiderleglichen Sachverhalt" ergibt sich als praktisch-politische Schlußfolgerung: Man darf „die Widersprüche der kapitalistischen Zustände nicht verkleistern, man muß den Klassenkampf unversöhnlich zu Ende führen... Um also in der Politik nicht fehlzugehen, muß man eine unversöhnliche proletarische Klassenpolitik, nicht eine reformistische Politik der Interessenharmonie zwischen Proletariat und Bourgeoisie, nicht eine Paktiererpolitik des ,Hineinwachsens' des Kapitalismus in den Sozialismus durchführen 31". Gegensätze, Widersprüche gebe es im Gesellschaftsleben immer und überall. Allein es bestehe ein großer Unterschied in der Art derselben. Zwischen freundschaftlich verbundenen Klassen sind sie nichtantagonistischer Art. So bestehe z. B. in der sozialistischen Gesellschaftsordnung ein Interessengegensatz zwischen städtischer und ländlicher Bevölkerung, jedoch kein unversöhnlicher Gegensatz. „Die sozialistische Gesellschaft bietet ein Bild freundschaftlicher Zusammenarbeit der Arbeiter, der Kollektivbauernschaft und der aus dem Volk hervorgegangenen Intelligenz. Sie ist zusammengeschweißt durch die moralisch-politische Einheit", die sich „nach der Liquidierung der Ausbeuterklassen" entwickelt hat 32 . 31
Stalin, Der dialektische Materialismus, S. 12. W. Koslowski, Antagonistische und nichtantagonistische Widersprüche. Dtsch.: Ost-Berlin, 1956, S. 49. — Vgl. M. M. Rosental u. G. M. Schtraks, Kategorien der materialistischen Dialektik, Moskau, 32
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Mao Tse-tung, der literarisch, theoretisch und philosophisch Gebildetste unter den führenden Kommunisten, hat das Problem der antagonistischen Gegensätze und ihrer Überwindung sorgfältiger untersucht. Bei den „Widersprüchen" in der sozialistisch-kommunistischen Gesellschaftsordnung denkt er an die Gegensätze zwischen kollektiven und individuellen Interessen, zwischen Zentralismus und Demokratie, zwischen Führung und Geführten. Zu diesen „Widersprüchen im Volk" gehören aber auch solche, „die sich aus der bürokratischen Praxis gewisser Staatsfunktionäre in ihren Beziehungen zu den Massen ergeben". Diese an sich nichtantagonistischen Gegensätze können sich jedoch —das ist ein revisionistischer Gedanke! — in antagonistische Gegensätze verwandeln. Die Aufstände in Posen und in Ungarn zeigen, daß auch in einer sozialistischen Gesellschaft schwere Konflikte ausbrechen können83. Die Feststellung von Gegensätzen (oder, wie man im sozialistischen Lager zu sagen pflegt, von „Widersprüchen") darf jedoch — nach der Meinung Maos — nicht zu einem Extremismus verleiten. Man dürfe nicht einseitig urteilen. „Einseitigkeit kommt in dem Unvermögen zum Ausdruck, Fragen allseitig zu betrachten, und darin, daß nur eine Seite der Gegensätze begriffen wird, beispielsweise dann, . . . wenn man nur die Vergangenheit, nicht aber die Zukunft, nur das einzelne, nicht aber die Gesamtheit, nur die Mängel, nicht aber die Erfolge, nur den Kläger, nicht aber den Angeklagten, nur die illegale revolutionäre Arbeit, nicht aber die legale revolutionäre Arbeit versteht usw. — mit einem Wort, wenn man nicht die Besonderheiten der verschiedenen Seiten der Widersprüche versteht 34." 1956. Dtsch.: Ost-Berlin, 1959. — Helmut Dahm setzt sich in seinem Buch „Die Dialektik im Wandel der Sowjetphilosophie" (Köln, 1963) mit den erkenntnistheoretischen und ontologischen Problemen der sowjetischen Dialektik auseinander. 33 Mao Tse-tung, Reden vor dem Obersten Staatsrat v. 28. 2. und 12. 3. 1957. Vgl. Mao Tse-tung, Ausgewählte Schriften. Dtsch.: Frankfurt a. M., 1963, S. 78 ff. — Über die volksdemokratische Diktatur Maos siehe Arthur A. Cohen, The Communism of Mao Tse-tung, Chicago-London, 1964. 34 Mao Tse-tung, Über den Widerspruch (1937). Dtsch.: Ost-Berlin, 1954, S. 25 u. S. 51. 28
Lenin hatte die Dialektik als eine Verfahrens- und Betrachtungsweise verstanden, „wie die Gegensätze identisch sein können", wie sie nicht als tot und erstarrt, sondern als lebendig, beweglich, sich ineinander verwandelnd aufzufassen sind35 . Mao erläutert diese Theorie, indem er auf den gegenseitigen Zusammenhang der Gegensätze und auf die Einheit, in der sie bestehen und unter bestimmten Bedingungen ineinander übergehen. Was ist die praktisch-politische Konsequenz dieser Gedanken? Wie verhält es sich mit der dialektischen Einheit der Klassengesellschaft? Darf man von einer Einheit reden, wenn die Gesellschaft durch unversöhnliche Klassen- und Interessengegensätze gespalten ist? Stalin hat diese Frage in seiner vorletzten Schrift erörtert. Einigen radikalen Genossen, die am liebsten alles proletarisieren wollten — von der Sprache bis zur Eisenbahn —, stellte er den faktischen Zusammenhang, die tatsächliche Einheit der Klassengesellschaft, vor Augen. Er wies auf die allseitige wirtschaftliche Verbundenheit von Bourgeoisie und Proletariat hin, auf die gemeinsame Sprache, den gemeinsamen Gedankenaustausch, den gemeinsamen Kampf gegen die Naturkräfte, die gemeinsamen technischen Einrichtungen der Gesellschaft 36. Schon Marx hatte in einer seiner Frühschriften vor einer Verabsolutierung der proletarischen Klassenposition gewarnt. Es ist „leicht zu begreifen", sagte er, „daß jedes massenhafte, geschichtlich sich durchsetzende Interesse, wenn es zuerst die Weltbühne betritt, in der »Idee* oder »Vorstellung4 weit über seine wirklichen Gedanken hinausgeht und sich mit dem menschlichen Interesse schlechthin verwechselt" 37. — Die Einheit der Klassengesellschaft besteht nicht nur in ihrem strukturellen Zusammenhang, sondern audi im Fortgang der Geschichte. Eigentlich versteht sich das von selbst. Allein welcher „Proletarier" möchte einem „Bourgeois" (selbst des vergangenen Jahrhunderts) 35
Lenin, Aus dem philosophischen Nachlaß, S. 26. Vgl. Stalin, Der Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft (1950). Dtsch.: Ost-Berlin, S. 23. — Stalin betont zum Schluß: „Daher kann der Klassenkampf, wie scharf er auch sein mag, nicht zum Verfall der Gesellschaft führen." 37 Marx/Engels, Die heilige Familie und andere philosophische Frühschriften (1845/46). Ost-Berlin, 1955, S. 196. 30
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etwas zu danken haben! Gegen solche Überspanntheit hat sich Ernst Bloch (zum Verdruß seiner Parteigenossen) kritisch und bestimmt ausgesprochen. Das Bürgertum habe Werte und Werke geschaffen, die die Zeiten überdauern. Eine Gesellschaftsklasse bringe jeweils in ihrer Blütezeit einen „kulturellen Überschuß" hervor, der sich in den nachfolgenden Generationen vererbt 38. Die Akropolis, das Straßburger Münster seien Kunstwerke, die „auch nach Wegfall ihrer gesellschaftlichen Grundlagen im Kulturbewußtsein sich fortschreitend reproduzieren". „Die großen philosophischen Werke enthalten z w a r . . . Zeitgebundenes und so Vergängliches, jedoch zeigen auch sie, gerade sie, wegen der Höhe des Bewußtseins, das sie auszeichnet und das weit in Künftiges, Wesentliches hineinblicken läßt, jene echte Klassik, die nicht aus Abrundung besteht, sondern auf ewiger Jugend, mit immer neuen Perspektiven in ihr 39 ." Wenn nun faktisch solche übergreifende Einheit der Gegensätze sowohl im strukturellen wie im geschichtlichen Zusammenhang besteht, erscheint die These bzw. Parole vom „unversöhnlichen" Klassenkampf übertrieben und unglaubwürdig. Warum soll der gesellschaftlich notwendige Gedankenaustausch nicht auch zu einer gesellschaftlichen Zusammenarbeit, schließlich zu einer sozialen und ökonomischen Partnerschaft führen? Natürlich wäre es eine „revisionistische Entgleisung", solche praktisch-politischen Konsequenzen (aus dem Begriff der dialektischen Einheit) zu ziehen. Engels glaubte (nach dem Vorgang von Hegel) berechtigt zu sein, die dialektische Methode nicht nur auf die Gesellschafts- und Geisteswissenschaften, sondern auch auf die Naturwissenschaften anzuwenden. Die Welt überhaupt erscheint als ein bewegtes Ganzes, in dem ein immerwährender Kampf der Gegensätze Entwicklung und Fortschritt bedingt. Durch die Einbeziehung der Naturphilosophie erweiterte sich die Realdialektik zu einer „Wissenschaft von den allgemeinsten Gesetzen aller Bewegung". „Es ist hierin eingeschlossen, daß ihre Gesetze Gültigkeit haben müssen für die Bewegung ebenso sehr in der 38
Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung. Ost-Berlin, 1954, Bd. I, S. 170. 39 a. a. O. S. 171. 30
Natur und der Menschengeschichte, wie für die Bewegung des Denkens40." Die sowjetischen Marxisten sind Engels auf diesem Wege gefolgt und haben den dialektischen Materialismus — dem Vorgang Engels entsprechend — zu einer Weltanschauung gesteigert. „Die bewußte Beherrschung der marxistischen Dialektik hilft uns in jeder Frage, die uns die Praxis, das Leben stellt, die richtige Orientierung zu finden, hilft uns, das Wichtigste, Wesentlichste in jeder Erscheinung und in jeder Summe von Erscheinungen zu erkennen, ermöglicht uns, das Neue, Wachsende, Unüberwindliche erkennen zu lernen und sich bewußt auf seine Seite im Kampfe gegen das Absterbende, Alte, Reaktionäre zu stellen. Die marxistische Dialektik lehrt, vorwärts zu blicken und nicht zurück, revolutionär zu sein und nicht Reformist, und den Klassenkampf bis zu Ende zu führen 41 ." So gesehen ist die dialektische Methode jedoch weit überfordert. Aus bloßem Widerspruch und Gegensatz ist an sich eine fortschrittliche Entwicklung nicht zu ersehen. Wenn die dialektische Bewegung Sinn und Zweck haben soll und auch faktisch zu einem Höheren, Besseren, Vollendeten strebt, muß diese sinn- und zweckvolle Entwicklung — ungeachtet aller Widersprüche und Gegensätze — von vornherein in der Bewegung angelegt sein. Tatsächlich hat Hegel der Dialektik ja auch noch einen Faktor, nämlich den der sinngebenden Totalität, hinzugefügt. „Diese Art Totalität, die des unvorhandenen Alles, nicht des vorhandenen Ganzen, ist das zusammenhaltende Ziel der dialektischen Bewegung42." Infolge dieses teleologischen Grundzuges der dialektischen Bewegung ist die Negation — das treibende Moment der Bewegung — nur dann Bedingung fortschrittlicher Entwicklung, wenn sie der Vollendung der Entwicklung dient. „Das nur Negative ist überhaupt in sich matt und platt und läßt uns deshalb entweder leer oder stößt uns zurück..." „Das Böse als solches, Neid, Feigheit und Niederträchtig40
Engels, Anti-Dühring, S. 459. Große Sowjet-Enzyklopädie, 2. Aufl., Moskau, 1952, Bd. 14. Dtsch.: Die Dialektik. Ost-Berlin, 1953, S. 27. 42 Ernst Bloch, a. a. O., S. 134. Vgl. Friedrich Bülow: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Recht — Staat — Geschichte. Eine Auswahl aus seinen Werken. Stuttgart, 1955, S. 55 ff. 41
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keit sind nur widrig 43 ." Daher die für eine totalitäre Politik wichtige Konsequenz: „Es gibt keine Trennung zwischen Weg und Endziel; dessen Totum befindet sich vielmehr in jedem Moment des Weges, sofern es überhaupt einer ist und nicht bloß eine Sackgasse44." Woher sollten wir aber das Wissen um die totale, ganzheitliche, einer Vollendung zustrebende geschichtliche Entwicklung nehmen? Aus der Erfahrung? Wir können wohl mit einiger Wahrscheinlichkeit voraussagen, was sich in der nächsten Zeit im Kleinen und Großen begeben wird. Sonst wäre ja, wie schon gesagt, planmäßiges Denken und Handeln nicht möglich. Wie weit geht aber unsere Voraussicht? Wer hätte z. B. den raschen Aufstieg der Bundesrepublik Deutschland zu einer Wirtschaftsmacht ersten Ranges voraussagen können? Wissen wir, wie die Welt in fünf oder zehn Jahren aussehen wird? Wir können nur diese oder jene Tendenzen feststellen, nicht aber eine Gesetzmäßigkeit, deren Kenntnis uns gestatten würde, eine bestimmte Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung so voraussagen zu können, wie es die Kommunisten tun.
II. Die soziologischen Probleme 1. K l a s s e n b e w u ß t s e i n u n d
Parteilichkeit
Nach Marx wird der Bewußtseinsinhalt durch die äußeren Verhältnisse bestimmt, in denen die Menschen leben und ihrer Arbeit nachgehen. Ändert sich die äußere Lebenswirklichkeit, so ändert sich auch das Denken. Marx hat dabei „die Menschen nicht in irgendeiner phantastischen Abgeschlossenheit und Fixierung" vor Augen, „sondern in ihrem wirklichen, empirisch anschaulichen Entwicklungsprozeß unter bestimmten Bedingungen"45. Je nach der Lebensweise und den Lebensformen gestalten sich die Bewußtseinsformen und -inhalte und alle Einrichtungen, die daraufhin geschaffen werden. In diesem Sinne heißt es: „Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das 43 Hegel, Sämtliche Werke. Hrsg. v. Georg Lasson, Leipzig, Bd. X , S. 284. 44 Ernst Bloch, a. a. O., S. 137. 45 Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, S. 23.
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Leben bestimmt das Bewußtsein48." Auch diese Auffassung wird materialistisch genannt. Sie ist jedoch der Ausdruck einer realistischen, genauer wissenssoziologischen Einsicht. Ihre klassische Formulierung hat sie in dem berühmten Vorwort zur „Kritik der Politischen Ökonomie" (1859) gefunden: „Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt." Das Bewußtsein hat jedoch einen wesentlich verschiedenen Inhalt, je nach dem, ob es in einer bestimmten Klassenlage wurzelt oder in einer allgemein menschlichen Situation. So muß man wohl, um der wissenssoziologischen Auffassung von Marx gerecht zu werden, zwischen dem allgemeinen Bewußtsein, das sich mit der Entwicklung der gesellschaftlichen produktiven Kräfte herausbildet, und dem ideologischen Bewußtsein („ideologischer Uberbau") unterscheiden. Dieses letztere basiert auf der jeweiligen Klassenlage und entwickelt sich nach Maßgabe der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse. Ändern sich diese Verhältnisse, so ändern sich auch die Inhalte des gesellschaftlichen Lebensbewußtseins und die politischen Einrichtungen, mit deren Hilfe die alten, dem gesellschaftlichen Fortschritt hinderlichen Produktionsverhältnisse beseitigt werden können. Die bestehenden Verhältnisse verändern sich nicht schon, wenn sie (z. B. in der Form privater Eigentumsverhältnisse) tatsächlich den gesellschaftlichen Produktivkräften (z. B. in Form der kollektiven Arbeitskräfte) widerstreiten. In der bürgerlichen Gesellschaft sei z. B. derÜbergang zu einer sozialistischen Gesellschaftsordnung historisch notwendig. „Aber kann man sagen, daß dieser Übergang bereits überall Wirklichkeit ist?" „Die Gesetzmäßigkeit eines Prozesses ist allein gegeben aus den objektiven Bedingungen, seiner objektiven Notwendigkeit und seiner objektiven Möglichkeit 47 ." Das objektiv Notwendige muß praktisch möglich werden. Diese historisch notwendige Ent49
a. a. O.S. 23. Eva Altmann, Über den Gegenstand der politischen Ökonomie und über die ökonomischen Gesetze. Ost-Berlin, 1955, S. 61. Vgl. Victor Stern, Zu einigen Fragen der marxistischen Philosophie. OstBerlin, 1954, S. 118 ff. Ferner Jürgen Kuczynski, Über einige Probleme des historischen Materialismus. Ost-Berlin, 1956, S. 34 ff. 47
3 Schack
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wicklung möglich zu machen, ist die Aufgabe des praktisch denkenden, bewußt tätigen Menschen. In der gegenwärtigen Epoche sei das Proletariat vor die weltweite revolutionäre Aufgabe gestellt, die sozialistisch-kommunistische Gesellschaftsordnung aufzubauen. Voraussetzung sei freilich ein entsprechend waches und revolutionäres Klassenbewußtsein. Wie verhält es sich mit diesem, wie überhaupt mit der Bewußtseinsentwicklung in ihrem Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Lebenspraxis? Wir müssen — auch nach marxistischer Lehre — zwischen dem Menschen als Subjekt der Geschichte und dem Menschen als Subjekt eines Geschichtsbewußtseins unterscheiden. In der Geschichte geschieht nichts ohne bewußte Absicht, ohne gewolltes Ziel. Allein welche treibenden Kräfte stehen hinter den menschlichen Motiven? „Die treibenden Ursachen zu ergründen, die sich hier in den Köpfen der handelnden Massen und ihrer Führer... als bewußte Beweggründe klar oder unklar, unmittelbar oder in ideologischer, selbst in verhimmelter Form widerspiegeln — das ist der einzige Weg, der uns auf die Spur der die Geschichte im ganzen und großen wie in den einzelnen Perioden und Ländern beherrschenden Gesetze führen kann." Früher sei es fast unmöglich gewesen — »wegen der verwickelten und verdeckten Zusammenhänge mit ihren Wirkungen" —, die treibenden Ursachen der Geschichte zu erforschen und zu erkennen. Heute sei es jedoch offenkundig, daß Klassen und Klasseninteressen die treibenden Kräfte der bisherigen Geschichte sind48. So könne sich der Mensch im Grunde nur in seiner gesellschaftlichen, genauer: in seiner produktionswirtschaftlichen Tätigkeit begreifen. Marx und Engels stimmen in dieser Deutung menschlichen Daseins mit Hegel überein: „Das Große an der Hegeischen P h ä n o m e n o l o g i e und ihrem Endresultate... ist also einmal, daß Hegel die Selbsterzeugung des Menschen als einen Prozeß erfaßt; . . . daß er also das Wesen der A r b e i t faßt und den gegenständlichen Menschen, wahren, weil wirklichen Menschen, als R e s u l t a t s e i n e r e i g e n e n A r b e i t begreift 49." 48 Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, S. 49. 49 Marx, Kritik der Hegeischen Dialektik und Philosophie überhaupt (1844) in: Marx/Engels, Die heilige Familie usw., S. 80.
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Die gesellschaftliche Produktionsweise ist eine komplexe Erscheinung. In einer Elementaranalyse sehen wir (nach Marx und Engels) die Arbeits- oder Produktivkräfte mit den komplementären Produktionsmitteln, ferner die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse, gekennzeichnet durch die Form des Eigentums an Produktionsmitteln, und schließlich den ideologischen Uberbau, d.h. die mit den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen eng verbundenen Bewußtseinsinhalte und die sich daraus ergebenden gesellschaftlichen Institutionen. Die Durchsetzung der bürgerlichen privaten Produktivkräfte, z.B. in einer ständisch-feudalen Gesellschaftsordnung, konnte nur durch eine (mehr oder weniger bewußte) Begründung von Individualeigentum bzw. von Privateigentumsverhältnissen erfolgen. So war die Situation zur Zeit des emporstrebenden Bürgertums im 16. 17. und 18. Jahrhundert. Als sich die bürgerliche Klasse unter den Parolen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu der fortschrittlichsten Klasse der Gesellschaft formierte, sah sie sich — noch im Kampf mit feudalen Gesellschaftsgruppen — schon einer neuen feindlichen Klasse gegenüber. Mit der Bourgeoisie kam das mittellose, nur über seine Arbeitskraft verfügende Proletariat herauf. Bourgeoisie und Proletariat sind einander fordernde, aufeinander angewiesene Gesellschaftsgruppen. Da die Bourgeoisie über die sachlichen Produktionsmittel verfügt, hat sie auch die Verfügungsmacht über die Arbeitskräfte, welche ohne Grund und Boden, ohne Werkzeug und Maschinen im wahren Sinne des Wortes unvermögend sind. Wenn das private „Bündnis" von Kapital und Arbeit auch eine geradezu sprunghafte technisch-ökonomische Entwicklung ausgelöst hat — „welches frühere Jahrhundert ahnte, daß solche Produktionskräfte im Schöße der gesellschaftlichen Arbeit schlummerten!" (Kommunistisches Manifest) —, so sind die Beziehungen zwischen Bourgeoisie und Proletariat deswegen doch nicht freundlicher und friedlicher geworden. Im Gegenteil! Auf der einen Seite Herrschaft und Freiheit, auf der anderen Untertänigkeit und Unfreiheit. Im ganzen ist die Gesellschaft freilich einheitlicher geworden. Solange das Grundeigentum die herrschende ökonomische Institution war, lebten die Menschen in subjektiv-natürlichen Beziehungen zueinander und zur Umwelt. Diese „Naturbeziehungen", wie Marx sie nennt, lösten sich 2*
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mit der Herausbildung privater Erwerbsmittel, insbesondere des Privatkapitals. Die gesellschaftlichen Lebensäußerungen kommerzialisierten sich, wurden unpersönlich und sachlich. Mit der durchgängigen Vergesellschaftung der Menschen entstand ein Gesellschaftsbewußtsein, ein Wissen des Menschen um sich selbst als Gesellschaftswesen. Die Gesellschaft wurde „die" Wirklichkeit des Menschen50. Eine Erkenntnis der Gesellschaft in Vergangenheit und Gegenwart ist also nach marxistischer Auffassung erst im bürgerlichen Zeitalter, auf dem Boden des Kapitalismus, möglich geworden. Die bürgerliche Klasse erkannte sich als geschichtlichen Träger der Produktionsentwicklung und des gesellschaftlichen Fortschritts. Allein sie sieht nicht, daß sie durch die technisch-ökonomischen Produktivkräfte, durch das Kapital und die Notwendigkeit der Kapitalakkumulation ihres eigenen Willens beraubt wird und sich an den objektiven Produktionsprozeß verliert. Sie sieht auch die gesellschaftlichen Mächte nicht, die sie entfesselt hat und durch die sie zur Macht gekommen ist. Sie sieht nicht, daß diese Mächte über die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse, über das beschränkende und einengende Privateigentum an Produktionsmitteln hinausdrängen. Sie erkennt m. a. W. nicht Sinn und Richtung der gesellschaftlichen Entwicklung. Erst das Proletariat gelange zu einer richtigen Erkenntnis der gesellschaftlichen und geschichtlichen Wirklichkeit. Vom Klassenstandpunkt des Proletariats aus werde das Ganze des geschichtlichen Lebens sichtbar. Wenn das Proletariat seine eigene Situation und Position erkenne, wisse es zugleich, wohin die Entwicklung geht und wessen der Mensch bedarf, um wahrhaft Mensch zu sein. In den Lebensbedingungen des Proletariats sind „alle Lebensbedingungen der heutigen Gesellschaft in ihrer unmenschlichsten Spitze zusammengefaßt". Wie die Bourgeoisie, ist auch das Proletariat durch die technischkapitalistische Entwicklung Objekt des Produktionsprozesses gewor50
Vgl. Georg Lukacs, Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik. Der Malik-Verlag Berlin, 1923, S. 33. 36
den. Die menschliche Arbeitskraft ist zur Ware degradiert. Während aber die Bourgeoisie in ihrer „Selbstentfremdung" wenigstens um ihre eigene Macht weiß und „in ihr den Schein der menschlichen Existenz" besitzt, fühlt sich die Klasse des Proletariats „in der Entfremdung" vernichtet, „erblickt in ihr ihre Ohnmacht und die Wirklichkeit einer unmenschlichen Existenz" 51 . Befreit sich das Proletariat aus diesen unmenschlichen Verhältnissen, indem es die privaten Produktionsbedingungen aufhebt, so hebt es damit zugleich die gesellschaftlichen und sachlichen Bedingungen jeder Ausbeutung und Unmenschlichkeit auf. Die proletarischen Lebensinteressen decken sich somit mit den menschlichen Lebensinteressen überhaupt. Die Bourgeoisie habe ebenfalls die Möglichkeit richtiger Einsicht. Allein ihr fehle (subjektiv) die Voraussetzung hierfür. Ihre privaten Eigentumsinteressen verhindern eine unbefangene objektive, d. h. eine dem historischen Prozeß entsprechende Haltung und Erkenntnis. Wenn das Proletariat aber auch durch seine Klassenposition befähigt sei, die gesellschaftliche Entwicklung bis auf den Grund zu erkennen, so ist diese Möglichkeit doch nicht schon Wirklichkeit. Der Arbeiter ist gemeinhin an einem gesicherten, besseren und leichteren Leben interessiert. Persönliche Interessen sind ihm i. a. wichtiger als gesellschaftliche Interessen, die er vielleicht gar nicht kennt. Engels meinte in bezug auf die Sklavenhaltergesellschaft: „Solange die wirklich arbeitende Bevölkerung von ihrer notwendigen Arbeit so sehr in Anspruch genommen wird, daß ihr keine Zeit zur Besorgung der gemeinsamen Geschäfte der Gesellschaft — Arbeitsleitung, Staatsgeschäfte, Rechtsangelegenheiten, Kunst, Wissenschaft usw. — übrigbleibt, solange mußte stets eine besondere Klasse bestehen, die, von der wirklichen Arbeit befreit, diese Angelegenheit besorgte52." Verhält es sich in der modernen Gesellschaft anders? Die Arbeiterklasse kann doch von sich aus jene für ihre „Selbstbefreiung" notwendige philosophische, soziologische, ökonomische und politische Kenntnis nicht gewinnen. 51
Marx/Engels, Die heilige Familie usw., S. 137. Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (Anti-Dühring). Ost-Berlin, 1958, S. 222. 62
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Wie kann sie also zu einem — im Sinne von Marx — richtigen Klassenbewußtsein kommen? Mit diesem Problem hat sich Lenin oft und eingehend beschäftigt: „Das politische Klassenbewußtsein kann in den Arbeiter n u r v o n a u ß e n hineingetragen werden, d. h. aus einem Bereich außerhalb des ökonomischen Kampfes, außerhalb der Sphäre der Beziehung zwischen Arbeitern und Unternehmern. Das Gebiet, aus dem allein dieses Wissen geschöpft werden kann, ist das Gebiet der Beziehungen a l l e r Klassen und Schichten zum Staat und zur Regierung, das Gebiet der Wechselbeziehungen zwischen s ä m t l i c h e n Klassen53." Solch eine Aufgabe kann nur von einer Gesellschaftsgruppe übernommen und durchgeführt werden, die einerseits durch ihre enge Verbindung mit dem Proletariat und andererseits durch ihre besondere Organisationsform praktisch hierzu fähig ist. Diese Gruppe ist die kommunistische Partei. „Die Kommunisten sind also praktisch der entschiedenste, immer weiter treibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder. Sie haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus" (Manifest der kommunistischen Partei). Doch auch im Hinblick auf die Partei gilt, was Lenin von der Klasse des Proletariats sagt: Sie ist von sich aus nicht imstande, den Geist, der sie beseelen soll, zu entfachen. Auch sie muß die Geistesflamme „von außen" empfangen, von geistesmächtigen Menschen, die ihr das Wort geben, nach dem sie antreten und wirken kann. Die geistige Elite, die sich jeweils an die Spitze der kommunistischen Bewegung gesetzt hat, ist denn auch bürgerlicher Herkunft. Marx, Engels, Lenin haben sich im Geiste in die proletarische Klassenlage und Klassenposition versetzt, ihren Lebensinhalt mit dem proletarischen Schicksal identifiziert und ihrem Sozialismus den einer proletarischen Klassenlage entsprechenden, sinn- und zweckentsprechenden Ausdruck gegeben. Dieses Proletariat ist freilich nicht bloß eine Klasse Besitzloser; es ist auch nicht, wie Berdiajew meint, nur „eine Idee, ein Mythos, aber keine 53
Lenin, Was tun? (1902). Dtsch.: Ost-Berlin, 1951, S. 117. — Uber die praktisch-politische Aufgabe der Theorie nach Lenin vgl. Walter Grottian, Lenins Anleitung zum Handeln, Köln u. Opladen, 1962. 38
empirische Realität" 54 . Das wesentliche Merkmal des Proletariats (im marxistischen Sinne) ist nicht substantieller, sondern funktioneller Art. Proletarisches Dasein ist gleichbedeutend mit materieller Abhängigkeit, gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Unfreiheit, ungerechter Entlohnung und Ausbeutung der Arbeitskraft; es ist gekennzeichnet durch die gesellschaftlich-organisatorisch bedingte Unmöglichkeit, die eigenen produktiven Energien vollständig zu eigenem und gesamtwirtschaftlichem Vorteil zu verwerten, also dem Ganzen nach besten Kräften und Fähigkeiten dienen zu können. Durch das tiefe Verständnis, das Marx allen Bedrängten und Bedrückten, Armen und Elenden entgegenbrachte, wurden ihm die gesellschaftlichen Lebensverhältnisse zu einem anschaulich-konkreten Begriff. Anschauung und Erfahrung lehrten ihn auch, daß nur eine disziplinierte und aktionsfähige Partei die geschichtlich aufgegebenen Ziele verwirklichen kann. Seit Marx betrachtet sich die kommunistische Partei als die Verkörperung, als die einzige Objektivation des proletarischen Klassengeistes. Dementsprechend aber fordert sie von allen, die sich zum SozialismusKommunismus bekennen, unbedingt parteigemäßes Denken und Handeln. So hat sich der philosophisch-ideologische Begriff der Parteilichkeit unter der Hand zu der bedingungslosen parteipolitischen Forderung des Parteigemäßen verwandelt. Dieser Anspruch der Partei ist aber seit jeher auch für selbständig denkende Kommunisten ein Stein des Anstoßes gewesen und ist es heute noch. Wie hat sich Alfred Nossig über die „unwissenschaftliche Parteiverblendung" empört, über jene „zuwidere Besserwisserei"! „Statt des ruhigen, wachsamen Forschersinns, welcher die Gegenargumente aufmerksam verfolgt, stets bereit, seinen Irrtum einzusehen und sich so in der Erkenntnis der Wahrheit zu fördern, sehen wir bei den orthodoxen Marx-Schülern eine unerschütterliche Überzeugung von ihrer wissenschaftlichen Überlegenheit, ja Unfehlbarkeit, hören wir sie ein ewiges Triumphgeheul über den bodenlosen Blödsinn der Kritiker des Socialismus anstimmen55." Es gehört zur kommunistischen Tradition, 54
Nikolai Berdiajew, Wahrheit und Lüge des Kommunismus. Darmstadt und Genf, 1953, S. 23. 55 Alfred Nossig, Revision des Socialismus. Bd. I. Berlin-Bern, 1901, S. X V I I I . 39
den Gegner, auch den im eigenen Lager, zu diffamieren. Nossig hatte ganz recht: „Nie sind theoretische Gegner mit größerer Verachtung behandelt worden, als andersdenkende Nationalökonomen von den Socialisten, den ,besseren Menschen'... Man erträgt, wenn auch ohne Genuß, den giftigen Spott im journalistischen Geplänkel, den Demagogenton in den Propagandareden der socialistischen Agitation; aber daß er bis in den Tempel der Wissenschaft hineingetragen wurde, war für die Sache des socialen Fortschrittes mit schwerem Schaden verbunden56." Bernstein und Kautsky haben den parteidoktrinären Charakter des Marxismus oft kritisiert und bemängelt. Das Hauptwerk von Marx, sagt Kautsky in seiner Schrift „Bernstein und das socialdemokratisdie Programm", wäre „noch unbefangener und wissenschaftlicher" ausgefallen, „wenn der Verfasser mit seinem Genie, seiner Gründlichkeit, seiner Wahrheitsliebe die schöne Eigenschaft verbunden hätte, über allen Klassenkämpfen und Klassengegensätzen zu stehen"57. Trotz dieser frühen Kritik an dem doktrinären Prinzip der Parteilichkeit im Sinne der Parteigenossen ist dieses bis zum heutigen Tag die unabdingbare Maxime der kommunistischen Parteien geblieben. Argwöhnisch und scharf reagierend verfolgt man — allerdings unterschiedlich nach Ort und Richtung — etwaige Abweichungen von der Parteilinie. Wenn Wolfgang Harich in seinem politischen Programm (Frühjahr 1957) den Sozialismus als einen „objektiven Prozeß" bezeichnete, war diese Äußerung gewiß „parteilich". Keineswegs „parteigemäß" aber war der ganze Satz: „Der Sozialismus ist ein objektiver Prozeß und nicht an den Namen einer Partei gebunden, die sich mit dem Sozialismus identifiziert." Das einzige Kriterium für den Wahrheitsgehalt einer Theorie sei die gesellschaftliche Praxis. Dieses wurde den revisionistischen Wirtschaftswissenschaftlern an der Deutschen Akademie der Wissenschaften eingeschärft. Lehre die Praxis etwa, daß die werktätigen Massen den Sozialismus ohne die Partei der Arbeiterklasse aufbauen können? „Der 56
a. a. O. S. X V I I I . Karl Kautsky, Bernstein und das socialdemokratisdie Programm. Eine Antikritik, Stuttgart, 1899, S. 28. 57
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Geist, in dem die jungen Wirtschaftswissenschaftler erzogen werden, kann nur der Geist strenger Parteilichkeit und marxistischleninistischer Unversönlichkeit gegenüber allen Erscheinungsformen der bürgerlichen Ideologie und des Revisionismus sein58." Man sollte meinen, daß eine Philosophie der menschlichen Gesellschaft bzw. der Universalgeschichte nicht sowohl von einer Klassenposition aus, als von einer über den Klassengegensätzen liegenden menschlichen Position begründet werden müßte. Oder will man im Ernst behaupten, daß die gesellschaftliche Position eines Wissenschaftlers sachlich-objektives Denken ausschließt? Kautsky dürfte mehr Recht haben, als diejenigen, die den doktrinären Geist der Parteien vertreten. In der schon angeführten Schrift sagte er: „Die Kraft der wissenschaftlichen Forschung ist eine so gewaltige, daß sie den Erforscher socialer Verhältnisse unter Umständen über den überkommenen Standpunkt der eigenen Klasse erheben kann."
