Notstand und Strafe: Grundlinien einer Revision des Schuldbegriffs [1 ed.] 9783428556403, 9783428156405

Die Untersuchung entwickelt eine Theorie des entschuldigenden Notstands (§ 35 StGB). Die in der Literatur vorhandenen Be

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German Pages 314 Year 2019

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Notstand und Strafe: Grundlinien einer Revision des Schuldbegriffs [1 ed.]
 9783428556403, 9783428156405

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Strafrechtliche Abhandlungen Neue Folge · Band 285

Notstand und Strafe Grundlinien einer Revision des Schuldbegriffs

Von

Alaor Leite

Duncker & Humblot · Berlin

ALAOR LEITE

Notstand und Strafe

Strafrechtliche Abhandlungen · Neue Folge Begründet von Dr. Eberhard Schmidhäuser (†) em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Hamburg

Herausgegeben von Dr. Dres. h. c. Friedrich-Christian Schroeder em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Regensburg

und Dr. Andreas Hoyer ord. Prof. der Rechte an der Universität Kiel

in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten

Band 285

Notstand und Strafe Grundlinien einer Revision des Schuldbegriffs

Von

Alaor Leite

Duncker & Humblot · Berlin

Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von Professor Dr. Dr. h. c. mult. Claus Roxin, München Die Juristische Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München hat diese Arbeit im Jahre 2018 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2019 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany

ISSN 0720-7271 ISBN 978-3-428-15640-5 (Print) ISBN 978-3-428-55640-3 (E-Book) ISBN 978-3-428-85640-4 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Prof. Dr. Luís Greco in dankbarer Verbundenheit gewidmet

Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde im Jahr 2018 an der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München als Dissertation angenommen. Literatur und Rechtsprechung konnten bis Juli 2018 berücksichtigt werden. Besonders bei meinem hochverehrten Doktorvater Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Claus Roxin – vor allem für die sorgfältige Betreuung der Arbeit – und bei Prof. Dr. Luís Greco (LL.M.) – an dessen Lehrstuhl an der Humboldt-Universität zu Berlin ich das Privileg habe, als wissenschaftlicher Mitarbeiter arbeiten zu dürfen – möchte ich mich für die stetige Unterstützung und Förderung während meiner gesamten Magister- und Promotionszeiten ganz herzlich bedanken. Außerdem danke ich Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Bernd Schünemann nicht nur für die Erstellung des Zweitgutachtens, sondern auch für seinen ständigen Beistand – denn diese Arbeit wurde zu großen Teilen in der Ludwigstr. 29 an dem damals noch von ihm betreuten Institut für die gesamten Strafrechtswissenschaften geschrieben. Herrn Dr. Benjamin Roger bin ich für die inhaltlichen Anregungen und auch für die sprachliche Korrektur der Arbeit sehr dankbar. Was es mir bedeutet, meine Dissertation in der renommierten Reihe „Strafrechtliche Abhandlungen“ veröffentlichen zu dürfen, ist kaum zu überschätzten. Dafür will ich den Herausgebern danken. Last, but not least: Diese Arbeit wäre sicherlich ohne die persönliche Unterstützung meiner lieben Eltern – Marco Leite (in memoriam) und Mara Leite – und auch meiner Freundin – Manuela Leite – nicht möglich gewesen. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet. München, im September 2018

Alaor Leite

Inhaltsverzeichnis A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die positivrechtliche Regelung des § 35 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die wissenschaftliche Aufgabe: Die Bestimmung des Kerns des entschuldigenden Notstands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ziel und Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die grundlegenden Probleme: Die Revisionsbedürftigkeit des herrschenden Schuldbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Methodisches: Rechtsphilosophie und Strafrechtssystem . . . . . . . . . . . . . . . . II. Vorfrage: Kapitulation der Rechtsordnung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Unverbietbarkeitsthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Hobbes’sche Herausforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Stufen des Instrumentalisierungsverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die grundsätzliche Unzulänglichkeit des Ausgangspunkts des herrschenden strafrechtlichen Schuldbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die normtheoretische Perplexität und die Idee des „Schuldrests“ . . . . . . 2. Die Nachsichtsausübung als leere Behauptung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die gemeinsame Behandlung von entschuldigendem Notstand und Notwehrexzess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Ein Gedankenexperiment: Das Hinwegdenken des entschuldigenden Notstands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Theorie des entschuldigenden Notstands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Aufarbeitung des Rechtsstoffes: Die Phänomenologie der Fälle . . . . . . 1. Brett des Karneades und Mignonette-Fall als Symbole . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die deutsche Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die normativen Fragen: Drei Anforderungen an die Theorie des entschuldigenden Notstands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Erklärungspotenzial: Erklärung der komplexen Struktur des § 35 StGB 2. Begründungspotenzial: Rechtfertigung der Strafe gegenüber dem Täter bzw. Rechtfertigung der Straffreiheit gegenüber dem Opfer . . . . . . . . . . . 3. Differenzierungspotenzial: Abgrenzung zum rechtfertigenden Notstand 4. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Ansätze in der Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15 15 19 28 31 32 42 42 48 58 66 67 72 77 80 82 83 85 87 89 99 100 100 103 116 130 131

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Inhaltsverzeichnis 1. Der Instrumentalisierungsverdacht: Entschuldigender Notstand als Konzession der Allgemeinheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Unrechtsproblem? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Schuldproblem? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Dritte Kategorie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Sowohl Unrechts- als auch Schuldproblem? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Weder Unrechts- noch Schuldproblem? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Vor- oder außerstrafrechtliches Problem? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Die Bestätigung des Instrumentalisierungsverdachts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Der Notstand, ein Schuldproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundlinien einer Revision des Schuldbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Notstand und Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Strafe als „Entzug“ angeborener Rechte der Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Schuldprinzip und Lebensplan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die ratio des entschuldigenden Notstands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs: Schuld und Prävention? Der übergesetzliche entschuldigende Notstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Grund und Grenzen des entschuldigenden Notstands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Differenzierungspotenzial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Begründungspotenzial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Erklärungspotenzial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gegenwärtige Gefahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Katalog der Rechtsgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Erforderlichkeit („nicht anders anwendbar“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Personenkreis und Notstandshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Rettungsabsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Die zumutbare Hinnahme der Gefahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Selbstverursachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Besondere Rechtsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Andere Fälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Proportionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Ergebnisse des Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

D. Der Irrtum beim entschuldigenden Notstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Zur Relevanz der Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die ratio der Irrtumsregelung beim entschuldigenden Notstand . . . . . . . . . . . 1. Begründung der Existenz einer Sonderregelung für den Irrtum beim entschuldigenden Notstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Ansätze in der Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

131 133 137 146 157 167 170 177 181 182 183 189 193 203 212 213 219 219 219 221 222 222 224 225 226 228 228 230 234 235 238 239 241 247 254 254 259

Inhaltsverzeichnis a) Die Zumutbarkeitslösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Fahrlässigkeitslösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Vorsatzlösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Eigene Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die konkreten dogmatischen Fragen im Bereich des Irrtums beim entschuldigenden Notstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Begriff der „Umstände“ im Sinne § 35 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Begriff des Irrtums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Vermeidbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Irrtum über die entschuldigende Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Analogiefähigkeit des § 35 II StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Ergebnisse des Kapitels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11 260 262 267 267 269 270 272 273 276 281 284

E. Ergebnisse der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313

Abkürzungsverzeichnis Allgemein Anm. AT Aufl. Bd. BGBl. BGH BGHSt brasStGB chStGB FG Fn. FS Hrsg. italStGB IStGH LG LH OLG östStGB portStGB Rn. RStGB SG WStG

Anmerkung Allgemeiner Teil Auflage Band Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen Brasilianisches Strafgesetzbuch Schweizerisches Strafgesetzbuch Festgabe Fußnote Festschrift Herausgeber Italienisches Strafgesetzbuch Internationaler Strafgerichtshof Landesgericht Libro Homenaje Oberlandesgericht Österreichisches Strafgesetzbuch Portugiesisches Strafgesetzbuch Randnummer Reichstrafgesetzbuch Soldatengesetz Wehrstrafgesetz

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Kommentare LK MK NK SK

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Leipziger Kommentar, 12. Aufl. Münchener Kommentar, 3. Aufl. Nomos Kommentar, 5. Aufl. Systematischer Kommentar, 9. Aufl.

„In der Lehre vom Notstand ist deutlich eine Befruchtung vom Naturrecht her zu spüren“ Eberhardt Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl., 1965, S. 171 „No man can transferre or lay down his Right to save himself from Death, Wounds, and Imprisonment“ Thomas Hobbes, Leviathan, Chap. XIV, S. 98

A. Einführung I. Die positivrechtliche Regelung des § 35 StGB*1 Gegenstand dieser Abhandlung ist der sogenannte entschuldigende Notstand. § 35 I 1 lautet: „Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit eine rechtswidrige Tat begeht, um die Gefahr von sich, einem Angehörigen oder einer anderen ihm nahestehenden Person abzuwenden, handelt ohne Schuld“ 2. Konkreter gesagt: Es geht um die Diskussion über den Grund, weshalb der Staat den Vater, der seinen in eine lebensgefährliche Situation geratenen Sohn nur dadurch retten kann, dass er ein unbeteiligtes Opfer tötet, nicht bestraft. Selbst wenn er mehrere unschuldige Menschen tötet, um zum Beispiel nach einem Unfall sich selbst oder eine ihm nahestehende Person zu retten, ist der Täter nach dem geltenden Recht grundsätzlich zu entschuldigen. Die Wahl des „größeren Übels“ ist zu entschuldigen3, sogar wenn diese Wahl nicht panikbedingt, sondern kaltblütig erfolgt ist4. Denn anders als beim rechtfer* Paragraphen ohne Gesetzesangabe sind solche des deutschen Strafgesetzbuchs. 1 Auch der hier nicht in den Vordergrund zu stellende Art. 31 I d IStGH-Statut (BGBl. 2000 II, S. 1393) enthält eine Regelung des Nötigungsnotstands (BGBl. 2000 II, S. 1416 f.). Das Corpus Juris der strafrechtlichen Regelungen zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union enthält dagegen keine spezifische Regelung des entschuldigenden Notstands. In dem Forschungsprojekt „Europa-Delikte“ wurde aber eine Regelung dafür vorgeschlagen, die § 35 insgesamt ähnelt. Dazu siehe ausf. die interessante Darstellung von Müssig-MK, § 35, 3. Aufl., Rn. 89 ff., 93 ff.; siehe auch Werle, Völkerstrafrecht, 3. Aufl., 2007, Rn. 294 ff., 493 ff., 511 ff.; ausf. hierzu außerdem die grundlegende Untersuchung von Ambos, Der Allgemeine Teil, 2002, S. 825 ff., 837 ff. 2 Dazu statt aller Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl., § 22, Rn. 1 ff. 3 So die Formulierung von Silva-Sánchez, in: FS-Hruschka, 2005, S. 681 ff., 684 ff. 4 Frister, JuS 2013, S. 1057 ff., 1062: Die Entschuldigung sei gerade deshalb erklärungsbedürftig, weil sie „den Täter auch ohne hochgradigen Affekt entschuldigt, d. h. selbst dann, wenn er in einer existenziellen Notlage ,kühlen Kopf‘ behält“, sonst griffen schon §§ 20, 21 ein; so auch Hörnle, JuS 2009, S. 873 ff., 875.

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A. Einführung

tigenden Notstand des § 34, wo vom „wesentlichen Überwiegen“ die Rede ist, oder bei den zivilrechtlichen Notständen der §§ 228, 904 BGB, wo der Schaden „nicht außer Verhältnis zu der Gefahr“ oder „nicht unverhältnismäßig groß“ sein darf, kennt § 35 keine explizite Interessenabwägungsklausel5. Hier wird die Selbstbetroffenheit des Täters als maßgeblicher Gesichtspunkt betrachtet. Es besteht zugleich keine Beschränkung der Güter auf der Eingriffsseite, das heißt: Der in existentielle Not geratene Täter „darf“ – in einem normtheoretisch schwachen Sinn – Leben, Leib oder Freiheit des unschuldigen Opfers straflos antasten. Dem Täter wird also trotz des Rechtswidrigkeitsurteils – „Du sollst trotz der Not nicht einen Unschuldigen töten oder schwer verletzen!“ – ein strafloser Handlungsspielraum gewährt: „Du bleibst aber straflos, wenn du das tust“. Die an den Täter gerichtete Verhaltensnorm besteht fort, was vor allem bedeutet, dass dem Opfer keine starke Duldungspflicht auferlegt wird. Der Täter hat kein Recht auf diese Handlung. Die Sanktionsnorm wird aber punktuell zurückgenommen6. 5 Siehe zur Interessenabwägungsformel beim § 34 Küper, GA 1983, S. 289 ff.; Meißner, Die Interessenabwägungsformel, 1990, S. 22 ff. Die ältere Literatur spricht von zwei Prinzipien: dem Prinzip der Interessenabwägung beim rechtfertigenden Notstand und dem Prinzip des Selbsterhaltungstriebes beim entschuldigenden Notstand, Baumgarten, Notstand und Notwehr, 1911, S. 18; siehe Neumann, JA 1988, S. 329 ff. Wegweisend hierfür war die zivilrechtliche Studie von Ihering’s Schüler Rudolf Merkel: R. Merkel, Kollision, 1895, S. 11 („Die Prämisse, daß die Notstandshandlung überall rechtswidrig sei, ist aber eine reine petitio principii“), S. 21, 49 ff.; Titze, Die Notstandsrechte, 1897, S. 13 ff.; dazu siehe ausf. Hatzung, Dogmengeschichtliche Grundlagen, 1984, S. 162 ff.; über die „Scheidung zwischen objektiven und subjektiven“ beim Notstand siehe Dohna, Die Rechtswidrigkeit, 1905, S. 122 ff., 126 ff.; dagegen Siegert, Notstand und Putativnotstand, 1931, S. 10, der schreibt, diese Prinzipien seien lediglich Abstufungen innerhalb eines einheitlichen Notstandsbegriffs: „Alle Notstandsfälle pendeln zwischen dem einen Pol, an dem die Interessenspannung völlig in den Vordergrund tritt, die innere Motivation womöglich gar nicht stattfindet, und dem Gegenpol, der überragenden Bedeutung der Motivationslagen“; siehe auch Oetker, FG-Frank I, S. 359 ff., 366 ff., der sagt, die Interessenabwägung sei schon als Ausgangspunkt falsch, „da wirklich nicht verlangt werden kann, daß der Nottäter das eigene Leben usw. geringer einschätzt als fremdes“. Die heute herrschende Meinung behauptet, dass beim entschuldigenden Notstand trotz des bestehenden Unrechtsurteils eine gewisse „Unrechtsminderung“ kraft der Erhaltung des eigenen Gutes noch immer erfolge. Über die viel diskutierten Proportionalitätserfordenisse beim entschuldigenden Notstand Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, 1965, S. 11 („gewisse Verhältnismäßigkeit“); SilvaSánchez, in: FS-Hruschka, 2005, S. 681 ff.; Pawlik, JRE 11 (2003), S. 287 ff., 310; Mañalich, in: van Weezel (Hrsg.), Humanizar y renovar el Derecho Penal, 2013, S. 715 ff., 732 f.; siehe schon Moriaud, Du délit nécessaire et de l’etat de nécessité, 1889, S. 306 ff.; s. u. C., V., g). 6 Die Geschichte der sogenannten dualistischen Normentheorie ist alt. Schon in Pufendorf, Über die Pflicht, Erstes Buch, 2. Kapitel, § 7, 1994, S. 4 kann man lesen: „Jedes vollkommene Gesetz hat zwei Teile: Der eine Teil legt fest, was zu tun oder zu unterlassen ist, der andere zeigt an, welches Übel dem angedroht wird, der ein Gebot nicht erfüllt und etwas Verbotenes tut. Wegen der Schlechtigkeit des Menschen, der gern nach Verbotenem strebt, wäre es sinnlos, einfach zu sagen: ,Tu das!‘, wenn den, der es nicht tut, kein Übel erwartete. Ebenso abwegig ist die Aussage: ,Du wirst Strafe bezahlen‘, wenn kein Grund für eine Bestrafung gegeben ist“; in der strafrechtlichen

I. Die positivrechtliche Regelung des § 35 StGB

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„Der allgemeine Grundsatz“, sagte Stammler, „daß der Übertreter einer vom Staate aufgestellten Norm die vom Gesetze dafür angedrohte Strafe zu erdulden habe, erleidet eine Ausnahme, wenn der Handelnde zur Zeit der That sich in Noth befand“ 7. Der Täter muss mit der Ausübung des rechtlich begrenzten Notwehrrechts seines Mitbürgers (auch im Rahmen der Notwehrhilfe8), nicht aber mit einer später zu verhängenden staatlichen Strafe rechnen. Die Feststellung, dass die absichtliche Abwälzung einer existentiellen Gefahr auf einen anderen unschuldigen Bürger, der dadurch im schlimmsten Fall seine Existenz verliert, straflos erfolgen darf, ist in dieser Allgemeinheit ziemlich beunruhigend. Denn ungeachtet des endlosen Streits um den richtigen Strafzweck9 gilt die aus dem Grundsatz neminem laedere abzuleitende These, Androhung und Verhängung von Strafe sollten absichtliche schwere Verletzungen anderer verhindern, als unbestreitbar10. Die Entschuldigung tritt deswegen schon nach dem positiven Recht nicht grenzenlos ein. Die Rechte, die man im entschuldigenden Notstand retten darf, sind anders als beim rechtfertigenden Notstand auf die existentiellen, unersetzbaren, oder noch besser, angeborenen Rechte beschränkt: Leben, Leib und (Fortbewegungs-)Freiheit11. Auch der Kreis der Personen, die Diskussion wird diese Unterscheidung mit den Namen Karl Bindings verbunden, der zwischen einem an den Staat gerichteten Strafgesetz und einer an den Bürger gerichteten Norm unterscheidet, Binding, Die Normen I, 1922, 4. Aufl., S. V, 4 ff., 45 ff., 155, 162 ff.; Binding, in: Abhandlungen, I, 1915, S. 528; ausf. hierzu Renzikowski, ARSP 87, 2001, S. 110 ff.; ders., in: FS-Gössel, 2002, S. 3 ff.; ders., ARSP Beiheft 104, 2005, S. 115 ff.; ders., GA 2007, S. 560 ff.; dazu siehe auch Baumgarten, Der Aufbau, 1913, S. 14 ff.; Altenhain, Das Anschlußdelikt, 2002, S. 282 ff.; zuletzt Hörnle, Straftheorien, 2011, S. 7 ff., die richtigerweise darauf hinweist, dass spätestens die Sanktionsnormen „verhaltenslenkend wirken sollen“ (dazu u. C., II., 2.); zu der Diskussion über den entschuldigenden Notstand als bloße Einschränkung der Sanktions- oder schon der Verhaltensnorm siehe Frister, JuS 2013, S. 1057 ff., 1063 ff. 7 Stammler, Darstellung, 1878, S. 1. 8 Dazu eingehend Engländer, Nothilfe, 2008, S. 7 ff.; Haas, Notwehr, 1978, S. 126 ff. 9 Siehe die klassische Studie von Roxin, JuS 1966, S. 377 ff. Es ist richtig, dass zum Beispiel bei der Theorie der negativen Generalprävention offen bleibt, „von welchem Verhalten der Staat überhaupt die Befugnis hat abzuschrecken“ (S. 380). Es bestreitet aber niemand, dass das bei den Straftaten gegen die Person – gegen das Leben, den Leib – der Fall ist. 10 Kühnbach, Solidaritätspflichten, 2007, S. 33: „Die Verpflichtung zur Respektierung fremder Rechtskreise ist die Rechtspflicht schlechthin“; siehe jüngst Renzikowski in: Hilgendorf/Joedern (Hrsg.), Handbuch Rechtsphilosophie, 2017, S. 453 ff. 11 Janka, Der strafrechtliche Notstand, 1878, S. 197: „Die ganze Existenz des Bedrängten ist in Gefahr“; Stammler, Darstellung, 1878, S. 63: Güter, die „das Wesen der Persönlichkeit ausmachen“; Pretsch, Das Notstandsrecht, 1899, S. 50: „Persönlichkeitsrechte“; Baumgarten, Notstand und Notwehr, 1911, S. 2: „wichtigste Lebensgüter“; A. Köhler, Der Notstand, 1926, S. 52 f., der von „schwere persönliche Gefahr“ und „Lebensentwertung“ spricht; Oetker, FG-Frank I 1930, S. 359 ff., 369, der den Ausdruck „wesentliche Schädigung der Person“ sogar für die Gesetzgebung vorschlägt; Maurach, Kritik der Notstandslehre, 1935, S. 105: Güter, „deren Bedrohung den Kampf

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der Täter in Notstandshilfe retten darf, bzw. der Kreis derer, von denen ein Rettungsbedürftiger auf diese Art und Weise gerettet werden darf, ist beschränkt: § 35 I spricht nur von Angehörigen (§ 11 I 1) und anderen nahestehenden Personen. Die entschuldigende Kraft der existentiellen Notlage entfällt ferner, wenn „dem Täter [. . .] zugemutet werden konnte, die Gefahr hinzunehmen“ (§ 35 I 2). Diese Generalklausel wird vom deutschen Gesetzgeber näher präzisiert, indem er zwei Beispiele der vom Hinnahme der Gefahr nennt: „namentlich weil er die Gefahr selbst verursacht hat oder weil er in einem besonderen Rechtsverhältnis stand“ (§ 35 I 2). Für die Fälle der Pflicht zur Hinnahme der Gefahr wird eine fakultative Strafmilderung vorgesehen, die aber nicht für die Variante des besonderen Rechtsverhältnisses gilt: „jedoch kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden, wenn der Täter nicht mit Rücksicht auf ein besonderes Rechtsverhältnis die Gefahr hinzunehmen hatte“ (§ 35 I 2). Diese unbestreitbar komplizierte Vorschrift macht hier nicht Halt, sondern spricht zusätzlich unvermeidbaren Irrtümern über die tatsächlichen Notumstände entschuldigende Wirkung zu: „Nimmt der Täter bei Begehung der Tat irrig Umstände an, welche ihn nach Absatz 1 entschuldigen würden, so wird er nur dann bestraft, wenn er den Irrtum vermeiden konnte. Die Strafe ist nach § 49 Abs. 1 zu mildern“ (§ 35 II). Kein anderer Schuldausschließungsgrund oder Entschuldigungsgrund des deutschen Strafgesetzbuches kennt eine solche ausdrückliche Irrtumsregel12.

ums Dasein in primitivster Weise entfacht“, der aber letztendlich die „soziale Vitalität“ des Gutes als maßgeblich betrachtet; Montenbruck, Thesen zur Notwehr, 1983, S. 18: „Bedrohung der Existenz“; Pawlik, JRE 11 (2003), S. 287 ff., 301: Güter von „existentieller Bedeutung“; Silva-Sánchez, in: FS-Hruschka, 2005, S. 681 ff., 696: „Existenzbedrohung“; Wilenmann, Freiheitsdistribution, 2014, S. 418: „vitales Freiheitsinteresse“; Puppe, Strafrecht AT, 3. Aufl., S. 226: „existentielle Betroffenheit“; Hörnle, Kultur, Gutachten C zum 70. Deutschen Juristentag, 2014, S. 35: Engländer, ZIS 2016, S. 608 ff., 615: existenzielle Güter als „Geschäftsgrundlage“; „grundlegende[s] Lebensinteresse“; Rogall-SK, § 35, 9. Aufl., Rn. 2: „existentielle Güter“, „unersetzbare höchstpersönliche Güter“ (Rn. 4); Neumann-NK, § 35, 5. Aufl., Rn. 13: elementare und höchstpersönliche Rechtsgüter; Müssig-MK, § 35, 5. Aufl., Rn. 3: „die Bedingungen personaler Existenz“; Roxin, in: FS-Yamanaka 2017, S. 467 ff., 477: Bewahrung „hochrangiger Persönlichkeitswerte“. Früher erkannte das deutsche Gesetz bei § 54 RStGB nur das Leben und den Leib als notstandsfähige Güter an, wobei Janka schon 1878 sagte, dass vor allem „die persönliche Freiheit Anspruch auf Berücksichtigung erheben“ müsse: Janka, Der strafrechtliche Notstand, 1878, S. 178. Auch R. Merkel erwähnte die persönliche Freiheit, der Kernbereich der Ehre und die wirtschaftliche Existenz als mögliche notstandsfähige Güter im Sinne des „strafrechtlichen Notstands“, R. Merkel, Kollision, 1895, S. 23; auch Broglio, Der strafrechtliche Notstand, 1928, S. 10: der Kreis sei „zu eng gezogen“; so auch Borgdorf, Die Lücken, 1935, S. 14 ff. 12 Andere Rechtsordnungen kennen eine allgemeine Vorschrift über den Irrtum bei Entschuldigungsgründen wie zum Beispiel der Art. 16o portStGB; dazu siehe Figueiredo Dias, Direito Penal I, 2. Aufl., S. 619 ff.; Art. 59, 4 italStGB sieht eine noch umfassendere Irrtumsregelung vor, die alle Irrtümer für vorsatzausschließend erklärt; siehe Cavaliere, L’errore, 2000, S. 571 ff.; siehe auch Viganò, Stato di necessità, 2000, S. 582 f.; über die Diskussion in Spanien siehe Luzón Peña, Lecciones, 3. Aufl., 2016, S. 532 ff.

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II. Die wissenschaftliche Aufgabe: Die Bestimmung des Kerns des entschuldigenden Notstands Mag das (hier in gebotener Kürze) skizzierte Bild sicherlich ein komplexes und detailreiches sein, so ist es doch ein unvollständiges: Die Beschreibung der aktuellen positivrechtlichen aktuellen Lage, so wichtig sie ist, bildet lediglich den unerlässlichen Ausgangspunkt jeglicher juristischen Diskussion. Nun ist es so, dass eine Theorie des entschuldigenden Notstands, die eine gewisse Aktualität für sich beanspruchen will, zunächst die Entscheidung des deutschen Gesetzgebers zu erklären versuchen muss – notabene: nicht notwendigerweise ihr zustimmen muss. Die gesetzgeberischen Vorgaben bilden zweifellos die Auslegungsmaßstäbe für die rechtliche Lösung der alltäglichen Fälle, und davon muss der gewissenhafte Jurist ausgehen13. Allein die Erklärung jener komplizierten Regel würde sicherlich eine eigene Dissertation rechtfertigen. Es kann aber sein, dass der Gesetzgeber eine falsche oder kriminalpolitisch fragwürdige Entscheidung getroffen hat14. Hier soll der vor mehr als hundert Jahren von Dohna denunzierte Fehler vermieden werden: „Es ist ein schwerwiegender Irrtum, in welchem noch heutzutage die Theorie zum guten Teile, die Praxis völlig befangen ist, zu glauben, daß das kritische Material zur rechtlichen Wertung menschlicher Handlungen in vollem Umfange und ohne Rest von der Rechtsordnung – im Sinne technisch geformter Rechtssatzung – dargeboten werde“ 15. Die Komplexität der Vorschrift des § 35 mit all ihren Regeln, Ausnahmen und Generalklauseln zeigt schon ganz deutlich, dass der Gesetzgeber vor einem schwer zu regulierenden Sachverhalt stand. Das liegt in der Natur der Sache16: Tragödien, die die Existenz eines Menschen bedrohen, sind schwer durch 13 Achenbach, Historische, 1974, S. 216; „Nur wenn sich die Strafrechtsdogmatik an dem konkreten Stoff des positiven Strafgesetzes und der aus seiner Anwendung gewonnenen Erfahrung orientiert, kann sie ihrer gleichermaßen analytisch-kritischen wie integrativen Aufgabe gerecht werden und so der Verwirklichung der Rechtsidee in der praktischen Rechtsanwendung dienen“, so die treffende Formulierung von Greco, in: Brunhöber/Höffler/Kaspar/Reinbacher/M. Vormbaum (Hrsg.), Strafrecht und Verfassung, 2014, S. 13 ff., 14, der über die Rolle der Wissenschaftler sagt: „Vielmehr versucht er als Wissenschaftler, aus dem ihm zu Verfügung stehenden Rohstoff, nämlich den Gesetzen, das Beste zu machen, also Lösungen zu erzielen, die zumindest implizit akzeptierten Vorstellungen zur Legitimität einer Bestrafung entsprechen.“ 14 Siehe die programmatische Schrift von Roxin, Kriminalpolitik, 2. Aufl., 1973, S. 7 ff.; Maurach beklagt, dass die Lehre früher „ein sicheres Fußen auf dem geltenden Recht“ pflegte, was die grundlegende Diskussion, auch die de lege ferenda, etwas vernachlässigte, Maurach, Kritik der Notstandslehre, 1935, S. 1; Pretsch, Das Notstandsrecht, 1899, S. 5: „grosse Unsicherheit“; siehe Viganò, Stato di necessità, 2000, S. 32 ff. 15 So die schöne Formulierung von Dohna, Die Rechtswidrigkeit, 1905, S. 13. 16 Siehe Roxin, in: FS-Henkel, 1974, S. 171 ff., 184, der auf die „Schwierigkeit einer normativen Regelung von Extremkonstellationen“ hinweist; siehe auch Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, 1965, S. 2: „Dennoch ist die Notstandsfrage mit Recht als eines der großen Probleme des Allgemeinen Teils angesehen worden, denn sie gehört zu

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rechtliche Normen zu steuern und zu regulieren17. Es geht um die Tötung eines gewalttätigen Familientyrannen, dessen Sohn, Tochter oder Ehefrau sich in permanenter Lebens-, Leibes- oder Freiheitsgefahr befindet; um eine verzweifelte Mutter in der Nachkriegszeit, die eine Straftat begeht, um ihre acht minderjährigen Kinder zu ernähren; um Falschaussagen, die aus Furcht vor schwerem Prügel oder sogar einer Tötung getätigt werden; um ein durch Todesdrohung abgenötigte Beteiligung an einem Mord usw. (s. u. C, I., 2.). Die viel beklagte „Verworrenheit“ 18 der zu begreifenden Materie – die einzige Behauptung in der Diskussion, die „keinen Widerspruch erfahren hat“ 19 – erhöht deshalb zwangsläufig die Wahrscheinlichkeit gesetzgeberischer Irrtümer: „so alt wie die Bestrebungen um eine Erneuerung des Strafrechts in Deutschland sind die Versuche, das Notstandsproblem gesetzgeberisch zu bewältigen“ 20. Die gesetzgeberischen Schwankungen am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts und der daraufhin entstandene Theorienwirrwarr in der Literatur sind eindeutige Beweise dafür21: Die ungeklärte Natur des entschuldigenden Notstands hat dem deutschen Gesetzgeber erhebliche Probleme bereitet. Die vor allem vor dem zweiten Weltkrieg erstellten Entwürfe weisen nicht unerhebliche Unterschiede auf 22. Im Jahre 1885 konstatierte Binding eine gänzlich unabgeschlosden schwierigsten, die ein Richter überhaupt zu entscheiden hat“; so auch Hefermehl, Der verursachte entschuldigende Notstand, 1980, S. 2: „Die gesetzgeberischen Schwierigkeiten bei der Ausgestaltung der Vorschrift über den entschuldigenden Notstand haben ihre Ursache in der besonderen Eigenart der Konfliktlagen“; siehe auch Broglio, Der strafrechtliche Notstand, 1928, S. 1; ferner die etwas generelle Formulierung von Kersting, Verteidigung des Liberalismus, 2. Aufl., 2010, S. 40: „Ordnungsstiftende Politik ist die dauerhafte Beendigung von Ausnahmezustand und Grenzsituation. Die politische Ordnung setzt die Herrschaft der Normalität durch“. 17 „Gegen die Macht der Tatsachen ist das Recht machtlos. Den Menschen schreibt es seine Gesetze vor, die Elemente spotten ihrer“, Dohna, Die Rechtswidrigkeit, 1905, S. 127. 18 So Henkel, Der Notstand, 1931, S. 27; auch Siegert, Notstand und Putativnotstand, 1931, S. 1; siehe ferner Baldus, in: Niederschriften, 2. Band AT, 19. Sitzung, 1958, S. 147: „Ich gebe mich keinen Illusionen darüber hin, daß die Notstandsmaterie viel mehr als andere die Wertausfüllung fordert.“ 19 So die Feststellung von v. Weber, Das Notstandsproblem, 1925, S. 11. 20 Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, 1965, S. 1. 21 Henkel, Der Notstand, 1931, S. 1, über die gesetzgeberischen Schwierigkeiten bei den Entwürfen des Anfangs des zwanzigsten Jahrhunderts: „Daß die Entwürfe fast alle nicht nur im Einzelfragen, sondern gerade in der Grundauffassung des Notstandes erhebliche Verschiedenheiten untereinander aufweisen, verrät uns die innere Unsicherheit, mit der man auf diesem Gebiet an das Gesetzgebungswerk herangetreten ist“; siehe auch Hefermehl, Der verursachte entschuldigende Notstand, 1980, S. 33 ff.; interessant dazu Goldschmidt, Der Notstand, ein Schuldproblem, 1913, passim; auch Maurach, Kritik der Notstandslehre, 1935, S. 1 ff.; siehe ferner Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, 1965, S. 1 ff. 22 Dazu siehe Goldschmidt, Der Notstand, ein Schuldproblem, 1913; auch Henkel, Der Notstand, 1931, S. 1 ff.; siehe auch Eb. Schmidt, in: Niederschriften, 2. Band AT, Anhang Nr. 22, 1958, S. 60.

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sene Entwicklung der Notstandslehre23, die sich in den Entwürfen vom Anfang des 20. Jahrhunderts widerspiegelt24. Die Haltungsunterschiede berührten nicht nur die Randerscheinungen oder unwesentlichen Details der zu formulierenden Vorschrift über den Notstand, sondern schon die ratio des entschuldigenden Notstands. Einige Beispiele mögen ausreichen: Der Vorentwurf von 1909 betrachtet alle Notstände als Rechtfertigungsgründe (§ 67). Der von Kahl, von Lilienthal, von Liszt und Goldschmidt verfasste Gegenentwurf von 1911 bekennt sich zur Entschuldigungslösung (§ 26). In der Begründung liest man, dass „die Voraussetzungen des Notstands als Entschuldigungsgrund weiter umgrenzt sein müssen, als die des Rechtfertigungsgrundes“ 25. Der Entwurf von 1919 wiederum vertritt eine einheitliche Rechtfertigungslösung (§ 22). Er nimmt eine Sonderstellung ein: Der Notstand erscheint als ein persönlicher Strafausschließungsgrund (§ 22). Die Entwürfe von 1930 und 1936 sehen zwei Notstände vor, einen mit rechtfertigender Wirkung, den anderen mit nur entschuldigender Wirkung26. Eine bloße Erklärung der heute geltenden Regelung würde also von einem Gesetzeswortlaut ausgehen, dessen Richtigkeit nicht selbstverständlich erscheint. Bei der Behandlung des Rechtsinstituts des entschuldigenden Notstands ist also das wissenschaftliche Gebot, welches jede Dissertation leiten soll, besonders ernst zu nehmen: Gegenüber den Schöpfungen des Gesetzgebers ist Vorsicht geboten, ja ihnen ist sogar ein gewisses Misstrauen entgegenzubringen. Es überrascht nicht, dass der große Strafrechtslehrer Henkel die alte Fassung des deutschen Strafgesetzbuchs als „gesetzgeberische Willkür“ bezeichnet hat27. Die Erklärung der gesetzgeberischen Entscheidung führt zwangsläufig zur nächsten Station, nämlich derjenigen der Begründung dieser Entscheidung. Diese Begründung steht hier im Vordergrund. Ab diesem Punkt ist die Lage alles andere als klar: Die dogmatischen Begründungsversuche reichen vom Unrechtsausschluss – mit oder ohne eine entsprechende dem Opfer auferlegte Duldungspflicht – über die „Unverbotenheit“ der Handlung, die nachvollziehbare und deswegen zu verzeihende Erschwerung der normkonformen Motivation des Täters als voluntatives Schuldmerkmal usw. bis hin zum Fehlen der präventiven Bestrafungsnotwendigkeit, die neben der Schuld, verstanden als normative Ansprechbarkeit, ein 23 Binding, Handbuch, 1885, S. 755; einige Jahren früher sagte Janka, Der strafrechtliche Notstand, 1878, S. III: „Die Notstandsfrage hat in der Gesetzgebung bisher eine befriedigende Lösung eben so wenig gefunden, wie in der Wissenschaft“; siehe auch Eb. Schmidt, in: Niederschriften, 2. Band AT, 19. Sitzung, 1958, S. 146; über die Reformdiskussion in der 60er Jahren Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, 1965, S. 1 ff. 24 Ausf. v. Weber, Das Notstandsproblem, 1925; auch A. Köhler, Der Notstand, 1926, S. 1 ff. 25 Siehe Hefermehl, Der verursachte entschuldigende Notstand, 1980, S. 35 f. 26 Hefermehl, Der verursachte entschuldigende Notstand, 1980, S. 41 f. 27 Henkel, Der Notstand, 1931, S. 70; früher hatte Janka gesagt, die „Gesetzesbestimmungen harrten dringend der Reform“, Janka, Der strafrechtliche Notstand, 1878, S. III.

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weiteres Merkmal des umfassenden Verantwortlichkeitsbegriffs darstellt (s. u. C., III.). Es scheint, dass der entschuldigende Notstand in die Architektur der traditionellen Verbrechenslehre nicht hineinpasst. Nicht von ungefähr spricht v. Weber schon 1925 statt vom Stand der Diskussion „Stand der Verwirrung“ 28. Es ist in der Tat schwierig, „zwei im wesentlichen übereinstimmende Lehrmeinungen festzustellen“ 29. Dieser verworrene Stand dauert bis heute an. Fast jeder Strafrechtslehrer hat seine eigene These über die ratio des entschuldigenden Notstands. Ferner ist festzustellen, dass nicht nur die allgemeine Begründungsfrage, sondern auch die daraus entstandenen konkreten dogmatischen Notstandsprobleme keineswegs durch den Federstrich des nationalen Gesetzgebers als gelöst angesehen werden dürfen. Nichts wäre falscher als diese bequeme Annahme. Das Notstandsproblem gehört zu den „immanenten Problemen des Strafrechts“, „deren Inhalt sich nicht in einem Satz des Gesetzbuches fassen läßt“ 30. Tatsächlich ist es so, dass „jeder Notstand ein Faktor der Rechtsbegrenzung“ ist31. Die Lösung des komplexen Problems des entschuldigenden Notstands entzieht sich deswegen jeglicher juristischen Vereinfachung. Der Gesetzgeber ist schlicht nicht imstande, über dieses Problem das letzte Wort zu sprechen, so dass der entschuldigende Notstand auch gegen die fürchterlichen „drei berichtigenden Worte des Gesetzgebers“ 32 einigermaßen geschützt ist. Die Warnung Bindings vor einer Überschätzung des gesetzgeberischen Könnens in dieser Materie bleibt noch immer angebracht: „Ein Gesetz, woraus der Richter die Entscheidung über die Notstandsverletzung einfach ablesen könnte, ist eine Unmöglichkeit“ 33. Nicht von ungefähr ist zu beobachten, dass auch in den Rechtsordnungen, die keine explizite Regelung des entschuldigenden Notstands kennen, über dieselben Probleme diskutiert wird, und zwar unter der Rubrik eines allgemeinen übergesetzlichen Zumutbarkeitsausschlusses34. Es gibt auch Rechtsordnungen, die über eine sehr 28 v. Weber, Das Notstandsproblem, 1925, S. 14; auch Broglio, Der strafrechtliche Notstand, 1928, S. 1: „gesteigerte Verwirrung der Anschauungen“; die Behauptung Marcetus, im Allgemeinen sei damals „der Streit um den Notstand nicht mehr allzu groß“, erscheint mir nicht verständlich, wenn nicht als schlicht falsch zu betrachten. Siehe Marcetus, Zumutbarkeit, 1928, S. 68. 29 Broglio, Der strafrechtliche, 1928, S. 1; siehe auch Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, 1965, S. 1; siehe Viganò, Stato di necessità e conflitti di doveri, 2000, S. 551 ff. 30 So Maurach, Kritik der Notstandslehre, 1935, S. 1 f. 31 Engisch, Rechtstheorie, 1984, S. 12; Fehsenmeier, Das Denkmodell, 1970, S. 1: „Die Notstandsproblematik führt also unmittelbar an die Grenzen des Rechts heran.“ 32 Kirchmann, Die Wertlosigkeit, 1848, S. 17; so auch Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, 1965, S. 3, der beim entschuldigenden Notstand viel Platz für die Richter und die Wissenschaft einräumen wollte. 33 Binding, Handbuch, 1885, S. 755; so auch Otto, Pflichtenkollision, 3. Aufl., 1978, S. 66. 34 Wie in Spanien, wo nur die Figur der „unwiderstehlichen Furcht“ („miedo insuperable“) vorgesehen ist; dazu Luzón Peña, in: FS-Schünemann 2014, S. 445 ff.; Quintanar Díez, La eximente de miedo insuperable, 1998, S. 121 ff.; Aguado Correa, Inexigi-

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weit gefasste entschuldigende Notstandsregelung verfügen, wie es in Portugal der Fall ist (Art. 35 portStGB)35. Die Suche nach den Gründen der Straflosigkeit beim existentiellen Notstand beansprucht also eine gewisse Universalität. Diese Gründe sind nicht dem positiven Recht eines bestimmten Landes zu entnehmen. Umgekehrt ist ein positives Recht, welches diese Gründe außer Acht lässt, schlicht falsch ausgestaltet: „Das Notstandsproblem wird nicht vom Gesetzgeber gemacht – es ist da, der Gesetzgeber hat sich mit ihm abzufinden“ 36. Die solchermaßen relativierte Kraft der Worte des Gesetzgebers erkennt man spätestens an der im deutschen Gesetz vorgesehenen Rechtsfolge: Der Täter handelt demnach „ohne Schuld“ (§ 35 I). Die Literatur vertritt aber in der Regel die Meinung, dass trotz dieser an sich kristallklaren Entscheidung37 eine geringere Schuld immer noch vorhanden sei – ein „Schuldrest“ – und die Straflosigkeit sich aus anderen Gründen erkläre, die voluntativen Element oder sogar außerhalb der Schuld des Täters lägen38. Eine Theorie des entschuldigenden Notstands muss sich auch mit den vielen dogmatisch relevanten Fragen befassen, die vom deutschen Gesetzgeber bewusst oder unbewusst – sei es aus Versehen, sei aus Unmöglichkeit – offengelassen wurden: Gelten trotz der Abwesenheit einer Interessenabwägungsklausel Proportionalitätserfordernisse beim entschuldigenden Notstand, überspitzt formuliert: Darf ich nach einem tragischen Unfall 31 Personen töten, um die Amputation

bilidad de otra conducta en derecho penal, 2004, S. 91 ff.; Lorenzo, La exculpación, 2009, S. 351 ff., 460 ff.; Varona Gómez, El miedo insuperable, 2000, S. 7 ff.; dazu im chilenischen Strafrecht Mañalich, in: van Weezel (Hrsg.), Humanizar y renovar el Derecho Penal, 2013, S. 715 ff. 35 Siehe Correia, Direito Criminal I, Coimbra, 1963, S. 443 ff.; Figueiredo Dias, Direito Penal I, 2. Aufl., S. 611 ff.; auch Cunha, Vida contra vida, 2009, S. 693 ff.; Palma, O princípio da desculpa em Direito Penal, 2005, S. 154 ff., 215 ff.; Moura, Ilicitude penal, 2015, S. 312 ff.; s. u. C., II., 1. 36 Maurach, Kritik der Notstandslehre, 1935, S. 3: „der Gesetzgeber hat sich mit ihm abzufinden, und seine – darum so besonders schwere – Aufgabe ist es, dieses Phänomen strafrechtsdogmatisch befriedigend in das Gesetz hineinzunehmen, ihm diejenige dogmatische Stellung zu gewähren, die dem Notstand zukommt“. 37 Neumann-NK, § 35, 5. Aufl., Rn. 1: klarer Wortlaut. 38 Rogall etwa sagt, dass der Gesetzgeber trotz des Wortlauts nicht verkannt habe, „dass es sich bei § 35 eigentlich nicht um einen ,echten‘ Entschuldigungsgrund, sondern nur um eine Minderung der Vorwerfbarkeit handelt, die allerdings so erheblich ist, dass die Rechtsordnung auf die Erhebung eines an sich noch möglichen Schuldvorwurfs verzichtet“, Rogall-SK, § 35, 9. Aufl., Rn. 1. Das ist aber eine normativ zu begründende These, die dem Wortlaut des Gesetzes eigentlich offensichtlich entgegensteht. Rogall selbst gibt zu, dass dafür die Formulierung „ist entschuldigt“ naheliegend gewesen wäre; siehe auch Hörnle, JuS 2009, S. 873 ff., 875, die meint: „Die Beschreibung der Rechtsfolge im Gesetzestext (,handelt ohne Schuld‘) ist nicht in dem Sinne wörtlich zu nehmen, dass dem Täter zwangsläufig Schuld im Sinne von Einsichts- und/oder Steuerungsfähigkeit fehle“; siehe Wolter, GA 1996, S. 207 ff., 212 ff.; Schroth, in: FSRoxin II 2011, S. 705 ff.

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meines Beines zu vermeiden39? Welche ist die Grundidee hinter der im Gesetz nicht abschließend geregelten („namentlich“ 40) Generalklausel der Zumutbarkeit – muss ein rechtskräftig zu einer langen Freiheitsstrafe Verurteilter, aber materiell Unschuldiger die Einschränkung seiner Fortbewegungsfreiheit friedlich hinnehmen oder bliebe er unbestraft, wenn er das Wachpersonal schwer verletzte, um zu fliehen? Müssen die Gefahrtragungspflichtigen und die Täter, die die Gefahr selbst verursacht haben, den sicheren Tod hinnehmen? Dürfte man den Rechtsgutskatalog mittels eines zugunsten des Täters erfolgten Analogieschlusses erweitern – ist nicht etwa die wirtschaftliche Existenz einer Familie, der ein vollständig besitzloses Fortleben droht, ähnlich schützenwert wie die drei genannten Rechtsgüter? Sind der Kernbereich der Ehre, die sexuelle Selbstbestimmung oder die Gefahr eines „inneren Zerbrechens“ vergleichbar schutzwürdige Rechtsgüter im Rahmen des § 35?41 Gibt es neben dem Irrtum über die Notstandsumstände auch einen Irrtum über die Notstandsnorm – habe ich mich strafbar gemacht, wenn ich in unvermeidbarer Weise über die Angehörigeneigenschaft von jeman-

39 Binding, Handbuch, 1885, S. 774, der das Schweigen des damaligen positiven Rechts (§§ 52, 54 RStGB) hierzu konstatiert: „Indessen kann man in diesem Wortlaute den Sinn des Gesetzes nicht finden. Man denke, dass eine leichte Körperverletzung lediglich durch ein Attentat auf den Kaiser abzuwenden wäre und man wird alsbald vor solcher Auslegung zurückschrecken“. Auch Henkel hat die Erklärungsbedürftigkeit dieser Forderung „einer gewissen Verhältnismäßigkeit“ gesehen, Henkel, in: FS-Mezger 1954, S. 249 ff., 291 f.; Hellmuth Mayer spricht von einer „Güterabwägung nach dem Maßstab der Zumutbarkeit“, H. Mayer, Strafrecht AT, 1953, S. 189. Wir kommen hierauf zurück; siehe auch Puppe, Strafrecht AT, 3. Aufl., S. 226: „keine Lappalie“; auch Hörnle, JuS 2009, S. 873 ff., 878, die die Erheblichkeit der vom Täter erwarteten Einbuße als ungeschriebenes Kriterium erwähnt; schon Janka, Der strafrechtliche Notstand, 1878, S. 201, der die Bedrohung der Existenz im Leibesnotstand bejahen wollte, wenn die Gefahren für Leib „in seiner wesentlichen Integrität betrifft“; Broglio, Der strafrechtliche Notstand, 1928, S. 8: „ein drohendes unbedeutendes Übel schließt den Notstand aus“; über diese Probleme in der italienischen Literatur de Francesco, La proporzione nello stato di necessità, 1978. 40 Neumann-NK, § 35, 5. Aufl., Rn. 30; diese Zumutbarkeitsformulierung wird manchmal als zirkelhaft bezeichnet: „in dieser Lage bleibt nur eine (theoriegeleitete) systematische Auslegung“, Müssig-MK, § 35, 5. Aufl., Rn. 39; Hruschka, Strafrecht, 2. Aufl., 1988, S. 282: „Zumutbarkeitsfloskel“; so auch Roxin, in: FS-Henkel, 1974, S. 171 ff., 174: „Die Sozialschädlichkeit ist ein inhaltliches, sachlicher Feststellung trotz aller Probleme prinzipiell zugängliches Kriterium, die Zumutbarkeit aber eine Leerformel“; siehe schon Oetker, FG-Frank I 1930, S. 359 ff., 388: „Man hat nie daran gezweifelt, daß im Notstande zu tun freisteht, was zu unterlassen ,nicht zugemutet wird‘. Neu ist, daß in der ,Zumutbarkeit‘ eine bedeutsame wissenschaftliche Errungenschaft gefunden wurde. Maßgebend ist doch nur, was das Recht ,zumutet‘ und darüber besagt dieses Wort selbst eben gar nichts“. 41 Dazu siehe Neumann-NK, § 35, 5. Aufl., Rn. 13, 16; über die „geschlechtliche Integrität“ in ihrem Kernbereich als notstandsfähiges Gut siehe schon Janka, Der strafrechtliche Notstand, 1878, S. 202; Stammler, Darstellung, 1878, S. 63, erwähnte die „weibliche Ehre“; siehe auch Broglio, Der strafrechtliche Notstand, 1928, S. 13, der die „Geschlechtsehre“ als notstandsfähiges Gut erwähnt, wenn ihre Verletzung eine Lebensentwertung bedeutet.

II. Die wissenschaftliche Aufgabe

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dem geirrt habe? Beispiele gibt es also reichlich. Der Fragenkatalog lässt sich unendlich erweitern und niemand erwartet, alle Antworten hierauf detailliert im Gesetz zu finden42. Aber „wo die Doktrin schwankt, dort steht die Gesetzgebung auf haltlosem Boden“ 43. Als naturgemäß nicht vom Gesetzgeber gelöstes Problem ist zugleich der sogenannte übergesetzliche entschuldigende Notstand zu erörtern, dessen Rechtsnatur durchaus kontrovers ist44. Nicht zuletzt bleibt trotz der Übernahme der sog. Differenzierungstheorie des Notstands im Gesetz (§§ 34, 35) zu untersuchen45 – die sogenannten Einheitstheorien stellen heutzutage eine nur geschichtlich bedeutsame dogmatische Erscheinung dar46 – wo genau der materielle Gehalt des Unterschieds zwischen dem rechtfertigenden und dem entschuldigenden Notstand liegt. Denn der Lektüre der Vorschriften ist nur zu entnehmen, dass ein formeller Unterschied besteht. Eine rechtswidrige Tat ist schon eine gesetzlich vorgesehene Voraussetzung des § 35, der also die Verneinung des § 34 logisch voraussetzt47. Die Positivierung der Differenzierungstheorie ist eine nur scheinbare abschließende Lösung. Diese Abgrenzungsfrage ist keineswegs leicht zu beantworten: Der entschuldigende Notstand steht vor einer ähnlichen Herausforderung wie der rechtfertigende Aggressivnotstand, nämlich einer Person gegenüber, die mit der Gefahr für die Güter des Täters normativ nichts zu tun hat – einem Unschuldigen – die Erklärung zu bieten, warum sich diese Person mit dem Täter in irgendeinem Maße „solidarisieren“ soll48. In der modernen Literatur beobachtet man die Tendenz, dem sogenannten defensiven rechtfertigenden Notstand einen weite-

42 Über die dogmatischen und kriminalpolitischen Fragen siehe statt aller Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl., § 22, Rn. 1 ff. 43 Janka, Der strafrechtliche Notstand, 1878, S. III. 44 Statt aller siehe Neumann-NK, § 35, 5. Aufl., Rn. 54 ff. Siehe auch u. C., IV., Exkurs. 45 Ausf. hierzu Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, 1965, S. 7 ff.; Küper, JZ 1983, S. 88 ff., 91; Lugert, Zu den erhöht Gefahrtragungspflichtigen, 1991, S. 90: Wortlaut „alles andere als ergiebig“. 46 Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, 1965, S. 9: Differenzierung als „absolut gesicherter Grundsatz unseres Rechts“; ausf. Küper, JuS 1987, S. 81 ff.; siehe Pawlik, JRE 11 (2003), S. 287: „Nach einer langen Irrfahrt hat der Notstandsgedanke mit den Regelungen der §§ 34, 35 StGB zwei Ankerplätze im heutigen Strafgesetzbuch gefunden. Stimmen, welche die Legitimität dieser Bestimmungen generell in Zweifel ziehen, finden sich in der gegenwärtigen Diskussion nicht mehr.“ Siehe im Detail unten. Denn trotz der hierzulande zu beobachtenden Bewegung im Sinne einer Einebnung von Unrecht und Schuld wird von fast niemandem bestritten, dass es mindestens zwei Notstände gibt. 47 So schon Hruschka, NJW 1980, S. 21 ff., 23. 48 Siehe Wilenmann, Freiheitsdistribution, 2014, S. 418 f.; ausf. zum Begriff der Solidarität Kühnbach, Solidaritätspflichten, 2007, S. 15 ff.; siehe auch Saliger, in: von Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Solidarität im Strafrecht, 2013, S. 61 ff.; ferner Neumann, in: von Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Solidarität im Strafrecht, 2013, S. 155 ff.

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A. Einführung

ren Anwendungsbereich einzuräumen49, so dass viele traditionelle Fälle des entschuldigenden Notstands als Problem der Rechtfertigung behandelt werden50, was die nicht unproblematische Annahme impliziert, das Opfer müsse seinen Tod dulden, sobald man nur irgendwie (manchmal durch künstliche Argumente) seine Zuständigkeit für die Notlage konstruieren kann – sogar eine triviale Flugbuchung könnte nach einige Autoren eine Duldungspflicht, sich töten zu lassen, hervorrufen51. Der defensive Notstand wirft zugleich Fragen auf, die bei der Legitimation der Zumutbarkeitsklausel („Hinnahme der Gefahr“) beim entschuldigenden Notstand auftauchen. Dieses Abgrenzungs- bzw. Differenzierungsproblem stellt also ein weiteres wissenschaftliches Unterfangen dar. Last, but not least darf die Existenz zweier Notstände keinesfalls als Faktum oder als eine Selbstverständlichkeit vorausgesetzt werden. Denn eine Rechtsordnung, die – wie die brasilianische (Art. 24 brasStGB52) – nur einen rechtfertigenden Notstand 49 Sehr instruktiv Coninx, JRE 22 (2014), S. 117 ff., 119, die über „die gegenwärtige Tendenz“ spricht, „den Anwendungsbereich der klassischen Notstandsinstitute restriktiv zu gestalten und parallel dazu den Defensivnotstand (weiter-) zu entwickeln“; zu dieser Kategorie siehe die wegweisende Studie von O. Lampe, NJW 1968, S. 88 ff.; früher schon v. Alberti, Gefährdung, 1903, S. 3; Hruschka, NJW 1980, S. 21 ff.; Roxin, in: FSJescheck 1985, 457 ff.; ausf. Otte, Defensivnotstand, 1998, S. 29 ff., 87 ff., 143 ff., 163 ff.; Frisch, in: FS-Puppe 2011, S. 425 ff., 428 ff.; Silva-Sánchez, ADPCP 1982, S. 663 ff.; Baldó Lavilla, Estado de necesidad y legítima defensa, 1994, S. 121 ff.; Coca Vila, InDret 1/2011, S. 1 ff.; Luzón Peña, Aspectos esenciales de la legítima defensa, 2. Aufl., 2002, S. 570 f.; Wilenmann, Freiheitsdistribution, 2014, S. 3 ff., 205 ff., 411 ff., 438 ff.; Moura, Ilicitude penal, 2015, S. 121 ff., 201 ff., 274 ff.; auch in der politischen Philosophie diskutiert man über den sogenannten „innocent threat, der nur „causal agent in a process is“, Nozick, Anarchy, 1974, S. 34 f. 50 Ein Beispiel sind die Haustyrannenmordfälle; dazu eingehend Wilenmann, Freiheitsdistribution, 2014, S. 411, der hier einen Fall des defensiven Notstands sieht; siehe auch Renzikowski, Notstand, 1994, S. 268 f. 51 Nämlich in den Fällen von durch Terroristen gekaperten Flugzeugen; dazu siehe Neumann-NK, § 34, 5. Aufl., Rn. 77c, 86 ff.; ein ähnliches Problem existiert bei der Selbstverursachung der Notlage bei § 35. Denn manchmal bedeutet eine kleine Obliegenheitsverletzung, dass der Täter trotz der Not zu bestrafen ist; über die Notwendigkeit einer „gewichtigen Obliegenheitsverletzung“ siehe Hörnle, JuS 2009, S. 873 ff., 879 ff.; kritisch zu den Zuständigkeitskonstrukten in der Literatur Coninx, JRE 22 (2014), S. 117 ff., 119 ff.; siehe auch Moura, Ilicitude penal, 2015, S. 227 ff. 52 Dazu siehe Cirino dos Santos, Direito Penal, 7. Aufl., S. 238 ff.; Busato, Direito Penal, S. 472 ff.; siehe auch art. 54 italStGB, wo die dogmatische Natur offengehalten wird („wird nicht bestraft“): „Articolo 54. Stato di necessità. Non è punibile chi ha commesso il fatto per esservi stato costretto dalla necessità di salvare sè od altri dal pericolo attuale di un danno grave alla persona, pericolo da lui non volontariamente causato, nè altrimenti evitabile, sempre che il fatto sia proporzionato al pericolo. Questa disposizione non si applica a chi ha un particolare dovere giuridico di esporsi al pericolo. La disposizione della prima parte di questo articolo si applica anche se lo stato di necessità è determinato dall’altrui minaccia; ma, in tal caso, del fatto commesso dalla persona minacciata risponde chi l’ha costretta a commetterlo“; dazu Nappi, Codice Penale, 2. Aufl., S. 377 ff.; Marinucci/Dolcini, Manuale di Diritto Penale, 3. Aufl., S. 256 ff.; Fiandaca/Musco, Diritto Penale, 6. Aufl., S. 304 ff.; Mantovani, Diritto Penale, 6. Aufl., S. 261 ff.; ausf. hierzu die hochinteressante Monographie von Viganò, Stato di necessità e conflitti di doveri, 2000, S. 551 ff.

II. Die wissenschaftliche Aufgabe

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vorsieht, ist ebenso denkbar, wie eine Rechtsordnung, die nur einen entschuldigenden Notstand anerkennt – wie die österreichische (§ 10 östStGB53) –, so dass man hinterfragen muss, aus welchen materiellen Erwägungen man eigentlich neben dem rechtfertigenden Notstand ein anderes, komplementäres Rechtsinstitut benötigt. Die Diagnose ist unerfreulich: Es besteht kein Konsens über die Begründung des entschuldigenden Notstands. Die Antworten auf alle diese vom Gesetzgeber nicht gelösten und in der Lehre umstrittenen Fragen setzen meines Erachtens Klarheit über den Kern des entschuldigenden Notstands voraus54. Ich werde deswegen versuchen, die wesentlichen Wege der Diskussion zu rekonstruieren, um diesen Kern herauszuarbeiten. Die Notwendigkeit der Bestimmung des Kerns des entschuldigenden Notstands wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass in der Literatur manchmal von einem vagen Unzumutbarkeitsgedanken aus – als angeblichem Kern des entschuldigenden Notstands – Deduktionen für konkrete Fragen vorgenommen werden: Coninx zum Beispiel behandelt das Näheverhältnis als „anachronistisches Kriterium“, weil es nicht einsichtig sei, „weshalb der Kern der Entschuldigung – die Unzumutbarkeit von normgemäßem Verhalten – völlig losgelöst von realen psychischen Abhängigkeiten und Gefühlen“ bestimmt werden solle55. Das ist aber zu allgemein. Den Kern des entschuldigenden Notstands, der in einer Neubestimmung des Schuldbegriffs als strafbezogene normative Ansprechbarkeit zu finden ist, will ich deshalb näher bestimmen. Die bis 53 „§ 10. (1) Wer eine mit Strafe bedrohte Tat begeht, um einen unmittelbar drohenden bedeutenden Nachteil von sich oder einem anderen abzuwenden, ist entschuldigt, wenn der aus der Tat drohende Schaden nicht unverhältnismäßig schwerer wiegt als der Nachteil, den sie abwenden soll, und in der Lage des Täters von einem mit den rechtlich geschützten Werten verbundenen Menschen kein anderes Verhalten zu erwarten war. (2) Der Täter ist nicht entschuldigt, wenn er sich der Gefahr ohne einen von der Rechtsordnung anerkannten Grund bewußt ausgesetzt hat. Der Täter ist wegen fahrlässiger Begehung zu bestrafen, wenn er die Voraussetzungen, unter denen seine Handlung entschuldigt wäre, in einem Irrtum angenommen hat, der auf Fahrlässigkeit beruhte, und die fahrlässige Begehung mit Strafe bedroht ist.“ 54 Was nicht automatisch impliziert, dass der Gesetzgeber nur die Handlung, die zu diesem Kern gehört, entschuldigen darf. Der Gesetzgeber darf den Kreis der zu entschuldigenden Handlungen anhand von Präventionsüberlegungen – zum Beispiel bei der Wahl eines kleineren Übels – erweitern. Was er nicht tun darf, ist den Kern der zu entschuldigenden Handlungen nicht anzuerkennen. Denn sonst liegt eine Verletzung des Schuldprinzips vor. Es geht hier „um die Sicherung der Grundlagen des entschuldigenden Notstands“, Pawlik, JRE 11 (2003), S. 287; auch Frisch meint, die Unklarheiten beim rechtfertigenden Notstand seien die Folge „von Defiziten in der theoretischen Fundierung des Notstandsrechst“, Frisch, in: FS-Puppe 2011, S. 425 ff., 426; ähnlich über die Vernachlässigung des Kerns des Notwehrrechts, Montenbruck, Thesen zur Notwehr, 1983, S. 9. 55 Coninx, JRE 22 (2014), S. 117 ff., 119 ff., 123 f. Freund versucht nach seiner personalen Straftatlehre zwischen einem schuldausschließenden und einem entschuldigenden Notstand zu differenzieren, mit verschiedenen Folgen für die konkreten Fragen: Freund, Strafrecht, AT, 2. Aufl., S. 126 ff. Der schuldausschließende Notstand habe nichts mit „Nachsichtsausübung“ zu tun, was ich für eine richtige Intuition halte.

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A. Einführung

heute bestehenden Unsicherheiten bei der dogmatischen Begründung des entschuldigenden Notstands zeigen ganz deutlich, dass eigentlich schon der Schuldbegriff revisionsbedürftig ist. Diese Kernbestimmung und das Herausarbeiten der daraus abzuleitenden Konturen der dem Täter zu gewährenden Entschuldigung ist die Aufgabe einer Theorie des entschuldigenden Notstands56, die mit einem Universalitätsanspruch auftritt. Erst nach dem unentbehrlichen Versuch also, die gesetzgeberischen Entscheidungen zu erklären, fängt die Quintessenz dessen an, was es bedeutet, „Wissenschaft als Beruf“ 57 zu betreiben: Entscheidungen sollen nicht nur erklärt, sondern auch begründet werden. „Denn das Recht fängt erst dort an, wo der Hinweis darauf, die Autorität habe etwas entschieden, nicht mehr genügt, also dort, wo Entscheidungen auch begründet werden“ 58. Die Sprache der Gründe ist universell, im Gegensatz zum Rekurs auf eine national geltende Vorschrift. Die Theorie des entschuldigenden Notstands muss außerdem das Verhältnis zwischen rechtfertigendem und entschuldigendem Notstand klären, das heißt: sie muss differenzieren. Mit anderen Worten: sie muss das Proprium des entschuldigenden Notstands bestimmen. Bei dieser Dissertation ist daher vor allem Konzentration auf das geboten, zu dem der Gesetzgeber sich nicht oder lediglich ganz allgemein geäußert hat, vor allem auf die (abstrakt formulierte) Frage: Was hat der entschuldigende Notstand mit der Schuld des Täters zu tun?59 Dazu schweigt das positive Recht zurecht. Hier ist es an der Wissenschaft, die Bühne zu betreten.

III. Ziel und Gang der Untersuchung Damit ist das Ziel vorgegeben und der Weg der Untersuchung gepflastert: Das Hauptziel ist die Konstruktion der Theorie des entschuldigenden Notstands. Den entschuldigenden Notstand zu erklären, zu begründen und vom rechtfertigenden Notstand abzugrenzen, ist die vorliegende Aufgabe. Dafür wähle ich eine methodische Vorgehensweise, die für eine Annäherung von Strafrechtsdogmatik, Kriminalpolitik und Rechtsphilosophie plädiert (B., I.). Man steht vor einer, so be56 Pawlik, JRE 11 (2003), S. 287 ff., 295, der meint, eine Theorie des entschuldigenden Notstands solle dem Eingriffsadressaten „den defizitären Charakter eines rein-negativen Freiheitsverständnisses“ nachweisen; siehe v. Weber, Das Notstandsproblem, 1925, S. 16, der auf die Gefahr einer Argumentation nach Rechtsgefühl bei dieser Diskussion hinweist. 57 Siehe den Aufsatz von Schünemann, in: Hilgendorf/Schulze-Fielitz (Hrsg.), Selbstreflexion der Rechtswissenschaft, 2015, S. 223 ff. 58 So Greco, Strafprozesstheorie, 2015, S. 44, und S. 116, über die universelle Rechtswissenschaft als Wissenschaft der Unterscheidung von Recht und Macht: „Unterscheidet sich Recht von bloßer Macht, dann bilden Gründe und nicht Entscheidungen das Primäre in seinem Gefüge“; siehe auch Schünemann, GA 2011, S. 445 ff. 59 Die Etablierung der Differenzierung zwischen den Notständen und die Anerkennung des Schuldmoments war für die gesamte Schuldlehre „von wesentlicher Bedeutung“, Achenbach, Historische, 1974, S. 54; zur Etablierung der „Unterscheidungslehren“ siehe die klassische Studie von Henkel, Der Notstand, 1931, S. 16 ff.

III. Ziel und Gang der Untersuchung

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zeichne ich sie, Hobbes’schen Herausforderung: Wie ist die geschichtlich fundierte Idee einer „Unverbietbarkeit“ der Tat im existentiellen Notstand (B., II., 1.) mit der moralischen und rechtlichen Grundannahme der Rechtswidrigkeit der Tötung (bzw. schweren Verletzung) Unschuldiger zu vereinbaren? (B., II., 1., 2.). Jegliche Antwort auf die Frage nach der Begründung des entschuldigenden Notstands steht zugleich unter dem Verdacht der Instrumentalisierung. Der Begriff der Instrumentalisierung soll deswegen untersucht werden (B., II., 3.). Die Schwächen der Ansätze in der Literatur entsprechen den Schwächen des revisionsbedürftigen normbezogenen Schuldbegriffs (B., III.). Um den Schuldgehalt des entschuldigenden Notstands genau zu bestimmen schlage ich ein Gedankenexperiment vor: Das Hinwegdenken des § 35 (B., IV.). Eine Theorie des entschuldigenden Notstands sollte die problematischen Fälle der Rechtsprechung und der Literatur im Visier haben (C., I)60. Der nächste Schritt liegt in der Feststellung von drei Anforderungen, die an jeglichen Ansatz zu stellen sind (C., II.): Eine gute Theorie des entschuldigenden Notstands muss erstens die gesetzgeberische Entscheidung zunächst erklären (C., II, 1.); zweitens muss sie dem Täter und dem Opfer gegenüber die Strafbarkeit bzw. die Straflosigkeit der Nothandlung begründen (C., II., 2.); drittens muss die Theorie auch materiell zwischen rechtfertigendem und entschuldigendem Notstand differenzieren (C., II., 3.). Die vielen Ansätze in der Lehre werde ich zunächst darstellen und kritisieren, nicht notwendigerweise in einer chronologischen Reihenfolge, sondern als Teil meiner Argumentationskette und ohne Vollständigkeitsanspruch. Die Vernachlässigung des meines Erachtens unentbehrlichen Schuldgesichtspunkts lässt sich auch dogmengeschichtlich erklären (C., III.). Die richtige Lösung wird fast automatisch aus der Kritik der vielen Ansätze entstehen. Nach einer Zwischenbilanz werde ich versuchen zu begründen, warum der Notstand ein genuines Schuldproblem ist. Die Antwort auf diese fundamentale Frage ergibt sich nach einer Untersuchung des Verhältnisses zwischen Notstand und Strafbegriff (C., IV.). Der Grund, weshalb man den in entschuldigenden Notstand geratenen Täter nicht bestrafen darf, liefert auch eine feste Grundlage für die Auslegung der Merkmale des § 35. Die Theorie ist also auch heuristisch de lege lata zu empfehlen (C., V.). Zuletzt ist anhand der zu gewinnenden Erkenntnisse eine Lehre des Irrtums beim entschuldigenden Notstand (§ 35 II) zu konstruieren (u. D.). Schon an dieser Stelle sei vorweggenommen, dass der deutsche Gesetzgeber die Herausforderung, diesen schwierigen Sachverhalt zu regulieren, im Allgemeinen bestanden hat und zwei grundlegende und aus meiner Sicht auch materiell richtige Entscheidungen getroffen hat, nämlich den echten Schuldausschluss beim entschuldigenden Notstand und die Vorsatzbejahung beim Irrtum über die 60 Schiller hat auch ein Beispiel dafür geliefert: Man erinnere sich an die Apfelschuss-Szene in seinem Drama „Wilhelm Tell“, in der der Vater einen Apfel vom Kopf seines Sohns schießen muss, um sein eigenes Leben zu retten, Dritter Aufzug, Dritte Szene, Verszeile 1860 ff., 1984 ff.; dazu siehe Coninx, Solidaritätspflicht, 2012, S. 270.

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A. Einführung

Notumstände, weswegen lediglich bei Unvermeidbarkeit zu exkulpieren ist. Die in der Literatur vorgebrachten Gründe hinter diesen zutreffenden Entscheidungen überzeugen hingegen nicht. Denn sie sind viel zu schwach und zu sehr in der Staatsräson verhaftet, um die feste, in unserer Rechtskultur verankerte Überzeugung von der Straflosigkeit des entschuldigenden Notstands zu untermauern. Die Erklärungen und Begründungen der gesetzgeberischen Entscheidungen sowie die dogmatischen Einzelheiten des Rechtsinstituts, welche sich anhand problematischer Fälle der Wirklichkeit offenbaren, bleiben immer noch zu leisten. Dazu dient die vorliegende Dissertation.

B. Die grundlegenden Probleme: Die Revisionsbedürftigkeit des herrschenden Schuldbegriffs Um die Konstruktion einer Theorie des entschuldigenden Notstands vornehmen zu können, ist es unentbehrlich, sich Klarheit über die zu lösenden grundlegenden Probleme zu verschaffen. Diese Probleme sind zunächst auf einem hohen Abstraktionsniveau zu behandeln, sodass man sich später den konkreten Problemen des entschuldigenden Notstands zuwenden kann. Die Unzulänglichkeiten der Ansätze in der Literatur sind meines Erachtens Produkt einer kurzsichtigen methodischen Annäherung an die grundlegenden Fragen der Notstandsdogmatik. Das Problem liegt tief: Indem man von einem falschen Schuldbegriff ausgeht, entstehen viele Ungereimtheiten bei der Begründung des entschuldigenden Notstands. Es gilt also, die Revisionsbedürftigkeit dieses Schuldbegriffs aufzuzeigen. Hierzu wird eine methodische Vorgehensweise (B., I.) ausgewählt, die eine Bestimmung der richtigen Ausgangspunkte in der Diskussion und die Stellung der richtigen materiellen Fragen ermöglicht. Die erste Herausforderung erwächst aus der These, die in existentiellem Notstand begangene Tat sei schon aus staatstheoretischen Gründen grundsätzlich „unverbietbar“: der sogenannten Unverbietbarkeitsthese (B., II.). Die Behandlung dieser abzulehnenden These liefert die feste Grundlage, von der die strafrechtliche Bearbeitung des Problems ausgehen muss: Die Handlung in existentieller Not ist vor allem aus Rücksicht auf das unschuldige Opfer stets rechtswidrig, das heißt: Es entsteht keine Duldungspflicht für das Opfer; die Handlung muss dennoch wenigstens in einigen begrenzten Fallkonstellationen straflos bleiben. Das scheint aber der einzige Fixpunkt in der Diskussion zu sein. Hinsichtlich der strafrechtlichen Begründung dieser Straflosigkeit herrscht ein komplizierter Theorienwirrwarr (B., III.). Um die Schwäche der herrschenden Meinung, die ihre Begründung auf den leeren Gedanken der Nachsichtsausübung aufbauen will, zu demonstrieren, schlage ich ein einfaches Gedankenexperiment vor: Denken wir § 35 schlicht hinweg. Könnte man dann vertreten, dass eine solche Rechtsordnung, die die Handlung in existentieller Not immer mit staatlicher Strafe beantwortet, das Schuldprinzip respektiert? Könnte man behaupten, eine solche Rechtsordnung sei legitim? (B., IV.). Die hier vertretene These lautet also: Es sind die Rechte der involvierten Personen in den Vordergrund zu stellen.

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B. Die grundlegenden Probleme

I. Methodisches: Rechtsphilosophie und Strafrechtssystem Die hiesige Methode will ich näher vorstellen, sie lässt sich zusammenfassend als ein Plädoyer für die rechtsphilosophische Fundierung des Strafrechtssystems bezeichnen. Die Probleme bei der Begründung des entschuldigenden Notstands sind nicht punktuell, sondern lassen sich auf methodische Unklarheiten zurückführen. Diese Dissertation ist zunächst keine echte rechtsgeschichtliche Arbeit. Über das ewige Problem des entschuldigenden Notstandes wurden schon viele Seiten von hochgeschätzten Autoren geschrieben1. Eine rein deskriptive, chronologische rechtsgeschichtliche Darstellung aller möglichen dazu geäußerten Meinungen scheint mir entbehrlich zu sein. Dafür verweise ich auf die lesenswerten Habilitationsschriften von Bernsmann2 und Momsen3. Hier geht es um die Entwicklung einer These. Damit ist nicht mit v. Ferneck gemeint, bei der Behandlung des Notstandes solle man alles, was darüber schon geschrieben wurde, hinwegdenken4. Diese „Geringschätzung der dogmengeschichtlichen Tradition“ geht zu weit5. Die 1 Watzka, Die Zumutbarkeit, 1967, S. I: das Problem sei „so alt wie die Geschichte des Strafrechts selbst“; wobei Janka 1878 noch sagte konnte: „Die Specialliteratur über Notstand ist eine verhältnismässig dürftige“. Der Autor beklagt aber die gemeinsame Behandlung des Notstands zusammen mit der Notwehr, so dass „eine umfassende Bearbeitung fehlt“, Janka, Der strafrechtliche Notstand, 1878, S. III; einige Jahren später hat Broglio dekretiert, die Literatur über den Notstand sei „fast unübersehbar“ geworden, Broglio, Der strafrechtliche Notstand, 1928, S. 1; siehe auch Bockelmann, Hegels Notstandslehre, 1935, S. 1: „Der Notstand hat die Geister seit jeher beschäftigt.“ 2 Bernsmann, „Entschuldigung“, 1989. 3 Momsen, Die Zumutbarkeit, 2006, S. 77 ff.; historisch über die Schuldlehre die fundamentale Monographie von Achenbach, Historische, 1974; über die frühere Geschichte des Notstandes Janka, Der strafrechtliche Notstand, 1878, S. 41 ff.; auch Stammler, Darstellung, 1878, S. 7 ff. 4 v. Ferneck, Rechtswidrigkeit, Bd. II/1, 1905, S. 102: „Um dieser Frage vorurteillos nachzugehen, muß man sich alles, was jemals über Notstand und Notwehr geschrieben wurde, hinwegdenken.“ Ferneck wollte durch diese Behauptung wahrscheinlich eher ein methodisches Prinzip seiner Vorgehensweise beschreiben. Es sollte „die Frage nach dem Rechtsgrund der Straflosigkeit der in einer Notlage begangenen Handlungen einer neuerlichen, völlig vorurteilslosen Prüfung unterzogen werden“ (S. 39). Eine neue Lösung erschließt sich jedoch erst, wenn man die Entwicklung der Diskussion zur Kenntnis nimmt. 5 Pawlik, Der rechtfertigende Notstand, 2002, S. 80. Die über den Notstand veröffentlichte Literatur ist kaum in ihrer Vollständigkeit zu lesen. Schon 1911 sagte Baumgarten: „Wer über Notstand und Notwehr schreibt, muß sich vor Augen halten, daß kaum ein strafrechtliches Gebiet sich einer größeren Literatur rühmen darf als dieses“, Baumgarten, Notstand und Notwehr, 1911, S. V; siehe v. Weber, Das Notstandsproblem, 1925, S. 11: „Die reiche Auswahl unter verschiedenen Möglichkeiten, die die Theorie in der Ausgestaltung des Notstandsproblems bot, läßt es begreiflich erscheinen, daß fast jeder Schriftsteller, der sich mit ihm beschäftigt hat, sich in wesentlichen Stücken von der Ansicht aller anderen Autoren unterscheidet“; Broglio, Der strafrechtliche Notstand, 1928, S. 1: der schreibt, „die Geschicklichkeit ihrer Begründer und Verfechter in der

I. Methodisches: Rechtsphilosophie und Strafrechtssystem

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Geschichte des entschuldigenden Notstands werde ich eher als Beleg meiner zentralen These benutzen, wonach das genuine Schuldmoment des entschuldigenden Notstands bisher noch nicht vollständig begriffen wurde, und erst durch eine Ableitung aus dem Strafbegriff zu begreifen ist – deswegen „Notstand und Strafe“ 6. Die hierzu im Laufe der Zeit vorgebrachten wechselnden Begründungen beweisen, dass die Straffreiheit des Täters auf Sand gebaut ist. Die in der Diskussion zu Tage tretende Schwäche hoffe ich durch eine sorgfältige und möglichst umfassende Dokumentierung der Diskussion zu entlarven. Dafür sind rechtsgeschichtliche Darstellungen unentbehrlich. Diese Arbeit versteht sich aber als Beitrag zur modernen strafrechtlichen Diskussion. Diese Abhandlung versucht zugleich, das Problem des entschuldigenden Notstands aus einer weiten Perspektive zu betrachten7. Eine isolierte Betrachtungsweise, die nur die spezifische Literatur über den Notstand berücksichtigt, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Die Lösung des eigenartigen Notstandsproblems – ein „Brennpunkt unseres Strafrechtssystems“ 8 – nimmt auf die Grundfragen des Strafrechts Bezug9. Es geht um eine Art „Rechtsmikrokosmos“, wenn man sich die vielzitierte Ausdrucksweise von Goldschmidt wieder vergegenwärtigen will: „Auf kleinem Gebiet ist hier die Aufgabe zu lösen, die dem Recht im großen obliegt: die kollidierenden Interessen der Gerechtigkeit gemäß abzugrenzen, die wiederstreitenden Motive der Billigkeit gemäß zu berücksichtigen“ 10. Der entschuldigende Notstand verkörpert also kein „internes“ verbrechenstheoretisches Problem, so dass die Argumentation ganz offen erfolgen soll: Sie soll auf die materiell tiefgreifenden Probleme gerichtet sein, ohne systematische oder begriffliche Vorurteile. Hierzu gibt es nämlich wenige systematisch und dogmatisch feste Überzeugungen, von denen man ausgehen könnte. Viele Autoren hinterfragen nicht selten schon den Legitimitätstitel des Staates, Handlungen im existen-

Belegung ihrer Ansichten“ haben „den ganzen Meinungskampf“ eher vertieft als geklärt. 6 So auch die schöne Formulierung von Neubecker, Zwang und Notstand I, 1910, S. 188: „Die geschichtliche Entwicklung ist mir nicht Selbstzweck, sondern lediglich Mittel, um die Grundgedanken herauszustellen, und das Seiende als ein Gewordenes zu erklären“; Bernsmann, „Entschuldigung“, 1989, S. 156: „Die zweifellos vorhandene und methodisch verführerische Affinität des rechtsgutsspezifischen Notstandes zum Schuldbegriff ist durch die gesetzgeberische Formulierung des § 35 eher noch vergrößert worden“; über den Schuldbegriff jüngst Zabel, Die Ordnung, 2017, S. 566 ff. 7 Pawlik, in: FS-Paeffgen 2015, S. 13 ff., 14: „Deshalb weisen Theorien zwar notwendig über das ihnen zugrunde liegende konkrete Probleme hinaus“; Bernsmann, „Entschuldigung“, 1989, S. VII, nach dem der Lebensnotstand „eine Metapher enthält, zu deren Entzifferung mehr erforderlich ist als strafjuristisches Werkzeug“. 8 Henkel, Der Notstand, 1931, S. 1. 9 Maurach, Kritik der Notstandslehre, 1935, S. 2: geht auf die „Grundproblemen des Strafrechts“ zurück; Kuhnt, Pflichten, 1966, S. 25: ein Problem, „zu deren Lösung stets bis auf die Grundfragen des Strafrechts zurückgegangen werden muß“. 10 Goldschmidt, Der Notstand, ein Schuldproblem, 1913, S. 68.

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B. Die grundlegenden Probleme

tiellen Notstand zu verbieten bzw. zu bestrafen, und der Literatur ist es viele Jahrzenten nach der Etablierung der Differenzierungstheorie noch nicht gelungen, zu einem Konsens in der Frage zu kommen, ob der „entschuldigende“ Notstand ein Unrechts- oder ein Schuldproblem, beides zugleich, oder gar ein der Verbrechenslehre externes Problem darstellt. Zur festen Überzeugung von der Notwendigkeit einer grundlegenderen Betrachtungsweise des entschuldigenden Notstands bin ich jedoch erst nach zahlreichen Überlegungen gelangt, die mich von einer isolierten Betrachtung abbrachten. Die Irrtumsdogmatik liefert ein gutes Beispiel dafür. Ursprünglich geplant war eigentlich nur eine Untersuchung über den Irrtum über die Notstandsumstände, eine einzigartige Vorschrift des deutschen Strafgesetzbuchs (§ 35 II). Jede Irrtumsregelung hat aber eine „sekundäre Natur“, das heißt: Sie ist die negative Seite eines positiven Merkmals der Verbrechenslehre. Der Tatbestandsirrtum ist die Kehrseite des Vorsatzbegriffs, der Verbotsirrtum ist Kehrseite des Begriffs vom Unrechtsbewusstsein; für den Irrtum über die Notstandsumstände gilt das Gleiche. Ohne eine umfassende Theorie des entschuldigenden Notstands kann man die Irrtumsregelegung des § 35 II nicht in befriedigender Weise erklären. Nicht von ungefähr war die Debatte über den Irrtum über die Notstandsumstände immer auch eine Debatte über Grund und Grenzen des entschuldigenden Notstands: Anhand des dem Alternativ-Entwurf von 1966 zugrundeliegenden Zumutbarkeitsbegriffs behauptete man, dass eine Irrtumsregelung entbehrlich sei, weil der Irrtum nur ein zu modulierender Aspekt der Zumutbarkeitsprüfung sei. Heute benutzt man häufig den § 35 II, um zu bestätigen, dass der Gesetzgeber sich für eine „objektive“ Notstandstheorie, die nicht nur auf der Vorstellung des Täters basiert, entschieden habe (s. u. D.)11. Damit war der Untersuchungsgegenstand automatisch erheblich erweitert. Die Bestimmung des Grundes, weshalb der Staat Handlungen in existentieller Not grundsätzlich nicht bestraft – die Konstruktion einer Theorie des entschuldigenden Notstands also –, macht es erforderlich, mehrere „Schritte zurück“ zu gehen. Die hiesige Arbeit ist der Versuch, ein Bindeglied zwischen Rechtsphilosophie, Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik zu schaffen. Eines steht schon fest: Die Entscheidung des Gesetzgebers ist zunächst rational kriminalpolitisch zu erklären und zu begründen. Es war ein Verdienst Roxins, die unentbehrliche Verbindung zwischen Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik in der strafrechtlichen Diskussion mit voller Durchsetzungskraft etabliert zu haben12. Diese Ver-

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Bernsmann, „Entschuldigung“, 1989, S. 149; Neumann-NK, § 35, 5. Aufl., Rn. 8. Roxin, Kriminalpolitik, 2. Aufl., 1973, S. 33 ff. (über die Auswirkungen in der Schuldlehre), 40: „Das Strafrecht ist vielmehr die Form, in der kriminalpolitische Zielsetzungen in den Modus des rechtlichen Geltens überführt werden“; Roxin, in: FS-Henkel, 1974, S. 171 ff.; siehe auch die Reflexion von Schünemann, in: FS-Schmitt 1992, S. 117 ff., 125 ff., 132 f.: Bei der Schuld „lag bereits die Hauptstoßrichtung von Roxins Studie aus dem Jahre 1970, die die herkömmlichen Systemstufen der Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit noch vergleichsweise konventionell behandelte, bei der 12

I. Methodisches: Rechtsphilosophie und Strafrechtssystem

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bindung stellt einen Punkt dar, von dem es kein Zurück mehr gibt13. Der entschuldigende Notstand bildet nach Roxin ein beliebtes oder das einfachste14 Beispiel dieser unausweichlichen Verbindung15: Diese dogmatische Kategorie ist Ausdruck einer kriminalpolitisch vernünftigen Entscheidung des Gesetzgebers, der Einsatz des Strafrechts sei in existentieller Not nicht notwendig, um die irdischen Strafzwecke zu verwirklichen16. Die Strafe sei aus „spezial- oder generalpräventiven Gründen zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Friedensordnung“ nicht unerlässlich17. Die Schuld, verstanden als normative Ansprechbarkeit – die unübersteigbare Grenze der Strafgewalt18 – sei nicht komplett ausgeschlossen, dem Täter werde aber keine Verantwortlichkeit zugeschrieben19.

Schuld aber ausdrücklich den Bogen zur Strafzwecklehre und damit zu den zentralen Sätzen der Kriminalpolitik schlug“. 13 Roxin wollte den Einwänden, Strafrechtsdogmatik werde zu „abstrakt-begrifflich“ oder „positivistisch“ betrieben, entgehen: Roxin, Kriminalpolitik, 2. Aufl., 1973, S. 40; siehe Schroth, in: FS-Roxin II, S. 705 ff., 717 ff. 14 Roxin, in: FS-Henkel, 1974, S. 171 ff., 183; dazu Wolter, GA 1996, S. 207 ff., 212 ff. 15 Roxin, in: FS-Henkel, 1974, S. 171 ff., 181, wo er die These vertritt, „daß nämlich die kriminalpolitischen Prinzipien der Strafzwecklehre die Systemkategorie tragen, die man gemeinhin als ,Schuld‘ bezeichnet“; so auch Roxin, ZStW 96 (1984), S. 641 ff., 655 f.; zuletzt Roxin, in: FS-Yamanaka 2017, S. 467 ff.; siehe auch Wolter, GA 1996, S. 207 ff., 212 ff.; Schünemann, in: FS-Schmitt 1992, S. 117 ff., 136. In der Diskussion über den entschuldigenden Notstand hat bereits v. Weber betont, „Androhung und Verhängung von Strafe ist nicht nur von rechtlichen, sondern auch von praktischen Rücksichten bestimmt“ (so v. Weber, Das Notstandsproblem, 1925, S. 9), was nichts anders als die von Roxin befürwortete kriminalpolitische Erklärung der strafrechtlichen Kategorien bedeutet; die Maßgeblichkeit der Kriminalpolitik bei der Bestimmung des Zumutbarkeitsbegriffs hatte 1935 auch Maurach hervorgehoben, Maurach, Kritik der Notstandslehre, 1935, S. 147 ff. 16 Roxin, in: FS-Henkel, 1974, S. 171 ff.; Schroth, in: FS-Roxin II, S. 705 ff., 717 ff. 17 Roxin, in: FS-Henkel, 1974, S. 171 ff., 182 f.: „Spezialpräventiv ist eine Sanktion unnötig, weil der Täter sozial voll integriert und nur durch die außergewöhnliche Situation zu seiner wegen des Rettungserfolges auch im Unrecht wesentlich geminderten Handlung gebracht worden ist; auch generalpräventive Gründe fordern eine Strafe nicht, weil die Seltenheit solcher im einzelnen meist unvergleichbarer Sachverhaltsgestaltungen es als überflüssig erscheinen läßt, die Abweichung vom erwünschten Regelverhalten um der Allgemeinheit willen zu sanktionieren, und weil der für das ,Handeln in Gefahr‘ nicht ausgebildete Durchschnittsmensch, wenn er doch einmal in eine derartige Lage gerät, ohnehin schwerlich die Norm bedenken und sich durch sie motivieren lassen würde.“ 18 Roxin, in: FS-Bockelmann 1979, S. 279 ff., 296: „Kriminalpolitik und Schuldgedanke müssen in ihrer wechselseitigen Beeinflussung und gleichzeitigen Beschränkung zu einer Synthese gebracht werden, indem einerseits zwar die Schuld einem kriminalpolitischen Mißbrauch der Strafgewalt Grenzen setzt, andererseits aber auch eine an den Maßstäben des präventiv Unerläßlichen orientierte Kriminalpolitik die Bestrafung eines Verhaltens nur wegen seiner Schuldhaftigkeit hindert“; siehe auch Roxin, ZStrR 104 (1987), S. 356 ff. 19 Roxin, Kriminalpolitik, 2. Aufl., 1973, S. 34: „Von der Sache her wäre es also vielleicht richtiger, von Verantwortlichkeit anstatt von Schuld zu sprechen“; Roxin, in:

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B. Die grundlegenden Probleme

Diese präventiven Überlegungen werden nicht aus dem Nichts postuliert, sondern nach einer normativ orientierten Betrachtung der Wirklichkeit. Entsprechende Fälle seien so selten, dass eine solche Ausnahmeregelung die Geltungskraft der Normen nicht oder in nicht erheblicher Weise in Frage stelle. Die Erfüllung der Aufgabe des Strafrechts als Rechtsgüterschutz werde dadurch keinesfalls beeinträchtigt oder erschwert20. Dieser Gedanke, der sich vor allem bei der Erklärung der in § 35 I 2 vorgesehenen Ausnahmen durchgesetzt hat21, ist in der Tat weiterführend und sogar unentbehrlich, er behandelt jedoch nur einen Teilaspekt des gesamten Problems. Der Verantwortlichkeitsbegriff erweist sich als ein richtiger Begriff, der als dogmatischer Fortschritt nicht rückgängig gemacht werden soll. Das Problem des entschuldigenden Notstands bleibt aber im Kern ein echtes Schuldproblem, das wegen der Beibehaltung eines anachronistischen, norm- und nicht strafbezogenen Schuldbegriffs bisher verkannt wurde22. Das Strafrechtssystem soll sich jedoch nicht nur kriminalpolitisch als vernünftig und rational erweisen. Es muss zudem und in erster Linie die Rechte der Personen ernst nehmen: Es darf keine Person instrumentalisieren (s. ausf. u. B., II., 3.)23. Jedes System, das mehr als eine kontingente Erscheinung der Unwetter seiner Zeit sein will, braucht eine rechtsphilosophische Untermauerung, anhand derer sich die Richtigkeit der vernünftigen Entscheidungen des Gesetzgebers überprüfen lässt24. Die hiesige Untersuchung geht explizit von einer festen Überzeugung aus: Jede Entscheidung für die Strafbarkeit einer Person steht unter dem Verdacht der Instrumentalisierung. Viele aus der Sicht der Rechtsordnung vernünftige Entscheidungen lassen sich als instrumentalisierende Maßnahmen des Staates einstufen, so dass sich der „Schutz der Freiheit des Bürgers vor nicht legitimierbarer staatlicher Gewalt“ als unabdingbare Aufgabe der Strafrechtsdogmatik darstellt25. Keine strafrechtliche Kategorie ist mehr auf eine Verbindung FS-Henkel, 1974, S. 171 ff., 182: „Es kommt nicht entscheidend auf das Andershandelnkönnen, sondern darauf an, ob der Gesetzgeber den einzelnen für sein Tun unter strafrechtlichen Gesichtspunkten zur Verantwortung ziehen will. Deshalb werde ich im folgenden nicht mehr von Schuld, sondern von Verantwortlichkeit sprechen“; siehe Wolter, GA 1996, S. 207 ff., 212 ff. 20 Siehe ausf. Roxin, in: FS-Yamanaka 2017, S. 467 ff., 473, der jetzt das Argument hinzufügt, „jeder kann in eine Notlage im Sinne der §§ 35, 33 kommen“. Dieses Argument weist einen richtigen Kern auf: Jeder besitzt die angeborenen Rechte, die bei § 35 auf dem Spiel stehen. 21 Roxin, in: FS-Henkel, 1974, S. 171 ff., S. 183 ff. 22 Kritik dazu auch von Hörnle, Straftheorien, 2011, S. 52 f. 23 Siehe Nozick, Anarchy, 1974, S. xi, über die „strong formulation of individual rights“. 24 So Schünemann, in: FS-Neumann 2017, S. 1 ff.: „Eine mit einem Richtigkeitsanspruch auftretende Strafrechtsdogmatik“; über die rechtsphilosophischen Fragestellungen auch Kühnbach, Solidaritätspflichten, 2007, S. 18 ff., 34 ff. 25 So Schünemann, in: Hilgendorf/Schulze-Fielitz (Hrsg.), Selbstreflexion der Rechtswissenschaft, 2015, S. 223 ff., 232: „Jede elaborierte Strafrechtsdogmatik besteht

I. Methodisches: Rechtsphilosophie und Strafrechtssystem

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zwischen Rechtsphilosophie und Strafrechtssystem angewiesen als der strafrechtliche Notstand26. Die Begründung des entschuldigenden Notstands ist also ein genuin rechtsphilosophisches Anliegen27, was keinesfalls mit einer ästhetisch bedingten blinden Ableitung der Notstandsdogmatik aus der Philosophie Kants oder Hegels zu verwechseln ist28. In besonderem Maße ist hier an das Neumann’sche „Plädoyer für die Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen Rechtswissenschaft und Moralphilosophie“ zu erinnern29. Die fundamentale abstrakte rechtsphilosophische Frage ist nämlich die: Stellt die Bevorzugung eigener existentieller Rechte, welche sich in der Abwälzung der existentiellen Gefahr auf Unschuldige manifestiert, einen rechtlichen Grund – auch gegenüber dem Betroffenen – dar, diese Handlung nicht zu verbieten oder nicht zu bestrafen? Einen Schritt weiter: Gälte diese Unverbotenheit bzw. Straflosigkeit uneingeschränkt, wäre sie immer die rechtliche Konsequenz, eine Tochter der unwiderstehlichen Macht der Tatsachen? Oder gäbe es normative Gegengründe, weshalb eine Bestrafung trotz der in der nicht positivistischen, sondern philosophischen Entfaltung der allgemeinen Zurechnungsprinzipien“; Pawlik, JRE 11 (2003), S. 287 ff., 314: die rechtsphilosophische Betrachtung sei kein „Luxus“: „Die wechselseitige Durchdringung von Strafrechtsdogmatik und Rechtsphilosophie nützt deshalb beiden Seiten: der Dogmatik, weil sie dadurch an innerer Geschlossenheit gewinnt, und der Rechtsphilosophie, weil sie auf diesem Wege konkret werden und ihre begründungstheoretische Leistungsfähigkeit unter Beweis stellen kann.“ 26 Nicht von ungefähr lautet der Untertitel des hervorragenden Aufsatzes Merkels über den Notstand „Über die Vernachlässigung philosophischer Argumente in der Strafrechtswissenschaft“: Merkel, in: Institut für Kriminalwissenschaften Frankfurt a. M. (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, 1995, S. 171 ff. 27 So schon Geyer, in: Geyer, Kleine Schriften, 1889, S. 297 ff.: „Jede Bearbeitung der Lehren vom Nothstand und Nothwehr wird, wenn sie nicht ganz auf der Oberfläche bleiben und e vinculis ratiocinari will, nothwendigerweise auf die obersten Grundsätze des Rechts überhaupt zurückführen“; Hörnle, in: Grundmann u. a. (Hrsg.), Festschrift 200 Jahre Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, S. 1265 ff., 1280 (Notstand als Beispiel der Annäherung); darüber auch Pawlik, GA 2014, S. 369 ff.; auch Momsen, Die Zumutbarkeit, 2006, S. 79: „Die Behandlung des Notstands spiegelt daher nicht nur die strafrechtlichen sondern auch die rechtsphilosophischen Strömungen“; Peña-Wasaff, Der entschuldigende Notstand, 1979, S. 1: nicht nur „ein strafrechtlicher Begriff“; im Kontext der Nothilfe siehe Engländer, Nothilfe, 2008, S. 6, der hervorhebt, hier sei die Rechtsphilosophie von Bedeutung, um die Legitimationsfrage nicht auszuklammern; siehe auch Greco, Lebendiges, 2009, S. 109, es gehe um „eine rechtsphilosophische Stellungnahme zu rechtsphilosophischen Fragen“. 28 Siehe die interessanten Überlegungen über das Verhältnis von Strafrecht und Rechtsphilosophie bei Hörnle, in: Grundmann u. a. (Hrsg.), Festschrift 200 Jahre Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, S. 1265 ff.; siehe auch Merkel, in: Institut für Kriminalwissenschaften Frankfurt a. M. (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, 1995, S. 171 ff., 173. 29 Neumann, ARSP Beiheft 44 (1991), 248 ff., 255 ff. Neumann hatte damals den rechtfertigenden Notstand im Visier: „Die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine ,an sich‘ verbotene Handlung unter Notstandsgesichtspunkten gerechtfertigt sein kann, konvergiert mit der Frage nach dem Grenzverlauf zwischen deontologischer und konsequentialistischer Normierung im Strafrechtssystem“; ausf. Greco, Lebendiges, 2009, S. 120, 230 ff.

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B. Die grundlegenden Probleme

existentiellen Not rechtlich angebracht wäre30? Es ist keineswegs klar, wieso ein faktisches subjektives Erlebnis einer Person – des Täters –, selbst wenn man es als etwas betrachtet, das auf einer allen Menschen gleichermaßen innewohnenden psychischen Verfassung fußt, für eine andere Person – das Opfer – maßgeblich sein soll31. Es muss irgendein Grund gefunden werden, der normativ auch dem unschuldigen Opfer gegenüber erklärt, wieso es trotz dieser Stellungnahme der Rechtsordnung noch immer eine gleichbehandelte Person bleibt. Die Rücknahme der Sanktionsnorm ist allen involvierten Personen gegenüber erklärungsbedürftig. Diese rechtsphilosophische Vorgehensweise, die die Rechte der involvierten Personen und nicht die Zweckmäßigkeit der Entscheidung des Gesetzgebers für die Gesellschaft in den Vordergrund stellt, bietet viele Vorteile: Sie hilft zunächst bei der Systematisierung der Argumente, die dann überschaubarer und deutlicher erscheinen. Es wurde schon festgestellt, dass der Gesetzgeber dazu nicht viel gesagt hat, weil er letztendlich nicht viel dazu sagen kann. Er trifft manchmal vernünftige, manchmal aber unvernünftige Entscheidungen. Dabei kann es passieren, dass er sich für eine Lösung entschieden hat, die sich mittels Zweckmäßigkeitserwägungen erklären lässt, die aber gleichzeitig die Rechte von Personen verletzt. Die Kontrolle der Richtigkeit solcher Entscheidungen stellt die edle Aufgabe der Wissenschaft als „viert[e] Gewalt“ dar.32 Es geht um die Begründung der Straffreiheit einer rechtswidrigen Handlung, die einen Unschuldigen das Leben Kosten kann. Die Rücknahme der Strafandrohung in existentieller Lage entzieht dem Opfer den vollständigen strafrechtlichen Schutz und auch das muss begründet werden. Dafür gibt es mindestens zwei Wege, zu argumentieren, die in der Moral- und Rechtsphilosophie Konjunktur haben: Man könnte vertreten, die Entschuldigung des Täters habe nach einem Gesamtkalkül im Endeffekt in der Regel bessere Folgen für die Gesellschaft – dann würde man konsequentialistisch argumentieren – oder man könnte sagen, eine Bestrafung des Täters im existentiellen Notstand verletze das Schuldprinzip und sei daher schlicht falsch oder illegitim, egal ob damit Gesellschaftsgewinne 30 Hier ist an die Selbstverursachung der Notlage und an die Existenz einer Gefahrtragungspflicht zu denken. 31 Dazu treffende Überlegungen von Pawlik, JRE 11 (2003), S. 287 ff.; siehe auch Wilenmann, Freiheitsdistribution, 2014, S. 419, der zum Beispiel des Haustyrannenfalls treffend bemerkt hat, dass der entschuldigende Notstand zu sehr auf den Täter fixiert ist: „Eine entschuldigende Lösung sollte sich grundsätzlich nur auf die Lage der Frau konzentrieren: Der entschuldigenden Notstand ist primär ein absolutes Institut“; siehe auch Coninx, Solidaritätspflicht, 2012, S. 1 ff. 32 So die schöne Formulierung von Schünemann, GA 2011, S. 445 ff., 446: Strafrechtswissenschaft „als eine Art vierter Gewalt, die nicht herrschte, sondern die Rechtsprechung nur intellektuell kontrolliere und dadurch die uralte Frage ,qui custodiet ipsos custodientes?‘ beantworten kann“. Nicht nur die Rechtsprechung, auch der Gesetzgeber muss von der Wissenschaft kontrolliert werden.

I. Methodisches: Rechtsphilosophie und Strafrechtssystem

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zu erzielen sind – dann hätte man sich einer deontologischen Argumentation angenähert33. Eine rechtsphilosophische Betrachtung hilft zugleich bei der Frage nach dem Destinatär bzw. Adressaten der Begründung oder anders formuliert nach der Gewichtung verschiedener, nicht zu vermengender Perspektiven34 und vermeidet eine nicht selten erfolgende Verschmelzung von vielen Gesichtspunkten, die schlicht nicht auf derselbe Stufe stehen. In diesem Kontext kommen drei mögliche Destinatäre einer staatlichen Begründung der Straflosigkeit des entschuldigenden Notstands in Betracht: die Gesellschaft, der Täter und das Opfer. Diese drei Perspektiven sind in der Diskussion nicht selten verquickt worden. Dem Täter gegenüber zu rechtfertigen, dass er zum Beispiel trotz der in der Regel mit entschuldigender Wirkung versehenden existentiellen Notlage bestraft wird, weil eine Straflosigkeit ausnahmsweise für die Gesellschaft oder für die Rechtsordnung unerträglich scheine, heißt nichts anderes als den Täter zu instrumentalisieren35. Aus der Opferperspektive ist wiederum ein Verständnis der Allgemeinheit für die Notlage des Täters irrelevant: Denn nicht die Allgemeinheit, sondern es selbst verliert durch eine straflose Handlung Rechte von existentieller Bedeutung. Dass die Allgemeinheit dasselbe Verständnis dem Opfer gegenüber nicht zeigen soll, erscheint als eine einseitige, merkwürdige Behauptung. Auch die tatsächliche Erschwernis der Motivation des Täters ist für das Opfer irrelevant, vor allem weil seine existentiellen Rechte nicht unter dem Vorbehalt tatsächlicher subjektiver Erfahrung anderer stehen dürfen36. Die Strafe und auch die Straflosigkeit muss der Staat in erster Linie gegenüber den im Konflikt involvierten Personen begründen. Als Begründung reicht es aber nicht aus anzuführen, er, der Staat, würde als Repräsentant des Willens der Allgemeinheit ausnahmsweise „Nachsicht üben“, vielleicht, weil alle Bürger so handeln würden, wenn sie in einer existentiellen Notlage wären. Denn in einer solchen Begründung kommen

33 Grundlegend Greco, Lebendiges, 2009, S. 120, der diese moralphilosophischen Begriffe in der strafrechtlichen Diskussion fruchtbar gemacht hat: „Unter Konsequentialismus versteht man hier die Theorie, nach der die Richtigkeit einer Handlung allein eine Funktion ihrer Konsequenzen ist [. . .] Deontologisch ist eine Theorie, welche die Richtigkeit als Funktion der Beachtung einer folgenunabhängigen Regel bestimmt“; siehe dazu auch Neumann, in: von Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Solidarität im Strafrecht, 2013, S. 155 ff., 160 ff.; zuletzt auch Schünemann, GA 2017, 678 ff., 681. 34 Dazu Roxin/Greco, Strafrecht AT I, 5. Aufl., § 3, Rn. 36 f. (noch nicht veröffentlicht); über die „Perspektivenabhängigkeit“ des Schuldbegriffs siehe Zabel, Die Ordnung, 2017, S. 572 ff. 35 Über diesen Begriff ausf. u. B. II., 3. 36 Das wurde schon von R. Merkel betont, der über den subjektiven Standpunkt sagt: „Speziell beim unbeteiligten Dritten zeigt sich seine Unzulänglichkeit in evidenter Weise, denn dieser Dritte ist in keiner Not im subjektiven Sinne, von einer Beschränkung der Entschließungsfreiheit kann bei ihm keine Rede sein, da er selbst nicht von einem Übel bedroht ist“, R. Merkel, Kollision, 1895, S. 25; Maurach, Kritik der Notstandslehre, 1935, S. 105: § 54 RStGB trage „dem gesunden Egoismus Rechnung“.

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B. Die grundlegenden Probleme

sie alle vor, die Gesellschaft, der Staat, die Geltung der Rechtsordnung; nicht aber die beiden konkret beteiligten Personen, nämlich Täter37 und Opfer, die im Begriff sind, ihre existentiellen Rechte zu verlieren. Der Dialog zwischen Strafrecht und Rechtsphilosophie ist bei der Begründung des entschuldigenden Notstands deswegen dringend und unentbehrlich. Pawlik hat Recht, wenn er über die Begründung des entschuldigenden Notstands im Anschluss an Renzikowski feststellt: „an keinem Punkt der heutigen Notstandsdogmatik macht sich die von Renzikowski [. . .] beklagte ,völlige Bedeutungslosigkeit rechtsphilosophischer Argumente‘ schmerzlicher bemerkbar als hier“ 38. Es ist zu begrüßen, dass einige neue Ansätze in der Lehre versuchen, die einzelnen Beziehungen der Konfliktbeteiligten untereinander und zum Staat näher zu analysieren, um diese rechtsphilosophischen Defizite wettzumachen39. Ich will mich dieser neuen Strömung anschließen. Erst wenn man die rechtsphilosophische Konsistenz eines Rechtsinstituts nachgewiesen hat, ist über seine Zweckmäßigkeit zu diskutieren. Diese Vorgehensweise ermöglicht auch die Formulierung der wesentlichen Fragestellungen, die sich manchmal hinter künstlichen begrifflichen Konstruktionen verbergen. Hierbei sind die fundamentalen Konsense in der Diskussion zu suchen, die danach in offener Sprache zu Tage gebracht werden sollen. Es gilt also das Unumstrittene bei der Behandlung des entschuldigenden Notstands zu bestimmen. Eines ist schon hier vorwegzunehmen: Die Bearbeitung der strafrechtlichen bzw. rechtsphilosophischen Literatur hat mich zu einem anderen, an sich evidenten, aber in der Diskussion durchaus verkannten Schluss gebracht: Der Konsens über die Straffreiheit im entschuldigenden Notstand zeigt schon deutlich, dass eine gesicherte Antwort auf die Frage nach den Gründen, die hinter dem Konsens stehen, höchstwahrscheinlich bei der Untersuchung des Strafbegriffs gesucht werden sollte. Denn „wo die Strafrechtswissenschaft am Werke ist, muß man vermuten, daß der das Strafrecht tragende, ihm seine Eigenart aufprägende Grundbegriff der Strafe Gegenstand wissenschaftlicher Arbeit wird“ 40. Der Strafbegriff soll als das prius im Verhältnis zum Verbrechensbegriff betrach-

37 Denn die Rechte des Täters stehen unter dem Vorbehalt, dass die Rettung seiner Rechte „sozial erträglich“ ist, was im Falle der Ausnahmenregelung des § 35 I 2 zu verneinen wäre. 38 Pawlik, Das Unrecht, 2012, S. 351 Fn. 558. 39 So richtig Engländer, ZIS 2016, S. 608 ff., 614, der beim Rechtsverhältnis zwischen den Konfliktbeteiligten ansetzt; siehe auch Hörnle, JuS 2009, S. 873 ff.: „Anknüpfungspunkt ist das Geflecht der Solidaritäts- und Aufopferungspflichten, wie sie zwischen Individuen einerseits, Individuen und Staat andererseits in einer freiheitlichen Gesellschaft bestehen.“ 40 Eb. Schmidt, Einführung, 3. Aufl., 1965, S. 161; Eb. Schmidt folgert weiter, ohne aber zwischen Strafbegriff und Rechtfertigung der Strafe zu unterscheiden, „daß also die Rechtfertigung der Strafe, ihr Sinn, ihre Zwecke zum Problem werden“; schon Stammler betrachtet die Frage der Nicht-Strafbarkeit als den „Cardinalpunkt“ der Diskussion, Stammler, Darstellung, 1878, S. 44.

I. Methodisches: Rechtsphilosophie und Strafrechtssystem

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tet werden41. Das Wesen des Strafrechts als subsidiärer Rechtsgüterschutz besteht in Strafandrohung und Strafverhängung, welche an die Verletzung von Verhaltensnormen anschließen – die „Theorie des Rechtsgüterschutzes durch Androhungsgeneralprävention“ 42. Fraglich sind also in erster Linie nicht die zu verbietenden Verhaltensweisen – genau um die Klärung dieses Problems bemüht sich indessen die traditionelle Rechtsgutstheorie43 –, sondern ob die in der Rechtswelt vielfältig auftretenden Verhaltensnormenverletzungen die Strafe als Reaktion besonderer Qualität nach sich ziehen sollen44. Das ganze Strafrechtssystem sollte deswegen auf der präjudiziellen Frage des Strafbegriffs aufgebaut werden – und nicht auf der Rechtsnatur der Norm, auf dem Rechtsgutsbegriff oder auf den erst danach zu erforschenden Strafzwecken45. Denn: „Um die Voraussetzungen der Bestrafung finden zu können, muß man natürlich wissen, was Strafe ist, wenn die Untersuchung nicht ins Leere sich verlieren soll“ 46. Die besondere Qualität der Strafe erklärt zugleich, wieso man eine Strafe ohne individuelle höchstpersönliche Schuld nicht verhängen darf. Den Kern der Schuld sollte man aus dem Strafbegriff ableiten. Bisher hat sich die Lehre mit einem revisionsbedürftigen normbezogenen Schuldbegriff begnügt47. Die Frage nach einem Strafbegriff und dessen Verhältnis zum Schuldbegriff ist wiederum eine rechtsphilosophische48. Die stark geschichtlich fundierte Intuition, der Staat dürfe im Notstand Strafe nicht androhen und verhängen, vor allem weil die Rechte, die auf dem Spiel stehen – Leben, Leib, (Fortbewegungs-)Freiheit – von existentieller Bedeutung seien, indiziert schon einen möglichen, noch nicht formulierten Ausweg aus dem non liquet: Vielleicht kennzeichnet die Strafe einen Eingriff in existentielle Rechte, angeborene Rechte in der Sprache des Naturrechts – in der dortigen Dis41 So Schünemann, in: FS-Neumann 2017, S. 1 ff., 3: „Den archimedischen Punkt des Strafrechts bildet die Rechtsfolge der Strafe, deren ausschlaggebende Züge also als erstes zu bestimmen sind.“ 42 So die Formulierung von Schünemann, ZStW 126 (2014), S. 1 ff., 5 f.; siehe schon Schünemann, in: FS-Lüderssen 2002, S. 327 ff., 342 f. 43 Siehe Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl., § 2, Rn. 1 ff. 44 So in Roxin/Greco, Strafrecht AT I, 5. Aufl., § 2, Rn. 1a ff. (noch nicht veröffentlicht). 45 Der Strafbegriff soll nicht mit den Versuchen, die Strafe zu rechtfertigen, verwechselt werden. Dazu ausf. Greco, Lebendiges, 2009, S. 275 ff. Siehe m.w. N. Eb. Schmidt, Einführung, 3. Aufl., 1965, S. 164 ff.: Die Straftheorien haben sich seit den Zeiten des Naturrechts bemüht zu erklären, warum die Strafe in erster Linie dem Nutzen des Staates diene. 46 So die simple und richtige Formulierung von Baumgarten, Der Aufbau der Verbrechenslehre, 1913, S. 2. 47 Greco, Lebendiges, 2009, S. 477 ff. 48 F. Zimmermann, Verdienst und Vergeltung, 2012, S. 4: „Strafe ist eines jener Phänomene, in denen sich die praktische Philosophie verdichtet: Es wirft Fragen nach gut und böse, nach dem Gebotenen, Erlaubten und Verbotenen auf, zu deren Beantwortung man handlungstheoretische, normative, aber auch, soweit die möglich ist, empirische Überlegungen heranziehen muß.“

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B. Die grundlegenden Probleme

kussion, vor allem im 17. und 18. Jahrhundert, ist auch der der Notstand nicht von ungefähr häufiger Gegenstand49 (s. u. C., IV., 3.) – und sollten deswegen dem Täter, der gehandelt hat, um den Verlust gerade dieser Rechte zu verhindern, nicht ebendiese Rechte durch die Strafe entzogen werden. Das ist aber nur eine in Pinselstrichen dargestellte Intuition, deren wissenschaftlichen Konsistenz noch zu prüfen ist50 (ausf. u. C., IV.). Eine positivrechtlich orientierte Untersuchung einer „harmlosen“ Vorschrift (§ 35 II) hat sich damit in eine rechtsphilosophische Abhandlung über das Verhältnis zwischen Notstand und Strafe verwandelt. Eine andere wissenschaftliche Haltung wäre sicherlich bequemer, aber auch unaufrichtig. Die hiesige methodische Vorgehensweise lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Die Begründung der ratio des entschuldigenden Notstands ist in erster Linie ein rechtsphilosophisches Anliegen, erst danach ist über die Frage der Zweckmäßigkeit der Rücknahme der Strafdrohung und der Strafverhängung zu spekulieren. Es ist vor allem auf die (angeborenen) Rechte der involvierten Personen zu achten: Eine legitime Begründung darf keine Person instrumentalisieren. Durch die richtigen Fragestellungen lassen sich die Verschmelzungen und Schwächen der in der Literatur vertretenen Ansätze offenbaren, so dass man zu den wenigen unumstrittenen Fixpunkten des Problems gelangen kann. Die rechtsphilosophische Bearbeitung dieser Fixpunkte wird uns zur Bestimmung des verkannten Kerns des entschuldigenden Notstands führen. Erst diese Bestimmung ermöglicht eine konsistente Lösung der dogmatischen Probleme des § 35.

II. Vorfrage: Kapitulation der Rechtsordnung? 1. Die Unverbietbarkeitsthese „Die Not ist ständige Begleiterin des menschlichen Lebens“ 51, schreibt H. Mayer. Die Erkenntnis, dass es dem Gesetzgeber schwer möglich ist, das Phänomen des entschuldigenden Notstands zu erfassen, ist evident. Es ist bis heute erstaunlicherweise nicht einmal klar, ob Handlungen in existentieller Not rechtswidrig sind bzw. sein dürfen. Einige Autoren behaupten sogar, der existentielle Notstandssachverhalt sei als Grenzfall nicht nur schwer zu regulieren, sondern teilweise schlicht unregulierbar. In diese Richtung gehen die von der Gesellschafts49 Hatzung, Dogmengeschichtliche Grundlagen, 1984, S. 63, der die „lebhafte Beschäftigung mit dem Notstand in der Epoche des neuzeitlichen Naturrechts, die sich im 17. und 18. Jahrhundert weitgehend mit der Zeit des usus modernus überschnitt“, erwähnt. Die damalige Literatur befasste sich vorwiegend mit dem Lebens- und Leibesnotstand (S. 65). 50 So die treffende Bemerkung von Coninx, Solidaritätspflicht, 2012, S. 5: „Allerding ist es nicht so, dass Intuitionen an sich eine gerechte Lösung der Lebensnotstandskonflikt garantieren. [. . .] Es gilt deshalb, unsere Intuitionen kritisch zu überprüfen.“ 51 H. Mayer, Strafrecht AT, 1953, S. 190.

II. Vorfrage: Kapitulation der Rechtsordnung?

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vertragslehre inspirierten staatsrechtlichen Thesen52. Die kontraktualistischen Begründungen des entschuldigenden Notstands sind spätestens seit der Studie Bernsmanns53 auch in der strafrechtlichen Literatur beliebt geworden54. Eine der von den Autoren kontraktualistischer Provenienz vertretenen These ist die grundsätzliche Unverbietbarkeit der Tat im existentiellen (Lebens)Notstand55. Diese These, die hier in Hinblick auf ihre allgemeine Plausibilität zu behandeln ist, ist ernst zu nehmen. Es ist also zu untersuchen, ob die generelle Unverbietbarkeit der Handlung in existentieller Not als unumstrittener Ausgangspunkt der Diskussion bezeichnet werden darf. Diese These hat Konjunktur und lässt sich als eine Vorfrage behandeln. Es leuchtet auf den ersten Blick ein, dass der Staat zu dieser Situation keine Stellung nehmen will. Eine erste Erwiderung auf den Vorwurf, durch die Statuierung einer Straflosigkeit für den Täter ergreife der Staat zu seinen Gunsten und deshalb zuungunsten des Opfers Partei, ist es also zu behaupten: Der Staat will zu diesen Lagen überhaupt keine Stellung nehmen. Diese These würde auch erklären, weshalb bisher dem entschuldigenden Notstand kein sicherer Platz in der Architektur der Verbrechenslehre zugewiesen wurde. Die Unverbietbarkeitsthese, die einen kompletten oder partiellen Rückzug der Rechtsordnung vertritt, stellt also vor eine erste unausweichliche dogmatische Herausforderung56. Durch die Auseinandersetzung mit der Unverbietbarkeitsthese gewinnt man die ersten Erkenntnisse, die für die Bestimmung des Kerns des entschuldigenden Notstands relevant sein werden. Es geht letztlich um den Begriff der Rechtswidrigkeit im (Straf-)Recht57. Diese These weist auf den ersten Blick zweifellos eine gewisse Plausibilität auf 58. Es verwundert nicht, dass es sich um ein zentrales Thema in der Staats52 Dazu siehe Rogall-SK § 35, 9. Aufl., Rn. 7 ff.; siehe auch Coca Vila, La colisión de deberes, 2016, S. 113 ff.; jüngst Renzikowski, in: Hilgendorf/Joedern (Hrsg.), Handbuch Rechtsphilosophie, 2017, S. 453 ff. 53 Bernsmann, „Entschuldigung“, S. 174: „Der rechtsgutspezifische Notstand weist eine geradezu ,natürliche‘ Affinität zu extra-juristischen, praktisch-philosophischen und staatspolitischen Fragestellungen auf, die sich durch Zeitablauf ihrem Wesen nach nicht verändern.“ 54 Siehe die Darstellung dieser Meinungen bei Roxin, in: FS-Yamanaka 2017, S. 467 ff., 481 ff., m.w. N.; ein Beispiel ist der Versuch Frischs, das theoretische Fundament auf die wechselseitige Vernünftigkeit der involvierten Bürger zurückzuführen: Frisch, in: FS-Puppe 2011, S. 425 ff. 55 Dazu eingehend Roxin, in: FS-Yamanaka 2017, S. 467 ff., 481 ff., der dagegen vier Gründe formuliert: die ausschließliche Geltungsmacht des kodifizierten Gesetzes; die unzulängliche Erklärung des Leibes- und Freiheitsnotstands; die nicht überzeugende Erklärung der im Gesetz vorgesehenen Ausnahmen und zuletzt die Unanwendbarkeit auf den Notwehrexzess. 56 Siehe Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, 1965, S. 15 ff., der diese Frage ebenfalls als eine Art Vorfrage schon auf den ersten Seiten seiner Monographie behandelt. 57 Dazu statt aller Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl., § 14, Rn. 1 ff. 58 Pawlik, JRE 11 (2003), S. 287 ff., 289: „eleganter Weg“.