2. D i e „ n e u e K l a s s e " Die Partei setzt alle verfügbaren Mittel zur Verwirklichung ihrer Ziele ein. Das wichtigste Machtmittel ist der Staat. Die Tätigkeit der Regierung und Verwaltung wird durch Parteifunktionäre in den wichtigsten Ämtern ausgeübt. Darüber hinaus sucht die Partei entscheidenden Einfluß auf das kulturelle Leben und die Erziehung zu nehmen. Im Zuge dieser ideologisch bestimmten Entwicklung bildet sich mit der Zeit eine mit großen Machtbefugnissen ausgestattete politische Bürokratie heraus, von Milovan Djilas „neue Klasse" genannt59. Djilas gibt in seiner leidenschaftlich-erregt geschriebenen Abrechnung mit dem Kommunismus zwar keine „Analyse des kommunistischen Systems", wie er meint, wohl aber eine hervorragend anschauliche Darstellung der praktisch-politischen Konsequenz marxistisch58 Karl Kampiert, Gegen das Aufkommen revisionistischer Auffassungen in der Wirtschaftswissenschaft. Sonderheft „Wirtschaftswissenschaft", 5. Jahrgang. Verlag Die Wirtschaft, Berlin, 1957, S. 15. 59 Vgl. Milovan Djilas, Die neue Klasse. Eine Analyse des kommunistischen Systems. Dtsch.: München, 1957.
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leninistischer Grundsätze. Er zeigt, wie die kommunistische Partei, besonders in der UdSSR, mit Erfolg bestrebt gewesen ist, eine unangreifbare Position zu schaffen und zu verteidigen. Die Partei begründet eine ihrer Doktrin entsprechende Struktur der Gesellschaft. Eine neue gesellschaftliche Gruppe, die berufstätige Bürokratie, entwickelt sich zu einer privilegierten Kaste. So kann es kommen, daß das Geschöpf der Partei am Ende Macht über die Partei gewinnt, oder — wie Djilas es formuliert: „Die Partei macht die Klasse, aber das Ergebnis ist, daß die Klasse wächst und die Partei als Basis benutzt. Die Klasse wird stärker, während die Partei schwächer wird 6 0 ." Wenn die Partei nicht lebendig, aktiv bleibt und ihren Mitgliedern nicht einen Spielraum an Initiative und Selbstverantwortlichkeit gibt, entwickelt sich natürlich ein administratives Monopol. Die beißende Kritik am kommunistischen Monopolismus trifft jedoch nur Auswüchse in der Ubergangsperiode der sozialistischen Gesellschaft. In jedem totalitären System besitzt die zur Macht gekommene Gesellschaftsgruppe besondere Vorrechte. Es muß aber nicht sein, daß Privilegien nur zu eigenem Vorteil benutzt werden. Die totalitäre Gesellschaftsordnung des Sozialismus-Kommunismus ist nicht notwendig mit einer Diktatur der politischen Bürokratie verbunden. Rosa Luxemburg und Leo Trotzki haben die Parteibürokratie wiederholt scharf kritisiert. Wenn der sowjetische Kommunismus auf dem Wege über die Kollektivierung des Eigentums zu einer unerhörten Zusammenballung von Macht in relativ wenigen Händen geführt hat, so zeigt sich darin nur die Besonderheit eines historischen Systems. Djilas übertreibt, wenn er behauptet: „Es gibt heute keine andere Art Marxismus, das heißt Kommunismus, und es ist kaum möglich, eine andere Art zu entwickeln61." Rosa Luxemburg hatte schon vor der Jahrhundertwende Lenins Partei-Auffassung getadelt. Lenin hatte sein Hauptaugenmerk der Heranbildung einer straff organisierten Führungs- und Kampfgruppe, einer „Organisierung der Avantgarde der Unterdrückten" gewidmet. Rosa Luxemburg sah die Gefahr der Herrschaft einer Minorität vor60 61
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a.a.O.S.65. a. a. O. S. 109.
aus. Die Beseitigung der proletarischen Demokratie verschütte den lebendigen Quell, durch den das öffentliche Leben gereinigt und bereinigt werde, sie zerstöre „das aktive, ungehemmte, energische politische Leben der breitesten Volksmassen". Die Sowjets geben sich als „die" Vertretung der Werktätigen aus. Allein man sieht, wohin ihre angemaßte Gewaltherrschaft führt: „Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse- und Versammlungsfreiheit, freien Meinungskampf, erstirbt das Leben in jeder öffentlichen Institution, wird zum Scheinleben, in der die Bürokratie allein das tätige Element bleibt. Das öffentliche Leben schläft allmählich ein, einige Dutzend Parteiführer von unerschöpflicher Energie und grenzenlosem Idealismus dirigieren und regieren, unter ihnen leitet in Wirklichkeit ein Dutzend hervorragender Köpfe, und eine Elite der Arbeiterschaft wird von Zeit zu Zeit zu Versammlungen aufgeboten, um den Reden der Führer Beifall zu klatschen, vorgelegten Resolutionen einstimmig zuzustimmen, im Grunde also eine Cliquenwirtschaft 82." Tito hat sich oft gegen eine totalitäre Diktatur, besonders gegen eine Parteidiktatur gewandt. I n Jugoslawien kursierte eine Zeitlang das Wort vom Absterben der Partei 68. Im Sinne Titos hatte Eduard Kardelj in seiner Parlamentsrede vom 1. 4. 1952 erklärt: „Die Alternative zwischen der marxistischen Lehre vom Absterben des Staates und damit auch jedes Parteiensystems und der stalinistischen Theorie von der Stärkung des Staates ist heute der Prüfstein für den wirklichen Sozialismus." Tito allerdings zögert noch heute — im Hinblick auf die innen- und außenpolitische Situation —, einem demokratischen Sozialismus Chancen zu geben.
3. D a s F r e i h e i t s i n t e r e s s e d e r
Intelligenz
Der gegebenenfalls schärfste offene oder versteckte Gegner der Parteidiktatur und bürokratischen Kastenherrschaft ist die Intelligenz. 62 Rosa Luxemburg, Die russische Revolution (1918). Mit einer Einführung „Zum vierzigsten Jahrestag der Oktoberrevolution" von Bernhard Krauß. Hameln, 1957, S. 78, 79. 63 Vgl. über den Titoismus: Ernst Halperin, Der siegreiche Ketzer, Titos Kampf gegen Stalin. Köln, 1957, S. 197—320.
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Lenin meinte, sich beim Aufbau des sozialistisch-kommunistischen Gesellschaftssystems nur auf Industriearbeiter und Kleinbauern stützen zu brauchen. Er vergaß die Intelligenz, zu der er selbst gehörte; vielleicht vertraute er auch, wie selbstverständlich, auf die loyale Mitarbeit der alten Intelligenz und die sichere Gefolgschaft der jungen. In beiderlei Beziehung irrten sich Lenin und die kommunistischen Machthaber. Die Intelligenz ist grundsätzlich an der Sicherung der Geistesfreiheit, der Freiheit des Gedankenaustausches, der Freiheit wissenschaftlichen Forschens und künstlerischen Gestaltens interessiert. Die Parteiführer erkennen dieses vitale Interesse der Intelligenz theoretisch gewiß an. So sagte Stalin in seiner vorletzten Schrift: „Der Marxismus als Wissenschaft kann nicht auf der Stelle stehenbleiben — er entwickelt und vervollkommnet sich. In seiner Entwicklung muß sich der Marxismus selbstverständlich mit neuen Erfahrungen und neuen Kenntnissen bereichern . . . Der Marxismus erkennt keine unveränderlichen Schlußfolgerungen und Formeln an, die für alle Epochen und Perioden obligatorisch wären. Der Marxismus ist ein Feind jeglichen Dogmatismus64." In Wirklichkeit war aber gerade Stalin ein Erzdogmatiker und Feind offener Kritik. Nach dem X X . Parteitag schien sich nicht nur die politische, sondern auch die geistige Situation zu ändern. Alle Welt erwartete „Tauwetter". Der unter diesem Titel erschienene Roman von Ilja Ehrenburg war das Dokument einer geistigen Auflockerung. Ehrenburg kämpfte unentwegt für die Freiheit des Geistes. Jeder kulturell Schaffende müsse sich frei betätigen können. In den „Lehren Stendhals" findet sich das ketzerische Wort: „Wenn die Gesellschaft einem Newton, Kopernikus, Nedelejew oder Einstein hätte befehlen können, was sie zu suchen und zu finden haben, die Welt bedürfte wahrhaftig nicht mehr des Genies." Lenin hatte im Jahre 1905 in einem Artikel „Parteiorganisation und Parteiliteratur" von einer ungeahnten Blüte einer kommenden sozialistisch-realistischen Literatur gesprochen: „Das wird eine freie Literatur sein, die das letzte Wort des revolutionären Gedankens 64
Stalin, Der Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft, S. 38 u. S. 66. 44
der Menschheit durch die Erfahrung und die lebendige Arbeit des sozialistischen Proletariats befruchten w i r d . . . 6 5 " Wie gering aber ist die Zahl echter Kunstwerke, die sich auf dem Boden des „sozialistischen Realismus" entwickelt haben! Der geistvollste Kommunist der Gegenwart, der chinesische Staatsund Parteichef Mao Tse-tung, war um eine freiheitliche Entwicklung von Kunst und Wissenschaft ernstlich bemüht. In seiner berühmten Februar-Rede von 1957 (vor dem Obersten Staatsrat des Landes) erhob er jene bekannte, aufsehenerregende Forderung: „Laßt viele Blumen blühen, . . . laßt viele Gedankenschulen miteinander wetteifern!" China brauche so viele Intellektuelle wie möglich, um den gigantischen sozialistischen Aufbau von Staat und Wirtschaft durchführen zu können. Viele Parteigenossen hätten keinen Respekt vor geistigschöpferischer Arbeit. Sie hinderten selbständiges Denken und eigenwillige Kritik. Oder dürfte der Marxismus nicht kritisiert werden? Natürlich müsse man mit sachlicher Kritik rechnen und ihr standhalten. „Als wissenschaftliche Wahrheit fürchtet der Marxismus keine Kritik. Täte er es und wäre er mit Argumenten zu besiegen, dann taugte er nichts. Die Marxisten dürfen sich vor keiner Kritik von irgendeiner Seite fürchten. Pflanzen, die in Treibhäusern wachsen, sind meist nicht widerstandsfähig." Partei und Staat sollten von Methoden der Unterdrückung abgehen. Mit Andersdenkenden solle man diskutieren, besonders mit Revisionisten. Sie seien weit gefährlicher als Dogmatiker und Doktrinäre. Ideologische Gegnerschaft sei mit überzeugenden Argumenten zu überwinden. „Wir denken, daß es für das Wachsen der Kunst und der Wissenschaft schädlich ist, wenn administrative Maßnahmen angewandt werden, um einen bestimmten Kunststil oder eine bestimmte Gedankenschule durchzusetzen und eine andere zu verbieten." Schon ein Jahr vorher hatte Tschou En-lai vor dem Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Chinas einen Bericht über die Frage der Intellektuellen gegeben. Er warnte vor der Unterschätzung Intellektueller und rief die Partei auf, in geeigneter Weise die vorhandenen Kräfte w Lenin, Sämtliche Werke, Bd. V I I I , Wien und Berlin, 1931. Über den sozialistischen Realismus vgl. im folgenden S. 78 ff.
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der Intelligenz nutzbar zu machen. Dazu sei eine taktvolle und vernünftige Haltung der Parteigenossen, besonders gegenüber der alten parteilosen Intelligenz, erforderlich. Innerpolitische und innerwirtschaftliche Schwierigkeiten veranlaßten Partei und Regierung jedoch bald, von ihrer freiheitlichen Politik abzugehen und den Grundsatz der unbedingten Parteigefolgschaft — mindestens für die nächsten Jahre — erneut zu bekräftigen. Nur „ein" kommunistischer Parteichef hat die Linie des orthodoxen, von Stalin festgelegten Marxismus bisher kaum einen Fußbreit verlassen: Walter Ulbricht. In seinem Referat „Grundfragen der Politik der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands" (auf der 30. Tagung des Zentralkomitees der SED am 30.1.1957) hat er die wissenschaftliche Arbeit in seinem Machtbereich einer grundsätzlichen Kritik unterzogen. Die Aufgabe der Wissenschaft sei es, der Partei zu dienen. „Für uns Marxisten-Leninisten dient das Streben nach objektiver Wahrheit der Ausarbeitung der politischen Linie, die das richtige Handeln garantiert, die die Macht des Arbeiter- und Bauernstandes erhöht, die die führende Rolle der Partei, ihren Einfluß und ihre Verbindung mit den Massen stärkt. Jeder Meinungsstreit, der diesem Ziel dient, ist wertvoll und willkommen, denn er führt uns rascher zur Erkenntnis." Die bekannte, von Wissenschaftlern und Literaten begeistert aufgenommene Parole: „Laßt alle Blumen blühen!" sei keine Freigabe für Unkraut. „Das Unkraut des Revisionismus ist weder eine Blume, noch schön, noch eine nützliche Pflanze. Die Hauptaufgabe der Genossen Wissenschaftler besteht immer und gerade jetzt darin, der Partei zu helfen, die Wahrheit zu erkennen, auf die gestützt wir eine richtige und erfolgreiche Politik durchführen werden 66." Die „monolithische Einheit" der Partei bzw. das Parteimonopol schließt, wie Rosa Luxemburg gegenüber Lenin immer wieder betont hatte, geistige, politische und wirtschaftliche Freiheit aus. Das ist in der Tat die alltägliche Erfahrung in allen Ländern kommunistischer Parteiherrschaft. Die schlimmste Tyrannei, die einem Menschen widerfahren kann, ist, seinen Gedanken nicht frei Ausdruck geben zu kön66
Walter Ulbricht, Grundfragen der Politik der SED. Ost-Berlin, 1957, S. 53 ff. 46
nen. Milovan Djilas hat diese geistige Tyrannei selbst erlebt. Seine Worte mögen hier für die vieler anderer stehen, die zum Schweigen verurteilt waren oder sind, obwohl sie sprechen möchten. „Die Beschränkung der Gedankenfreiheit ist nicht nur ein Eingriff in ausdrückliche politische und soziale Rechte, sondern ein Anschlag auf den Menschen als solchen... Die Geschichte wird den Kommunisten vielleicht noch zubilligen, daß die Ereignisse und die Notwendigkeit, ihre Existenz zu verteidigen, sie zu vielen brutalen Handlungen gezwungen haben. Dafür aber, daß sie jeden andersartigen Gedanken unterdrückt und zum Wohl ihrer persönlichen Interessen ein ausschließliches Monopol über das Denken errichtet haben, wird die Geschichte die Kommunisten an ein Kreuz der Schande schlagen67." 4. D a s L e b e n s i n t e r e s s e d e r M a s s e n Rosa Luxemburg sah antagonistische Gegensätze zwischen dem Parteimonopol und dem Lebens- und Betätigungswillen der Massen voraus. Infolgedessen kämpfte sie gegen die sowjetische Parteidiktatur: „Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei — mögen sie noch so zahlreich sein — ist keine Freiheit. Freiheit ist immer nur Freiheit des anders Denkenden68." Rosa Luxemburg verstand die von Marx und Engels geforderte „Diktatur des Proletariats", ganz im Sinne ihrer Meister, als Herrschaft der ganzen Klasse. „Diese Diktatur muß das Werk der Klasse und nicht einer kleinen führenden Minderheit im Namen der Klasse sein, das heißt, sie muß auf Schritt und Tritt aus der aktiven Teilnahme der Massen hervorgehen, unter ihrer unmittelbaren Beeinflussung stehen, der Kontrolle der gesamten Öffentlichkeit unterstehen, aus der wachsenden politischen Schulung der Volksmassen hervorgehen 69." Was wäre geschehen, wenn der Kronstadter Aufstand vom März 1921 siegreich gewesen wäre? Die Aufständischen hatten freie, allgemeine und geheime Wahlen der Sowjets, Freiheit in Wort und 67
Milovan Djilas, Die neue Klasse, S. 200. Vgl. hierzu die Einführung von Alfred Kantorowicz! 68 Rosa Luxemburg, Die russische Revolution, S. 82. Vgl. die Einführung von Bernhard Krauß. 69 a.a.O.S. 82. 47
Schrift, Freiheit der Gewerkschaften und Bauernbünde gefordert. Die blutige Niederwerfung des Aufstandes sicherte endgültig die Parteiherrschaft. Spätere Aufstände hatten ähnliche Ursachen und nahmen einen ähnlichen Ausgang. Wir denken an den 17. Juni 1953 in Mitteldeutschland und Ostberlin, an die Ereignisse in Posen und Warschau, an die Revolution in Ungarn 1956. Der Konflikt zwischen Partei und Volk ist von niemandem erregender geschildert worden als von W. Gomulka in seiner berühmten Rede vor dem politischen Zentralkomitee am 22. 10.1956 in Warschau: „Die Posener Arbeiter haben nicht gegen Volkspolen protestiert und auch nicht gegen den Sozialismus, als sie auf die Straße gingen. Sie haben gegen all das Schlechte protestiert, das sich in unserem ganzen gesellschaftlichen System breitgemacht hat und sie auch sehr fühlbar traf. Sie haben gegen die Abweichung protestiert, gegen die Entstellung der Grundprinzipien des Sozialismus... Die Arbeiterklasse hat mit der Idee des Sozialismus alle ihre Hoffnungen auf ein besseres Leben verbunden. Sie hat für diesen Sozialismus von jenem Tage an gekämpft, an dem sie bewußt zu leben begann." Was aber hätten Partei und Regierung getan? Sie hätten ein Zerrbild des Sozialismus geschaffen. Die Arbeiterklasse habe sich nie leichtfertig des Generalstreiks als eines letzten Kampfmittels bedient. Jetzt aber gab es keinen anderen Ausweg: „Das Maß war voll, und man kann es nie ungestraft zum Uberlaufen bringen." Nach dem 20. Parteitag brachte ein belebender Luftzug die Bevölkerung in Bewegung. „Die Leute", sagte Gomulka, „fingen an, den Rücken zu strecken. Schweigende, vergewaltigte Geister begannen, den giftigen Nebel der Verlogenheit, der Falschheit und der Zwiezüngigkeit abzuschütteln." Die Parteileitung in Polen habe es aber nicht verstanden, der neuen Situation Rechnung zu tragen und auf die Linie eines menschlichen Sozialismus umzuschwenken. Man hätte dem Volke die Wahrheit sagen müssen. „Wenn man sie verheimlicht, kommt sie als ein gefährliches Gespenst wieder zum Vorschein, als ein Gespenst, das Schrecken und Unruhe auslöst, Empörung und Wut." Auf Wahrhaftigkeit ruhe Vertrauen. „Die Wahrheit, die einem Volk ohne alle 48
Umschweife gesagt wird, gibt Kraft — sie wird der Volksmacht und unserer Partei den vollen Vertrauenskredit der werktätigen Massen wiedergeben. Diesen Kredit brauchen wir, weil er unerläßlich ist für die Verwirklichung unserer Pläne." Das polnische Volk meinte damals, wie Edda Werfel schrieb, einen „Völkerfrühlung" zu erleben, die Geburt eines — „Kapitalisten" wie „Stalinisten" erschreckenden — „menschlichen Sozialismus". Der junge polnische Soziologe Leszek Kolakowski schrieb in der Zeitschrift „Szandar Mlodych", Warschau, 7.Mai 1957: „ S o z i a l i s m u s i s t n i c h t : Eine Gesellschaft, in der ein Mensch, der ein Verbrechen begangen hat, zu Hause sitzt und auf die Polizei wartet. Eine Gesellschaft, in der einer ins Unglück gerät, weil er sagt, was er denkt, während ein anderer glücklich ist, weil er nicht sagt, was in seinem Hirn vorgeht. Eine Gesellschaft, in der einer bequem lebt, weil er überhaupt nicht denkt. Ein Staat, in dem einer ohne Prozeß verurteilt werden kann. Ein Staat, in dem die Arbeiter auf die Regierung keinerlei Einfluß haben. Ein Staat, in dem es Sklavenarbeiter gibt. Eine Gesellschaft, in der sich die Führer selbst zu ihren Funktionen ernennen usw." Die Ursachen „antagonistischer Gegensätze" und revolutionärer Konflikte im sozialistischen Lager erklären sich also keineswegs nur aus ökonomischen Verhältnissen. „Der Mensch lebt nicht von Brot allein" heißt der Titel des bekannten Romans von Dudinzew. Engels hat in seinen letzten Lebensjahren zugestanden, daß Marx und er den ökonomischen Faktoren zu großes Gewicht für die geschichtliche Entwicklung gegeben hätten. Die Führung erwartet von dem Volk ja auch weit mehr, als daß es redit und schlecht arbeitet und an seinen Unterhalt denkt. Sie fordert Opferbereitschaft, Uneigennützigkeit, Verantwortlichkeit. Natürlich richtet sich die Hoffnung bedrängter und bedrückter Massen auf Besserung der materiellen Lebensverhältnisse; darüber hinaus aber auf ein menschenwürdiges Dasein. Enttäuschte Hoffnung war die Ursache des großen Aufbegehrens in den Jahren 1953 und 1956. Was das Volk im Grunde wollte, war die Verwirklichung eines freiheitlichen Sozialismus. 4 Schack
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III. Die ökonomischen Probleme 1. D i e
Zentralplanwirtschaft
Die Vertreter des Marxismus-Leninismus sind überzeugt, daß die westliche „kapitalistische" Wirtschaft infolge der ihr innewohnenden unlösbaren Widersprüche untergehen wird. Diese Untergangsprognose bedürfte zu ihrer Begründung nicht einmal empirischer Daten. Sie ließe sich schon deduktiv aus dem Klassencharakter des „Kapitals" herleiten. Denn „Kapital" sei jenes Privateigentum, das sich nur durch Ausbeutung von Lohnarbeit bildet und vermehrt. Dieser Prozeß kann nicht unbegrenzt laufen, sei es, weil sich die Ausgebeuteten gegen die Ausbeutung auflehnen, sei es, weil — infolge der Profit- und Kapitalsakkumulation und der sich daraus ergebenden relativen Überproduktion — Depressionen und Krisen entstehen. Schon Nossig und Bernstein hatten auf die unrealistische Konzeption der Untergangstheorie bei Marx und Engels hingewiesen. Man sehe und erlebe keine zunehmende Ausbeutung, keine Verarmung und Verelendung, keine Vernichtung von Mittel- und Kleinbetrieben und schließlich auch nicht den Amoklauf der Privatwirtschaft von Krise zu Krise. Die Prognose, die Marx dem Kapitalismus auf Grund seiner Analyse des englischen Frühkapitalismus stellte, war richtig, jedoch nur unter der Voraussetzung, daß die Verhältnisse sich gleichbleiben würden. Da sich diese aber in der Folgezeit erheblich wandelten — man denke an Selbsthilfe und Staatshilfe! —, mußte die Voraussage fehlgehen. Dennoch vererbten sich die Thesen des Kommunistischen Manifests ungeprüft von Generation zu Generation. Der Kapitalismus habe, hieß es und heißt es, in der Form des Monopolkapitalismus die Stufe erreicht, auf der das „ökonomische Grundgesetz" dieses Systems deutlich hervortrete: „Sicherung des kapitalistischen Maximalprofits durch Ausbeutung, Ruinierung und Verelendung der Mehrheit der Bevölkerung des gegebenen Landes, durch Versklavung und systematische Ausplünderung der Völker anderer Länder, besonders der zurückgebliebenen Länder, und schließlich durch Kriege und Militarisierung der Volkswirtschaft, die der Sicherung von Höchstprofiten dienen 70 ." 70
Stalin, ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR (1952). Dtsch>: Ost-Berlin, 1953, S. 39/40. 50
Wir wollen auf das gänzlich irreale Bild, das sich sowjetische Wissenschaftler von der westlichen Welt machen, nicht näher eingehen. Nur einige Stichproben aus den „Studien zur Geschichte des Kapitalismus" von Jürgen Kuczynski mögen zur Illustration östlicher Ansichten dienen. Der Autor, dem wir an sich wissenschaftlichen Ernst und sachlichen Forschersinn zugestehen möchten, sieht in der modernen Marktwirtschaft noch all die schlimmen Dinge, die vor hundert Jahren Sozialreformer und Sozialisten auf den Plan riefen. „Der Prozeß der absoluten Verelendung der Arbeiterklasse", behauptet Kuczynski, „ist eine gesetzmäßige Bewegung in der kapitalistischen Gesellschaft". „Verelendung heißt: Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralische Degradation." Ein besonderer Trick der herrschenden Klasse in der Periode der allgemeinen Krise des Kapitalismus ist es, den Lebensstandard der Arbeiter — auf niedrigem Niveau — über die Kaufkraft der Arbeiter zu erhöhen. Die beiden Mittel hierzu: Bau von Arbeiterwohnungen und Einrichtung von Abzahlungsgeschäften. „Hier zeigt sich die ganze Teuflischkeit des modernen Kapitalismus..." „ A l l das nutzen die Kapitalisten aus, um den Arbeiter zu verschulden, so daß er von sich aus, ohne daß die Kapitalisten sichtbar die Peitsche zu schwingen brauchen, immer intensiver arbeitet und einen längeren Arbeitstag verlangt!" Kuczynski schließt seine „Studien": „Unter welchen Gesichtspunkten wir auch die Lage der Arbeiter in der kapitalistischen Welt betrachten — ob unter dem der absoluten Verelendung oder dem der Ausbeutung, ob wir in einzelnen Fällen gewisse Verbesserungen von Einzelfaktoren der Lebenshaltung feststellen, ob wir ausgeplünderte Kolonien oder das mächtigste kapitalistische Land untersuchen —, stets zeigt das Leben, zeigt die Wirklichkeit, die wir auf Grund der Lehren der Klassiker des Marxismus-Leninismus, auf Grund der Erfahrungen der Arbeiterklasse zu analysieren gelernt haben, eine Verschlechterung in der Lage der Arbeiter von Zyklus zu Zyklus an 71 ." Würde ein Kollege (im sozialistischen Lager) diese oder ähnliche Ausführungen unter Hinweis auf die tatsächlichen Verhältnisse berich71 Jürgen Kuczynski, Studien zur Geschichte des Kapitalismus. Ost-Berlin, 1957. S. 149, 155 u. 164. 4*