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B. Die grundlegenden Probleme

theorie und Naturrechtstheorie der Aufklärung handelt59. Der durch Zufall entstehende Notstandskonflikt bedroht nichts weniger als die Existenz zweier Bürger. Die existentielle Notlage charakterisiert sich durch die unglückliche Tatsache, dass ein Bürger seine Existenz (oder einen wesentlichen Teil davon) nur dadurch retten kann, dass er einen anderen Bürger durch die Abwälzung der ihm drohenden Gefahr auf diesen in seinem existentiellen Kernbereich schwer verletzt. Schlimmstenfalls entsteht eine „Leben gegen Leben“-Pattsituation60 – und das Leben ist die „Bedingung aller Rechte“ 61. Die Rechtsordnung stößt hier an ihre Grenzen62. Denn die Rechte, die bei dieser Krise auf dem Spiel stehen, sind von besonderer Qualität: Leben, Leib und Freiheit sind Rechte, die man zweifellos schon vor der Gesellschaft hat, wenn man sich auf die beliebte Gesellschaftsvertragsmetapher berufen will63. Die Vertragspartner in der original position von 59 So die Formulierung von Frister, Die Struktur, 1993, S. 156, der sagt, dass diese Theoretiker „noch sehr viel offener und direkter“ argumentierten als in der heutigen Strafrechtsdogmatik üblich; auch in der Diskussion über die Existenz eines Notrechts taucht ein ähnliches Argument: Man sagte vor allem im Kontext der Diskussion über den Notdiebstahl, dass hier „die ursprüngliche Gütergemeinschaft“ wiederauflebe, „weil sich die positive Rechtsordnung als unfähig erwiesen hat, ihren Zweck, nämlich die Erhaltung des Einzelnen, zu erfüllen“, Renzikowski, in: von Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Solidarität im Strafrecht, 2013, S. 13 ff., 27 ff. 60 Dazu Bott, In dubio pro Straffreiheit, 2011, S. 5 ff.; dazu krit. Hörnle, GA 2012, S. 317 f. 61 Feuerbach, Lehrbuch, 1. Aufl., 1801, § 206; Neumann-NK, § 34, 5. Aufl., Rn. 73: menschliches Leben als die „vital[e] Basis aller individuellen Rechtsgüter“; MüssigMK, § 35, 3. Aufl., Rn. 13: das Leben „als physische Grundlage des rechtlichen Personenstatus“. 62 Köhler, Strafrecht AT, 1997, S. 331: „Bestimmte Notstandskonstellationen definieren dagegen die Grenze des staatlichen Rechtsverhältnisses und seiner widerspruchsfreien Allgemeingeltung.“ 63 Deswegen spricht Lugert von einer „qualifizierten Notstandshandlung“, Lugert, Zu den erhöht Gefahrtragungspflichtigen, 1991, S. 83 ff.; Schon nach Pufendorf waren Voraussetzung für die Notstandshandlung „die Gefährdung des Lebens, der Verstümmelung eines Gliedes oder einer sonstigen schweren Verwundung“, Welzel, Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs, 1958, S. 91; sogar bei Locke hatten diese Rechte besondere Qualität. Man verlasse den Naturzustand und begebe sich unter die Herrschaft einer Regierung aus einem einzigen Grund: „the Preservation of their Property“. „Property“ wurde so verstanden: „[. . .] or have a mind to unite for the mutual Preservation of their Lives, Liberties and Estates, which I call by the general Name, Property“, Locke, Two Treatises, The Second Treatise, 19. Aufl., 2009, Chap. IX, § 123 f., S. 350 f.; siehe dazu Gert, Hobbes, 2010, S. 146 f.; in der Aufklärung taucht der Gedanke der unveräßerlichen Rechte vielfach auf, Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, 2007, S. 245 ff., 261 ff.: „Allen solchen vertraglichen Bindungen gehen vielmehr ursprüngliche Bindungen voraus, die weder durch einen Kontrakt geschaffen worden sind, noch durch ihn schlechthin beseitigt und aufgehoben werden können. Es gibt natürliche Rechte des Menschen, die vor aller Bildung von Gesellschafts- und Staatsverbänden bestanden haben; und in Hinblick auf sie besteht die eigentliche Funktion und der wesentliche Zweck des Staates darin, daß er sie in seine Ordnung hinübernimmt und vermittels derselben schützt und garantiert. Es ist insbesondere das Recht auf persönliche Freiheit und das Recht auf Eigentum, das von Locke zu diesen Grundrechten

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Rawls, deren Sicht durch den Schleier des Nichtwissens getrübt wird64, schreiten zur Verhandlung als Personen, die eo ipso Leben, Leib und Freiheit besitzen65. Ihre Positionen in der noch zu strukturierenden Gesellschaft bleiben ihnen in der Metapher unbekannt. Ob sie später als Polizist, Feuerwehrmann oder Strafrechtslehrer tätig werden steht noch nicht fest66. Alle möglichen denkbaren Varianten setzen aber die Existenz eines Menschen voraus. Mit anderen Worten: Was sie innerhalb der Gesellschaft erwerben werden, ist unklar, nicht aber, was sie schon kraft ihrer bloßen Existenz als Person bzw. Mensch innehaben. Diese angeborenen Rechte wollen alle rationalen Menschen in der Gesellschaft beibehalten, ohne sie würden sie lieber im Naturzustand weiterleben. Es stellt keinesfalls einen Zufall dar, wenn die deutsche Verfassung genau diese Rechte ausdrücklich in Art. 2 II GG anerkennt: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden“. Diese Rechte machen die Person aus, deren Würde „unantastbar“ ist (Art. 1 I GG). Nicht von ungefähr kennt richtigerweise die heutige strafrechtliche herrschende Meinung, die den Täter aus „Nachsicht“ entschuldigen will, eine äußerste Grenze, bei der spätestens jegliches gesellschafts- und präventionsorientierte Kalkül aufhören muss, nämlich den sicheren Tod des in Gefahr geratenen Täters. Dazu darf das Recht keinen Menschen zwingen. Diese Grenze bleibt nach der herrschenden Meinung sogar bestehen, wenn der Täter die Notlage selbst verursacht hat, wenn ihm eine Gefahrtragungspflicht (als Polizist, Soldat oder Feuergezählt wird“; siehe auch Kersting, Verteidigung des Liberalismus, 2. Aufl., 2010, S. 69: „John Locke stattete das Individuum mit unverlierbaren Grundrechten aus und entwarf den Staat als einen politischen Ausschuss der Bürger, der die Aufgabe zugewiesen bekam, die Grundgütertrias von Leben, Freiheit und Eigentum zu schützen“; über diese Thesen Lockes Nozick, Anarchy, 1974, S. 57 ff., 174 ff. 64 Rawls, A theory of justice, 1999, S. 11, der diese Verhandlungslage für „purely hypothetical“ hält, und sagt: „Among the essential features of this situation is that no one knows his place in society, his class position or social status, nor does any one know his fortune in the distribution of natural assets and abilities, his intelligence, strength, and the like. [. . .] The principles of justice are chosen behind a veil of ignorance. This ensure that no one is advantaged or disadvantaged in the choice of principles by the outcome of natural chance or the contingency of social circumstances“; siehe S. 102 ff., 118 ff.; in der strafrechtlichen Diskussion siehe Merkel, Zaungäste, in: Institut für Kriminalwissenschaften Frankfurt a. M. (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, 1995, S. 171 ff., 184 ff. 65 So T. Zimmermann, Rettungstötungen, 2009, S. 67: „Ein (rechtliches) ,Existenzminimum‘ ist daher als Voraussetzung zur Ernte der Früchte des Vertrages für das Individuum hinter dem Schleier des Nichtwissens unverhandelbar“; diese existentiellen Güter sind nicht mit den von Rawls genannten „primary goods“ zu verwechseln, Rawls, A theory of justice, 1999, S. 78 ff., die Rechte, „which it is supposed a rational man wants whatever else he wants“. 66 Rawls, A theory of justice, 1999, S. 123: „This means that while they know that they have some rational plan of life, they do not know the details of this plan, the particular ends and interests which is calculated to promoted.“

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wehrmann) zukommt oder auch, wenn die Lage einer Sozialnot entspringt67. Das leuchtet ein. Der entschuldigende Notstand trifft den Täter nicht als Bürger, sondern als Person (s. u. C., IV.). Der Staat steht nämlich vor der nicht zu unterschätzenden Herausforderung, eine existentielle Daseinskrise seiner Bürger durch einheitliche rechtliche Maßstäbe zu lösen68. Er soll „eine Panne im gesellschaftlichen Zusammenleben, deren Entstehung vom Gesetz als höhere Gewalt, Unglück oder Zufall aufgefaßt wird“, beheben69. Dies entpuppt sich als eine Aufgabe von höchster Schwierigkeit, vor allem aus Gründen der Gleichheit, eines verfassungsrechtlich verankerten Grundrechts (Art. 3 I GG: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“). Der Staat, der mehr als eine Räuberbande sein soll70 und der verfassungsrechtlich verpflichtet ist, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen (Art. 1 I 2 GG), beansprucht die Legitimation für sich, dass er im Namen aller Bürger spreche. Er darf also weder Täter noch Opfer entpersonalisieren71 oder entwürdigen. Nicht von ungefähr hat Kant das „Notrecht“ – den „Zwang ohne Recht“ 72 – aus seiner Rechtslehre ausgesondert, „damit ihre schwankenden Prinzipien nicht auf die festen Grundsätze des erstern Einfluß bekommen“ 73. Dazu könne das Recht niemanden zwingen. Das Beispiel, das Kant vor Augen hatte, war gerade der Lebensnotstand, nach den heutigen herrschenden und fast unumstrittenen Differenzierungstheorien der Notstände ein klassischer Fall des entschuldigenden Notstands. Bei diesem stehe das Recht ratlos da: Es handle sich um einen Fall, zu dessen Entscheidung „kein Richter aufgestellt werden kann“ 74. Auch Gentz, 67 Puppe, Strafrecht AT, 3. Aufl., S. 226 f.; über die Sozialnot siehe Neumann-NK, § 35, 5. Aufl., Rn. 11: „Bei unmittelbar drohender Lebensgefahr kann eine Exkulpation unabhängig von dem Niveau der allgemeinen Notlage nicht versagt werden“; Rn. 44: „Unzumutbar ist in jedem Fall eine Pflichterfüllung, die für den Verpflichteten den sicheren oder höchstwahrscheinlichen Tod bedeuten würde. Das gilt auch für Soldaten; die bewusste Selbstaufopferung wird auch von der soldatischen Pflicht nicht verlangt“; so auch Müssig-MK, § 35, 3. Aufl., Rn. 68: „Eine generelle Grenze für alle Gefahrtragungspflichten, auch für die des Soldaten, wird allgemein dort gezogen, wo die Pflichterfüllung den unmittelbaren und konkret vorhersehbaren sicheren Tod bedeutet.“ 68 Siehe auch Hefermehl, Der verursachte entschuldigende Notstand, 1980, S. 2 f.: Diese Grenzsituation „kann nicht dem Rechtsgefühl überlassen werden“. 69 Hefermehl, Der verursachte entschuldigende Notstand, 1980, S. 78. 70 Siehe Greco, Lebendiges, 2009, S. 128 f. 71 Zu diesem Begriff siehe Jakobs, System, 2012, S. 50 f.; richtig Pawlik, JRE 11 (2003), S. 287 ff., S. 303, nach dem eine Rechtferigung der Tat die „Geringwertigkeit der fremden Biographie“ bedeuten würde, und diese Behauptung würde gegen den „Grundsatz der Gleichheit aller Bürger“ verstoßen. 72 Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1977, S. 341. 73 Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1977, S. 341. 74 Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1977, S. 341; siehe Hruschka, in: FS-Jakobs 2007, S. 189 ff.; Zaczyk, Das Strafrecht in der Rechtslehre J. G. Fichtes, 1981, S. 95: „Daran wird aber deutlich, daß der Fall hinführt zu einer prinzipiellen Bestimmung dessen, was ,Recht‘ ist“; siehe auch Bockelmann, Hegels Notstandslehre, 1935, S. 6, 10, der sogar Kant für einen Vertreter der sogenannten Exemtionstheorie hält.

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einem Zeitgenossen Kants, hat der entschuldigende Notstand schon 1793 – interessanterweise benutzte er bereits das Wort Entschuldigung75 – große Probleme bereitet: Das, „was man der Menschheit nachsieht, [darf] nie zur Regel in einem System der Rechte werden“ 76. Die Rechtlichkeit drohte also vor dieser Situation teilweise zu kapitulieren77. Plastisch gesagt: Der entschuldigende Notstand wäre als „das Loch in der Rechtsordnung“ zu charakterisieren78. Es leuchtet dann ein, wenn man hier ein dezidiertes Unrechtsurteil seitens der Rechtsordnung für fehl am Platze erachtet. Diese angebliche Kapitulation der Rechtlichkeit ist aber keine bahnbrechende neue Feststellung, sondern taucht mit großer Klarheit schon im 18. Jahrhundert in der berühmten Exemptionstheorie Fichtes auf: „Die Natur hat die Berechtigung für beide, zu leben, zurückgenommen; und die Entscheidung fällt der physischen Stärke und der Willkür anheim“ 79. Der Strafrechtslehrer Baumgarten hat es 1911 ähnlich formuliert: „Die unmittelbare Todesfurcht können wir mit keiner Strafdrohung bekämpfen: der Gedanke an den Schimpf, welcher mit der Todesstrafe verbunden ist, verblaßt, wenn das Messer an der Kehle sitzt, die sozialen Anschauungen werden vergessen, der Mensch sinkt in den Naturzustand zurück“ 80. Das bedeute nichts Geringeres als einen Rückzug der Rechtsordnung, die dadurch vom Naturzustand punktuell überholt werde81. Es gibt bekanntlich 75 Gentz, in: Kant/Gentz/Rehberg, Über Theorie und Praxis, 1967, S. 106: „Die Verschiedenheit der Lagen, in welchen rebellierende Völker sich befanden, wirkt bloß eine Verschiedenheit in den Entschuldigungsgründen für die widerrechtliche Handlung. Denn so, wie der Entschluß, einen Feind, mit dem man sich im Schiffbruch auf einem schmalen Brette befände, lieber in die See zu stoßen, als unvermeidlich selbst unterzugehen, zwar nie gerechtfertigt werden, wohl aber (weil in der äußersten Not schon Heldenmut dazu gehört, sich bloß in Pflichtbegriffen leiten zu lassen) Entschuldigung findet wird, ebenso bleibt es zwar immer unrechtsmäßig, kann aber für verzeihlich gelten, wenn eine durch Tyrannei aufs äußerste gebrachte Nation ihr Joch durch einen Aufstand abschüttelt“; darüber ausf. Hruschka, GA 1991, S. 1 ff., 10. 76 Nachweise bei Hruschka, GA 1991, S. 1 ff., 5. 77 Diese Metapher der Kapitulation findet man schon in Henkel, Der Notstand, 1931, S. 37 über die Unverbietbarkeitsthese: „dass man sich hier mit einem völligen Versagen der Rechtsordnung abfindet, bedeutet die Kapitulation des Gesetzgebers vor den Schwierigkeiten des Notstandsproblems“; auch in Broglio, Der strafrechtliche Notstand, 1928, S. 33. 78 So die Worte Welzels in Berufung auf Pufendorf: „Hier hört das Recht auf. Der Notstand ist ein außerrechtlicher Zustand, er bildet das Loch in der Rechtsordnung“, Welzel, Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs, 1958, S. 91. 79 Fichte, Grundlage des Naturrechts (1796), Band III, 1971, S. 253; über Fichte siehe Zaczyk, Das Strafrecht in der Rechtslehre J. G. Fichtes, 1981, S. 79 ff., 94 ff., 96: „Damit wird aber sofort deutlich, welche Macht die ,Naturkausalität‘ hier gewinnt und daß das Reden vom ,Recht‘ in dieser Situation etwas Künstliches ist.“ 80 Baumgarten, Notstand und Notwehr, 1911, S. 21. 81 Das wurde von Grotius vertreten, nicht aber von Pufendorf: „Dieser außerrechtliche Zustand ist nicht etwa der Naturzustand; denn obige Bestimmungen über den Notstand gelten ebenso für den Staat wie für den Naturzustand, der übrigens stets rechtlichen Charakter hat. Vielmehr hört im Notstand alles Recht auf, und die Entscheidung

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viele Konflikte, die erst innerhalb einer strukturierten Gesellschaft entstehen können und die sich durch die Maßstäbe dieser Gesellschaft und durch eine Antizipation seitens der Rechtsordnung in der Regel lösen lassen. Die Entstehung einer existentiellen Not dagegen erfordert lediglich zwei Personen von Fleisch und Blut und nichts weiter. Hier, so könnte man meinen, sei es besser, die Regeln des Naturzustands punktuell gelten zu lassen, das Recht habe hier nichts zu suchen. Das Problem der Begründung des entschuldigenden Notstands sei daher gelöst: Dieser sei schlicht kein rechtliches, zumal kein strafrechtliches Problem. Der § 35 habe sich zugleich als falsch erwiesen. Aber: ist es alles tatsächlich so einfach? Man kann bei diesen Situationen bildlich von einer Art Hobbes’schen Herausforderung sprechen. Es sind zwei Fragen zu stellen: Aus welchen Gründen darf der Staat die Bevorzugung meiner eigenen existentiellen Rechte in Notlagen als rechtlich verboten behandeln?82 Und warum wäre eine so gefasste Gesellschaft für mich, sei es als Nottäter, sei es als Notopfer, vorteilhaft?83 Selbst, wenn man annimmt, dass die Position im zukünftigen Konflikt im „Verhandlungsmoment“ noch unbekannt sei, muss man auch dem potentiellen Opfer gegenüber eine Begründung vorbringen. 2. Die Hobbes’sche Herausforderung84 „Die Überlebensnot macht alle gleich“ Kersting, Verteidigung des Liberalismus, S. 52

Nach Hobbes setzt die Vergesellschaftung rationaler, egoistisch motivierter Personen bekanntlich die Etablierung einer Herrschaftsordnung voraus, auf die einige Rechte dieser Personen zu übertragen sind85. Der Rechtszustand garanist in die Kraft der widerstreitenden Menschen gelegt. Dagegen operiert Grotius mit dem Naturzustand; er begründet die Rechtmäßigkeit des Notdiebstahls damit, daß in der Not die ursprüngliche Gütergemeinschaft wieder auflebe“, Welzel, Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs, 1958, S. 91, Fn. 36; siehe Pawlik, JRE 11 (2003), S. 287 ff., 291: das Problem wird dadurch „in die naturzuständliche Peripherie der Rechtsordnung verbann[t]“. 82 Ähnlich Renzikowski, JRE 11 (2003), S. 269 ff., S. 278: „Kann das Recht tatsächlich nichts zur Lösung des Notstandskonflikts beitragen? Welche Antwort aber sollte das Recht auf diese Ausnahmesituation bereithalten, wenn es offensichtlich die friedliche Koexistenz der Betroffenen nicht garantieren kann?“ 83 Ausf. über diese Frage Coninx, Solidaritätspflicht, 2012, S. 12 ff.; auch T. Zimmermann, Rettungstötungen, 2009, S. 227 ff. und sein neo-kontraktualistisches Modell. 84 M. w. N. siehe Dix, Lebensgefährdung, 1994, S. 3 ff.; auch Zabel, Die Ordnung, 2017, S. 217 ff. 85 Hobbes, Leviathan, 11. Aufl., 2011, Chap. 14, S. 93: „For it is a voluntary act: and of the voluntary acts of every man, the object is some Good to himself“; siehe ausf. Kersting, Thomas Hobbes, 2002, S. 103 ff., S. 106 ff.; über den psychologischen Egoismus bei Hobbes siehe auch Gert, Hobbes, 2010, S. 30 ff.; Hoenigswald, Hobbes und die Staatsphilosophie, 1924, S. 159 ff.; über den Menschenbegriff bei Hobbes siehe Dix,

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tiere eine friedliche, rechtlich geordnete Existenz aller Menschen, denen sonst ein Krieg aller gegen alle drohe. Einer der Gründe des Kriegszustands sei eben die „strategische Kompromißlosigkeit der zweckrational ihr Selbsterhaltungsinteresse verfolgenden Menschen“ 86. Das Versprechen des Staates laute: Innerhalb der Rechtlichkeit erhöht sich der Schutz der Rechte aller, so dass die Bürger Langzeitstrategien entwickeln können87. Es sei auch so, dass der Rechtszustand für die klugheitsorientierte Person mindestens einen Anreiz schafft, sich kooperativ und rechtskonform zu verhalten, nämlich die Sanktionsvermeidung88. Die Erhöhung des Rechtsschutzes erfolgt selbstverständlich nicht ohne Gegenleistung der Rechtspersonen. Sie übertragen auch ihr „Recht auf Selbstregulierung“, mit anderen Worten: Sie verzichten grundsätzlich auf Widerstand gegenüber der Rechtsordnung89. Nicht alle Rechte der Person sind jedoch nach Hobbes übertragbar: „And therefore there be some Rights, which no man can be understood by any words, or other signes, to have abandoned or transferred“ 90. Es sei vor allem das Leben zu erwähnen, das von der Person selbst geschützt werden darf, Lebensgefährdung, 1994, S. 4 ff.; in der strafrechtlichen Literatur siehe Bernsmann, „Entschuldigung“, 1989, S. 269 ff.; Silva-Sánchez, in: FS-Hruschka, 2005, S. 681 ff., S. 685 ff. 86 Kersting, Thomas Hobbes, 2002, S. 114; Hobbes, Man and Citizen, 1991, S. 115: „But the frequent reason why men desire to hurt each other, ariseth hence, that many men at the same time have an appetite to the same thing“, sowie S. 117: „But it was the least benefit for men thus have a common right to all things. For the effects of this right are the same, almost, as if there had been no right at all“; Gert, Hobbes, S. 44, über die Zentralität der Selbsterhaltungsidee bei der politischen Theorie Hobbes; auch Baum, in: Hüning (Hrsg.), Der lange Schatten des Leviathan, 2005, S. 143 ff.; siehe Bernsmann, „Entschuldigung“, 1989, S. 2. 87 Kersting, Verteidigung des Liberalismus, 2. Aufl., 2010, S. 52 f. 88 Kersting, Thomas Hobbes, 2002, S. 125: „Gesetzestreue liegt folglich auch im kurzfristigen Selbstinteresse“; auch Kersting, Verteidigung des Liberalismus, 2. Aufl., 2010, S. 39, der die Lektion von Thomas Hobbes folgendermaßen zusammenfasst: „Der Naturzustand muss verlassen werden, die gesellschaftliche Zusammenarbeit kann keiner spontanen Ordnung anvertraut werden“; siehe auch Hüning, in: Hüning (Hrsg.), Der lange Schatten des Leviathan, 2005, S. 235 ff. 89 Kersting, Thomas Hobbes, 2002, S. 153; auch in Kersting, Verteidigung des Liberalismus, 2. Aufl., 2010, S. 51: „Hobbes ist auch der Philosoph, der den Vorrang der Kooperation gelehrt hat“; Gert, Hobbes, 2010, S. 121: „This means that all citizens must have transferred to the sovereign their right to decide how to act for their longterm preservation.“ 90 Hobbes, Leviathan, 11. Aufl., 2011, Chap. 14, S. 93: „As first a man cannot lay down the right of resisting them, that assault him by force, to take away his life; because he cannot be understood to ayme thereby, at any Good to himselfe. The same may be sayd of Wounds, and Chayns, and Imprisonment; both because there is no benefit consenquent to such patience; as there is to patience of suffering another to be wounded, or imprisoned“; Hobbes, Man and Citizen, 1991, S. 123: „that the right of all men to all things ought not to be retained; but that some certain rights ought to be transferred or relinquished“ (Hervorhebung A. L.); siehe auch Jakobs, Norm, 3. Aufl., 2008, S. 72: Hobbes behalte „dem individuellen Bürger sein Leben“ vor; siehe auch Haas, Notwehr, 1978, S. 77: diese sind die „zurückbehaltenen Rechte“.

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„no less than wherey a stone moves downward“ 91. Auch der Leib gehöre hierzu92. Das Selbsterhaltungsinteresse sei unaufgebbar und damit korrespondiere die „Aufgabe des Staates, diesem Selbsterhaltungsinteresse effektiv zu dienen und eine Rückkehr des Naturzustandes zu verhindern“ 93. Diese Idee der Selbsterhaltung sollt man allerdings nicht nur in einem psychologischen Sinne verstehen94. Die Selbsterhaltung bezieht sich nämlich auch bei Hobbes auf einige Rechte besonderer Qualität: „No man can transferre or lay down his Right to save himself from Death, Wounds, and Imprisonment, (the avoyding whereof is the onely End of laying down any Right,) and therefore the promise of not resisting force, in no Covenant transferreth any right; nor is obliging“ 95. Hobbes selbst spricht in diesem Kontext von einer excuse, „by which the Crime, is proved to be none at all“. Dies bejaht er bei der existentiellen Not: „If a man by the terrour of present death, be compelled to doe a fact against the Law, he is totally Excused; because no Law can oblige a man to abandon his own preservation. 91

Hobbes, Man and Citizen, 1991, S. 115. Hobbes, Man and Citizen, 1991, S. 124: „For every man by natural necessity endeavours to defend his body.“ 93 Kersting, Thomas Hobbes, 2002, S. 177: „Es bildet eine grundsätzliche Grenze der politischen Obligation der Bürger“; Gert, Hobbes, 2010, S. 124: „The limit of the obligations of these people, the citizens, is determined by what rights they give up to the sovereign. Because there limits to what rights can be given up, there corresponding limits to the obligations that citizens have“; siehe auch Fritze, Die Tötung Unschuldiger, 2004, S. 16; Hobbes, Leviathan, 11. Aufl., 2011, Chap. 14, S. 91: „The Right of Nature, which Writers commonly call Jus Naturale, is the Liberty each man hath, to use his own power, as he will himselfe, for the preservation of his own Nature; that is to say, of his own Life“; siehe Hüning, in: Hüning (Hrsg.), Der lange Schatten des Leviathan, 2005, S. 235 ff., 267: „Das Interesse der Selbsterhaltung ist gewissermaßen die bleibende Geschäftsgrundlage des Staatsvertrages, aber zugleich die unüberwindliche Schranke möglicher Rechtsverbindlichkeit“; siehe auch Engländer, Nothilfe, 2008, S. 43 ff. 94 Hobbes argumentiert manchmal in einer psychologisierenden Art und Weise, wenn er zum Beispiel den Selbsterhaltungstrieb auf einen bestimmten Grad von Angst („fear“) basiert: Hobbes, Man and Citizen, 1991, S. 130. 95 Hobbes, Leviathan, 11. Aufl., 2011, Chap. 14, S. 98, auch S. 151: „If the Souveraign command a man (though justly condemned,) to kill, wound, or maybe himselfe; or not to resist those that assault him; or to abstain from the use of food, ayre, medicine, or any other thing, without which he cannot live; yet hath that man the Liberty to disobey“; siehe auch Gert, Hobbes, 2010, S. 121: „Natural rights have no corresponding duties, e. g., the right self-defense does not impose a duty on anyone else not to kill you. However, an acquired right, e. g., a right that the sovereign has acquired from the citizens by thei free-gift, does involve a corresponding duty. This acquired right allows the sovereign to put forward his view about how citizens should behave by means of laws“; Hobbes, Man and Citizen, 1991, S. 115: „Therefore the first foundation of natural right is this, that every man as much as in him leid endeavor to protect his life and members“; so auch Hüning, in: Hüning (Hrsg.), Der lange Schatten des Leviathan, 2005, S. 235 ff., 268: „Die Pflicht staatsbürgerlichen Gehorsams dagegen ist auf diejenigen Fälle beschränkt, in denen der Bürger die Befehle des Souveräns ohne Gefährdung von Leib und Leben befolgen kann“; siehe auch Dix, Lebensgefährdung, 1994, S. 11 ff., 44 ff. 92

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And supposing such a Law were obligatory; yet a man would reason thus, if I doe it not, I die presently; if I doe it, I die afterwards; therefore by doing it, there is time of life gained: Nature therefore compells him to the fact.“ 96 Hier darf man dieses Wort – excuse – aber nicht technisch verstehen, denn die excuse entzieht der Tat ihren verbrecherischen Charakter („takes away from it the nature of a Crime“). Bei den excuses sei auch „the obligation of the Law“ suspendiert97. Das staatliche Versprechen, diese (angeborenen) Rechte durch die Vergesellschaftung zu schützen, werde bei diesen existentiellen Notsituationen nicht gehalten: „The Obligation of Subjects to the Souveraign, is understood to last as long, and no longer, than the power lasteth, by which he is able to protect them.“ 98 Die Lebens-, Leibes- oder Freiheitsgefahr erweise sich eben (in der Sprache des § 35 I 1) als „nicht anders abwendbar“, vor allem nicht durch staatliche Hilfe: „For the right men have by Nature to protect themselves, when none else can protect them, can by no Covenant be relinquished.“ 99 Wenn diese Rechtsgüter in Gefahr gerieten, dann könne man einfach nicht anders handeln. Denn „no man is tied to impossibilities“ 100. Es scheint auf den ersten Blick so zu sein, dass im existentiellen Notstand dem Staat schon „die Strafkompetenz“ fehlt101. Mit anderen Worten: Der Staat darf in diesen Fällen nicht „unbedingten

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Hobbes, Leviathan, 11. Aufl., 2011, Chap. 27, S. 208. So Hobbes, Leviathan, 11. Aufl., 2011, Chap. 27, S. 207 f.; darüber siehe Hüning, in: Hüning (Hrsg.), Der lange Schatten des Leviathan, 2005, S. 235 ff., 249 f. 98 Hobbes, Leviathan, 11. Aufl., 2011, Chap. 21, S. 153; Hobbes, Man and Citizen, 1991, S. 130: „No man is obliged by any contracts whatsoever not to resist him who shall offer to kill, wound, or any other way hurt his body“; siehe Gert, Hobbes, 2010, S. 110 ff., S. 124: „But it would be absurd to give up the right to defend oneself against an immediate threat to one’s life in order to gain a better chance at long-term preservation“; Dix, Lebensgefährdung, 1994, S. 78 f.: Todesfurcht als Angelpunkt der Staatsphilosophie Hobbes. 99 Hobbes, Leviathan, 11. Aufl., 2011, Chap. 21, S. 153. 100 Hobbes, Man and Citizen, 1991, S. 130 f.: „Since therefore no man is tied to impossibilities, they who are threatened either with death (which is the greatest evil to nature), or wounds, or some other bodily hurts, and are not stout enough to bear them, are not obliged to endure them. [. . .] For a certain death is a greater evil than fighting. But of two evils it is impossible not to choose the least.“ 101 Bernsmann, „Entschuldigung“, 1989, S. 382; T. Zimmermann, Rettungstötungen, 2009, S. 228: „Kompetenzüberschreitung der Strafgewalt“; siehe auch Müssig-MK, § 35, 3. Aufl., Rn. 3: „der Täter wird vom Staat, der Instanz, die das Rechtsverhältnis letztlich garantiert, entlastet, weil ihm gegenüber die Bedingungen des Rechtsverhältnisses nicht garantiert waren“; Kersting, Thomas Hobbes, 2002, S. 178: „Das rationale Motiv für die Staatserrichtung war, die unkoordiniert-konfliktträchtige Durchsetzung des Selbsterhaltungsrechts durch eine Sicherung des Selbsterhaltungsrechts im Rahmen einer institutionellen Friedensordnung zu ersetzen. Es liegt auf der Hand, daß weder zum Zweck der Instituierung dieser Ordnung das Selbsterhaltungsrecht aufgegeben werden kann noch eine staatliche Ordnung rechtmäßig Gehorsam verlangen darf, wenn staatliches Handeln das Leben der Menschen effektiv gefährdet“; Hobbes, Leviathan, 11. Aufl., 2011, Chap. 14, S. 93: „And lastly the motive, and end for which this renounc97

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Normgehorsam“ fordern, andernfalls würde er sich selbst widersprechen102. Der Legitimitätstitel des Staates scheint hier zweifelhaft zu sein. Denn: „The end of Obedience is Protection“ 103. Mit den Worten Jakobs’ ausgedrückt, erfolgt hier eine Art „Entseelung“ des Staates: „Wenn er nicht mehr schützen kann, hat er abzutreten“ 104 und das Synallagma von Gehorsam und Schutz wird nach Hobbes „nicht saldierend, sondern individuell und aktuell“ verstanden105. Damit ist der Weg für die oben genannte These der Unverbietbarkeit vorgezeichnet. Wenn der Staat diese angeborenen Rechte nicht schützen könne, dann dürfe er auch die Handlung des in existentielle Not geratenen Täters nicht verbieten – „Selbsterhaltung ist rechtmäßig“ 106 –, sonst sei eine solche Rechtsordnung für die Personen nachteilhaft. Diese These wurde im Großen und Ganzen spätestens seit Binding vertreten und wird dies, in vielen dogmatischen Versionen, von einigen Strafrechtslehrern noch immer. Darüber wird noch im Detail zu sprechen sein (s. u. C., III, 4.). Die Plausibilität der Unverbietbarkeitsthese entlarvt sich aber genauer betrachtet als trügerisch – besser: einseitig. Sie übersieht die Tatsache, dass der Konflikt zwischen zwei unschuldigen Personen besteht und man ex ante nicht weiß, wer Täter und wer Opfer sein wird107. Auch die Opferposition muss berücksichtigt ing and transferring of Right is introduced, is nothing else but the security of a mans person, in his life, and in the means of so preserving life, as not to be weary of it.“ 102 So Hörnle, Kultur, Gutachten C zum 70. Deutschen Juristentag, 2014, S. 35: hier liegt eine Wertung zugrunde, „dass der Staat eine Aufopferung grundlegender Lebensinteressen nicht erwarten darf“. 103 Hobbes, Leviathan, 11. Aufl., 2011, Chap. 21, S. 153. 104 Jakobs, Norm, 3. Aufl., 2008, S. 73, der jedoch sagt: „Aber die Bändigung bringt hohe Kosten, indem sie jedem einzelnen in jeder Sekunde, in der es um sein Leben geht, das jus naturale der völligen Freiheit zuspricht und den auf lange Sicht für die Gruppe – und auf diesem Weg auch für einzelne – zu erzielenden Vorteil nicht mit in den Saldo nimmt“; so auch Hüning, in: Hüning (Hrsg.), Der lange Schatten des Leviathan, 2005, S. 235 ff., 268: „Die Pflicht staatsbürgerlichen Gehorsams dagegen ist auf diejenigen Fälle beschränkt, in denen der Bürger die Befehle des Souveräns ohne Gefährdung von Leib und Leben befolgen kann.“ 105 So Jakobs, Norm, 3. Aufl., 2008, S. 72; siehe auch Renzikowski, JRE 11 (2003), S. 269 ff., 276 ff., 277: „Da der Täter im Naturzustand wenigstens insofern besser stünde, als er auf seine überlegenen Kräften hoffen könnte, gibt es für ihn keinen vernünftigen Grund, an der bürgerlichen Gesellschaft festzuhalten.“ 106 So ein Interpret von Hobbes: Baum, in: Hüning (Hrsg.), Der lange Schatten des Leviathan, 2005, S. 143 ff., 145 ff.; Hüning sieht hier eine Entschuldigungsgrund, Hüning, in: Hüning (Hrsg.), Der lange Schatten des Leviathan, 2005, S. 235 ff., 249. 107 So die treffende Bemerkung von Renzikowski, JRE 11 (2003), S. 269 ff., 280, der Unverbietbarkeitsthese in der Traditon von Fichte und Hobbes „ist somit vorzuhalten, daß sie den Blick einseitig nur auf das Verhältnis Staat–Notstandstäter richten und dabei die Rechtsbeziehung zwischen den Bürgern aus dem Auge verlieren“; siehe auch Pawlik, JRE 11 (2003), S. 287 ff., 290: dieser „einseitig bindende Rechtzustand“ ist nicht zu legitimieren: „sie würde dem normativ Ungebundenen eine unter Gleichheitsgesichtspunkten inakzeptablen Statusvorteil gegenüber dem Gebundenen verschaffen“.

II. Vorfrage: Kapitulation der Rechtsordnung?

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werden: Man darf nicht behaupten, werde man Opfer einer solchen Handlung, habe man schlicht Pech gehabt. Die komplette Unverbietbarkeit der Handlung im entschuldigenden Notstand ist deswegen schon als Ausgangskonzept zu radikal: „Diese Deutung durchschlägt [. . .] den Knoten der Zurechnungsproblematik, statt ihn aufzulösen.“ 108 Denn trotz der Annahme der Unverbietbarkeit dieser Nothandlung, die der Sicht des Täters entspringt, bleibt noch die zentrale Frage zu beantworten, ob dem Opfer eine rechtliche Duldungspflicht abverlangt werden darf oder nicht. Auch die Frage nach der Zuschreibung einer Verantwortlichkeit für die Entstehung der Notlage, die eventuell eine Bestrafung des Täters, beispielsweise wegen Selbstverursachung der Gefahrenlage, doch zu rechtfertigen vermag, ist noch anhand rechtlicher Kriterien zu beantworten109. Eine solche normative Zuschreibung verändert aber die rechtliche Beurteilung der Notlage in drastischer Weise. Die Rede vom rechtsfreien Raum oder von einer Unverbietbarkeit ist also als Mogelpackung zu entlarven. Eine Handlung darf nur solange „rechtsfrei“ sein, „als [sie] nicht in die Rechtssphäre anderer eingreift“ 110. Hier liegt der Fall aber anders, es geht um die schwere Verletzung existentieller Rechte Unschuldiger. Die Unverbietbarkeitsthese macht es sich zu einfach. Sie bedeutet nichts anderes als die Kapitulation der Rechtsordnung bei ihrer Mission, Rechtssphären der Bürger zu ordnen und zu verteilen, gerade bei einer existentiellen Krise seiner Bürger. Die Verrechtlichung ist aber ein point of no return. Eine legitime Rechtsordnung, die die äußeren Rechtsphären der Bürger verteilen und koordinieren soll, ist diesen gegenüber eine Feststellung schuldig, ob die Handlung im existentiellen Notstand, die in der Regel die Vernichtung oder irreparable Verschlechterung der Existenz eines Mitbürgers verursacht, rechtmäßig

Pawlik sagt zu Recht auch, dass damit eine ungerechte „punktualisierende Wahrnehmung des Notstandskonflikts“ entstehe, die die Daten der Vorgeschichte der Personen nicht zur Kenntnis nehme, vor allem nicht die Verantwortlichkeit für die Entstehung der Notlage und die Rolle als Inhaber eines besonderen Amtes. 108 Pawlik, Das Unrecht, 2012, S. 346; siehe die sehr ähnliche Formulierung von Janka, Der strafrechtliche Notstand, 1878, S. 88, der über Fichte sagt: „er durchhaut den Knoten“; so auch Silva-Sánchez, in: FS-Hruschka, 2005, S. 681 ff., S. 691: die Suspendierung der Gehorsamspflicht sei „übertrieben“. 109 Wilenmann, Freiheitsdistribution, 2014, S. 419, über die Hobbes’sche Lösung bei existentieller Gefahr „wo das Leben auf dem Spiel steht, gäbe es kein Recht und Unrecht“: Es sei so, dass die Lebensgefahr die Vorgeschichte des Ereignisses abgeschnitten habe und dass sie die vorherigen rechtlichen Bindungen „kompensiert“. 110 Henkel, Der Notstand, 1931, S. 36; früher schon R. Merkel, Kollision, 1895, S. 34: Einen rechtsleeren Raum könnte „nur für gewisse Handlungen des Individuums, welche lediglich gegen es selbst gerichtet sind“ geben; ebenso Hörnle, JuS 2009, S. 873 ff., 875 f., die zu Recht sagt: „Entscheidend für die Bewertung des Unrechts ist aber, ob derjenige, der Opfer einer Straftat wird, einen solchen Übergriff ausnahmsweise zu dulden hat“; siehe auch Engländer, Nothilfe, 2008, S. 44: Hier sei die Schädigung anderer mitzuberücksichtigen; so ferner Renzikowski, JRE 11 (2003), S. 269 ff., 279: „Dem Selbsterhaltungsrecht des Notstandstäters steht nämlich – jenseits von § 34 StGB – das Selbsterhaltungsrecht des Opfers gegenüber.“

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B. Die grundlegenden Probleme

oder rechtswidrig ist111. In keinem Fall darf diese Feststellung die in den Konflikt geratenen Bürger ungleich behandeln oder entpersonalisieren112. Es ist zu Recht allgemein anerkannt, selbst unter den Vertretern der Unverbietbarkeitsthese, dass dem Opfer keine Duldungspflicht auferlegt werden darf113. Andere Lösungen wären „als wider die Vernunft“ zu bezeichnen114. Die absichtliche Vernichtung eines gänzlich unschuldigen Bürgers darf der Staat nicht als erlaubt einstufen. Hier muss die Rechtsordnung Stellung beziehen115. Diese Stellungnahme kann aber nur im Sinne der Rechtswidrigkeit dieser Handlung erfolgen. Wenn die Rechtsordnung kapituliert und die Nothandlung als erlaubt, „exempt“ oder rechtsfrei betrachtet, bleibt das schwache Opfer komplett ungeschützt116. Das Aufrechterhalten der Verhaltensnorm bei gleichzeitigem Verzicht auf die Sanktionsnorm stellt „einen vernünftigen Kompromiss“ 117 dar, der letztendlich die Aufgabe des Strafrechts als Garant der äußeren Freiheit durch die Ankündigung von Strafen realisiere. Sonst erfolge eben die „Prokla-

111 So schon Janka, Der strafrechtliche Notstand, 1878, S. 90: „Das Recht hat die äusseren Verhältnisse des Lebens, das Nebeneinandersein, zu regeln. Dasselbe kann sich seiner Aufgabe an keine Stelle entziehen“; siehe auch Altenhain, Das Anschlußdelikt, 2002, S. 274 ff. 112 Oetker, FG-Frank I, S. 359 ff., 367: „Ein so entstehender Kampf muß vom Rechte hingenommen werden“; siehe auch die Formulierung von Greco, Lebendiges, 2009, S. 130: „Handelt der Staat nach uneingeschränkten konsequentialistischen Erwägungen, dann unterminiert er so die Legitimität seines Handelns gegenüber diesem benachteiligten Menschen. Denn dieser ist von denjenigen, in deren Namen die Macht legitim ausgeübt wird, gerade exkludiert, so dass ihm gegenüber der Staat tatsächlich nicht mehr darstellt als eine große Räuberbande.“ 113 So Oetker, FG-Frank I, S. 359 ff., 367, der die Nothandlung als unverboten betrachtet, aber danach anerkennt, das dem Notopfer noch immer ein Notwehrrecht gegen den Täter zusteht: „Der vom Notstandsakt Betroffene aber, dem eine gleiche Not droht, wie die, von der der andere sich befreien will, muß dagegen das Recht der Verteidigung haben“; Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, 1965, S. 25, der treffend sagt, „es wird offenbar ein Bedürfnis dafür empfunden, daß die Rechtsordnung dem Opfer trotz dem Unverbotensein der Notstandshandlung Schutz gewährt“. 114 Oetker, FG-Frank I, S. 359 ff., 367: „Es wäre ja wider die Vernunft, dem Notleidenden zu gestatten, die eigene Not auf einen andern abzuwerfen, der diese Schicksalskorrektur zu dulden hätte.“ 115 So schon Stammler, Darstellung der strafrechtlichen Bedeutung des Nothstandes, Erlangen, 1878, S. 41; auch Henkel, Der Notstand, 1931, S. 36; Maurach, Kritik der Notstandslehre, 1935, S. 31: „Eine Stellungnahme der Rechtsordnung ist hier erforderlich“; auch Renzikowski, JRE 11 (2003), S. 269 ff., 280. 116 Henkel, Der Notstand, 1931, S. 45: „Und ist es nicht allgemein Aufgabe der Rechtsordnung gerade den Schwächeren gegen Übergriffe der brutalen Gewalt zu schützen?“; so auch Roxin, in: FS-Yamanaka 2017, S. 467 ff., 481, der darauf hinweist, „die Verpflichtung des Staates zum Lebensschutz besteh[e] natürlich gegenüber dem Täter und dem Opfer gleichermaßen“; siehe auch Silva-Sánchez, in: FS-Hruschka, 2005, S. 681 ff., 689, der sagt, dieser „unbeteiligte Dritter [sei] jedenfalls viel unzuständiger (sit venia verbo) als der Täter!“. 117 Roxin, in: FS-Yamanaka 2017, S. 467 ff., 482.

II. Vorfrage: Kapitulation der Rechtsordnung?

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mierung des Faustrechts“ ein „das Recht beschämendes Schauspiel“ 118. So hat dann erfreulicherweise auch der deutsche Gesetzgeber entschieden, der diesen Fall nicht „in einen rechtsfreien Raum der Unverbotenheit verwiesen“ hat119. Die Handlung im existentiellen Notstand kennt nach der heutigen Rechtsordnung richtigerweise viele rechtliche Grenzen. Sie weisen nach, dass die Rechtsordnung trotz der existentiellen Notlage im Allgemeinen fortbesteht. Die Behauptung, diese Handlungen seien „unverbietbar“, soll deswegen heutzutage cum grano salis oder als Metapher für eine Lösung jenseits der Kategorien Unrecht und Schuld verstanden werden, was auch die Vertreter der These manchmal zugeben120. Der entschuldigende Notstand ist nämlich gerade das wichtige Rechtsinstitut, das es ermöglicht, „Naturzustandsepisoden in den Rechtszustand zu integrieren“ 121. Ferner ist zu sagen, dass die These der Unverbietbarkeit auf den Lebensnotstand fokussiert ist und beim Leibes- und Freiheitsnotstand nicht weiterhilft122. Auf den Punkt gebracht: Die Unverbietbarkeitsthese ist auf den Starken, den Gewinner des Kampfes fixiert und gewährt diesem seine Existenz, so dass er nach einem kurzen Abstecher in den Naturzustand in den Rechtszustand zurückkehren darf. Eine unschuldige Person aber – der Schwache, der Verlierer – hat durch den Rückzug der Rechtsordnung seine Existenzgrundlage verloren oder

118 Goldschmidt, Der Notstand, ein Schuldproblem, 1913, S. 6; so schon R. Merkel, Kollision, 1895, S. 16, der über eine hierzu neutrale Rechtsordnung sagte: „Wollte sie sich gegenüber solchen unvermeidbaren Zusammenstößen des Lebens neutral verhalten, so würde dies den Verzicht auf Lösung eines Teils ihrer Aufgabe und insoweit die Proklamation des Rechts des Stärkeren bedeuten.“ 119 Roxin, in: FS-Yamanaka 2017, S. 467 ff., 482. 120 Richtig Köhler, Strafrecht AT, 1997, S. 330 f. 121 Lübbe, in: Weyma Lübbe (Hrsg.), Tödliche Entscheidung, 2004, S. 21: Pawlik, Das Unrecht, 2012, S. 346 f.: „Wer das Problem der innerrechtlichen Legitimation des zurechnungsausschließenden Notstandes dadurch abzuschütteln sucht, daß er das Konfliktgeschehen vor die Tore des Rechts verlagert, dem ist versagt, noch irgendwelche rechtlichen Kategorien darauf anzuwenden“; so auch Renzikowski, JRE 11 (2003), S. 269 ff., 271: Das deutsche Recht gehe davon aus, „daß Notstandskollisionen Rechtsprobleme aufwerfen, auf die die Rechtsordnung Antworten geben muß und auch kann“. 122 Roxin, in: FS-Yamanaka 2017, S. 467 ff., 483 f.; so auch Rogall-SK § 35, 9. Aufl., 2017, Rn. 9: „In Reinkultur lässt sich eine Theorie der ,Unverbietbarkeit der Selbsterhaltung‘ letztlich nur – wenn überhaupt – in Bezug auf das Leben durchhalten“; so auch Schünemann, in: FS-Schmitt 1992, S. 117 ff., 136: Die Unverbietbarkeit der Selbsterhaltung passe „schon für die bloße Bedrohung von Körper oder Freiheit schlecht“. Auch nach Hobbes sei die Idee eines Rechts auf die Tötung Unschuldiger – das heißt: außer in einer Notwehrlage, worauf sich die Beispiele Hobbes’ am meisten beziehen – nicht notwendigerweise und unbedingt zu konstruieren. Man solle das Recht „to desobey“ hier nicht als Recht auf die Rechtssphäre anderer Bürger verstehen. Denn „in a civil state, where the right of life and death and of all corporal punishment is with the supreme, that same right of killing cannot be granted to any private person“, Hobbes, Man and Citizen, 1991, S. 131; siehe auch Renzikowski, JRE 11 (2003), S. 269 ff., 280, der sagt, dass es auch bei Hobbes „kein Notrecht im eigentlichen Sinn geben“ könne.

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B. Die grundlegenden Probleme

wurde in seinen existentiellen Rechten erheblich beeinträchtigt. All das unter mitschuldigem Schweigen des „impotenten“ Rechts123. Der Schutz des Schwachen aber ist eine der fundamentalen Sorgen eines liberalen Staats: „Denn sonst könnte man immer mit dem Sophisten Kallikles fragen, welche Vorteile der Starke, der gerade keinen Angriff zu fürchten braucht, aus dem Vertrag ziehen soll, damit er ihn eingeht.“ 124 Die These der Unverbietbatkeit der Nothandlung scheint mir inakzeptabel zu sein, eine echte „schreiende Ungerechtigkeit“ 125 und wird in dieser Allgemeinheit auch von niemandem mehr ernsthaft vertreten126, so dass sie keinesfalls als Ausgangspunkt unserer Bestimmung des Kerns des entschuldigenden Notstands betrachtet werden darf. Die Kritik an einer grundsätzlichen Unverbietbarkeit der Bevorzugung eigener Interessen in existentieller Not führt also zu dem ersten unumstrittenen Fixpunkt der Diskussion. Auf der Ebene des Verbots oder der rechtlichen Verhaltensnorm – selbst wenn man wie hier mit Renzikowski und Haas nur die privatrechtliche Norm, die das Verhältnis Bürger–Bürger reguliert, im Visier hat127 – steht schon fest, dass diese Handlung grundsätzlich als rechtlich verboten einzustufen ist (oder als „unverboten“, aber ohne entsprechende Duldungspflicht seitens des Opfers, was letztendlich dasselbe ist)128. Weder der Täter noch die Gesellschaft haben ein Recht an den existentiellen Rechten des Opfers. Schon hier wird deutlich, dass die im strafrechtlichen Diskurs vergessene Opferposition von einer Theorie des entschuldigenden Notstands zu berücksichtigen ist: Das Proprium des entschuldigenden Notstands liegt nicht nur auf der Erhaltungsseite – im rechtfertigenden Notstand darf man sein Leben auf Kosten des Vermögens anderer retten –, 123 So die Ausdrucksweise von Janka, Der strafrechtliche Notstand, 1878, S. 90: „Es ist ein impotentes Recht, welches, gleichviel unter welchen Voraussetzungen und an welchem Orte, die Entscheidungen der physischen Kraft anheimgibt, wo es selbst als herrschend einzutreten hat.“ 124 Greco, in: FS-Amelung 2009, S. 3 ff., 13, der die Sorge um den Schwachen als „Leitmotiv liberalen Denkens“ bezeichnet. Auch „die Betrachtung der Fremdbeherrschung als ein Übel“, die zu minimieren ist, zählt „zu den ersten Staatsaufgaben“. 125 Broglio, Der strafrechtliche Notstand, 1928, S. 32: „denn es wäre eine schreiende Ungerechtigkeit, dem Ungefährdeten eine Duldungspflicht, d. h. hier Selbstaufopferungspflicht zu Gunsten des gefährdeten aufzuerlegen“. 126 Eine Ausnahme bildete zuletzt Stammler, Darstellung, 1878, S. 78 f., der alle Notstände als Rechtfertigungsgründe behandelt, mit der Folge, dass den Opfer eine Duldungspflicht aufzuerlegen ist: „Wir sehen die Notstandshandlung nicht als rechtswidrig an, und können daher Nothwehr, also Vertheidigung gegen ,einen rechtswidrigen Angriff‘ nicht zulassen.“ 127 Renzikowski, JRE 11 (2003), S. 269 ff.; so die beeindruckende Konstruktion von Haas, Kausalität und Rechtsverletzung, 2002, S. 76 ff. 128 So ist der Satz von Maurach, Kritik der Notstandslehre, 1935, S. 101 zu verstehen: „Die Unverbotenheit der Notstandshandlung begründet ein Recht zu ihrer Vornahme nicht. Damit entfällt aber auch eine korrespondierende Duldungspflicht.“ Durch die Beibehaltung eines so gefassten Normbegriffs sind zwei verschiedene Stufen vermengt worden.

II. Vorfrage: Kapitulation der Rechtsordnung?

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sondern auch auf der Eingriffsseite – eine Unschuldiger verliert in der Regel seine existentiellen Grundlagen. Das Gegenteil der Unverbietbarkeitsthese ist als Ausgangspunkt zu betrachten: Die absichtliche Vernichtung oder schwere Verletzung eines Unschuldigen ist grundsätzlich verboten bzw. rechtswidrig, selbst wenn diese egoistische Bevorzugung eigener Rechte von besonderer Qualität durch eine zufällig entstandene existentielle Not bedingt war. Denn die Rechtsordnung darf das unschuldige Opfer nicht entpersonalisieren; das wäre aber eine direkte und unausweichliche Konsequenz der Deklaration solcher Handlungen als unverbietbar, und so würde zwangsläufig das verfassungsrechtliche Gleichbehandlungsprinzip (Art. 3 I GG) verletzt129. Hier entsteht die erste Perplexität: Sollten wir dann die rechtswidrige Handlung in existentieller Not bestrafen? Eine vorsätzliche rechtswidrige Tötung oder schwere Verletzung ist grundsätzlich zu bestrafen. Es ist aber so, dass die Bevorzugung der eigenen Existenzgrundlage in Situationen, die der Täter nicht zu vertreten hat, ein starkes, rechtlich zu würdigendes Argument bildet. Der Täter scheint daher durch die unvorhersehbare Entstehung der existenzbedrohenden Notlage vor einem dramatischen Scheideweg zu stehen: Er muss sich zwischen der Vernichtung oder wesentlichen Beeinträchtigung seines Lebensplans und der Verletzung der staatlichen Norm entscheiden130. Eine andere gangbare Alternative wird ihm vom Staat nicht angeboten. Vorausgesetzt ist hier, dass er die Entstehung der Notlage weder faktisch noch normativ kontrollieren konnte – in diesem Fall scheint eine Bestrafung notwendig zu sein (§ 35 I 2)131. Hier wurde der Täter zum Spielball der Lotterie des Lebens (und des Todes!). Der Täter kann in dieser Notlage seine eigene Bestrafung nicht kontrollieren. Konkreter: Es erscheint ungerecht, den Gewinner des von niemandem angezettelten Kampfes danach für seine rechtswidrige Tat zu bestrafen. Er kann gute und nachvollziehbare Gründe für sich anführen. Die weitere zu beantwortende Frage ist aber: Was hat das Notstandsopfer mit den egoistischen Interessen des Notstandstäters zu tun? Die Hobbes’sche Herausforderung liegt damit in der schwierigen Vereinbarkeit zweier grundlegender Überzeugungen der modernen liberalen Staaten: die Rechtswidrigkeit der Tötung oder schweren Verletzung Unschuldiger und die grundsätz129 Siehe Hörnle, Kultur, Gutachten C zum 70. Deutschen Juristentag, 2014, S. 24: „Die Gleichbehandlungsprinzipien in Art. 3 Abs. 1, 3 GG und das Rechtsstaatsprinzip erfordern es, dass strafrechtliche Werturteile in systemkonsistenter Weise auf die strafrechtlichen Basiskategorien Unrecht und Schuld Bezug nehmen“; siehe auch Engländer, ZIS 2016, S. 608 ff., 615: „Freilich trägt das Notstandsopfer hierfür keine Verantwortung, so dass es nicht imn Betracht kommt, anstelle des Gefährdeten nun ihm die Aufopferung seiner existenziellen Interessen abzuverlangen. Die Notstandstat bleibt deshalb rechtswidrig.“ 130 Wilenmann, Freiheitsdistribution, 2014, S. 419, der sagt, hier trete wegen der „Besonderheit des Preises, der die Normbefolgung impliziert“ Straflosigkeit ein. 131 So denkt auch der deutsche Gesetzgeber, der in § 35 die Klausel über der Hinnahme der Gefahr vorgesehen hat.

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B. Die grundlegenden Probleme

liche Straflosigkeit der Handlung im existentiellen Notstand132. Die Begründung dieser einleuchtenden Straflosigkeit muss aber die Rechte aller involvierten Personen respektieren. Es ist zu fragen, ob sich die Lösung „rechtswidrig aber straflos“ allen Personen gegenüber als begründet erweist. Die verschwommene Grenzlinie zwischen Bestrafung und Straflosigkeit einer Handlung steht nämlich immer unter dem Verdacht der Instrumentalisierung. 3. Die Stufen des Instrumentalisierungsverbots „Der Gesetzgeber stellt den Rechtsunterworfenen die Motive ihres Rechtsgehorsams frei, während er diesen selbst unter Strafandrohung erzwingt.“ Merkel, Zaungäste, S. 174133

Die Diskussion um den Begriff der Rechtswidrigkeit oder des Unrechts stellt bekanntlich einen Höhepunkt der strafrechtlichen Debatte dar134. Der Streit zwischen einer Einheits- und einer Differenzierungstheorie beim Notstand lässt sich auch als Streit über den Rechtswidrigkeitsbegriff darstellen135. Ich will hier nicht die Einzelheiten dieser Debatte vergegenwärtigen136. Es geht vielmehr um die Konstruktion eines Arguments, so dass der Hinweis genügen soll, dass die Ansätze, die einen Unrechtsausschluss oder ein strukturelles Unverbotensein der Handlung in existentieller Not postulieren, prinzipiell als falsch zu betrachten sind, vor allem weil der Unrechtsbegriff richtigerweise aus der Perspektive des

132 Über die moralische und rechtliche Überzeugung, Unschuldige dürften nicht absichtlich getötet werden, siehe Fritze, Die Tötung Unschuldiger, 2004, S. 9 ff.; dazu siehe die Rezension von Pawlik, FAZ 29.09.2004, S. 39. 133 Merkel, in: Institut für Kriminalwissenschaften Frankfurt a. M. (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, 1995, S. 171 ff., 174: „Er muß aber bei Strafe des eigenen Legitimationsverlusts dem (jedem) Einzelnen – neben einem bloßen Kalkül der Sanktionsvermeidung – auch die autonome Anerkennung der Gesetze ermöglichen. Daher dürfen diese den Grundsätzen der Moral zumindest nicht widersprechen, denn sonst wäre die Möglichkeit einer allgemeinen Anerkennung ersichtlich nicht gewährleistet“; siehe auch Mañalich, InDret 7/2013, S. 1 ff., 7 ff. 134 Siehe die klassische Studie von Dohna, Die Rechtswidrigkeit, 1905, S. 15 ff.; über den Begriff der Rechtfertigung siehe Renzikowski, Notstand, 1994, S. 124 ff.; siehe auch Grosse-Wilde, ZIS 2011, S. 83 ff. 135 So der richtige Hinweis von Frister, Die Struktur, 1993, S. 160: „Der Streit zwischen Einheits- und Differenzierungstheorie war dementsprechend in erster Linie ein Streit um die (zweckmäßige) Definition der Rechtswidrigkeit und allenfalls in zweiter Linie ein Streit um die richtige Deutung des strafrechtlichen Notstands“; siehe schon Maurach, Kritik der Notstandslehre, 1935, S. 45: „Dennoch kann eine Untersuchung der dogmatischen Natur des Notstandes nicht auf eine Stellungnahme zum Rechtswidrigkeitsbegriff verzichten.“ Er verteidigte aber in dieser Studie den de lege ferenda „zum Zentralpunkt der Rechtfertigungslehre zu erhebende[n] Begriff der Volksanschauung“ (S. 71). 136 Dazu Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl., § 14, Rn. 1 ff.

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Opfers zu konstruieren ist137. Denn wenn man dem unschuldigen Opfer eine weitreichende Duldungspflicht auferlegt, welche die Vernichtung oder die existentielle und irreversible Beeinträchtigung seines Daseins beinhaltet, heißt es nichts anderes, als das Opfer zu instrumentalisieren. Wenn man trotzdem vertritt, der „entschuldigende“ Notstand sei ein Unrechtsproblem sui generis, das trotz des Unrechtsausschlusses dem Opfer keine Duldung abverlangen dürfe, dann hat man einen unaufrichtigen Unrechtsbegriff konstruiert, der im Revier der Schuld wildert. Es muss zugleich erklärt werden, wieso die Straflosigkeit der Tat in existentieller Not entfällt, wenn dem Täter zuzumuten ist, die Gefahr selbst hinzunehmen. Diese Behauptung ist aber bisher etwas vage geblieben. Das Instrumentalisierungsverbot ist ein klärungsbedürftiger Begriff, der bisher nur intuitiv gehandhabt wurde138. Der Begriff der Instrumentalisierung soll nicht als Etikett benutzt werden, das die weitere Diskussion hemmt, eine Gefahr, vor der Hörnle treffend gewarnt hat139. Es gilt also zu verdeutlichen, was in der hiesigen Untersuchung mit Instrumentalisierung gemeint ist. Der Begriff ist vielschichtig140. Es ist zu allererst an die klassische ObjektFormel von Kant zu erinnern141: „der Mensch kann nie bloß als Mittel zu den Absichten eines anderen gehandhabt und unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt werden, wowider ihn seine angeborne Persönlichkeit schützt“ 142. Hier ist an staatliches positives Tun zu denken, durch das ein Mensch als Sache behandelt wird, und zwar in einer unmittelbaren Art und Weise: die Verhängung 137 So Hörnle, Kriminalstrafe, 2013, S. 52 ff., 54: „Werturteile in Gerichtsurteilen müssen sich mit der Abgrenzung von horizontal angeordneten Freiheitssphären befassen, nicht mit der Missachtung von vertikalen, in einem hierarchischen Über-Unterordnungsverhältnis gründenden Gehorsamspflichten. Dabei sollten sie die Perspektive derjenigen aufnehmen, in deren Freiheitssphäre eingegriffen wurde“; Roxin/Greco, Strafrecht AT I, 5. Aufl., § 3 Rn. 36 ff.; siehe auch Coninx, Solidaritätspflicht, 2012, S. 57 die zutreffend meint, „dass nicht eine akteurzentrierte Perspektive (Sicht des Handelnden), sondern vielmehr eine opferzentrierte Perspektive (Sicht des Duldungspflichtigen) maßgebend sein muss, um Grund und Umfang der Duldungspflicht zu bestimmen“. 138 So auch Greco, Lebendiges, 2009, S. 163, bei dem es nur um die „Leistungsfähigkeit des Instrumentalisierungsverbots für das Recht, insbesondere für das Strafrecht“ geht; über den Instrumentalisierungsbegriff siehe ausf. Schaber, Instrumentalisierung, 2013, S. 16 ff.; auch Birnbacher, in: Brudermüller/Seelmann (Hrsg.), Menschenwürde, 2012, S. 9 ff. 139 Hörnle, Straftheorien, 2011, S. 47; siehe auch Hassemer, EuGRZ 2005, S. 300 ff.; Coninx, Solidaritätspflicht, 2012, S. 232 ff. 140 Greco, Lebendiges, 2009, S. 160 ff.; siehe Neumann, ARSP 84 (1998), S. 153 ff., 159 ff.; Hruschka, JZ 1990, S. 1 ff. 141 Ausf. Greco, Lebendiges, 2009, S. 160 ff.; siehe auch Nozick, Anarchy, 1974, S. 31, über die Objekt-Formel: „Individuals are inviolable“; dazu Naucke, ARSP 56 (1970), S. 539 ff.; Folkers, ARSP 87 (2001), S. 328 ff.; Duttge/Löwe, JRE 2006, S. 351 ff. 142 Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1977, S. 453; dazu Hruschka, ARSP 88 (2002), S. 463 ff.; siehe auch Schaber, in: Brandhorst/Weber-Guskar, Menschenwürde, 2017, S. 45 ff.; in der verfassungsrechtlichen Literatur siehe Dürig, AöR 81 (1956), S. 117 ff.