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tigen, so würde er Gefahr laufen, als Verräter an der Parteidoktrin gebrandmarkt zu werden. Es ist fast eine Ironie, daß Kuczynski — trotz seiner eindeutig parteigemäßen Einstellung — durch Ulbricht persönlich doktrinärer Abirrungen bezichtigt worden ist. Hat die kapitalistische Wirtschaft (nach marxistischer Auffassung) keine Zukunft, so werden umgekehrt der sozialistisch-kommunistischen Wirtschaft alle Chancen der Befreiung der Menschheit von Not und Elend gegeben. Nach sowjetischer Vorstellung muß die sozialistische Wirtschaft als eine Zentralplanwirtschaft begründet werden. Denn nur so sei es möglich, alle Produktionsinstrumente in den Händen der herrschenden Klasse des organisierten Proletariats zu vereinig gen und die Masse der Produktionskräfte rasch zu vermehren. Rational betrachtet ist die Zentralplanwirtschaft einer freien Marktwirtschaft in gewisser Hinsicht überlegen. Auf Befehl der Regierung können gigantische Unternehmen in der Energiewirtschaft, Verkehrswirtschaft, Bauwirtschaft, in Industrie und Landwirtschaft durchgeführt werden. Das Maximum ist Trumpf: die maximale Investition, die maximale Verwendung von Arbeitskräften (einschließlich Frauenarbeit), die maximale Intensivierung der Arbeitsleistung, die maximale Steigerung der Produktion usw. Natürlich kann ein Maximum niemals im ganzen, sondern nur in einzelnen Punkten erstrebt und erreicht werden. So ist die Zentralplanwirtschaft denn auch ein System ökonomischer Schwerpunkte, die jeweils der Situation entsprechend verlagert werden. Das System funktioniert, solange das Volk bereit ist, durch Konsumverzicht für Kosten und Fehler aufzukommen, solange sich die Werktätigen also bedingungslos in das System einfügen. Wie sich doch die Funktionäre sowohl des dirigierten Systems wie der sich selbst steuernden individualistischen Verkehrswirtschaft gleichen: die Funktionäre der Zentralplanwirtschaft und die der freien Marktwirtschaft! Sie müssen prompt reagieren, jene auf Parolen, diese auf Symptome. Die einseitige Entwicklung einer Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung führt zu inneren Gegensätzen. Eine individualistische Ordnung führt den Kollektivismus, eine kollektivistische Ordnung den Indivi52
dualismus herauf 7*. Das Konkurrenzsystem treibt zu privater Koalition und staatlicher Intervention. Umgekehrt entwickelt sich die Kollektivwirtschaft. Die Zwangskollektivierung sichert zwar für eine gewisse Zeit die Produktion, gewährleistet jedoch nicht auch eine Produktionssteigerung. Dieser Sachverhalt zeigt sich deutlich in den letzten Jahren in Mitteldeutschland. Der Rückgang der Wachstumsrate der Produktion war eine auffällige und bedenkliche Erscheinung. Einige führende Wissenschaftler sahen die Ursache des Rückganges der Produktivität in den staatlichen Methoden der Wirtschaftsführung, in der „übermäßigen Administrierung und Reglementierung der Betriebe". Nach der Machtübernahme hätten Partei und Staat die Produktion zentralisiert. Wenn die Verwaltung nach der Festigung der sozialistischen Produktionsverhältnisse nicht dezentralisiert werde, bestehe nach Meinung jener Wissenschaftler (Behrens und Benary) die Gefahr einer Bürokratisierung der Wirtschaft und eines sich entwickelnden antagonistischen Gegensatzes zwischen politischer Bürokratie und Arbeiterschaft. Niemand bezweifelt (nach Behrens) die Notwendigkeit einer staatlichen administrativen Lenkung in der ersten Ubergangsperiode. Es dürfte sogar eine Zentralisierung der Wirtschaft in extremer Form erforderlich sein. In der eigentlichen Periode des Sozialismus muß aber die administrative Lenkung der „ökonomischen Leitung" Platz machen. Solange ein Markt und eine Warenzirkulation besteht, sollte man „die regulierende Funktion der Preise auch wirklich ausnutzen 78 ". Die SED trat dieser Auffassung scharf entgegen. Das Hauptinstrument bei der Begründung des Sozialismus sei die Staatsmacht. „ I n Theorie und Praxis mit dem Absterben der sozialistischen Staatsmacht zu experimentieren, kommt einer Einladung an die Imperialisten 72
Vgl. meinen Beitrag für die Festschrift zum 70. Geburtstag von Werner Sombart: Herbert Schack, Theorie der Wirtschaftsverfassung, Berlin, 1933. 78 Fritz Behrens, Zum Problem der Ausnutzung ökonomischer Gesetze in der Ubergangsperiode. Zeitschrift „Wirtschaftswissenschaft", 5. Jahrgang, 3. Sonderheft, Ost-Berlin, 1957, S. 120 u. S. 112 ff. Vgl. zu dem Problem der „ökonomischen Methode" im folgenden S. 110 ff. 53
gleich, den kalten Krieg zu verschärfen und kontrarevolutionäre Putsche zu organisieren 74."
2. D e r s o z i a l i s t i s c h e
Wettbewerb
Die eigentliche Triebkraft des technisch-ökonomischen Fortschritts (unter den Bedingungen des gesellschaftlichen Eigentums an Produktionsmitteln) ist „die sozialistische Initiative der Werktätigen" (Arne Benary). Die Hauptform, in der sich die Masseninitiative äußert, ist der sozialistische Wettbewerb. In der monopolkapitalistischen Gesellschaft läuft der Wettbewerb — mit Lenin gesagt — auf eine „brutale Unterdrückung der Energie und der kühnen Initiative der gigantischen Mehrheit der Bevölkerung" hinaus. Am Ende werde er durch Finanzschwindel, Despotismus und Liebedienerei ersetzt. Der Sozialismus dagegen „schafft erstmalig die Möglichkeit", den Wettbewerb „wirklich auf breiter Grundlage, wirklich im Massenumfange anzuwenden, die Mehrheit der Werktätigen wirklich auf ein Tätigkeitsfeld zu führen, auf dem sie sich hervortun, ihre Fähigkeit entfalten, jene Talente offenbaren können, die das Volk, einem unversiegbaren Quell gleich, hervorbringt". Die sozialistische Wirtschaft sei dem „Kapitalismus" zwiefach überlegen: durch die planmäßige bewußte Leitung der volkswirtschaftlichen Produktion und durch die Initiative der Werktätigen im sozialistischen Wettbewerb. Benary hält der sowjetischen Analyse der sozialistischen Wirtschaft vor, daß die in ihr wirksamen dialektischen Faktoren nicht hinreichend beachtet würden. „Gesamtgesellschaftliche Planung und Leitung des Reproduktionsprozesses und die schöpferische Initiative der Wertätigen bilden eine dialektische Einheit 75 ." In der Deutschen Demokratischen Republik komme es vor allem darauf an, in den spontan tätigen Wirtschaftern, insbesondere Arbeitern, das Bewußtsein ihrer sozialistischen Aufgabe zu wecken. Voraus74
Walter Ulbricht, Grundfragen der Politik der SED, S. 53. Arne Benary, Zu Grundproblemen der politischen Ökonomie des Sozialismus in der Ubergangsperiode. „Wirtschaftswissenschaft", a. a. O. S. 71. 75
54
setzung dazu sei die Teilnahme der Werktätigen an der Aufstellung des Volkswirtschaftsplanes. Dieser Plan sei „keine Angelegenheit zentraler Planungsorgane allein (oder sollte es nicht sein); er ist Sache der gesamten Gesellschaft 78". In der planmäßigen Entwicklung der sozialistischen Wirtschaft, führt Benary weiter aus, kommen „einander bedingende Gegensätze" zur Entfaltung: „Spontaneität und Bewußtsein, operative Selbständigkeit und Zentralisierung der Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel, strengste Einhaltung einheitlicher Normen und Mannigfaltigkeit der Einzelheiten, persönliche Interessen und gesellschaftliche Interessen, Erkenntnis ihrer Einheit und Erkenntnis des Widerspruchs zwischen ihnen, diese — um die wichtigsten zu nennen — Gegensatzpaare liegen dem Gegensatz von bewußter Leitung und Planung des gesamtvolkswirtschaftlichen Reproduktionsprozeß und der schöpferischen Aktivität der Werktätigen zugrunde, sie bedingen und durchdringen einander, sie bilden eine Einheit 77 ." Damit sich die sozialistische Wirtschaft nicht zu einer Zentralverwaltungswirtschaft und Befehlswirtschaft entwickele, dürften nicht nur Auswüchse und Überspitzungen vermieden werden. Die Volkswirtschaft verlangt eine Methode, welche die schöpferische Initiative der Werktätigen weckt und fördert: die „ökonomische Methode". Das Wesen dieser Methode besteht in der Schaffung von Bedingungen, auf Grund derer sich die Wirtschaft spontan und im voraus berechenbar entwickeln kann. Während die „administrative Methode" unvermeidlich zu Konflikten zwischen der zentralen Planung und dem Willen zu verantwortlicher Tätigkeit führt, nutzt die „ökonomische Methode" die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten aus und entfesselt die schöpferische Aktivität der Werktätigen. Propaganda und Durchführung des sozialistischen Wettbewerbs sind im gewissen Sinne Aktionen der Liberalisierung. Denn der einzelne kann sich nur dann schöpferisch und verantwortlich betätigen, wenn die Verhältnisse freiheitliches Denken und Handeln gestatten. Dazu wäre die Einschränkung der „administrativen Methode" not76 77
a.a.O.S.77. a. a. O. S. 83; vgl. auch S. 84 ff. 55
wendig; notwendig auch die unmittelbare Beteiligung der Arbeiter am Arbeitsprodukt auf der Grundlage kooperativen Eigentums. Diese Forderungen ließen sich marxistisch durchaus rechtfertigen. Natürlich aber bedeuteten sie eine Kritik an dem sowjetisch-zentralistischen System. 3. D i e
Sozialisierung
Mit dem Marxismus ist eine Sozialisierung der Produktionsmittel notwendig verbunden. In welcher Form aber, in welchem Sinne? Marx und Engels haben ihre Meinung darüber mehrfach geändert. Im Kommunistischen Manifest fordern sie die Konzentrierung aller Produktion „in den Händen der assoziierten Individuen". Beinahe im gleichen Atemzug aber wollen sie die Produktionsmittel in der Hand des Staates wissen. Im „Kapital" definiert Marx die sozialistischkommunistische Gesellschaft als „einen Verein freier Menschen, die mit gemeinschaftlichen Produktionsmitteln arbeiten und ihre vielen individuellen Arbeitskräfte selbstbewußt als , e i n e € gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben78". Andererseits lassen Marx und Engels keinen Zweifel daran, daß das kapitalistische Privateigentum nur durch den proletarischen Staat in Besitz genommen werden kann. Die gesellschaftlichen Produktionsmittel müßten verstaatlicht werden. Engels aber betont wiederum, daß die Verstaatlichung nur für die erste Zeit der Machtergreifung notwendig ist: „Der erste Akt, worin der Staat wirklich als Repräsentant der ganzen Gesellschaft auftritt — die Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft —, ist zugleich sein letzter selbständiger Akt als Staat 79 ." Marx und Engels waren überzeugt, daß das Staatseigentum in Kürze durch gesellschaftliches Eigentum abgelöst werden muß. Auch Lenin sah in dem proletarischen Staat nur das Intrument zur Verwirklichung eines „höheren Typus der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit 80 ". Schließlich betonte selbst Stalin in seiner letzten Schrift, 78 79 80
56
Marx, Das Kapital, Bd. I, S. 84. Engels, Anti-Dühring, S. 347. Lenin, Ausgewählte Werke, Bd. I I , Ost-Berlin, 1952, S. 569.
daß das Staatseigentum nur eine Übergangserscheinung ist: „Die Überführung des Eigentums einzelner Personen und Gruppen in staatliches Eigentum soll „die einzige, jedenfalls aber die beste Form der Nationalisierung" sein? „Das stimmt nicht. In Wirklichkeit ist die Überführung in staatliches Eigentum nicht die einzige und nicht einmal die beste Form der Nationalisierung, sondern die Anfangsform der Nationalisierung .. . 8 1 ." Tatsächlich haben allerdings Lenin wie Stalin den Staatsapparat mit allen verfügbaren Kräften und Mitteln gestärkt und keinerlei Anstalten gemacht, das Staatseigentum zu „sozialisieren". Der sowjetische Staatskapitalismus ist infolgedessen oft Gegenstand heftiger Kritik gewesen. Tito brach zuerst mit der 1948/49 durchgeführten Zwangskollektivierung nach sowjetischem Muster. Die jugoslawische Wirtschaft entwickelte sich so ungünstig, daß „die Notwendigkeit einer Änderung der gesellschaftlichen Beziehungen" unausweichlich wurde. In dem Agrarprogramm vom 27.4.1957 wurde indessen nicht etwa das Privateigentum restauriert. Solche Orientierung würde ja bedeuten, „daß das Dorf der anarchischen wirtschaftlichen und sozialen Differenzierung überlassen bliebe und der größte Teil der arbeitenden Bauernschaft in die Hände der kapitalistischen Ausbeutung gegeben würde". Tito wählte als neuen Ausgangspunkt für die Sozialisierung der Landwirtschaft die „Allgemeine Genossenschaft" (Opca Zadruga). Staatliche Investitionen und Subventionen kommen grundsätzlich nur diesen sozialistischen Genossenschaften, nicht aber den selbständig bleibenden Bauern zugute. Werden die jugoslawischen Bauern, die ja weit mehr mit ihrem Grund und Boden verbunden sind als die russischen Kleinbauern, einmal ihre angestammten Besitzrechte aufgeben? Werden sie das von ihnen erwartete Interesse an der „gewaltigen Produktionssteigerung" teilen und um der gesellschaftlichen Produktion willen auf ihre Selbständigkeit verzichten? Wenn Chruschtschow im Mai 1957 vor Kolchosbauern auf das jugoslawische Agrarprogramm als warnendes Beispiel hinwies und meinte, daß damit „eine der wichtigsten Grundlagen des Sozialismus 81
Stalin, ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR,
S. 88. 57
liquidiert" worden sei, so übertrieb er erheblich. Denn weit mehr als in der Landwirtschaft Jugoslawiens zeigen sich „revisionistische Bestrebungen" in der Industrie. Tito hatte schon im Juni 1950 vor der Nationalversammlung erklärt, Jugoslawien mache fortan Ernst mit der sozialistischen These des „sozialistischen Eigentums". Fabriken und Wirtschaftsunternehmen würden den „Arbeitskollektiven" übergeben werden. „Von nun an wird das Staatseigentum an den Produktionsmitteln — Fabriken, Bergwerken, Eisenbahnen — allmählich in eine höhere Form von sozialistischem Eigentum übergehen. Staatseigentum ist die niedrigste Form des sozialistischen Eigentums und nicht die höchste, wie es die Führer der UdSSR haben wollen. Hierin liegt unser Weg zum Sozialismus.. . 8 2 ." Die jugoslawische Volkswirtschaft entwickelte sich, dieser Konzeption entsprechend, zu einer „Marktwirtschaft ohne Privatunternehmen". Obwohl dieses System noch nicht ausgereift ist, glaubt Halperin aus eigener Beobachtung doch sagen zu können: „Der totalen Planwirtschaft ist dieses System unendlich überlegen, und zwar einmal, weil es eben die großen Vorzüge jeder Marktwirtschaft besitzt: Beweglichkeit und Anpassungsfähigkeit, und dann, weil die Betriebsangehörigen nicht, wie im sowjetischen System, einfach daran interessiert sind, einen möglichst großen Ausstoß ohne Rücksicht auf Kosten, Qualität und Brauchbarkeit zustande zu bringen, sondern ein Interesse daran haben, gute und absatzfähige Erzeugnisse auf den Markt zu bringen — und dies bei größtmöglicher Rentabilität 83 ." Glaubte schon Tito, sozialistischer und kommunistischer als die sowjetischen Politiker zu sein, so ist er durch Mao Tse-tung noch übertrumpft worden. Ende August 1958 beschloß das Zentralkomitee der KP der Volksrepublik China die Umwandlung der Kollektivfarmen in „Volkskommunen". In der Resolution vom 29. 8. 1958 heißt es: „Die Kommunen sollen in allen Fällen als Volkskommunen bezeichnet werden. Es besteht keine Notwendigkeit, sie in Staatsfarmen zu verwandeln. Wenn wir sie nur als Farmen bezeichneten, dann könnten sie sich nicht gleichzeitig mit Industrie, Landwirtschaft, Warenaus82
Vgl. E. Halperin, Der siegreiche Ketzer. Titos Kampf gegen Stalin. Köln, 1957, S. 207 ff. 83 a.a.O. S. 156. 58
tausch, Erziehung und Milizwesen befassen 84." Die Volkskommunen sind Selbstverwaltungskörperschaften, die eine große Zahl politischer, wirtschaftlicher, kultureller und militärischer Aufgaben in sich schließen. Sie sind also keineswegs nur auf das flache Land beschränkt. Durchschnittlich leben in den Volkskommunen dreißigtausend Menschen. Jene müssen so angelegt sein, daß sie sich mit allem Notwendigen selbst versorgen können. Die in ihren Einzelheiten, ja auch in großen Zügen von Peking aus nicht übersehbare chinesische Großraumwirtschaft erfuhr so eine tiefgreifende Dezentralisierung. Die Selbstverwaltung gab vielerlei Chancen für die Produktionsentwicklung und Produktionssteigerung. Die Kollektivfarmen, hieß es, hätten unbefriedigend gearbeitet. Nur die Volkskommunen seien imstande, Industriebetriebe zu gründen, große Bewässerungsanlagen anzulegen und die so dringend benötigten Straßen zu bauen. Die Bauern in den Volkskommunen wurden Landarbeiter, wurden in Arbeitsbrigaden eingeteilt, vielleicht auch für eine gewerbliche Arbeit eingesetzt und in ein Bergwerk geschickt. Das Leben in den Volkskommunen ist fast gänzlich kollektiviert. Es gibt Massenkantinen, Massenschneidereien, auch Massenbäckereien, Säuglingsheime und Kindergärten, gemeinsame Erziehungsanstalten und — neu für chinesische Verhältnisse — gemeinsame Friedhöfe. Wird aber der wahrscheinliche Produktionserfolg den Verlust des privaten Lebens wettmachen? Das chinesische Volk soll „völlig von den Fesseln des individuellen Lebens befreit" werden. Es soll sich gänzlich der Führung der Kommunistischen Partei anvertrauen. Wenn sich Männer und Frauen in Stadt und Land zur Arbeit begeben, „sollen sie das Gefühl haben, ein Schlachtfeld zu betreten". Lily Abegg meint zu diesen aufsehenerregenden Vorgängen in China, die Regierung handele zwar grundsätzlich und radikal, in gewisser Hinsicht aber geschickt. „Denn geschickt ist es, die neuen Organisationen als ,Volkskommunen' zu bezeichnen. Dadurch wird die Tatsache der Diktatur der Kommunistischen Partei etwas verwischt und ein ,volksdemokratischer' Charakter vorgetäuscht." 84
Vgl. Lily Abegg, Das Eigentum dem Volke. Die Gründung der Volkskommunen in China. Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 18. 10. 1958. 59
Wie haben die sowjetischen Kommunisten diesen Weg der Volksrepublik China beurteilt? „Der große Sprung nach vorn" schien ihnen mehr ein Sprung vom Weg ab zu sein, d. h. einerseits viel zu forciert, andererseits nicht überlegt und rationell genug. Die gewaltige Anstrengung, Industrie und Landwirtschaft gleichzeitig voranzutreiben, brachte tatsächlich nicht den erhofften Erfolg und gab der sowjetrussischen Kritik recht. Das Experiment der Stahlerzeugung in zahlreichen kleinen und primitiven Öfen schlug fehl. Infolge dieser bösen Erfahrungen, wozu noch die Naturkatastrophen von 1959 bis 1961 und die Einstellung der sowjetischen Wirtschaftshilfe kamen, erhielt die Landwirtschaft wieder ihr Vorrecht. „Die Entwicklung der Landwirtschaft als Grundlage unserer Volkswirtschaft und die Industrie als bestimmender Faktor", wurde die offizielle Parole. Die Zahl der Volkskommunen wurde zwecks Rationalisierung erhöht; die Bauern erhielten einen größeren materiellen Anreiz zur Leistungssteigerung 85 . Der ökonomische Zweck der Liberalisierung im sozialistischen Lager ist grundsätzlich die Steigerung der wirtschaftlichen Produktivität. Die Ansatzpunkte sowie die Mittel und Methoden sind freilich je nach Ort und Zeit verschieden. In China geht es um eine rationellere Struktur und Arbeitsweise in den Volkskommunen; in Jugoslawien um die wirtschaftliche Selbstverwaltung in den Betrieben. In Polen machte man sich 1956/57 (wie damals ja auch in Mitteldeutschland) Gedanken über eine erhebliche Beschränkung der Befehlsplanung und eine entsprechende Förderung der unternehmerischen Initiative. Die Produktion der Industriebetriebe sollte der marktwirtschaftlichen Entwicklung angepaßt werden und sich nach den Prinzipien der Wirtschaftlichkeit und Rentabilität orientieren. Die Belegschaft sollte über ihren staatlich garantierten Lohn hinaus an dem Betriebsgewinn durch Gewinnbeteiligung interessiert werden. Voraussetzung der wirtschaft85
Vgl. Harry Hamm, Das rote Schisma, FAZ v. 3. 7. 1963. — Über das Verhältnis der Volksrepublik China zur UdSSR: Klaus Mehnert, Peking und Moskau, Stuttgart, 1962. — Vgl. ferner von Harry Hamm die Artikel über China in der FAZ v. 11. 1., 3.2., 8. 2., 17. 2., 20. 3. u. 22. 5. 1965. — Zur Liberalisierung vgl. im folgenden S. 109 ff. 60
liehen Selbstverwaltung müßte allerdings die Freiheit der Betriebe in ihren Dispositionen (mit Ausnahme der Neuinvestitionen) sein. Edward Lipinski hat in „Nowe drogi", Warschau, Nr. 11/12, 1956* das Wesen des sozialistischen Wirtschaftsmodelles, wie es fortschrittlichen polnischen Sozialisten vorschwebte, gut gekennzeichnet: „Eine sozialistische Wirtschaft setzt das gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln und die gesellschaftliche Kontrolle des Produktionsprozesses voraus. Aber aus dem gesellschaftlichen Eigentum an den Produktionsmitteln kann man nicht auf das Postulat der staatlichen und zentralisierten Verwaltung der Produktionsmittel schließen. Die Grundeinheit dieses Prozesses ist der selbständige Betrieb, der Aufgaben auf dem Gebiet des technischen Fortschritts, des Sortiments und der Technologie der Produkte, der Organisation und Lenkung des Produktionsprozesses, der Kalkulation der technischen Veränderungen, der Kosten und des Absatzmarktes, der Anpassung an die veränderlichen Bedingungen der Technik und des Marktes übernimmt, und löst86.«
IV. Die politischen Probleme 1. D e r W e g z u r M a c h t Wie kommt das revolutionäre Proletariat zur Macht? Marx und Engels waren zur Zeit der Abfassung des Kommunistischen Manifestes überzeugt, daß das Proletariat nur durch eine Revolution die Herrschaft erlangen und die alten Produktionsverhältnisse nur mit Gewalt aufheben kann: „Die Kommunisten verschmähen es, ihre Ansichten und Absichten zu verheimlichen. Sie erklären es offen, daß ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnungen." Die Entwicklung der parlamentarischen Demokratie, besonders in England, verfehlte jedoch nicht ihren Eindruck. Engels schrieb (1895) in der Einleitung zu der Schrift von Marx, „Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848—1850" (1850): „Die Ironie der Weltgeschichte stellt alles auf den Kopf. Wir ,Revolu86
Vgl. „Einheit". Zeitschrift für Theorie und Praxis des wissenschaftlichen Sozialismus, Bonn, 1957, S. 17. 61
tionäre', wir Umstürzler', wir gedeihen weit besser bei den gesetzlichen Mitteln als bei den ungesetzlichen und dem Umsturz. „Die Geschichte . . . hat uns unrecht gegeben, hat unsere damalige Ansicht als eine Illusion enthüllt... Die Kampfweise von 1848 ist heute in jeder Beziehung veraltet." Lenin vertrat demgegenüber von Anfang an die umstürzlerischen Ziele des Kommunistischen Manifestes. In seiner taktisch und strategisch wichtigen Schrift „Staat und Revolution" (1917) betonte er nachdrücklich: „Die Ablösung des bürgerlichen Staates durch den proletarischen ist ohne gewaltsame Revolution unmöglich." „Man stürze die Kapitalisten, man breche mit der eisernen Faust der bewaffneten Arbeiter den Widerstand dieser Ausbeuter. Man zerschlage die bürokratische Maschinerie des modernen Staates — und wir haben einen von den »Parasiten* befreiten, technisch hoch ausgestatteten Mechanismus vor uns, den die vereinigten Arbeiter sehr wohl selbst in Gang bringen können87." Neunundreißig Jahre nach der sowjetischen Oktober-Revolution wurde die Frage der Eroberung der Macht durch die Arbeiterklasse (auf dem X X . Parteitag) erneut erörtert. Die Bolschewiki hätten damals den herrschenden Klassen die Macht mit Waffengewalt entrissen. Seitdem sei die Situation eine wesentlich andere geworden. Der Marxismus-Leninismus habe in allen Ländern der Welt eine große Anziehungskraft erlangt. Die Arbeiterklasse könne in kapitalistischen Ländern die Mehrheit des Volkes gewinnen: Sie habe also praktisch „die Möglichkeit,... eine stabile Mehrheit im Parlament zu erobern und dieses aus einem Organ der bürgerlichen Demokratie in ein Werkzeug des tatsächlichen Volkswillens zu verwandeln". In einem solchen Falle, sagte Chruschtschow, könne das Parlament zu einem Organ wahrer Demokratie, einer „Demokratie für die Werktätigen" werden. Deutsche Sozialisten, an ihrer Spitze der junge Wolfgang Harich, sahen in dem Beschluß des X X . Parteitages den Weg für eine gesamtdeutsche, ja europäische, politische Konzeption. In Deutschland und England hätten die demokratischen Sozialisten allein die Chance, 87
54. 62
Lenin, Staat und Revolution. Dtsch.: Ost-Berlin, 1951, S. 24 u.
marxistische Ideen zu verwirklichen. Harich betonte ganz entschieden: „Für Deutschland lehnen wir den ausschließlichen Führungsanspruch einer kommunistischen Partei beim Aufbau des Sozialismus ab, weil eine derartige sektiererische Konzeption nicht der real existierenden Situation in Deutschland gerecht wird und zum Scheitern verurteilt ist.«— In einer parlamentarischen Demokratie ist es faktisch möglich, daß „eine" Partei im Wahlkampf die absolute Stimmenmehrheit gewinnt. Allein es ist unwahrscheinlich, daß eine „Arbeiterpartei" die Stimmen der „übergroßen Mehrheit des Volkes" auf sich vereinigen kann. Die deutsche Sozialdemokratie z. B. wird nicht nur von der Arbeiterschaft, sondern auch von weiten Kreisen des Mittelstandes, der Angestellten und der Beamten getragen. Daher kann sie praktisch nicht nur Arbeiterinteressen vertreten. Abgesehen davon würde sie aber — und das gilt für alle demokratischen Sozialisten der westlichen Welt — ihre Machtposition nicht dazu ausnutzen, die parlamentarische Demokratie zu beseitigen. Grundsätzlich würde jeder Partei die Chance offen bleiben, zu gegebener Zeit selbst die Führungsmacht zu erlangen. Der legale Weg zur Macht würde also nicht der Weg zu einer (bürgerlichen oder proletarischen) Diktatur sein. Die Spekulation der Kommunisten auf geheime diktatorische Absichten der SPD, der Labour Party und anderer sozialistischer Parteien ist gänzlich irreal.
2. D i e s o z i a l i s t i s c h e
Demokratie
Wie kann man eine Diktatur für eine Demokratie, in gesteigertem Sinne sogar für eine „Volksdemokratie" halten? Die Kommunisten sehen in den Staatsformen der westlichen Welt den mangelhaften Typus einer bloß formalen Demokratie. Eine echte und wahre Demokratie müsse sich auf die Mehrheit des Volkes stützen. Warum soll aber die Diktatur des Proletariats, die doch nur die Interessen der Mehrheit der Ausgebeuteten zum Ausdruck bringt, den „höchsten Typus der Demokratie in der Klassengesellschaft" darstellen? Zu den Ausgebeuteten zählen nach sowjetischer Auffassung außer den Industriearbeitern auch die werktätigen Bauern. Diese sind zwar Privateigentümer von 63
Produktionsmitteln, als Werktätige aber gleichfalls an der Vernichtung des Ausbeuterstaates interessiert. Das Bündnis zwischen Arbeiterklasse und werktätiger Bauernschaft schließt nicht auch die Gleichberechtigung der Klassen in sich. Die führende Kraft dieses Bündnisses ist das Proletariat. Stalin meinte „die Partei des Proletariats, die Partei der Kommunisten, die die Führung mit anderen Parteien nicht teilt und nicht teilen kann 88 ". In den Volksdemokratien ist der Kreis der „Partner" weiter gezogen. In der Volksrepublik China bilden die Arbeiterklasse, die Bauernklasse, die Kleinbourgeoisie und die nationale Bourgeoisie das Volk. Die Intelligenz wird nicht besonders erwähnt. Bei diesen sozialen Gruppen kann es sich doch wohl nicht um ehemals Ausgebeutete handeln. Selbst die Arbeiterklasse ist in ihrer Struktur viel zu differenziert, als daß sie als einheitliche Klasse gelten könnte. Ein Teil der Facharbeiterschaft rechnet sich zum Mittelstand. Von einer Ausbeutung der Mittelklassen kann, wie schon Eduard Bernstein feststellte, keine Rede sein. „Wollte die Arbeiterklasse darauf warten, bis das ,Kapital' die Mittelklassen aus der Welt geschafft hat, so könnte sie wirklich einen langen Schlaf t u n . . . Nicht das ,Kapital', die Arbeiterklasse selbst hat die Mission, die parasitischen Elemente der Wirtschaft aufzufangen 89." Die sozialistische Demokratie (im Sinne des Leninismus) könnte praktisch niemals die Zustimmung der Regierten finden. Ein großer, wenn nicht der größere Teil der Wahlberechtigten, wäre von der Ausübung des Stimmrechts von vornherein ausgeschlossen. Die proletarische Diktatur muß sich daher auf eine Minderheit stüzten. Alle Diktatoren sind ja auch mit Hilfe einer tatkräftigen und oft genug gewalttätigen Minorität zur Macht gekommen. Die Masse des Volkes wird dann so oder so in die Parteilinie gedrängt. Und diese Diktatoren glauben, das Vertrauen des Volkes bzw. der ganzen werktätigen Bevölkerung gewinnen zu können? Worin liegt die Rechtfertigung dieses Glaubens? Worauf stützt sich diese Meinung? Das Argument demokratischer Stimmenmehrheit 88 89
64
Stalin, Fragen des Leninismus. Dtsch.: Ost-Berlin, 1950, S. 144. E. Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus usw., S. 90.
scheidet aus. Selbst wenn die Machthaber durch eine irgendwie gewonnene Majorität zur Herrschaft gekommen sind, können sie es doch nicht wagen, sich von Zeit zu Zeit durch freie Wahlen in ihrer Regierungsgewalt bestätigen zu lassen. Um ihre revolutionären Ziele ververwirklichen zu können, müssen sie sich auf einen unbedingt zuverlässigen Stoßtrupp stützen. In diesem Sinne äußerte sich auch Chruschtschow auf dem X X . Parteitag: „Bei allen Formen des Übergangs zum Sozialismus ist die politische Führung durch die Arbeiterklasse mit ihrem Vortrupp an der Spitze die unerläßliche und entscheidende Bedingung. Ohne dies ist der Übergang zum Sozialismus unmöglich." Die kommunistische Partei führe die werktätigen Massen auf den historisch richtigen Weg. Ihr Wissen um die historischen Notwendigkeiten rechtfertige den Einsatz aller Mittel, um den Auftrag der Geschichte zu erfüllen. Wenn aber sogar Gewaltanwendung, selbst in gigantischem Ausmaß, gerechtfertigt ist, so ist die sozialistische Diktatur, meinte Lenin, doch selbst keine Gewaltherrschaft: „Die ökonomische Grundlage dieser revolutionären Gewalt, die Gewähr für ihre Lebensfähigkeit und ihren Erfolg besteht darin, daß das Proletariat einen im Vergleich zum Kapitalismus höheren Typus der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit repräsentiert und verwirklicht. Das ist der Kern der Sache. Darin liegt die Quelle der Kraft und die Bürgschaft für den unausbleiblichen vollen Sieg des Kommunismus90." Der bürgerliche Staat wird dagegen — ungeachtet seiner Entwicklung zum Rechts- und Sozialstaat — als eine unzeitgemäße, die menschliche Entwicklung hemmende ausbeuterische Institution angesehen und verachtet. Wo aber bleibt da eine sachliche, sich an der gesellschaftlichen Lebenswirklichkeit in Geschichte und Gegenwart orientierende Kritik? Wo die für ein wissenschaftliches Studium notwendige Aufgeschlossenheit für die Mannigfaltigkeit sozialer Erscheinungen? Wenn nur „eine" Staatsform, die proletarische Demokratie bzw. Diktatur geschichtlich richtig und notwendig ist, so ist logischerweise jede andere Staatsform vom Übel und historisch nicht zu rechtfertigen. 90
Lenin, Ausgewählte Werke, Bd. I I , S. 569.
5 Scfaack
65
Haben aber die Marxisten-Leninisten das Recht, sich auf historischökonomische Notwendigkeiten zu berufen? Vielleicht ist eine Diktatur in einer bestimmten Situation, z. B. in Kriegs- und Notzeiten notwendig. Deswegen aber ist sie, gleich welcher Art, nicht allgemein notwendig und nicht prinzipiell der „höchste Typus der gesellschaftlichen Organisation". Im Interesse der Menschen, im Interesse von Person und Gemeinschaft, sollte — bei aller notwendigen gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung — Freiheitlichkeit gewährleistet sein. Man vergesse doch nicht, rief Bernstein vor bald sieben Jahrzehnten seinen marxistischen Genossen zu, daß „der Sozialismus nicht nur der Zeitfolge, sondern auch dem geistigen Gehalt nach" der „legitime Erbe des Liberalismus" ist! „Der Sozialismus will keine neue Gebundenheit irgendwelcher Art schaffen. Das Individuum soll frei sein,... frei von jedem ökonomischen Zwange in seiner Bewegung und Berufswahl. Solche Freiheit ist für alle nur möglich durch das Mittel der Organisation. In diesem Sinne könnte man den Sozialismus auch organisatorischen Liberalismus nennen.. . 9 1 ."
3. D i e s o z i a l i s t i s c h e
Weltpolitik
Wenn die marxistische Doktrin richtig ist, muß auch die in ihrem Sinne angelegte und durchgeführte Politik richtig sein. Jede andere Politik, wo und wann sie betrieben werden mag, ist dann nicht nur verkehrt, sondern auf die Dauer auch zur Ohnmacht verurteilt. So statuiert der orthodoxe Marxismus von vornherein einen unaufhebbaren Gegensatz zu allen anders denkenden und handelnden Staaten und Regierungen. Die Welt ist in zwei feindliche Blöcke gespalten. Der ideologische und machtpolitische Gegensatz wirkt sich unmittelbar auch wirtschaftlich aus. Die Teilung der Weltwirtschaft wiederum verschärft die politischen Gegensätze noch mehr. Die Kommunistische Partei Jugoslawiens äußerte (auf dem V I I . Parteikongreß in Laibach April 1958) ihre Beunruhigung und Bestürzung über diese gefährliche weltpolitische Situation. Die Teilung der Welt in Blöcke führe zu gegenseitiger Unkenntnis, zu Mißtrauen und Unduldsamkeit, hemme 91
66
Bernstein, a. a. O. S. 184 u. 188.
eine breite kulturelle Zusammenarbeit und widerspreche der nationalen Unabhängigkeit und Souveränität der Völker und Staaten. Das sozialistische Jugoslawien widersetze sich der Aufteilung der Welt in Blöcke „aus zutiefst grundsätzlichen Erwägungen". „Denn eine solche Politik verhindert die allseitige und freie Herstellung politischer, wirtschaftlicher und kultureller Beziehungen zwischen den Völkern und hemmt dadurch den Prozeß der Einigung der Welt und den gesellschaftlichen Fortschritt der Menschheit." Jede Gewaltherrschaft führt innen- und außenpolitisch Konflikte herauf. Nichtsdestoweniger verteidigt auch Tito seine Diktatur. Allerdings in einem besonderen Sinne. Wie er in einem Belgrader Interview im Mai 1957 erklärte, habe seine Diktatur tatsächlich und ehrlich nur den Zweck, die Macht in den Händen des Volkes zu sichern. Die Diktatur des Proletariats sei keine Diktatur der Gewalt, sondern müsse bestrebt sein, „die wirklichen Belange des Volkes zu unterstützen und sich vom Humanismus durchdringen zu lassen". Setzen wir hierzu in Parallele die von der Idee der Menschlichkeit getragenen Äußerungen Gomulkas in seiner Oktober-Rede (1955), so scheinen starke Kräfte lebendig zu sein, den Marxismus-Leninismus zu einem humanitären Sozialismus zu gestalten. Nach dem X X . Parteitag durfte man diese Hoffnung sehr begründet hegen. Damals sagte Chruschtschow: „Die Willkür Stalins zeigte sich nicht nur in seinen Entscheidungen zu innenpolitischen Fragen, sondern auch in den Beziehungen der Sowjetunion zum Ausland . . . Stalin hatte völlig den Sinn für die Realitäten verloren. Er demonstrierte sein Mißtrauen und seine Arroganz nicht nur in den Beziehungen zu einzelnen Menschen hier in der Sowjetunion, sondern auch in den Beziehungen zu ganzen Parteien und Staaten." Auf Grund dieser und anderer Äußerungen glaubte Gomulka mit Chrutschschow einig zu sein, wenn er von der Notwendigkeit freundschaftlicher Zusammenarbeit zwischen den sozialistischen Ländern auf der Grundlage „völliger Unabhängigkeit und Gleichberechtigung" sprach. Stalin habe diese Grundsätze zwar offiziell anerkannt, sich in der Praxis aber keinesfalls danach gerichtet. Alle kommunistischen Parteiführer wünschen eine Humanisierung und Normalisierung menschlichen Zusammenlebens. Mit Gomulka hat 5*
67
sich Tito ausdrücklich zu einem humanitären Sozialismus bekannt. In dem erwähnten Interview sagte er: „Die sozialistische Gesellschaft muß für den Menschen geschaffen werden, nicht für etwas Abstraktes. Läßt man den Menschen außer acht, dann läßt man das Wesentliche des Sozialismus außer acht. Denn man darf nicht vergessen, daß das Wesentliche des Sozialismus der Humanismus sein soll." Sind die Grundsätze der Menschlichkeit, der persönlichen Freiheit und der sozialen Gerechtigkeit aber auch praktisch-politische Leitideen geworden? Sind Tito und Gomulka wirklich den Weg eines humanitären Sozialismus gegangen? Auch Mao Tse-tung hatte in seiner Februar-Rede (1957) von Menschlichkeit und Freiheit gesprochen. Hat er aber sein Versprechen erfüllt, daß in Zukunft „keine Methoden der Unterdrückung" angewandt werden sollen und niemand gehindert werden darf, seine Meinung zu äußern? Oft wird Marx zitiert: „Ein Ziel, das ungerechte Mittel verlangt, ist kein gerechtes Ziel." Sind Unterdrückung und Gewalt gerechte Mittel? Lenin sagte in seiner Rede über den Frieden am 26.10.1917 mit großem Nachdruck: „Wenn irgendeine Nation mit Gewalt in den Grenzen eines gegebenen Staates festgehalten wird, wenn dieser Nation entgegen ihrem zum Ausdruck gebrachten Wunsche — gleichviel, ob dieser Wunsch in der Presse oder in Volksversammlungen, in Beschlüssen der Parteien oder in Empörungen und Aufständen gegen die nationale Unterdrückung geäußert wurde — das Recht vorenthalten wird, nach vollständiger Zurückziehung der Truppen der die Angliederung vornehmenden oder überhaupt der stärkeren Nation, in freier Abstimmung über die Formen ihrer staatlichen Existenz, ohne den mindesten Zwang, selbst zu entscheiden, so ist solche Angliederung eine Annexion, das heißt, eine Eroberung und Vergewaltigung." Hat Lenin selbst nach diesem Grundsatz gehandelt? Keineswegs! Allenthalben divergieren Wort und Tat!
Zweiter Teil
DIE ANZIEHUNGSKRAFT DES MARXISMUS-LENINISMUS V. Die Anziehungskraft der Ideologie Die Anziehungskraft des (durch Partei und Staat statuierten) Marxismus ist vielschichtiger Art. Sie zeigt sich in ideologischer, wie in mannigfacher politischer Hinsicht. Intellektuelle werden durch die philosophischen und theoretischen Probleme, die Massen durch die praktisch-politischen Erfolge der kommunistischen Bewegung und das Zukunftsbild einer freien und gerechten Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung angezogen. Wer sich unbefangen und intensiv mit dem Wesen und der Entwicklung des Marxismus beschäftigt, findet immer wieder neue und interessante Aspekte. So sehr der Marxismus eine Zeiterscheinung ist und sich aus bestimmten historisch-ökonomischen Verhältnissen herleitet, so ist und bleibt er doch in gewisser Beziehung aktuell und attraktiv. Denn er ist Wortführer menschlicher Grundforderungen, Anwalt moderner Interessen und im Aufbau einer neuen sozialistischen Gesellschafts-, Staats- und Wirtschaftsordnung beispielhaft und vorbildlich für alle, die gleiche Interessen haben und gleichen Sinnes sind. Die im Marxismus liegende Überzeugungskraft hat ihm seine Chancen in der Vergangenheit gegeben und sichert sie ihm in bestimmtem Umfange auch für die Zukunft. Wo liegen sie im einzelnen? 1. D i e
Sozialkritik
Karl Marx hat zeitlebens eine vernichtende Kritik an der Entartung der bürgerlichen Gesellschaft geübt und hierfür das offene Ohr aller Bedrängten, Unterdrückten und Ausgebeuteten gefunden. Die Gesellschafts- und Kulturkritik der vierziger Jahre ist in vielerlei Hinsicht 69
auch heute noch zutreffend. Die angegriffenen Gegner und Feinde haben freilich ihr Gewand gewechselt und sind in den Hintergrund des ökonomischen und politischen Geschehens gedrängt worden. Aber man findet sie noch und zuweilen sogar in beängstigender Menge. Gegenstand der marxistischen Kritik ist der Privategoismus der bürgerlichen Gesellschaft mit all seinen häßlichen politischen, ökonomischen und sozialen Erscheinungsformen. Die Bourgeoisie hatte sich von vielerlei Bevormundungen durch den absoluten Fürstenstaat und die feudale, lehensherrschaftliche Gewalt emanzipiert 92. Doch das zu politischer und ökonomischer Macht gekommene Bürgertum zeigte, schließlich saturiert, wenig Interesse mehr an den öffentlichen Angelegenheiten. Wo immer es ging, suchte man den eigenen Vorteil wahrzunehmen und sein Recht auf Eigentum rücksichtslos auszunutzen. „Die Konstitution des politischen Staats und die Auflösung der bürgerlichen Gesellschaft in die unabhängigen Individuen — deren Verhältnis das Recht ist, wie das Verhältnis des Standes- und Innungsmenschen das Privilegium war — vollzieht sich in einem und demselben Akte." Die nur auf Profit, auf Gewinnmaximierung bedachte Bourgeoisie sei in ihrer christlichen wie jüdischen Art eine verächtliche Klasse. Sie kenne nur Geschäftemacherei und Schacher. „Welches ist der weltliche Grund des Judentums? Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz. Welches ist der weltliche Kultus des Juden? Der Schacher. Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld." Marx fährt fort: „Wir erkennen also im Judentum ein allgemeines gegenwärtiges antisoziales Element, welches durch die geschichtliche Entwicklung, an welcher die Juden in dieser schlechten Beziehung eifrig mitgearbeitet, auf seine jetzige Höhe getrieben wurde 93 ." Judentum und Christenheit hätten sich in der bürgerlichen Gesellschaft in ihrem weltlichen, 92
„Alle Emanzipation", schrieb Marx in seinem Aufsatz „Zur Judenfrage" (1844), ist Zurückführung der menschlichen Welt, der Verhältnisse, auf den Menschen selbst." In: Die heilige Familie und andere Frühschriften von Marx und Engels, S. 56. — Zum marxistischen Problem der Emanzipation und Freiheit vgl. Roger Garaudy, Liberté (1955). Dtsch.: Die Freiheit als philosophische und historische Kategorie. Ost-Berlin, 1957. 03 a. a. O. S. 60. 70
materialistischen Verhalten wechselseitig angezogen und gefördert. „Das Judentum hat sich nicht trotz der Geschichte, sondern durch die Geschichte erhalten. Aus ihren eigenen Eingeweiden erzeugt die bürgerliche Gesellschaft fortwährend den Juden94." Daher ist „der praktische Judengeist zum praktischen Geist der christlichen Völker geworden« 95. Würde sich der Jude „aus seiner bisherigen Entwicklung" herausarbeiten, so würde er sich „gegen den höchsten praktischen Ausdrude der menschlichen Selbstentfremdung" kehren. Er würde damit „an der menschlichen Emanzipation schlechthin" arbeiten 98. An dieser zeitgenössischen Kritik interessiert außer der Verurteilung gesellschaftlicher Entartungserscheinungen die dahinterstehende Idee der Menschlichkeit. Die Bourgeoisie sei eine revolutionäre Klasse gewesen und habe großartige Leistungen vollbracht. Aber sie habe ihre Freiheit egoistisch mißbraucht. Die Proklamation der allgemeinen, ewigen und unveräußerlichen Rechte auf Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit sei eine Phrase geworden. Der gleiche Anwurf gilt heute den „Kapitalisten" und „Imperialisten". Die Methoden der Ausbeutung hätten sich nicht geändert, diese selbst aber sei geblieben. Der Kapitalismus sei unmenschlich. Was heißt nun aber „menschlich"? Wie ist das Menschenbild?
2. D e r h u m a n i t ä r e
Sozialismus
Der Mensch ist ein „Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse", heißt es in den Thesen über Ludwig Feuerbach (1845). Der Einzelne, an sich betrachtet, sei ein Abstraktum. Er gehöre in Wirklichkeit stets einer Gruppe, einer Gemeinschaft, einer Gesellschaft an. Daher könne er sich auch nur mit seinesgleichen und im Ganzen einer gesellschaftlichen Ordnung entwickeln und entfalten. Da die Gemeinschaft, welcher Art auch immer, dem einzelnen vorgeordnet sei, so ist sie es auch, die ihn in jeder Hinsicht verpflichtet. Als 94 95 96
a.a.O.S. 62. a.a.O. S. 60. a.a.O.S. 60. 71
Parteigenosse hat er der Partei, als Staatsbürger dem Staat, als Sozialist dem sozialistischen Aufbau zu dienen. Nur in solchem Dienst verwirklicht und erfüllt sich das individuelle und private Leben. Die interessierte und tätige Teilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten ist daher das erste Gebot in der sozialistisch-kommunistischen Gesellschaft. Jedermann sollte wissen, daß alles, was der Partei und der Allgemeinheit dient, auch dem einzelnen von Nutzen ist. Die geschichtliche Entwicklung treibt auf eine völlige Übereinstimmung der individuellen und gesellschaftlichen Interessen zu. Dieser Prozeß ist in der „Gesetzmäßigkeit des Sozialismus" begründet. Die sich heute in den sozialistisch-kommunistischen Ländern anbahnende Übereinstimmung sollte — auch subjektiv — „zum selbsterrungenen Lebensinhalt" des einzelnen werden. Der Mensch sei aber nicht nur Glied einer konkreten Gemeinschaft, sondern darüber hinaus Mensch unter Menschen. In der allgemeinen Natur des Menschen seien die besonderen Unterschiede völkischer, nationaler, rassischer Art aufgehoben und gleichsam ausgelöscht. Die gleiche Menschennatur verpflichte den einzelnen wie die Gemeinschaft, jedem die gleichen Rechte zuzugestehen. So sei mit Recht von den ewigen und unveräußerlichen Menschenrechten gesprochen worden. Die „Deklaration der Menschenrechte" sei jedoch, wie gesagt, eine Phrase geblieben. Die Bourgeoisie habe die Rechte einseitig für sich in Anspruch genommen. Sie sei an den öffentlichen Angelegenheiten nicht mehr interessiert, nachdem der Staat die bürgerlichen Freiheiten gewährleistet habe. Was bleibe von dem eigentlichen Menschen? Nichts! Wie könnte er wieder „Mensch" werden? „Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen Gattungswesen geworden ist; erst wenn der Mensch seine „forces propres" als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht 97." — 97
72
a.a.O.S.57.
In den westlichen Demokratien ist der Sinn für öffentliche Angelegenheiten bisweilen nicht ausgeprägt. Scheinen die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse gesichert und stabil zu sein, so ist das Interesse an der Politik nicht gerade bedeutend. Verantwortungsbewußte Staatsbürger dürften daher mit der marxistischen Idee der Gemeinverantwortlichkeit des einzelnen und seines Dienstes an der Öffentlichkeit, an Partei und Staat, sympathisieren. Der Gedanke, jede Arbeit, jede private und berufliche Tätigkeit im Grunde als öffentlichen Dienst aufzufassen, spricht an. Das Privateinkommen müßte folgerecht als staatliche Honorierung des Dienstes an der Allgemeinheit gelten. In der westdeutschen Landwirtschaft scheint man hier und da geneigt zu sein, solchen Gedanken stattzugeben. Die Ernährungswirtschaft sei anders zu beurteilen als Industrie und Handel. Ein im Herbst 1964 auf einer Tagung der hessischen „Arbeitsgemeinschaft zur Verbesserung der Agrarstruktur" gehaltener Vortrag betitelte sich „Agrarpolitik ist Gesellschaftspolitik" 98. Der Referent (im öffentlichen Dienst) sagte: „Um der Wahrheit willen müssen wir uns abgewöhnen, von Subventionen für die Landwirtschaft zu sprechen. Um der Wahrheit willen müssen wir uns abgewöhnen, in der Landwirtschaft nur ein nach privatwirtschaftlichen Grundsätzen zu betreibendes Gewerbe zu sehen. Vielmehr erfüllt die Landwirtschaft Aufgaben, die im öffentlichen Interesse, im Interesse der Gesellschaft liegen, und daher ist die Landwirtschaft in diesem Zusammenhang ein öffentlicher Dienst; für diese Dienstleistung wird die Landwirtschaft honoriert, entlohnt und bezahlt, und zwar aus dem öffentlichen Haushalt, wie die Lehrer oder die Bundeswehr oder die Straßenbauwirtschaft." Und weiter: „Eine Gesellschaft, die den Überfluß haben will, muß das Einkommen der Bauern unabhängig vom Marktpreis machen." Solange eine Einkommensdisparität zwischen Land und Stadt bestehe, sollte den Bauern als Ausgleich vom Staat (nach Maßgabe der Wohlfahrtswirkungen der Landwirtschaft) ein Wohlfahrtshonorar gezahlt werden. Wie der Idee der Sozietät, der Gemeinverantwortlichkeit und des öffentlichen Dienstes weithin Sympathien begegnen, so gilt das gleiche 98
Vgl. Fritz Hauenstein, Landwirtschaft als Staatsdienst? FAZ v. 18. 8. 1964. 73
und erst recht von der Idee der Humanität. Die ehemaligen Kolonialmächte haben freilich keinen guten Stand, wenn sie meinen, vor allem berufen zu sein, die allgemeinen Menschenrechte vertreten zu können. Haben sie doch Jahrhunderte hindurch diese Rechte mißachtet und sogar die Sklaverei geduldet und gefördert. Selbst die Vereinigten Staaten haben sich durch die Rassendiskriminierung moralisch verdächtig gemacht. So ist es verständlich, daß man in den Entwicklungsländern lieber auf Moskau und Peking hört als auf Washington, London und Paris. Dabei wird freilich übersehen, daß sich bisher kein kommunistisches Regime an die Grundsätze der allgeminen Menschenrechte gehalten hat.