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B. Die grundlegenden Probleme

von Todesstrafe oder verstümmelnden Strafen, Folter usw.143. In solchen Fällen wird der Gedanke der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen direkt missachtet. Die Person wird dadurch in ihrer menschlichen Existenz betroffen, ein Aspekt der sicherlich als Instrumentalisierung zu bezeichnen ist: „Es muss um einen grundlegenden Aspekt menschlicher Existenz gehen, also um eine Eigenschaft, die alle Menschen qua Menschsein aufweisen sollen, und deren Fehlen als empfindlicher Mangel angesehen wird. Dazu gehören etwa das Leben, der Leib, die prinzipielle Fähigkeit der Fortbewegung, nicht aber das Besitzen von Haaren auf dem Kopf“ 144 – nicht von ungefähr bilden diese Güter den eingeschränkten Rechtsgutskatalog des § 35 (ausf. u. C., IV.). Durch diese staatlichen Maßnahmen werden Personen existentiell betroffen – und hier ist nicht einmal im Sinne einer Verwirkungskonstruktion weiterzufragen, ob sie dafür selbst verantwortlich waren145. Selbst wenn der Bürger andere Bürger absichtlich getötet hat, darf der Staat, der im Namen aller spricht, ihm gegenüber nicht die Todesstrafe verhängen: „Individual have rights, and there are things no person or group may do to them (without violating their rights)“ 146. Das ist „die normative Grundlage des Gerechtigkeitsverständnisses der Moderne“, nämlich die These, „dass Menschen als Menschen unveräußerliche und allgemein verbindliche Rechte besitzen“ 147. Auch das Grundgesetz will, namentlich durch die Unantastbarkeit der Menschenwürde (Art. 1 I GG)148 und der Grundrechte in ihrem Wesensgehalt (Art. 19 II GG), eine „Unterordnung des Einzelnen unter die Gemeinschaft“ kategorisch untersagen149. Hier könnte man von einer Instrumentalisierung erster Stufe sprechen oder vom Kernbereich des Instrumentalisierungsverbots. Zweifellos gibt es noch weitere gravierende staatlichen Maßnahmen, bei denen man diskutieren kann, ob sie als direkte Instrumentalisierung einzustufen sind150. 143

Hierzu Greco, Lebendiges, 2009, S. 160 ff. Greco, Lebendiges, 2009, S. 178; siehe die Definition von Würde bei Schaber, Instrumentalisierung, 2013, S. 14: „Die Würde von Personen, die sich nicht erworben haben und auch nicht verlieren können, ist der Anspruch auf Selbstachtung“; siehe auch Arthur Kaufmann, in: FS-Schüler Springorum 1993, S. 415 ff.; auch Hruschka, in: Haft u. a. (Hrsg.), Bausteine, 2001, S. 95 ff. 145 Greco, Lebendiges, 2009, S. 174 ff. 146 Nozick, Anarchy, 1974, S. ix. 147 So die Formulierung von Kersting, Verteidigung des Liberalismus, 2. Aufl., 2010, S. 94. 148 Siehe Hoerster, JuS 1983, S. 93 ff.; Hofmann, AöR 118 (1993), S. 353 ff.; Schlehofer, GA 1999, S. 357 ff.; Bockenförde, Blätter für deutsche und internationale Politik 10 (2004), S. 1216 ff.; Lagodny, ARSP-Beiheft 101 (2004), S. 73 ff.; Dreier, ARSP-Beiheft 101 (2004), S. 33 ff.; Hörnle, ZRph 2008, S. 41 ff. 149 So Hörnle, JuS 2009, S. 873 ff., 877; Hörnle, ARSP 89 (2003), S. 318 ff., 325; so auch Brandhorst/Weber-Guskar, in: Brandhorst/Weber-Guskar, Menschenwürde, 2017, S. 7: „Menschenwürde ist unverfügbar“; siehe Coninx, Solidaritätspflicht, 2012, S. 1 ff.; über die Diskussion siehe Kühnbach, Solidaritätspflichten, 2007, S. 207 ff., 212 f. 150 Siehe Greco, Lebendiges, 2009, S. 190 ff. 144

II. Vorfrage: Kapitulation der Rechtsordnung?

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Hier interessiert uns aber eine andere Art der Instrumentalisierung, die sicherlich eine schwächere Form bildet. Durch den Erlass von Verboten und die Erteilung von Erlaubnissen sowie durch die Androhung oder Verhängung von Strafen kann der Staat nämlich in die existentiellen Rechte der Personen eingreifen. Allerdings ist es so, dass sich für diese Eingriffe der Person gegenüber oftmals legitime Begründungen konstruieren lassen, so dass diese Maßnahmen für sie letztendlich rechtlich akzeptabel sind: Eine schuldige Person verliert durch die Strafverhängung ihre Fortbewegungsfreiheit, aber dieser Verlust wird durch den Verweis auf ihr eigenes Verhalten gerechtfertigt. Eine Instrumentalisierung ist jedoch zu bejahen, wenn den involvierten Personen gegenüber nur Argumente vorgebracht werden, die auf Vorteilen für die Gemeinschaft oder die Allgemeinheit beruhen: Einige Rechte – vor allem Leib, Leben, und Fortbewegungsfreiheit – stehen nämlich schlicht nicht unter dem Vorbehalt des Gemeinschaftsnutzens. Der Bestrafte und das Opfer als Personen müssen in den Begründungdiskurs eintreten: „Er muss darauf verwiesen werden, dass er nicht in beliebiger Weise herangezogenen und zur Aufopferung für das Gemeinwohl verdammt wird.“ 151 Auch Gründe, die nur eine Person betreffen, sind für andere Personen nicht automatisch maßgeblich: Mit dem Schicksalsschlag eines Täters, der dadurch „Opfer“ seines ihm innewohnenden Selbsterhaltungstriebs wird, habe ich als andere isolierte Person prinzipiell nichts zu tun. Es müssen auch Gründe mir gegenüber aufgezeigt werden, wieso ich ausnahmsweise doch etwas mit der Lage des Täters zu tun habe. Hier könnte man von einer Instrumentalisierung zweiter Stufe sprechen oder von einem Sachverhalt im Umfeld des Instrumentalisierungsverbots. Das Problem, das in dieser Form von Instrumentalisierung besteht, kommt in der strafrechtlichen Diskussion zu kurz. Dieser Punkt ist zu verdeutlichen: Die letztgenannte Art der Instrumentalisierung kann wie gesagt durchaus durch den Erlass von Verbotsnormen erfolgen. Über prima facie illegitime Verbote, die moralisierenden Inhalt aufweisen, die private Verhaltensweisen kriminalisieren, die die „Rechte anderer nicht antasten“ 152 usw., diskutiert man seit langer Zeit unter der Rubrik Rechtsgutstheorie153. Es ist aber so, dass der Staat auch durch Erlaubnisse – durch Rechtfertigungsgründe also und die entsprechende Auferlegung von Duldungspflichten – existentielle Rechte bzw. den „Kern der privaten Lebensgestaltung“ antasten kann: Wenn ein unschuldiger Bürger seinen Tod rechtlich zu dulden hätte, mit dem Argument, nur so könne ein anderer Bürger sein Leben behalten, dann hieße das: Dieser Bürger würde schlicht für fremde Zwecke instrumentalisiert. Es war ein Verdienst von Robles, auf eine in der Literatur verkannte Analogie zwischen den Grenzen der Kriminalisierung und den Grenzen der Auferlegung von Dul151 152 153

Hörnle, Straftheorien, 2011, S. 47. So Hörnle, Grob anstößiges Verhalten, 2005, S. 65 ff. Statt aller siehe Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl., § 2, Rn. 1 ff., Rn. 7 ff.

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B. Die grundlegenden Probleme

dungspflichten aufmerksam gemacht zu haben. Er meint, dass der „beeindruckende begriffliche Apparat“ der Dogmatik der Auferlegung von Duldungspflichten bei den Rechtfertigungsgründen für die Legitimierung von Verboten und zugleich für die Strafe hilfreich sein könnte154. Die Leitprinzipien, „die den Rechtfertigungsgründen zugrunde liegen, [sind] durchaus auf das Problem der Rechtfertigung des Verbots und der Strafe übertragbar“, vor allem das Prinzip der Verantwortlichkeit und das Prinzip der Solidarität155. Eine Instrumentalisierung wäre daher, wie gesehen, dann zu bejahen, wenn man den entschuldigenden Notstand als ein genuines Unrechtsproblem behandeln wollte, mit der Konsequenz, dass das Opfer den Eingriff in seine Rechte dulden müsste: Personen haben nicht zu vermengende isolierte Rechtssphären156, und ein Eingriff darin darf nicht gerechtfertigt werden, indem man sagt, ein anderer habe davon profitiert, eine andere Rechtssphäre sei dadurch intakt geblieben usw.: „Justice denies that the loss of freedom for some is made right by a greater good shared by others. The reasoning which balances the gains and losses of different person as if they were one person is excluded.“ 157 Dieser Gedanke gewinnt an Kraft, wenn die existentiellen Rechte der Person auf dem Spiel stehen158. Diese Rechte darf nur die Person selbst „verlieren“ oder verwirken: Die Lebens-, Leibes- oder Freiheitsgefahr für eine andere Person ist keine Begrün-

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Robles, in: FS-Frisch 2013, S. 115 ff., 118 f. Robles, in: FS-Frisch 2013, S. 115 ff., S. 119; das hat Nozick bemerkt, als er sagt, das Verbot der Instrumentalisierung könne auch das Verbot, jemanden zu verletzten, begründen: „This root idea, namely, that there are diffenret individuals with separate lives and so no one may be sacrified for others, underlies the existence of moral side constraints, but it also, I believe, leads to a libertarian side constraint that prohibits aggression against another“, Nozick, Anarchy, 1974, S. 33 f. 156 Siehe Rawls, A theorie of justice, 1999, S. 24: „Utilitarianism does not take seriously the distinction between persons“; so auch Nozick, Anarchy, 1974, S. 33 ff., 57: „A line (or hyper-plane) circumscribes an area in moral space around an individual“; so auch Neumann, in: Dubber/Hörnle, Criminal Law, 2014, S. 583 ff., 588; siehe auch Merkel, in: Institut für Kriminalwissenschaften Frankfurt a. M. (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, 1995, S. 171 ff., 189 ff.; im Rahmen der „Strafrechtserneuerung“ wurde diese Behauptung pejorativ behandelt: „Die materialistisch-individualistische Rechtsauffassung sieht die Rechtssphäre des Einzelindividuums unantastbar“, Kramer, Die Rechtsnatur, 1937, S. 4. Kramers erste Sorge war nämlich eine Notstandslösung „vom Boden der nationalsozialistischen Weltanschauung“ anzubieten (S. 22 ff.). 157 Rawls, A theorie of justice, 1999, S. 25; siehe auch Kersting, Verteidigung des Liberalismus, 2. Aufl., 2010, S. 60: „Jeder Mensch hat das Recht, über seine Kräfte und Fähigkeiten selbstbestimmt zu verfügen, ein Leben nach seinen Vorstellungen führen zu können und von der Gesellschaft und seinen Mitmenschen als selbstverantwortliches Wesen respektiert zu werden.“ 158 Es ist durchaus möglich, Solidaritätspflichten außerhalb der Grenzen dieser angeborenen bzw. existentiellen Rechte zu statuieren. Diese wäre die zentrale Frage der Rechtfertigung des aggressiven rechtfertigenden Notstands, die hier nicht im Vordergrund steht. 155

II. Vorfrage: Kapitulation der Rechtsordnung?

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dung mir gegenüber, weshalb ich einen existentiellen Verlust rechtlich zu dulden habe159. Damit aber ist der Begründungslast dem Opfer gegenüber noch nicht genügt. Denn auch durch die Statuierung einer Straflosigkeit verliert das Opfer etwas. Zwar bedeutet dies keine Duldungspflicht, das Opfer verliert aber den Schutz der Strafandrohung. Es kann durchaus sein, dass es dafür gute Gründe aus Sicht des Täters gibt. Diese Gründe müssen aber zugleich dem Opfer gegenüber Gültigkeit beanspruchen. Prinzipiell geht die subjektive Lage der einen Person die anderen Personen nichts an. Es ist einerseits zu bemerken, dass die Unterlassung von Strafandrohung und Strafverhängung, vor allem wenn man ihren Zweck richtigerweise als eine „Abschreckung“ anderer versteht160, durchaus die existentiellen Rechte des potentiellen Opfers gefährden kann. Konkreter: Wenn ein Verhalten gegen die Norm verstößt und zugleich Strafe nach sich zieht, dann hat der an diesem Verhalten interessierte Täter mindestens zwei klugheitsbezogene, egoistische Gründe, dieses Verhalten nicht vorzunehmen: Die weitreichenden Selbstschutzmöglichkeiten des Opfers und zugleich aller anderen Bürger, die im Rahmen der Notwehrhilfe handeln dürfen, welche ihm sein eigenes Lebens kosten können, und zweitens die spätere Verhängung der angedrohten Strafe, was in der Regel einen Entzug existentieller Rechte bedeutet, heutzutage der Fortbewegungsfreiheit, aber früher auch von Leib und Leben161. Die maßgebliche Frage ist also die nach den Gründen der Rücknahme der Strafandrohung. Durch die Rücknahme der Strafandrohung kommt dem Opfer der Nothandlung nicht mehr der komplette rechtliche Schutz zu – das heißt: Gewährung des Notwehrrechts plus Strafandrohung; hier entfällt letztere –, was allerdings dann noch nicht das Niveau einer Instrumentalisierung erreicht hat, wenn ihm gegenüber eine Rechtfertigung vorgetragen wird, die nicht aus bloßen Vorteilen für die Allgemeinheit besteht. Eine weitere Frage stellt sich: Wird der Täter instrumentalisiert, wenn die Rechtsordnung ihm mittels Strafandrohung das Unterlassen der Rettung seiner rettbaren existentielle Rechte abverlangt, das heißt: Wenn die Rechtsordnung keinen entschuldigenden Notstand anerkennt? 159 Auch der übliche Topos der Rechtsbewährung bei der Notwehrdogmatik, der schwere Eingriffe untermauern soll, weil dadurch die „Rechtsordnung“ bewahrt werde, ist als eine tendenziell instrumentalisierende Argumentation zu entlarven. 160 Zum Menschenbild der Rechtsordnung, vor allem zum Menschenbild der Theorie der negativen Generalprävention, siehe die klassischen Studien von Radbruch, Der Mensch im Recht, 1957, S. 9 ff., 14 ff. und Engisch, Vom Weltbild des Juristen, 1950, S. 26 ff., 34 f.; siehe jetzt auch Hörnle, in: Heilinger/Nida Rümelin (Hrsg.), Anthropologie und Ethik, 2015, S. 95 ff., 108: „Zum selbstbestimmten Handeln gehören demnach Kompetenzen kognitiver Art sowie die menschliche Fähigkeit, überhaupt Gründe zu verstehen, d. h. den Sollensanspruch moralischer wie rechtlicher Normen zu erfassen und diese im Wege des bewussten Nachdenkens in die eigene Entscheidungsfindung einzubeziehen.“ 161 Man könnte entgegenhalten: Gegen einen Täter, der seine angeborene Rechte verlieren will, ist jede Norm und jede Strafandrohung machtlos. Aus dieser empirischen Behauptung lässt sich aber keine feste normative Argumentation entwickeln.

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B. Die grundlegenden Probleme

Diese Frage stellt sich auch, wenn man nach der Begründung der Ausnahmen der Entschuldigung in den Fällen der zumutbaren Hinnahme der Gefahr (§ 35 I 2) sucht. Diese ist letztendlich die Frage nach dem Inhalt des Schuldprinzips. Dem Schuldprinzip liegt die Idee zugrunde, wonach allen Personen eine autonome, an der eigenen Vorstellung des Guten ausgerichtete Lebensführung gewährt werden muss– und Personen haben nur ein Leben zu führen und keine weitere Chance162. Mit anderen Worten: es gilt hier ein Verbot einer moralisierenden Entmündigung des Bürgers163, weil es „zum Menschsein gehört, Lebenspläne zu verfolgen bzw. Vorstellungen des guten Lebens für sich selbst zu konstruieren und zu versuchen, sie umzusetzen“ 164. Vom Staat ist also eine gewisse moralische Neutralität zu verlangen165. Es ist vor allem hervorzuheben, dass der Umgang mit den eigenen angeborenen Rechten Sache der Person ist, deren Grenzen in den Rechten anderer Personen zu sehen ist. Zu den unabdingbaren Voraussetzungen der Verfolgung eines Lebensplans gehört die Kontrollmöglichkeit, ein Leben ohne Strafe zu planen und durchzuführen (dazu ausf. u. C., IV., 4.). „Die legitime Zuständigkeit staatlichen Eingriffshandelns endet an der Haut der Menschen“, so die prägnante und vielsagende Formulierung von Kersting166. Wenn man meint, hier werde eine streng individualistische Position, die die Personen als isolierten Rechtsträger behandelt, vertreten, dann ist dieser Behauptung zuzustimmen167. Personen haben Rechte, die keinesfalls ohne ihr Verschulden 162 Nozick, Anarchy, 1974, S. 33: „To use a person in this way does not sufficiently respect and take account of the fact that he is a separate person, that his is the only life he has“; über den Autonomiebegriff Wilenmann, Freiheitsdistribution, 2014, S. 34 ff., S. 122 ff., m.w. N.; siehe auch Schaber, in: Brandhorst/Weber-Guskar, Menschenwürde, 2017, S. 45 ff., 59: „Gesetzgeber in eigener Sache“. 163 Greco, Lebendiges, 2009, S. 111: „Die moralistische Position führt zu einer Entmündigung des Bürgers, zu einer Missachtung seines – solange er die Grenzen seiner Freiheit nicht überschreitet – Rechts auf autonome Lebensführung.“ 164 Greco, Lebendiges, 2009, S. 190; dieser Aspekt der Lebensführung wird auch von Pawlik hervorgehoben, Pawlik, JRE 11 (2003), S. 287 ff., 301, 302: Person als „eigenverantwortliche[r] Autor seines Lebensentwurfes“; siehe auch Kersting, Verteidigung des Liberalismus, 2. Aufl., 2010, S. 23 f.: „Damit eine Person allerding ein Leben führen kann und nicht lediglich von den Verhältnissen mitgenommen werden wird, muss sie sich Priorität gegenüber ihren Zwecken, Wertvorstellungen und Verpflichtungen erarbeiten. [. . .] Unser hochrangiges Interesse liegt darin, ein Leben zu führen, das wir für wertvoll erachten, das unseren Vorstellungen von einem guten Leben entspricht.“ 165 So Nozick, Anarchy, 1974, S. 33: „But there is no social entity with a good that undergoes some sacrifice for its own good. There are only individual people, different individual people, with their own individual lives. Using one of these people for the benefit of other, uses him and benefits the others. Nothing more.“ 166 Kersting, Verteidigung des Liberalismus, 2. Aufl., 2010, S. 120. 167 So auch Coninx, Solidaritätspflicht, 2012, S. 15; dazu siehe auch Kühnbach, Solidaritätspflichten, 2007, S. 30 ff.; für eine individualistische Strafrechtsauffassung auch Altenhain, Das Anschlußdelikt, 2002, S. 20 ff., S. 272 ff.; über den Menschen als „Kollektivmenschen“ Engisch, Vom Weltbild des Juristen, 1950, S. 26 ff., S. 32 ff.

II. Vorfrage: Kapitulation der Rechtsordnung?

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entzogen und der Gemeinschaft zur Disposition gestellt werden dürfen. Sie haben sogar vorstaatliche oder angeborene Rechte, die jeglichem Gesamtkalkül gegenüber resistent sind: „Das Menschenleben ist unabwägbar“, so die beliebte Ausdrucksweise der Rechtsprechung168. Die Rechtssphären der Personen müssen deswegen mindestens in einem noch zu bestimmenden Kernbereich als isolierte Größe betrachtet werden. Es ist Frister beizupflichten, wenn er die individualistische Grundanschauung vertritt, „daß die Menschen nicht vollständig in der Gemeinschaft aufgehen, für sich selbst nicht nur mehr sind, sondern auch mehr sein dürfen als ein [. . .] Teil der Menschheit“ 169. Die von Maurach 1935 vertretene These, die Wahl der notstandsfähigen Güter sei nach der „sozialen Vitalität“ durchzuführen, bedeutet nichts anderes als einer Kollektivierung aller Rechte170. Dort wird behauptet, man solle die individuellen Gesichtspunkte des Notstandstäters (zum Beispiel seine „erschwerte Motivation“) verallgemeinern und auch gegenüber allen anderen Destinatären der Begründung für maßgeblich erklären. Das Gegenteil ist der Fall. Geboten ist nämlich eine individualistische, aber zugleich vielseitige Betrachtungsweise, die auch das Notstandsopfer als Person behandelt. Es wird hier der Versuch unternommen, allen Destinatären gegenüber zu begründen, warum die Nothandlung manchmal rechtswidrig aber straflos bleibt, manchmal aber die Strafe wieder in Betracht kommen soll171. Die herkömmliche Lehre stellt durch eine Verquickung der Perspektiven letztendlich einseitig auf die Sicht der Gemeinschaft ab; diese Vorgehensweise ist scharf zu kritisieren. Meine Position will ich im Mikrokosmos der Notstandsdogmatik konsequent und ohne den Rückgriff auf kollektivistische Argumente – was bei den Ansätzen der Lehre häufig vorkommt – entwickeln.

168 Zu den verfassungsrechtlichen Problemen siehe Kühnbach, Solidaritätspflichten, 2007, S. 149 ff. 169 Frister, Die Struktur, 1993, S. 155; so aber sah es die nationalsozialistischen Strafrechtsdogmatik. Kramer meinte, maßgeblich für das Notstandsproblem sei „die Anschauung des Nationalsozialismus vom Verhältnis des Einzelnen zum Volksganzen“. Imzufolge ist „die organische Volksgemeinschaft das höchste Ziel des nationalsozialistischen Staates“. Der Einzelne sei als „Teil der Gemeinschaft“ anzusehen, und nicht als das „Individuum, das, von einem bestimmten Kreis unantastbarer, subjektiver Rechte umgeben, jedem anderen – auch dem Staat – als Rechtssubjekt gegenübertritt und ihn aus seiner Sphäre ausschließt“. So Kramer, Die Rechtsnatur, 1937, S. 23, 34, wo er den „egoistisch-individualistischen Selbsterhaltungstrie[b]“ scharf kritisiert. 170 Maurach, Kritik der Notstandslehre, 1935, S. 105. 171 Der subjektivistische Erklärung, die den allen Menschen innewohnenden Selbsterhaltungstrieb für maßgeblich erklärte, wurde entgegengesetzt, sie sei eine absolut individualistische Betrachtung: „sie betrachtet die Handlung des Nottäters ausschließlich vom Standpunkt des Betroffenen aus, stellt fest, daß hier Rechte eines Unbeteiligten geschmälert worden sind und hilft dem daher doch ,rechtswidrig‘ handelnden Notstandstäter durch Zubilligung eines Entschuldigungsgrundes, indem die Gefahr verzerrten Ausmaßes in die Psyche des Notstandstäters projiziert wird“, Maurach, Kritik der Notstandslehre, 1935, S. 96.

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B. Die grundlegenden Probleme

III. Die grundsätzliche Unzulänglichkeit des Ausgangspunkts des herrschenden strafrechtlichen Schuldbegriffs Die herrschende Meinung nimmt meines Erachtens die Personen als Träger von Rechten nicht ernst. Diese Schwäche hängt mit dem strafrechtlichen Schuldbegriff zusammen. Die seit ewigen Zeiten beklagte Verworrenheit der Notstandsmaterie steht im Zusammenhang mit der „Verworrenheit“ – so die Worte Goldschmidts –, „in der sich ein anderes strafrechtliches Grundproblem befindet: das Schuldproblem“ 172. Nicht umsonst hat Hellmuth Mayer behauptet: „Der wissenschaftliche Streit um die Rechtsnatur des Notstandes ist ein Teil des Streites um den Aufbau des Strafrechtssystems und die normative Schuldlehre“ 173. Die Entwicklung der Notstandsdogmatik war und ist immer noch der Motor der Entwicklung der gesamten Schuldlehre, vor allem seit Etablierung der normativen Schuldlehre: Der Begriff der „begleitenden Tatumstände“, die die Motivation des Täters zu normkonformem Verhalten erschweren – der Begriff der Zumutbarkeit – entstammt letztendlich einer Diskussion über die vernachlässigte Schuldkomponente des Notstandes, der früher streng psychologisch verstanden wurde. Für die herrschende Meinung ist es ganz selbstverständlich zu behaupten, die Handlungen in existentiellen Notlagen blieben verboten bzw. rechtswidrig, aber seien grundsätzlich zu verzeihen. Dieser Selbstverständlichkeit fehlt es aber noch immer an einem sicheren dogmatischen Boden. Es überrascht nicht, dass bis heute viele Kontroversen über die Platzierung des entschuldigenden Notstands stattfinden. Schon der normbezogene Schuldbegriff als Ausgangspunkt ist meines Erachtens revisionsbedürftig. Dieser traditionelle Schuldbegriff wird in der berühmten Entscheidung des Bundesgerichtshofs zusammengefasst: „Mit dem Unwerturteil der Schuld wird dem Täter vorgeworfen, daß er sich nicht rechtmäßig verhalten, daß er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich für das Recht hätte entscheiden können. Der innere Grund des Schuldvorwurfs liegt darin, daß der Mensch, auf freie, verantwortliche sittliche Selbstbestimmung angelegt und deshalb befähigt ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden“ 174. Die in der Lehre vertretenen Schuldbegriffe sind fast ohne Ausnahme auch normbezogen175: Schuld sei als „Andershandelnkönnen“, trotz „normativer Ansprechbarkeit“, als Infragestellung der Norm usw. zu verste172 Goldschmidt, Der Notstand, ein Schuldproblem, 1913, S. 1 f.: „Die ,Verworrenheit‘, die in der Wissenschaft über die theoretische Grundlegung des Notstandes herrscht, äußert sich vor allem darin, daß sie den Notstand bald für einen Fall ausgeschlossener Rechtswidrigkeit, bald für einen bloßen persönlichen Strafausschließungsgrund hält.“ 173 H. Mayer, Strafrecht AT, 1953, S. 191. 174 BGHSt 2, 194, 200; dazu siehe Hörnle, JuS 2009, S. 873 ff. 175 Dazu eingehend Greco, Lebendiges, 2009, S. 478 ff.

III. Die grundsätzliche Unzulänglichkeit des strafrechtlichen Schuldbegriffs

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hen176. Auch wird in der Regel die oben erörterte Instrumentalisierungsfrage nicht einmal gestellt. Dadurch entstehen viele Ungereimtheiten, die hier im Überblick präsentiert werden sollen. Die im Diskurs herrschenden Gesichtspunkte sind eine allgemeine Idee der „Unzumutbarkeit“ und das Vorhandensein eines sogenannten „Schuldrests“, durch den eine normtheoretische Perplexität entstehe (u. 1.) sowie eine moralisch aufgeladene Idee der Nachsichtsausübung (u. 2.). Nicht zuletzt ist festzustellen, dass der entschuldigende Notstand oft gemeinsam mit dem Notwehrexzess behandelt wird (u. 3.). Diese gemeinsame Behandlung verdunkelt die Tatsache, dass diese Figuren fast nichts Gemeinsames besitzen, was die Bestimmung des Propriums des entschuldigenden Notstands durchaus erschwert. 1. Die normtheoretische Perplexität und die Idee des „Schuldrests“ Das gefestigte Urteil „rechtswidrig aber straflos“ ist keineswegs selbstverständlich177. Dieses Urteil wäre unproblematisch, wenn die rechtswidrige Tat von einem schuldlosen Täter begangen würde. Genau diesen Schritt will aber die herrschende Meinung nicht mitgehen. Denn fast alle Autoren sind sich darin einig, es verbleibe ein Schuldrest178. Das Urteil lautet also „rechtswidrig, schuldhaft aber straflos“. Bevor man sich diesem Urteil zuwendet, ist eine normtheoretische Betrachtung hilfreich. Die Normentheorie hilft der Strafrechtsdogmatik bei der Strukturierung der Fragestellungen und bei der Reflexion ihrer Methode179. 176

Dazu im Detail Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl., § 19, Rn. 18 ff. So schon Stammler, Darstellung, 1878, S. 44. Mit der Frage der allgemeinen Begründung von Ausnahmenregeln hat sich auch die Moralphilosophie beschäftigt. Koller zum Beispiel will zwischen fünf deontischen Modalitäten unterscheiden: verboten; verboten, aber entschuldbar; erlaubt, aber weder geboten noch lobenswert; geboten; und lobenswert, aber nicht geboten: Koller, in: Kersting (Hrsg.), Klugheit, 2005, S. 291 ff.: „Ganz grundsätzlich gilt, daß moralische Normen aus unparteiischer Sicht nur dann allgemein annehmbar sind, wenn uns diese Normen nicht mehr als solche Pflichten auferlegen, deren Erfüllung uns unter normalen Umständen zumutbar ist, daß heißt uns nicht unannehmbare Lasten auferlegt oder Opfer abverlangt“. Zwei Gesichtspunkte seien determinierend, nämlich die Zumutbarkeit und die Verallgemeinerungsfähigkeit des Verhaltens. Das Gebot einer moralischen Pflicht sei zumutbar, „wenn ihre Erfüllung nicht den Verzicht auf die Verfolgung von Interessen verlangt, die zum elementaren Kern des individuellen Selbstinteresses gehören, etwa den Verzicht auf Selbstachtung oder auf die Befriedigung lebenswichtiger Bedürfnisse“. Diese Ideen könnten die Möglichkeit einer Abgrenzung eröffnen zwischen erlaubten Handlungen und andere Handlungen, „die zwar nicht erlaubt, aber entschuldbar sind“. Zur Zumutbarkeit in der moralphilosophischen Diskussion siehe auch Habermas, Faktizität und Geltung, 1998, S. 148: „Nach Maßgabe einer Vernunftmoral prüfen ja die Einzelnen die Gültigkeit von Normen unter der Voraussetzung, daß diese faktisch von jedermann befolgt werden.“ 178 Statt aller siehe Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl., § 22, Rn. 1 ff. 179 So die Formulierung von Renzikowski, in: FS-Gössel, 2002, S. 3 ff., 13: „Normtheoretische Begriffsklärungen können die materiellen Problemen des Strafrechts nicht allein lösen. Die Normentheorie strukturiert aber die Fragestellungen und reflektiert die Methode“; siehe auch Ast, Normentheorie und Strafrechtsdogmatik, 2010, S. 9 ff. 177

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B. Die grundlegenden Probleme

Die Feststellung, die Handlung im existentiellen Notstand müsse sich notwendigerweise als rechtswidrig erweisen (vor allem aus den opferbezogenen Erwägungen, dass keinem Unschuldigen eine Duldungspflicht bzgl. der Beeinträchtigung seiner existentiellen Rechte auferlegt werden darf), stößt auf Ungereimtheiten normtheoretischer Natur. Genauer gesagt: Dass die Beibehaltung der Verhaltensnorm – das Verbot oder „Nichtgesolltsein“ 180 – bei gleichzeitiger Rücknahme der Sanktionsnorm wegen Unzumutbarkeit eines normkonformen Verhaltens181 – der Ausschluss der „Vorwerfbarkeit“ – eine normtheoretische Perplexität darstellt, ist seit Langem anerkannt182, vor allem wenn man das Unrecht als die Summe von einer Bewertungs- und einer Bestimmungsnorm versteht183. Diese Unterscheidung hat sich vor allen mit dem sogenannten normativen Schuldbegriff durchgesetzt. Die Zumutbarkeit sei auch von der Rechtswidrigkeit zu unterscheiden, weil sie das Bestehen der Rechtspflicht unberührt lasse184. Beim entschuldigenden Notstand würde das bedeuten, dass sich „das Verhalten des Täters aus besonderen Gründen [als] begreiflich und darum nicht strafwürdig“ darstelle185. Denn 180 Engisch, Untersuchungen, 1930, S. 60: „die Rechtswidrigkeit bedeutet das Nichtgesolltsein des Verhaltens des Täters nach Maßgabe der Rechtsordnung, die Schuld bedeutet die Vorwerfbarkeit desselben Verhaltens“; siehe auch Rudolphi, ZStW 78 (1966), S. 67 ff., 95: „Durch den Notstand wird das in dem verwirklichten gesetzlichen Straftatbestand enthaltene Ver- oder Gebot nicht aufgehoben. [. . .] Zu beachten ist jedoch, daß die Rechtsordnung beim Vorliegen eines Notstandes dem Täter ohne Rücksicht auf seine Individualität eine Befolgung der Normen nicht mehr zumutet.“ 181 Hruschka, Strafrecht, 1988, S. 282: „Die Zumutbarkeitsfloskel in § 35 Abs. 1 Satz 2 StGB ist folglich – wiederum im wahrsten Sinn des Wortes – nichts-sagend. Mit ihr läßt sich, jedenfalls was das dabei verwendete Wort ,zumuten‘ angeht, nicht rational argumentieren.“ 182 Siehe Jakobs, Norm, 3. Aufl., 2008, S. 102; Baumgarten, Notstand und Notwehr, 1911, S. 24: „Immerhin ist es meines Erachtens nicht erfreulich, wenn das Gesetz ein Verbot erläßt, dessen Uebertretung es ruhig in Kauf nimmt“; in der Diskussion der Großen Kommission hat Eb. Schmidt auf die Gefahr einer „Verdoppelung der Zumutbarkeit“ hingewiesen: „Wir verwässern die ganze Idee der Zumutbarkeit, die sich ausschließlich aus Schuldüberlegungen entwickelt hat, wenn wir diesen Gedanken der Zumutbarkeit zur Voraussetzung für die Rechtfertigungsmöglichkeit machen“, Eb. Schmidt, in: Niederschriften, 2. Band AT, 19. Sitzung, 1958, S. 144. 183 Engisch, Untersuchungen, 1930, S. 450: „Will man mit dem Begriffspaar Bestimmungs- und Bewertungsnorm arbeiten, so würde meiner Ansicht nach das Treffendste sein zu sagen: Der Täter, der wegen Unzumutbarkeit straflos ausgehen soll, hat sich zwar nicht so verhalten wie er sollte, d. h. sein Verhalten widerspricht dem in der Rechtsordnung zutage getretenen auf das entgegengesetzte Verhalten gerichteten Willen, ist also imperativwidrig.“ Zu dieser Diskussion siehe den klassischen Aufsatz von Mezger, in: GS 89 (1924), S. 207 ff., 239 ff., der das Unrecht nur als Verletzung der Bewertungsnorm versteht; siehe auch Siegert, Notstand und Putativnotstand, 1931, S. 12 f.; auch Maurach, Kritik der Notstandslehre, 1935, S. 21 ff.; ausf. hierzu Frister, Die Struktur, 1993, S. 158 ff., der dem Unrecht eine Bestimmungsfunktion abspricht, um aus dieser Perplexität herauszukommen. Auch die sogenannte Pflichtnormentheorie von Goldschmidt bildet einen Versuch, diesem Problem zu entkommen. Wir kommen noch zu diesen Versuchen (s. u. C., III., 3.). 184 So Engisch, Untersuchungen, 1930, S. 445. 185 Engisch, Untersuchungen, 1930, S. 447.

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dass es vor allem beim Freiheitsnotstand schwer zu behaupten erscheint, dem Täter sei es komplett unmöglich, sich normkonform zu verhalten, wird niemand bestreiten186. Ein zwanzigstündiges Einsperren in einen dunklen Keller würde man bestimmt als einen erheblichen notstandsfähigen Freiheitseingriff betrachten, es würde dies aber Überlegungen des Täters nicht komplett ausschließen: Hier könnte eine Strafandrohung durchaus wirken. Auch die Theorien, die hier eine Unzurechnungsfähigkeit des Täters postulierten, haben kein Gehör gefunden. Wenn man der Schuldbegriff eng versteht, dann ist für den entschuldigenden Notstand im Herzen der Schuldlehre nämlich kein Platz: Der Täter kann normkonform handeln. In Anbetracht dieser Behauptung sind mindestens drei rechtliche Lösungen möglich: Entweder man begreift den entschuldigenden Notstand doch als eine Unrechtsprobe, oder man siedelt ihn in einer dritten Kategorie zwischen Unrecht und Schuld an, oder man lokalisiert ihn schließlich innerhalb der „Schuld“ im weiteren Sinne bzw. der Verantwortlichkeit, jedoch außerhalb der Schuld im engeren Sinne. Diese Perplexität hat die Lehre viel beschäftigt. So hat sich Beling scharf dagegen gewandt und meint, die Unzumutbarkeit beim Notstand könne nur einen Rechtswidrigkeitsausschluss bedeuten: „Entweder Beibehaltung der Formel vom ,nicht zuzumuten‘ – dann ist Ausschluß der Rechtswidrigkeit erklärt [. . .]. Oder Ausprägung des Notstands (wenn nicht, was auch noch zu erwägen wäre, als Schuldausschließungsgrundes oder als sachlichen Strafausschließungsgrundes), als bloßen persönlichen Strafausschließungsgrundes, und dann Ersetzung der Wendung vom ,nicht zuzumuten‘ durch eine andere“ 187. Oetker, der diese Handlung deswegen als unverboten bezeichnen will, sagt: „bliebe das Verbot bestehen und würde nur dessen Übertretung für straflos erklärt, so restierte insofern ein entwertetes Verbot [. . .] Ist gar der Vorzug des kleinen Übels bestimmend, so kann es unmöglich verboten sein, dieses zu setzen“ 188. Auch in der gegenwärtigen Literatur beruft man sich auf die Perplexität189. Denn eine rechtswidrige Handlung – vor allem eine Tötung oder schwere Verletzung eines Unschuldigen – ist, wenn man sie als „rechtswidrig“, als „nicht gesollt“ betrachtet, grundsätz186

Dazu siehe Roxin, in: FS-Henkel, 1974, S. 171 ff., 174 ff. Beling, in: GS 91 (1925), S. 348 ff., 365; Engisch, Untersuchungen, 1930, S. 446 hält diesen Einwand nur für einen sprachlichen. 188 Oetker, FG-Frank I, S. 359 ff., 367; so auch v. Weber, Das Notstandsproblem, 1925, S. 8, gegen die Pflichtnormtheorie: „Zum Inhalt der Rechtsnorm gehört als notwendige Ursache ihrer Verwirklichung die Forderung entsprechender Motivation. Wer aber Ursache nicht will, kann auch die Folge nicht wollen. Mit dem Wegfall der Forderung nach entsprechender Motivation wird auch die Rechtsnorm, die das äußere Verhalten fordert, gegenstandslos“ (siehe auch S. 38). 189 Wortmann, „Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens“, 2002, S. 87: „Wie kann die Rechtsordnung aber eine bestimmte Handlung fordern, welche von ihr gleichzeitig als unzumutbar für den Betroffenen bewertet wird?“; siehe dazu auch Luzón Peña, in: FS-Schünemann 2014, S. 445 ff., der § 35 auf der Idee der individuellen Unzumutbarkeit konstruieren will. 187

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lich zu bestrafen. Hier lässt die Rechtsordnung den Täter keinesfalls ohne eine Verhaltensorientierung zurück: das Verhalten ist verboten und deswegen zu unterlassen. Ist das Leben bedroht, besagt das Recht, der Bürger solle die Norm respektieren und die Abwälzung der Gefahr auf einen Unschuldigen unterlassen. Wieso also lässt der Staat eine vom ihm selbst als rechtwidrig ausgesprochene, absichtliche Tötung eines Unschuldigen straffrei? Oder mit den Worten Fernecks: „Kann der Gesetzgeber die Macht des in der Not gelegenen Motives nicht überwinden, so erläßt er keine Norm und die Handlung des Benötigten ist nicht normwidrig“ 190. Eine erste Möglichkeit, diese normtheoretische Perplexität zu umgehen, wäre zu behaupten, dass die Rechtswidrigkeit als Sollensurteil generell, die Schuld als Könnensurteil – als „Freiheit der Wahl“ 191 – dagegen individuell zu bestimmen sei. Niemand scheint heute aber dem Richter eine individualisierende Analyse der psychologischen Effekte der existentiellen Notlage abzuverlangen. Es wird eher vertreten, dass die Vermutung bestehe, dass die im Gesetz vorgesehenen und typisierten Umstände bei jedem Bürger entschuldigend wirkten, selbst bei denen, die trotz der Not noch kaltblutig handeln könnten192. Auch dieses Schuldurteil sei also generalisierend193. Auch die moderne Literatur befasst sich mit diesem Problem. Zum Beispiel hat Frister gegen die kriminalpolitische Erklärung des entschuldigenden Notstands eingewandt, diese enthielte eine normtheoretische Ungereimtheit: „Würde die Rechtsordnung eine in selbstverantwortlicher Weise getroffenen Entscheidung, auf Grund existenzieller Notlage eine vorsätzliche Tötung zu begehen, als Widerspruch gegen das Tötungsverbot bewerten, so bestünde auch ein generalpräventives Bedürfnis, diesen Widerspruch durch eine Bestrafung des Täters zurückzuweisen.“ 194 Dasselbe Argument taucht bei Hörnle auf, die behauptet, präventive Überlegungen seien kein eigenständiges Argument, sondern ein Argument, „das auf vorgelagerte Bewertungen angewiesen ist“ 195. Diese Diskussion krankt an einem kurzsichtigen, normbezogenen und zu sehr psychologisierenden Schuldbegriff. Von dem Schluss, dass auf eine rechtswidrige 190

v. Ferneck, Rechtswidrigkeit, Bd. II/1, 1905, S. 45. Über diesen Begriff und über die Unterscheidung von Sollen und Können Busch, Verbrechenslehre, 1949, S. 12 ff. 192 Dazu siehe Frister, Die Struktur, 1993, S. 149 f., 212: „Individualisierung des ,Sollens‘ “. 193 Siehe schon Rudolphi, ZStW 78 (1966), S. 67 ff., 85: Das Vorliegen der Motivationsdefizite „wird von dem Gesetz unwiderleglich vermutet“; richtig dazu Renzikowski, JRE 11 (2003), S. 269 ff., 272: „Schuld ist keine Frage der Feststellung (Beschreibung) eines Sachverhalts, sondern der Zuschreibung einer Handlung zu einer Person.“ 194 Frister, JuS 2013, S. 1057 ff., 1063; auch Renzikowski, JRE 11 (2003), S. 269 ff., 273: „Generalprävention soll sein, weil Generalprävention sein soll.“ 195 Hörnle, JuS 2009, S. 873 ff., 876: „Soweit Selbstaufopferung nicht verlangt werden darf, bedürfte es nach einer Notstandstat nicht der Kriminalstrafe zur Normbestätigung und zur Abschreckung potenzieller zukünftiger Notstandstäter.“ 191

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Tat Bestrafung folgen soll, sind zwei Ausnahmen anerkannt, nämlich die Schuldunfähigkeit und der unvermeidbare Verbotsirrtum, welche echte „Schuldausschließungsgründe“ darstellen196. Eine Bestrafung in diesen Fällen würde eine inakzeptable Bestrafung Unschuldiger bedeuten. Laut der überwiegenden Meinung bleibt beim entschuldigenden Notstand dagegen ein Schuldrest übrig, der erklärt, warum man in den vorgesehenen Ausnahmenfällen – wenn die Hinnahme der Gefahr (§ 35 I 2) zumutbar ist – keine Unschuldigen bestraft197. So äußert sich Rudolphi zum Notstandstäter: „ein Schuldvorwurf ist grundsätzlich auch ihm gegenüber noch möglich“ 198 und Broglio spricht von einem „an sich fälligen Strafanspruch“ 199. Hier wird die normtheoretische Perplexität erhöht. Das ist keineswegs selbstverständlich für einen Ansatz, der den Schuldvorwurf darauf stützt, dass die Norm nicht befolgt worden ist, obwohl dies möglich gewesen wäre. Denn § 35 erkenne die Straflosigkeit einer rechtswidrigen und schuldhaften, d. h. an sich vorwerfbaren Tat, an. Diesen Ansatz vertritt der Bundesgerichtshof seit seiner in BGHSt 2, 194 veröffentlichten, bahnbrechenden Entscheidung200. Der Ausweg aus dieser Perplexität wurde in einer sehr vagen Konstruktion gefunden: Beim entschuldigenden Notstand würden nur Nachsicht und Verständnis – „echte Verzeihung“ 201 – gezeigt. Die Strafe trete aus „mangelnder Strafwürdigkeit“ nicht ein202. Es ist in der Tat so, dass die Feststellung, dass eine Tat schuldhaft begangen wurde, nicht notwendigerweise Strafe nach sich ziehen muss. Das Schuldprinzip ist nur so zu verstehen, dass keine Strafe ohne Schuld existieren darf. Eine Schuld ohne Strafe ist durchaus denkbar und manchmal sogar geboten203. Hier steht man vor der Wahl zwischen Scylla und Charybdis, wie Frister schon vor mehr als zwanzig Jahren treffend bemerkt hat: Die Annahme der Unverbietbarkeitsthese oder die Postulierung eines echten Rechtfertigungsgrundes scheinen zu weit zu gehen; das bloße Anstellen von Zweckmäßigkeitserwägungen greift bei der Lösung des Problems dagegen zu kurz204. Diese Perplexität 196

Dazu siehe Hörnle, JuS 2009, S. 873 ff. Über diese „Restschuld“ Roxin, in: FS-Yamanaka 2017, S. 467 ff., 469; siehe auch Mañalich, InDret 7/2013, S. 1 ff., 7 ff., 12 ff. 198 Rudolphi, ZStW 78 (1966), S. 67 ff., S. 75: „Diese Auffassung ist nicht nur durch die Erfahrungen des täglichen Lebens geboten, sondern entspricht auch allein den gesetzlichen Vorstellungen.“ 199 Broglio, Der strafrechtliche Notstand, 1928, S. 33. 200 Siehe Roxin, ZStW 96 (1984), S. 641 ff., 642 f.; siehe auch Hörnle, Kriminalstrafe, 2013, S. 11 ff. 201 Silva-Sánchez, in: FS-Hruschka 2005, S. 681 ff., 696; Neumann-NK, § 35, 5. Aufl., Rn. 2: Die Reaktion des Täters auf die Notlage erscheine „verständlich“. 202 Engisch, Untersuchungen, 1930, S. 449. 203 Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl., § 3, Rn. 51 ff. 204 Frister, Die Struktur, 1993, S. 153: „Das Verständnis, das wir für die das Leben ihres eigenes Kind auf Kosten eines anderen Kindes rettende Mutter empfinden, scheint sich weder mit den Begriffen Rechtfertigung oder Unrechtsminderung noch mit dem 197

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entsteht nur, weil man das Schuldmoment des entschuldigenden Notstands noch nicht richtig begriffen hat. Der Täter ist durchaus imstande, normkonform zu handeln. Er kann aber seine eigene Bestrafung – den Verlust seiner angeborenen Rechte – nicht kontrollieren. Hierin liegt das Problem. 2. Die Nachsichtsausübung als leere Behauptung Es ist mir nicht ersichtlich, wieso die herrschende Meinung die generell als Leerformel erkannte Zumutbarkeit205 ohne starken Gegenprotest wiederum durch die Leerformel der Nachsichtsausübung ersetzen konnte206. Die Diskussion hierzu ist durchaus ambivalent: Die Straflosigkeit als Ergebnis ist unbestreitbar; die Wege sind dagegen kontrovers. Es ist einerseits zunächst zu konstatieren, dass der entschuldigende Notstand an sich dogmatisch schwer zu erklären bzw. in der Verbrechenslehre zu platzieren ist. Es ist schwer, existentielle Handlungen anhand vorgegebener wissenschaftlicher Kategorien zu begreifen. Die in der Literatur vorhandenen dogmatischen Eingliederungen sind vielfältiger Natur207 und gehen von einem Unrechtsausschluss – mit der harten Folge einer Duldungspflicht des Opfers – bis hin zu einem außerhalb der traditionellen Verbrechensarchitektur anzusiedelnden Strafausschließungsgrund, was nach den scharfen Worten Dohnas „in gewisse[m] Sinne das Eingeständnis der Unfähigkeit, das Phänomen des Strafausschlusses zu erklären“, bedeutet208. Zwischen diesen beiden Extrempositionen stehen viele andere vorgeschlagene Konstruktionen: Die Handlung sei „unverboten“ oder finde in einem „rechtsfreien Raum“ statt, der aber dem Opfer keine Duldung abverlange; sie stelle kein „Strafunrecht“ dar; es gehe lediglich um einen „Strafausschließungsgrund“; die Schuld als normative Ansprechbarkeit oder als Andershandelnkönnen liege vor, die Bestrafung sei aber „präventiv nicht notwendig“; Gedanken eines durch bloße Zweckmäßigkeitserwägungen bestimmten Strafverzichts angemessen erfassen zu lassen.“ 205 Siehe Mañalich, InDret 7/2013, S. 1 ff., S. 7 ff., 23. 206 So schon Silva-Sánchez, in: FS-Hruschka, 2005, S. 681 ff., der richtigerweise darauf hinweist, die Nachsichtsausübung sei eher eine Leerformel als eine „inhaltsreiche Begründung“; früher schon Janka, Der strafrechtliche Notstand, 1878, S. 192, der die Entschuldigungslösung als „künstlich geartete[n] Ausweg“ bezeichnete. 207 Küper spricht von einer „Theorienvielfalt, daß bis in die 30er Jahre des 20. Jh. die ,Verworrenheit‘ der Materie beklagt wird“, Küper, in: Erler/Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Band 3, 1984, S. 1064 ff., 1070; NeumannNK, § 35, 5. Aufl., Rn. 4: umstrittenes „dogmatische Profil“; Bernsmann, „Entschuldigung“, S. 11: Existenz eines „mehr als breiten Theorienspektrums“; Bernsmann, in: FSBlau 1985, S. 23 ff., S. 48: „Zuzugeben ist zwar, daß der ,entschuldigende Notstand‘ geradezu wesensnotwendig bis zu einem gewissen Grad ,unbeschreibbar‘ sein dürfte“; dazu siehe auch Fehsenmeier, Das Denkmodell, 1970, S. 160 ff.; so schon Rudolphi, ZStW 78 (1966), S. 67 ff., 74. 208 Dohna, Die Rechtswidrigkeit, 1905, S. 123.

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der Täter werde durch eine Addierung von Unrechts- und Schuldminderung entschuldigt, usw. Noch in Bezug auf die alte Fassung des „strafrechtlichen Notstandes“ hat schon Henkel treffend bemerkt, es gebe „keine Möglichkeit des Strafausschlusses überhaupt, die man nicht für die Erklärung der Notstandsstraflosigkeit nach den §§ 52, 54 StGB in Anspruch genommen hätte“ 209. Der richtige Platz des entschuldigenden Notstands ist trotz der angeblich eindeutigen Entscheidung des Gesetzgebers („handelt ohne Schuld“, § 35 I 1) immer noch höchst umstritten. Das Diktum Franks, wonach der „unglückliche Notstand in der modernen Literatur nicht zur Ruhe kommen“ könne, stellt bis heute eine beklemmende Wahrheit dar210. Der Notstand wird „wie ein Federball zwischen den Gründen der ausgeschlossenen Rechtswidrigkeit und der ausgeschlossenen Schuld hin- und hergeworfen“ 211. Die Debatte um den richtigen Platz des entschuldigenden Notstands stellt keinesfalls eine unbedeutende dogmatische Geziertheit dar, denn sie zieht mindestens vier konkrete Folgen nach sich, nämlich für die Teilnahme-212 und Irrtumslehre, für die Statuierung bzw. Intensitätsbestimmung von Duldungspflichten des Notstandsopfers und zuletzt für die Frage des Verschuldens der Notlage213. Last, but not least ist die Bestimmung der ratio des entschuldigenden Notstands für die Beantwortung der grundlegenden Frage nach seinem Verhältnis zum Schuldprinzip von erheblicher Relevanz. Um die Straffreiheit als Ergebnis andererseits streitet man trotz des Hin und Hers der Meinungen jedoch nicht, hier herrscht seit ewigen Zeiten Einigkeit214: Es gibt niemanden, der Argumente dafür vorbringt, den Vater, der sein Kind durch die Begehung einer rechtswidrigen Tat rettet, zu bestrafen. Das vielzitierte Beispiel des „Brettes des Karneades“ zeigt dies in deutlicher Weise215. Soweit 209

Henkel, Der Notstand, S. 20 f. Frank, Über den Aufbau, 1907, S. 6. 211 Frank, Über den Aufbau, 1907, S. 6. 212 Über diese Fragen siehe die detaillierte Studie von Rudolphi, ZStW 78 (1966), S. 67 ff. 213 Siehe Maurach, Kritik der Notstandslehre, 1935, S. 3, über die Abhängigkeit dieser Fragen von der ratio des Notstandes. 214 Frister, JuS 2013, S. 1057 ff., 1062: seit der Antike; siehe auch A. Köhler, Der Notstand, 1926, S. 1, über die Diskussion im 18. und 19. Jahrhundert; Maurach hat schon 1935 treffend bemerkt, „daß die ganze oft beklagte unselige ,Verworrenheit‘ der Lehre vom Notstand sich keineswegs auf Divergenzen in der Kasuistik erstreckt – in der praktischen Behandlung der einzelnen Notstandslagen herrscht vielfach sogar erhebliche Einigkeit –, sondern nur in der Systematik, in der Eingliederung in die Strafausschließungstypen ihren Grund hat“, Maurach, Kritik der Notstandslehre, 1935, S. 3 f.; so auch Bockelmann, Hegels Notstandslehre, 1935, S. 18; jüngst dazu Renzikowski, in: Hilgendorf/Joedern (Hrsg.), Handbuch Rechtsphilosophie, 2017, S. 453 ff., S. 457 ff. 215 Ausf. dazu Küper, Immanuel Kant, 1999; siehe Janka, Der strafrechtliche Notstand, 1878, S. 177: „Dass der zur Errettung des Lebens begangenen Tat Straflosigkeit zugestanden werden müsse, darüber allerdings herrscht kein Zweifel. Der Fall ist ein eklatanter“; siehe Pufendorf, Über die Pflicht des Menschen, Erstes Buch, 5. Kapitel, § 21, 1994, S. 69: „Wenn zwei Menschen gleichzeitig in Lebensgefahr geraten, in der 210

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ersichtlich wollte keiner unter den berühmten Staatstheoretikern bzw. Rechtsphilosophen, die sich mit dem Problem näher beschäftigt haben, den Überlebenden des berühmten „Brettes des Karneades“ (in seinen verschiedenen Varianten) bestrafen216. Nach der bekannten straftheoretischen Erklärung Kants – um bei dem Beispiel zu bleiben – „ist die Tat der gewalttätigen Selbsterhaltung nicht etwa als unsträflich (inculpabile), sondern nur als unstrafbar (inpunibile) zu beurteilen, und diese subjektive Straflosigkeit wird, durch eine wunderliche Verwechselung, von den Rechtslehrern für eine objektive (Gesetzmäßigkeit) gehalten“ 217. Kant postuliert eine Wirkungslosigkeit der Strafdrohung bei den Lebensnotstandsfällen. Unabhängig von den philosophischen Strömungen oder der Zugehörigkeit der Autoren zu einer bestimmten Schule bzw. wissenschaftlichen Bewegung bleibt eines gleich: Die Handlung im existentiellen Notstand soll grundsätzlich als unbestrafbar angesehen werden. Es scheint so zu sein, dass dem Staat keine moralische Autorität zukommt, diese Handlungen zu bestrafen218. Dieser eklatante, geschichtlich fundierte Konsens über die Straffreiheit des entschuldigenden Notstands soll keinesfalls unterschätzt werden. Andere Recht-

beide umkommen müssen, dann ist es zur eigenen Rettung einem jeden der beiden gestattet, etwas zu unternehmen, wodurch der andere, der ohnehin zum Untergang verurteilt ist, zu Tode kommt.“ 216 Mittermaier, Note II des Herausgebers zu § 91, in: Feuerbach, Lehrbuch, 14. Aufl., 1847, S. 180: „In allen neuen Gesetzgebungen ist dieser Strafaufhebungsgrund anerkannt“; über die alte Diskussion siehe Stammler, Darstellung, 1878, S. 37 ff.; siehe ferner die interessante Bemerkung über das Karneades in Jakobs, Norm, 3. Aufl., 2008, S. 101: „Entweder soll die Kraft entscheiden (die Lösung der starken Habenichtse) oder die Zeit (wer zuerst besitzt, soll behalten dürfen; die Lösung der schwachen Besitzer). Eine Rechtsordnung neigt dazu, für die letztgenannte Lösung zu optieren: Sie bringt Rechtsfrieden, was heißt, dass nicht erst das Ergebnis eines Kampfes über die rechtliche Lage entscheidet. Eine liberale Rechtsordnung kennt noch einen weiteren Grund. Sie setzt primär auf das Verbot, in den bestehenden Organisationskreis eines anderen einzudringen, und behandelt Gebote, einem anderen zu weichen, als einer besonderen Begründung bedürftig [. . .], und eine solche ist in den über zweitausend Jahren des Nachsinnens über ,das Wunderbrett der Schule‘ [. . .] nicht gefunden worden.“ 217 Die Vereinbarkeit dieser Behauptung Kants mit seiner „absoluten“ Straftheorie hat die Lehre schon früh infrage gestellt. Siehe Janka, Der strafrechtliche Notstand, 1878, S. 88: „Kant’s schulvoll strafbefreite Tat steht zu dessen absoluter Strafe in offener Empörung“; so auch Stammler, Darstellung, 1878, S. 45: Diese These stehe „in schroffem Widerspruch“ zu der These Kants, die Strafe sei ein kategorischer Imperativ; dazu siehe auch Bockelmann, Hegels Notstandslehre, 1935, S. 4 ff., der sagt, es bestehe kein Widerspruch, weil es bei Kant um „Unsträflichkeit“ gehe, um im strafrechtlichen Sinne Strafausschließungsgründe und diese Gründe seien außerhalb der Verbrechenslehre anzusiedeln. 218 Und das Handeln des Staates, der seinen Legitimitätsanspruch, im Namen aller zu sprechen, beibehalten will, darf schon anhand moralischer Erwägungen beschränkt werden. So Greco, Lebendiges, 2009, S. 123: „Die Freiheit der Bürger darf nicht nur zur Befolgung moralischer Erwägungen eingeschränkt, die Macht des Staats darf aber nur unter Befolgung moralischer Erwägungen ausgeübt werden“; siehe auch S. 128 ff.

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fertigungs- bzw. Entschuldigungsgründe haben sich erst nach langer wissenschaftlicher Diskussion etabliert. Über ein Notrecht – so wieder ein vielzitiertes Diktum Kants: „und gleichwohl kann es keine Not geben, welche, was unrecht ist, gesetzmäßig machte“ 219 – diskutierte man intensiv bis zur Etablierung der sogenannten Differenzierungstheorie zunächst in der Rechtsprechung im Jahre 1927220 und danach bei der Gesetzgebung im Anschluss an § 38 des Entwurfes 1962 und § 15 des Alternativ-Entwurfes 1975 (§ 34)221; die entschuldigende Kraft des unvermeidbaren Verbotsirrtums wurde zuerst in der berühmten Entscheidung des Großen Senats des Bundesgerichtshofes von 1952 als Schuldausschließungsgrund anerkannt und erst danach im § 17 positiviert222; die Unzurechnungsfähigkeit wurde schon früher als Schuldausschließungsgrund anerkannt, bringt aber dennoch manchmal harte Sanktionen (Maßregeln der Besserung und Sicherung) mit sich. Alle aber wollen schon immer den entschuldigenden Notstand komplett straffrei lassen. Auch der deutsche Gesetzgeber erkannte im Reichstrafgesetzbuch von 1871 zwei Formen des entschuldigenden Notstands an, nämlich den Nötigungsnotstand (§ 52 RStGB) und den damals sogenannten strafrechtlichen Notstand (§ 54 RStGB). Die oben kurz erwähnten gesellschaftsorientierten Thesen stellen in der Tat nichts anderes als einen Versuch dar, diesem höherrangigen Status des Problems Rechnung zu tragen. Diese Thesen bilden aber keinen Ausgangspunkt für die Bestimmung der Gründe der Straffreiheit des entschuldigenden Notstands, sie sind, wie gesehen, zu allgemein. Es ist nach anderen Lösungsstrategien zu suchen. Der höherrangige Status des entschuldigenden Notstands dagegen bleibt von der herrschenden Meinung – entschuldigender Notstand nur als „Entschul-

219 Über den „prekären“ Charakter des Notrechts siehe die monumentale Monographie von Pawlik, Der rechtfertigende Notstand, 2002, S. 1 ff., S. 3., S. 20 ff. (über das Notrecht bei Kant). 220 RGSt 61, 254; im Jahre 1878 sagte Janka: „Kein Gesetz anerkennt ein Notrecht“, Janka, Der strafrechtliche Notstand, 1878, S. 217; so auch Titze, Die Notstandsrechte, 1897, S. 70; siehe Neumann, in: von Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Solidarität im Strafrecht, 2013, S. 155 ff., S. 157, der zutreffend meint, dass der rechtfertigende Notstand keine Selbstverständlichkeit darstelle. 221 Siehe dazu Neumann-NK, § 34, 5. Aufl., Rn. 4; ders., in: Dubber/Hörnle, Criminal Law, 2014, S. 583 ff., S. 587: „On this point, there is a large degree of consensus regarding excusing necessity [. . .], and dispute regarding justifying necessity“; Binding, Handbuch, S. 754 f.: „Ebenso gesund und vollständig wie die Entwicklung des Notwehrrechts in der Geschichte des deutschen Strafrechts, ebenso ungesund und lückenhaft ist die des Notstandsrechtes [. . .] Die Definition der Notwehr ist Charakterisierung einer rechtlich erlaubten Handlung, die des Notstandes Definition eines Zustandes mit rechtlich zweifelhaften Folgen“ (S. 759). 222 BGHSt 2, 194; Schünemann, in: Schünemann (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 153 ff., 154: Erst nach dieser Anerkennung hat der Bundesgerichtshof „dem Schuldprinzip in der Dogmatik des Allgemeinen Teils des Strafrechts zum Siege verholfen“.

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digungsgrund“ – trotz vieler interessanter Bemühungen weitgehend verkannt223. Dass hier lediglich „Nachsicht“ kraft Unzumutbarkeit geübt werde, deutet auf die Abwesenheit einer echten Begründung hin. Die herrschende Meinung macht es sich jedoch zu einfach. Wenn man den entschuldigenden Notstand mit einem so schwachen Rekurs auf eine inhaltsleere „Nachsicht der Gemeinschaft“ zu begründen versucht, dann gewinnt der klassische normlogische Vorwurf – die oben genannte normtheoretische Perplexität (s. o. B., III., 1.) – gegenüber dieser Behauptung „rechtswidrig aber nur entschuldigt“ an Kraft. Denn wäre diese Nachsicht – oder die soziale Verständlichkeit der Tat – ernst zu nehmen, dann käme eher ein Rechtswidrigkeitsausschluss im Betracht224. Nicht von ungefähr meinte Rudolphi, dass die Unrechtsausschlussthese einen richtigen Kern aufweise, und vertrat, dass die Teilnahme am entschuldigenden Notstand aus unrechtsbezogenen Gründen letztendlich nicht strafbar sein sollte225. Die Alternative wäre es, zuzugeben, dass diese Konstruktion „nicht weit von bloßer Gnade“ ist226. Gnadenurteile sind rechtlich aber schwer zu kontrollieren. All das hat aber nicht verhindert, dass sich die Idee der Nachsichtsausübung allgemein etablieren konnte227. Es ist kaum ein Ansatz zu finden, der sich nicht direkt oder indirekt auf diesen Gedanken beruft228. Der Gedanke der Nachsichtsausübung ist nicht neu und taucht bereits bei Kant auf 229. Schon früh hat Janka angemerkt, dass dieser Gedanke viel zu schwach ist: „Die Theorie der Exkusation gesteht die Unfähigkeit des Rechtes offen ein. Dieselbe steht vor einer Handlung, die Straflosigkeit beansprucht, keineswegs aus rein kriminalpolitischen Gründen, sondern aus Gründen, welche das Recht anerkennen muss“ 230. Genau diese hierzulande herrschende Annahme, wonach lediglich Nachsicht geübt werde, soll in Frage gestellt werden. Diese Nachsichts- oder Verständnisausübung wird entweder als Hauptargument bei der Begründung des entschuldigenden Notstands vorgebracht oder taucht spätestens bei der Erklärung der Ausnahmenregelung des § 35 I 2 auf, welche die Fälle der zumutbaren Hinnahme der Gefahr vorsieht; sowohl im ersten als auch im zweiten Fall ist sie unzureichend. Eine ex post festzustellende Nachsicht ist kein Argument für eine Entschuldigung, sondern nur eine resignierte Hypostasierung eines schwer zu greifenden 223 Zur herrschenden Meinung siehe statt vieler Neumann-NK, § 35, 5. Aufl., Rn. 2 ff. 224 So richtig Silva-Sánchez, in: FS-Hruschka 2005, S. 681 ff., 689. 225 Rudolphi, ZStW 78 (1966), S. 67 ff., 79 ff., 80: „Die Besonderheit der Notstandstaten liegt schon in ihrem niedrigen Grad der Rechtswidrigkeit begründet.“ 226 Siehe Silva-Sánchez, in: FS-Hruschka, 2005, S. 681 ff., 693. 227 Siehe Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, 1965, S. 38 ff.; Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl., § 22, Rn. 6 ff., 11 ff. 228 Siehe Neumann-NK, § 35, 5. Aufl., Rn. 2, m.w. N. 229 Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1977, S. 344. 230 Janka, Der strafrechtliche Notstand, 1878, S. 184.

III. Die grundsätzliche Unzulänglichkeit des strafrechtlichen Schuldbegriffs

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Willens der Allgemeinheit231. Denn die Gründe, weshalb die Allgemeinheit nicht in umgekehrter Richtung gegenüber dem unschuldigen Opfer Nachsicht übt, sind nicht ersichtlich. Nachsicht ist höchstens die Folge aus den – noch herauszufindenden – Gründen, die dem Täter in existentieller Not trotz der zu bejahenden Rechtswidrigkeit komplette Straffreiheit gewähren können. Eine Bestrafung trotz der existentiellen Notlage – wie bei der Selbstverursachung der Gefahr (§ 35 I 2) – darf auch nicht nur damit begründet werden, andernfalls würden sozial unerträgliche Konsequenzen entstehen. Die Herausforderung ist gerade die Erklärung und Begründung allen involvierten Subjekten gegenüber – Täter, Opfer und Gesellschaft –, warum eine egoistische Bevorzugung der eigenen Interessen232, die die Existenz eines Unschuldigen vernichtet oder stark verschlechtert hat, zwar rechtswidrig ist, aber straffrei bleibt. Diese Straflosigkeit hat wiederum rechtliche Gründe, die ebenfalls erklärt werden müssen. 3. Die gemeinsame Behandlung von entschuldigendem Notstand und Notwehrexzess Die Fixierung auf die Idee der Nachsichtsausübung hat schädlich gewirkt. Der dogmatische Hauptmangel der Diskussion liegt meines Erachtens vor allem in der üblichen gemeinsamen dogmatischen Behandlung des entschuldigenden Notstands und des Notwehrexzesses (§ 33), die in der Regel als auf denselben Grundlagen fundierte Entschuldigungsgründe oder als Fälle des Ausschlusses der Verantwortlichkeit aus fehlender Bestrafungsnotwendigkeit betrachtet werden233. Demgegenüber ist zu betonen, dass der Notwehrexzess keinesfalls auf der Stufe des entschuldigenden Notstands steht, so dass beide unterschiedlich erklärt werden müssen. Man muss sich vor Augen führen, dass alle oben genannten vertragstheoretischen Erwägungen von vornherein nicht auf den Notwehrexzess zu übertragen sind234. Es ist nur die Tatsache, dass der entschuldigende Notstand und der Notwehrexzess aus einer ungewöhnlichen äußeren Notlage erwachsen, 231 So Koriath, JRE 2003, S. 317 ff., 331: „Wer der Ansicht ist, das Tötungsverbot gelte auch in diesen dramatischen Grenzfällen, der sollte den überlebenden Akteur (wegen Mordes!) bestrafen; wer aber dieses Urteil für unvertretbar hält, der sollte die Gründe dafür, die vermutlich etwas mit dem ultra-posse-Prinzip zu tun haben, klar angeben, anstatt sie durch eine Pseudolösung zu kaschieren.“ 232 Über diesen Begriff siehe Frister, Die Struktur, 1993, S. 153 ff., 156. 233 Maurach, Grundriß des Strafrechts AT, 1948, S. 94, beide als Tatverantwortungsausschluss; Baumgarten, Verbrechenslehre, 1913, S. 127, der beide als partielle Unzurechnungsfähigkeitsgründe betrachtet; Lesch, Der Verbrechensbegriff, 1999, S. 272 ff.; m.w. N. siehe Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl., § 19, Rn. 56 ff. 234 Dem stimmt auch Roxin zu: Roxin, in: FS-Yamanaka 2017, S. 467 ff., 485; über den Grund der Straflosigkeit des Notwehrexzesses Albrecht, GA 2013, S. 369 ff., 387, wonach die Einordnung des Notwehrexzesses sich immer noch „perplex“ darstelle. Er kommt zu dem Fazit, „dass die Regelung vor dem übrigen geltenden Gesetz nicht erklärlich ist“.

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B. Die grundlegenden Probleme

die beide Figuren verbindet235. Aber hier hören die Gemeinsamkeiten auf. Man bemerke, dass die für den entschuldigenden Notstand relevante materielle Frage, wieso ein subjektives Interesse des Täters für ein unschuldiges Opfer normativ relevant sein könnte, im Kontext des Notwehrexzesses unsinnig ist: Hier werden die asthenischen Affekte des Täters durch das rechtswidrige Verhalten des Opfers mitverursacht. Das Opfer ist keineswegs ein Unschuldiger. Meines Erachtens steht der entschuldigende Notstand den „echten“ Schuldausschließungsgründen näher als man denkt236, was übrigens vom Gesetzgeber bewusst oder unbewusst begriffen wurde, indem er in § 33 den Ausdruck „wird nicht bestraft“ statt wie bei § 35 „handelt ohne Schuld“ gewählt hat. Die gemeinsame Behandlung der „Entschuldigungsgründe“ hat ihre Wurzeln in einem aus meiner Sicht verfehlten Schuldbegriff: Schuld wird immer noch entweder zu psychologisierend als Andershandelnkönnen oder moralisierend als Missachtung der Norm verstanden (s. u. C., IV.). Es ist zu bedauern, dass die in der Literatur viel kritisierte, aus der humana fragilitas, aus dem Selbsterhaltungstrieb, entstandene Erschwernis des normkonformen Verhaltens immer noch als Argument für die – von der herrschenden doppelten Schuldminderungslehre angenommene – Schuldminderung weiterlebt237. Was als isoliertes Argument als falsch zu betrachten ist, kann sich kaum in Kombination mit anderen (ebenso falschen?) Gesichtspunkten plötzlich in ein zutreffendes Argument verwandeln. Wenn man die Dinge so betrachtet, dann leuchtet das Gesagte ein: Wäre die Befolgung der Norm psychisch unmöglich, dann würde dies die Schuldunfähigkeit bedeuten und die Ausnahmen des § 35 II wären verdeckte Formen der Bestrafung Unschuldiger238. Ein Schuldrest ist nach diesem Schuldbegriff notwendigerweise zu bejahen. Die Unzulänglichkeiten der Notstandsdogmatik bringen eigentlich die Unhaltbarkeit eines so gefassten Schuldbegriffs zu Tage. Damit ist nicht gemeint, es gebe keinen Platz für präventive Gesichtspunkte innerhalb der Schuld- oder Verantwortungslehre. Die Nachsichtsübung und die Beurteilung der Strafbedürftigkeit im konkreten Fall sind Zeichen eines vernunftorientierten und verfassungsrechtlichen Staates, der Strafe nur innerhalb des Er235

So die Formulierung von Hörnle, JuS 2009, S. 873 ff., 874. Dies bedeutet aber keine Annäherung zu den Thesen, die den entschuldigenden Notstand für einen Grund fehlender Zurechnungsfähigkeit halten, wie es bei Baumgarten, Verbrechenslehre, 1913, S. 124 ff. der Fall ist. Siehe auch Maurach, Schuld und Verantwortung, 1948, S. 31: „Zwischen dem richtigen Schuldausschließungsgrund des § 51 StGB und etwa dem des § 52 StGB klafft eine Lücke, die niemals ausgefüllt oder überbückt werden kann.“ 237 Siehe ausf. die vorzügliche Kritik von Frister, Die Struktur, 1993, S. 147 ff. 238 Puppe, Strafrecht AT, 3. Aufl., 2016, S. 225: „Würde es sich beim entschuldigenden Notstand um einen Fall der psychischen Unmöglichkeit rechtsmäßigen Verhaltens also um eine partielle Schuldunfähigkeit handeln, so würde es gegen das Schuldprinzip verstoßen, den Entschuldigungsgrund des Notstandes einzuschränken, wenn der Täter die Gefahr verursacht hat oder wenn er sich verpflichtet hat, sie auszuhalten.“ 236

III. Die grundsätzliche Unzulänglichkeit des strafrechtlichen Schuldbegriffs

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forderlichen androht und verhängt. Es gibt aber einen Kern des Schuldbegriffs, der nicht konsequentialistisch, sondern deontologisch zu begründen ist, d. h. ohne Rücksicht auf die präventiven Effekte seiner Anerkennung. Präventive Überlegungen sind aber willkommen und sogar geboten, um diesen Kern des Schuldbegriffs zu erweitern oder näher zu konturieren. Ich vermute, dass die genauere Bestimmung dieses Kerns der Entschuldigung beim entschuldigenden Notstand, des „originären Entschuldigungselements“ 239, noch nicht gelungen ist, trotz der richtigen Intuitionen vieler wichtiger Autoren. Dieser Kern der Schuld steht und fällt, wie schon angedeutet, meines Erachtens mit dem Strafbegriff. Er wird dagegen vom Notwehrexzess nicht angetastet, dessen ratio eher präventiven Gesichtspunkten zu entnehmen ist. Die Straflosigkeit des entschuldigenden Notstands gilt also als eine schwer zu erklärende Selbstverständlichkeit. Bei dieser Frage ist die Strafrechtsdogmatik in der „comfort zone“ geblieben: Diese Selbstverständlichkeit erklären wir durch eine gnadenähnliche Konstruktion. Rechtswidrig, schuldhaft, aber straflos. Der dogmatische Meinungsstreit um die ratio des entschuldigenden Notstands besteht noch immer240. Bei dieser Frage gelten die 1931 von Henkel proklamierten Worte: Hier ist „aus dem Gewirr der Ansichten Gemeinsames aufzudecken“ 241. Dass diese Ungewissheiten um die Begründung des Kerns der Entschuldigung Folgen für die entsprechenden Konturen der Kategorie besitzt – das heißt: für die Zumutbarkeitsklausel, für die Irrtumslehre usw. –, scheint mehr als evident zu sein. Hinter der Unerschütterlichkeit des Konsenses über die komplette Straffreiheit des entschuldigenden Notstands steckt höchstwahrscheinlich ein tiefgreifender, materieller Grund, der aber noch einer dogmatischen bzw. rechtsphilosophischen Herausarbeitung harrt. Entlang dieses Weges darf man aber nicht vergessen, welche Rechte der Person auf dem Spiel stehen: Leben, Leib und Freiheit, Rechte, die einem jeden „kraft seiner Menschheit“ zustehen242. Denn nach wie vor sorgt

239 So die Redeweise von Frister, Die Struktur, 1993, S. 147, der schon vor mehr als zwei Jahrzenten auf die weitgehende Vernachlässigung „der begrifflichen Struktur des originären Entschuldigungselements“ hingewiesen hat. Die weiteren dogmatischen oder kriminalpolitischen Fragen ließen sich erst nach dieser Bestimmung beantworten. 240 So Schünemann, Coimbra-Symposium für Claus Roxin 1995, S. 149 ff., 179: „nach wie vor umstritten“. 241 Henkel, Der Notstand, 1931, S. 2. 242 Diese Rechte entsprechen den Interessen der Bürger, nicht notwendigerweise denen der Rechtsordnung. Es ist eine übliche Vorgehensweise in der Notstandsdogmatik, mit den „Interessen der Rechtsordnung oder Allgemeinheit“ zu argumentieren. Wenn man sein Leben rettet, nimmt man jedoch nicht ein Interesse der Rechtsordnung wahr. Es ist angebracht, sich die schönen Worte Neubeckers zu vergegenwärtigen: Der Bürger „darf ein Egoist sein, und auch ein altruistischer Egoist, der für denjenigen tätig wird, den er vorzieht, auf fremde Kosten. Er darf also seine Interessen, die Interessen, die er an der Erhaltung der Sache nimmt, betätigen. Seine Interessen, nicht die der Rechtsordnung nimmt er wahr“, Neubecker, Zwang und Notstand I, 1910, S. 320; siehe auch Henkel, Der Notstand, 1931, S. 83.

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B. Die grundlegenden Probleme

der entschuldigende Notstand für ein beklemmendes Unbehagen im Herzen der Verbrechenslehre.

IV. Ein Gedankenexperiment: Das Hinwegdenken des entschuldigenden Notstands Die Unzulänglichkeit der allgemeinen Überzeugungen der herrschenden Meinung kommt mit einem Gedankenexperiment, das hier vorgeschlagen wird, ans Tageslicht. Einige sagen, die existentielle Notlage sei unregulierbar oder sollte zumindest unreguliert bleibt. Der deutsche Gesetzgeber hat sie aber in § 35 und früher schon in §§ 52, 54 RStGB reguliert, so dass es Aufgabe der Lehre ist, diese Regel zu erklären und zu begründen. Genauso verfahren viele andere Rechtsordnungen. Die herrschende Meinung bemüht sich, die vorhandene deutsche Regel – die Handlung bleibt rechtwidrig, der Täter handelt aber „ohne Schuld“ – als einen Entschuldigungsgrund zu konstruieren, der im Großen und Ganzen auf eine nichtssagende Ausübung der Nachsicht des Staates bei solch tragischen Situationen zurückgeführt wird. Man ist der Ansicht, eine Art „Recht auf einen Schuldvorwurf“, der aus der schuldhaften Übertretung der Norm erwächst, stehe dem Staat noch immer zu; er verzichte aber auf die Ausübung dieses Rechts. Die Existenz einer solchen gesetzlichen Vorschrift darf aber nicht vorausgesetzt werden und ist sogar schädlich für die Bestimmung der Gründe, die hinter diesem Rechtsinstitut stecken. Die Fixierung auf die Erklärung einer positivrechtlich vorhandenen Vorschrift hilft bei der Erklärung einer geschichtlich fundierten Selbstverständlichkeit nicht viel weiter. Ich schlage deswegen ein Gedankenexperient vor: Denken wir den § 35 hinweg. Eine Rechtsordnung ohne §§ 17, 20 wäre sicherlich eine illegitime. Eine Rechtsordnung ohne § 33 wäre dagegen möglicherweise denkbar. Und ohne § 35? Stellen wir uns einmal dystopisch à la Thomas Morus vor, es gebe eine Rechtsordnung, die die Handlungen im existentiellen Notstand immer bestrafen will. Diese imaginäre Rechtsordnung hat sich entschlossen, an der Verhaltensnorm, die die Tötung und die schwere Verletzung der körperlichen Integrität oder der Fortbewegungsfreiheit unschuldige Mitmenschen verbietet, ausnahmslos festzuhalten, ohne jedwede Rücksicht auf die existentielle Betroffenheit des Täters. Norm ist Norm. Wenn der Täter sein Leben oder das Leben seiner Tochter retten will und dafür eine rechtwidrige Tat begeht, indem er die Gefahr auf einen unschuldigen Bürger abwälzt, dann tritt trotz der akuten Lebensbedrohung die Sanktionsnorm ein: Der Täter muss die Strafe erleiden, selbst wenn er vor dem sicheren eigenen Tod stünde. Sein Tod wird ihm von Rechts wegen mittels der Strafdrohung und der andernfalls hinzukommenden Strafverhängung abverlangt. Die Verletzung dieser fundamentalen Norm zieht stets und ausnahmslos Strafe nach sich. Sein Protest, „Ich wollte aber nur mein Leben retten! Ich selbst war Opfer des Schicksals!“, rührt den an der Befolgung seiner Normen interessierten

IV. Gedankenexperiment: Das Hinwegdenken des entschuldigenden Notstands

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Staat nicht: „Ich, Staat, will die Geltung der Tötungs- und Verletzungsverbote bestätigen. Du hast Pech gehabt, aber auf der anderen Seite stand zugleich ein unschuldiges Opfer.“ Ein entschuldigender Notstand existiert also überhaupt nicht, auch nicht für den Lebensnotstand. Ein mit einer Interessenabwägungsklausel ausgestatteter, rechtfertigender Notstand ist in dieser Rechtsordnung aber vorhanden. Das Argument, man habe insgesamt im Namen der Gesellschaft einen vorteilhaften Rechtsgüterzustand bewirkt, rührt den Staat schon, da die Güterordnung nach der Handlung des Täters in Not letztendlich besser wäre, als wenn die Handlung des Täters unterblieben wäre. Wie würde man eine so verfasste Rechtsordnung nach den heutigen Maßstäben beurteilen?243 Wie nennt man einen Staat, der einen dem Tod geweihten Täter, der zufällig in diese Not geraten ist, nach der gelungenen eigenen Rettung bestrafen will? Wenn man meint, dass der Staat beim entschuldigenden Notstand dem Täter gegenüber lediglich Nachsicht übt, Verständnis aufbringt, von ihm kein Heldentum verlangt244 usw., dann könnte man auf die Frage ohne weiteres folgendermaßen antworten: Dieser Staat ist sicherlich (tugendethisch) moralisch unsensibel, aber nicht schlicht ungerecht. Wenn man mit Kant behauptet, hier sei die Strafdrohung generell wirkungslos, so dass sich deren Beibehaltung als ineffizient erweist, könnte man die Frage so beantworten: Dieser Staat ist prudentiell unklug, aber wiederum nicht schlicht ungerecht245. Der Philosoph Nozick eröffnet sein Buch Anarchy, State, Utopia mit der provokativen und schlichten Frage: „If the state did not exist would it be necessary to invent it?“ 246. Ich frage etwas bescheidender: Vorausgesetzt, dass eine Gesellschaft entstanden wäre, die den existentiellen Notstand nicht regelt, wäre es notwendig, eine solche Regel zu schaffen? Die Versuche, den entschuldigenden Notstand zu begründen, sind Bemühungen um die Beantwortung dieser grundlegenden Frage. Eines kann schon vorweggenommen werden: Die gelieferten Antworten befriedigen nicht. Es scheint mir so zu sein, dass eine Rechtsordnung, die den entschuldigenden Notstand – zumindest was den noch näher zu bestimmenden Kern dieses Rechtsinstituts angeht – nicht anerkennt, schlicht ungerecht und illegitim ist, und zwar wegen einer Verletzung des Schuldprinzips; davon will ich den Leser überzeugen247. 243 Zimmermann meint, eine Strafrechtsordnung ohne Notstandsentschuldigung würde „keine Zustimmung der Vertragsparteien hinter dem Schleier des Nichtwissens“ erhalten, T. Zimmermann, Rettungstötungen, 2009, S. 229. 244 Henkel, Der Notstand, 1931, S. 77. 245 Baumgarten, Notstand, 1911, S. 2, der sagt, „daß der Gesetzgeber es für zwecklos oder grausam hält, dem in Leibes- und Lebensgefahr gebieterisch sich geltendmachenden Selbsterhaltungstrieb eine Strafdrohung entgegenzusetzen“. 246 Nozick, Anarchy, 1974, S. 3. 247 Zum Legitimitätsbegriff zutreffend Greco, in: Brunhöber/Höffler/Kaspar/Reinbacher/M. Vormbaum (Hrsg.), Strafrecht und Verfassung, 2014, S. 13 ff., 36: „zu einem legitimen Strafrecht gehört nämlich viel mehr als nur seine Verfassungsmäßigkeit“.

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B. Die grundlegenden Probleme

V. Zwischenfazit Die Handlung in existentieller Not ist aus guten Gründen stets rechtswidrig. Dennoch wollen wir solche Handlungen nicht bestrafen. Diese Straflosigkeit ist allen involvierten Personen zu erklären. Der Instrumentalisierungsverdacht wird in diesem Kontext zumeist nicht einmal problematisiert und bleibt hinter einem nebulöse Konstrukt versteckt: Das Opfer werde nicht „instrumentalisiert“, weil ihm keine Duldungspflicht auferlegt werde; der Täter werde auch nicht „instrumentalisiert“, weil er eigentlich die Tat schuldhaft begangen habe – die Idee des „Schuldrests“ –, die Straflosigkeit trete lediglich wegen einer Nachsichtsausübung seitens des Staates ein. Diese Idee des Schuldrests wurde nur entwickelt, um die Ausnahmeregelungen (§ 35 I 2) friktionsfrei zu erklären. Die Strafbarkeit bei zumutbarer Hinnahme der Gefahr bleibt damit der herrschenden Meinung nach im Hinblick auf das Schuldprinzip unproblematisch. Diese Argumentationslinie überzeugt aber nicht. Dadurch wird dem unschuldigen Opfer nicht erklärt, was es mit der Not des Täters zu tun hat, und es werden ihm keine Gründe genannt, weshalb der Täter und nicht es Nachsicht verdient. Die Rücknahme der Strafdrohung bei schweren Delikten wird ihm gegenüber nicht genügend gerechtfertigt. Auch bei zumutbarer Hinnahme der Gefahr (§ 35 I 2) wird die Bestrafung des Täters mit dem Argument begründet, die Straflosigkeit sei für die Allgemeinheit, für die Normgeltung usw. unerträglich. Selbst wenn man sagt, hier sei ein „Schuldrest“ übrig, verbleibt ein Unbehagen: Denn den maßgeblichen Gesichtspunkt für die Bestrafung des Täters bilden eben die gesellschaftlichen Vorteile, die durch sie zu erlangen sind. Hier besteht ein Instrumentalisierungsverdacht. Die existentiellen bzw. angeborenen Rechte der Personen – Leben, Leib und Fortbewegungsfreiheit – stehen so verstanden also unter einen Gesamtnutzenvorbehalt: Die Bevorzugung und der Verlust eigener angeborenen Rechte werden letztendlich Sache der Allgemeinheit. Die Herausforderung, der es sich zu stellen gilt, ist aber die Konstruktion einer Theorie des entschuldigenden Notstands, die die Rechte der Personen in den Vordergrund stellt.

C. Theorie des entschuldigenden Notstands Die Theorie des entschuldigenden Notstands muss zunächst den Rechtsstoff aufarbeiten, nachdem die abstrakten grundlegenden Probleme schon dargestellt wurden. Es geht um das viel diskutierte, intrikate Verhältnis zwischen System und Problem1. Roxin hat Recht, wenn er meint, man solle nach „stoffadäquaten Lösungen“ suchen, zu denen man erst kommt, wenn man „die normativen Maßstäbe am Rechtsstoff entfaltet“ 2. Schon v. Weber hat diesen Punkt hervorgehoben: „Der Versuch einer wissenschaftlichen Erfassung dieser Fälle muß von dem hier gebotenen Material ausgehen“ 3. Es ist ein offenes System zu etablieren4. Eine schlichte Ableitung aus der Lehre irgendeines Philosophen wäre irreführend und künstlich. Der Kern des entschuldigenden Notstands lässt sich meines Erachtens durch die Bearbeitung der Fälle näher identifizieren. Konkreter: Der Analyse der Fälle entnimmt man die Gründe, warum die strafbefreiende Wirkung des entschuldigenden Notstands in manchen seltenen Fällen als so selbstverständlich erscheint. Diese Gründe sind meines Erachtens universell5. Es gibt rechtliche 1 Ausf. Schünemann, in: Schünemann (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 1 ff.; Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl., 1969, S. 277 ff.; so auch Frisch, in: Engel/Schön (Hrsg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, S. 156 ff.; über die systematische Behandlung des besonderen Teils siehe Kubiciel, Die Wissenschaft, 2013, S. 1 ff.; Roxin, Kriminalpolitik, 2. Aufl., 1973, S. 6: „Andererseits braucht man sich nur ein Strafrecht ohne Allgemeinen Teil vorzustellen, um zu erkennen, daß der Verzicht auf eine ebensowohl generalisierende wie differenzierende Verbrechenslehre zugunsten einer jeweils individuellen ,Wertung‘ unsere Wissenschaft um mehrere hundert Jahre zurückwerfen müßte, der seit Liszts Zeiten von allen Apologeten des Systems zu Recht beschworen wird.“ 2 Roxin, in: GS-Radbruch 1968, S. 260 ff., 265: „dabei bedarf es kaum der Betonung, daß auch der ,Rechtsstoff‘ nicht im Sinne einer wertfreien Faktizität, sondern als eine von Sinnbezügen durchformte Gegebenheit zu verstehen ist“. 3 v. Weber, Das Notstandsproblem, 1925, S. 18. 4 So Schünemann, in: Schünemann (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 1 ff., S. 8 ff.; Achenbach, Historische, 1974, S. 230, der die Aufgabe bezeichnet als eine „am Rechtsstoff orientierten und von der Rechtsidee geleiteten zugleich kritischen und richtungsweisenden Analyse der Gesetzgebung und der Rechtsprechung“. 5 Diesen Begriff entnehme ich der Studie von Greco, Strafprozesstheorie, 2015, S. 4 ff., 101 ff., 116 ff.; Silva-Sánchez, in: Silva-Sánchez, Perspectivas sobre la política criminal moderna, 1998, S. 21 ff.; siehe den interessanten Aufsatz von Hruschka, GA 1981, S. 237 ff.; siehe auch Pawlik, Das Unrecht, 2012, S. 22; schon Binding, Lehrbuch BT I, 2. Aufl., 1902, S. 1; zur früheren Diskussion über die „Natur der Sache“ siehe Hirsch, ZStW 116 (2004), S. 835 ff., 847 ff.; differenzierter Ansatz bei Stratenwerth, „Natur der Sache“, 1957, S. 5 ff., 20; dazu siehe Hoyer, Strafrechtsdogmatik, 1997, S. 1 ff., 4 ff.; zur Geschichte der Kategorie der „Natur der Sache“ siehe den Klassiker

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C. Theorie des entschuldigenden Notstands

Gründe, die kein vernünftiger Gesetzgeber der Welt außer Acht lassen sollte6. Die Konstruktion dieser Theorie sieht sich aber vor große Schwierigkeiten gestellt: Die Fälle sind selten und weisen viele Komplikationen auf. Stratenwerth hat einmal hervorgehoben: „Es scheint danach, als gebe es keine ,Theorie‘, aus der sich die Regelung des entschuldigenden Notstandes in allen ihren Einzelheiten ableiten ließe“ 7. Auch Hellmuth Mayer hat erhebliche Zweifel angemeldet, was die Möglichkeit einer abschließenden gesetzgeberischen Systematisierung der Notstandsdogmatik anbelangt: „Selbst wenn ein schlecht beratener Gesetzgeber eine allgemeine Notstandsformel einführen sollte, so würde diese erst durch die Kasuistik, das Fallrecht der Praxis, Leben gewinnen“ 8. In der Tat, das Problem des entschuldigenden Notstands bereitet der Strafrechtsdogmatik erhebliche Schwierigkeiten. Einen einheitlichen tragfähigen Gesichtspunkt scheint es auf den ersten Blick nicht zu geben. In der Diskussion droht der Dogmatik, dass sie entweder ihren Systemanspruch schlicht aufgeben müsste – stattdessen wären anhand einer offenen kasuistischen Argumentation Lösungen für den Einzelfall zu erarbeiten – oder sich mit der Proklamierung einer unscharfen Größe begnügen müsste, die als „regulatives“ Prinzip fungieren müsste, was bekanntermaßen in Gestalt der Etablierung der Unzumutbarkeitsidee oder der Nachsichtsausübung tatsächlich eingetreten ist. Die kasuistische Betrachtung verhütet „die Gefahr einseitiger Festlegung auf gewisse Gruppen von Erscheinungsformen. Aber sie beschwört andererseits die Gefahr herauf, daß die Betrachtung sich in Einzeluntersuchungen verliert und daß darüber die leitenden Gesichtspunkte vernachlässigt werden, sehr zum Schaden einer möglichst auf das Grundsätzliche zustrebenden Notstandsregelung“ 9. Früher fand die Diskussion tatsächlich eher kasuistisch oder jedenfalls „lokalisiert“ statt10. Der in der CCC vorgesehene Notdiebstahl bildete das Zentrum der Diskussion11. Im Zuge der von Radbruch, Die Natur der Sache, S. 5 ff. (ursprünglich veröffentlicht 1948, in FSLaun). 6 Hruschka, Strafrecht, 2. Aufl., 1988, S. XX: „Der Leser sollte nicht glauben, die Grammatik der Sprache des Strafrechts sei für den Gesetzgeber verfügbar. Das Gegenteil ist der Fall. Das Gesetz setzt diese Grammatik voraus, genauso wie es die Fragen voraussetzt, auf die es eine Antwort gibt. Auch die Fragen sind für das Gesetz nicht verfügbar. Es kann lediglich eine Antwort auf sie geben.“ 7 Statenwerth/Kuhlen, Strafrecht, AT, 5. Aufl., 2011, § 10, Rn. 103, S. 185. 8 H. Mayer, Strafrecht AT, 1953, S. 190. 9 Henkel, Der Notstand, 1931, S. 32. 10 Dazu siehe Neubecker, Zwang und Notstand I, 1910, S. 188 ff., 205 ff.; v. Hippel, Deutsches Strafrecht II, 1930, S. 216: bis 1800 sei der Notstand nicht abschließend geregelt gewesen, „sondern weiterem Ermessen im Einzelfalle Raum lassend“. v. Hippel erwähnt das Beispiel des Codex Bavaricus 1751, dessen § 33 verweise „bei ,Not und Furcht‘ auf Strafmilderung, oder gar’ Nachsehen der Strafe nach näherer Prüfung des Falles“. 11 Bernsmann, „Entschuldigung“, 1989, S. 254 ff., 258; darüber schon Stammler, Darstellung, 1878, S. 28 ff.; siehe auch geschichtlich Renzikowski, in: von Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Solidarität im Strafrecht, 2013, S. 13 ff., 16 ff.

I. Die Aufarbeitung des Rechtsstoffes: Die Phänomenologie der Fälle

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Verallgemeinerung der Notstandsdogmatik ist jedoch die Fokussierung auf den Lebensnotstand zu diagnostizieren. Die echte Gefahrgemeinschaft wird als „historischer Prototyp des Notstandes“ betrachtet12 – eine vollständige Theorie muss aber auch begründen, warum auch der Leibes- und Freiheitsnotstand entschuldigend wirken sollen. Die Unverzichtbarkeit des Systems der Straftat gilt als „Paradepferd“ der deutschen Strafrechtsdogmatik13. Denn: „Von der Theorie hängt die Praxis ab; um so sicherer und vollkommener ist diese, je bestimmter und vollendeter jene ist“ 14.

I. Die Aufarbeitung des Rechtsstoffes: Die Phänomenologie der Fälle Die Entschuldigungsgründe „verdanken ihre Qualifikation offensichtlich einer phänomenologischen Betrachtung“, so die Worte Frischs15. Die Fälle des entschuldigenden Notstands sind glücklicherweise kein Alltagsphänomen und gelten als „unpraktisch“ 16, was selbstverständlich der Materie nicht die Relevanz nimmt17. Der „historische Typus des entschuldigenden Notstands“ ist, wie Müssig zu Recht hervorhebt, „die plötzlich hereinbrechende Katastrophe“ 18. Ein erster Schritt in Richtung der Bestimmung des Kerns des entschuldigenden Notstands ist die Suche nach materiellen Gesichtspunkten, die den Fällen zu entnehmen sind. Man sollte bei der Analyse der Phänomenologie der Fälle in zwei Schritten vorgehen. Es lohnt sich zunächst die in der Literatur am meisten diskutierten 12

Bernsmann, „Entschuldigung“, 1989, S. 43. Schünemann, ZStW 126 (2014), S. 1 ff.; auch Schünemann, Coimbra-Symposium für Claus Roxin 1995, S. 149 ff., 173: „Aber das ist kein Mangel, sondern gerade das Signum vollsaftiger Jurisprudenz, die weder im toten Buchstaben der Begriffsjurisprudenz erstarrt noch im Dickicht der rivalisierenden Topoi untertaucht, sondern ihren Wissenschaftsanspruch zu behaupten und zu erfüllen weiß.“ 14 Feuerbach, Revision I, 1799, S. XV. 15 Frisch, GA 2017, S. 364 ff., 380; zur Phänomenologie der Fälle siehe auch Neumann, in: Dubber/Hörnle, Criminal Law, 2014, S. 583 ff. 16 So Janka, Der strafrechtliche Notstand, 1878, S. III; so auch v. Weber, Das Notstandsproblem, 1925, S. 1: Entscheidungen seien selten, das Interesse der Wissenschaft bleibe aber hoch. 17 So auch Henkel, Der Notstand, 1931, S. 1: „Es wäre zwar gewiß sehr übertrieben, wenn man das Notstandsproblem jede erhebliche praktische Bedeutung mit dem Hinweis darauf absprechen wollte, daß Notstandsfälle vor unseren Strafgerichten recht selten zur Sprache kommen“; siehe schon Janka, Der strafrechtliche Notstand, 1878, S. III: „Wie aber der Mediciner eine komplicirte Krankheitsform deshalb geringer nicht achtet, weil sie eine seltene ist, so wird auch der Jurist einem Gegenstande geringere Aufmerksamkeit nicht zuwenden, weil derselbe in die Raritätenkammer der Praxis gehören möchte“; so auch Maurach, Kritik der Notstandslehre, 1935, S. 86: „Der Streit um die dogmatische Natur dieser Vertypung [. . .] entspricht ihrer Ausnahmenatur.“ 18 Müssig-MK, § 35, 3. Aufl., 2017, Rn. 2. 13

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C. Theorie des entschuldigenden Notstands

Fälle zu analysieren, um schon daraus einige Schlussfolgerungen zu ziehen. Es gibt in der Lehre mindesten zwei Paradebeispiele des entschuldigenden Notstands, nämlich das Brett des Karneades – das „Wunderbrett der Schule“ 19 – und den Mignonette-Fall (s. u. 1.)20. Der erste ist ein bekannter fiktiver Fall21. Beim zweiten geht es um einen Fall, der tatsächlich in England abgeurteilt wurde22. Diese Fälle, selbst wenn man behauptet wollte, sie seien „praxisfern“, gelten als Symbole und Träger wichtiger materieller Gesichtspunkte23. Es gibt aber weitere Fälle, mit denen sich die Rechtsprechung auseinandersetzen muss. Man denke an den materiell Unschuldigen, der zu Unrecht zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt wird, obwohl er alle prozessualen Rechtsbehelfe ausgeschöpft hat und das Strafverfahren den rechtsstaatlichen Anforderungen genügte24. In den 1960er-Jahren sind einige Urteile über die Ausführung verbrecherischer Befehle ergangen, zum Beispiel zu Massenerschießungen. Diese politisch brisanten Fälle haben auch der Notstandsdogmatik erheblich Kopfschmerzen bereitet25. Bekannt sind außerdem die Nötigungsnotstandsfälle, vor allem bei Aussagedelikten, und auch die Familientyrannen-Fälle 26. Zuletzt hat sich eine Diskussion über Dilemmata entfacht, welche bei Gefahrenlagen im Straßenverkehr im Zusammenhang mit (selbstfahrenden) Kraftfahrzeugen entstehen, die die Notstandsdogmatik vor neue Herausforderungen stellen27. Es empfiehlt sich deswegen, eine kritische 19

Fichte, Grundlage des Naturrechts (1796), Band III, 1971, S. 252. Andere Fälle der Geschichte bei Bernsmann, „Entschuldigung“, S. 44 ff.; Momsen, Die Zumutbarkeit, 2006, S. 31 ff.; siehe auch Otto, Pflichtenkollision, 3. Aufl., 1978, S. 1 ff. 21 Ausf. Küper, Immanuel Kant, 1999, S. 29 ff.; Aichele, JRE 11 (2003), S. 245 ff., 267; „Die Faszination des Bretts des Karneades für die Rechtsphilosophie“ rührt nach Aichele „wohl zu einem Gutteil von genau dieser vehementen Attacke auf naturrechtliche Vorstellungen her, die stringent aus den doch auf den ersten Blick durchaus dem common sense konvenierenden stoischen Prämissen folgt“; siehe auch Hruschka, GA 1991, S. 1 ff. 22 Siehe Simpson, Cannibalism, 1984, S. 271: ein Fall mit „an assured legal immortality“. 23 So richtig Renzikowski, JRE 11 (2003), S. 269 ff. 24 Darüber ausf. Watzka, Die Zumutbarkeit, 1967, S. 144 ff., 148, der argumentiert, „daß die staatliche Strafgewalt, soweit sie in formell ordnungsmäßigem Rahmen bestätigt wird, im Interesse der Autorität der Rechtspflege im Bewußtsein der Rechtsgemeinschaft und auch des Schutzes der Exekutivorgane unbedingte Respektierung verlangt“; das sei aber anders, wenn ein „offenbar willkürliches Urteil“ vorliege: „Das Notstandsprinzip verdient uneingeschränkte Anerkennung in Fällen, in denen sich der Staat durch Setzung von offensichtlich willkürlichen Strafnormen oder Zulassung evident rechtswidriger Vollstreckungsmaßnahmen seiner grundsätzlich unantastbaren Autorität begibt, insbesondere dann, wenn sich der von solchen Willkürakten Betroffene diesen gerade durch Eingriffe in die Sicherheit einer nur scheinbaren Rechtspflege entzieht“; siehe auch Kuhnt, Pflichten, 1966, S. 74 ff.; Lugert, Zu den erhöht Gefahrtragungspflichtigen, 1991, S. 19 f.; Müssig, MK-§ 35, 3. Aufl., 2017, Rn. 67. 25 BGH NJW 1964, 730 ff. 26 Statt aller siehe Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl., § 22, Rn. 1 ff. 27 Siehe Engländer, ZIS 2016, S. 608 ff. 20

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Darstellung vor allem der sehr strengen deutschen Rechtsprechung durchzuführen, um einige Fixpunkte der Diskussion festzustellen, die eine gute Theorie des entschuldigenden Notstands zur Kenntnis nehmen muss (s. u. 2.). Das Ziel ist also nicht eine umfassende Darstellung der deutschen Rechtsprechung28, sondern die Identifizierung von Fixpunkten, die für die Konstruktion der eigenen Meinung maßgeblich sein sollen. 1. Brett des Karneades und Mignonette-Fall als Symbole Das Brett des Karneades ist das berühmteste Lebensnotstandsbeispiel der Strafrechtsgeschichte29: Zwei Schiffbrüchige sind in Lebensgefahr und nur eine Planke steht als Rettungsmittel zur Verfügung; die Planke trägt aber nur eine Person; ein Schiffbrüchiger rettet sich daher auf Kosten des anderen. Das Beispiel wird dem griechischen Philosophen Karneades zugerechnet und hat Konjunktur spätestens seit einer Darstellung von Laktanz30. Als klassische Quellen des Beispiels gelten ferner De officiis von Cicero und vor allem ein Beitrag Pufendorfs31. Nach Pufendorf ist die Handlung im Lebensnotstand „gestattet“ 32: „So ist es auch, wenn ich mich beim Schiffbruch eines Brettes bemächtigt habe, das nur einen tragen kann. Wer dann heranschwimmt, um sich auch über das Brett zu werfen, stürzt mich und zugleich sich selbst ins Verderben.“ 33 Es gab damals keine hochentwickelte Notstandslehre, unter die ein Fall des Lebensnotstands subsumiert werden konnte. Die Vorgehensweise war umgekehrt: Man suchte an28

Ein Überblick in Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl., § 22, Rn. 1 ff. „Ihre literarische Bedeutung kann kaum überschätzt werden“, Koriath, JA 1998, S. 250 ff. 30 Siehe Hruschka, GA 1991, S. 1 ff., 2; dieses Beispiel hatte auch Kant vor Augen: „Es kann nämlich kein Strafgesetz geben, welches demjenigen den Tod zuerkennte, der im Schiffbruche, mit einem andern in gleicher Lebensgefahr schwebend, diesen von dem Brette, worauf er sich gerettet hat, wegstieße, um sich selbst zu retten“, Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1977, S. 343. 31 Ausf. Aichele, JRE 11 (2003), S. 245 ff., 247 ff.; Pufendorf hat „den entscheidenden Anstoß“ für die weitere Diskussion gegeben: Hruschka, GA 1991, S. 1 ff., 2.; über den Einfluss von Pufendorf siehe Küper, in: Erler/Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Band 3, 1984, S. 1064 ff., 1066: Das von Pufendorf in die Diskussion eingeführte ,Brett des Karneades‘ gehört seitdem zu den Schulbeispielen der Notstandslehre“; siehe auch Simonson, ZStW (5) 1885, S. 367 ff., 380. 32 Pufendorf erklärt, dies sei nicht so zu verstehen, „daß man das Gesetz unmittelbar verletzen und ein Verbrechen begehen kann. Vielmehr spricht angesichts des Wohlwollens des Gesetzgebers und bei Betrachtung der Natur des Menschen eine Vermutung dafür, daß ein Fall von Notstand von einem allgemein gehaltenen Gesetz nicht umfaßt wird“, Pufendorf, Über die Pflicht, Erstes Buch, 5. Kapitel, § 18, 1994, S. 68; siehe auch Eb. Schmidt, Einführung, 3. Aufl., 1965, S. 170: „Ob also Notwehr oder Notstand die Tat ,rechtfertigen‘ oder ,entschuldigen‘, wird von Pufendorf nicht geprüft“; Welzel, Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs, 1958, S. 90: „Die Streitfrage, ob der Notstand ein Notrecht gibt oder ein Schuldausschließungsgrund ist, will Pufendorf nicht entscheiden.“ 33 Pufendorf, Über die Pflicht, Erstes Buch, 5. Kapitel, § 21, 1994, S. 69. 29

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hand des Brettes des Karneades nach verallgemeinerbaren Rechtsprinzipien34. Der Fall kennt viele Variationen35, etwa, dass eine Person schon auf der Planke liegt; man könnte aber auch annehmen, dass einer der Schiffbrüchigen der Kapitän des Schiffes war usw. Auch der Mignonette-Fall (Regina v. Dudley and Stephens)36, der 1884 in England verhandelt wurde, hat die Probleme des existentiellen Notstands aufgezeigt. Bemerkenswert ist, dass schon Pufendorf einen ähnlichen Fall gebildet hatte: Sieben schiffbrüchige Engländer (!) losten unter sich um ihr Leben; der Verlierer wurde von den anderen aufgezehrt37. Nach dem Schiffbruch der Yacht Mignonette fanden sich Kapitän Dudley, Stephens, Brooks und der Schiffsjunge Parker aussichtlos auf hoher See in einem Rettungsboot wieder. Die Vorräte waren aufgebraucht, und so kam die Idee auf, dass jemand sterben müsse, so dass sich die anderen von seinem Blut und Körper ernähren könnten. Das von Kapitän Dudley vorgeschlagene nach Seemannsbrauch übliche Losverfahren wurde abgelehnt38. Der Schiffsjunge Parker hatte zwischenzeitlich Meerwasser getrunken, worauf sich sein Gesundheitszustand deutlich verschlechtert hatte. Die anderen Besatzungsmitglieder entschlossen sich deshalb, Parker durch einen Messerstich zu töten; zwanzig Tage nach dem Schiffbruch setzten sie dies in die Tat um. Einige Tage später wurden die drei Überlebenden gerettet39. Das englische Gericht (Queen’s Bench Division) verurteilte Dudley und Stephens – Brooks hatte an der Tötung nicht teilgenommen – wegen Mordes. Sie hätten „dem Schiffsjungen nicht nur das Leben, sondern auch die Chance, seine Errettung zu erleben, genommen“ 40. Ein entschuldigender Notstand stand dem Gericht nicht zur Verfügung und eine Rechtfertigung der Tötung konnte nicht angenommen werden. Denn „ein solcher Freispruch hätte unabsehbare Folgen für das Rechts- und Moralverständnis der Bevölkerung haben können“ 41. Das Unbehagen verblieb aber: Wie 34 Küper, Immanuel Kant, 1999, S. 32; „Lange Zeit dominiert die isoliert-kasuistische Erörterung oder Regelung einzelner Konstellationen; das Bewusstsein dafür, daß sie einem Begriff des ,N.‘ zugeordnet werden können, entwickelt sich erst spät“, Küper, in: Erler/Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Band 3, 1984, S. 1064 ff. 35 Darüber siehe Koriath, JA 1998, S. 250 ff., 251; Aichele, JRE 11 (2003), S. 245 ff., 251 ff. 36 Ausf. dazu Simpson, Cannibalism, 1984, S. IX: „no leading case in the common law is better known than that of Regina v. Dudley and Stephens“; siehe Simonson, ZStW (5) 1885, S. 367 ff. 37 Welzel, Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs, 1958, S. 91, m.w. N. 38 Über das Losverfahren in Notstandsfällen siehe schon Pufendorf, Über die Pflicht, Erstes Buch, 5. Kapitel, § 20, 1994, S. 69; siehe Fritze, Die Tötung Unschuldiger, 2004, S. 114 ff. 39 Ausf. siehe Ziemann, ZIS 2014, S. 479 ff. 40 So Simonson, ZStW (5) 1885, S. 367 ff., 374. 41 Ziemann, ZIS 2014, S. 479 ff., 480; siehe auch Renzikowski, JRE 11 (2003), S. 269 ff., 270.

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kann man jemanden bestrafen, der sich im Lebensnotstand befand? Den Eindruck, „richtig“ gehandelt zu haben, hatte auch Dudley selbst. Bei der ersten Befragung bekannte er „without embarassment“: „The fourth man [. . .] had been killed and eaten“ 42. Letztlich brachte auch die Bevölkerung hierfür Verständnis auf. In einer Gnadenentscheidung der Königin fand man schließlich eine Kompromisslösung. Diese viel besprochenen Fälle tragen einen wichtigen Gehalt in sich, der für die Bestimmung des Kerns des entschuldigenden Notstands maßgeblich ist: Den sicheren Tod – die Existenz der Person überhaupt – darf der Staat nicht mittels der Strafe fördern. Ein Staat, der dies täte, wäre nicht bloß „unklug“, sondern ungerecht (s. o. B., IV.). Es lohnt sich nun, einen Blick auf die deutsche Rechtsprechung zu werfen. 2. Die deutsche Rechtsprechung Die deutsche Rechtsprechung geht bei der Prüfung des entschuldigenden Notstands besonders streng vor43. Über die Gründe dieser Zurückhaltung könnte man unendlich spekulieren44. So argumentiert Henkel: „Jedes weichliche Nachgeben in der Umgrenzung des Geltungsbereiches der Ausnahme muß der Rechtsordnung schaden“ 45. Deswegen ist geschichtlich zu beobachten, dass der Staat trotz der Annahme, dass einige Nothandlungen straffrei gelassen werden sollten oder müssten, den „Kreis der straflosen Notstandshandlungen“ möglichst eng ziehen wollte46. Diese zurückhaltende Vorgehensweise ist kriminalpolitisch verständlich oder wenigstens erklärbar. Denn hier geht es meist um vorsätzliche Tötungen und schwere Verletzungen unschuldiger Mitbürger; und das Verbot der Tötung Unschuldiger bildet neben dem Folterverbot, der Ablehnung der Todesstrafe usw. eine der wenigen festen Überzeugungen unserer Moralwelt47. Manchmal sind die Gründe der Zurückhaltung aber anderer Natur: Es geht um die Gefahr für rechtliche Institutionen, wie zum Beispiel die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege. Hinter dieser äußerst sorgfältigen, manchmal sogar unrealistischen Haltung der 42

Simpson, Cannibalism, 1984, S. 3. Manchmal verneint der BGH den entschuldigenden Notstand ziemlich schnell und ohne nähere Begründung, wie in der Behandlungsabbruch-Entscheidung (BGHSt 55, 191, 194). 44 Bernsmann, „Entschuldigung“, S. 3: „staatliches Entscheidungsdilemma“. 45 Henkel, Der Notstand, 1931, S. 76. 46 So v. Ferneck, Rechtswidrigkeit, Bd. II/1, 1905, S. 63: „Möglichst starr und straff müssen die Normen sein, und Ausnahmen dürfen nur zugelassen werden, wenn es unbedingt nötig ist. Denn jede Durchbrechung der Regel schädigt die Autorität des Rechts“; so auch Henkel, Der Notstand, 1931, S. 76: „Nur in möglichst engen, streng gezogenen Grenzen darf deshalb der menschlichen Schwäche Rechnung getragen, drückende Notlage berücksichtigt werden.“ 47 Paeffgen/Zabel-NK, vor § 32, 5. Aufl., Fn. 1397. 43

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Rechtsprechung – vor allem hinsichtlich der „hypertrophen Anforderungen“ bei der Prüfung der „Andersabwendbarkeit“ 48 – scheint die Idee zu stehen, dass der entschuldigende Notstand auf einen Kern reduziert werden müsse49. Bei einem im Nötigungsnotstand begangenen Meineid hat das RG seine Sorge ausdrücklich zur Sprache gebracht: „Es darf nicht verkannt werden, dass die Zubilligung des Entschuldigungsgrundes des Notstandes gegenüber einem wissentlich falschen Eid eine große Gefahr für die Rechtspflege in sich birgt, daß daher das Vorhandensein der Voraussetzungen und die Pflichtmäßigkeit des Verhaltens des Täters einer besonders strengen Prüfung unterworfen werden müssen“ 50. Die Fälle, bei denen die Rechtsordnung ihre teilweise Kapitulation erklärt, müssen in der Tat selten sein, sonst verliert das Recht seine allgemeine Kraft, das Verhalten der Menschen zu steuern. Hinter dieser Zurückhaltung stehen „verdeckte generalpräventive Überlegungen“, wie Hörnle treffend bemerkt hat, die „allerdings nicht zur Begründung einer Entschuldigung, sondern [zur] Ablehnung einer solchen“ führen51. Diese zurückhaltende Einstellung der Rechtsprechung ist klar erkennbar bei der Auslegung des Merkmals „gegenwärtige, nicht anders abwendbare Gefahr“, bei der Behandlung der Fälle der Sozialnot, bei der Interpretation der Konturen der im § 35 I 2 vorgesehenen Ausnahmeregelungen (Selbstverursachung der Gefahr und „besonderes Rechtsverhältnis“), bei der Bestimmung des Inhalts des subjektiven Entschuldigungselements und last, but not least im Verlangen einer gewissen Verhältnismäßigkeit, selbst wenn eine solche Klausel nicht ausdrücklich im Gesetz zu finden ist. § 35 verlangt wie § 34 eine gegenwärtige, nicht anders abwendbare Gefahr. Man sagt in der Regel, der Gefahrbegriff der beiden Notstände sei grundsätzlich derselbe52. Eine gewisse Intensität der zu erwartenden Rechtsgutsverletzung sei erforderlich – eine drohende geringfügige Körperverletzung stelle etwa noch keine Leibesgefahr dar53. Der Ursprung der Gefahr ist nach dem heutigen Gesetz nicht mehr maßgeblich: Die Gefahr kann entweder von Menschen (Morddrohung: RGSt 64, 30) oder Naturgewalten oder Sachen (Überschwemmung: RG 48

Krit. dazu siehe Rengier, NStZ 1984, S. 21 ff. Hirsch hebt den „Extremfall-Charakter“ des entschuldigenden Notstands hervor, Hirsch, Anm., JR 1980, 115 ff.; siehe auch Hörnle, JuS 2009, S. 873 ff., 874, m.w. N. zu den Fällen der Rechtsprechung. 50 RGSt 66, 228; auch betont in RGSt 66, 400; diese Argumentation schon bei R. Merkel, Kollision, 1895, S. 45, der die Unterschiede zwischen Meineid und Begünstigung als Beweis für die verschiedenen Präventionsgesichtspunkte sieht, die zu einer Entschuldigung führen sollten: „So ist das durch einen Meineid in Frage gestellte Interesse der Gesamtheit zu bedeutend, als daß Straffreiheit eintreten konnte, da die Ahndung der Eidesdelikte eine Grundlage sicherer Rechtspflege bildet.“ 51 Hörnle, JuS 2009, S. 873 ff., 876. 52 Statt aller Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl., § 22, Rn. 15. 53 Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl., § 22, Rn. 15. 49

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JW 1933, 700) ausgehen. Auch die Anerkennung der Figur der Dauergefahr bereitet der Rechtsprechung keine größeren Probleme54. Das Merkmal „nicht anders abwendbar“ wird in der deutschen Rechtsprechung sehr streng gehandhabt55. Beispiele gibt es viele: So liest man in OLG Hamm NJW 1976, 721: „Das Merkmal der Erforderlichkeit in einem gesetzlichen oder übergesetzlichen Notstand als Rechtfertigungs- oder Schuldausschließungsgrund ist streng auszulegen“. Auch der Bundesgerichtshof ist diesbezüglich sehr strikt, BGHSt 18, 311: „Wer sich auf Nötigungsnotstand beruft, ist nur entschuldigt, wenn er sich nach allen Kräften gewissenhaft bemüht hat, der Gefahr oder vermeintlichen Gefahr auf eine die Straftat vermeidende Weise zu entgehen, ohne einen Ausweg zu finden. Je schwerer die abgenötigte Straftat ist [. . .], um so strengere Anforderungen sind an diese Prüfung zu stellen. Der Genötigte oder vermeintlich Genötigte muß alle geistigen und körperlichen Fähigkeiten eingesetzt haben“. Bei den Haustyrannen-Fällen verlangt die Rechtsprechung, dass die Frau zunächst jegliche mögliche Hilfe Dritter sucht: BGH NStZ-RR 2006, 200: 54 „Eine solche Befürchtung besteht aber bei dem Dauerzustand einer Einsturzgefahr während der ganzen Dauer dieses Zustands und kann sich sehr wohl über Monate hin erstrecken. Wenn dann der Bedrohte aus irgendwelchen Gründen zunächst von einem Eingreifen absieht, so wird seine Abwehrhandlung, die bei sofortiger Vornahme straflos gewesen wäre, nicht dadurch strafbar, dass sie erst einige Zeit nach dem Eintritt der die Abwehr rechtfertigenden Gefahr vorgenommen wird.“ (RGSt 59, 71: RGSt 66, 100: Dauergefahr auch bei § 52, der als Unterfall des Notstandes interpretiert werden muss); „der Begriff ,Notstand‘ umfasst, schon rein sprachlich betrachtet, sowohl Zustände von längerer Dauer wie bald vorübergehende.“ (RGSt 60, 319, 321; RGSt 66, 225); „In der Verzögerung dieses Eintritts liegt an sich noch nicht seine Abwendung“ (RGSt 66, 102); „Bei Bestehen einer gegenwärtigen Dauergefahr [. . .] braucht sich sie Abwehr nicht darauf zu beschränken, den sofortigen Eintritt des Schadens zu hindern, die Gefahr also hinauszuschieben (BGH NJW 1979, 2053 ff.; so auch schon BGHSt 5, 371 ff., 375); „wenn sich die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts so verdichtet hat, dass die zum Schutz des bedrohten Rechtsgutes notwendigen Maßnahmen sofort eingeleitet werden müssen, um den Schaden sicher zu verhindern“ (BGH, NStZ-RR 2006, 200); siehe auch BGH NStZ 2003, 482 ff.; BGH GA 1967, 113. 55 Siehe auch BGHSt 2, 242 ff., 245; BGH GA 1973, 208 f.; AG Schwäbisch-Hall NJW 1997, 2765 ff.: „Die Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit ist nur dann gerechtfertigt bzw. entschuldigt, wenn eine gegenwärtige Gefahr objektiv nicht anders abwendbar ist. Auf die subjektive Gewissensentscheidung der Betroffenen kommt es nicht an. [. . .] Dennoch hat sich die Betr. der in der Beschlußformel bezeichneten Ordnungswidrigkeit schuldig gemacht. Sie war nicht durch einen rechtfertigenden Notstand gerechtfertigt oder durch einen entschuldigenden Notstand entschuldigt. Beide setzen nämlich, wie § 16 OWiG bzw. § 46 OWiG, § 35 StGB zeigen, voraus, daß eine gegenwärtige Gefahr ,nicht anders abwendbar‘ war. Diese Voraussetzung ist allein objektiv zu bestimmen und nicht subjektiv nach der Gewissensentscheidung der Betr. Hiernach wäre die Gefahr aber anders abwendbar gewesen, nämlich dadurch, daß das Kind in die nächstliegende Klinik nach H. verbracht worden wäre. Sofern die Betr. annahm, daß sie aufgrund des ärztlichen Anratens so handeln durfte und daher auch die Geschwindigkeitsbeschränkungen nicht einhalten mußte – was allerdings kaum nachvollziehbar erscheint –, so würde es sich insoweit jedenfalls nur um einen unbeachtlichen, da eindeutig vermeidbaren Erlaubnis, also einen umgekehrten Verbotsirrtum handeln. Dieser entschuldigt aber nicht.“ (2766).