3. D i e m o d e r n e
Weltanschauung
Der Marxismus ist eine Erscheinungsform modernen Denkens und wird daher schon aus diesem Grunde attraktiv. Modern denken heißt zunächst praktisch denken. Seit Marx in den Thesen über Feuerbach nachdrücklich auf die gesellschaftliche Lebenspraxis als Ausgangspunkt und Orientierungsgrundlage der Lebenserfahrung und zugleich als Zielrichtung aller gesellschaftlichen Tätigkeit hingewiesen hat, gehört diese Art von „Pragmatismus" zum prinzipiellen Gedankengut des Marxismus-Leninismus. In einem spezifischen Sinne modern denken heißt vor allem aber auch wissenschaftlich, technisch und ökonomisch denken. Der moderne Mensch hat durch Naturwissenschaft und Technik eine bis dahin ungeahnte Macht über Raum und Zeit erlangt. In West und Ost bedient man sich der gleichen exakten Methoden, die Natur zu erforschen. Biologen, Biochemiker, Biophysiker und Physiologen bemühen sich um die Enthüllung der letzten Rätsel des Lebens und um eine planmäßige Beeeinflussung der Lebensvorgänge. Die Entstehung der Organismen aller Art wird der Experimentalanalyse unterworfen und eine »Ingenieurstechnik der Entwicklung" vorbereitet. Die übliche Art der menschlichen Fortpflanzung erscheint als unrationell und rückständig. Auf einer Tagung von Biologen in London sagte der junge Nobelpreisträger Joshua Lederberg: „Selbst wenn diese Übel erträglich oder 74
neutralisiert wären, verschwenden wir nicht sündhaft einen Schatz des Wissens, indem wir die schöpferischen Möglichkeiten einer genetischen Verbesserung außer acht lassen?" „Mein erster Schluß ist, daß die Technologie der menschlichen Vererbung erbärmlich plump ist, selbst wenn man sie an den Standards der praktischen Landwirtschaft mißt. Sicher können wir hoffen, daß wir in wenigen Generationen Tricks lernen werden, die uns einen unmeßbaren Vorteil verschaffen 99." Der Mensch ein Produkt von Laboratoriumskulturen und Objekt einer langfristig geplanten Eugenik — dieser Gedanke fasziniert die rationalistisch denkenden Biologen nicht nur in der westlichen Welt. Selbstverständlich sind die Vertreter eines naturphilosophischen Materialismus, wie der sowjetische Physiologe J. P. Pawlow und seine Schüler, ebenso und mehr noch bestrebt, die Genetik als ein Instrument der Menschenverbesserung zu entwickeln100. Sind dem modernen Techniker noch Grenzen gesetzt? „ . . . Der Mensch kann Ströme lenken, Meere spalten, kann ganze Berge heben und versetzen, kann Sümpfe trocknen und kann Wüsten netzen, kann Raum und Zeit nach seinem Traum gestalten. Das kann der Mensch, wenn er zum Menschen fand und sich zum großen Kollektiv verbunden . . ( M a x Zimmerung, „Die große K r a f t " 1 0 1 )
Die Menschen sind heute im Gegensatz zum Mittelalter diesseitig eingestellt. Sie haben zum großen Teil weder Sinn noch Zeit, sich mit überweltlichen Fragen zu beschäftigen. „Das Jenseits ist zu einem so verschwindend kleinen Punkt zusammengeschrumpft und so massiv 99
Vgl. „Christ und Welt" v. 16. 6.1964. Vgl. J. W. Schorochowa, Die Bedeutung der Lehre Pawlows für die atheistische Weltanschauung. Dtsch.: Ost-Berlin, 1956, S. 31 ff. 101 Ernst Pfeffer, Deutsche Lyrik unter dem Sowjetstern, Frankfurt a. M., Berlin, Bonn, 1961, S. 46. 100
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vom Erleben des Diesseits zugedeckt worden, daß es im Bewußtsein des modernen Menschen vielfach nur noch eine imaginäre, märchenhafte Größe geblieben ist. Die Welt hat es in sich aufgesaugt, und vor allem darin unterscheidet sich das Bewußtsein unseres Zeitalters von früheren Epochen102." Das moderne Denken setzt bei einer „neuen und eigenen Welterfahrung" ein und gerät von hier aus zunächst in einen sich verschärfenden Gegensatz zu der kirchlichen Offenbarungsreligion. In dieser Situation befindet sich auch der Marxismus 103. Die sinnliche Wirklichkeit, sichtbar, hörbar, spürbar, meßbar, gilt als die einzig aufweisbare Realität. Vorstellungen von einem Jenseits und einer Überwelt sind Phantasien. Sie seien nur geeignet, die Menschen zu beunruhigen. Allerdings nur diejenigen, die der suggestiven Himmelsmacht am leichtesten verfallen: die Armen und Elenden. Diese hörten auf die Stellvertreter göttlicher Herrschaft, die Priester und Propheten, und folgten ihrer Verheißung: Lenket eure Augen auf eine himmlische Welt, in der ihr für die auf Erden erlittene Not reichlich belohnt werdet! So gesehen sind die bekannten Worte von Marx verständlich: Religion ist Opium des Volkes 104 . Werden die Massen auf ein Jenseits vertröstet, damit sie sich im Diesseits Sklaverei, Ausbeutung und Ungerechtigkeit aller Art gefallen lassen, dann können sie, ihrer Lage bewußt geworden, mit Recht dagegen rebellieren. Der Marxismus ist eine antireligiöse und in seinem Kern atheistische Bewegung. Nach der Uberzeugung von Marx, Engels, Lenin usw. gibt es eine Religion nur in der Ausbeutergesellschaft. Denn nur 102
E. Stemmler, Religion ohne Antwort. Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 20. 6. 1964. 103 Aus der Fülle der marxistischen Literatur zur Frage der Religion vgl. M. P. Baskin, Materialismus und Religion. Dtsch.: Ost-Berlin 1957. G. A. Gurjew, Wissenschaftliche Voraussicht — religiöses Vorurteil. Dtsch.: Ost-Berlin, 1956. Hermann Scheler, Die Stellung des Marxismus-Leninismus zur Religion, Ost-Berlin, 1957. 104 „Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks." Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, 1844. 76
hier können die unaufgeklärten Massen religiösem Aberglauben erliegen. „Mit der Verwirklichung des Sozialismus und des Kommunismus verliert die Religion ihre soziale Basis (die Ausbeutung) und wird im Prozeß der Entwicklung schließlich ganz aus den Köpfen der Menschen entschwinden, um der wissenschaftlichen Wahrheit und dem Geist der Humanität Platz zu machen105." Die Ablehnung der Religion erscheint als die selbstverständliche Konsequenz einer rein empirischen, auf äußerer Erfahrung beruhenden, einzelwissenschaftlichen Erkenntnis. Gleichgültigkeit gegenüber der Religion oder gar ein erklärter Atheismus werden daher oft als Zeichen der Aufgeklärtheit und Fortschrittlichkeit angesehen. Dabei bleibt freilich offen, ob man das Wesen der Religion verstanden hat. Kirchliche und konfessionelle Ausdrucks- und Erscheinungsformen können sehr wohl Entartungen religiöser Glaubensüberzeugung sein. Im übrigen hat es noch nie Menschen ohne Glauben gegeben. Glaubt man nicht an Gott, so glaubt man an die Natur oder an die Menschheit oder an den Sozialismus oder an die klassenlose Gesellschaft.
4. Der s o z i a l i s t i s c h e
Realismus
(Die marxistische Ästhetik) Der Marxismus übt nicht zuletzt auch eine gewisse Anziehungskraft durch seine Kunstanschauung aus. Auch in dieser Beziehung ist er „modern". Die moderne Kunst will nicht abbilden, wie es z. B. durch 105 Mitteldeutscher „Wegweiser zum Atheismus", 1960. Vgl. Hans-Gerhard Koch, Neue Erde ohne Himmel. Der Kampf des Atheismus gegen das Christentum in der „ D D R " — Modell einer weltweiten Auseinandersetzung. Stuttgart, 1963. — Jean-Yves Calvez versteht den Marxismus (in seinem Buch „La Pensée de Karl Marx", Paris, 1956) als säkularisiertes Christentum. Sündenfall, Erbsünde, Heilsoffenbarung, Kampf mit den bösen Mächten, Erlösung, Frieden, eine neue Zeit und eine neue Erde —, diese christlichen Gedanken seien die Leitideen eines prometheischen, atheistischen Humanismus geworden. — Der Titel der deutschen Übersetzung: Karl Marx. Darstellung und Kritik seines Denkens, Freiburg i.B., 1964, Stuttgart, 1964.
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eine genaue malerische Wiedergabe bestimmter Einzelheiten geschehen ist. Sie will die Welt so darstellen wie sie uns, insonderheit dem Künstler, erscheint. Dieses kann in einer gegenständlichen oder ungegenständlichen (abstrakten) Darstellung erfolgen. Dabei macht es einen Unterschied, ob der Künstler den Eindruck der von ihm bezeichneten Gegenstandswelt vermitteln oder durch seine Darstellung (des Gegenständlichen oder Ungegenständlichen) Wesentliches zum Ausdruck bringen will. Dieses Wesentliche kann Vergangenes, Kommendes oder Unter- und Hintergründiges sein. Der sozialistische Realismus ist der künstlerische Ausdruck einer gegenständlichen, in die Zukunft weisenden optimistischen Lebens- und Weltbetrachtung. Infolgedessen wird eine auf die Vergangenheit bezogene, Vergangenheit verherrlichende, sowie eine die Gegenwart verklärende, romantisierende Kunst abgelehnt. Die marxistische Kunstauffassung basiert auf der Geschichtstheorie. „Die marxistische Geschichtstheorie, als die umfassende Lehre vom notwendigen Weg der Menschheit bis zum heutigen Tag, als die Lehre von der Perspektive der Zukunft, ist ein geschichtlicher Wegweiser. Aber dieses Wegweisen, das sich aus der Erkenntnis der Gesetzmäßigkeit ergibt, bedeutet bezüglich der einzelnen Erscheinungen, der einzelnen Etappen, durchaus keine Sammlung von Rezeptvorschriften; der Marxismus ist kein Bädeker der Geschichte, sondern ein Aufzeigen des geschichtlichen Entwicklungsweges108." Den bürgerlichen Denkern und Künstlern fehle grundsätzlich diese Orientierung an der Geschichte. Eine Ausnahme bildeten große Philosophen und Dichter, welche intuitiv das Wesen geschichtlicher Realitäten erfaßten. Daher sei es „kein Zufall, daß die großen Marxisten auch in der Ästhetik Anhänger des klassischen Erbes sind" 107 . Georg Lukics, der hervorragendste marxistische Ästhetiker, zitiert als „große Realisten" unter den Dichtern der Vergangenheit Shakespeare, Goethe, Scott, Balzac, Stendhal, Tschechow, Tolstoi und Thomas Mann. „Realisten wie 106
Georg Lukäcs, Balzac und der französische Realismus (1951). Schriften zur Literatursoziologie. Soziologische Texte, Bd. 9, Neuwied, 1961, S. 242. 107 a.a.O.S.243. 78
Balzac, Stendhal oder Tolstoi gehen in ihren letzten Fragestellungen immer von den größten aktuellen Problemen des Volkslebens aus, ihr schriftstellerisches Pathos wird immer von den aktuell schmerzlichsten Leiden des Volkes durchglüht, diese bestimmen den Gegenstand und die Richtung ihrer Liebe und ihres Hasses und durch diese hindurch: was sie in ihrer dichterischen Vision sehen und wie sie es sehen." In den Gestalten ihrer Dichtungen findet „das eigene Verwachsen-Sein mit den großen Problemen der Zeit" einen „adäquaten Ausdruck". „Niemand hat jene Qualen, die der Ubergang zur kapitalistischen Produktion für alle Schichten des Volkes hervorruft, jene tiefe seelische und moralische Degradierung, die diese Entwicklung in allen Schichten der Gesellschaft notwendig begleitet, so tief durchlebt wie Balzac. Doch gleichzeitig durchlebte Balzac nicht nur die gesellschaftliche Notwendigkeit dieses Umbruchs, sondern auch die geschichtliche Wahrheit seines — letzten Endes — progressiven Wesens108." In den großen Werken der griechischen und der klassischen bürgerlichen Literatur „verflechten sich großer Realismus und volkstümlicher Humanismus zu einer organischen Einheit". Allen großen Realisten der Vergangenheit ist gemeinsam: „die Verwurzelung in dem großen Problem ihrer Zeit und die unbarmherzige Gestaltung des wahren Wesens der Wirklichkeit 109 ." Die zentrale ästhetische Frage des Realismus ist nach Lukacs die „aquädate künstlerische Darstellung des ganzen Menschen". „Nur wenn sich uns der ganze Mensch als vor der Menschheit stehende gesellschaftliche und geschichtliche Aufgabe eröffnet, nur wenn wir den Beruf der Kunst darin sehen, die wichtigsten Wendepunkte dieses Prozesses mit dem Reichtum der in ihr wirksam werdenden Momente klarzustellen, nur wenn die Ästhetik der Kunst die Aufgabe anweist, den Weg der Menschheit aufzudecken und zu deuten, nur dann kann der Lebensinhalt in wichtigere und wesenlosere Momente geordnet werden, in solche, die den Typus und den Weg beleuchten, und in solche, die notwendig im Dunkel bleiben 110 ." Solch ein umfassendes Verständnis geschichtlicher Realitäten, überhaupt eine in die Zukunft wei108 109 110
a. a. O. S. 251. a.a.O. S. 252. a.a.O.S. 245/246. 79
sende künstlerische Darstellung sei freilich nur dem marxistisch denkenden und künstlerisch gestaltenden Menschen möglich. In den wirklichen Handlungen der Menschen finde sich immer ein gewisses Überströmen, in die Zukunft Strebendes. Auf diese Perspektive komme es an. Sie macht das aus, was den sozialistischen Realismus vor allem kennzeichnet. Perspektive ist nicht Utopie; „sie ist die notwendige Konsequenz einer objektiven gesellschaftlichen Entwicklung." „Sie ist Perspektive dadurch, daß sie noch nicht Realität ist; es ist aber die Tendenz in der Wirklichkeit zur Verwirklichung dieser Realität durch Taten und durch Handlungen, durch Gedanken bestimmter Menschen, in welchen sich eine große gesellschaftliche Tendenz ausspricht, — eine Tendenz, die sich auf verschlungenen Wegen verwirklicht, vielleicht ganz anders, als wir uns das vorstellen 111 ." Der welthistorische Optimismus, wie er dem Marxismus zu eigen ist, schließt die Darstellung persönlicher Tragödien nicht aus. Im Gegenteil! Die Kunst ist nur dann etwas wert, betont Lukacs, „wenn sie jeweils einen wirklichen Schritt der Bewegung in Gestalt übersetzt. Wird in der Literatur nur eine programmatische Forderung als Wirklichkeit dargestellt . . . , so gehen wir an der wirklichen Aufgabe der Literatur vollständig vorbei" 112 . Lukacs verurteilt daher auch mit guten, sich auf den Marxismus stützenden Gründen die massenhaft erschienene propagandistische Literatur, welche die Dinge allzusehr vereinfacht, die Schwierigkeiten des sozialistischen Aufbaues sehr unterschätzt und die Resultate weit überschätzt. Ein Schriftsteller müsse imstande sein, alle Gestalten und alle Situationen im Sinne der historischen Dialektik, d. h. auch im Hinblick auf die mannigfachen Umwege, Rückschläge, Komplikationen und Konflikte darzustellen. Die Forderungen des marxistischen Ästhetikers dürften nicht nur im sozialistischen Lager gehört werden. Auch in der westlichen Welt hätte man Grund, sie zu durchdenken. Gibt es doch auch hier eine Literatur, 111
G. Lukacs, Referat auf dem IV. Deutschen Schriftstellerkongreß am 11.1.1956. Schriften zur Literatursoziologie, S. 254. 112 a. a. O. S. 258. — Zur Kritik an Lukacs (von marxistischdogmatischer Seite her): Georg Lukacs und der Revisionismus. Eine Sammlung von Aufsätzen, hrsg. v. Hans Koch, Ost-Berlin, 1960. — Vgl. meine Stellungnahme im folgenden S. 106 ff. 80
die an der Lebenswirklichkeit vorbeigeht, sei es, daß sie Ärmlichkeit und Elend oder Schwelgerei und Wollust, sei es, daß sie Verinnerlichung oder Veräußerlichung seltsam überbetont. So aber wird das Wirkliche verzerrt und hoffnungslos dargestellt. VI. Die Anziehungskraft der kommunistischen Bewegung 1. D i e B i l d u n g s a r b e i t Der Weg der äußeren und inneren Befreiung des Menschen ist nach marxistischer Auffassung geschichtlich bestimmt und vorgezeichnet. Er führt über eine fortschreitende Rationalisierung der Produktionsmittel und gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse zur schließlichen Beseitigung des unzweckmäßigen, ungerechten Privateigentums an Produktionsmitteln und zum Aufbau der sozialistischen Leistungswirtschaft. Hier faßt der Staat im Sinne des Parteiwillens die gesamten Produktivkräfte zusammen, um sie planmäßig auf bestimmte Schwerpunkte zu konzentrieren. Die Partei- und Volksgenossen werden dabei zu strenger Arbeitsdisziplin, zu Sorgfalt und Verantwortlichkeit in all ihrem (öffentlich kontrollierten) Tun angehalten113. Der in die sozialistische Gesellschaftsordnung hineinwachsende Mensch sollte schon so früh wie möglich Kontakt mit der gesellschaftlichen und technischen Umwelt gewinnen und zu praktischem und rationalem Denken erzogen werden 114. Diesen Zwecken dient der polytechnische Unterricht 115 . Es sei wichtig, junge Menschen mit der Technisierung, Mechanisierung und Automatisierung vertraut zu machen. In Mitteldeutschland werden schon Kinder in sogenannte Pionierzirkel gebracht. Größere Jungen betätigen sich in polytechnischen Zirkeln mit attraktiven Namen, wie „Junge Modellbauer", 113 Vgl. Jakob Hommes, Der technische Eros. Das Wesen der materialistischen Gesellschaftsauffassung. Freiburg, 1955. 114 Vgl. Macharenko, Ausgewählte pädagogische Schriften. Dtsch.: Ost-Berlin, 1953. 115 Der Gedanke einer polytechnischen Volkserziehung stammt aus der Zeit der Aufklärung. Nach der Französischen Revolution wurde in Paris (1794) eine Zentralschule für gesellschaftliche Arbeiten gegründet, welche 1795 den Namen école polytechnic erhielt. 6 Schack
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„Junge Radiotechniker" usw. Später werden sie von der Gesellschaft für Sport und Technik zur vormilitärischen Ausbildung übernommen. In der „sozialistischen Gemeinschaftsarbeit" lerne jeder sich dem anderen anpassen und dem Ganzen ein- und unterordnen. So werde er fungibel und disponibel für jede gesellschaftlich notwendige Arbeit. Nach marxistischer Auffassung bilden Wirtschaft, Politik und Ideologie eine organische Einheit. Durch die Werktätigkeit kommt der einzelne sonach auch in ein positives Verhältnis zu Partei und Staat. Denn beide, so erfährt er es täglich, geben jeder Ordnung und Einrichtung ihren Halt. Die kommunistischen Erziehungsmethoden und Bildungseinrichtungen werden in der westlichen Welt aufmerksam verfolgt und beachtet. Die verschiedenen Formen polytechnischer Erziehung sind zwar keine Errungenschaften der sowjetischen bzw. sowjetzonalen Pädagogik. Denn die industrielle Entwicklung führt allenthalben zu einer Anpassung des Bildungs- und Erziehungswesens an die veränderten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse. Man denke an die „Technical Education", die „Secondary Education for All", an die deutschen Arbeitsgemeinschaften „Wirtschaft und Schule" u. a. m. Eugen Lemberg hat insofern recht: „Die großen Probleme der Planung und des Aufbaus des Bildungswesens, der Ausbildung eines hinreichend geschulten Nachwuchses für die in der industriellen Gesellschaft notwendigen Funktionen sind für Ost und West die gleichen116." Die marxistischen Erziehungssysteme verfolgen aber weiterreichende, durch Partei, Staat und Wirtschaftsplanung geforderte Ziele. Der ideologische Zweck der „Erziehung zur Arbeit" ist die Schaffung eines neuen, sozialistisch-kollektivistischen Menschen. Diesem Ziel und darüber hinaus der weltrevolutionären Bewegung dient in zunehmendem Maße auch der Leistungssport. Körperliches Training ist das erste Gebot des vorbildlich aufgebauten sowjetischen 116
Vgl. hierzu Horst D. Wittig, Pläne und Praktikum der polytechnischen Erziehung in Mitteldeutschland. Schriftenreihe „Wirtschaft und Schule", Bd. 3. Bad Harzburg, 1962. S. 43 ff. — Vgl. auch Karl Schmitt, Naturlehre — polytechnisch oder exemplarisch. Bochum, o. J. Ferner Siegfried Dübel, Dokumente zur Jugendpolitik der SED. München, 1964. 82
Gesundheitswesens. Allerdings steckt auch darin eine ideologische Absicht. „Körperkultur", heißt es in dem Nachschlagewerk „Kleine Sowjetische Enzyklopädie", „ist die systematische und umfassende Vervollkommnung des menschlichen Körpers im Interesse der Verteidigung der Errungenschaften der Arbeiterklasse." Jede im internationalen Wettstreit errungene Sportmedaille wird propagandistisch und erfolgreich ausgewertet. Die Olympischen Spiele lenken die Blicke aller Nationen auf sich. Die Goldmedaillen für die sowjetischen Sportler erstrahlen im Glänze einer weltpolitischen Anerkennung ihres sozialistisch-kommunistischen Leistungssystems. Jürgen Isberg dürfte recht haben: „Die Medaillen von Tokio machen im Kongo mehr Eindruck als die nutzlosen Wasserklosetts von der Ruhr." Auch darin hat er recht: „Man kann sich drehen und wenden wie man will: Die Sowjets zwingen uns bei den Olympischen Spielen den Stempel ihres Leistungssystems auf 117 ."