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„Sie hätte polizeiliche oder gerichtliche Hilfe in Anspruch nehmen oder Zuflucht etwa in einem Frauenhaus suche können“ 56; so auch BGH NStZ 2003, 482, 483: „An die Annahme anderweitiger Abwendbarkeit der Dauergefahr sind nicht zuletzt aus normativen Gründen und zumal dann, wenn die Vernichtung des Rechtsguts Leben in Rede steht, keine allzu hohen Anforderungen zu stellen. Dem entspricht die Verpflichtung staatlicher Stellen (der Polizei, aber z. B. auch der Jugendämter) zum wirksamen Einschreiten. Danach gilt: Die von einem ,Familientyrannen‘ auf Grund seiner immer wiederkehrenden erheblichen Gewalttätigkeiten ausgehende Dauergefahr für die übrigen Familienmitglieder ist regelmäßig i. S. des § 35 Abs. 1 StGB anders abwendbar als durch die Tötung des ,Tyrannen‘, indem Hilfe Dritter, namentlich staatlicher Stellen in Anspruch genommen wird“. Auch in einem Fall gestohlener Betäubungsmittel (BGH Urteil vom 4.12.1996 – 2 StR 347/96) ist die Rechtsprechung streng verfahren: „Nach den Urteilsfeststellungen hatte der Angeklagte die Rückabwicklung eines Heroingeschäfts seines Bruders übernommen, nachdem der Bruder festgenommen worden war und ein Landsmann die Rückgabe des Heroins gefordert hatte. Der Angeklagte übergab zunächst einen Teil des von dem Bruder gebunkerten Stoffs. Der Rest, der wenige Tage später abgeholt werden sollte, wurde entwendet. Dem Angeklagten wurde daraufhin angekündigt, für jedes Kilogramm werde ein Familienmitglied getötet, wenn das Rauschgift nicht zurückgegeben werde. Aus Angst um seine Familie schlug und bedrohte er eine der von ihm des Diebstahls verdächtigten Personen mit einer geladenen Schusswaffe, um sie zur Rückgabe des Heroins oder zur Angabe seines Verbleibs zu zwingen. Die Strafkammer hat dem Angeklagten strafmildernd zugutegehalten, dass er sich bei seinem Bemühen um die Wiederbeschaffung des gestohlenen Rauschgifts aufgrund der Drohungen in einer ,nahezu unüberwindlichen Zwangslage‘ sah, die Möglichkeit eines schuldausschließenden Notstands im Sinne des § 35 StGB aber nicht erörtert. Ein Rechtsfehler kann darin nicht gesehen werden. Die Voraussetzungen des entschuldigenden Notstands haben offensichtlich nicht vorgelegen. Der Angeklagte und seine Angehörigen leben seit Jahren in Deutschland. Ihm war es zuzumuten, obrigkeitliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, um die Gefahr von seiner Familie abzuwenden. Dass dem Angeklagten dies auch bewusst war, liegt auf der Hand“. Bei einer schweren Erkrankung hatte ein Angeklagter nach 15 Jahren großer Schmerzen und Nebenwirkungen Cannabis als Medikament benutzt (KG StV 2003, 167 f.); das Instanzgericht verlangte vom Täter, er sollte zunächst versuchen, „eine Erlaubnis des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte zu erlangen“ (167)57. Weniger streng hingegen zeigte sich das Gericht in der Ent56

Siehe auch BGHSt 48, 255. Das KG hat die Begründung allerdings abglehnt und die Sache zurückverwiesen: „Das Schöffengericht ist offenbar der Meinung, dass der Angeklagte sich nur dann auf die §§ 34, 35 StGB hätte berufen können, wenn er vor Beginn der Selbstmedikation versucht hätte, dafür eine Erlaubnis des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizin57

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scheidung BGH NJW 1966, 1823 f.: „Der Schuldausschließungsgrund des § 54 StGB wird jedoch vom Schwurgericht für Mutter und Tochter deshalb verneint, weil es an der gesetzlichen Voraussetzung fehle, daß der Notstand auf andere Weise nicht zu beseitigen gewesen sei. Die Darlegungen hierzu sind nicht ausreichend, enthalten auch Rechtsfehler und Widersprüche. Was Chr. F. betrifft, so geht die Erwägung fehl, sie sei nicht dazu berufen und berechtigt gewesen, über den Kopf der Mutter hinweg einzugreifen; sie hätte sich ihrer Mutter anvertrauen und deren Zustimmung einholen müssen. Im Rahmen des § 54 StGB handelt es sich nicht darum, ob Chr. nach familienrechtlichen Grundsätzen zu ihrem Verhalten berechtigt war, sondern ob ihre rechtswidrige Tat entschuldigt ist, weil es keinen anderen Ausweg gab, sich, die Mutter und die anderen Familienangehörigen aus gegenwärtiger Leibesgefahr zu retten. Mit der Mutter hatte Chr. schon gesprochen. An ihr hatte sie keine Hilfe. Die Mutter war schwach, zermürbt und selbst hilflos. Die Behörden waren, soweit ersichtlich, trotz Vorsprache nicht energisch eingeschritten, obwohl des M. gefährliches Treiben und unmenschliches Verhalten bekannt war (vgl. dazu das bad.-württemb. Unterbringungsgesetz v. 16.5.1955, GBl. 1955, 87); möglicherweise war deshalb ein nachdrückliches Vorgehen unterblieben, weil jedermann den hünenhaften Wüterich fürchtete. Was der Polizeimeister Schl. ausgesagt hat, wird nicht mitgeteilt, insbesondere nicht kritisch gewürdigt“.58 produkte zu erlangen (UA S. 3). Das ist rechtsfehlerhaft. Den Urteilsgründen ist schon nicht zu entnehmen, dass sich der Angeklagte dieser Möglichkeit überhaupt bewusst war oder hätte bewusst sein müssen. Allein aus der Tatsache, dass er einen derartigen Antrag nach Einleitung des Ermittlungsverfahrens gestellt hat (UA S. 2), lässt sich das jedenfalls nicht herleiten. Außerdem kann eine Privatperson zur eigenen Heilbehandlung mit einer Ausnahmebewilligung ohnehin nicht rechnen, da die Erlaubnis nach § 3 Abs. 2 BtMG stets im öffentlichen Interesse liegen muss (vgl. Körner BtMG, 5. Aufl., § 3 Rdn. 30). Hätte die Behörde dem Angeklagten aber eine Erlaubnis erteilt, wäre eine Strafbarkeit nach den §§ 29 ff. BtMG auch ohne einen Rückgriff auf die §§ 34, 35 StGB entfallen. Das Schöffengericht hat somit den Anwendungsbereich dieser allgemeinen Notstandsvorschriften zu Unrecht auf den Umfang der gesetzlichen Spezialregelungen zum Umgang mit nicht verkehrsfähigen Rauschmitteln eingeengt. Die erforderlichen Feststellungen zu den Umständen, die den Angeklagten hier bewogen haben, sich bewusst über das strafbewehrte Verbot hinwegzusetzen, sind dementsprechend lückenhaft. Das Schöffengericht teilt dazu neben der Krankheit, ihren Symptomen und deren Linderung durch das Rauschgift lediglich mit, dass der Angeklagte sich nach der Lektüre eines Artikels über Cannabis als Medikament und „nach Rücksprache mit seinem Arzt“ entschlossen hatte, Marihuana zu konsumieren (UA S. 2). Offen bleibt, welches Ergebnis das Gespräch mit dem Arzt hatte, ob dem Angeklagten dabei alternative, ähnlichen Erfolg versprechende und zumutbare Behandlungsmethoden mit zugelassenen (z. B. tetrahydrocannabiolhaltigen) Arzneimitteln aufgezeigt worden waren und ob er auch anderen (fach)ärztlichen Rat eingeholt oder dies zumindest erwogen hatte. Es ist zu erwarten, dass in einer neuen Hauptverhandlung hierzu Erkenntnisse gewonnen werden können, die eine Prüfung der Voraussetzungen der §§ 34, 35 StGB auf eine tragfähigere Grundlage stellen. Der Senat hebt das angefochtene Urteil daher auf und verweist die Sache an eine andere Abteilung des Amtsgerichts – Schöffengericht – zurück (§ 354 Abs. 2 StPO).“ 58 Nicht so streng auch BGH GA 1967, 113.

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Diese strenge Handhabung des Merkmals „nicht anders abwendbare Gefahr“ kennt selbstverständlich äußerste Grenzen. Lesenswert ist dazu die Entscheidung im sogenannten Hirschfänger-Fall (BGH NStZ 1992, 487 f.59), in dem eine Person zur Beteiligung an einem Mord gezwungen wurde: „Das BezirksGer. verkennt aber, daß neben der Schwere der jeweils drohenden Rechtsgutverletzungen weitere Umstände die Anforderungen, die an die Prüfung zumutbarer Ausweichmöglichkeiten zu stellen sind, beeinflussen. In Extremfällen kann die Notwendigkeit eingehender Prüfung sogar entfallen. So ist es von wesentlicher Bedeutung, ob die konkreten Tatumstände ein sofortiges Handeln zur wirksamen Vermeidung eigener Rechtsguteinbußen erfordern oder ob dem Täter die Möglichkeit zu ruhiger Überlegung zur Verfügung steht. Auch kommt es darauf an, ob die zumutbare Anwendung milderer Mittel sich geradezu aufdrängt oder nur entfernt in Betracht kommt. [. . .] Hinzu kommt, daß sich die Möglichkeit, mit den Tätern zunächst über Für und Wider der abgenötigten Handlung zu diskutieren, als zumutbarer 59 BGH NStZ 1992, 487: „In der Nacht zum 14.4.1990 suchte der 37 Jahre alte, homosexuell veranlagte Angekl. gemeinsam mit zwei jungen Männern, die er kurz zuvor in einem Scene-Lokal kennengelernt hatte, den ihm seit mehreren Jahren bekannten, ebenfalls homosexuellen, 60 Jahre alten Martin P in dessen Wohnung auf. P, der dem wohnungslosen Angekl. vorübergehend Unterkunft gewährte, hatte darum gebeten, ihm einen Sexualpartner mitzubringen. Nachdem P und die beiden dem Angekl. nur mit den Vornamen Holger und Ulf bekannten Männer, die ebenso wie der Angekl. bereits im Verlauf des Tages erhebliche Mengen Alkohol getrunken hatten, etwa 1 Stunde lang gemeinsam gezecht hatten, entschloß man sich zur Nachtruhe. Der stark angetrunkene Angekl. hatte sich bereits zu Bett gelegt, als er aus dem benachbarten Zimmer einen Hilferuf des P hörte. Durch die geöffnete Tür beobachtete er, wie Holger dem P, dem vor diesem Zeitpunkt bereits eine ca. 8 cm tiefe Stichwunde in den Rücken und eine Gesichtsverletzung beigebracht worden waren, mit einem Hirschfänger in den Bauch stach. Ulf drückte währenddessen das Opfer auf ein Sofa nieder und stieß ihm ein Bajonett in den Bauch. Durch ein von dem Angekl. verursachtes Geräusch wurden die Täter auf ihn aufmerksam und kamen auf ihn zu. Holger hielt dabei den Hirschfänger mit der Klinge nach vorn in der Hand. Dem verängstigten Angekl., der das Gefühl hatte, ,als nächster dran zu sein‘, gelang es, die Männer in ein Gespräch zu verwickeln, in dem er darum bat, ihm nichts zu tun. Er sei ,einer von ihnen‘, ebenfalls vorbestraft und fremd in der Gegend; er habe nichts gesehen. Holger, dem er zum Beweis der Richtigkeit seiner Angaben seinen Ausweis zeigte, nahm ihm die Brieftasche samt darin befindlichen 570 Mark ab und versicherte dem Angekl., es werde ihm nichts geschehen, wenn er sich ruhig verhalte. Währenddessen stand Ulf vor dem Angekl. und wippte mit dem Bajonett, was der Angekl. als Drohgebärde empfand. Ulf gab sich mit den Beteuerungen des Angekl. nicht zufrieden, sondern verlangte von ihm, ,zur Sicherheit, damit er nicht zur Polizei gehe, müsse er mitmachen‘. Er forderte den Angekl. auf, gemeinsam mit Holger das Opfer mit einem um dessen Hals gelegten feuchten Handtuch zu würgen. Als der Angekl. zögerte, dieser Aufforderung nachzukommen, drängte Ulf, der neben dem Angekl. stand: ,Nun mach schon‘. Darauf zog der Angekl., der ,nur das tun wollte, was von ihm verlangt wurde, damit ihm nichts passierte‘, mindestens 1/2 Minuten mit bedingtem Tötungsvorsatz an dem Handtuch. Er ließ von P ab, als er dachte, ,daß es reiche‘ und, daß er seine Pflicht getan habe‘. Als P kurze Zeit später noch einmal stöhnte, drosselten ihn Holger und Ulf erneut mit dem Tuch. Anschließend durchsuchten sie die Wohnung und entwendeten einige Wertgegenstände des Opfers. An der Beute wurde der Angekl. in geringem Umfang beteiligt. Am nächsten Tag benachrichtigte er die Polizei.“

I. Die Aufarbeitung des Rechtsstoffes: Die Phänomenologie der Fälle

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Ausweg keineswegs in einem Maße aufdrängte, wie dies von dem BezirksGer. offenbar angenommen worden ist. Zwar war es dem Angekl. gelungen, Ulf und Holger durch die Verwicklung in ein Gespräch davon abzuhalten, sofort auch gegen ihn tätlich zu werden. Dies deutete darauf hin, daß die jungen Männer die Tötung des Angekl. nicht als einzigen Ausweg sahen, sich seines Schweigens zu vergewissern, sondern daß bei ihnen die Bereitschaft bestand, hierfür auch andere Methoden in Betracht zu ziehen. Damit war für den Angekl. die akute Lebensgefahr jedoch weder endgültig beseitigt noch auch nur vorübergehend gebannt. Vielmehr mußte er jederzeit damit rechnen, daß zumindest Ulf, der die Verwicklung des Angekl. in das Tötungsdelikt als Alternative dazu ansah, den Angekl. durch Tötung zum Schweigen zu bringen, sich auf keine weiteren Diskussionen einlassen, sondern bei der geringsten Weigerung gegen ihn aggressiv werden würde. Dies lag um so näher, als auch Ulf erheblich alkoholisiert war und die Gefahr von Kurzschlußreaktionen bestand. Der Versuch, sich durch beschwichtigendes Reden der Leistung des von ihm geforderten Tatbeitrages zu entziehen, stellte daher für den Angekl. ein erhebliches Risiko dar.“ Eine akute Lebensgefahr soll niemand auf sich nehmen. Im sehr bekannten Spanner-Fall (BGH NJW 1979, 2053)60 hat der Bundesgerichtshof die Nichtandersabwendbarkeit weniger streng ausgelegt: „Der als ,Spanner‘ bezeichnete Eindringling hatte durch siebenmaliges nächtliches Erscheinen in der Wohnung und im Garten des Angekl., insbesondere durch seine auffallende Hartnäckigkeit und Unverfrorenheit, eine fortdauernde Gefährdung der Freiheit der Eheleute geschaffen, die bereits in drastischen Maßnahmen (nächtliche Alarmbereitschaft, Verzicht auf abendlichen Ausgang, Einschränkung ärztlicher Hausbesuche) ihren Ausdruck fand. Zu Recht charakterisiert die Revision die Situation als ,Terror, dem das gesamte Familienleben unterlag‘. Die Gefährdung konnte zum vollständigen Verlust der häuslichen Bewegungsfreiheit führen, wenn es nicht gelang, des Eindringlings habhaft zu werden. Auf den zeitlichen Abstand zwischen den einzelnen Gefährdungen kommt es nicht entscheidend an, wenn feststeht, daß das bedrohte Rechtsgut jederzeit erheblich beeinträchtigt werden kann. Unter diesen Umständen bedarf keiner Entscheidung, ob für die sexuelle Selbstbestimmung der Ehefrau des Angekl. und damit für deren Freiheit oder für ihre körperliche Unversehrtheit eine weitere Dauergefahr bestand. Die Gefahr war, weil alle anderen Maßnahmen, insbesondere die Inanspruchnahme der Polizei und sogar die Abgabe eines Schreckschusses, ohne Erfolg blieben, nicht anders abwendbar. Die Gefährdung auch weiterhin auf sich zu nehmen, war den Eheleuten [. . .] nicht zuzumuten.“ Dieser Fall ist allerdings kein gutes Beispiel, denn vieles spricht dafür, dass hier ein rechtfertigender Notstand zu prüfen gewesen wäre, was nicht geschehen ist61. 60

Siehe Hruschka, NJW 1980, S. 21 ff. Siehe die Anm. von Hassemer, JuS 1980, S. 69 f. Hirsch meint, dass hier keine Beeinträchtigung der Freiheit im Sinne des § 35 vorliege und schon der § 34 geprüft – 61

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C. Theorie des entschuldigenden Notstands

Ein interessantes Beispiel ist die sogenannte Sozialnot. Sie entschuldigt nach der Rechtsprechung grundsätzlich nicht. Auch diese Fälle kennen jedoch äußerste Grenzen. Man lese den Leitsatz von OLG Kiel SJZ 1947, 674 f.: „Notstand kann auch vorliegen, wenn die Gefahr dem ganzen Volke gleichmäßig droht. Eine Berufung auf § 54 StGB ist daher auch gegenüber Wirtschaftsbestimmungen möglich.“ Der Sachverhalt wird in der Entscheidung folgendermaßen beschrieben: „Eine Frau hatte im Juli 1946 7,5 kg Fleisch ohne Bezugschein erworben. Die Strafkammer hat die Angekl. von der Anklage des Verbrauchsregelungsvergehens freigesprochen, weil sie in Notstand gehandelt habe und zur Begründung insbesondere ausgeführt: Die Angekl. habe 8 eigene Kinder im Alter von 2 bis 13 Jahren, ein Pflegekind und ihre Mutter zu versorgen, aber weder Kartoffeln noch sonst zusätzliche Lebensmittel oder die Möglichkeit zu ihrer Beschaffung gehabt. Die damals auf Karten gewährten Rationen hätten zum Leben aber nicht genügt, wie gerichtsbekannt, auch vom Ausland anerkannt sei, und sich daraus ergebe, daß Anstaltsinsassen mehr Lebensmittel zugeteilt würden“ (674). Das Gericht widersprach der allgemein in der damaligen Rechtsprechung vertretenen Auffassung, dass in den Fällen von Sozialnot, „wo die Gefahr dem ganzen Volke gleichmäßig drohe, [. . .] es keine Berufung auf Notstand [gäbe], weil sonst jede Ordnung aufgelöst würde“. Vielmehr berechtigten „auch gemeinsame Gefahren (Schiffkatastrophen usw.) den Einzelnen zu straflosen Notstandseingriffen“ (675). Weiter ist zu lesen: „Denn bei echter Lebensgefahr macht der Notstand die Verschaffung von Lebensmitteln sogar bei Raub oder Totschlag straflos“ (675). Der große Strafrechtslehrer von Weber hat eine Anmerkung zu dieser interessanten Entscheidung geschrieben. Er meint, hier sei das Gericht auf eine unlösbare Kollision gestoßen: „Die strenge Durchsetzung der Verbrauchsregelung würde für weite Kreise das Todesurteil bedeuten. Gestattet man ihnen aber die Berufung auf Notstand, so führt das zur Auflösung der wirtschaftlichen Ordnung und zum Ende jeder Zuteilung“ 62. Die Pflicht zum Erdulden der Not gehe aber nicht bis zum „sicheren Opfer des Lebens“ 63. Auch bei der Auslegung der Konturen der Ausnahmeregelung (§ 35 I 2) wird die Zurückhaltung der Rechtsprechung ersichtlich. Deutlich ist dies bei einem interessanten Fall der Tötung eines Grenzpostens an der Berliner Mauer durch einen Fluchtwilligen (BGH NJW 2000, 307964) hervorgetreten. Hier stand die und bejaht – werden sollte, Hirsch, JR 1980, 115 ff.; siehe dazu Wilenmann, Freiheitsdistribution, S. 417 ff. 62 v. Weber, SJZ 1947, 675 f. 63 v. Weber, SJZ 1947, 675 f. 64 BGH NJW 2000, 3079: „Am 18.6.1962 erschoss der Angekl. den Bruder des Nebenkl., der in Berlin (Ost) als Grenzposten an der Berliner Mauer eingesetzt war. Der unmittelbar vor dem Mauerbau aus Berlin (Ost) ohne seine Familie geflüchtete Angekl. hatte von Berlin (West) aus einen Tunnel zu einem unmittelbar hinter der Mauer gelegenen Haus gegraben, um auf diesem Weg Familienangehörige, insbesondere seine Ehefrau und seine beiden Söhne, in den Westteil der Stadt zu schleusen. Am Tattag begab

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Auslegung des Merkmals Selbstverursachung im Vordergrund: „Auch die Voraussetzungen eines entschuldigenden Notstandes (§ 35 Abs. 1 StGB) liegen nicht vor. Freilich bestand in der Tatsituation gegenwärtige Gefahr für die Freiheit des Angekl. und für die seiner Familie. Es war ihm aber trotz der schwer erträglichen Trennungssituation für seine Familie und vor dem Hintergrund menschenrechtswidriger Versagung von Ausreisefreiheit gleichwohl zuzumuten, die Gefahr im Blick auf die Bedeutung des Lebensrechts des betroffenen Grenzpostens insoweit hinzunehmen, als er sie nicht durch dessen vorsätzliche Tötung abwenden durfte (§ 35 Abs. 1 Satz 2 StGB). Von einer solchen Tötung musste er Abstand nehmen, nachdem er sich mit schussbereiter Waffe in Kenntnis aller Risiken in die vorhergesehene Konfliktsituation mit einem bewaffneten Grenzposten begeben hatte“ 65. Beachtenswert ist auch ein Fall des Schwangerschaftsabbruchs, wo das Reichsgericht die Selbstverursachung im Beischlaf erblickte, welcher „in Kenntnis der nahen Möglichkeit des Eintritts einer Schwangerschaft und der durch eine erneute Entbindung verursachten Lebensgefahr der Ehefrau freiwillig von beiden Ehegatten vollzogen worden ist; die Gefahr, aus der die B. durch Abtreibung gerettet werden sollte, war daher durch Fahrlässigkeit von ihnen verursacht, also nicht unverschuldet“ 66. Bei der Auslegung des Merkmales „besonderes Rechtsverhältnis“ verhält es sich ebenso. Etwa im Fall eines Täters, der als Informant für den Verfassungsschutz zur Terrorismusbekämpfung tätig war67 (OLG Oldenburg NJW 1988, sich der Angekl. durch den fertiggestellten Tunnel in den Ostteil Berlins. Als sich die Fluchtwilligen unter seiner Führung anschickten, das Haus, zu dem der Tunnel führte, zu betreten, forderte der in dem Grenzabschnitt eingesetzte bewaffnete Grenzposten sie auf, stehenzubleiben und sich auszuweisen. Er bestand auf der Kontrolle, obgleich der Angekl. ihn mit dem Vorwand, sie wollten einen Geburtstagsbesuch machen, davon abzuhalten suchte. Da der Angekl. ein Scheitern der Flucht und eine Festnahme der Beteiligten verhindern wollte, erschoss er in dieser Situation den ahnungslosen Grenzposten mit einer einsatzbereit mitgeführten Schusswaffe. Anschließend gelang ihm und seinen Begleitern die Flucht durch den Tunnel.“ 65 Renzikowski meint, dass der Täter hier einen zureichenden Grund gehabt habe, sich in Gefahr zu begeben: „Im vorliegenden Fall kann ja gerade keine Rede davon sein, daß der Angeklagte die Konfrontation mit den Grenzposten gesucht hätte“, Renzikowski, JR 2001, S. 468 ff., 471. Denn es habe sich um ein Grenzregime gehandelt, das als menschenrechtswidrig galt. 66 Siehe auch RGSt 36, 335; „Verschuldung des Notstands, die die Straflosigkeit ausschließt, ist zunächst nicht identisch mit Verschuldung der Gefahr, insofern ersterer Begriff nicht nur den Eintritt der Gefahr, sondern auch den Umstand in sich schließt, daß die Rettung aus ihr nur mittels Eingriffes in fremde Rechte möglich sein werde.“; „[. . .] bei voller Würdigung dessen den Anschauungen auch der gesunden Moral im Volksbewußtsein widersprechen und deshalb unbillig erscheinen, im Verhältnisse zwischen Ehegatten [. . .] unterschiedslos die höchsten Anforderungen an deren Willenskraft zu stellen“ (RGSt 36, 342); siehe auch RGSt 54, 340). 67 OLG Oldenburg NJW 1988, 3217: „Der Angekl., der freiwillig als Informant für den Verfassungsschutz zur Terrorismusbekämpfung tätig war, trug eine Waffe mit sich. Er war vom AG wegen Vergehens gegen das Waffengesetz in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Monaten mit Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt

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C. Theorie des entschuldigenden Notstands

3217): „Die Annahme des LG, der Angekl. habe im ersten Fall (Pistole Walther) nach § 35 StGB ohne Schuld gehandelt, stützt sich auf eine lückenhafte Gesetzesanwendung und ist damit rechtsfehlerhaft. Zwar ist nach den getroffenen Feststellungen des LG gegen die Bejahung einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für das Leben des Angekl. aus Rechtsgründen nichts zu erinnern. Das LG hat es aber unterlassen zu prüfen, ob ein entschuldigender Notstand nicht gleichwohl ausgeschlossen war, weil dem Angekl. nach den Umständen zuzumuten war, die Gefahr hinzunehmen (§ 35 Abs. 1 Satz 2 StGB). Zu einer solchen Prüfung gab der Sachverhalt auch Anlaß. Denn der Angekl. hatte durch seinen festgestellten freiwilligen Einsatz als Informant des Verfassungsschutzes bei der Terrorismusbekämpfung die Gefahr für sein Leben selbst verursacht. Es liegt mithin ein Sachverhalt vor, wie ihn das Gesetz als Beispielsfall für die mögliche Zumutbarkeit einer Gefahr anführt. Das RevGer. kann die unterlassene Abwägung, die dem Tatrichter vorbehalten ist, nicht selbst vornehmen, selbst wenn weitere tatsächliche Feststellungen hierzu nicht zu erwarten sind.“ Lesenswert ist auch die Anwendung von Notstandsvorschriften auf Polizeiangehörige bei der Ausführung verbrecherischer Befehle (BGH NJW 1964, 730): „Die Bereitschaft zum Lebensopfer, die Angehörigen bestimmter Berufe wie Polizeivollzugsbeamten, Feuerwehrmännern, Seeleuten, Ärzten und Krankenpflegern abverlangt wird, bezieht sich nur auf den Bereich, der mit der jeweiligen Berufstätigkeit in notwendiger Weise verbundenen typischen Gefahren; über diesen Rahmen hinaus gelten aber auch die allgemeinen Notstandsbestimmungen“ 68. Auch bei der Bestimmung des Inhalts des subjektiven Entschuldigungselements zeigt sich deutlich, dass hier im Vergleich zum subjektiven Rechtfertigungselement mehr verlangt wird. Man lese zum Beispiel BGHSt 3, 271, 276: „Es ist nicht der Sinn des § 52 StGB, daß sich alle diejenigen, die unter der Herrschaft des Nationalsozialismus Jahre hindurch bereitwillig dem Verbrechen und dem Terror [. . .] gedient haben, der Verantwortung durch den bloßen Hinweis sollen entziehen können, sie hätten für Leib oder Leben fürchten müssen, wenn sie ihre weitere Mitwirkung bei verbrecherischen Handlungen versagt hätten.“ Zuletzt ist das Erfordernis einer gewissen Verhältnismäßigkeit zu erörtern, ein ungeschriebenes Merkmal, das strafbarkeitsausdehnend wirkt: „Vielmehr führt worden. Auf seine Berufung hat ihn das LG freigesprochen, weil er im ersten Fall (Pistole Walther) nach § 35 StGB ohne Schuld gehandelt und im zweiten Fall (Revolver Smith & Wesson) keine Waffe erworben oder geführt habe.“ 68 BGH NJW 1964, 731: „Der Polizeivollzugsbeamte muß unter Umständen sein Leben einsetzen, wenn er an der Festnahme eines bewaffneten Verbrechers oder an der Niederschlagung eines Aufruhrs beteiligt ist. Die Lage, in der sich die Angeklagten befanden, läßt sich damit nicht vergleichen. Denn ihnen drohte die Lebensgefahr nicht im Zusammenhang mit einer weisungsgemäß vorgenommenen, im Rahmen ihrer normalen Berufsausübung liegenden Diensthandlung, sondern sie erwuchs ihnen daraus, daß eine gänzlich aus dem normalen Rahmen fallende von hoher Hand zur Mitwirkung bei einem Verbrechen befohlen wurden.“

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der den Notstandsvorschriften gemeinsame Grundgedanke in gewisser Hinsicht zu einer einengenden Auslegung, nämlich zu der Forderung einer gewissen Verhältnismäßigkeit zwischen der Schwere der Gefahr und der Schwere der in der Abwehrhandlung gelegenen Rechtsgüterverletzung.“ (RGSt 66, 399). Dieses Merkmal ist in § 35 nicht ausdrücklich vorgesehen und ist auch keinesfalls selbstverständlich, scheint aber strukturell zum Kern des entschuldigenden Notstands zu gehören. Es scheint so zu sein, dass in der Wirklichkeit der Fälle materielle Strukturen existieren, denen die juristischen Begriffe Rechnung tragen müssen. 3. Zwischenfazit Die Aufarbeitung des Rechtsstoffs führt zu einem leitenden Gesichtspunkt: Die Entschuldigung im Notstand soll auf einen Kern reduziert werden. Das zentrale Merkmal der Notstandssituation ist die existentielle Selbstbetroffenheit der Person und nicht die Bestimmung eines für die Gesellschaft vorteilhaften Ergebnisses einer Güterabwägung, mit der sich sodann alle Bürger aus Solidaritätsgründen abfinden müssten. Dies erklärt, weshalb ein beschränkter Katalog von Rechtsgütern vorgesehen ist und zugleich, warum die Notstandshilfe auf nahestehende Personen limitiert wird69. Die personale Betroffenheit des Täters ist maßgeblich, dieser Gesichtspunkt steht nicht unter dem Vorbehalt einer Abwägung. Diese Selbstbetroffenheit muss also in sich so stark sein, dass sie auch dem Notstandsopfer gegenüber maßgeblich wird. Die existentielle Gefahr ist absolut zu verstehen. Deswegen geht die Rechtsprechung sehr vorsichtig vor: Belanglosigkeiten oder nur unerhebliche Beeinträchtigungen scheiden von vorherein aus. Es bestehe schon keine Notstandslage70. Wie Müssig formuliert, darf die Gefahr nicht als alltägliche erscheinen, sondern muss „als außergewöhnliche i. S. einer zufälligen (existentiellen) Betroffenheit wahrgenommen werden“. Auch das Merkmal „nicht anders abwendbar“ wird streng ausgelegt. Hier ist grundsätzlich vor allem die fehlende Verfügbarkeit staatlicher Hilfe zu fordern. Die Selbstbetroffenheit muss zugleich unbedingt durch Zufall entstanden sein: Der Täter darf keine normative Zuständigkeit für die Notlage haben, was vor allem die Zurückhaltung bei der Auslegung der Ausnahmeregelungen erklärt. All diese Erwägungen kennen aber eine Grenze: den sicheren Tod der Person. Deswegen sind das Brett des Karneades und der Mignonette-Fall Symbole der äußersten Grenze der Unzumutbarkeit im abendländischen Rechtsdenken: „Unter keinen Umständen darf dem Täter von Rechts wegen abverlangt werden, sich dem sicheren Tod aus-

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Siehe Neumann-NK, § 35, 5. Aufl., Rn. 2a. Neumann-NK, § 35, 5. Aufl., Rn. 9; für eine „drastische Begrenzung“ des § 35 Silva-Sánchez, in: FS-Hruschka, 2005, S. 681 ff., 693 ff.; früher bereits v. Alberti, Gefährdung, 1903, S. 9, der eine „erhebliche Gefahrlage“ verlangte. 70

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zuliefern, wenn er die Lebensgefahr auf einen anderen abwälzen kann“ 71, auch nicht bei Sozialnot oder wenn der Täter die Notlage zu vertreten hat. Hier stoßen die Präventionsüberlegungen an ihre Grenzen. Die Person ist existentiell betroffen. Kein Staat darf diese Person bestrafen. So weit, so gut. Aber: Wenn dieser Grad der Selbstbetroffenheit erreicht wird, dann ist es unzureichend, zu behaupten, hier werde lediglich Nachsicht geübt. Denn damit behauptet man zugleich, dass es theoretisch legitimierbar wäre, einen Täter in solch existentieller Not zu bestrafen, das heißt: die Befolgung der Norm auf Kosten seiner Lebensgrundlage zu verlangen. Das kann nicht richtig sein.

II. Die normativen Fragen: Drei Anforderungen an die Theorie des entschuldigenden Notstands Die zu beantwortende Frage ist: wie soll man aus dieser Aufarbeitung des Rechtsstoffes eine normative Theorie konstruieren, die die Schwäche der auf der Idee der Nachsichtsausübung basierten herrschenden Meinung behebt und imstande ist, die Straflosigkeit des existentiellen Notstands allen involvierten Personen zu erklären und ihnen gegenüber zu begründen? Es sind meines Erachtens drei kumulative Anforderungen an die Theorie des entschuldigenden Notstands zu richten. Allgemein formuliert ist die hiesige Aufgabe so zu beschreiben: Eine Theorie des entschuldigenden Notstands soll die positivrechtliche deutsche Regelung friktionsfrei erklären (u. 1.), ihre Richtigkeit allen involvierten Personen – Täter und Opfer – gegenüber begründen (u. 2.) und es zuletzt auch ermöglichen, zwischen ihr und der Regelung des rechtfertigenden Notstands zu differenzieren (3.). Diese drei Anforderungen will ich sodann an die in der Lehre existenten Ansätze richten. Die Herausforderung ist es, eine Lösung zu finden, die ohne Instrumentalisierung auskommt. 1. Erklärungspotenzial: Erklärung der komplexen Struktur des § 35 StGB Die Struktur des § 35 erschwert in deutlicher Weise die dogmatischen Bemühungen der Wissenschaft. Einige denken, dass das Gesetz eigentlich „zu weit gefaßt“ sei72. Das klingt merkwürdig, sobald man beginnt, andere Rechtsordnungen zu analysieren. Einige ausländische Rechtsordnungen kennen sogar überhaupt keine spezifische Vorschrift des entschuldigenden Notstands, wie die spanische, und befürworten eher eine allgemeinere und schwer zu kontrollierende Handha71 Puppe, Strafrecht AT, 3. Aufl., S. 226; so auch Renzikowski, JRE 11 (2003), S. 269 ff., 283: „Der Staat, der auch gegenüber seinen Funktionären zum Schutz ihrer bürgerlichen Existenz verpflichtet ist, darf sie nicht mit dem Mittel des Rechtszwangs in den Tod treiben, ohne sich in Widerspruch zu seinem Zweck zu setzen.“ 72 Köhler, Strafrecht AT, 1997, S. 337.

II. Die normativen Fragen

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bung des Problems73. Das portugiesische Strafgesetzbuch (Art. 35o porStGB74) kennt eine spezifische Vorschrift, die umfassender als die deutsche daherkommt: Auch die Ehre ist explizit im Rechtsgutskatalog aufgeführt und die Zumutbarkeitsklausel ist allgemeiner gefasst („soweit dem Täter nicht zugemutet werden könnte, ein anderes Verhalten vorzunehmen“), außerdem besteht eine ausdrückliche Regel, die die analoge Erweiterung des Rechtsgutskatalogs autorisiert. Auch in der Schweiz (Art. 18 chStGB75) fällt der Rechtsgutskatalog umfassender aus und bezieht Ehre und Vermögen ein; zudem wird die Notstandshilfe personal nicht beschränkt – es ist kein „institutionalisiertes Näheverhältnis“ erforderlich – dieser Gesichtspunkt wird von der Rechtsprechung allerdings auf Ebene der Zumutbarkeitsklausel (Art. 18 II chStGB) berücksichtigt76. Was niemand bestreitet, ist die Tatsache, dass die deutsche Vorschrift sehr komplex ist. Die erste unverzichtbare Mission einer guten Theorie des entschuldigenden Notstands ist deshalb, diese Vorschrift so plausibel wie möglich zu erklären77. Denn die entschuldigende Kraft des § 35 I 1 gilt nicht fort, „soweit dem Täter nach den Umständen, namentlich weil er die Gefahr selbst verursacht hat oder weil er in einem besonderen Rechtsverhältnis stand, zugemutet werden konnte, die Gefahr hinzunehmen“ (§ 35 I 2). Außerdem hat der Gesetzgeber in § 35 II eine bemerkenswerte besondere Irrtumsregelung getroffen. Die diesbezügliche Flut von Theorien in der deutschen Diskussion beruht vor allem auf der Notwendigkeit, die komplexe Ausnahmeregelung des § 35 I 2 und zugleich die Irrtumsregelung des § 35 II zu erklären. Hefermehl hat durchaus Recht, wenn er meint, dass das Verständnis der Rückausnahme den Schlüssel zum Verständnis des Rechtsgrundes des entschuldigenden Notstands bilde78. So 73

Dazu siehe Luzón Peña, Lecciones, 3. Aufl., S. 547 f. „Art. 35o Estado de necessidade desculpante. – 1 – Age sem culpa quem praticar um facto ilícito adequado a afastar um perigo actual, e não removível de outro modo, que ameace a vida, a integridade física, a honra ou a liberdade do agente ou de terceiro, quando não for razoável exigir-lhe segundo as circunstâncias do caso, comportamento diferente. – 2 – Se o perigo ameaçar interesses jurídicos diferentes dos referidos no número anterior, e se verificarem os restantes pressupostos ali mencionados, pode a pena ser especialmente atenuada ou, excepcionalmente, o agente ser dispensado de pena.“ 75 „Art. 18. (1) Wer eine mit Strafe bedrohte Tat begeht, um sich oder eine andere Person aus einer unmittelbaren, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leib, Leben, Freiheit, Ehre, Vermögen oder andere hochwertige Güter zu retten, wird milder bestraft, wenn ihm zuzumuten war, das gefährdete Gut preiszugeben. (2) War dem Täter nicht zuzumuten, das gefährdete Gut preiszugeben, so handelt er nicht schuldhaft.“ 76 Siehe Coninx, JRE 22 (2014), S. 117 ff., 120 ff. 77 Roxin, in: FS-Yamanaka 2017, S. 467 ff., 479: „Denn die Aufgabe des Interpreten ist es, die im Gesetzestext enthaltenen legislatorischen Einschätzungen und Zielsetzungen so plausibel zu erklären wie möglich.“ 78 Hefermehl, Der verursachte entschuldigende Notstand, 1980, S. 75; so auch Lugert, Zu den erhöht Gefahrtragungspflichtigen, 1991, S. 90 ff. 74

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hat man einer psychologisierenden Erklärung des entschuldigenden Notstands entgegengehalten, sie erkläre die Ausnahmeregelung nicht79. Eine gute Theorie muss also auch aufzeigen, warum trotz der existentiellen Notlage, die in vielen Fällen das eigene Leben des Täters kosten kann, dieser manchmal bestraft wird, nämlich wenn er die Gefahr selbst verursacht hat (§ 35 I 2 Alt. 1) oder in einem besonderen Rechtsverhältnis steht (§ 35 I 2 Alt. 2) oder wenn er in vermeidbarer Weise über die Notstandsumstände geirrt hat (§ 35 II). Eine überzeugende Theorie muss Erklärungspotenzial aufweisen80. Mit anderen Worten: Sie muss ohne Friktionen oder künstliche Konstruktionen erklären, warum die nicht anders abwendbare Gefahr für die in § 35 genannten Rechtsgüter – Leben, Leib und Freiheit – nicht immer entschuldigend wirkt und zugleich, warum der Irrtum über Notstandsumstände den Vorsatz nicht ausschließt. Symptomatisch ist zu beobachten, dass Paeffgen/Zabel zurecht anerkennen, dass keiner der existenten Erklärungsansätze „alle Aspekte der völligen Straffreistellung und ihrer Rückausnahmen friktionsfrei zu erklären“ vermag, vor allem, weil es sich hier um Fälle von „typisierender gesetzgeberischer Problembewältigung [handele], in der, um ein an sich plausibles Prinzip herum, Einbeziehungen und Ausnahmen, abgelöst von empirischen wie von stringenten normativen Prämissen statuiert wurden“; nur um sodann in der nächsten Zeile resignierend zu behaupten, dass der herrschenden Lehre der doppelten Schuldminderung im Ergebnis doch zu folgen sei, weil sie „die meisten Problemfelder mit einer hinreichenden Erklärung“ abdecke81. Vielleicht liegt hier der Grund der bestehenden dogmatischen Unsicherheiten in der Literatur. Denn je mehr man sich der Unrechtsausschlusslösung oder der Unverbietbarkeitsthese annähert, desto konsequenter scheint zum Beispiel eine Fahrlässigkeitslösung beim Irrtum über die Umstände des entschuldigenden Notstands zu sein. Wenn man aber eine gnadenähnliche Lösung oder einen Strafausschluss außerhalb der traditionellen Kategorien befürwortet, dann bleibt schon unverständlich, wieso man dem Irrtum über die entschuldigenden Umstände überhaupt Relevanz beimisst, wie übrigens bereits Goldschmidt in seiner grundlegenden Schrift bemerkte: „Wäre der Notstand wirklich bloßer persönlicher Strafausschließungsgrund, so wäre z. B. ein Irrtum über die ihn begründenden Tatumstände richtiger Ansicht nach ganz unerheblich“ 82. Die Platzierung des entschuldigenden Notstands zieht auch Konsequenzen für die Erklärung der im Gesetz vorgesehenen Ausnahmen nach sich, namentlich für die Fälle der Hinnahme der Gefahr. Diejenigen, die vertreten, der entschuldigende Notstand sei kein ex79 Siehe Lerman, ZStW 127 (2015), S. 284 ff., 285 ff., 288, nach welchem diese Schwierigkeit an den „philosophischen Grundpfeilern des entschuldigen Notstandes“ rüttelt. 80 Über das Erklärungspotenzial einer Theorie als Kriterium deren Tragfähigkeit Greco, GA 2009, S. 636 ff., S. 648 ff.; Kuhn, The Essential Tension, 1977, S. 320 ff. 81 Paeffgen/Zabel-NK, § vor 32, 5. Aufl., Rn. 252. 82 Goldschmidt, Der Notstand, ein Schuldproblem, 1913, S. 8.

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klusives Schuldproblem, sondern wirke zugleich unrechtsmindernd – wie die herrschende sogenannte doppelte Schuldminderungslehre –, behaupten, die Unrechtsminderung bleibe aus, wenn der Täter die Notlage selbstverursacht habe oder wenn ihm eine Gefahrtragungspflicht zukomme; dann solle die Entschuldigung nicht eintreten (s. u. C., V., e)). Die These dagegen, wonach die Notstandshandlung unverboten sei und kein Unrecht verkörpere, hat Schwierigkeiten zu erklären, wieso der Täter bestraft wird, wenn er die Notlage selbst verursacht hat: Strafe ohne Unrechtsbegehung? Es überrascht also nicht, wenn Autoren wie T. Zimmermann diese Bestrafung anhand der Konstruktion eines Vorverschuldens zu untermauern versuchen83. Eine Theorie, die all diese Fragen unbeantwortet lässt, ist entweder unbefriedigend oder muss notwendigerweise behaupten, dass der komplexe deutsche § 35 schlicht falsch sei. Ich kenne aber keinen Autoren, der § 35 für vollkommen falsch oder sogar verfassungswidrig hält. 2. Begründungspotenzial: Rechtfertigung der Strafe gegenüber dem Täter bzw. Rechtfertigung der Straffreiheit gegenüber dem Opfer Die Rücknahme der Strafandrohung ist zugleich begründungsbedürftig. Wenn man sich mit dem Erklärungspotenzial einer juristischen Theorie begnügt, läuft man Gefahr, naiven und mangelhaften Gesetzpositivismus zu betreiben. Denn eine nackte unbegründete Entscheidung des Gesetzgebers im Sinne der einen oder anderen Lösung ist nur eine rohe Tatsache, die immer noch einer normativen Untermauerung harrt. Es ist also zu hinterfragen, ob § 35 nicht nur erklärbar, sondern auch richtig ist. Die Theorie muss also begründen, warum der Täter, der beispielsweise zwei unschuldige Menschen absichtlich getötet hat, um sich zu retten, nicht zu bestrafen ist. Die Frage ist nun: wem gegenüber? Hier ist die hiesige methodische Vorgehensweise zu vergegenwärtigen, wonach die Begründung je nach ihrem Destinatär anders ausfallen muss. Zunächst kommt die Gesellschaft oder die Allgemeinheit als möglicher Destinatär einer Begründung in Betracht. Bei der Bestrafung konkreter Personen ist aber die Perspektive der Allgemeinheit von sekundärer Bedeutung: Sie kommt erst dann zum Tragen, wenn man vorher festgestellt hat, dass keine der involvierten Personen instrumentalisiert worden ist. Es ist klar, dass man die Strafe als Institution auch gegenüber der Gesellschaft rechtfertigen muss – die Gesellschaft ist es, die letztendlich die Kosten ihrer Vollstreckung trägt. Diese Rechtfertigung setzt aber voraus, dass die Rechte der Personen respektiert wurden – hier werden die Vorteile der oben genannten methodischen Vorgehensweise klar. Die Rechtsordnung hat auf der Ebene des Unrechts bereits endgültig festgestellt, dass die 83

T. Zimmermann, Rettungstötungen, 2009, S. 243 ff.

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Handlung des Täters allgemein rechtswidrig ist. Innerhalb des Unrechtsbereichs können individuelle Rechte ausnahmsweise „sozialisiert“ werden, wie zum Beispiel beim rechtfertigenden Notstand: Mein Vermögen schulde ich unter gewissen Umständen der Gesellschaft, namentlich wenn die Voraussetzungen des § 34 erfüllt sind. Bei existentiellen Rechten verhält es sich aber ganz anders. Es liegt auf der Hand, dass dem unschuldigen Opfer keine starke Duldungspflicht abverlangt werden darf 84. Sonst würde die Rechtsordnung ein „schrankenloses Herrschaftsrecht über alle fremden Rechtsgüter“ gewähren85. Die Solidaritätspflicht der Bürger endet spätestens dort, wo ihre Autonomie bzw. Menschenwürde angetastet wird86. Das heißt: Der Allgemeinheit gegenüber hat der Staat schon eine genügende Erklärung geleistet87, so dass keine weiteren gesellschaftsbezogenen Argumente als Begründung der Straflosigkeit des entschuldigenden Notstands eingeführt werden müssen. Es fehlt aber noch immer eine Erklärung dem Täter sowie dem Opfer gegenüber. Vor allem ist die Bestrafung des Täters trotz der existentiellen Notlage – also im Falle der Selbstverursachung der Gefahrenlage, bei der Existenz besonderer Rechtsverhältnisse oder wegen der allgemeinen Zumutbarkeitsklausel (§ 35 I 2) – ihm gegenüber erklärungsbedürftig; dies scheint eigentlich unbestritten zu sein, wobei schon an dieser Stelle zu sagen ist, dass diese Selbstverständlichkeit von der herrschenden Meinung nicht wirklich ernst genommen wird. Die „primäre Funktion“ der sogenannten Strafbegründungsschuld liegt richtigerweise „in der Begründung bzw. dem Ausschluß der Strafe gegenüber dem einzelnen Täter“ 88. Diese Rechtfertigung muss daher dem Täter 84 Hirsch, in: FS-Bockelmann 1979, S. 89 ff., S. 105: „Daß jemand das Leben eines unbeteiligten Dritten opfert, um eine Gefahr für das eigene Leben abzuwenden, ist für die Rechtsordnung kein Anlaß, sich ,zurückzuziehen‘ und den Betroffenen ohne rechtlichen Schutz zu lassen.“ 85 Beling, Grundzüge, 11. Aufl., 1930, S. 32; so auch die schöne Formulierung von Hirsch, in: FS-Bockelmann 1979, S. 89 ff., 109: „Die Beurteilung als rechtswidrig und nur entschuldigt ist notwendig, weil hier jeder der in Gefahr geratenen Menschen weiterhin als Person unter dem Schutz der Rechtsordnung steht.“ 86 Wilenmann, Freiheitsdistribution, 2014, S. 33: „Niemand darf fremde Autonomiebereiche in Anspruch nehmen, es sei denn, es kann eine Solidaritätspflicht zur Duldung begründet werden“; Robles hat dazu einen interessanten und weiterführenden Ansatz vertreten, Robles, in: FS-Wolter 2013, S. 439 ff. Er meint, man solle die Duldungspflichten nicht als ein „Alles oder Nichts“ verstehen. Diese Pflichten seien auch abstufbar und hingen vor allem von der Verantwortlichkeit bzw. Zuständigkeit des Eingriffsopfers ab: „Der Eingriff, den der Betroffene in seiner Sphäre erleidet, ist Ausdruck seiner eigenen organisatorischen Freiheit“ (S. 443). Wenn die Verantwortlichkeit des Opfers abnehme, dann verliere auch die Duldungspflicht ihre Intensität, „so dass nur noch die Verletzung von Gütern möglich ist, die eindeutig von geringerer Bedeutung sind“ (S. 443). Außer im Falle echten defensiven Notstands dürfe dem Opfer keinesfalls abverlangt werden, „Verluste von existentieller Bedeutung hinzunehmen“ (S. 443). 87 Hruschka, NJW 1980, S. 21 ff., S. 23: „Die Frage der Entschuldigung ist im Prinzip nur für den je einzelnen Angeklagten, die Frage der Rechtfertigung dagegen ist für die Rechtsgemeinschaft als ganze relevant.“ 88 Achenbach, Historische, 1974, S. 4; so auch Hörnle, Straftheorien, 2011, S. 45 ff.

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gegenüber begründen, warum gerade er trotz der existentiellen Notlage Strafe verdient. Die Herausforderung ist, eben diese Begründung zu leisten, ohne den Täter zu instrumentalisieren. Wenn man zum Beispiel das Argument vorbringt, der Täter werde bestraft, weil die Konsequenzen einer Straflosigkeit sozial unerträglich wären, dann ist zu hinterfragen, ob die auf der Makroebene erfolgenden Wirkungen einer möglichen Straffreiheit durch den Täter zu kontrollieren sind. Denn sonst wird der Täter wegen Faktoren bestraft, die er nicht in der Hand hat und auch nicht haben kann: Wie könnte der Täter die „Sozialverträglichkeit“ seiner eigenen Bestrafung kontrollieren? Dass hier der Verdacht einer Verletzung des Schuldprinzips besteht, liegt auf der Hand. Schwieriger ist die Notwendigkeit einer Erklärung der Nichtbestrafung des Täters dem Opfer gegenüber zu begründen89. Regelmäßig ist beim Notstand „die Rettung des einen die Ursache der Verletzung des anderen“ 90. Die Besonderheit des entschuldigenden Notstands ist eben der Verlust existentieller Rechte seitens des Opfers. Der opferzentrierte Ansatz ist bekanntlich für die Rechtswidrigkeit maßgeblich: Die Statuierung einer Duldungspflicht bedarf ohne Weiteres einer Begründung gegenüber dem Opfer. Es scheint aber so zu sein, dass bei der Schuld lediglich eine akteurzentrierte Perspektive maßgeblich sein sollte. Damit hätte das Opfer nichts zu tun. So sagt Coninx zum Beispiel: „eine akteurzentrierte Perspektive ist im Hinblick auf die subjektive Zwangslage des Notstandstäters bedeutsam“ 91. Seit kurzem wird aber von einer Reihe von Autoren heftig diskutiert, ob das Opfer ein Recht auf die Bestrafung des Täters hat92. Auch das Bundesverfassungsgericht hat 2015 in einer Kammerentscheidung ein „Recht auf

89 Dazu siehe F. Zimmermann, Verdienst und Vergeltung, 2012, S. 109 ff.: Es liege auf der Hand, dass es viele Verbrechen ohne konkrete Opfer gebe, und dass ein Schaden des Opfers keinesfalls unentbehrlich für die Verhängung der Strafe sei, so Schmidhäuser, Vom Sinn der Strafe, 2. Aufl., 2004, S. 19: „Die Strafe dagegen hat etwas Rätselhaftes. Einen Schaden setzt sie nicht voraus: verfehlt die Kugel ihr Opfer, so bestrafen wir doch wegen des versuchten Totschlags“; siehe auch Zabel, Die Ordnung, 2017, S. 595 ff. 90 R. Merkel, Kollision, 1895, S. 47. 91 Coninx, Solidaritätspflicht, 2012, S. 57 f. 92 Siehe Hassemer, in: FS-Klug, 1983, S. 217 ff.; Schünemann, NStZ 1986, S. 193 ff., 439 ff.; Reemtsma, Das Recht des Opfers, 1999, S. 5 ff.; Prittwitz, KritV – Sonderheft 2000, S. 162 ff.; Jerouschek, JZ 2000, S. 185 ff., 191, der für die Einführung eines „Unrechtsinterlokuts“ plädiert; Hörnle, JZ 2006, S. 950 ff.; Burgi, in: FS-Insensee 2007, S. 655 ff.; Lüderssen, in: FS-Hassemer 2010, S. 467 ff.; Hörnle, in: FS-Roxin 2011, S. 3 ff., 14 ff.; Hassemer/Reemtsma, Verbrechensopfer, 2012, S. 13 ff., 117 ff.; siehe auch Weigend, RW 2010, S. 39 ff., 45 ff., 57: „Dass das Opfer einer Straftat (auch) nach Genugtuung für das erlittene Unrecht strebt, ist nicht nur ein psychologisches Faktum, sondern auch von der Rechtsordnung anzuerkennen. Die Strafe dient in einem ,personalen‘ Verständnis des Strafrechts auch dazu, gegenüber dem Verletzten symbolisch zum Ausdruck zu bringen, dass ihm Unrecht widerfahren ist.“ Ein Anspruch auf die Bestrafung des Täters ist nach Weigend nur für Opfer schwerer Straftaten gegen die Person zu konstruieren.

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effektive Strafverfolgung“ anerkannt93. Die Opferperspektive wird vor allem – aber nicht nur – von den Anhängern der sogenannten personenorientierten expressiven Straftheorien vertreten94. Das Opfer muss nach diesen Ansätzen erfahren, dass das, was ihm zugestoßen ist, Unrecht war. Der Täter habe kein Recht auf die Rechtssphäre des Opfers. Das Recht müsse für das Opfer Partei ergreifen. Durch die Bestrafung des Täters solidarisiere sich das Recht – und damit die Gesellschaft – mit dem Leid des Opfers, das damit einigermaßen rehabilitiert werde: Es habe dann die Überzeugung, es lebe in einem wirklich existenten Rechtszustand, in dem die Rechtssphären der Bürger ordentlich aufgeteilt seien95. Ob diese Ansätze richtig sind, kann hier nicht ausführlich diskutiert werden. Denn die Frage, die für die hiesige Untersuchung von Bedeutung ist, wird durch die in der Diskussion über ein Bestrafungsrecht des konkreten bzw. individuellen Opfers aufgeworfenen Fragen nicht einmal tangiert96. Hier ist nicht zu problematisieren, ob das konkrete Opfer ein im Strafverfahren zu realisierendes Recht auf Bestrafung des in existentieller Notlage handelnden Täters hat, sondern warum es (und alle anderen potentiellen Opfer von Straftaten) den kompletten, ex ante durch die Strafandrohung garantierten rechtlichen Schutz der Rechtsordnung verliert97. Denn das grundsätzliche Versprechen des Staates, seine Bürger vor absichtlich begangenen Tötungshandlungen oder schweren Verletzungen zu bewahren, wird dadurch punktuell gebrochen. Dieser Gesichtspunkt wurde in der Lehre zum Teil erwähnt. So schreibt Frisch, dass Schuldelemente lediglich zur Sanktionsnorm gehörten und es hier darum

93 BVerfG JZ 2015, S. 890 ff. Der Leitsatz lautet: „Zur Möglichkeit eines Anspruchs auf effektive Strafverfolgung Dritter bei erheblichen Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, und die Freiheit der Person, bei Straftaten gegen Opfer, die sich in einem besonderen Obhutsverhältnis zur öffentlichen Hand befinden, sowie bei Delikten von Amtsträgern“; dazu siehe die Anmerkungen von Hörnle, JZ 2015, S. 893 ff. und von Gärditz, JZ 2015, S. 896 ff. Beide Autoren halten aufgrund verschiedener Argumente die Begründung der Entscheidung für nicht ausreichend bzw. oberflächlich. 94 Dazu eingehend Hörnle, Straftheorien, 2011, S. 29 ff.; Hassemer, Warum Strafe sein muss, 2009, S. 229 ff. 95 Hörnle, Straftheorien, 2011, S. 37 ff., 39: „Die Bedeutung des Unwerturteils liegt darin, dass es die Trennlinie zwischen Recht und Unrecht in präziser und detaillierter Weise, bezogen auf den Einzelfall, nachzeichnet. Dem Opfer wird bestätigt, dass ihm Unrecht geschehen ist und nicht ein Zufall oder ein Unglück sein Schicksal bestimmt hatten.“ 96 Zu dieser Frage siehe ausf. Hamel, Strafen als Sprechakt, 2009, S. 13 ff., 184 ff.; über die Mehrdeutigkeit des Opferbegriffs siehe Hörnle, Die Rolle des Opfers, JZ 2006, S. 950 ff. 97 Siehe Renzikowski, JRE 11 (2003), S. 269 ff., 277: „Das wichtigste Instrument zur Sicherung der Rechtssphären der Bürger ist das (Straf-)Recht. Der Gesetzgeber befiehlt, indem er im Gesetz ein mißbilligtes Verhalten mit einer Sanktion verknüpft“; so auch Pawlik, JRE 11 (2003), S. 287 ff., 288: Dem Opfer werde eine Form des Schutzes genommen, was „legitimationsbedürftig“ sei.