2. D i e
Kollektivierung
In einer Zeit großtechnischer und großraumwirtschaftlicher Entwicklung fühlt sich der einzelne Mensch zuweilen wie verloren und verlassen. Angesichts der gigantischen Vorgänge und Einrichtungen kommt ihm wohl seine eigene Nichtigkeit erschreckend zum Bewußtsein. Dann mögen ihm vielleicht nur die Gruppen und Massenbewegungen, an denen er teilhat und denen er sich zugehörig weiß, das für sein inneres Gleichgewicht notwendige Selbstgefühl verschaffen. Der einzelne gewinnt tatsächlich durch seine Zugehörigkeit zu einem Kollektiv eine Werterhöhung. Er genießt stolz und erhoben die Macht seines Verbandes, seiner Partei, seines Staates. Aus dem Kollektiv strömen ihm Kräfte zu, die ihn begeistern und zu maximalen Leistungen antreiben und befähigen. Der 13.10.1948 war für die mitteldeutsche Leistungswirtschaft ein wichtiger Tag. Damals gab Hennecke „das leuchtende Beispiel" einer 117
J. Isberg, Kommunisten laufen schneller. Tokio soll die Überlegenheit der Sowjets demonstrieren. „Christ und Welt" v. 25. 9. 1964. 6*
83
Übererfüllung des Wirtschaftsplanes um 38%. Das Zentralsekretariat der SED richtete einen begeisterten Brief an Hennecke: „Deine Tat, Genosse, ist das Ergebnis der in dir lebendig gewordenen revolutionären Tradition der deutschen Arbeiterbewegung, wie sie sich unter anderem in Karl Liebknecht, dessen Namen deine Grube mit Stolz trägt, verkörpert. Sie ist ein Ergebnis des sozialen Verantwortungsund höchsten Pflichtbewußtseins gegenüber deiner Partei, deiner Klasse und unserem Volk." Wie müßte sich andererseits ein gemeinschaftsbewußter Mensch fühlen, der sich — aus welchen Gründen auch immer — an keine Gruppe, keine Partei, kein Kollektiv halten kann und, abgestoßen oder zurückgestoßen, seinen Weg allein gehen muß. Es mag ihm wohl zumute sein wie jenen Intellektuellen, Schriftstellern und Dichtern, die in der Zeit des Dritten Reiches und der Stalin-Ära in hoffnungsloser Verzweiflung Selbstmord verübten, obwohl sie persönlich nicht gefährdet waren. Wir denken an Ernst Toller, Kurt Tucholsky, Egon Friedeil, Stefan Zweig, Walter Hasenclever, Jochen Kleber; in der Sowjetunion an Wladimir Majakowski, Alexander Fadejegew u. a. „Mensch ist nur, wer sich zum Wir bekennt", heißt es in einem Gedicht des mitteldeutschen Schriftstellers Max Zimmering. Die Gemeinschaft, insonderheit das organisierte Kollektiv, ist nach marxistischer Auffassung die wesentlichste Lebensbedingung und zugleich die wichtigste Voraussetzung einer fortschrittlichen, technischen und ökonomischen Entwicklung. Ohne Kollektivierung keine Ordnung und Planung. Die zerstreuten und oft genug gegensätzlichen individuellen Kräfte werden in einem Kollektiv zu maximaler Stoßkraft zusammengefaßt. Dies gilt nicht nur für politische Aktionen, sondern auch für die verschiedensten Arten und Formen wirtschaftlicher Tätigkeit. Selbst Wissenschaft und Kunst erfahren durch eine Gruppenarbeit eine erhebliche Bereicherung. Wieder begegnen sich Ost und West, und wieder verbessern sich die Chancen des Marxismus. Die fortschreitende Differenzierung und Spezialisierung der modernen Arbeitsprozesse zwingt zu einer Ordnung und Zusammenfassung der elementaren Verrichtungen und ermöglicht auf diese Weise einen oft unvergleichlich größeren Gesamt84
effekt. Die Jugend in der Sowjetunion und in den Vereinigten Staaten scheint sich in der Einschätzung der Gruppenarbeit nicht zu unterscheiden. Jean Marabini weist in seinem Buch „Jugend zweier Welten" 118 auf das gleiche Bekenntnis zu kollektivem Fortschritt hin. Eine amerikanische Studentin unterstreicht in ihren Äußerungen die kollektiven Tendenzen in Kunst und Wissenschaft: „Die Kunst wird exakt, präzise. Aber zugleich fühlt der Künstler, der die Fenster zur Zukunft aufstößt, in einer unbestimmten Uberzeugung, die er mit dem Wissenschaftler, mit dem er sich zu identifizieren neigt, gemeinsam hat, daß das Fortschreiten der Evolution durch eine gemeinsame Anstrengung, eine Kollektivierung erreicht wird. Ich verwende dieses Wort, ohne mich natürlich auf die Politik zu beziehen. Es handelt sich vielmehr um ein „Team", einen „brain trust", um eine wissenschaftliche (oder künstlerische) Gruppenarbeit, die heute allein imstande ist, die Welt weiterzuentwickeln." Ein junger Ingenieur meint sogar, „daß von nun an jegliche wissenschaftliche Arbeit nur innerhalb einer Gruppe möglich ist. Das hat sich in allen großen Ländern erwiesen. Diese Gruppenarbeit gibt, wie es die Erfahrung der Fauvisten, der Impressionisten und Kubisten und der Malerei und jene der Wissenschaftler rund um das Atom gezeigt hat, den verschiedensten Geistern die Möglichkeit, sich gegenseitig anzuspornen, läßt ein neues Mirakel der wunderbaren Brotvermehrung wahr werden". Wenn Nietzsche meinte, der Mensch sei dazu gemacht, sich zu übersteigen, so ist dies „nur in der Gemeinschaft möglich, und dieser Umstand beginnt gerade seine phantastischen Früchte zum Beispiel in der Sowjetunion und in den Vereinigten Staaten zu zeigen". Diese Auffassung ist marxistisch. Richtig ist daran der Hinweis auf die Notwendigkeit und den Wert einer Gemeinschaftsarbeit. Typisch ideologisch jedoch ist die Übertreibung und Uberschätzung der kollektiven Zusammenarbeit. Wie man aber sieht, dürfte der Marxismus vor allem dort attraktiv wirken, wo die wissenschaftliche, technische und ökonomische Entwicklung in verschiedenen Formen zu einer Kollektivierung drängt. 118
Jean Marabini, Jugend zweier Welten. Untersuchungen über die sowjetische und amerikanische Jugend. Dtsch.: Wiesbaden, o. J., S. 349 ff. 85
3. D e r
Reformkommunismus
Seit der Marxismus eine auf Partei und Staat gestützte Massenbewegung geworden ist, wird der Kampf um die Festigung und Erweiterung der äußeren Machtposition zuweilen wichtiger als der Kampf um Prinzipien. Die Ideologie verwandelt sich dann und wann gar in ein bloßes Mittel der Machtpolitik. Je nach der weltpolitischen Situation bedeutet sie viel oder wenig. Eine dogmatische Festlegung der ideologischen Leitgedanken in einem Parteiprogramm oder einer Staatsverfassung kann daher eher schädlich als nützlich sein. Von diesem Standpunkt aus erklärte Lenin auf dem Fünften Allrussischen Kongreß der Sowjets (am 5.7.1918): „Der Sozialismus hat ebenso aufgehört ein Dogma zu sein, wie er aufgehört hat, ein Programm zu sein." Die ideologischen, auf die Zukunft gerichteten Ziel Vorstellungen werden durch gegenwartsnahe, ansprechende politische Ziele praktisch in den Hintergrund gedrängt. Natürlich aber liegen diese in der Richtung der kommunistischen Geschichtsauffassung. Denn die Geschichtsphilosophie bzw. der dialektische und historische Materialismus bildet nach wie vor den geistigen Gehalt der kommunistischen Bewegung. Die kommunistischen Parteiführer treten seit Jahren und Jahrzehnten vor die Massen mit der Mahnung, alle Kräfte zu einer maximalen Leistung anzuspannen und die „kapitalistischen Länder" in einem wirtschaftlichen Wettbewerb zu schlagen. Der Ausgang dieses Wettkampfes sei nicht zweifelhaft. Man bleibt den „Beweis" nicht schuldig. So erklärte Chruschtschow vor dem Obersten Sowjet der UdSSR am 13.7.1964: „Wie bekannt, sieht das Programm der KPdSU vor, in zwanzig Jahren (1961 bis 1980) den Umfang der industriellen Produktion mindestens um das Sechsfache zu erhöhen. Das bedeutet, daß die Industrie im Durchschnitt um 9 bis 10 °/o im Jahr wachsen muß. Sehen wir uns an, wie der Plan tatsächlich erfüllt wird. 1961 wuchs die Industrieproduktion um 9,1%, 1962 um 9,7%." „Unsere Industrie entwickelt sich bedeutend schneller, als die Industrie der Vereinigten Staaten von Amerika. Die Sowjetunion wird die Vereinigten Staaten von Amerika einholen und überholen." Die er86
strebte Überholung der europäischen Industrienationen und der Vereinigten Staaten würde den gewaltigen Fortschritt auf allen Gebieten sichtbar machen. Der eigentliche Zweck der nationalen Kraftentwicklung sei die Mehrung und Sicherung des Wohlstandes der breiten Massen. In der chinesischen Volksrepublik macht man uns den Vorwurf der „Verbürgerlichung", sagte Chruschtschow. Wir hätten der Entwicklung der Volkswirtschaft und des Volkswohlstandes den Vorzug gegeben gegenüber der Politik und der Ideologie. „Unseren Kritikern sollte einer der wichtigsten Leitsätze des Marxismus bekannt sein, der besagt, daß die Menschen erst genug zum Essen, zum Trinken und zum Anziehen haben müssen, ehe sie sich mit Ideologie und Politik befassen können. Und woher kommen diese Güter, wenn sie nicht durch die Arbeit geschaffen werden. Deswegen ist eine gut entwickelte Volkswirtschaft notwendig. Die Entwicklung der Volkswirtschaft, die Erhöhung des Volkswohlstandes, das ist für uns die wichtigste und interessanteste Politik und Ideologie." Chruschtschow kennt das russische Volk. Er weiß, daß es nach Jahrzehnten schwerer Entbehrungen besser und schöner leben möchte. Er wußte s. Z. auch, daß er den Kommunismus in der westlichen Welt nicht durch Ärmlichkeit, Dürftigkeit und Primitivität attraktiv machen konnte. Der technische und wirtschaftliche Fortschritt hat die Lockerung administrativer Bindungen bzw. eine ideologisch begrenzte Liberalisierung zur Voraussetzung. Denn nur so können sich individuelle schöpferische Kräfte entwickeln. Eine wesentliche Bedingung einer aktiven Wirtschaftsentwicklung, besonders in wirtschaftlich zurückgebliebenen Ländern, ist auch die nationale Konzentration der Kräfte. Mit der bemerkenswerten Liberalisierung im gesamten Ostblock (mit Ausnahme Mitteldeutschlands) geht daher ein erstarkender und von dem einzelnen Regime auch mehr oder weniger geförderter Nationalismus einher. China und Rumänien bieten hierfür das eindruckvollste Beispiel. Das „nationale Gefühl" ist, wie Palmiro Togliatti in seinem nachgelassenen Memorandum bemerkt, „eine Konstante der Arbeiter- und 87
sozialistischen Bewegung für eine lange Periode auch nach der Eroberung der Macht". Andererseits könne die damit verbundene „zentrifugale Tendenz unter den sozialistischen Ländern" die Einheit der kommunistischen Bewegung gefährlich beeinträchtigen. Die Sorge des italienischen Kommunistenführers ist, wie der Ausbruch Rumäniens aus der zentralisierten Wirtschaftsgemeinschaft des Ostblocks zeigt, durchaus begründet. Demgegenüber begrüßt man im Westen natürlich jede politische und wirtschaftliche Entwicklung, die zu einer Annäherung der Machtpositionen führt. Tito hat durch seine eigenwillige sozialistische Politik, durch die begrenzte Kollektivierung und die Entwicklung einer Marktplanwirtschaft eine nicht zu unterschätzende Anziehungskraft auf die Nachbarstaaten und gewisse Kreise in Mitteldeutschland ausgeübt. Wolfgang Harich hatte gehofft, die mitteldeutschen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung würde nach jugoslawischem Vorbild umgestaltet werden. So könnte eine gemeinsame Plattform für ein gesamtdeutsches Gespräch und die Voraussetzung für eine Wiedervereinigung geschaffen werden. Die zunehmenden wirtschaftlichen und technischen Kontakte zwischen Ost und West dürfen über die bestehende und bleibende Gegensätzlichkeit in Gesinnung und Grundeinstellung nicht hinwegtäuschen. Die kommunistischen Parteien wollen nur nicht mehr in der früheren Art und Weise von Moskau gegängelt und gemaßregelt werden. Sie wollen, je nach den politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen, ihren eigenen Weg gehen; grundsätzlich aber die vom Marxismus-Leninismus vorgezeichnete Bahn. Die Volksrepublik China hatte sich vor allem für eine politische und wirtschaftliche Autonomie innerhalb des Ostblocks entschieden. Diese Eigenmächtigkeit stieß auf eine außerordentlich scharfe Reaktion Moskaus. Die sowjetischen Parteiführer fürchteten nicht nur die rasch erstarkende Großmacht, sondern auch die sehr realpolitischen Wünsche und Forderungen des großmächtigen Nachbarn. Sie fürchten auch, daß die Chinesen leichtfertig einen dritten Weltkrieg entfesseln könnten. Die Beschuldigung, China wolle tatsächlich einen neuen Weltkrieg anzetteln, ist freilich nur propagandistisch zu werten. Denn Mao 88
Tse-tung will von einem gewaltsamen „Export der Revolution" nichts wissen. Die Geschichte werde über Kapitalismus und Imperialismus ebenso hinweggehen, wie sie die Sklavenhalterordnung und das Feudalsystem hinweggefegt habe. Er unterschätze die Atombombe keinesfalls. Was aber schließlich über Sieg oder Niederlage entscheide, sind die Menschen und nicht die Waffen 119. Die chinesische Politik ist in Abwehr und Angriff geschickt. Die Bloßstellung der sowjetischen Eroberungspolitik, die mit den Grundsätzen des Marxismus nichts gemein habe, wird nicht nur in der westlichen Welt mit einer gewissen Schadenfreude vermerkt. Die chinesische Volksrepublik darf überhaupt auf gewisse Sympathien in Ost und West rechnen. Die enorme Anstrengung des chinesischen Volkes, technisch und wirtschaftlich rasch voranzukommen, wird anerkannt. Man darf K . M . Panikkar, dem ehemaligen Botschafter in beiden China, wohl zustimmen: Mein Eindruck vom neuen China ist, „daß eine ungeheure Umwälzung stattgefunden hat, die eine hochzivilisierte, aber unorganisierte Volksmasse zu einem großen modernen Staat umgewandelt hat. Starke Energien sind ausgelöst worden, und dem chinesischen Volk ist eine neue Hoffnung und eine neue Schau der Dinge gegeben worden. Der Umbruch hat Begeisterung und ein unwiderstehliches Verlangen, vorwärtszuschreiten, hervorgerufen". Allerdings, fügt Panikkar bedauernd hinzu, sind „die zur Erreichung der sehr wünschenswerten Ziele angewendeten Mittel in vielen Fällen derart, daß sie jeden freien Menschen abstoßen. Im Vergleich mit dem Staat hat das Individuum jeden Wert verloren, und das erfüllt auch den mit einem Schatten der Sorge, der schätzt und bewundert, was die Revolution für China und für ganz Asien geleistet hat" 1 2 0 . Doch dies steht auf einem anderen Blatt. Werden die wirtschaftlichen und außenpolitischen Veränderungen in den Ländern des Ostblocks zu einer schrittweisen Annäherung an die westliche Welt führen? Die Industrialisierung zwingt allenthalben 119
Vgl. MaoTse-tung, Ausgewählte Schriften. Dtsch.: Frankfurt a. M., 1963. S. 320 ff. 120 Kavalam Madhava Panikkar, Botschafter in beiden China. Dtsch.: Frankfurt a. M., 1956, S. 218/219. 89
zur Anwendung gleicher oder ähnlicher wissenschaftlicher, technischer und betriebswirtschaftlicher Methoden und zum Aufbau und Ausbau gleicher oder ähnlicher Einrichtungen. Der Schluß liegt nahe, daß sich unter der Decke weltanschaulicher Gegensätze mannigfaltige sachliche Kontakte auf naturwissenschaftlicher, technischer und wirtschaftlicher Ebene ergeben. Karl Friedrich von Weizsäcker hat in seiner Rede anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels (am 14. 10. 1963) nachdrücklich auf diese sich verstärkenden, sachlichen Beziehungen hingewiesen. Die Ideologie verliere praktisch ihre Bedeutung. Die Ideologen räumten ihren Platz den Sachverständigen, Technikern und erfahrenen Verwaltungsbeamten. Es ist richtig: Die Ideologie der kommunistischen Bewegung hat unmittelbar praktisch an Gewicht verloren. Dieser Gewichtsverlust leitet sich jedoch nicht von einer Änderung der strategischen Konzeption her. Er ist lediglich taktisch begründet. Selbst die reformfreudigen rumänischen Parteiführer denken bei aller nationalen und antisowjetischen Politik nicht an einen Verzicht auf kommunistische Prinzipien. Daher ist die Frage berechtigt, ob taktisch motivierte, wenn auch durch die Sache begründete Annäherungen zu einer zwischenmenschlichen Verständigung führen. Ist doch ein sachlicher Meinungsaustausch grundsätzlich auf den jeweiligen Sachbereich beschränkt 121. Eine wirkliche Verständigung ist nur möglich, wenn die Gesprächspartner von vornherein den Willen haben, sich — über die sachlichen Kontakte hinaus — auch menschlich näherzukommen. Dieser Wille hätte auf kommunistischer Seite eine Revision der Prinzipien, eine Uberwindung des Dogmatismus, überhaupt eine Sinnesänderung der Art zur Voraussetzung, wie sie etwa dem verstorbenen Palmiro Togliatti vorgeschwebt hat. Dieser italienische Parteiführer ging, wie er in seinem Memorandum sagt, von der Idee aus, „daß der Sozialismus jenes Regime ist, in dem es die größte Freiheit für die Werktätigen gibt und diese tatsächlich, auf organisierte Weise, an der Leitung des gesamten sozialen Lebens teilnehmen". In der Welt der Kultur seien „der kommunistischen Durchdringung die Tore weit geöffnet". „Wir 121
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Vgl. hierzu im folgenden S. 114 ff.
müssen zu den Vorkämpfern der Freiheit des intellektuellen Lebens werden, des freien künstlerischen Schaffens und des wissenschaftlichen Fortschritts 122." Es nimmt nicht wunder, daß die sowjetische Parteiführung die Veröffentlichung dieses Dokumentes zu verhindern gesucht hat.
122
Der Wortlaut des Memorandums in der parteiamtlichen Übersetzung: FAZ v. 8. 9.1964. Vgl. Palmiro Togliatti, Der einzig richtige Weg für die Menschheit. Ost-Berlin, 1952, S. 12,21 ff. 91
Dritter Teil
DIE GRENZEN DER C H A N C E N Hat der Marxismus Chancen, so doch nicht alle Chancen. Denn der Feind des Marxismus — gemeint ist immer der „institutionelle" Marxismus — ist der Marxismus selbst. In ihm liegt alles beschlossen, was ihn einengt, beschränkt und es ihm unmöglich macht, die praktisch-politische Tätigkeit durchweg bestimmen und eine ganze Epoche, wie Lenin es wollte, aus den Angeln heben zu können. Die „Fackel des revolutionären Lichtes" leuchtet nicht mehr vor dunklen und niedergebeugten Massen, die haßerfüllt und unversöhnlich auf den Tag der Befreiung warten. Das heroische Proletariat im Sinne von Marx, Engels und Lenin gibt es nicht mehr; infolgedessen auch keine proletarische Emanzipation im Interesse der ganzen Menschheit. Wo und wann immer eine Revolution ausbricht, hat sie ihre besonderen nationalen Ursachen und ist Sache des betreifenden Volkes. Die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse sind seit dem Kommunistischen Manifest viel differenzierter und komplizierter geworden. Der Marxismus erscheint demgegenüber schablonenhaft und wirklichkeitsfremd. Sollte man aber nicht zwischen dem alten und dem neuen Marxisten unterscheiden, wie Lenin es in seiner Schrift „Über die Gewerkschaften" (1921) richtungweisend getan hat? Der Marxist alten Schlages halte sich gedankenlos an eingelernte Formeln. Der neue Marxist aber klammere sich nicht an die „Theorien von gestern", sondern rechne mit den Tatsachen der Wirklichkeit. Denn er wisse, daß eine „Theorie bestenfalls lediglich das Grundlegende, Allgemeine aufzeigt, die ganze Kompliziertheit des Lebens nur annähernd erfaßt". Dieser neue Marxist aber ist noch nicht erschienen. Vielleicht ist er im Kommen. 92
VII. Die Stärke und Schwäche der Ideologie Die Marxisten versperren sich selbst den Weg zu einer großen realistischen und humanen Politik, solange sie unverändert an ihrer totalitären Ideologie festhalten. Wir können auch sagen: solange sie einer abstrakt-rationalen Denkweise huldigen. Es klingt paradox, daß der Marxismus, dessen Vertreter sich doch gerade auf die Praxis und auf die Notwendigkeit einer praktischen Orientierung berufen, nicht wirklichkeitsnah, sondern im Gegenteil abstrakt und wirklichkeitsfremd sein soll. Allein jede Ideologie zeigt mehr oder weniger dieses Merkmal. Ideologien sind Gedankengebilde, bewußt geschaffen, um Menschen zu einem bestimmten, ihnen entsprechenden Denken und Handeln zu bewegen. Sie nehmen ihren Ursprung grundsätzlich von lebenswichtigen Interessen einer Gemeinschaft, eines Standes, einer Klasse, einer Rasse, einer Nation. Sie werden infolgedessen mit der ganzen Stärke dieser Interessen und mit der Leidenschaft unmittelbar interessierter, bewegter und erregter Menschen vorgebracht. Man ist nicht geneigt, gegensätzliche Interessen gelten zu lassen. Im Gegenteil! Mit einer Ideologie verbindet sich grundsätzlich Intoleranz. Wenn es an einem übergreifenden Verantwortungs- und Verpflichtungsbewußtsein mangelt, können gegensätzliche Interessen nicht aufeinander abgestimmt und miteinander in Einklang gebracht werden. Ist eine Ideologie auch grundsätzlich der adäquate Ausdruck fundamentaler Interessen, so kann diese Ubereinstimmung doch durch gewisse Vorstellungen und Äußerungen absichtlich oder unabsichtlich verdeckt werden. Man hat z. B. auf Grund materieller Interessen auch sehr materielle Vorstellungen von allem, was man will und vorhat, spricht jedoch von Vaterlandsliebe und Opferwilligkeit. Marx und Engels warfen der Bourgeoisie vor, sie proklamiere die Freiheit und habe nichts anderes als Profit im Sinne. Verdeckende Vorstellungen können eine Ideologie kennzeichnen. Sie sind jedoch nicht ihr Wesensmerkmal123. Sie sollen gegebenenfalls 123 Vgl. hierzu die Studie von Jakob Barion, Was ist Ideologie? Bonn, 1964. — Allgemein orientierend: Hans-Joachim Lieber, Wissen
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eine Atmosphäre schaffen, in der die eigentlichen Ziele leichter durchgesetzt werden können („Sie sagen Christus und meinen Kattun!"). Die Motivationskraft der Ideologie aber wird dadurch nicht verstärkt. 1. D e r
Totalitätsanspruch
Der geistige Gehalt einer Ideologie besteht in Vorstellungen und Erwartungen, die formal und inhaltlich dem Gefühl, der Stimmung, den Interessen und dem Willen einer Gruppe entsprechen. Wesensentsprechung begründet Wahrheit. Daher üben Ideologien eine suggestive Macht aus. Man spürt Echtheit und Ubereinstimmung von Wesen und Wort, von Wort und Tat. Dieser Einklang fasziniert, selbst wenn sich die Wesensart nur in bestimmten Strebensrichtungen äußert. Warum faszinierend? Weil Wahrheit sichtbar wird, wenn auch nur in bestimmten Beziehungen. Denn Wahrheit ist menschlicher Grundwert schlechthin. In Unwahrheit, in Unwahrhaftigkeit und Lüge stellen wir uns selbst uns entgegen, sind wir uns selbst entgegengesetzt. Das Erlebnis der Ubereinstimmung von Sein und Bewußtsein, von Wollen und Denken verführt nun allerdings dazu, jenen Vorstellungen über den eigenen Lebensbereich hin Allgemeingültigkeit zuzuschreiben bzw. für sie allgemeine Anerkennung zu fordern. Denn Wahrheit schließt ihrem Sinne nach begrenzte Gültigkeit aus. Daher der Totalitätsanspruch fast jeder Ideologie. Die durch wesentliche Interessen von vornherein formal und inhaltlich bestimmten Vorstellungen geraten so oder so in Widerstreit zur Wirklichkeit. Denn ihre Bedeutung liegt nicht darin, daß sie Tatsachen entsprechen, sondern kollektiven Interessen. An der Wirklichkeit interessiert nur, was unter diesem Gesichtspunkt wichtig ist; infolgedessen auch nur ein bestimmter Ausschnitt. Was mit der Leitvorstellung nicht übereinkommt, wird übersehen und weggelassen. und Gesellschaft. Die Probleme der Wissenssoziologie. Tübingen, 1952. Ferner Raymond Aaron, Opium für Intellektuelle. Die Sucht nach Weltanschauung. Dtsch.: Köln-Berlin, 1957. — Jeanne Hersch, Die Ideologien und die Wirklichkeit. Versuch einer politischen Orientierung. Dtsch.: München, 1957. — Vgl. auch das Sammelwerk: Die Zukunft des Kommunismus. Hrsg. Johannes Gaitanides. München, 1963. 94
Man betrachtet und beurteilt die Welt grundsätzlich voreingenommen. Die der Wirklichkeitserkenntnis vorweg entworfene Grundmeinung ist ein Vorurteil, das nicht — wie in der wissenschaftlichen Forschung — im Fortgang der Erfahrung korrigiert bzw. verifiziert wird. Sie bleibt vielmehr bestehen und wird, weil im Einklang mit ureigensten Interessen, leidenschaftlich verteidigt. So werden schließlich Fakten durch Vorstellungen, veränderliche Tatsachen durch schier unerschütterliche Dogmen ersetzt. Jede Ideologie zeigt ein eigenartiges Gepräge, trotz ihres irrationalen Ursprungs. Die Rationalität kommt in der abstrahierenden und generalisierenden, d. h. abziehenden und verallgemeinernden, schematisierenden, d. h. vereinfachenden, teleologischen, d. h. zweck- und zielgerichteten, grundsätzlich totalitären, d. h. alles in sich begreifenden und ergreifenden Denkweise zum Ausdruck. Auf Massenwirkung eingestellte politische Ideologien müssen in besonderem Maße und Grade Vereinfachung anstreben. Sollen doch die Leitvorstellungen dem Fühlen, Wollen und Denken der Massen angepaßt sein. Um so größer wird freilich die Gefahr, daß über dem Willen zu subjektiver Entsprechung die Lebenswirklichkeit immer weniger in ihrer Tatsächlichkeit erfaßt wird. Die Stärke einer Ideologie liegt in ihrer Motivationskraft, d. h. in ihrer Fähigkeit, Menschen zu einem gemeinsamen Denken und Handeln bewegen zu können. Dieses gelingt ihnen dadurch, daß sie aussprechen, was die von ihnen angesprochenen Menschen innerlich bewegt. Ideologien entspringen also einem echten Lebensbedürfnis. Sie beantworten dringende konkrete Lebensfragen und bieten denen, die ihnen anhängen, eine feste Orientierungsgrundlage. Die mit ihnen verbundenen Hoffnungen und Erwartungen wecken Begeisterung und Opferbereitschaft. Politische Ideologien, wie der Marxismus, rufen zur Tat auf und können die von ihnen in Bewegung gesetzten Massen zum Guten oder zum Bösen führen. Auch zum Bösen! Denn was einer Gruppe, einer politischen Gemeinschaft als lebenswichtig und gut erscheint, braucht ihr in Wirklichkeit nicht zum Heile zu gereichen. Die Schwäche einer Ideologie liegt in ihrer Subjektivität, in einer bestimmten Einstellung zur Lebenswirklichkeit, in der begrenzten Op95
tik und dem sich ebenfalls aus jener Subjektivität herleitenden Totalitätsansprudi. Was für uns gilt, heißt es, gilt für alle. Was wir wollen, will die Menschheit. Soll eine Ideologie, aus welchen Gründen auch immer, bekämpft werden, so kann sich der Angriff logischerweise nur auf ihre Schwächen richten. Die größte innere Schwäche ist ihr Anspruch, im Besitze der vollen und ganzen Wahrheit zu sein. Dieser Herausforderung muß widersprochen werden. Die Ideologie stellt sich durch ihren Totalitätsanspruch in radikalen Gegensatz zu andersartigen Meinungen und Auffassungen: Wer anders denkt, irrt nicht nur; er sagt die Unwahrheit, er lügt, er ist ein Verräter an allem, was der Menschheit wesentlich und wert erscheint. Ideologien dieser Art sind Spaltpilze der Gesellschaft. Sie bringen Familien, Freunde, Nachbarn und Volksgenossen auseinander. An die Stelle zwischenmenschlicher und mitmenschlicher Beziehungen tritt ein Freund-Feind-Verhältnis. Sollte man nicht deswegen allen Ideologien den Kampf ansagen? Sollte man nicht auf eine „Entideologisierung" hinarbeiten? In gewissem Sinne „ja", das heißt im Hinblick auf den Totalitätsanspruch. Denn dieser bezieht sich auch auf Wissenschaft und Forschung und steht einem freien, sach- und sinngerechten Denken gänzlich im Wege. Im übrigen wird und darf es Ideologien geben, solange sich kollektive Interessen, Wünsche, Erwartungen und Hoffnungen in Vorstellungen und Leitbildern ihren entsprechenden Ausdruck suchen. Eine Ideologie ist daher nicht grundsätzlich zu bekämpfen. Es wäre auch, wie der polnische Philosoph und Soziologe Leszek Kolakowski ganz richtig sagt, „völlig hoffnungslos", „ein Programm für die Beseitigung der Ideologien zu formulieren". Denn „zur Ideologie gehört die moralische politische Wirkung, also eine Tätigkeit, ohne die das Leben unmöglich wäre. Die Losung von einer völligen Befreiung von der Ideologie ist eine naive Fiktion" 1 2 4 ... Bekämpft werden kann und muß aber, wie wir nochmals betonen, der Anspruch, „die" Wahrheit zu besitzen. 124
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Leszek Kolakowski, Der Mensch ohne Alternative usw., S. 35.
Ideologien wurzeln in einem Bereich, wo Argumente zunächst wenig auszurichten vermögen. Gefühle, Neigungen, Wünsche und Hoffnungen lassen sich durch Argumente nicht wegwischen. Nur der geistige Gehalt einer Ideologie ist diskutabel und angreifbar. Wird der begründete Nachweis erbracht, daß die ideologischen Vorstellungen von Welt und Leben mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmen und daher irreführen, so müssen Zweifel an der Richtigkeit und Wahrheit der Ideologie entstehen. Der totalitäre Anspruch, die volle und ganze Wahrheit zu besitzen, müßte aufgegeben werden. Die für wissenschaftlich und objektiv richtig gehaltenen Urteile würden überprüft werden. Man würde verzichten, die Wissenschaft auf ideologische Vorstellungen festzulegen. So könnte sich die Erwartung von Leszek Kolakowski erfüllen: „Trotz der rückläufigen Entwicklung, die sich in letzter Zeit in der marxistischen Ideologie beobachten läßt, sind wir der Meinung, daß die Wissenschaft sich nach und nach von der Kontrolle durch die Ideologie befreien wird 1 2 5 ." Die Kritik an ideologischen Vorstellungen kann in dreifacher Richtung geführt und entsprechend begründet werden: 1. Durch den Hinweis auf widerstreitende Erfahrungen. 2. Durch den Hinweis auf wissenschaftliche Irrtümer. 3. Durch den Hinweis auf nicht zureichende philosophische Einsichten.
2. D e r W i d e r s t r e i t m i t d e r
Erfahrung
Die marxistischen Grundgedanken: Der dialektische und historische Materialismus und die Theorie des Mehrwertes, gründen sich unmittelbar auf Anschauung, Beobachtung und Erfahrung. Marx und Engels waren durch die inneren Gegensätze der sich rasch entwickelnden Industriegesellschaft in höchstem Grade betroffen. Sie sahen das Elend der Industriearbeiterschaft in den wachsenden Großstädten, sie sahen das Handwerk in hoffnungslosem Wettbewerb mit der Fabrik, sie beobachteten die Verdrängung der Bauernschaft durch den Großgrundbesitz. Auf der einen Seite fortschreitende Bereicherung der Besitzer von Produktionsmitteln, der Privatkapitalisten. Auf der anderen Seite 125
a.a.O.S.38.
7 Schack
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zunehmende, technisch bedingte Arbeitslosigkeit, eine — wie Marx sich ausdrückte — wachsende „industrielle Reservearmee". Seit den dreißiger und vierziger Jahren hatte sich, meinten Marx und Engels, offenbar nur zugespitzt, was sich in den Jahrhunderten zuvor, ja in der ganzen bisherigen Geschichte, als das wesentliche Merkmal des Gesellschaftsgefüges gezeigt hatte: Klassengegensatz und Klassenkampf. Man könnte sagen, Marx und Engels hatten in dem dialektischen Allgemeinbegriff einer gespaltenen Gesellschaft den Schlüssel für das Verständnis ihrer Zeit gefunden. Woher aber dieser deduktiv bedeutsame Gesellschaftsbegriff, wenn nicht aus der Erfahrung? Doch die Erfahrung hätte noch anderes und mehr zeigen können, wenn man nicht vorschnell verallgemeinert hätte. Der junge Marx wollte in einer ihm vorschwebenden Anthropologie von dem konkreten Vorstellungsbild des „wirklich tätigen Menschen" ausgehen. Statt dessen hielt er sich, verführt durch seine abstraktrationale Denkweise, an Allgemeinbegriffe, wie gesellschaftliche Gesetzmäßigkeit, Klassen, Klassengegensätze usw. Von dem Erfahrungsbild, dem Ausgangspunkt und Gegenstand wissenschaftlicher Forschung, wird alles ausgeklammert, was mit dem vorgefaßten Leitbild nicht zusammenstimmt128: In der Klassengesellschaft, mit der die bisherige Geschichte abschließt, gibt es nur zwei Klassen, die Bourgeoisie und das Proletariat. Wo bleiben die anderen gesellschaftlichen Gruppen, die Bauern, Handwerker und Kaufleute, die Angestellten und Beamten, die freiberuflich Erwerbstätigen, die Anwälte, Ärzte, Künstler und Schriftsteller? Selbst den Unternehmer, den eigentlichen Initiator der technisch-ökonomischen Wachstumsentwicklung, finden wir nicht in dieser auf zwei Klassen reduzierten Gesellschaft. Die durch Vereinfachung und Verallgemeinerung aus der Erfahrung gewonnenen Begriffe besitzen freilich wenig von der ursprünglichen Erlebnisfülle, wie sie in Anschauung und Beobachtung gegeben ist. Die Begriffe sind zu abstrakt, als daß sie agitatorisch und propagan128
So z. B. auch Partnerschaft und gegenseitige Hilfe! Vgl. Peter Kropotkin, Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt. Dtsch.: Leipzig, 1910, S. 69 ff. u. S. 240 ff. 98
distisch, also praktisch-politisch verwertet und verwendet werden könnten. Denn was besagt z. B. der Begriff des Mehrwertes bzw. der kapitalistischen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung? Für einen Begriff oder eine Theorie ist noch niemand auf die Barrikaden gestiegen. Für Abstrakta haben die Massen kein Verständnis. Sollen sie für einen revolutionären Kampf gegen den Kapitalismus gewonnen werden, muß ihnen der Begriff anschaulich konkret nahegebracht werden. Vorstellungen erhalten den größtmöglichen anschaulichen Inhalt durch Personifizierung. Erst die Verwandlung abstrakter Begriffe in eine Bildvorstellung, in die Vorstellung einer leibhaften, greifbaren, angreifbaren Gestalt kann in den Massen Haß- und Rachegefühle wecken und den brennenden Wunsch nach Vernichtung des Klassenfeindes. Wie der Begriff einer den eigenen Interessen widerstreitenden Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung zu dem Vorstellungsbild des Kapitalismus als des „schwärzesten aller Ungeheuer" umgestaltet wird, so werden auf der anderen Seite z. B. der Vorstellung der Partei die Züge eines wundersamen Bildes verliehen: „Partei, du bist Friede auf Erden! D u großes W i r , du unser aller Willen: D i r , dir verdanken wir, was wir geworden sind! Den Traum des Friedens kannst nur du erfüllen. Das beste Denken gabst du uns zur Lehre, Sie hat gewandelt uns zum großen Wir." (Johannes R. Becher, „Kantate des Jahres 1950")
3. W i s s e n s c h a f t l i c h e
Irrtümer
Da der Marxismus der Mannigfaltigkeit und Fülle der Erfahrung nicht gerecht wird, so darf man vermuten, daß sein unzureichendes Erfahrungsobjekt auch wissenschaftlicher Kritik ausgesetzt ist. Denn wo immer die Wissenschaft es mit Wirklichkeit zu tun hat, ist die Erfahrung ihr Ausgangspunkt und auch das Kriterium für die Richtigkeit ihrer Erkenntnisse. Der Grundgedanke des „wissenschaftlichen Sozialismus" ist der Begriff der natürlichen und der historisch-ökonomischen Gesetzmäßig99
keit. Die Gesetze der Geschichte seien zwar anderer Art als die Naturgesetze. Denn Träger und Akteure der Geschichte sind mit Bewußtsein handelnde Menschen. Die jeweilige Bewußtseinslage wird jedoch entscheidend durch das Wechselspiel der gesellschaftlichen Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse bestimmt. Die Feststellung eines vom individuollen Wollen und Denken unabhängig verlaufenden und daher im ganzen exakt faßbaren und in seiner Entwicklung voraussehbaren Geschichtsprozesses ist von großer praktisch-politischer Bedeutung. Wenn man weiß, wie sich die gesellschaftlichen Verhältnisse entwickelt haben und in der großen Linie zwangsläufig entwickeln werden, können Strategie und Taktik in der inneren und äußeren Politik dieser Linie entsprechend geplant und durchgeführt werden. Wie im Leben des einzelnen, so hat auch im Leben der Völker und Nationen jede Handlung ihre auf Sicht voraussehbaren Folgen. Wer so oder so handelt, muß mit entsprechenden Konsequenzen rechnen. Wer sich für eine technische, ökonomische, berufliche Tätigkeit entscheidet, muß die mit ihr verbundenen Verrichtungen in Betracht ziehen und ausführen. Wer einen Betrieb gründet, muß die betriebsnotwendigen Aufgaben erfüllen. Es würde keine Sozialökonomik, keine Wirtschaftswissenschaft und Wirtschaftspolitik geben, wenn die menschlichen Handlungen nicht im voraus abschätzbare und berechenbare Folgen hätten. Eine Diagnose, worauf auch immer gestellt, hätte keinen Sinn, wenn sich an sie nicht eine Prognose anschließen könnte. Die wichtigste sozialwissenschaftliche Aufgabe besteht in dem Aufweis der Reaktionen bzw. Kettenreaktionen, die von einem bestimmten menschlichen Verhalten unter gegebenen oder angenommenen Verhältnissen ausgehen. Die Menschen handeln, auch unter gleichen Verhältnissen, individuell verschieden. Dieses gilt im besonderen Maße von einer grundsätzlich freien Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung. Produzenten und Konsumenten machen jeweils ihre Pläne und handeln entsprechend unterschiedlich. Hieraus schlossen und schließen die Marxisten, in der Marktwirtschaft herrsche Anarchie. Denn jeder plane und handle nach Belieben. Welch ein Irrtum! Produzenten wie Konsumen100
ten richten sich in ihren wirtschaftlichen Entscheidungen nach deri gegebenen bzw. voraussichtlichen Markt- und Preisverhältnissen. Dabei macht gewiß jeder seinen eigenen Plan. Mögen diese Pläne aber auch in dieser oder jener Beziehung voneinander abweichen, in der „großen Zahl" zeigen sich doch Gleichförmigkeiten und Regelmäßigkeiten in einem zeitlich und örtlich begrenzten Geschehen. Dieses erlaubt jedoch nicht den Schluß auf eine allgemeine Gesetzmäßigkeit. Selbst der technische Fortschritt ist keine gesetzmäßig verlaufende Entwicklung, dessen künftige Linie vorausgesagt werden könnte. Nach einer Epoche schier explosiver Entdeckungen und Erfindungen kann sehr wohl ein Rückschlag eintreten, eine „säkulare Stagnation". — Die historisch-ökonomische Entwicklung drängt, nach marxistischer Lehre, zu einer von Stufe zu Stufe fortschreitenden Rationalisierung der Produktionskräfte, Produktionsmittel und Produktionsverhältnisse, wobei die Metamorphose des Eigentums die wichtigste Rolle spielt. Nach verschiedenen Wandlungen des Privateigentums an Produktionsmitteln werde das Gemeineigentum die rechtliche und ökonomische Grundlage einer neuen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung bilden. Wie es in vorgeschichtlicher Zeit kein Privateigentum gegeben habe, so werde es auch keines in der neuen Geschichte geben. Die Marxisten verstehen unter Privateigentum das ausschließliche Recht über eine Sache. Das Privateigentum kann jedoch auch als eine Verpflichtung verstanden werden, wie es völkische Sitten, Sittlichkeit und religiöser Glaube fordern. Privateigentum an Haustieren, Waffen, Werkzeug und Gerät hat es übrigens auch in vorgeschichtlicher Zeit gegeben127. Es ist keineswegs nur das Merkmal einer in Klassen gespaltenen Gesellschaft. Warum sind die Marxisten so sehr auf die Beseitigung des Privateigentums aus? Weil es eine private ökonomische Machtstellung begründen soll, wodurch allererst Ausbeutung und Ubervorteilung ermöglicht werden. Die Verfügung über Privatkapital gibt tatsächlich wirtschaftliche Macht, da die mittellosen Arbeitnehmer ohne die notwendige Kapitalausrüstung weder produktive Arbeit leisten, noch die 127 Vgl. Herbert Kühn, Vorgeschichte der Menschheit, 2 Bde., Köln, 1962. Bd. 1, S. 15/16.
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benötigten Unterhaltsmittel erlangen können. Im Wechsel der Konjunkturen und Krisen ist der Arbeiter das hin- und hergestoßene Objekt des Wechsels der Marktlagen, während sich der „Kapitalist" dank seines Privatkapitals immer noch als Wirtschaftssubjekt behaupten kann. Es hätte jedoch kein Proletariat gegeben, wenn sich die Lohnarbeiter zu Gewerkschaften hätten zusammenschließen können und der Staat den wirtschaftlich schwachen Volksschichten beigestanden hätte. Koalitionen, Organisationen und Institutionen (Staats- und Verwaltungseinrichtungen sowie Einrichtungen der privaten und öffentlichen Information) können weit stärkere Machtstellungen begründen bzw. die für das gesellschaftliche und marktwirtschaftliche Gleichgewicht erforderliche „Gegenmacht" herausbilden. Marx hatte weniger Interesse an der Universalgeschichte, als an der Geschichte seiner Zeit. Sein eigentliches Interesse galt der kapitalistischen Wirtschaft. Wie ist sie entstanden und wie entwickelt sie sich? Welches sind ihre Elemente, ihre Faktoren und Antriebskräfte? Die kapitalistische Wirtschaft, meinte Marx und meinen die Marxisten noch heute, werde sich nach der Realisierung aller in ihr liegenden Möglichkeiten erschöpfen und sich infolge der verschärfenden Widersprüchlichkeit des eigenen Systems zugrunde richten. Wie in der vorangegangenen Geschichte, werde dann eine neue und produktivere Wirtschaftsordnung die überlebte ablösen. Diese These vom Ende des Kapitalismus und der Heraufkunft einer ^ukunflsträchtigen neuen Gesellschaftsordnung hat 'auch in sogenannten bürgerlichen Kreisen Schule gemacht. Werner Sombart hat diesen Gedanken seinem großen Werk „Die Geschichte des modernen Kapitalismus" zugrunde gelegt. Seine Theorie von den Entwicklungsstufen des Privatkapitalismus (Frühkapitalismus, Hochkapitalismus, Spätkapitalismus) ist weiten Kreisen bekanntgeworden. Marx und die Marxisten, wie auch Werner Sombart, Joseph Schumpeter u. a. machen sich eines verhängnisvollen Fehlers schuldig. Sie verwechseln Kapitalismus und Marktwirtschaft. Das „Ende des Kapitalismus" bedeutet keinesfalls auch das Ende der Marktwirtschaft. Der Kapitalismus, seinem Wortsinn nach und marxistisch verstanden, ist eine entartete Marktwirtschaft . Eine ausschließlich auf Gewinn102
maximierung gerichtete Erwerbswirtschaft muß an ihren inneren Ungleichgewichtigkeiten und Gegensätzlichkeiten zugrunde gehen. Insofern sind Diagnose und Prognose richtig. Allein Marx und Engels usw. irrten in einem wesentlichen Punkt. Sie meinten, daß sich die privatkapitalistische Wirtschaft in ihren Grundzügen gleichbleiben würde. Sie ähnelten in dieser Hinsicht einem Arzt, der nach der Untersuchung eines fieberkranken Patienten voraussagt, daß das Fieber von Tag zu Tag steigen und der Tod unausweichlich eintreten wird. Marx und Engels sahen nicht oder wollten nicht sehen, daß die kapitalistische Marktwirtschaft von Jahrzehnt zu Jahrzehnt weniger kapitalistisch wurde. Der Patient half sich selbst, und es wurde ihm geholfen. Bereits in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts hatte sich die wirtschaftliche, genossenschaftliche und in den sechziger Jahren die wirtschaftspolitische, gewerkschaftliche Selbsthilfe entwickelt. Dazu kam seit Ende der siebziger Jahre die Staatshilfe in mancherlei Form und in zunehmendem Ausmaß. So hat sich die Marktwirtschaft ganz wesentlich von jenem Wirtschaftssystem entfernt, das zweifellos durch Klassengegensatz und Klassenkampf, durch Ausbeutung und Verelendung breiter Massen gekennzeichnet war. Das Bild einer kapitalistischen Ausbeutergesellschaft aber beherrscht noch heute die marxistischen Vorstellungen von der westlichen Marktwirtschaft. Man sieht nicht die Wandlungen. Man will sie nicht sehen. Noch nicht!
4. D i e u n z u r e i c h e n d e n p h i l o s o p h i s c h e n Einsichten Die Ideologie der kommunistischen Bewegung wird in den mitteldeutschen und östlichen Lehrbüchern „Philosophie des Marxismus" genannt. Mit gewissem Recht. Denn philosophisches Denken ist auf Ganzes und Wesentliches gerichtet. Der Marxismus zielt nun tatsächlich auf den ganzheitlichen und wesentlichen Begriff der menschlichen Lebenswirklichkeit, ja der Welt überhaupt. Engels hatte den dialektischen und historischen Materialismus von Marx mit einer materialistischen Naturphilosophie verbunden und damit den Marxismus zu einer Weltanschauung erhoben. Georg Lukdcs widersprach dieser 103
ideologischen Expansion, ohne jedoch Beifall und Nachfolge zu finden. Trotzdem hat die dialektische Naturphilosophie, vielleicht abgesehen von der Physiologie und Biologie, keine wissenschaftlich-praktische Bedeutung gewonnen. Das Schwergewicht philosophischen Denkens und Interpretierens liegt nach wie vor im dialektischen und historischen Materialismus, in der Geschichts- und Kulturphilosophie. Die Triebund Antriebskräfte der geschichtlichen Entwicklung kommen, nach marxistischer Auffassung, aus Technik und Wirtschaft. Der Mensch in seinem Wesen ein homo faber und ein homo oeconomicus; die menschliche Kultur technisch-ökonomisch determiniert! Technik und Wirtschaft, als Basis aller Kultur angesehen und gewertet, sind der Kultur selbst als ihre wesentlichen Elemente zugehörig. Man dürfte also, logisch richtiger, nur sagen, daß sie die übrige Kultur nach Art und Richtung entscheidend bestimmen. Das ist nicht zu leugnen. Die technisch-ökonomische Determination betrifft indessen unmittelbar nur die äußeren Lebensverhältnisse, die Apparaturen und die Ausstattung und Versorgung mit Gütern und Diensten. Das Leben der Industrievölker ist reicher und angenehmer geworden. Allein die Gefahren, die das Leben in all seinen Formen bedrohen, haben sich vergrößert. Die Pflanzen- und Tierwelt erfährt durch den technischen und wirtschaftlichen Fortschritt eine gefährliche Einbuße. Im zweiten Weltkrieg sind durch technische Zerstörungsmittel vierzig Millionen Menschen ums Leben gekommen, davon in der Mehrzahl Zivilpersonen. Zwischen technisch-ökonomischem Fortschritt und kultureller Entwicklung besteht also kein kausaler oder funktioneller Zusammenhang. Mit den größten technischen Errungenschaften und dem reichsten Wohlleben kann ein kultureller Niedergang einhergehen. Denn Kultur ist mehr als die sich in Technik, Wirtschaft und Verwaltung dokumentierende Antwort auf die an den Verstand des Arbeitsmenschen gerichteten Forderungen der Außenwelt. Sie ist darüber hinaus auch die sich in Wort und Werk dokumentierende Antwort auf die an Herz, Geist und Vernunft des schaffenden Menschen gerichteten Forderungen einer Welt des Inneren, des Selbstseins, der Selbstdarstellung. Gemeint ist nicht nur das personale Selbstsein des Menschen, sondern die ganze Lebenswelt, in und mit deren Selbstdarstellung ihr eigener Wert, ihr Selbstwert fordernd zum Ausdruck kommt. 104
Die Marxisten verschließen sich diesen wohl für idealistisch gehaltenen Gedanken, die jedoch in Wahrheit realistischer sind als ihre Ideologie. Denn wer und was ist das eigentlich Reale in der menschlichen Lebenswirklichkeit? Der Kollektivmensch? Der „öffentliche Mensch", der Staatsbürger, der Gattungsmensch, der Mensch im allgemeinen? Nein, sondern der Mensch in seiner körperlichen, seelischgeistigen Existenz als Person und Persönlichkeit. Und weiter: Ist der Mensch nur durch seine produktive, Güter und Dienste bereitstellende Arbeit wahrhaft Mensch? Die Marxisten übersehen bei ihrer an sich berechtigten Wertschätzung der Arbeit, daß diese allein nicht fähig wäre, die menschliche Kultur hervorzubringen. Die eigentliche Quelle aller kulturschöpferischen Tätigkeit ist die Schaffenskraft. Schaffen ist mehr als arbeiten. Der Schaffende „leistet" nicht nur etwas, und zwar das, was von der Sache aus geboten ist, er fühlt sich aus Liebe zur Sache veranlaßt bzw. verpflichtet, über das Sachnotwendige hinauszugehen, auf der Suche nach dem Sachzusammenhang und im Bestreben, alle darin liegenden Möglichkeiten auszuschöpfen. Schaffen heißt also nicht einen Plan erfüllen oder übererfüllen. Denn das „Uber" ändert nichts an der Sache selbst. Das wesentliche Merkmal schöpferischer Tätigkeit ist das Hinausgehen über die gegebenen Forderungen. Der Schaffende überschreitet das Gegebene, und er nimmt sich selbst das Recht, es zu übersteigen. Daher ist die wesentlichste Voraussetzung solcher, aus dem Eigensten kommenden schöpferischen Tätigkeit die persönliche Freiheit. Gerade dieser aber setzt der institutionelle Marxismus fast allenthalben Schranken entgegen. Einer schöpferischen Initiative gibt man nur dort Raum, wo sie technische, ökonomische und politische Herrschaftsmacht zu mehren vermag. Daher konzentriert man sich auf fachliche Bildung und Fachwissen. Schöpferisches Denken wird infolgedessen nicht als eine den ganzen Menschen erfassende, höchst persönliche Tätigkeit, sondern nur als eine Produktionskraft gewertet, als ein Mittel zur Steigerung der Produktivität. In den breiten Massen der östlichen Bevölkerung wächst mit der Erhöhung des Lebensstandards und der besseren Information durch Rundfunk, Presse und Fernsehen der Wunsch nach einem freien und besseren Leben. In gleichem Grade wächst freilich die Besorgnis der 105
kommunistischen Machthaber, es könnten sich bei fortschreitender Liberalisierung ähnliche negative Erscheinungen zeigen, wie vielerorts im Westen, nämlich Unzufriedenheit und Ungenügen mit dem, was man hat, und unstillbares Begehren nach mehr Gebrauchs- und Verbrauchsgütern, sowie zunehmende Gleichgültigkeit gegenüber Partei, Staat und den öffentlichen Angelegenheiten überhaupt. Heute schon ein in der sowjetischen Presse offen behandeltes Problem! Wenn wir von der persönlichen Freiheit sprechen, denken wir nicht in erster Linie an die Freiheit, zu produzieren und zu konsumieren, sondern an die gesellschaftlich gegebene Möglichkeit des Menschen, sich als ein selbsttätiges, selbstdenkendes, selbstverantwortliches Wesen behaupten und entwickeln zu können. Die erste Pflicht und Aufgabe von Gesellschaft und Staat wäre es, die Grundrechte der Person zu begründen und zu sichern. Wer sich über den Menschen als Person hinwegsetzt und die personalen Rechte mißachtet, beseitigt die einzige Instanz, die zwischen Gutem und Bösem in allen Dingen zu unterscheiden vermag. Weder Familie noch Volk noch Partei noch Staat haben ein Herz oder eine Seele und ein Gewissen. Daher ist es sinnlos von einer Partei- oder Staatsmoral zu sprechen. Eine Kollektivmoral ist immer und grundsätzlich die Moral der jeweils führenden Personen. In diesem Zusammenhang ein Wort zur marxistischen Ästhetik127*1. Selbst Georg Lukacs hält sich, obwohl über den orthodoxen Marxismus hinausgehend, noch in den Grenzen des dialektischen und historischen Materialismus (Realismus). Sein Ausblick auf die „Integrität des Menschen" ist ein Blick auf den kollektiven, sich seiner Kollektivität bewußt gewordenen, gemeinverantwortlich denkenden und handelnden Menschen, den die Geschichte heraufführen wird. Ist dieser aber der „ganze" Mensch? Der Mensch als Eigenwesen, als Person, ist durch seine persönliche Entscheidungsfreiheit charakterisiert, d. h. durch die Möglichkeit, sich nach gewissenhafter Prüfung der Forderungen, welche die Situation jeweils an ihn stellt, für diese oder jene Gewissensnorm entscheiden zu können. Nicht nur Interessen, sondern auch normative Werte stehen zur Wahl. Persönliche Freiheit ist daher immer ein großes Wagnis und schließt hohe Verantwortung in sich. Dieses gilt auch für die künstlerische Freiheit. 127
106
* Vgl. oben S. 77 ff.
Richtet sich der künstlerische Gestaltungswille aber nur auf Realitäten, d. h. auf Dinge und Vorgänge, die in Raum und Zeit erscheinen? Die marxistische Ideologie erweist sich durchgängig als zu eng und zu flach. Der Künstler kann, wie die Entwicklung der symbolischen und der abstrakten Kunst zeigt, auch Irrealem Form und Gestalt geben. Die marxistische Ästhetik kann aber infolge ihrer Begrenzung auf Realitäten weder die magischen Zeichnungen in den Höhlen von Altamira, Lascaux, Alpera (Albacete), Morella la Vella usw., noch die formalistische, sich geometrischer Formen bedienende abstrakte Kunst, noch die fast ins Formlose verschwimmenden expressionistisch-symbolischen Werke der Malerei, der Dichtkunst und der Musik als Kunst anerkennen. Kunst 128 aber zeigt sich allenthalben dort, wo der Mensch dank seiner abstrahierenden und konzentrierenden Geistesmacht und gestaltenden Phantasie aus seiner Erlebniswelt eine neue Wirklichkeit herauszuheben und in seinem Sinne zu bilden vermag. Das Menschenbild des Marxismus-Leninismus ist nicht die verdichtete Zusammenfassung dessen, was der Mensch im Grunde und im ganzen ist. Der Mensch ist freilich auch nicht nur Person, und er lebt als Person keineswegs nur sich selbst. Personale Lebensäußerungen und gerade die persönlichsten sind im Gegenteil durch die uneingeschränkte Zuwendung des Einzelnen zu Anderem in der vielfältigsten Gestalt gekennzeichnet. Insofern ist gerade der Mensch als Person ein tätiges und verantwortungsbewußtes Glied der Gemeinschaft, in der er lebt und arbeitet. Das dialektische Schema Individuum-Kollektiv wird der Vielgestaltigkeit und Vielschichtigkeit der gesellschaftlichen Lebenswirklichkeit nicht gerecht. Ein angemesseneres Bild ist die Vorstellung von engeren und weiteren Kreisen. Um den personalen Kreis schließen sich die verschieden ausgedehnten Kreise mannigfaltigen Gemeinschaftslebens. Den personalen und sozialen Lebenskreis aber umgreift der Kreis menschlichen Daseins überhaupt. Mögen sich die Menschen an Alter und Geschlecht, an Rasse, Beruf und Bildung noch so sehr unterscheiden, sie sind doch 128
Vgl. Herbert Read, Icon and Idea. The Function of Art in the Development of Human Conciousness (1955). Dtsch.: Bild und Idee. Du Mont Dokumente. Köln, 1961. 107
alle gleicherweise Menschen. Die normativen Ideen der Gleichheit und Brüderlichkeit, die Grundwerte des ethischen Liberalismus und Sozialis* mus sind Grundforderungen aus allgemein menschlicher Gesinnung. Der Marxismus ist (vorerst) im Recht, wenn er die humanen und sozialen Grundwerte so nachdrücklich herausstellt. Die Sphäre der menschlichen Lebenswirklichkeit wird schließlich durch die Lebenswelt überhaupt umschlossen und umgrenzt. Wir befinden uns als Menschen mit allen Lebewesen in einem gemeinsamen Lebenskreis, wie es auch Goethe sagt: „Du führest die Reihe der Lebendigen vor mir vorbei und lehrest mich meine Brüder im stillen Busch, in Luft und Wasser kennen." So mündet der Gedanke der Humanität ein in das Bewußtsein einer All-Verbundenheit und All-Verantwortlichkeit 129 . Mensch und Natur kommen, gleichsam auf einer höheren Ebene, zusammen, nicht mehr als Ausbeuter und ausgebeutetes Objekt, sondern als aufeinander angewiesene Partner. Die Natur wird kultiviert, der Mensch — wenn er sich recht verhält — natürlich in seiner Lebensweise. So darf wohl auch jenes Wort von Marx verstanden werden, in dem von der „Humanisierung der Natur" und der „Naturalisierung des Menschen" die Rede ist. Ist es zu begreifen, daß ein humanitärer Sozialismus, eben der Marxismus, sich so inhuman gibt, wie es unzählige Male geschehen ist und grundsätzlich geschieht? Wie erklärt sich dieses Umschlagen des Humanen in das Inhumane? Die Ursache liegt nicht in einer politischen Fehlentwicklung des Marxismus, z. B. im Stalinismus, sondern im Kern der Ideologie selbst. Marx hat verschiedentlich, so schon in den ökonomisch-philosophischen Manuskripten (1844), die menschliche Wesensart zu bestimmen gesucht: „Der Mensch ist nicht nur Naturwesen, sondern ist menschliches Naturwesen; d. h. für sich selbst seiendes Wesen." Soweit richtig! Doch nun der Fehlschluß: „darum Gattungswesen". Oder an 129
Hier erhebt sich die Frage nach dem Grund allen Daseins und aller Verantwortlichkeit. Hier öffnet sich dem nachdenklichen und besinnlichen Menschen der Blick in die religiöse Glaubens- und Lebenssphäre. 108
anderer Stelle: Der Mensch entwickelt sich erst in der Gesellschaft. Daher ist seine wahre Natur gesellschaftlich. Der einzelne lebt gewiß immer in einer Gemeinschaft, und er kann sich auch nur in ihr bilden und entwickeln. Mögen jedoch die gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse den einzelnen noch so sehr formen und gestalten, er ist in seinem Kern ein sich selbst bestimmendes, aus sich selbst denkendes und handelndes, selbstverantwortliches Wesen. Gerade diese personale Existenz wird durch den Marxismus ausgeklammert. Marx hatte weder an dem einzelnen Proletarier, noch an dem einzelnen Bourgeois ein Interesse. Ihn interessiert nur das Allgemeine, die Klasse, der Typus, die Art, die Gattung. Das Schicksal des einzelnen läßt ihn gleichgültig. Wichtig sind nur der historisch-ökonomische Fortschritt, die proletarische Revolution und die Entwicklung zur sozialistisch-kommunistischen Gesellschaftsordnung. In dem Maße, wie man sich von der konkreten Lebenswirklichkeit des persönlichen und gemeinschaftlichen Daseins entfernt, um so weniger rührt und berührt das einzelne Schicksal. Hilferufe und Laute des Jammers und Schmerzes dringen nicht an das abgewandte Ohr. Der abstrakt-rationalistische Geist, das typisierende und generalisierende Denken, prägt sich in Mitleidlosigkeit und Grausamkeit aus. Alles totalitäre Denken ist in seinen Konsequenzen unmenschlich. Wird doch der Einzelne dem Allgemeinen geopfert. Wie die Geschichte lehrt, hat es noch jedes totalitäre System verstanden, diese Opferung als sittliche Forderung zu rechtfertigen. Im Namen des Volkes, im Namen der Nation, im Namen der Menschlichkeit, im Namen Gottes — wieviel Opfer sind nicht um abstrakter Vorstellungen willen gefordert und gebracht worden! Abstrakt, soweit sie an den einzelnen von außen herangetragen werden, ohne daß er sie mit seinem eigenen Fühlen, Wollen, Denken und Gewissen in Einklang bringen kann. VIII. Die Stärke und Schwäche der kommunistischen Bewegung 1. D i e
Liberalisierung
Die geschichtliche Entwicklung zielt nach marxistischer Lehre auf die Begründung einer sozialistisch-kollektivistischen, rationellen Lei109