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gehe, „die Relevanz eines bestimmten Lebenssachverhalts für die Indikation und Legitimation staatlichen Strafeinsatzes festzulegen, und damit um ein primär am Erkenntnisinteresse des Rechtsanwenders orientiertes Problem (unbeschadet dessen, dass diese Frage natürlich auch für den ,kalkulierenden Täter‘ interessant ist)“.98 Auch Rudolphi sagt, dass durch den entschuldigenden Notstand das übertretene Strafgesetz „zu einer lex imperfecta degradiert“ werde99, und Silva-Sánchez behauptet: „Infolgedessen wird die Steuerungsfunktion der Verhaltensnorm erheblich schwächer, wenn sie nicht sogar ganz verschwindet. Dass das Strafrecht auf seine Steuerungsfunktion in solchen Konstellationen verzichten soll, ist – so denke ich – kontraintuitiv und bedarf deswegen einer möglichst überzeugenden Erklärung“.100 Die Rücknahme der Sanktionsnorm vor allem bei schweren vorsätzlich begangenen Straftaten ist begründungsbedürftig. Um diese Frage zu beantworten, sind einige Gedanken über den Zweck der Strafandrohung angebracht. Denn die zu liefernde Begründung steht und fällt mit der Funktion, die mit der Strafandrohung zu realisieren ist. Der Hauptzweck der Strafandrohung – besser: Strafankündigung – ist richtigerweise die Abschreckung potentieller Täter – sog. negative Generalprävention, in der traditionellen Typologie der Straftheorien. Die Idee einer Abschreckung mittels der Strafandrohung hat seit Feuerbach und seiner psychologischen Zwangstheorie Konjunktur101: Die bürgerliche Gesellschaft sei „die Vereinigung des Willens und der Kräfte Einzelner zur Garantie der wechselseitigen Freiheit Aller“ 102. Der Staat solle einen rechtlichen Zustand errichten, und „Rechtsverletzungen jeder Art widersprechen dem Staatszweck“, so dass der Staat berechtigt sei und sogar verpflichtet, „Anstalten zu treffen, wodurch Rechtsverletzungen überhaupt unmöglich gemacht werden“ 103. Ein lediglich physischer Zwang sei aber unzureichend: „Sollen daher Rechtsverletzungen überhaupt verhindert wer98

Frisch, Vorsatz und Risiko, 1983, S. 466. Rudolphi, ZStW 78 (1966), S. 67 ff., 96. 100 Silva-Sánchez, in: FS-Hruschka, 2005, S. 681 ff., 684. Siehe auch Renzikowski, JRE 11 (2003), S. 269 ff., 284. So neuerdings auch Jakobs: „Dass der Täter nicht in der Obliegenheit stand, sich auf die Gefahrenlage einzustellen, erklärt auch, warum dem Opfer der Schutz einer gegen den Täter gerichteten Strafdrohung entzogen wird: Die Personalität des Täters wird als von seiner Kreatürlichkeit überrollt dargestellt und Sinnproduktion nicht mehr erwartet [. . .] Von dem Täter hingegen, der sich auf den Konflikt einstellen musste, wird noch die Produktion von Sinn erwartet. – Die kognitive Chance, die Strafdrohung könne wirken, dürfte in beiden Fällen minimal sein (insoweit wird dem Opfer im ersten Fall nicht viel genommen und im zweiten nicht viel gegeben). Stellt man maßgeblich darauf ab [. . .], so lässt sich die Zumutbarkeit bei denjenigen Personen, die sich einstellen mussten, nicht mehr begründen“, Jakobs, System, 2012, S. 64 f. 101 Dazu siehe Altenhain, Das Anschlußdelikt, 2002, S. 326 ff. 102 Feuerbach, Lehrbuch, 14. Aufl., 1847, § 8, S. 36; schon in Feuerbach, Lehrbuch, 1. Aufl., 1801, § 9, S. 12. 103 Feuerbach, Lehrbuch, 14. Aufl., 1847, § 9, S. 37. 99

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den, so muss neben dem physischen Zwange noch ein anderer bestehen, welcher der Vollendung der Rechtsverletzung vorhergeht, und, vom Staat ausgehend, in jedem einzelnen Falle in Wirksamkeit tritt, ohne dass dazu die Erkenntnis der jetzt bevorstehenden Verletzung vorausgesetzt wird. Ein solcher Zwang kann nur ein psychologischer sein“ 104. Hierzu diene die bürgerliche Strafe: „Das von dem Staate durch ein Gesetz angedrohte und, kraft dieses Gesetzes, zuzufügende Uebel ist die bürgerliche Strafe (poena forensis). Der allgemeine Grund der Nothwendigkeit und des Daseins derselben (sowohl in dem Gesetz, als in der Ausübung desselben) ist die Nothwendigkeit der Erhaltung der wechselseitigen Freiheit Aller, durch Aufhebung des sinnlichen Antriebs zu Rechtsverletzungen“ 105. Ferrajoli hat in Italien die Theorie weiterentwickelt, im Sinne der Vermeidung der generalisierten Privatrache106. Der Grundgedanke der Theorie der negativen Generalprävention ist nämlich ein simpler: Verhinderung zukünftiger Straftaten. Hier ist zwischen dem Zweck der Strafandrohung und dem Zweck der Strafverhängung strikt zu unterscheiden. Denn die Strafverhängung kommt immer zu spät, das heißt: nach der Rechtsgutverletzung107. Eine strenge Unterscheidung zwischen dem Zweck der Strafandrohung und dem Zweck der Strafverhängung wird in der Regel in der Literatur nicht durchgeführt, obwohl sie schon bei Feuerbach sehr deutlich vorgenommen wurde108. Die Literatur hat sich lange bemüht, eine Rechtfertigung der Verhängung einer Strafe zu liefern. Die Antwort von Feuerbach ist bekannt: Die Strafzufügung ist die notwendige Bestätigung der Ernsthaftigkeit der Strafandrohung oder „die Begründung der Wirksamkeit der gesetzlichen Drohung, inwiefern ohne sie diese Drohung leer (unwirksam) sein würde“ 109. Was dem heutigen Strafrecht offensichtlich fehlt, ist aber „eine ausdiskutierte Theorie der Strafandrohung“ 110. Die Diskreditierung der psychologischen Zwangstheorie – vor allem durch die berühmten Worte Hegels, hier drohe

104 Feuerbach, Lehrbuch, 14. Aufl., 1847, § 12, S. 38; so auch schon Feuerbach, Revision I, 1799, S. 40: „der Staat muß sich solcher Mittel bedienen, durch welche es den Bürgern psychologisch unmöglich wird, zu schaden; durch welche sie bestimmt werden, keine Rechtsverletzungen zu begehen, sich zu keiner zu entschließen“. 105 Feuerbach, Lehrbuch, 14. Aufl., 1847, § 15, S. 39. 106 Ferrajoli, Diritto e ragione, 9. Aufl., S. 326 ff. 107 Dazu siehe Altenhain, Das Anschlußdelikt, 2002, S. 327 ff. 108 Feuerbach, Lehrbuch, 14. Aufl., 1847, § 15, S. 39. 109 Feuerbach, Lehrbuch, 14. Aufl., 1847, § 16, S. 39; auch Feuerbach, Revision I, 1799, S. 53: „Durch die Androhung wird niemandes Freiheit beschränkt; aber wohl durch die wirkliche Ausführung derselben“; Greco, Lebendiges, 2009, S. 420 ff., der diese These auch vertritt, allerdings mit einer anderen Argumentation, die aus einem strengen Verständnis des Gesetzlichkeitsprinzips folgt: „Das Gesetzlichkeitsprinzip kann man aber nur befolgen, wenn schon der Gesetzgeber darauf achtet, nicht mehr Strafen anzudrohen, als er fähig und bereit ist, später auch zuzufügen.“ 110 Frisch, in: FS-Schünemann 2014, S. 55 ff., 57 f.: „Die Lebenskraft des Gedankens, Zweck der Strafandrohung sei die Abschreckung potentieller Täter, ist erstaunlich.“

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man Strafe an, als ob man den Stock gegen einen Hund erhebe111 – basiert auf einem überholten, psychologisierenden Verständnis der Strafandrohungslehre. Richtig ist, dass eine zu sehr psychologisch oder empirisch begriffene Abschreckung entweder nicht rational umsetzbar ist oder gefährlich ist112. Es wäre wohl zu selbstbezogen, als Strafrechtswissenschaftler zu behaupten, Straftaten würden nur oder vor allem wegen der Existenz von rechtlichen Normen nicht begangen. Damit wird auch nicht gesagt, dass der Gesetzgeber die Höhe der Strafe ausschließlich durch abschreckungsbezogene Erwägungen determiniere. Er will dadurch außerdem feststellen, dass die Verletzungen verschiedener Rechtsgüter von unterschiedlicher Bedeutung sind und deswegen zu unterschiedlichen Bewertungen führen113. Ein Diebstahl ist milder als ein Mord zu bestrafen. Man könnte die Relevanz dieser Frage relativieren. So könnte man mit Feuerbach sagen, dass mit der Strafandrohung niemandes Rechte berührt werden114. Auch deswegen ist ein zu sehr psychologisierender Abschreckungsbegriff irreführend. Es geht nicht darum, durch die Strafandrohung eine moralische Haltung der Bürger zu erzwingen. Denn „durch Zwang darf (der Staat) dem Bürger höchstens Gründe nichtmoralischer Art vorgeben, sich rechtskonform zu verhalten“ 115. Es ist vor allem Grecos Verdienst, diese Frage überhaupt gestellt zu haben. Nach ihm sollte das liberale Strafrecht eher mit einem funktionalen Abschreckungsbegriff arbeiten116: „Abschreckung ist richtigerweise nicht psychologisch als Erregung von Furcht, sondern funktional als allgemeine Bekanntmachung von klugheitsbezogenen (und nicht moralitätsbezogenen) Gründen für rechtmäßiges Verhalten zu verstehen“ 117. Spätestens die Sanktionsnorm stelle einen Appell an den Täter dar; das gewünschte Verhalten sei mit einem Übel verknüpft, das seinerseits verhaltens111 Hegel, Rechtsphilosophie, § 99, Zusatz; auch v. Ferneck, Rechtswidrigkeit, Bd. II/1, 1905, S. 21: „Feuerbachs lediglich auf den äußeren Gesetzesbefehl gestellte Lehre träfe wörtlich zu, wenn der Gesetzgeber Menschen gegenüberstände, die, wie eine Horde von Barbaren oder, besser noch, wie wilde Tiere, lediglich von egoistischen Instinkten geleitet werden, und welche bloß äußere Gewalt im Zaum zu halten vermag“: dagegen überzeugend Altenhain, Das Anschlußdelikt, 2002, S. 329 ff. 112 Frisch, in: FS-Schünemann 2014, S. 55 ff., 59; über das Verhältnis der Abschreckung zur Proportionalitätsidee Greco, Lebendiges, 2009, S. 381 ff. 113 So Frisch, in: FS-Schünemann 2014, S. 55 ff., 63 ff.: langfristig wolle der Gesetzgeber das Rechtsbewusstsein stärken. 114 Greco, Lebendiges, 2009, S. 478 ff. 115 Greco, Lebendiges, 2009, S. 358; siehe auch Altenhain, Das Anschlußdelikt, 2002, S. 331: „Durch die Verknüpfung der Verhaltens- mit der Sanktionsnorm soll dem potentiellen Täter nicht das, sondern nur ein Motiv vermittelt werden, die Verhaltensnorm zu beachten, indem ihm gezeigt wird, welche Folgen es hat, zur Erreichung seines Ziels die Verhaltensnorm zu verletzen.“ 116 Greco, Lebendiges, 2009, S. 358 ff. 117 Greco, Lebendiges, 2009, S. 361, der eine minimale alltagstheoretische Psychologie vertritt, „wonach Gründe auch zu Motiven werden können“; diese „verträgt sich am besten mit dem von Juristen implizit vertretenen, hier aber herausgearbeiteten und begründeten Standpunkt des alltäglichen Realismus“.

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lenkend wirken solle118. Die von Hörnle vorgeschlagene Terminologie „Ankündigungsgeneralprävention“ ist meines Erachtens vorzugswürdig119. Erst die Sanktionsnorm bildet also den legitimen Gegenstand der Bestimmung des schuldhaften Verhaltens, und nicht schon die Missachtung der Verhaltensnorm. Auch die Sanktionsnorm richtet sich also an den Täter120. Diese Idee hat viele Konsequenzen (s. u. C., IV.). Zurück zum Problem der Begründung der Rücknahme der Sanktionsnorm beim entschuldigenden Notstand dem Opfer gegenüber. Kurzgefasst: Durch die Rücknahme der Strafandrohung verliert das Opfer mindestens eine letzte Chance, dass ein Grund, die Tat nicht zu begehen – die Strafe –, zum Motiv für den Täter wird. Es sei hier versucht, die von Binding sogenannte „esoterische Psychologie des Rechts“ anders zu formulieren: Das „Pflichtgebot“, sagte Binding, solle „nach dem Willen des Rechts“ als das „Motiv über alle anderen Handlungsreize im Einzelfall den Sieg davontragen“ 121. Hier wird etwas bescheidener angenommen: Das Opfer verliert durch die Rücknahme der Strafandrohung die Chance, dass die Vermeidung der Strafe als Motiv für den Täter wirkt. Es sind bezüglich dieser Problematik in der Lehre mindestens zwei Argumentationsstrategien zu finden. Man könnte mit Hörnle sagen, dass „die oberflächliche Ähnlichkeit zwischen rechtfertigendem und entschuldigendem Notstand nicht darüber hinwegtäuschen [darf], dass zwischen beiden aus der Opferperspektive ein fundamentaler Unterschied liegt“ 122. Eine Erklärung dem Opfer gegenüber sei deswegen nicht mehr erforderlich, weil es im Schuldbereich nur oder vor allem um das Verhältnis zwischen Staat und Täter gehe. Damit habe das Opfer nichts mehr zu tun. Die Einbeziehung des Opfers bedeute nicht, „dass sämtliche Bewertungsschritte, die Grundlage einer strafrechtlichen Verurteilung sind, im Verhältnis zum Opfer zu rechtfertigen sind. [. . .] Schuldeinschränkungen, die zu Straffreiheit oder einer Strafmilderung führen, werden ausschließlich im Interesse des Täters berücksichtigt. Mit der Sphäre des Opfers haben Schuldfragen nichts zu tun“ 123. Den auf den ersten Blick zu erblickenden Widerspruch zu der These Hörnles, das Opfer habe ein Recht auf die Bestrafung des Täters, könnte man relativieren; denn man hat es hier mit zwei verschiedenen Problemen zu tun, wie schon oben dargestellt wurde. Trotzdem bleibt es unleugbar ungereimt, wenn man dem Opfer einen 118 So Hörnle, Straftheorien, 2011, S. 8 ff., nach der es genügen muss, „darauf zu verweisen, dass in beschränkten Umfang eine verhaltensbeeinflussende Wirkung schon von den Strafgesetzen zu erwarten ist“, vor allem unter „disponierten Bürgern“ (S. 9 f.); ähnlich auch Altenhain, Das Anschlußdelikt, 2002, S. 326 ff.; siehe auch Mañalich, InDret 7/2013, S. 1 ff., 7 ff. 119 Hörnle, Straftheorien, 2011, S. 10 f.: „Solche Ankündigungen fungieren als Anreize, die innerhalb komplexerer Entscheidungsmechanismen eine Rolle spielen.“ 120 So auch Altenhain, Das Anschlußdelikt, 2002, S. 310, 316 ff. 121 Binding, Normen II, 2. Aufl., 1914, S. 9 f. 122 Hörnle, JuS 2009, S. 873 ff., 877. 123 Hörnle, JZ 2006, S. 951 ff., 957.

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Platz in der Straftheorie einräumt und gleichzeitig ohne nähere Erklärungen vertritt, die Opferperspektive sei im Rahmen der Entschuldigungsgründe gar nicht maßgeblich. Denn wenn nicht hier, wo sonst? Es gibt eine zweite Argumentationsstrategie: Man könnte mit Pawlik sagen, dass es trotz der Unterschiede eine Art Verwandtschaft zwischen den Notständen gebe: „bildlich gesprochen sind die normativen Ingredienzien beider Notstandsarten die gleichen, nur deren Mischungsverhältnis ist verschieden“ 124. Wenn das richtig ist, ist auch beim entschuldigenden Notstand eine Erklärung dem Opfer gegenüber erforderlich. Denn auch es muss erfahren, warum gerade es seine existentielle Lebensgrundlage zugunsten eines anderen – der unbestraft bleibt – verloren hat. Pawlik geht sogar einen Schritt weiter und versucht den entschuldigenden Notstand vor allem mit der Idee der Mitzuständigkeit des Opfers für die Konfliktlage zu erklären125. Ob die „Abwertung der rechtlichen Belange des Opfers mit dessen Anerkennung als Bürger vereinbar ist, läßt sich nur aufgrund einer Würdigung der ihr zugrundeliegenden normativen Erwägungen beurteilen, nicht aber durch die Berufung auf gesellschaftliche Befindlichkeiten“ 126. Ich halte beide extremen Positionen (zumindest in ihrer Allgemeinheit) für falsch. Das Problem ist in der Tat schwierig zu lösen. Es gibt ja gute Gründe für die Entschuldigung des Täters, wie seit jeher anerkannt ist und wie wir gleich sehen werden (u. C., IV.). Der Hauptgesichtspunkt ist meines Erachtens folgender: Die Schwächung der Rechtsposition des Opfers darf diesem gegenüber nicht ohne eine rechtliche Begründung erfolgen. Durch die Statuierung einer Entschuldigung wird allen potentiellen Opfern einer Straftat – inklusive dem konkreten Opfer – der generalpräventive Schutz der Sanktionsnorm entzogen127. Das ist vor allem von Bedeutung, wenn man wie hier den Zweck der Strafandrohung in der Abschreckung sieht, verstanden als „Bekanntmachung von klugheits- und nicht vom moralbezogenen Gründen, keine Straftaten zu begehen“ 128. Denn durch die Rücknahme der Sanktionsnorm verliert das Opfer seine letzte Chance, dass der Täter von der Straftat abgehalten wird, aus welchem Grund auch immer. Das gilt vor allem für eine Theorie, die eine Motivation des Täters nicht schon durch den 124

Pawlik, JRE 11 (2003), S. 287 ff., 305 ff. Pawlik, Das Unrecht, 2012, S. 346, 353: das Legitimationsbedürfnis bestehe hier „nicht primär gegenüber dem Täter“, sondern „gegenüber dem Opfer, dem der strafrechtliche Schutz seiner unter den Voraussetzungen des zurechnungsausschließenden Notstandes verletzten Rechtspositionen versagt wird“; Pawlik, JRE 11 (2003), S. 287 ff., 293: Der Protest des Opfers müsse gehört werden. 126 Pawlik, Das Unrecht, S. 353. 127 Silva-Sánchez, in: FS-Hruschka 2005, S. 684; Bernsmann, „Entschuldigung“, S. 255 ff.; Neumann, Zurechnung und Vorverschulden, 1985, S. 235: „Den Täter zu entschuldigen bedeutet immerhin auch, dem Opfer der Notstandstat den strafrechtlichen Schutz zu entziehen“; F. Zimmermann, Verdienst und Vergeltung, 2012, S. 146: „Die größte Beachtung schenkt man Opfern nicht, indem man ihre Verletzungen nachträglich zu heilen, sondern indem man sie zu verhindern sucht.“ 128 Greco, Lebendiges, 2009, S. 419. 125

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Normbefehl, sondern erst durch die Sanktionsandrohung erwartet129. Der Staat ist dem Opfer deswegen eine schwer zu leistende Erklärung schuldig130; denn es verliert einen rechtlichen Schutz vor schweren Straftaten gegen die Person. Rogall versucht die Notwendigkeit dieser Begründung zu relativieren, wenn er meint: „Das Einzige, was ihm verloren geht, ist die Strafbewehrung der Notstandshandlung“ 131. Empirisch ist es wirklich so, das dem Opfer nicht allzu viel genommen wird. Denn bei Menschen in existentieller Notlage „wird eine Strafdrohung wenig Einfluss auf ihr Handeln haben“ 132. Was aber hier im Vordergrund stehen muss, ist die normative Deklaration, die die Rücknahme der Strafdrohung enthält. Renzikowski hat Recht, wenn er meint, die durch die Begehung der Straftat dokumentierte Versagung des Appells an die Klugheit, zum Beispiel im Falle bewusster Inkaufnahme der Bestrafung, sei „das Schicksal jeder Rechtsnorm“ 133. Es ist durchaus zutreffend, zu behaupten, dass sich das Rechtswidrigkeitsurteil aus Gleichheitsgründen als unentbehrlich erweist. Denn „alle Betroffenen sind gleichberechtigt; keinem von ihnen kann das Recht auf Respektierung seines Lebens versagt werden“ 134. Wenn man den Kant’schen Rechtsbegriff übernimmt und die Aufgabe der Rechtsordnung in der Garantie der äußeren Freiheit durch Rechtszwang sieht135, dann leuchtet es ein zu sagen, dass die Androhung 129

Greco, Lebendiges, 2009, S. 496. Bernsmann, „Entschuldigung“, S. 255: „Pönalisiert er die Notstandshandlung, gerät er selbst in Kollision mit dem Tötungsverbot, weil er zumindest versucht, einen hypothetisch rettenden Kausalverlauf zu unterbinden; läßt er umgekehrt die Notstandshandlung straflos, verzichtet er zu Lasten des Opfers der Rettungstat darauf, das staatliche Schutzinstrumentarium (in vollem Umfang) einzusetzen.“ 131 Rogall-SK § 35, 9. Aufl., Rn. 12. 132 Roxin, in: FS-Yamanaka 2017, S. 467 ff., 476; schon Jakobs hat das richtigerweise hervorgehoben: „Die kognitive Chance, die Strafdrohung könne wirken, dürfte in beiden Fällen minimal sein“, Jakobs, System, 2012, S. 64; Rogall-SK § 35, 9. Aufl., 2017, Rn. 12: „Aber diesen Verlust sollte es verschmerzen können, wenn es richtig ist, dass der Motivationsüberdruck in der Notstandssituation nicht immer, aber doch in aller Regel zur Wirkungslosigkeit des Pflichtansinnens führt.“ 133 Renzikowski, in: FS-Yamanaka 2017, S. 186 ff., 193; das bedeutet nicht, dass das Recht nicht durch die Verbote und Gebote Verhalten steuern wollte: „Denn die Normen der Rechtsordnung wollen natürlich für soziale Zwecke kausal sein, ihre Verbote wollen abhalten, ihre Gebote wollen bestimmen“, Goldschmidt, Der Notstand, ein Schuldproblem, 1913, S. 21. Die in dieser Abhandlung vertretene These, die Sanktionsnorm diene indirekt der Bestärkung der Verhaltensnorm, hat offensichtlich eine gewisse Nähe zu der Pflichtnormtheorie Goldschmidts (s. u. C., III., 5.). Meine Formulierung ist aber nicht zu psychologisierend formuliert, wie es bei Goldschmidt der Fall war. Als gemeinsamer Nenner gilt die Funktion der Sanktions- bzw. Pflichtnorm, „ohne die jene [Rechtsnormen] in der Luft schweben, Mittel die aber verankert sind in der stärksten Macht, die es auf Erden gibt, in der psychischen Macht des Pflichtmotivs“, Goldschmidt, Der Notstand, ein Schuldproblem, 1913, S. 68. 134 Hirsch, in: FS-Bockelmann 1979, S. 89 ff., S. 109. 135 Renzikowski, in: FS-Yamanaka 2017, S. 186 ff., 194: „Der Rechtstaat ist aber keine große Erziehungsanstalt, sondern seine Aufgabe beschränkt sich auf die Garantie des Zusammenlebens seiner Bürger in Freiheit nach Gesetzen.“ 130

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bzw. Ankündigung einer Sanktion einen gesteigerten oder kompletten (straf)rechtlichen Schutz darstellt, dessen Existenzgrund unter anderem darin liegt, ein wirksames Gegengewicht zur Motivation der an dem rechtswidrigen Verhalten interessierten Bürger herzustellen136, oder wie Habermas es formuliert hat: „Das zwingende Recht belegt normative Erwartungen derart mit Sanktionsdrohungen, daß sich die Adressaten auf folgenorientierte Klugheitserwägungen beschränken dürfen“ 137. Im ersten Satz der ersten Auflage des Lehrbuchs von Feuerbach – die Passage ist in der vierzehnten Auflage nicht mehr zu finden – konnte man lesen: „Civilgesetze bestimmen Rechte der Bürger; durch Strafgesetze werden Rechte gesichert“ 138. Damit ist aber die Frage noch nicht erledigt139. Es erscheint normativ zu sparsam, wenn man sich mit dem Hinweis auf die fehlende Duldungspflicht des Opfers („das Opfer behält seine Schutzbefugnisse“) begnügt. Denn dem Opfer ist etwas Reales passiert: Es hat seine existentiellen Rechte verloren. Es muss auch erfahren, warum der Täter hier straflos handeln durfte. Diese Gründe müssen deswegen verallgemeinerbar sein: Die dem Täter gelieferte Begründung muss auch dem Opfer gegenüber Gültigkeit beanspruchen. Es sind hier zwei Ebenen zu unterscheiden, nämlich die Ebene der Kommunikation und die Ebene der Wirklichkeit. Das Unrecht hat nicht nur eine kommunikative Funktion. Richtig ist, dass die Distribution der Freiheitssphären im Unrechtsbereich auch auf der Ebene der Kommunikation erfolgt und dass durch die Straftat die Normgültigkeit im gewisser Weise infrage gestellt wird. Diese Behauptung muss man jedoch cum grano salis verstehen. Das Unrecht verkörpert zugleich ein reales Geschehen: eine Rechtsgutsverletzung. Der Staat will durch die Schaffung von Verhaltens- und Sanktionsnormen reale Rechtsgutsbeeinträchtigungen und nicht nur Störungen oder Irritationen in der normativen Struktur der Gesellschaft vermeiden140. Auch die Strafzufügung lässt sich in zwei Ebenen unterteilen, nämlich eine kommunikative und eine reale Ebene. Die Strafzufügung als Kommunikation bedeutet nichts anderes als die Bestätigung der Ernsthaftigkeit der zuvor angekündigten Strafdrohung141. Selbst wenn man die Strafe als eine Art „Antwort auf das deliktische Verhalten des Täters, das demgemäß als ,Rede‘ zu begreifen ist“ definiert, käme diese Gegenrede ohne einen Strafschmerz nicht weiter, der sich als „kognitive Untermauerung“ verstehen lässt142. 136 So die Argumentation von Renzikowski, in: FS-Yamanaka 2017, S. 186 ff., 188 ff.; es ist richtig, mit Küper zu sagen, dass der Gesetzgeber bei der Entschuldigung anders als bei der Rechtfertigung „generös“ sein dürfe, die Perspektive des Opfers aber nicht komplett außer Betracht bleiben soll, Küper, JuS 1987, S. 81 ff., 86. 137 Habermas, Faktizität und Geltung, 1998, S. 148. 138 Feuerbach, Lehrbuch, 1. Aufl., 1801, S. 1. 139 So aber Hirsch, in: FS-Bockelmann 1979, S. 89 ff., 109 ff. 140 Dieser Begriff bei Jakobs, System, 2012, S. 13 ff. 141 Dazu siehe Greco, Lebendiges, 2009, S. 420 ff. 142 Jakobs, System, 2012, S. 13, der sagt: „Da jede Tat die kognitive Untermauerung der Norm problematisch erscheinen lässt, muss der Strafschmerz dieses entstandene De-

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Die Strafe ist aber etwas Reales, nicht nur bloße Kommunikation. Strafe stellt zugleich einen „stumme[n] Realakt“ dar143. Der Strafbegriff enthält einen Strafschmerz oder eine Übelszufügung144. Schon bei Kant kann man das lesen: „Das Strafrecht ist das Recht des Befehlshabers gegen den Unterwürfigen, ihn wegen seines Verbrechens mit einem Schmerz zu belegen“ 145. Der Notstandstäter gewinnt deswegen eine Entlastung auf der Ebene der Kommunikation – die Strafandrohung stellt keinen Grund dar, die Tat nicht zu begehen – und wird danach keinen Schmerz – die Verhängung der Strafe als Übel besonderer Qualität – erleiden müssen. Das Opfer dagegen verliert sowohl einen rechtlichen Schutz als auch seine existentielle Grundlage. Es wird beim entschuldigenden Notstand also in zweierlei Hinsicht benachteiligt: Auf der kommunikativen Ebene verliert es den kompletten rechtlichen Schutz der Strafandrohung; dem Täter dagegen wird ein strafloser Handlungsspielraum gewährt; auf der realen Ebene erfährt das Opfer ein strafähnliches Leid, denn durch die Rettungshandlung des Täters wird in die existentiellen Rechte des unschuldigen Opfers eingegriffen; dem Täter wird danach aber keine Strafe zugefügt. Das einzige Risiko, welchem der Täter unterworfen ist, ist das einer erfolgreichen, innerhalb der rechtlichen Grenzen des § 32 erfolgenden Notwehr des Opfers. Diese Ungleichheit muss das Recht dem Opfer gegenüber begründen. Es ist noch klarzustellen, dass damit keineswegs die Existenz eines (durchsetzbaren) Rechts des konkreten Opfers auf die Bestrafung des Täters behauptet wird. Durch die hiesige Konstruktion entsteht weder die Gefahr einer „Emotionalisierung“ der Diskussion noch die der einseitigen Parteiergreifung des Staats zugunsten des Opfers146. Die Strafandrohung stellt den kompletten normativen Schutz aller Bürger dar. Die punktuelle Rücknahme dieser Strafandrohung durch die Entstehung einer – aus der Sicht des Gesetzgebers – Ausnahmesituation harrt deswegen einer Begründung gegenüber allen potentiellen Opfern dieser rechtwidrigen, aber eben straflosen Handlung des Täters. Die vorgebrachten Gründe müssen auch gegenüber dem Bürger, der in die Position des Opfers geraten ist, Gültigkeit beanspruchen; denn die Positionen innerhalb des Konflikts sind notwendigerweise zufällig: Wenn der Täter zuständig ist, greift die Klausel der Hinfizit ,reparieren‘ und leistet das auch, indem er eine Lage schafft, in die sich der Täter nach allgemeinem Urteil besser nicht manövriert hätte“; so schon Jakobs, Norm, 3. Aufl., 2008, S. 67: der Strafschmerz habe die Funktion, „nach einem Normbruch die Erosion der kognitiven Untermauerung der gebrochenen Norm zu verhüten“; siehe auch Hörnle, Straftheorien, 2011, S. 42, die sagt: „Auf das Element der Übelzufügung kann nicht verzichtet werden. Der Grund dafür ist, dass die Möglichkeiten begrenzt sind, notwendige Differenzierungen des Grades an Tadel mit einer nur in Worte gefassten Missbilligung auszudrücken.“ 143 Jakobs, Norm, 3. Aufl., 2008, S. 114. 144 Greco, Lebendiges, 2009, S. 274 ff. 145 Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1977, S. 452. 146 Über die emotionale Reaktion von Opfern Hörnle, JZ 2006, S. 950 ff., 953.

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nahme der Gefahr ein; wenn das Opfer für die Notlage zuständig ist, dann ist die Handlung des Täters durch den defensiven Notstand gerechtfertigt. Hier sind die allgemeinheitsbezogenen Argumente fehl am Platz. Denn die normative Schwächung des rechtlichen Schutzes durch die Benennung der dadurch erzielten gesellschaftlichen Vorteile zu begründen, hieße nichts anderes, als das Opfer zu instrumentalisieren. Auch die Behauptung, die Gesellschaft – eigentlich geht es um den durch die staatliche Rücknahme der Strafandrohung vermittelten Willen der Gesellschaft – habe Verständnis für den Täter, ist zu einseitig: Würde nicht auch das unschuldige Opfer Nachsicht verdienen? Dieses Vorgehen ist besonders einschneidend in Situationen, in denen die existentiellen Rechte einer Person auf dem Spiel stehen. Abschließend ist festzustellen: Dem unschuldigen Opfer wird ein Recht, das es als Person schon vor dem Staat besaß – andernfalls griffe § 34 ein – durch die Handlung einer Person entzogen, die unbestraft bleibt. In diesem Sinne ist Pawlik Recht zu geben, wenn er meint, die Strafrechtsordnung schulde auch demjenigen, „zu dessen Schutz die verletzte Verhaltensnorm diente“ 147, eine Erklärung, warum gerade es – das Opfer – in diesem Fall untergehen müsse: Die Erklärung, „weshalb die Innenperspektive des Notstandstäters rechtliche Relevanz für sein Opfer entfalten“ kann“ 148. Der Staat schuldet deswegen dem Opfer eine minimale Begründung – die also sicher schwächer als die dem Täter geschuldete ausfällt –, warum trotz der Entschuldigung des in Not handelnden Täters am Grundsatz der Gleichheit aller Personen festgehalten wird. Denn hier – anders als z. B. beim Notwehrexzess (§ 33) – ist das Opfer prinzipiell nicht für die Gefahrlage mitzuständig: Es ist genau wie der Täter ein Unschuldiger. Es muss auch sagen dürfen: „Immerhin bin ich kein Hund, sondern ein Mensch gleich dir“ 149. Die Sanktionsnorm knüpft an das Verhalten eine unliebsame Rechtsfolge, nämlich eine Strafe150. Der durch die Statuierung einer Sanktionsnorm garantierte gesteigerte Schutz aller potentiellen Opfer von Straftaten wird beim entschuldigenden Notstand gerade dort zurückgenommen, wo Rechte von besonderer Qualität auf dem Spiel stehen, nämlich Leib und Leben sowie die Freiheit der Personen. Diese Rechte tragen sowohl der Täter als auch das Opfer. Die besondere Qualität dieser Rechte wird im Grundgesetz hervorgehoben: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.“ (Art. 2 II GG). Hierin liegt zugleich das Problem: Der Staat fällt hier die höchstproblemati147

Pawlik, Das Unrecht, 2012, S. 354. Pawlik, JRE 11 (2003), S. 287 ff., 293. 149 Pufendorf, Über die Pflicht, Erstes Buch, 7. Kapitel, § 1, 1994, S. 78; Bernsmann, „Entschuldigung“, 1989, S. 3: „Wer hier seinem Schicksal entkommt, wird zum Schicksal für den anderen“; Momsen, Die Zumutbarkeit, 2006, S. 373: „Gleichheit der Ausgangbedingungen.“ 150 Renzikowski, in: FS-Yamanaka 2017, S. 186 ff., 188. 148

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sche Entscheidung, den Täter zu privilegieren, obwohl man annehmen muss, dass Täter und Opfer gleichermaßen vom blinden Zufall getroffen wurden. Das Opfer muss deswegen erfahren, warum der Schutz der Sanktionsnorm aufgehoben wird, wenn sich der Täter im existentiellen Notstand befindet. Mit anderen Worten: Inwieweit bleiben die in der Notlage involvierten unschuldigen Bürger trotz der Rücknahme der Sanktionsnorm gleichbehandelte Personen? Auch gegenüber dem Opfer muss der Staat also eine minimale Begründung vortragen. Diese Anforderung hat auch dogmatische Folgen, vor allem bei der Begründung der „gewissen“ Proportionalitätserfordernisse (s. u. C., IV., 3., g)). Denn niemand würde behaupten, dass triviale Leibes- und Freiheitsgefahren die Tötung Unschuldiger entschuldigungswürdig machten151. 3. Differenzierungspotenzial: Abgrenzung zum rechtfertigenden Notstand Was rechtfertigt die Existenz zweier Notstände? Der Grund und die Grenzen des rechtfertigenden Notstands sind bei der Bestimmung des Propriums des entschuldigenden Notstands überaus hilfreich. In der strafrechtlichen Literatur wird die Notwendigkeit zweier Notstände seit langer Zeit postuliert152. Die Existenz eines entschuldigenden Notstands wurde früh anerkannt. Ob dagegen Notrechte anerkannt werden sollen, war fortwährend Gegenstand von Diskussionen. Die Diskussion über die vermeintliche Existenz eines Notrechts war heftig, und das sowohl unter den Staatstheoretikern als auch unter den Strafrechtslehrern153. Es hat lange gedauert, bis sich die Anerkennung der rechtfertigenden Wirkung von aggressiven Nothandlungen etabliert hat154. Die apodiktische Ablehnung eines 151 So richtig Hörnle, JuS 2009, S. 873 ff., 878, die aber das Opfer in der Argumentation auf in meiner Sicht widersprüchliche Weise nicht einbezieht. Diese Ungereimtheit hat Hörnle meines Erachtens bemerkt, da sie sodann die Notwendigkeit der Postulierung absoluter Grenzen für die Erheblichkeit der abzuwendenden Gefahr vertritt, so dass es nicht mehr auf einen Vergleich zwischen Gefahr und angerichtetem Schaden ankäme: „Befürchtete leichte Beeinträchtigungen von körperlicher Integrität und Freiheit sind grundsätzlich nicht geeignet, eine Straftat zu entschuldigen, unabhängig davon, welche Schwere diese hatte.“ Erst ab einer existenziellen Bedrohung der Lebensführung ist also von einer Entschuldigung die Rede. 152 Dazu siehe Küper, in: Erler/Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Band 3, 1984, S. 1064 ff., 1068; siehe auch Renzikowski, in: Hilgendorf/Joedern (Hrsg.), Handbuch Rechtsphilosophie, 2017, S. 453 ff. 153 Eb. Schmidt, Einführung, 3. Aufl., 1965, S. 171, über die Naturrechtszeit: „Die Tatsache, daß der Verbrechensbegriff als solcher noch der grundsätzlichen juristischen Erfassung im ganzen und in seinen Elementen entbehrt, verhindert eine klare Antwort auf die Frage, inwieweit und unter welchen Voraussetzungen im Notstande durch die Rettungshandlung, die in Rechtsgüter anderer eingreift, innerhalb der Grenzen des Erlaubten gehandelt wird, inwieweit und unter welchen Voraussetzungen dem Täter das Nachgeben gegenüber dem Selbsterhaltungstrieb lediglich nachzusehen ist.“ 154 Denn „die Notstandsregelung verpflichtet einen an der Konfliktentstehung Unbeteiligten dazu, einige seiner Güter zugunsten eines Fremden aufzuopfern“, Pawlik, Der

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Notrechts hatte zunächst einen Siegeszug angetreten155. Die Sorge dahinter war durchaus berechtigt: Es ist keineswegs einleuchtend, dass die Rechte eines Unschuldigen unter den Vorbehalt der Nützlichkeit für Andere gestellt werden. Es kann deshalb nach Kant keine „Befugnis“ geben, „im Fall der Gefahr des Verlusts meines eigenen Lebens, einem anderen, der mir nichts zu Leide tat, das Leben zu nehmen“ 156. Eine solche Befugnis würde einen „Widerspruch der Rechtslehre mit sich selbst enthalten“ 157. Denn hier gehe es anders als bei der Notwehr um eine erlaubte Gewalttätigkeit „gegen den, der keine gegen mich ausübte“ 158. Das Notrecht, so hat Küper herausgearbeitet, sei „ohnehin, als ein vermeintes Recht, in der höchsten (physischen) Not Unrecht zu tun, ein Unding“ 159. Hier liege eine „Verwechselung der objektiven mit den subjektiven Gründen der Rechtsausübung“ vor160. Ein so gefasstes Notrecht würde letztendlich dem Kant’schen Begriff des Rechts als dem „Inbegriff der Bedingungen, unter denen [sich] die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze zusammen vereinigen lassen“ 161, zuwiderlaufen. Erst durch Hegel, der Kant „in polemischer Wendung“ 162 replizierte, wurde diese strenge Ablehnung des Notrechts überwunden163. Der Mensch – oder „das persönliche Dasein“ – „in der letzten Gefahr und in der Kollision mit dem rechtlichen Eigentum eines anderen hat ein Notrecht (nicht als Billigkeit, sondern als Recht) anzusprechen, indem auf der einen Seite die unendliche Verletzung des Daseins und darin die totale Rechtslosigkeit, auf der andern Seite nur die Verletzung eines einzelnen rechtfertigende Notstand, 2002, S. 32; siehe auch Engländer, GA 2017, S. 242 ff.; früher schon Dohna, Die Rechtswidrigkeit, 1905, S. 125 ff. 155 „Mit solcher Begründungslosigkeit seiner apodiktischen Notrechts-Reflexion enttäuscht Kant eine naheliegende Erwartung des Lesers seines ,Metaphysik der Sitten‘: nämlich die Erwartung irgendeiner ausdrücklichen oder wenigstens im Text erkennbaren Verbindung dieser Reflexion mit den in der ,Einleitung‘ zuvor entwickelten Grundprinzipien der kantischen Rechtslehre“, Küper, Immanuel Kant, 1999, S. 5; ausf. Kühnbach, Solidaritätspflichten, 2007, S. 18 ff.; siehe auch Coninx, Solidaritätspflicht, 2012, S. 7 ff.; siehe auch Pawlik, JRE 22 (2014), S. 137 ff.; Perdomo-Torres, Die Duldungspflicht, 2011, S. 11 ff., 19 ff. 156 Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1977, S. 343; Engländer, GA 2017, S. 242 ff.: Kant argumentiere nur anhand des Lebensnotstandsbeispiels, so dass man daher versuchen müsse, „die Passage „lediglich als Absage an ein Notrecht im Lebensnotstand, nicht aber an ein Notrecht generell zu deuten“; Engländer hat Recht, wenn er sagt, diese generelle Ablehnung sei nicht dieser isolierten Passage, sondern dem Rechtsbegriff zu entnehmen; siehe heute Helmers, Möglichkeit, 2016. 157 Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1977, S. 343. 158 Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1977, S. 343. 159 Siehe Küper, Immanuel Kant, 1999, S. 20, m.w. N. 160 Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1977, S. 343 f.; siehe dazu Pérez del Valle, InDret 3/2017, S. 1 ff. 161 Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1977, S. 337. 162 Bockelmann, Hegels Notstandslehre, 1935, S. 22. 163 Renzikowski meint dagegen, diese Idee sei älter als Hegel, Renzikowski, in: von Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Solidarität im Strafrecht, 2013, S. 13 ff., 32 ff.

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beschränkten Daseins der Freiheit steht, wobei zugleich das Recht als solches und die Rechtsfähigkeit des nur in diesem Eigentum Verletzten anerkannt wird“ 164. Es war vor allem die Suche nach einem monistischen Prinzip, das die zwei Notstände erklären könnte, die zu der viel beklagten Verworrenheit der Thematik geführt hat165. Die Differenzierung der Notstandsfälle war für die gesamte Schuldlehre „von wesentlicher Bedeutung“ 166. Jener Irritation liegt eine andere zugrunde, nämlich die früher fehlende Unterscheidung von Unrecht und Schuld 167. Diese Unterscheidung, „eine der bedeutendsten Sacheinsichten, die unsere Strafrechtswissenschaft in den letzten hundert Jahren erarbeitet hat“ 168, hat sich im Lauf der Zeit durchgesetzt und verdient vollständige Zustimmung. Die Grundidee ist, dass dem Unrecht und der Schuld ganz verschiedene Gedanken zugrunde liegen. Schünemann behauptet, das Unrecht habe in erster Linie mit der Sozialschädlichkeit oder mit dem rechtsgutsverletzenden Charakter einer Handlung zu tun, während die Schuld sich auf der anderen Seite eher mit der Frage der persönlichen Vorwerfbarkeit befasse169. Nach ihm sind diese zwei Bewertungsperspektiven Folge der Bestimmung der Aufgabe des Strafrechts: Wenn diese Aufgabe im „Rechtsgüterschutz durch Generalprävention“ zu erblicken sei, müsse man unbedingt zwischen zwei Perspektiven unterscheiden: Der Opferperspektive (Unwert der Tat) und der Täterperspektive (individuelle Vermeidbarkeit)170. Die Unrechtsebene nimmt die Grenzziehung um der äußeren Rechtssphären der Bürger vor, wobei hier die Rechte des Opfers im Vordergrund

164 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Band 7, § 127, S. 239 f.; ausf. hierzu Bockelmann, Hegels Notstandslehre, 1935, S. 3 ff.; ausf. auch Pawlik, Der rechtfertigende Notstand, 2002, S. 80 ff., mit einer neuen Interpretation der Thesen Hegels; Wilenmann, Freiheitsdistribution, S. 136 ff.; dazu siehe auch Kühl, in: FS-Lenckner 1998, S. 143 ff.; siehe auch Kühnbach, Solidaritätspflichten, 2007, S. 73 ff.; ferner Jakobs, in: Kubiciel/Pawlik/Seelmann, Hegels Erben?, 2017, S. 163 ff., 174 ff. 165 Küper, in: Erler/Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Band 3, 1984, S. 1064 ff., 1070; Renzikowski, in: Hilgendorf/Joedern (Hrsg.), Handbuch Rechtsphilosophie, 2017, S. 453 ff. 166 Achenbach, Historische, 1974, S. 54. 167 Dazu eingehend Greco, GA 2009, S. 636 ff.; siehe die 1867 veröffentlichte bahnbrechende zivilistische Studie von Ihering, in: Ihering, Der Geist des Rechts, 1965, S. 159 ff.; neuerdings dazu Stübinger, Notwehr-Folter, 2015, S. 275 ff.; im Kontext der Diskussion über den Notstand siehe Stübinger, ZStW 123 (2011), S. 403 ff. 168 Roxin, in: FS-Henkel, 1974, S. 171 ff. 169 Schünemann, Coimbra-Symposium für Claus Roxin 1995, S. 149 ff. 170 Schünemann, Coimbra-Symposium für Claus Roxin 1995, S. 149 ff., 159 f.: Die beiden Außenperspektiven entsprächen „der historischen und alltagssprachlichen Vorstrukturierung von Unrecht und Schuld“. Hier sei die „Elastizitätsmaxime“ anzuwenden, „weil man zumindest in einem Teil der Notstandsfälle an einen Ausschluß der Sozialschädlichkeit denken könnte, während andererseits die Zuordnung zur qualifizierten Vorwerfbarkeit mindestens ebenso gut und für einen erheblichen Teil wohl auch ausschließlich möglich ist“.

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stehen171: Ein Eingriff in die existentiellen oder angeborenen Rechte eines unschuldigen Opfers ist stets rechtswidrig. Das Recht darf dem Täter kein Recht auf die angeborenen Rechte des Opfers gewähren, weil der Rechtsordnung selbst diese Rechte des Bürgers nicht zustehen. Nur der Bürger selbst kann diese Rechte verwirken. Kürzlich haben sich neue Strömungen ergeben, die die Unterscheidung wieder zu relativieren versuchen. Hervorzuheben sind die Schule Jakobs’172 und neuerdings die spezielle Konstruktion von Pawlik173. Jakobs unternimmt den Versuch, einen „Gesamtzurechnungstatbestand“ zu formulieren: „Es geht um ein Ganzes, das nur von einer schuldfähigen Person geleistet werden kann, so dass sich bei evident fehlender Schuldfähigkeit, etwa bei dem Verhalten eines zehnjährigen Kindes, die strafrechtliche Zurechnung schon durch einen Verweis auf das Evidente erledigt: Natur“ 174. Jüngst hat Greco diese Ansätze einer überzeugenden Kritik unterzogen175. Nach ihm liegt der Sinn der Unterscheidung nicht nur im deutschen Gesetz – was zum Beispiel durch § 35 II zum Ausdruck kommt –, sondern schon in der „alltäglichen normativen Beurteilung von Verhalten“ 176. Das unbestrittene Erfordernis des Unrechtsbewusstseins für einen Schuldvorwurf beweise schon „aus logischen Gründen“, dass die Schuld „einen äußeren Bezugspunkt“ verlange177. Die neueren Thesen enthalten zugleich Inkonsistenzen und vermögen die Herausforderung, beachtliche Fortschritte im Vergleich zur „traditionellen“ Unterscheidung von Unrecht und Schuld zu machen, nicht zu meistern178. Zum Zwecke dieser Untersuchung ist ein Aspekt besonders hervorzuheben, nämlich die unkontroverse Existenz zweier verschiedener Notstände, ungeachtet der Aufrechterhaltung der Unterscheidung von Unrecht und Schuld. Hinter den 171 So schon Schünemann, Coimbra-Symposium für Claus Roxin 1995, S. 149 ff., 158, der die Akzentuierung der Opferperspektive hervorhebt. 172 Darstellung des Meinungsstandes in Greco, GA 2009, S. 636 ff. 173 Pawlik, Das Unrecht, 2012, S. 259 ff. 174 Jakobs, System, 2012, S. 24. 175 Greco, GA 2009, S. 636 ff. 176 Greco, GA 2009, S. 636 ff., 638; so auch Schünemann, Coimbra-Symposium für Claus Roxin 1995, S. 149 ff., 157, „die Basiselemente eines bestimmten kulturellen Niveaus gleich entwickelter Gesellschaften“. 177 Greco, GA 2009, S. 636 ff., 639 ff.; so schon Schünemann, Coimbra-Symposium für Claus Roxin 1995, S. 149 ff., 166: Dies sei einem logischen Standpunkt zu entnehmen, „weil die Befolgungsfähigkeit nur im Hinblick auf eine davon getrennte Norm formuliert und geprüft werden kann“; so schon Küper, Pflichtenkollision im Strafrecht, 1979, S. 22: „Schuld als Nichterfüllung rechtlicher Anforderungen trotz möglicher pflichtgemäßer Motivation setzt die Existenz eines von der Motivationsmöglichkeit unabhängigen Sollens voraus.“ 178 Greco, GA 2009, S. 636 ff., 642; er bezeichnet dies als wissenschaftstheoretischen Konservatismus: „Will eine neue Theorie eine alte ersetzen, muss sie sich als überlegen ausweisen, und dies nicht nur aus ihrer eigenen, internen Sicht.“

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zwei Notständen stehen so starke und verschiedene Grundgedanken, dass nicht einmal die Autoren – wie Pawlik179, Lesch180 und Walter181 –, die die Unterscheidung von Unrecht und Schuld dezidiert aufgegeben haben182, die Existenz eines vom entschuldigenden Notstand zu unterscheidenden rechtfertigenden Notstands geleugnet haben. Vieles spricht dafür, dass hierin eher eine weitere Bestätigung der Notwendigkeit der Unterscheidung von Unrecht und Schuld – „eine wichtige Errungenschaft“ 183 der deutschen Strafrechtsdogmatik – besteht. Ein Unterschied zwischen (nach dem Begriffspaar Pawliks) „Verhaltensnormwidrigkeit“ und „strafwürdige[m] Unrecht“ (Schuld!) ist nicht zu leugnen184. Schuld im traditionellen Sinne sei vorhanden, „sofern eine typisierende Beurteilung ergibt, daß die Pflichterfüllung ein oberhalb der Zumutbarkeitsschwelle liegendes Maß an Bemühung erfordert hätte“ 185. Inwieweit den so formulierte Begriff von der herkömmlichen Idee der Zumutbarkeit abweicht, ist mir nicht klar. Wenn man anerkennt, dass es dem Opfer gegenüber eine äußerste Grenze für die Auferlegung von Duldungspflichten gibt und dass es Verantwortlichkeitsausschlüsse ohne entsprechende Duldungspflichten geben darf, dann hat man implizit zugleich den materiellen Gehalt der Unterscheidung von Unrecht und Schuld anerkannt. Es war eine wichtige Leistung der Differenzierungstheorien, nachzuweisen, dass die beiden Notstände auf zwei verschiedenen Grundprinzipien basieren. Überdies kann nur diese Diskontinuität der Notstände ihre verschiedene Struktur erklären. Betrachten wir nun einige Beispiele, nämlich die Selbstverursachung der Gefahr, die Erforderlichkeit der Rettungsabsicht und die Reichweite der Notstandshilfe186: Beim rechtfertigenden Notstand behauptet die herrschende Meinung, dass das Verschulden bzw. die Selbstverursachung der Notlage kein absolutes Hindernis 179

Pawlik, JRE 11 (2003), S. 287 ff., 303. Lesch, Der Verbrechensbegriff, 1999, S. 175 ff., 208, 264 ff., 273 ff.: „kleine“ Notwehr (Defensivnotstand kraft Opferzuständigkeit; aggressiver Notstand kraft Solidarverantwortung des Opfers und entschuldigender Notstand kraft Unzumutbarkeit). Er meint, es gebe hier kein strafrechtliches relevantes Unrecht, erkennt aber an: „Freilich kann dann immer nur das Sollen der Norm suspendiert werden, während jedenfalls der herbeigeführte Zustand als rechtswidrig zu deklarieren und vom Opfer auch nicht hinzunehmen ist.“ Wie diese Behauptung von der klassischen Unterscheidung von Unrecht und Schuld abzugrenzen sein soll, ist mir nicht ersichtlich. 181 Walter, Der Kern, 2006, S. 135 ff., 196 ff., 202 ff. 182 Kramer hat die Konsequenzen aus seiner Meinung gezogen, wonach die „Auflösung der bisherigen allgemeinen Verbrechenslehren“ zur Einebnung von Rechtswidrigkeit und Schuld führen solle und stattdessen einheitlich von Pflichtwidrigkeit gesprochen werden solle: es gebe nur einen Notstand. Siehe Kramer, Die Rechtsnatur, 1937, S. 54 f. 183 Kern, ZStW (64) 1952, S. 255 ff., 261. 184 Pawlik, Das Unrecht, 2012, S. 353. 185 Pawlik, Das Unrecht, 2012, S. 353. 186 Dazu siehe Meißner, Die Interessenabwägungsformel, 1990, S. 30 ff. 180

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einer Rechtfertigung der Handlung darstelle, dies sei nur einer von vielen Faktoren, die die Interessenabwägung beeinflussen könnten187; beim entschuldigenden Notstand ist die Selbstverursachung schon positivrechtlich ein Hindernis für eine Entschuldigung, und fast niemand bestreitet dies pauschal188. Dieser Unterschied ist seit langem anerkannt. So sagt Henkel: „Während bei lediglich entschuldigendem Notstand grundsätzlich Bestrafung, allenfalls Strafmilderung eintreten soll, will man bei rechtfertigendem Notstand allgemein dem Verschulden keine Bedeutung zumessen. [. . .] Das Verschulden des Bedrängten ist bei der Interessenabwägung zu seinen Ungunsten in die Waagschale zu werfen“ 189. Hierin liegt richtigerweise kein Wertungswiderspruch190. Pawlik meint, dass die Existenz verschiedener Folgen – Ausschluss der Entschuldigungsmöglichkeit bei § 35 und Verschärfung der Rechtfertigungsvoraussetzungen bei § 34 – in den Fällen der „Belastung mit einer Sonderzuständigkeit“ mit der These der Verwandtschaft der Notstände nicht im Widerspruch stehe, denn „während der Täter im rechtfertigenden Notstand bürgerschaftliche Solidarität einfordert, hat ein Täter, der sich auf entschuldigenden Notstand beruft, die Grenzen jener Solidarität überschritten“ 191. Aber damit hat Pawlik automatisch anerkannt, dass ein grundlegender Unterschied zwischen Unrecht und Schuld besteht. Der Streit bleibt auf der sprachlichen Ebene: Pawlik bezeichnet in diesem Kontext Unrecht als „Grenzen der Solidarität“ und Schuld die „Überschreitung dieser Grenzen“. Inhaltlich ändert sich dadurch nichts. Die herrschende doppelte Schuldminderungslehre hätte dagegen keine Probleme mit einer Übertragung der Idee der Selbstverursachung 187 Siehe Hruschka, Anm. JR 1979, S. 125 ff.; ausf. Bernsmann, in: FS-Blau 1985, S. 23 ff., 34; Lübbe, in: Buchheim/Schönberger/Schweidler, Die Normativität des Wirklichen, 2002, S. 312 ff., 319 f.: „Die Verschuldensfrage ändert natürlich nichts an der Abwägung der Güter in der Notstandslage“; Pawlik, Der rechtfertigende Notstand, 2002, S. 143 f., der das Verschulden als Eingriffsvoraussetzung und nicht als Ergebnis einer Abwägung betrachtet; siehe die interessanten Bemerkungen von Renzikowski, Notstand, 1994, S. 54 ff., der meint bei § 34 gehe es nicht mehr um die „Fähigkeit zur Normbefolgung“, „sondern um Verteilung von Risiken“; ausf. hierzu Küper, Der „verschuldete“ rechtfertigende Notstand, 1983, S. 13 ff., 18 ff. 188 Siehe dazu Pawlik, JRE 11 (2003), S. 287 ff., 307 f. 189 Henkel, Der Notstand, 1931, S. 139. 190 Siehe Hruschka, Anm., JR 1979, S. 125 ff.: „Es besteht kein Anlaß, den Täter wegen des Unvermögens der Normbefolgung zu entschuldigen, wenn er das Unvermögen selbst zu verantworten hat [. . .] Derartige Überlegungen lassen sich für § 34 StGB aber nicht anstellen.“ Hruschka befürwortet eine rein utilitaristische Begründung des aggressiven rechtfertigenden Notstands, die aus meiner Sicht als falsch zu entlarven ist: „Ein derartiger Kosten-Nutzen-Kalkül aber fragt – wie es in der Natur solcher Rechnungen liegt – nur danach, wie man aus der bedrohlichen Situation mit möglichst geringem Aufwand wieder hinauskommt, und nicht danach, wie die in Rede stehenden Interessen in die Situation hineingeraten sind“ (126). 191 Pawlik, Der rechtfertigende Notstand, 2002, S. 280, Fn. 18; siehe auch Pawlik, JRE 11 (2003), S. 287 ff., 307: Bei dem entschuldigenden Notstand „kommt angesichts der Summierung von potentieller Eingriffsintensität und eigener ,Unschuld‘ den Subjekt-Belangen des Eingriffadressaten ein außerordentlich hohes Gewicht zu“.

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und der besonderen Gefahrtragungspflichten als Entschuldigungsausschlussgründe auf die Rechtfertigungsebene. Wenn man vertritt, dass der entschuldigende Notstand „ein zwitterhaftes Konstrukt“ darstellt, „weil er gleichzeitig gemindertem Unrecht und geminderter Schuld Rechnung trägt“, dann ist es sogar konsequenter zu sagen, dass die Gefahrtragungspflichten als unrechtserhöhende Umstände „bereits auf der Ebene der Rechtswidrigkeit“ berücksichtigt werden sollten192. Beim rechtfertigenden Notstand reicht nach der herrschenden Meinung lediglich die Kenntnis der rechtfertigenden Umstände als subjektives Rechtfertigungselement aus; eine Rettungsabsicht sei nicht notwendig193; beim entschuldigenden Notstand verlangen dieselben Autoren ohne zu Zögern ein Handeln in Rettungsabsicht194. So sagt Puppe: „Im Gegensatz zu rechtmäßigen Handeln auch zum rechtfertigenden Notstand, gehen die Motive des Täters bei nur entschuldigtem rechtswidrigem Handeln die Rechtsordnung durchaus etwas an“ 195. Beim rechtfertigenden Notstand darf jeder Bürger einem Mitmenschen Notstandshilfe leisten196; beim entschuldigenden Notstand darf der Täter auf Kosten eines unbeteiligten Menschen nur Angehörige oder andere nahestehende Person retten. Denn beim rechtfertigenden Notstand geht es um die „stellvertretende Wahrnehmung“ fremder Interessen, beim entschuldigenden Notstand eher um die „Wahrung eigener existenzieller Interessen“ 197. Schon 1910 behauptet Neubecker, dass bei „Leben gegen Leben“-Situationen eine generelle Zulassung der Notstandshilfe sehr bedenklich erscheine198. Er wollte diese weite Notstandshilfe nur bei Eingriffen in fremde „Vermögenwerte“ zulassen. Bei Eingriffen in die fremde Persönlichkeitssphäre aber, durch die irreparable Schäden entstehen können, „wäre die Notstandshilfe grundsätzlich auf ,Angehörige‘ zu beschränken“ 199. Diese strukturellen Unterschiede erkennt man erst, wenn man den entschuldigenden Notstand als ein völlig anders konzipiertes, dem rechtfertigenden Notstand keineswegs angenähertes Rechtsinstitut betrachtet. Der entschuldigende Notstand ist richtigerweise als notwendiges komplementäres Rechtsinstitut zum aggressiven rechtfertigenden Notstand zu verstehen. Beide Rechtsinstitute stehen 192 So Bernsmann, in: FS-Blau 1985, S. 23 ff., 37; so Rudolphi, ZStW 78 (1966), S. 67 ff., 86 f.: Der entschuldigende Notstand stehe „auf der Grenze zwischen Unrecht und Schuld“. 193 Ausf. Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, 1965, S. 187 ff. 194 Bernsmann, „Entschuldigung“, 1989, S. 103 ff. 195 Puppe, Strafrecht AT, 3. Aufl., S. 226. 196 Pawlik, JRE 11 (2003), S. 287 ff., 313. 197 So Engländer, ZIS 2016, S. 608 ff., 615. 198 Neubecker, Zwang und Notstand I, 1910, S. 332; er räumt aber ein, dass „eine ein für allemal geschlossene Liste juristisch als ,Angehöriger‘ bezeichneten Personen“ manchmal willkürlich erscheint. 199 Neubecker, Zwang und Notstand I, 1910, S. 332 f.