stungswirtschaft. Die bisherige Geschichte sei zwar eine Geschichte mannigfaltiger Ausbeutung, zugleich aber eine Geschichte fortschreitender Rationalisierung der Produktionsweise. Die Menschen seien allgemein bestrebt, ihre Lebensverhältnisse zu verbessern. Zu diesem Zweck hätten sie immer zweckmäßigere Methoden der Güterproduktion gesucht, eine zweckmäßigere Form der Ausbeutung (Sklavenhalterordnung — Feudalsystem — kapitalistische Wirtschaft) und zweckmäßigere Produktionsmittel (vom einfachsten Werkzeug bis zur Maschine). So groß die technisch-ökonomischen Errungenschaften in der kapitalistischen Wirtschaft auch seien, so sei diese im ganzen doch noch unrationell. Denn auch dieses System sei, wie jedes vorangegangene, ein System der Ausbeutung, wirtschaftlich durch eine „Anarchie der Produktionsweise" gekennzeichnet. Die Geschichte habe ihr Urteil gesprochen. Die Bourgeoisie werde liquidiert, das zersplitterte Privateigentum an Produktionsmitteln kollektiviert, verstaatlidit oder sozialisiert, und an Stelle der wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Planlosigkeit eine straffe und konzentrierte Planung eingeführt. Denn nur eine zentrale Planung gewähre eine wirklich rationelle Produktionsweise. Die tatsächliche geschichtliche Entwicklung schien diese Thesen, jedenfalls in bezug auf die kollektivistische Planwirtschaft, zu bestätigen. Die Akkumulation, Zentralisation und Konzentration aller produktiven Kräfte und Produktionsmittel ermöglichte es z.B. der Sowjetunion, die Wirtschaft ungewöhnlich rasch zu industrialisieren. Die verhältnismäßig geringe Zahl bedeutender Industrieunternehmen und die Beschränkung der Industrieproduktion auf bestimmte Schwerpunkte gestatteten die Ubersicht und Planung von einer zentralen Stelle aus. Die marxistisch-leninistische Theorie zieht indessen nicht die Folgerungen, die sich hieraus ergeben. Von einem bestimmten Grad der Industrialisierung ab müssen sich die Planungsmethoden ändern. Der unausbleibliche Wandel der Verhältnisse muß zu einer grundsätzlichen Neuorientierung in der Planung von Produktion und Verbrauch führen. Der Ubergang von jener ersten Phase der Industrieproduktion, gekennzeichnet durch Spezialisation, Konzentration und Zentralisation 110
in dem noch wenig besetzten Industriesektor, zu der zweiten Phase hochindustrieller Entwicklung bedingt einen tiefgreifenden Strukturwandel. Konnte man in der ersten Phase noch auf gegebene Arbeitskräfte zurückgreifen, so macht sich nunmehr eine Verknappung, besonders von Facharbeitskräften, nachhaltig bemerkbar. Die zwangsläufige Verbesserung der Arbeitsbedingungen in den Industriezentren lockt die ländlichen Arbeitskräfte in die Städte. Die Landwirtschaft kann ja auch bei fortschreitender Technisierung und Rationalisierung Arbeitskräfte in zunehmender Zahl freigeben. Die landwirtschaftliche Bevölkerung nimmt daher im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung bemerkenswert ab. In Polen lebten vor dem zweiten Weltkrieg noch 65 °/o der Bevölkerung auf dem Lande; heute leben dort knapp 50 %. Der erwähnte Strukturwandel betrifft aber nicht nur das Verhältnis zwischen Land und Stadt. Die Wirtschaftssektoren überhaupt verändern sich in sehr unterschiedlicher Weise, wie Colin Clark und Jean Fourastie im Hinblick auf die moderne Wirtschaftsentwicklung gezeigt haben. Während der primäre Sektor der Urproduktion, insbesondere der Landwirtschaft, stark zurückgeht, dehnt sich der sekundäre Sektor der gewerblichen bzw. industriellen Produktion unverhältnismäßig aus. Darüber hinaus erweitert sich der tertiäre Sektor der Dienstleistungen in noch größerem Ausmaß. Die Gesamtwirtschaft wird also immer komplizierter. Sie wird so differenziert und spezialisiert in der Bereitstellung von Gütern und Diensten, daß eine zentrale Detailplanung unmöglich ist. Die Planungsmethoden müssen geändert werden. Die Zentralisierung muß einer weitgehenden Dezentralisierung weichen. Den Unternehmen muß mehr Freiheit in ihrer Betriebsgebarung und -planung, im ganzen also mehr wirtschaftliche Verantwortung gegeben bzw. übertragen werden. Dezentralisierung und Liberalisierung werden so aus der Sache heraus zwingend erforderlich. Das ist die von den orthodoxen Marxisten nicht gesehene Logik der Fakten, der Tatsachen. Wer A sagt, muß auch A l , A2 usf. sagen, d.h. alles tun, was mit der Setzung von A zwangsläufig verbunden ist. Wer einen Industriebetrieb gründet, muß den betrieblichen Notwendigkeiten Rechnung tragen. Jede von uns erzeugte oder erworbene Sache hat ihren 111
Sachbedarf, sei es daß sie als Unterhaltsmittel zubereitet oder aufbewahrt bzw. als Gebrauchsgut gepflegt werden will. Je komplizierter die Einrichtungen, um so größer und spezialisierter ihr Bedarf, um so ausgedehnter die Bedarfskette bzw. Bedarfsverkettung. Wer ein Kraftfahrzeug kauft, übernimmt im Interesse der Erhaltung dieses Gutes die Verpflichtung, es zu pflegen, es gegebenenfalls unterzubringen; er sieht sich verpflichtet, Steuern und Versicherungsprämien zu zahlen, Reparaturen vornehmen zu lassen, vor allem natürlich für ö l und Treibstoff zu sorgen. Der einfache und unmittelbare Lebensbedarf zwingt uns heute nicht soviel Mühe und Arbeit ab, wie der sich schier endlos verkettende Sachbedarf. Wie aber könnte dieser ganze komplizierte Vorgang von einer Zentralstelle aus übersehen, geplant und gelenkt werden! Partei und Regierung in allen kommunistischen Ländern müssen sachnotwendig ihre Planungsmethoden den neuen Gegebenheiten anpassen. So geschieht es heute in der Tat auch in allen Ländern im Ostblock, selbst in der noch stalinistisch orientierten „DDR". Das neue Wirtschaftsmodell soll zu einer realistischeren Kostenrechnung und größeren Wirtschaftlichkeit beitragen. Das Neue ökonomische System der Planung und Leitung („Nöspl") soll die Voraussetzung für eine rationelle Leistungssteigerung abgeben. Mitteldeutsche Professoren und Dozenten der Wirtschaftswissenschaft hatten, wie bereits erwähnt, schon 1957 die bürokratische „administrative Methode" der zentralistischen Planung kritisiert und mehr Freiheit und Initiative im Unternehmensbereich gefordert. Was damals als parteifeindlich verurteilt und abgelehnt wurde, wird heute als wirtschaftlich notwendig betrachtet. (Vgl. oben S. 53 ff.) Die Hoffnungen aller realistisch und praktisch denkenden Wirtschaftswissenschaftler und Wirtschaftspolitiker in der Sowjetunion verbinden sich mit den Namen Liberman, Bjeleusow, Fjodorenko, Trapesnikow, Wolkow und Schkatow. Die neue wirtschaftspolitische Konzeption bezieht sich auf die Gewinnorientierung der Unternehmen. Die Betriebsleiter sollen in der innerbetrieblichen Produktion und Investition sowie im Abschluß von Liefer- und Absatzverträgen verhältnismäßig freie Entscheidung haben. Zunächst sollen mehrere hundert Unterneh112
men ihre Produktion versuchsweise nach den betriebswirtschaftlichen Grundsätzen von Prof. Liberman (Charkow) ausrichten. Am weitesten ist die Tschechoslowakei vorgegangen. Hier ist der führende Wirtschaftsreformer der Direktor des ökonomischen Instituts der Akademie der Wissenschaften in Prag, Prof. Ota Sik. Wie er bei einem Vortrag in West-Berlin ausführte, komme es bei der gegenwärtigen Wirtschaftsreform darauf an, „innerhalb der Planwirtschaft neue spezifische Geld- und Waren-, also Marktverhältnisse" zu entwickeln. Die Betriebe, d.h. die nicht zu groß gehaltenen Fachkonzerne sollen ihre kurzfristigen Jahrespläne allein ausarbeiten. Ihre Entscheidungen müssen allerdings den gesellschaftlichen Notwendigkeiten entsprechen. Dabei sollen die für das Land charakteristischen Marktverhältnisse ausgenutzt werden. Es sei daher unzutreffend, wenn im Ausland gesagt wird: „Ihr habt jetzt Amerika entdeckt." Man dürfe eben nur Waren produzieren, die wirklich gebraucht und verkauft werden. Aus den Betriebseinkünften müssen Reserven zur Deckung etwaiger Verluste und zur technischen Weiterentwicklung gebildet werden. Der Rest bleibt für die Löhne und für einen Prämienfonds 130. Mit der innerwirtschaftlichen Liberalisierung verbinden sich allenthalben auch außerwirtschaftliche freiheitliche Bestrebungen. Interessant sind die Bemühungen der Ostblock-Staaten (COMECON) um einen multilateralen Handelsverkehr auf der Grundlage eines konvertierbaren Rubels auf Goldbasis. Darüber hinaus gehen die Bestrebungen, mit der westlichen Welt engere wirtschaftliche Kontakte zu pflegen und, wie der tschechoslowakische Außenhandelsminister Jaroslaw Kohout jüngst gefordert hat, die internationale Arbeitsteilung zu unterstützen. In ähnlichem Sinne äußerte sich auf der IndustrieMesse in Hannover der Direktor des polnischen Pavillons, Edward 130 Vgl. Joachim Nawrocki, Nöspl und die Ideologen, FAZ v. 24. 4. 1965. — Vgl. Erich Apel und Günter Mittag, Neues ökonomisches System und Investitionspolitik. Ost-Berlin, 1965. Dieselben: Planmäßige Wirtschaftsführung und ökonomische Hebel. Ost-Berlin, 1964. — Oskar Lange, Warschau, erörtert in einem Aufsatz „Aktuelle Probleme der sozialistischen Wirtschaft" (Wirtschaftsdienst, Hamburg, Jan. 1965) die Bedingungen einer funktionsfähigen Zentralplanwirtschaft. 8 Schack
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Czarnecki. Polen lehne eine wirtschaftliche Autarkie und Isolation ab. Die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem Westen weise ja auch seit Jahren eine steigende Tendenz auf 131 . Die Versuche und Bemühungen um eine inner- und außenwirtschaftliche Liberalisierung bedeuten keine Abkehr von der sozialistischen Planwirtschaft; sie tragen im Gegenteil zu ihrer Stärkung bei. Wie die freie Marktwirtschaft nur dann funktionsfähig ist, wenn sie sich bis zu einem gewissen Grade ordnet bzw. integriert, so ist auch eine Zentralplanwirtschaft auf die Dauer nur funktionsfähig, wenn sie marktwirtschaftliche Momente in sich aufnimmt. Eine andere Frage ist freilich, ob es bei einer „Orientierung nach Art der Marktwirtschaft" (Adolf Weber) bleibt. Mehr wirtschaftliche Freiheit fordert noch mehr geistige Freiheit. Die fortschrittliche Entwicklung der technischökonomischen Verhältnisse führt ja nach marxistischer Auffassung auch zu einer Veränderung des sog. ideologischen Uberbaus, d. h. der Bewußtseinsinhalte und der daraufhin begründeten Einrichtungen, wie z. B. auch Schulen und Hochschulen. Werden die engeren weltwirtschaftlichen Beziehungen zu politischen Annäherungen führen? Man könne den kommunistisch regierten Ländern ihren Kommunismus nicht durch Kredite und Handelsvorteile abkaufen, sagte kürzlich der österreichische Außenminister Kreisky. Die Handelsabkommen werden ja auch abseits von politischen und persönlichen Beziehungen geschlossen, es sei denn, die Geschäftspartner kämen von vornherein in dem Willen zu gegenseitiger Achtung und Würdigung zusammen. Solche Haltung widerspräche freilich der orthodoxen marxistischen Einstellung, wonach der kapitalistische Partner 131
Vgl. Handelsblatt v. 26. 4. 1965. Vgl. hierzu und zum folgenden: Rissener Rundbrief v. März 1965. Hrsg. v. Haus Rissen, Institut für Wirtschafts- und Sozialpolitik, Hamburg-Rissen. — Zu den osteuropäischen Fragen bringt das Beiheft zu Nr. 21 der Wirtschaftsund Finanzzeitung Der Volkswirt v. 28. 5. 1965 aktuelle Beiträge („Europäische Volksrepubliken — Handelspartner der Bundesrepublik Deutschland). — Vgl. zur Frage der Wandlung des osteuropäischen Kommunismus: Thomas Ross, Osteuropa kehrt zurück. Wien, 1965. — Über Mitteldeutschland: Karl C. Thalheim, Die Wirtschaft der Sowjetzone in Krise und Umbau. Berlin, 1964. 114
als der Klassenfeind angesehen wird, der (nach Lenin) profitgierig den Strick verkauft, mit dem er später aufgehängt werden wird. Engere weltwirtschaftliche Verflechtungen zwischen Ost und West würden gewiß zu einer weltpolitischen Entspannung beitragen. Kriegerische Konflikte würden nicht so leicht ausbrechen. Die Hebung des Wohlstandes in den Ostblockländern führt indirekt zu einer Verbesserung der internationalen Situation. Mit steigendem Wohlstand ändert und verfeinert sich nicht nur der Lebensbedarf, sondern auch der Kulturbedarf. Der Wunsch nach weltweiter Information, nach einem freien Gedanken- und Meinungsaustausch über die Grenzen hin, sowie nach Freizügigkeit äußert sich immer stärker und nachhaltiger. Mit der Liberalisierung ist gewiß eine Schwächung des orthodoxen, stalinistischen Marxismus verbunden. Der humanitäre Reformkommunismus findet in dieser Entwicklung dagegen günstige Chancen. Dem steht auch die nationale Bewegung in den Ostblock-Ländern nicht im Wege.
2. D i e P o l i t i k d e r n a t i o n a l e n Interessensicherung Auswärtiger, politischer, ökonomischer oder gar militärischer Druck schließt ein Volk zu nationaler Einheit zusammen. Gemeinsames bitteres Erleben läßt eine Schicksalsgemeinschaft entstehen, wie sich solche in guten Zeiten nie herauszubilden vermag. In der Volksrepublik China entstanden durch die Abberufung der Techniker und Ingenieure durch die sowjetische Regierung und die plötzliche Einstellung der umfangreichen materiellen und geistigen Hilfe seitens der UdSSR außerordentliche Schwierigkeiten. Hinzu kamen die katastrophalen Ernteausfälle. In dieser Not fanden sich Volk und Regierung in gemeinsamer Abwehr zusammen, ähnlich wie es in der UdSSR im zweiten Weltkrieg gegenüber dem nationalsozialistischen Angriff der Fall gewesen war. Im Kommunistischen Manifest heißt es, den Kommunisten werde vorgeworfen, „sie wollten das Vaterland, die Nationalität, abschaffen". „Die Arbeiter haben kein Vaterland. Man kann ihnen nicht nehmen, 8*
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was sie nicht haben. Indem das Proletariat zunächst sich die politische Herrschaft erobern, sich zur nationalen Klasse erheben, sich selbst als Nation konstituieren muß, 'ist es selbst noch national, wenn auch keineswegs im Sinne der Bourgeoisie." Die nationalstaatliche Bewegung in den kommunistischen Ländern widerstreitet also nicht dem Manifest der Kommunistischen Partei, geschweige denn den von Lenin anerkannten Grundsätzen vom Selbstbestimmungsrecht der Völker und Nationen. In der europäischen kommunistischen Bewegung hat, abgesehen von Jugoslawien bzw. dem Titoismus, Rumänien sehr selbstbewußt den Weg zu einem Nationalkommunismus eingeschlagen. Als die rumänische Regierung das Ansinnen Moskaus auf Reagrarisierung ablehnte, antwortete die Sowjetregierung mit wirtschaftlichen Repressalien. Daraufhin bemühte sich die rumänische Regierung um westliche Entwicklungshilfe. Die Stationen auf dem Wege der rumänischen Emanzipation waren: Schließung der Maxim-Gorki-Institute, freie Wahl der Fremdsprachen an den Schulen, intensivere Handelsbeziehungen zum Westen hin, Einstellung der antiwestlichen Propaganda und Anerkennung der Berlin-Klausel. Man darf mit Fug und Recht von einem Polyzentrismus der kommunistischen Bewegung sprechen. China und Albanien, Rumänien, Polen, Ungarn, die Tschechoslowakei, die „DDR" sowie das titoistische Jugoslawien zeigen heute einen unterschiedlichen national-kommunistischen Charakter. Unterschiedlich je nachdem, ob sie den Grundsatz einer proletarischen Diktatur, eines sozialistischen Demokratismus oder eines demokratischen Zentralismus vertreten. Die Chinesen sprechen auch von einer „neudemokratischen Revolution". Sie huldigen, wie bekannt, einem besonders aggressiven nationalistischen Kommunismus. Die nationale, polyzentrische kommunistische Bewegung scheint den internationalen Prinzipien und Aktionen im Wege zu stehen. Man könnte hier, wie bei der Liberalisierung, an eine Schwächung der Bewegung denken. Allein wie ein gewisser Grad individueller Freiheit dem kollektiven Ganzen zugute kommt, so ist auch ein gewisser Grad äußerer nationaler Unabhängigkeit und Freiheit ein wesentliches 116
Moment politischer und wirtschaftlicher Stärke. Der alte kommunistische Grundsatz der Gleichheit kann überdies weniger in einem von Moskau beherrschten und organisierten monolithischen Block, als in einer internationalen Differenzierung verwirklicht werden. Die Parteiführer haben gewiß nicht danach wie nach einem Grundsatz gehandelt. Verschiedenartige innerwirtschaftliche und außenpolitische Verhältnisse haben nach und nach den sowjetischen Anspruch auf Vorherrschaft zurückgedrängt und einer relativ eigenmächtigen und eigenständigen Politik den Weg bereitet. Je mehr eine Regierung die Chancen der Nation wahrnimmt, um so einiger darf sie sich mit dem Volk wissen. Diese Chancen aber liegen vor allem in der Möglichkeit, sich innen- und außenpolitisch beweglich halten zu können. So verbindet sich mit einer Politik der nationalen Interessensicherung zwangsläufig auch eine liberale Bewegung. Die Machtfülle einer Regierung, die sich weithin auf die Zustimmung der Regierten stützen kann, ist unvergleichlich größer als die einer sich nur des Zwanges bedienenden Regierung. Die freiheitlichen Tendenzen im Innern der Nationen und in ihren äußeren politischen und wirtschaftlichen Beziehungen, verbunden mit einer Politik der nationalen Interessensicherung, bringen dem Kommunismus einen gewissen Machtzuwachs. Allerdings nicht einem totalitären und despotischen Kommunismus, sondern einem humanitären Reformkommunismus. Diese Entwicklung ist eine Hoffnung für den Weltfrieden.
Schluß DIE WAHRHEITSFRAGE Die Marxisten nehmen für sich in Anspruch, eine dialektische Philosophie zu vertreten. Träfe dieses wirklich zu, so würden sie sich den ihnen widerstreitenden Meinungen gegenüber aufgeschlossener zeigen. Denn eine dialektische Philosophie lebt nur im Aufnehmen, Wahrnehmen und Überwinden von Widersprüchen und Gegensätzen. Der institutionelle Marxismus aber ist dogmatisch verhärtet und hat sich in Form und Inhalt nicht wesentlich verändert. Selbst die von Lenin begründete Theorie der ungleichen Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft, welche die Oktoberrevolution von 1917 in einem kapitalistisch unterentwickelten Lande rechtfertigen sollte, hat den Kern des dialektischen und historischen Materialismus nicht berührt. Sowohl Lenin wie Mao Tse-tung haben sich im allgemeinen auf erkenntnistheoretische und geschichtsphilosophische Erläuterungen und genauere Formulierungen der traditionellen Grundgedanken beschränkt. Der Marxismus hätte aber nicht die weltweite Anziehungskraft gewonnen, wenn er über seine aufwühlenden, Empörung und Haß, sowie Begeisterung weckenden kritischen und utopischen Elemente hinaus nicht viele richtige und praktisch bedeutsame Gedanken enthalten würde. Lenin meinte sogar: „Der Marxismus ist allmächtig, weil er wahr ist." Inwiefern darf man hier von Wahrheit sprechen? Wir unterscheiden zwischen Richtigkeit und Wahrheit. Eine Aussage ist richtig, wenn sie einem besonderen Sachverhalt entspricht. Richtig ist z. B., daß es in der Geschichte Klassengegensätze und Klassenkämpfe gegeben hat. Richtig auch, daß der Mensch ein zoon politikon, ein gesellschaftliches Lebewesen ist. Die Tatsachen bestätigen beides. Ein Verhalten ist richtig, wenn es einer bestimmten Ordnung entspricht. Das Verhalten der Produzenten und Konsumenten in der 118
Marktwirtschaft ist richtig, wenn es marktkonform ist, also die Spielregeln des Marktes beachtet. Wahr dagegen ist eine Äußerung, die einen Gegenstand oder Vorgang im ganzen und wesentlichen betrifft und mit ihm sach- oder sinngemäß übereinstimmt. Die Marxisten sind überzeugt, die Wahrheit über die Geschichte zu wissen: „Die bisherige Geschichte ist eine Geschichte der Klassengegensätze und Klassenkämpfe." Geschichte ist jedoch mehr als ein Schauplatz von Klassenkämpfen. Sie ist auch ein Schauplatz mannigfaltiger Friedensbemühungen und verschiedener Formen gegenseitiger Hilfe. Sie ist darüber hinaus der Boden wechselvoller kulturschöpferischer Tätigkeit, aus welcher Werke von zeitüberlegener Größe und Dauer entsprungen sind. Nach marxistischer Lehre ist wahres Menschentum im Allgemeinmenschlichen beschlossen. Auch das ist nicht wahr. Denn der Mensch ist mehr als ein Kollektivwesen und mehr als das, was seine allgemeine und gleiche Natur bildet. Er ist ursprünglich eine sich von seinesgleichen äußerlich und innerlich unterscheidende Person, wesentlich unterschieden durch sein Selbstbewußtsein, seine Selbstbesinnung, seine Selbstverantwortlichkeit, seine Selbstbehauptung und seine Selbstdarstellung. Marx kam in seinen jungen Jahren der Wahrheit über den Menschen nahe. Hiervon zeugt ein Brief an Rüge (1843): „Der Kritiker kann also an jede Form des theoretischen und praktischen Bewußtseins anknüpfen und aus den eigenen Formen der existierenden Wirklichkeit die wahre Wirklichkeit als ihr Sollen und ihren Endzweck entwickeln . . . Es wird sich dann zeigen, daß die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewußtsein besitzen muß, um sie wirklich zu .besitzen." Was ist aber die wahre Wirklichkeit des Menschen, jenes Soll-Sein, wovon der Mensch nur das Bewußtsein besitzen müßte, um sich dementsprechend verwirklichen zu können? Marx hatte den künftigen Menschen vor Augen, der sich unter gänzlich veränderten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen in der Totalität seiner Anlagen und Fähigkeiten vollenden werde. Die Dialektik des Geschichtsprozesses würde diese Wesensverwandlung herbeiführen. Ein phan119
tastischer Gedanke! Marx stand anfangs wohl auf der Grenzscheide zwischen einem ontologischen Determinismus und einer normativen Ethik. Der von ihm dann aber entwickelte dialektische und historische Materialismus schloß eine normative Ethik aus. Der historische Determinismus geriet freilich nach der Institutionalisierung des Marxismus durch Partei und Staat in Widerspruch zur Lebenswirklichkeit. Mit den veränderten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen bildete sich nicht auch eine soziale bzw. sozialistische Gesinnung heraus. Die Menschen mußten dazu erzogen werden. Die von der Partei gefordere Gewissensprüfung bezieht sich allerdings nur auf äußere Verantwortlichkeiten. Die stete Frage ist: Kommt der Staatsbürger bzw. Parteigenosse seinen Verpflichtungen gegenüber Partei, Staat und Arbeitswelt nach? Selbstverantwortliches Denken und Urteilen werden nicht verlangt. Eine selbstverantwortliche Kritik ist auch überflüssig. Denn die Partei sagt jedermann, was richtig, recht und gut ist. Kann aber der „außengelenkte" Staatsbürger der Partei immer recht geben? Gerät er nicht in einen inneren Zwiespalt, wenn ihm Handlungen befohlen werden, die er nach eigenem Wissen und Gewissen ablehnt? Muß er sich nicht bedrängt und bedrückt fühlen, wenn er Gedanken folgen soll, denen er nicht zustimmen kann? Wirklich, selbstverantwortlich denkende Menschen können dabei fast in eine Schizophrenie geraten. Die äußerlich vielleicht nicht mehr als so bedrückend erlebte Spannung zwischen Individuum und Kollektiv verlagert sich in einen innerpersönlichen Konflikt zwischen selbsteigener und äußerer Verantwortlichkeit.— Der Marxismus begibt sich seines Wahrheitsanspruches, solange er nicht der vollen und ganzen menschlichen Lebenswirklichkeit gerecht wird. Gewissenszwang ist der Tod der Wahrheit. Denn diese kann sich nur in persönlicher Gewissensprüfung und immerwährender Bemühung um richtiges Denken und Handeln verwirklichen. Die Wahrheit ist die Schicksalsfrage des Marxismus. Werden sich die Vertreter des institutionellen Marxismus zu einer realistischen und konkreten, die personale Existenz beachtenden und 120
aditenden Auffassung durchringen? Oder werden sie an ihrer abstraktkollektivistischen Denkweise festhalten? Viele Zeichen sprechen für eine in Gang gekommene äußere und innere Veränderung. Die Menschen der kommunistisch regierten Länder verhalten sich sowieso anders, als es dem marxistischen Menschenbild entspricht. Eine uniforme Gleichschaltung ist erfahrungsgemäß nur bis zu einem gewissen Grade möglich. Totalitäre Regierungen benötigen wenigstens von Fall zu Fall einer gewissen „Zustimmung der Regierten". Max Born hat einmal resignierend gesagt: „Ich gehöre noch zu der Generation, die zwischen Verstand und Vernunft unterschied 132." Nun, der Kardinalfehler des Marxismus ist nicht nur der Mangel an Unterscheidung zwischen Verstand und Vernunft, sondern geradezu die Verleugnung der Vernunft; freilich nicht so weit, als die auf das menschlich Allgemeine gerichteten inneren Forderungen in Betracht kommen. Appelliert man doch geradezu an das nationale und soziale Gewissen und fordert den Einsatz aller Kräfte für den Aufbau des sozialistischen Vaterlandes. „Heimat, sozialistisches Vaterland, unendlich gutes!" (H. Grabner). Jenen Vernunftforderungen allerdings, die uns zur Selbstbesinnung und Selbstverantwortlichkeit aufrufen, kann ein totalitäres Regime nicht stattgeben, vor allem nicht der Verpflichtung zur Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Wahrheit bedeutet Einstimmigkeit eines auf sinnvolle und zweckmäßige Gestaltung angelegten Ganzen mit seiner wesentlichen Bestimmung. Diese Interpretation gilt sowohl für die Natur in ihrem anscheinend oft so bewunderungswürdigen Einklang von Wesen und Erscheinung, wie auch für die Menschenwelt in ihren vielgestaltigen, jedoch immer unzureichenden Ausdrucksformen und Bildungsmöglichkeiten133. Der Mensch allein weiß um die erstrebenswerte innere und äußere Einstimmigkeit (Idee der Wahrheit). Der Sinn der Wahrheit geht ihm 132
Vgl. Max Born, Die Physik in der Problematik unseres Zeitalters. In dem Sammelwerk: Wo stehen wir heute? Gütersloh, 1960, S. 229. 133 Die hier ausgesprochenen philosophischen Gedanken sind in meinem Buch: Herbert Schack, Wirtschaftsleben und Wirtschaftsgestaltung. Die Grundlagen der Wirtschafts- und Sozialphilosophie (Duncker & Humblot, Berlin, 1963.) weitergeführt. Vgl. besonders S. 184 ff. 121
auf, wenn er Unwahrheit, Unwahrhaftigkeit und Lüge erlebt. Dann weiß er, daß ohne den tätigen Willen zur Wahrhaftigkeit auf die Dauer kein persönliches, kein familiäres und gesellschaftliches Leben, keine Volks- und Völkergemeinschaft möglich ist. Auch Kulturgebilde erheben den Anspruch auf Wahrheit. So der Staat, dessen optimale Gestaltungsmöglichkeiten sich nicht in dem Begriff eines politischen Machtinstrumentes erschöpfen. So die Familie, deren Wesen dem Begriff einer Zweckverbindung widerstreitet. So die Genossenschaft, die schon ihrem Wortsinn nach mehr ist als ein bloß geschäftlicher Zusammenschluß. Erst recht sind Kunst und Wissenschaft der Wahrheit verpflichtet. Daher die von dieser Seite kommende grundsätzliche Ablehnung ideologischer Vorurteile und administrativer Vorschriften. Schließlich — oder richtiger gesagt: zuallererst — soll die Sprache in Einklang mit ihrem Geist stehen. Wortverdrehungen und -verkehrungen, wie sie unter totalitären Regierungen üblich sind, widerstreiten ihrem Wesen. Auch die Sprache will wahr sein. Wir kritisieren —, jedoch mit welchem Recht? Mangelt es uns selbst nicht auch oft an Vernunft, so daß wir uns den Weg zur Wahrheit versperren? Machen wir uns nicht auch der Uberschätzung des Verstandes, der Rationalität mit allem was damit zusammenhängt, schuldig? Also eines überspannten Spezialisierens und Schematisierens, Organisierens und Administrierens? Wird so, im ganzen und grundsätzlich gesehen, die Kritik am Marxismus nicht unversehens eine Kritik an uns selbst?
NAMENVERZEICHNIS Aaron, Raymond 94 Abegg, Lily 84 Altmann, Eva 33 Apel, Erich 113 Barion, Jakob 93 Baskin, M. P. 76 Becher, Johannes R. 99 Behrens, Fritz 53 ff. Benary, Arne 53 ff. Berdiajew, Nikolai 39 Bernstein, Eduard 40, 50, 64, 66 Bloch, Ernst 30 ff. Born, Max 121 Bülow, Friedrich 31 Calvez, Jean-Yves 77 Chruschtschow, Nikita Sergejewitsch 11, 57, 62, 67, 86 Clark, Collin 111 Cohen, Arthur A. 28 Czarnecki, Edward 114 Dahm, Helmut 28 Djilas, Milovan 41,47 Dudinzew, Wladimir 49 Dübel, Siegfried 82 Ehrenburg, Ilja 44 Engels, Friedrich, 5,15,19,21 ff., 31, 34, 37, 49 ff., 56, 61, 103 Feuerbach, Ludwig 15, 34, 71, 74 Fourastie, Jean 111 Gaitanides, Johannes 94 Garaudy, Roger 70 Gomulka, W. 48, 67
Grabner,