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in verschiedenem Maße unter dem Verdacht der Instrumentalisierung: Denn beide zwingen Unschuldige – Personen also, die normativ mit dem potentiellen Verlust des Täters nichts zu tun haben –, ihre Rechte preiszugeben, sei es durch die Auferlegung einer starken Duldungspflicht, sei es durch die Rücknahme der Strafdrohung. Das ist begründungsbedürtig200. Der rechtfertigende aggressive Notstand – also der Fall, in dem einem an der Gefahr Unbeteiligten ein Sonderopfer abverlangt wird – hat der Strafrechtsdogmatik immer große Probleme bereitet201. Das spricht allerdings eher für sie: Denn eine Rechtsordnung, die keine Probleme mit einer solchen Konstellation hat, ist nämlich eine kollektivistische bzw. totalitäre202. Denn es geht im Regelfall des aggressiven Notstandes um einen Eingriff in die Sphäre eines unschuldigen Bürgers203. Hier dokumentiert die Rechtsordnung ihre Entscheidung gegen einen unbedingten Rechtsgüterschutz204 oder plastisch gesagt, hier bestimmt der Staat die Grenzen eines „geduldeten Egoismus“ 205. Nach einer langen Diskussion wurde eine rein utilitaristische Begründung des rechtfertigenden Notstands für unzureichend bzw. falsch erklärt206. Denn sie verwandelt intrapersonale Inte200 Siehe die sehr interessanten Bemerkungen von Wilenmann, Freiheitsdistribution, 2014, S. 419, der meint, der aggressive rechtfertigende und der entschuldigende Notstand seien „negativ charakterisiert“; siehe auch T. Zimmermann, Rettungstötungen, 2009, S. 217 ff. 201 Siehe Neumann, in: von Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Solidarität im Strafrecht, 2013, S. 155 ff.; siehe schon Grebing, GA 1979, S. 79 ff.; Merkel, in: Institut für Kriminalwissenschaften Frankfurt a. M. (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, 1995, S. 171 ff., S. 175: „Das Problem des § 34 hat für die Dogmatik etwas sozusagen Unheimliches“; siehe auch Frisch, in: FS-Puppe 2011, S. 425 ff., 436 ff. 202 Siehe Merkel, in: Institut für Kriminalwissenschaften Frankfurt a. M. (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, 1995, S. 171 ff., 178: „Die Regelung des § 34 ist unschwer als ein prinzipielles Problem der sozialen Gerechtigkeit“ zu betrachten; über die Interpretation der damaligen Regel des § 54 RStGB in der DDR-Literatur T. Zimmermann, Rettungstötungen, 2009, S. 215: die Regel sei „kapitalistisch“ und betrachte den anderen als „Feind“. 203 Engländer, GA 2017, S. 242: „Eine solche Aufopferungspflicht versteht sich indes keineswegs von selbst.“ 204 Küper, Darf sich der Staat erpressen lassen?, 1986, S. 121: „Der rechtfertigende Notstand ist – pointiert formuliert – eine begrenzte Ausnahme des Rechts von sich selbst, macht die Rechtsverletzung ausnahmsweise zum Recht“; Küper, JuS 1987, S. 81 ff., 82: „Die Notstandstat ist (faktischer) ,Rechtsgüterschutz‘ durch ,Rechtsgutsbeeinträchtigung‘.“ 205 Neubecker, Zwang und Notstand I, 1910, S. 320. 206 Ausf. Pawlik, Der rechtfertigende Notstand, 2002, S. 32 ff., 40: „Zwar mag man mit gutem Grund einer einzelnen Person, die eines ihrer Güter opfern muß, um ein anderes Gut zu retten, die Maxime zuschreiben, das wertvollere Gut auf Kosten des weniger wertvollen zu erhalten; weshalb soll aber Gleiches auch dann gelten, wenn die Güter verschiedenen Personen zustehen?“; so schon Renzikowski, Notstand, 1994, S. 33 ff.; siehe auch Renzikowski, JRE 11 (2003), S. 269 ff., 275: „Eine utilitaristische Begründung des § 34 StGB läßt sich nicht in unsere Rechtsordnung integrieren, in der ein unantastbarer Wesensgehalt der Grundrechte garantiert wird (Art. 19 Abs. 2 GG)“; ausf. und überzeugend auch Kühnbach, Solidaritätspflichten, 2007, S. 48 ff.

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ressenkonflikte in interpersonale Konflikte, das heißt in Angelegenheiten zwischen der Allgemeinheit und dem Individuum207. Diese Argumentation ist per definitionem grenzenlos. Die Meinung Stammlers, wonach das Leben „kein absolutes Recht“ sei, denn „für das Gesamtwohl, für die Rettung des Vaterlandes, wird das Leben geopfert“, oder dass bei Kollisionen gleichwertiger Rechte das verlorene Recht als das „tatsächlich schwächere und daher als das für das Recht weniger werthvolle [sich] herausgestellt hat“ 208, ist Produkt der Idee, alle individuellen Rechte stünden unter dem Vorbehalt des Gesamtnutzens. Diese Idee ist auch nicht weit entfernt von der von Kramer vertretenen These, alle Nothandlungen seien straflos, soweit nicht von dem Täter „nach gesunder Volksanschauung erwartet werden muß, daß er den Schaden duldet“ 209. Die damit verbundene Rede von einem Interesse der Rechtsordnung an der Erhaltung des wertvolleren Guts ist irreführend: „Die Rechtsordnung hat keine Interessen wahrzunehmen und sie hat keine Güter zu retten oder zu vernichten. Sie hat die Ordnung des sozialen Lebens zu sein und die Sphären der Menschen abzugrenzen, zu bestimmen, was sie tun und lassen sollen“ 210. Heutzutage wird in der Lehre eine Begründung vorgezogen, die auf eine Solidaritätspflicht aller Bürger abstellt211. Einige Autoren wie Merkel, Engländer, Frisch und Zimmermann gründen ihre Konstruktionen auf neokontraktualistische Interpretationen des rechtfertigenden Notstands212. Die Hauptfrage ist nämlich 207

Ausf. Coninx, Solidaritätspflicht, 2012, S. 13 ff.; Engländer, GA 2017, S. 242 ff.,

245. 208

Siehe Stammler, Darstellung, 1878, S. 76 f. Kramer, Die Rechtsnatur, 1937, S. 55. 210 Neubecker, Zwang und Notstand I, 1910, S. 318: „Nette Perspektiven! Sie können bezüglich der ,maßgebenden Gesichtspunkte‘ wohl stutzig machen. Hat denn die ,Rechtsordnung‘ ein Interesse, welches Interesse? Hat die Rechtsordnung ein Interesse daran, daß ein wertvolles Rennpferd auf Kosten einer minderwertigen Kuh gerettet werde? Wäre das der Fall, dann müßte sie dasselbe auch betätigen durch Befehl an den Eigentümer der beiden Sachen, die eine auf Kosten der anderen zu retten. Was geht das alles die Rechtsordnung an?“; siehe Traeger, Das Notstandsproblem, 1932, S. 54, der auf Gefahren für die Rechtsordnung hinweist, die wegen „der einschneidenden Bedeutung des Notstandsproblems für das Rechtsleben“ entstünden. 211 Siehe Renzikowski, Notstand, 1994, S. 185 ff.; Neumann, in: von Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Solidarität im Strafrecht, 2013, S. 155 ff., 173: „Ich sehe derzeit bei der Rekonstruktion der Wertstruktur der Notstandsregel keine ernsthafte Alternative zum Solidaritätsprinzip“; Kühl, in: FS-Lenckner 1998, S. 143 ff., 156 ff.; T. Zimmermann, Rettungstötungen, 2009, S. 48 ff.; Engländer, GA 2010, S. 15 ff.; Pawlik, JRE 22 (2014), S. 137 ff.; über die Grundlagen dieser Idee im öffentlichen Recht siehe Depenheuer, Solidarität im Verfassungsstaat, 2009, S. 12 ff., S. 145 ff.; siehe Saliger, in: von Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Solidarität im Strafrecht, 2013, S. 61 ff.; siehe auch Mañalich, in: van Weezel (Hrsg.), Humanizar y renovar el Derecho Penal, 2013, S. 715 ff. 212 Engländer, GA 2017, S. 242 ff., 247: „Auf dessen Grundlagen lassen sich die Notstandsbefugnis und die ihr korrespondierende Duldungspflicht des Eingriffsadressaten als ein wechselseitiges Beistandsversprechen, als eine versicherungsgleiche Rege209

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die, ob sich „über die negative Sphärenabgrenzung der Individuen hinaus“ 213 andere positive Pflichten oder Duldungspflichten konstruieren lassen. Diese Idee ist dem utilitaristischen Ansatz prinzipiell vorzuziehen, vor allem weil sie sich bemüht, „ein[en] interpersonale[n] Verpflichtungsgrund“ 214 zu finden, das heißt: Sie bemüht sich, dem Notstandsopfer gegenüber eine Begründung vorzutragen, die sich auf seine Rechtsposition beruft. Der Solidaritätsbegriff ist bekanntlich keineswegs unumstritten215. Ohne in der komplexen Diskussion Stellung zu nehmen216, könnte man die Idee, dass die Solidaritätspflicht vor allem dort endet, wo das unbeteiligte Opfer sein Leben verliert bzw. eine schwere Gesundheitsverletzung erleidet217, als anerkannten Fixpunkt der Diskussion betrachten218. Das Unrechtsurteil soll vor allem aus der lung auf Gegenseitigkeit verstehen“; T. Zimmermann, Rettungstötungen, 2009, S. 48 f., 51: „Damit ist das Opfer, welches § 34 StGB heute dem Eingriffsadressaten abverlangt, synallagmatisch mit dessen Anspruch verknüpft, morgen selbiges Opfer fordern zu können; Solidarität ist also als absichernde Investition interpretierbar und damit einer kontraktualistischen Begründung zugänglich“; Frisch, in: FS-Puppe 2011, S. 425 ff., 439: „Es ist die (allgemeine) Vernunft, die uns nicht nur gebietet, wechselseitig die Autonomie und die Freiheit des anderen anzuerkennen, sondern auch rät, uns – wiederum wechselseitig – zu einem gewissen Maß an Solidarität zu verpflichten“; siehe auch Merkel, Früheuthanasie, S. 528 ff. 213 So m.w. N. Kühnbach, Solidaritätspflichten, 2007, S. 33 ff., 35 ff. 214 So Kühnbach, Solidaritätspflichten, 2007, S. 53; siehe auch Renzikowski, in: von Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Solidarität im Strafrecht, 2013, S. 13 ff. 215 Siehe Zoll, Was ist Solidarität heute?, 2000, S. 9 ff., 11 ff. Zoll stellt eine treffende Diagnose zum Solidaritätsbegriff auf und beginnt sein Buch mit dem Satz: „Die Solidarität steckt in einer tiefen Krise“ (S. 9); siehe auch ausf. Brunkhorst, Solidarität, 2002, S. 9 ff., über die Schwierigkeiten mit dem Begriff der Solidarität; siehe auch den Sammelband Bayertz (Hrsg.), Solidarität, 1998, S. 9: „Das Phänomen der Solidarität liegt wie ein erratischer Block in der moralischen Landschaft der Moderne“; interessant hierzu auch Habermas, in: Edelstein/Nummer-Winkler, Zur Bestimmung der Moral, 1986, S. 291 ff.; Neumann, in: von Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Solidarität im Strafrecht, 2013, S. 155 ff., 159, liefert deswegen eine eigene Definition von Solidarität in diesem Kontext: „,Solidarität‘ bezeichnet im Folgenden die normativ relevante Verbundenheit der Bürger oder der Gemeinschaft mit einem anderen Bürger, ,Loyalität‘ die normativ relevante Verbundenheit des Bürgers mit der Gemeinschaft bzw. dem Staat“; Pawlik, JRE 22 (2014), S. 137 ff., 143: Dem Solidaritätsbegriff sei eine notorischen Unschärfe eigen. 216 Dazu ausf. der höchst interessante Sammelband von Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Solidarität im Strafrecht, 2013. 217 Habermas versucht den Begriff der Solidarität als einen komplementären Begriff zu verstehen zur Idee der Gleichbehandlung alle Menschen, die als Individuen zu respektieren seien, Habermas, in: Edelstein/Nummer-Winkler, Zur Bestimmung der Moral, 1986, S. 291 ff., 311; siehe auch Küper, JuS 1987, S. 81 ff., 87. 218 Pawlik, Der rechtfertigende Notstand, 2002, S. 258 ff., der zwei interessanten Idee aufzeigt, nämlich die Möglichkeit eines Ausgleichs und den symbolischen Freiheitswert der leiblichen Sphäre; siehe Baumgarten, Notstand, 1911, S. 65: „Ist der Zweck der Rechtsordnung zunächst Vermeidung des Kampfes, so mute man niemand gegenüber dem Eingriff eines andern mehr Duldsamkeit zu, als unter normalen Umständen von ihm erwartet ist“; selbst ein Vertreter des utilitaristischen Ansatzes erkennt das

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Sicht des Opfers konstruiert werden und „eine Konsequenz daraus, daß wir uns in die Lage des von der Notstandshandlung Betroffenen versetzen, um über die Berechtigung dieser Handlung zu entscheiden, ist, daß wir einen erheblichen Eingriff in die Körperintegrität oder in die Freiheit niemals zuzulassen haben“ 219. Hier werde das Opfer in seinem „Integritätsanspruch“ verletzt und müsse deshalb diesen Eingriff nicht dulden220 oder anders, individualistisch formuliert, die Geschäftsgrundlage des Vertrags, nämlich der Schutz der eigenen Existenz, sei weggefallen221. Hier dürften nur „ersetzbare Güter aufgeopfert werden“ 222. Auch die Zumutbarkeitsklausel bei der unterlassenen Hilfeleistung sei anhand dieser absoluten Opfergrenze auszulegen223. Der rechtfertigende Notstand kenne also absolute Schranken (Menschenwürde, Autonomie usw.). Das ist auch richtig. Denn im Unrechtsbereich geht es um die Distribution der äußeren Freiheitssphären der Bürger. Ein an der Gefahr unbeteiligter Bürger muss keine schweren Eingriffe in seine existentiellen Güter – Leben, Leib, Freiheit – im Namen der Gesellschaft tolerieren224: Niemand schuldet der Gesellschaft seine Niere. Hier wird er als Person betroffen (s. u. IV.). Ein Eingriff würde eine Entpersonalisierung225 oder eine Entwürdigung bedeuten226. Erst die Güter, die der Bürger nur innerhalb der Gesellschaft besitzt und auch nur durch diese vermittelt bekommt und die durch diese garantiert werden – wie z. B. das Vermögen –, können Gegenstand einer

an, Meißner, Die Interessenabwägungsformel, 1990, S. 211; siehe auch Perdomo-Torres, Die Duldungspflicht, 2011, S. 11 ff., 38 ff.; Frisch, in: FS-Puppe 2011, S. 425 ff., 440, der den agressiven Notstand nur bei ersetzbaren, reparablen Gütern annimmt. 219 Baumgarten, Notstand, 1911, S. 66. 220 Das hebt Pawlik hervor: Pawlik, Das Unrecht, 2012, S. 360, der den Bürger hier als „Repräsentant[en] der Allgemeinheit“ betrachtet; dagegen Engländer, GA 2017, S. 242 ff., 246: „Die Notstandstat betrifft den Eingriffsadressaten eben nicht bloß als Repräsentanten der Allgemeinheit, sondern zu allererst unmittelbar als Person mit einem eigenen Anspruch auf Achtung ihrer Freiheitssphäre.“ 221 T. Zimmermann, Rettungstötungen, 2009, S. 67. 222 Jakobs, System, 2012, S. 47 f.: „Durch eine Notstandslage wird also ein Recht des Unglücklichen gegen die bürgerliche Gesellschaft begründet, die Befreiung aus der Not zu befördern“. Dem Opfer sei eine Entschädigung zu leisten, „was zugleich bedeutet, es müsse nur Eingriffe dulden, deren Konsequenzen ersetzbar sind.“ 223 Siehe Kühnbach, Solidaritätspflichten, 2007, S. 145. 224 So schon v. Ferneck, Rechtswidrigkeit, Bd. II/1, 1905, S. 71: „Von einer Pflicht des Dritten also, für den Benötigten sein Leben zu lassen oder einen schweren Eingriff in seine Gesundheit zu dulden, kann nicht die Rede sein. Auch scheint es fraglich, ob der Gesetzgeber fordern kann, daß sich der Dritte eine langdauernde Freiheitsentziehung oder eine schwere Verletzung seiner Ehre gefallen lassen muß.“ 225 Jakobs, System, 2012, S. 50: „Allerdings wird sich eine Pflicht, für den Staat auf das Leben zu verzichten, heute, in postheroischer Zeit, für Personen ohne einen freiwillig erworbenen besonderen Status (etwa als Berufssoldaten) kaum begründen lassen; der Sache nach dürfte es sich also um eine (in ihrer Art noch zu spezifizierende) Entpersonalisierung der Opfer handeln.“ 226 Baumgarten, Notstand, 1911, S. 66: „Es erscheint entwürdigend, jemand gewaltsam dazu zu zwingen, sich eine Hauttransplantation gefallen zu lassen.“

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Abwägung im Sinne von § 34 sein227. In einem Sozialstaat ist durchaus Platz für eine begrenzte und punktuelle „Kollektivierung“ einiger erworbener Rechte228. Das bedeutet aber, dass außerhalb der absoluten Grenzen bzw. Schranken des rechtfertigenden Notstands die gesellschaftsorientierte Argumentation keinen Platz mehr beanspruchen darf. Die Rechtsordnung hat ihr Kalkül über die Kollision von Interessen – ob die Gesellschaft durch die Nothandlung etwas gewinnt oder etwas verliert – endgültig ausgeübt: Sie toleriert Eingriffe in Leben, Leib und Freiheit von unbeteiligten Menschen nicht. Die utilitaristische Argumentation ist also verbraucht. Wenn diese Handlungen in existentieller Notlage dennoch unbestraft bleiben, dann benötigt die Rechtsordnung andere Argumente, die dem Täter sowie dem Opfer die Straffreiheit erklären können229. Ein gutes und anschauliches Beispiel dafür liefert die Dogmatik des Nötigungsnotstands230, „ein Komplex, der für den Strafrechtstheoretiker vielleicht sogar der interessanteste ist“ 231. In diesen Fällen wird jemand von einem anderen unter Androhung von Nachteilen oder Übeln zur Begehung einer Straftat gezwungen232. Es ist schwer, sich einen Nötigungsnotstandsfall vorzustellen, bei dem das Notstandsopfer kein Unbeteiligter ist233. Trotz der gesetzgeberischen Entscheidung für die Differenzierungstheorie wurde die genaue Einordnung des Nötigungsnotstands der Lehre überlassen234. Die §§ 34, 35 sagen nicht viel über die Rechtsnatur dieser berühmten Manifestation der Dogmatik des Notstandes235. Beim sogenannten Nötigungsnotstand – der früher als ein spezieller Entschuldigungsgrund galt (§ 52 RStGB) – hält man spätestens dann, wenn ein unbeteilig-

227 Siehe ausf. Greco, Der Anteil der Gesellschaft, Manuskript (im Erscheinen); siehe auch Hörnle, JuS 2009, S. 873 ff., 877: „Allerdings geht es in den Notstandssituationen nicht um Profit für das Kollektiv, sondern darum, wer letztlich aus einer Gefahrensituation als Geschädigter hervorgeht.“ 228 Über die Idee der Solidarität in einem Sozialstaat Kersting, in: Kersting (Hrsg.), Politische Philosophie des Sozialstaats, 2000, S. 50 ff., 202 ff., 237 ff.; siehe auch ausf. Kersting, Theorien der sozialen Gerechtigkeit, 2000; siehe auch Neumann, in: von Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Solidarität im Strafrecht, 2013, S. 155 ff., 169 ff. 229 Siehe Pawlik, Das Unrecht, 2012, S. 355, der das implizit anerkennt, wenn er sagt: „Während die Rechtfertigungsgründe voraussetzen, daß der Eingriff des Täters diesseits dieser Grenze verbleibt, beziehen sich die Zurechnungsausschließungsgründe auf Eingriffe jenseits der Grenze.“ 230 Siehe Neumann, JA 1988, S. 329 ff.; siehe auch Meyer, GA 2004, S. 356 ff.; auch Mañalich, InDret 7/2013, S. 1 ff., 7 ff., 13 ff.; Renzikowski, in: Hilgendorf/Joedern (Hrsg.), Handbuch Rechtsphilosophie, 2017, S. 453 ff. 231 Küper, Darf sich der Staat erpressen lassen?, 1986, S. 26; dazu siehe Roxin, in: FS-Oehler 1985, S. 181 ff., 187 ff. 232 So die Definition bei Kelker, Der Nötigungsnotstand, 1993, S. 29. 233 So Kelker, Der Nötigungsnotstand, 1993, S. 31: „Bei dem Nötigungsnotstand ist der Betroffene, in dessen Rechte eingegriffen wird, immer ein Unbeteiligter.“ 234 Siehe Neumann-NK, § 34, 5. Aufl., Rn. 53 ff. 235 Dazu siehe Kelker, Der Nötigungsnotstand, 1993, S. 24 ff.

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tes Opfer schwer verletzt wird, eine Rechtfertigung der Tat für inakzeptabel 236: „Diese Solidaritätspflicht muss aber hinter der Befugnis zur Verteidigung der eigenen Rechtssphäre zurücktreten, wo die Person des Opfers durch den von dem Hintermann ausgehenden Angriff in besonderer Weise betroffen ist“ 237. Dieses Abstellen auf das Erhaltungsgut238 des unbeteiligten Opfers wird von vielen Autoren vertreten239 und verdient Zustimmung. Wenn man von den Erhaltungsgütern her argumentiert, könnte man mit Hirsch sagen, dass eine Rechtfertigung nur bejaht werden darf, wenn eine gegenwärtige Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit besteht240. Erst eine Theorie, die mit durchdachten materiellen Argumenten die Differenzierung der zwei Notstände begründet, ist imstande, die Frage der Einordnung des Nötigungsnotstands überzeugend zu beantworten. Eine Theorie des entschuldigenden Notstands muss deswegen auch differenzieren. Der Hauptunterschied besteht in der Qualität der involvierten Rechte. Nicht zuletzt, weil der entschuldigende Notstand einen sekundären oder subsidiären Charakter aufweist: Denn Voraussetzung der Entschuldigung einer Nothandlung ist die Begehung einer rechtswidrigen Straftat241. Die beiden Rechtsinstitute stehen aber keinesfalls in einem Subordinationsverhältnis242. Eher ist die Beziehung zwischen dem aggressiven rechtfertigenden und dem entschuldigenden Notstand eine komplementäre: Der entschuldigende Notstand fängt dort an, wo der rechtfertigende Notstand endet,243 und das in doppelter Hinsicht. Erstens ist festzustellen, dass je persönlichkeitsnäher das Eingriffsgut ist, desto eher die Möglichkeit ausscheidet, einen aggressiven rechtfertigenden Notstand zu bejahen. Diese Behauptung verliert aber ihre Kraft, wenn zweitens die Gefahr von der Rechtssphäre des Opfers ausgeht, das heißt, wenn ein defensiver Notstand zu bejahen ist. Wenn die auf dem Spiel stehenden Rechte existentieller Natur sind und das 236 Bernsmann, „Entschuldigung“, 1989, S. 140 ff.; Kelker, Der Nötigungsnotstand, 1993, S. 44 ff. 237 Neumann-NK, § 34, 5. Aufl., Rn. 55a; siehe schon Neumann, JA 1988, S. 329 ff., 331. 238 Soweit ich sehe schuldet die Strafrechtsdogmatik diesen Begriff der Arbeit von Küper, JZ 1976, 516 ff.; siehe auch Küper, Darf sich der Staat erpressen lassen?, 1986, S. 22. 239 M. w. N. Kelker, Der Nötigungsnotstand, 1993, S. 48 ff. 240 Hirsch-LK, § 34, 11. Aufl., Rn. 69; siehe Kelker, Der Nötigungsnotstand, 1993, S. 48 f. 241 So Küper, Pflichtenkollision im Strafrecht, 1979, S. 113. 242 Siehe Merkel, Früheuthanasie, S. 217: „Die Stufe der Schuld im Verbrechensaufbau ist nicht eine Auffangstation für unerledigte ethische Zweifel in Fällen, in denen eine Rechtfertigung sozusagen ,fast‘, aus prinzipiellen Gründen aber nicht ganz gelingt.“ 243 So T. Zimmermann, Rettungstötungen, 2009, S. 231: „aus demselben Grund, warum die grundsätzliche Solidaritätspflicht des § 34 StGB an der Angemessenheitsklausel des Satz 2 endet, beginnt an gleicher Stelle der Bereich des entschuldigenden Notstands gem. § 35 Abs. 1 StGB“.

II. Die normativen Fragen

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Eingriffsopfer unschuldig ist, dann kann nur vom entschuldigenden Notstand die Rede sein244. Dieses Verhältnis wird nicht immer konsequent beachtet. So hat der BGH im schon erwähnten Spanner-Fall (NJW 1979, 2053) ausgeführt: „Ob rechtfertigender Notstand (§ 34 StGB) gegeben ist, wofür nach Lage der Dinge einiges spricht, oder ob im vorliegenden Fall das Festnahmerecht des § 127 StPO den Schußwaffengebrauch rechtfertigt, kann dahingestellt bleiben, denn der Angekl. handelte gem. § 35 StGB ohne Schuld“. Es gibt selbstverständlich schwierige und kontroverse Fälle, wie den Fall der Blutentnahme zwecks Lebensrettung245. Ein Angehöriger einer extrem seltenen Blutgruppe würde in einem solchen Fall als „lebende Blutbank“ in Anspruch genommen werden246. Das bedeutet aber, dass jeder Rekurs auf die Gedanken, die für die Begründung eines Notrechts des Täters (und einer Duldungspflicht des Opfers) fruchtbar zu machen sind, beim entschuldigenden Notstand fehl am Platz ist. Beim sogenannten rechtfertigenden defensiven Notstand ist die Legitimationsfrage eine ganz andere247. Hier geht es nicht mehr um einen Unschuldigen, sondern um die Bestimmung der normativen Verantwortung für die Entstehung der Notlage. Wenn man eine Zuständigkeit für die Notlage auf der Eingriffsadressatenseite bejahen kann, dann ist diesem gegenüber schon begründet, warum er den Eingriff in seine (auch existentiellen) Rechte dulden muss248. Der defensive Notstand hat aber noch ein anderes Verhältnis zum entschuldigenden Notstand, respektive zur Zumutbarkeitsklausel bzgl. der Hinnahme der Gefahr (§ 35 I 2). Der Gedanke, der den defensiven Notstand trägt, ist derselbe, der die Zumutbarkeitsklausel beim entschuldigenden Notstand zu erklären vermag. Es ist nur so, dass hier eine Inversion gegeben ist: Dem Eingreifenden wird die normative Verantwortung für die Notlage zugeschrieben. Sowohl beim defensiven Notstand als auch in den Fällen der Hinnahme der Gefahr ist die Entstehung der Notlage kein Zufall. Hier sind die Positionen in der späteren Konfliktlage nicht dem Schicksal, sondern den involvierten Personen selbst zuzurechnen249. Es kann aber passieren, 244

So auch Hefermehl, Der verursachte entschuldigende Notstand, 1980, S. 6. Ausf. dazu T. Zimmermann, Rettungstötungen, 2009, S. 69 ff. 246 T. Zimmermann, Rettungstötungen, 2009, S. 71. 247 Siehe Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl., § 16, Rn. 72 ff.; ausf. Wilenmann, La justificación, 2017, S. 445 ff.; siehe Nozick, Anarchy, 1974, S. 34 f., der eine „Gegenwehr“ erlauben will, „even though he is innocent and deserves no retribution. An innocent threat is someone who innocently is a causal agent in a process such that he would be an aggressor had he chosen to become such an agent. [. . .] Thus, a full theory in this area also must formulate the different constraints on response to innocent threats.“ 248 Dazu siehe Schünemann, ARSP Beiheft 100, 2005, S. 145 ff., 151 ff.: „die Bestimmung der Zuständigkeit des Opfers, so dass ein Eingriff in seine angeborenen Rechte als tragfähig und legitim erscheint.“ Hier gehe es nicht „um das in den unaufgebbaren essentialia des status naturalis wurzelnde, unentziehbare Recht des einzelnen, jede nicht selbst zu verantwortende Zerstörung des eigenen Lebens abzuwehren“. 249 Dazu eingehend Coninx, Solidaritätspflicht, 2012, S. 9 ff., 36 ff., die eine interessante Untersuchung über die Bedeutung des Zufalls im Recht und über die Verteilungs245

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C. Theorie des entschuldigenden Notstands

dass in einem Fall der defensive und der entschuldigende Notstand zu prüfen sind250. Denn die Voraussetzungen einer Rechtfertigung und einer Entschuldigung können voneinander abweichen. Zuletzt gilt es zu analysieren, ob die gemeinsamen Tatbestandsmerkmale des rechtfertigenden und entschuldigenden Notstands auf dieselbe Art und Weise ausgelegt werden sollen oder müssen. Sowohl § 34 als auch § 35 verlangen eine „Gefahr“, die „gegenwärtig“ und „nicht anders abwendbar“ sein soll. Vieles spricht dafür, dass diese Tatbestandsmerkmale, die nach ihrem Wortlaut dieselben sind, jeweils vor dem Hintergrund der verschiedenen Gründe der zwei Notstände ausgelegt werden müssen; das bedeutet vor allem, dass die Begriffe je nach Qualität der involvierten Rechte enger oder weiter auszulegen sind. Meines Erachtens ist – entgegen der herrschenden Meinung – insbesondere der Gefahrbegriff beim entschuldigenden anders als beim rechtfertigenden Notstand zu interpretieren (s. u. C., V., 3., a)). Hier sieht man die Unzulänglichkeiten der Idee der Nachsichtsausübung besonders deutlich: Wenn die Bevorzugung eigener existentieller Interessen Verständnis hervorrufe, nachvollziehbar wäre, Nachsicht verdiente usw., dann bliebe damit ungeklärt, warum eine solche Handlung noch immer rechtswidrig wäre. 4. Zwischenfazit Eine gute Theorie des entschuldigenden Notstands soll also erklären, begründen und differenzieren. Es spricht, wie gesagt, eine tiefgreifende Intuition für die strafbefreiende Wirkung des entschuldigenden Notstands. Die Struktur der geltenden Regelung mit ihrer Kombination von Regeln, Ausnahmen, Generalklausel und Irrtumsregelung ist aber schwer friktionsfrei zu erklären. Die Gefahr bei dieser Erklärung ist nämlich, schlechte Begriffsjurisprudenz zu betreiben. Bei dieser Aufgabe muss man drei Perspektiven unterscheiden, die des Täters, des Opfers und der Allgemeinheit; vermengt man diese aber, gelangt man zwangsläufig zu einer kollektivistischen Betrachtung, die eine Instrumentalisierung der Personen mit sich bringt. Nicht zu vergessen ist die schon getroffene Feststellung, dass die Handlung im existentiellen Notstand rechtswidrig bleibt. Mit anderen Worten: gerechtigkeit am Beispiel des Lebensnotstands geliefert hat: „Wo keine Verantwortung für eine (drohende) Rechtsgutsverletzung festgemacht werden kann, handelt es sich rechtlich gesehen um eine zufällige Verletzung“; siehe auch Coninx, in: von Hirsch/ Neumann/Seelmann (Hrsg.), Solidarität im Strafrecht, 2013, S. 175 ff., 177: „Vom rechtlich relevanten Zufallsbegriff sind alle Geschehenabläufe erfasst, die außerhalb des rechtlichen Verantwortungsbereichs liegen“; über der Zufall im Recht M. Rümelin, Der Zufall im Recht, 1896, S. 1 ff., 19: „alles was nicht Schuld ist Zufall zu nennen“. 250 Über die „Konkurrenz“ zwischen beiden Instituten siehe Wilenmann, Freiheitsdistribution, 2014, S. 420 f., der meint, die Entschuldigungsmöglichkeit eröffne sich erst bei der Verneinung der Verantwortlichkeit des Eingriffsadressaten: „Nur dann, wenn keine hinreichende Verantwortung vorliegt, kann die Prüfung des entschuldigenden Notstands eröffnet sein.“

III. Die Ansätze in der Lehre

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das Recht richtet trotz der Notlage eine Verhaltensnorm an den Täter, deren Inhalt lautet: „Du darfst die existentielle Gefahr nicht auf eine ebenso unschuldige Person abwälzen!“. Die Herausforderung ist an erster Stelle, dem Täter zu erklären und ihm gegenüber zu begründen, warum er in existentiellen Notlagen wegen seines rechtswidrigen Verhaltens grundsätzlich nicht bestraft wird, die Strafe aber dann wieder im Betracht kommt, wenn ihm „zugemutet werden konnte, die Gefahr hinzunehmen“ (§ 35 I 2); und an zweiter Stelle eine minimale Begründung dem unschuldigen Opfer gegenüber zu leisten – jenseits der schon festgestellten Entscheidung, dass ihm keine harte Duldungspflicht auferlegt wird –, warum es seine existentiellen Rechte verliert, der Täter aber nicht (o. II., 2., b)). Dem Opfer gegenüber soll vor allem begründet werden, warum es den Schutz der an den Täter gerichteten Sanktionsnorm verliert. Die Differenzierung zwischen zwei Notständen deutet auch auf den materiellen Unterschied hinsichtlich der in der Notlage involvierten Rechte hin: Einige Rechte gehören nicht der Person allein, sondern auch der Gesellschaft; andere Rechte aber gehören ausschließlich der Person und sonst niemandem – sie sind angeboren. Ich will jetzt zeigen, dass die Ansätze der Lehre einen blinden Fleck haben, der den eigentlichen Kern des entschuldigenden Notstands betrifft. Sie verkennen die besondere Qualität der Rechte der Person.

III. Die Ansätze in der Lehre 1. Der Instrumentalisierungsverdacht: Entschuldigender Notstand als Konzession der Allgemeinheit In diesem Kapitel gilt es aufzuzeigen, dass die Ansätze in der Lehre trotz ihrer dogmatischen Unterschiede etwas Gemeinsames besitzen: Sie verstehen den entschuldigenden Notstand als eine Konzession der Allgemeinheit an den Täter. Nun wollen wir uns das oben vorgeschlagene Gedankenexperiment ins Gedächtnis rufen: Denken wir § 35 hinweg. Wäre es überhaupt möglich, eine legitime Rechtsordnung zu konzipieren, die einen entschuldigenden Notstand nicht anerkennt? Die herrschende Meinung muss diese Frage generell bejahen, da sie eine schwache, gnadenähnliche Begründung des entschuldigenden Notstands anbietet: Nachsicht zu üben stellt bloß eine facultas agendi eines allmächtigen Staats dar. Selbst diese Ansätze kennen aber eine äußerste Grenze, „die im abendländischen Rechtsdenken tief verankert ist“ 251: Der sichere Tod ist von Rechts wegen keinem Menschen abzuverlangen, auch nicht solchen, denen besondere Zuständigkeiten zukommen. Die Gründe der Entschuldigung müssen stärker sein als bloße majestätische Nachsicht. 251

Puppe, Strafrecht AT, 3. Aufl., S. 226.

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C. Theorie des entschuldigenden Notstands

Die oben formulierten Anforderungen an eine Theorie des entschuldigenden Notstands (s. o. C., II.) müssen auf die vielen vorhandenen Ansätze in der Lehre angewandt werden, um festzustellen, ob sie eine Begründung des entschuldigenden Notstands anbieten können, die allen drei formulierten Anforderungen genügt. Es ist vor allem festzustellen, ob die gelieferten Begründungen die Bürger im oben definierten Sinne instrumentalisieren (B., II., 3.). Weitere Aufgaben einer guten Theorie des entschuldigenden Notstands sind es, die positivrechtliche Lage zu erklären und der Differenzierungstheorie eine sichere Grundlage zu verschaffen. Dafür ist eine sorgfältige Dokumentation der Diskussion erforderlich. Dies soll aber nicht in chronologischer Reihenfolge erfolgen, wie schon oben dargelegt (B., I.). Die Geschichte des entschuldigenden Notstands ist auch die Geschichte seiner Umplatzierung bzw. Zersplitterung in der Verbrechenslehre. Es gilt also zu untersuchen, warum die so gefestigte Überzeugung von der Straflosigkeit keine passende strafrechtsdogmatische Einkleidung gefunden hat. Es bleibt bis heute unklar, ob der entschuldigende Notstand Unrechtsmomente aufweist oder lediglich für die Bestimmung der Schuld oder der Verantwortlichkeit des Täters von Bedeutung ist. Die Meinungen sind, wie schon gesagt, vielfältig und berufen sich nicht nur auf interne Argumente der Strafrechtsdogmatik, sondern bisweilen auch auf solche rechtsphilosophischer oder staatstheoretischer Natur. Deswegen ist eine Reihenfolge zu empfehlen, die die Argumente je nach ihrer Verortung innerhalb der Architektur der Verbrechenslehre berücksichtigt. Man kann schon vorausschicken, dass gegenüber allen Ansätzen in der Lehre ein Verdacht der Instrumentalisierung besteht. Dieses Problem wird nicht einmal erkannt. Eines bleibt, wie gesagt, trotz der verschiedenen und interessanten dogmatischen Ansätze dasselbe: Es werden in erster Linie Gründe vorgetragen, die erklären, warum es aus der Perspektive der Allgemeinheit oder aus der Sicht des Staates vorteilhaft ist, den in Not geratenen Täter ausnahmsweise zu entschuldigen. Dies beruht auf der Verschmelzung der Perspektiven dreier Destinatäre bzw. Adressaten der Begründung – Täter, Opfer und Allgemeinheit –, welche aber strikt voneinander unterschieden werden müssen. Dieser Mangel ist Folge des ausbleibenden Dialogs zwischen Rechtsphilosophie und Strafrechtsdogmatik: „Die aktuelle Notstandsdiskussion der deutschen Strafrechtswissenschaft ist gekennzeichnet durch die völlige Bedeutungslosigkeit rechtsphilosophischer Argumente“, schreibt Renzikowski zurecht.252 Dieser Verdacht wird sich nach der Darstellung in ein definitives Urteil über die Lage der Diskussion verwandeln, die einer Kritik unterzogen werden muss (u. 8.).

252 Renzikowski, JRE 11 (2003), S. 276; auch Pawlik, JRE 11 (2003), S. 287 ff., 314, über „die wechselseitige Durchdringung von Strafrechtsdogmatik und Rechtsphilosophie“.

III. Die Ansätze in der Lehre

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2. Unrechtsproblem? Einige behaupten, der existentielle Notstand sei ausschließlich ein Unrechtsproblem. Die Perspektive der Allgemeinheit rückt ausdrücklich in den Vordergrund bei denjenigen Theorien, die den existentiellen Notstand für eine Erscheinungsform des rechtfertigenden Notstands halten. Die früher vorherrschende Idee, dass das Notstandsproblem durch einheitliche Prinzipien gelöst werden könnte, hat zu dem Schluss geführt, die Notstandshandlung stelle stets ein reines Unrechtsproblem dar. Diesen Ansatz hat vor allem v. Hippel vertreten. Nach ihm beruht die Differenzierungstheorie auf der petitio principii, „daß die Nottat nur dann objektiv rechtsmäßig sein könne, wenn der Täter überwiegende Interessen wahrnahm“ 253. Der in der Notlage befindliche Täter weise aber keinen Defekt auf. Er handle normal: „Die Nottat ist gerade die normale Handlung des rechtlich denkenden, voll zurechnungsfähigen Durchschnittsmenschen. Deshalb erlaubt sie das Recht, und deshalb ist sie objektiv rechtmäßig“ 254. Gerland bemüht sich zugleich, eine Art monistische Theorie des Notstands im Sinne eines einheitlichen Rechtfertigungsgrundes zu konstruieren255. Nach ihm zwingt die „Natur der Sache“ keineswegs zu einer Differenzierung der Fälle256. Er argumentiert zunächst ganz gesetzespositivistisch – wenn der damalige § 53 RStGB die Notwehr als Rechtfertigungsgrund konzipiert habe, warum dann nicht auch § 54 RStGB? – und kommt später zum Argument des materiellen Parallelismus zwischen Notwehr und Notstand: „Und wenn man ein Recht zur Selbstverteidigung begreifen kann, warum soll ein Recht zur Selbstrettung undenkbar sein?“ 257. Die Einheitstheorie sei letztendlich auch einfach zu handhaben und deswegen zu empfehlen258. Allfeld bewegt sich in denselben Bahnen, indem er sagt: „Die Notstandshandlung ist daher, obwohl ihr das Recht des anderen gegenübersteht, in das sie eingreift, nicht rechtswidrig“ 259. Auch Maihofer hat infolge seiner Unterscheidung zwischen Unrechts- und Schuldvorwurf vertreten, der Notstand sei ein Unrechtsausschließungsgrund260. 253

v. Hippel, Deutsches Strafrecht II, 1930, S. 232. v. Hippel, Deutsches Strafrecht II, 1930, S. 234. 255 Gerland, Deutsches Reichstrafrecht, 2. Aufl., 1932, S. 150 ff. 256 Gerland, Deutsches Reichstrafrecht, 2. Aufl., 1932, S. 151. 257 Gerland, Deutsches Reichstrafrecht, 2. Aufl., 1932, S. 151. 258 Gerland, Deutsches Reichstrafrecht, 2. Aufl., 1932, S. 151, 156: „Auch heute muß die Lehre vom Notstand zumindest als verworren bezeichnet werden. Daran trägt in erster Linie die Differenzierungstheorie, d. h. die Auffassung bestimmter Fälle des Notstands als Schuldausschließungsgrund, die Schuld“; ähnlich v. Hippel, Deutsches Strafrecht II, 1930, S. 236. 259 Meyer/Allfeld, Lehrbuch, 7. Aufl., 1912, S. 189. 260 Maihofer, in: FS-Rittler 1957, S. 162 ff.; siehe auch Maihofer, in: FS-Hellmuth Mayer 1965, S. 185 ff., 206: „Dieser Ansatz stellt uns vor die entscheidende Frage, worin in der Sache der Unterschied zwischen den Pflichtkollisionen besteht, welche 254

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C. Theorie des entschuldigenden Notstands

Die Meinung Welzels ist in diesem Kontext deshalb besonders zu berücksichtigen, weil er seine ursprüngliche Meinung später revidiert hat. Welzel hat noch in der zweiten Auflage seines Lehrbuchs eine einheitliche Rechtfertigungstheorie vertreten. Die utilitaristische These, eine Handlung sei nur rechtmäßig, wenn as Saldo letztendlich positiv ist, sei viel zu sehr auf den Erfolgsunwert fixiert. Der Erfolgsunwert sei aber nur ein „Teilmoment des umfassenderen Handlungsunwerts“ 261. Die einheitlichen Entschuldigungstheorien hätten auf der anderen Seite den Gedanken der Unzumutbarkeit wegen der Existenz eines Selbsterhaltungstriebs streng psychologisiert. Maßgeblich sei aber die Wertung oder der „sozialethische Sinn“ der Rechtsordnung262. Der damalige strafrechtliche Notstand (§ 54 RStGB) sei also ein Rechtfertigungsgrund, „auch wenn der angerichtete Schaden größer ist als die drohende Gefahr“ 263. Welzel hat jedoch anerkannt, dass es grundsätzliche Unterschiede gibt zwischen diesem Notstand und den „normalen“ rechtfertigenden Notständen, den damals wie heute geltenden zivilrechtlichen Notständen (§§ 228, 904 BGB). Letztere „geben Notrechte mit entsprechender Duldungspflicht; § 54 rechtfertigt die Notstandshandlung nur in ihrem Handlungswert, legt aber keine Duldungspflicht bezüglich des Sachverhaltsunwerts auf“ 264. Eine Teilnahme wäre aber nach ihm anders als bei den Entschuldigungstheorien unmöglich265. Nach Welzel ist diese Einschränkung bei der Teilnahmefähigkeit schlicht sachlich verfehlt: „Da die Teilnahme Dritter an fremder Notstandshandlung sowohl als Beihilfe wie als Anstiftung straflos ist [. . .], kann auch die unmittelbare Nothilfe durch einen Dritten nicht strafbar sein, denn sie ist nicht wesentlich anders als die Teilnahme an fremder Notstandstat zu werten“ 266. Welzel hat diese Konstruktion später aufgegeben und sich der Differenzierungstheorie angeschlossen: „Die Notstandshandlung ist, wenn sie nicht das (wie beim sog. rechtfertigenden übergesetzlichen Notstand in Fällen der Pflichtkollision) bereits die Rechtswirkung eines Unrechtsausschließungsgrundes haben, und denjenigen, welche (wie regelmäßig beim sog. entschuldigenden strafrechtlichen Notstand) lediglich die Rechtswirkung eines Schuldausschließungsgrundes haben. Offenkundig liegt der Unterschied zwischen solchen generellen Pflichtenkollisionen, welche bereits den Unrechtsvorwurf, und den individuellen Pflichtenkollisionen, welche lediglich den Schuldvorwurf ausschließen, darin, daß auf der Ebene des Unrechts die aus den strafrechtlichen Bestimmungsnormen folgende Rechtspflicht auf die öffentlichen, rechtlichen Pflichten der Person als Sozialperson bezogen werden, auf der Ebene der Schuld dagegen auf die an die Person als Individualperson sich richtenden persönlichen sittlichen Pflichten ,gegen sich selbst‘ und ,gegen seine Nächsten‘ einbezogen werden“; die Notstände gehörten in die erste Kategorie. 261 Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 2. Aufl., 1949, S. 50 f. 262 Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 2. Aufl., 1949, S. 50 f., 52: „Die Notstandshandlung ist rechtsmäßig, weil und soweit das Recht die Selbsterhaltung in Notlagen auch unter Opferung anderer Güter positiv würdigt.“ 263 Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 2. Aufl., 1949, S. 52. 264 Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 2. Aufl., 1949, S. 51. 265 Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 2. Aufl., 1949, S. 50 ff. 266 Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 2. Aufl., 1949, S. 52.

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angemessene Mittel zum angemessenen Zweck ist, rechtswidrig, wird aber wegen Unzumutbarkeit rechtsmäßigen Verhaltens entschuldigt“ 267. In jüngerer Zeit wird diese These mit originellen Argumenten von Gimbernat vertreten268. Es gebe Handlungen, auf die das Strafrecht nicht einwirke, weil es nicht einwirken wolle, und andere, gegen die sich die Strafandrohung prinzipiell als unwirksam erweise269. Im ersten Fall hätten wir es mit einem echten Rechtfertigungsgrund zu tun. Genau so verhalte es sich bei der Nichtbestrafung von Nothandlungen: „Mit einer Strafe gegen Notstandstaten vorzugehen, würde keineswegs sinnlos sein: Man könnte vielmehr damit erreichen, daß viele – um der Strafe zu entgehen – die Verletzung des eigenen Rechtsgutes hinnehmen würden, statt das fremde zu beeinträchtigen. Das könnte das Strafrecht in der Tat erreichen, wenn es wollte; nur: es will es nicht“ 270. Er zieht aber nicht alle Konsequenzen dieser starken Behauptung. Er vertritt die Meinung, dass ein Notstand gegen Notstand durchaus möglich sei, denn trotz der Rechtmäßigkeit sei die Nottat „keine wertvolle, sondern höchstens eine gleichgültige Situation“ 271, nicht aber Notwehr gegen Notstand, „weil bei der Abwehr der Nothandlung die Rechtsordnung nicht verteidigt wird“ 272. Er fügt ein fairnessbasiertes Argument hinzu: Es sei ungerecht, dem Betroffenen das zu verbieten, „was für den anderen Handelnden erlaubt ist“ 273. Die Rechtfertigungsthese wurde in der Literatur bereits zu Genüge kritisiert274. Erstens lässt sie sich mit der deutschen positiven Rechtsordnung nicht vereinbaren – wobei hier darauf hinzuweisen ist, dass Gimbernat seinen Aufsatz vor dem Inkrafttreten des 2. StrRG (1.1.1975) und damit des § 35 in seiner heutigen Fassung veröffentlicht hat –, so dass ihr Erklärungspotenzial durchaus kompromittiert ist. Diesem Einwand könnte man entgehen, wenn die These materiell richtig wäre und damit das positive Recht als falsch zu entlarven wäre, mit anderen Worten: wenn die These Begründungspotenzial aufwiese. Der These gelingt es jedoch nicht, gegenüber dem Täter und dem Opfer zu begründen, warum eine Tötung oder schwere Verletzung eines unschuldigen Mitbürgers straflos bleibt. 267

Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl., 1969, S. 180. Gimbernat, in: FS-Welzel 1974, S. 485 ff.; Küper, JZ 1983, S. 88 ff., 89: „Denn Gimbernat beruft sich keineswegs auf antiquierte ,einheitstheoretische‘ Argumente“; Luzón Peña, Lecciones, 3. Aufl., 2016, S. 547, der meint, dass bei Gleichrangigkeit der in Not geratenen Rechtsgüter der Notstand stets rechtfertigend wirke. 269 Gimbernat, in: FS-Welzel 1974, S. 485 ff., 491. 270 Gimbernat, in: FS-Welzel 1974, S. 485 ff., 492, 496: „Der Notstand ist deswegen ein Rechtfertigungsgrund, weil hierbei das Strafrecht nicht auf die Strafe verzichtet, weil sie sinnlos zur Bekämpfung der Nottat ist, sondern deshalb, weil es solches Verhalten gar nicht bekämpfen will.“ 271 Gimbernat, in: FS-Welzel 1974, S. 485 ff., 496. 272 Gimbernat, in: FS-Welzel 1974, S. 485 ff., 497. 273 Gimbernat, in: FS-Welzel 1974, S. 485 ff., 496. 274 Siehe vor allem die überzeugende ausf. Kritik von Küper, JZ 1983, S. 88 ff. 268

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C. Theorie des entschuldigenden Notstands

Sie stellt eher eine inakzeptable Simplifizierung eines komplexen Sachverhalts dar: Es gibt viele Gründe, weshalb der Staat von der Bestrafung eines Verhaltens absieht275. Roxin hat Recht, wenn er sagt: „Gimbernats von der Prämisse her völlig logischer Gedankengang krankt also an der mangelnden Verarbeitung der Einsicht, daß Schuld auch unter strafrechtsdogmatischen Aspekten zwar eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung der Strafsanktion ist“ 276. Die Idee eines fehlenden Sanktionierungswillens des Staats ist zu einseitig und schließt andere wichtige Gesichtspunkte aus. Die Kriterien, die die Grenzen der äußeren Rechtssphäre der Bürger bestimmen, sind vielfältig und erschöpfen sich nicht in der Erwägung, ob der Staat dieses Verhalten nicht mit Strafe bedrohen kann oder will. Das Abstellen auf einen hypostasierten Sanktionierungswillen bleibt indes in einem Staatsräsongedanken verhaftet. Über die Rechte der Bürger wird hier überhaupt nicht gesprochen. Die Frage zum Beispiel, wie man einen existentiellen Eingriff in die Rechtssphäre eines Bürgers, von dem keine Gefahr ausgeht, legitimiert, wird nicht einmal gestellt. Jede Unrechtsausschlusslösung bedeutet letztendlich eine Stellungnahme des Rechts zu Gunsten des Stärkeren, was die liberale Haltung zu Gunsten des Schwächere zu annullieren droht277. Der Hinweis, dass dem Opfer trotz der Rechtmäßigkeit der Tat ein Notwehrrecht zustehen sollte, fordert die Logik heraus und löst das fundamentale Problem der Rechtmäßigkeit der Tötung oder schweren Verletzung eines Unschuldigen nicht. Die Fixierung auf den Bestrafungswillen scheint zudem vergessen zu machen, dass die Rechtfertigungsgründe aus der gesamten Rechtsordnung stammen. Auf das Differenzierungspotenzial dieses Ansatzes muss man nicht näher eingehen: Dieser Ansatz differenziert schlicht gar nichts. Der hervorzuhebende Vorteil dieses Ansatzes ist seine Aufrichtigkeit. Durch die Bestimmung, der existentielle Notstand sei immer ein Unrechtsproblem, behauptet man ganz klar, dass hierfür nur die Perspektive der Allgemeinheit maß-

275 Küper, JZ 1983, S. 88 ff., 93; siehe auch Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl., § 22, Rn. 6, S. 965: „Eine Rechtfertigung bedeutet das so wenig wie etwa die versuchte einfache Körperverletzung (§ 223) oder die fahrlässige Sachbeschädigung dadurch gerechtfertigt werden, dass der Gesetzgeber sie nicht unter Strafe gestellt hat.“ 276 Roxin, JuS 1988, S. 425 ff., 429. 277 Otto, Pflichtenkollision, 3. Aufl., 1978, S. 78: „Der Stärkere, Schnellere würde ,mit Recht‘ überleben“; er schägt der das Kriterium der „Chancenanmaßung“ für die Fälle der eigenen Rettung vor. Der Täter sei nicht zu „mißbilligen“, wenn er „in der Absicht der Rettung des eigenen Lebens „handelt; und wenn er zugleich nicht die Lebensrettungschancen des Betroffenen vernichtet, um die eigenen Chancen zu erhöhen“ (S. 88). Nur also die „Anmaßung fremder Chancen“ werde von der Rechtsordnung „mißbilligt“, da heißt: mit einem Rechtswidrigkeitsurteil versehen (S. 94), wobei anzumerken ist, dass der Autor selbst darauf hinweist, „es ist nicht gelungen, eine Definition der Rechtswidrigkeit zu geben“ (S. 110); dazu eingehend Küper, Pflichtenkollision im Strafrecht, 1979, S. 39 ff., 42: „Die zentrale Argumentationsfigur der ,Chancenanmaßung‘ fungiert als eine Art Regulativ zur ,Feinstrukturierung‘ der Geltungsgrenzen des Tötungsverbots.“

III. Die Ansätze in der Lehre

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geblich sei. Damit handelt es sich um eine Manifestation eines offenkundigen Kollektivismus, was bei den anderen Ansätzen nicht der Fall ist: Sie praktizieren eine Art von verdecktem Kollektivismus, wie wir sogleich sehen werden. 3. Schuldproblem? Andere Autoren behaupten, der entschuldigende Notstand sei in der Tat ein genuines und exklusives Schuldproblem. Schuld ist dem Sinne des Wortes nach ein individuelles Anliegen. Trotzdem werden alle Versuche, den entschuldigenden Notstand als ein Schuldproblem zu erklären, letztendlich aus der Perspektive der Allgemeinheit unternommen. Die Idee hat mindestens seit Pufendorf Konjunktur. Die Selbsterhaltung sei sowohl „ein äußerst empfindsamer Trieb als auch ein Gebot der Vernunft“ 278. Im Lebensnotstand könne der Mensch nicht anders, „als das zu meiden und aus dem Wege zu räumen, was zu seiner Vernichtung führen würde“ 279. Kurz gesagt: „Not kennt kein Gebot“ 280. Es wäre aber falsch zu behaupten, dass Pufendorf den Notstand psychologisiert habe. Die Erklärung Pufendorfs entsteht durch eine Anwendung seiner Zurechnungslehre auf diese Fälle. Eb. Schmidt hat also Recht, wenn er meint, Pufendorf erkläre den Notstand nicht „aus tatsächlichen oder vermuteten psychologischen Gründen, sondern aus einer inhaltlichen Beschränkung der Normen entfällt hier die Möglichkeit der Zurechnung“ 281. Die strafrechtliche Diskussion erklärt den Grund der Straffreiheit des entschuldigenden Notstands vor allem mit straftheoretischen Argumenten. Ferneck bezeichnete diesen Ansatz mit dem Begriff der „Äquitatstheorie“ 282, eine Bezeichnung, die sich aber, soweit ich sehe, nicht durchgesetzt hat. So hat Feuerbach die „Motivierbarkeit“ des in Notstand handelnden Täters in Zweifel gezogen: Die Strafandrohung sei gegenüber den Menschen in existentieller Notlage wirkungslos oder: Die Strafandrohung verliere ihre Wirksamkeit, wenn „ein solcher unver278 Pufendorf, Über die Pflicht, Erstes Buch, 5. Kapitel, § 5, 1994, S. 61; laut Welzel ist die Lehre Pufendorfs inhaltlich auf dem „Prinzip der Selbsterhaltung“ gebaut, „sei es der unbeschränkten im Naturzustand oder der beschränkten im Staat“, Welzel, Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs, 1958, S. 19. 279 Pufendorf, Über die Pflicht, Erstes Buch, 5. Kapitel, § 18, 1994, S. 68; siehe auch: „Der Mensch ist also das Lebewesen, das am meisten auf seine Selbsterhaltung bedacht ist“, ders., Über die Pflicht, Erstes Buch, 3. Kapitel, § 7, 1994, S. 47. 280 Pufendorf, Über die Pflicht, Erstes Buch, 5. Kapitel, § 18, 1994, S. 67 f. 281 Eb. Schmidt, Einführung, 3. Aufl., 1965, S. 170 f.; siehe auch Welzel, Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs, 1958, S. 84 ff., S. 90 f.: „In den Fällen höchster Not hört die Verpflichtungskraft der Gesetze auf, aber nicht aus psychologischen Gründen, etwa darum, daß sie überhaupt nicht mehr motivieren könnten, sondern aus Gründen, die im Gesetze selbst liegen.“ 282 So ausf. v. Ferneck, Rechtswidrigkeit, Bd. II/1, 1905, S. 43 ff.; darüber auch Marcetus, Zumutbarkeit, 1928, S. 62 ff.

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C. Theorie des entschuldigenden Notstands

schuldeter Zustand der Person, in welchem, selbst bei dem Bewusstsein des Strafgesetzes, die mögliche Wirksamkeit desselben auf das Begehren aufgehoben war“ 283. Das sei der Fall, wenn die Tat „bei gegenwärtiger dringender Gefahr für das Leben oder für anderes, unersetzliches persönliches Gut, als einziges Mittel der Rettung begangen worden ist“ 284. Das hieße: „nur unter Voraussetzung der Abschreckungsmöglichkeit [kann] ein Rechtsgrund der Zufügung der Strafe vorhanden seyn“ 285. Der Notstand ist so verstanden ein Schuldproblem, das sich der Zurechnungsfähigkeit bzw. „Imputativität“ annähert. So hat Baumgarten vertreten: „Was kann die Drohung mit Strafe nützen, wenn die Unterlassung des Handelns, als dessen Folge sie in Aussicht gestellt wird, ein an Schwere nicht zu überbietendes Uebel mit einer Gewißheit und in einer Nähe, die dem Strafübel nicht zukommen, nach sich zieht?“ 286. Die Ideen des Selbsterhaltungstriebes und der Erschwerung der Motivation sind in der Literatur häufig zu finden. Andere Autoren haben ähnliches vertreten. Max Ernst Mayer wollte alle Fälle des Notstands einheitlich als Entschuldigungsgründe behandeln287. Auch er vertritt, die Entschuldigung beruhe auf einer „Negierung eines Schuldelements“, „die Pflichtwidrigkeit oder, was auf dasselbe hinauskommt, die Mißbilligung der Motivation [wird] verneint“ 288. Nicht von ungefähr hat Binding die Lust am eigenen Leben – als Kehrseite der Todesangst des Menschen – als „die Mutter des Menschenopfers“ bezeichnet: „Daher sein ständiger Zusammenhang mit der Angst vor der Niederlage im Kampfe – sei’s mit dem Feind, sei’s mit dem Meer, sei’s mit der Hungersnot“ 289. Baumgarten vertrat zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch ausdrücklich die These, der entschuldigende Notstand sei ein Unzurechnungsfähigkeitsgrund. Das Verbrechen sei ein „freier schuldhafter Willensakt“ 290. Die Bestimmung, „ob im Einzelfall Willensfreiheit vorlag oder nicht“, sei die Aufgabe einer Zurechnungsfähigkeitslehre, die in einen weiten Sinn verstanden werden solle291. Das Verbrechen sei 283

Feuerbach, Lehrbuch, 14. Aufl., 1847, § 91, S. 179. Feuerbach, Lehrbuch, 14. Aufl., 1847, § 91, S. 179 285 Feuerbach, Lehrbuch, 1. Aufl., 1801, § 92, S. 72. 286 Baumgarten, Notstand, 1911, S. 18: „Würde im bürgerlichen Leben in Fällen des Notstandes Aufopferung der Existenz Bedingung für den Bestand der Gesellschaft sein, so würde die Verweigerung dieses Opfers solcher ethischen Mißbilligung von Seiten der Rechtsgenossen begegnen, daß eine Strafdrohung eine genügende Unterstützung hätte, um auf Wirksamkeit rechnen zu könne. Aber die Voraussetzung ermangelt: dem, der einen andern von der Planke, die nur einen tragen kann, ins Meer stürzt, um sich zu retten, braucht man solches Tun nicht allzusehr zu verübeln, weil er ja schließlich nur bewirkt, daß ein Leben statt eines andern zugrunde geht.“ 287 M. E. Mayer, Der allgemeine Teil, 2. Aufl., 1923, S. 300 ff.; er behauptet, die Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe seien beide „Strafausschließungsgründe“ im allgemeinen Sinn (s. 269 ff.). 288 M. E. Mayer, Der allgemeine Teil, 2. Aufl., 1923, S. 301. 289 Binding, Die Entstehung, 1909, S. 11. 290 Baumgarten, Verbrechenslehre, 1913, S. 124. 284

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demnach „als Willensakt des Zurechnungsfähigen“ zu definieren292. Zur Zurechnungsfähigkeitslehre gehöre also viel mehr als die Bewusstseinsstörungen des Täters, nicht zuletzt auch der strafrechtliche Notstand293. Er räumt ein, dass die Ansicht, „daß der Notstand die Zurechnungsfähigkeit ausschließe, heutzutage als durchaus veraltet [gilt]“ 294. Niemand vertrete aber mehr ernsthaft, dass der Notstand insgesamt ein auf dem Güterabwägungsprinzip beruhendes Unrechtsproblem darstelle. Andererseits sei zugleich anerkannt, dass der strafrechtliche Notstand den Täter seiner Willensfreiheit nicht völlig beraube: „sie [Not] mag ganz wohl noch so viel von dieser Freiheit übrig lassen, daß nicht nur die Moral, sondern auch das Recht die Notstandshandlung als einen verwerflichen Akt aufsieht und daher verbietet“ 295. Diese Feststellung hindere es aber nicht, „daß wegen Minderung der Willensfreiheit der Vorwurf nicht genug erscheint, um eine Bestrafung zu rechtfertigen. [. . .] Die besondere psychische Verfassung legt im Falle des Notstands den Schluß auf die Geringfügigkeit der Schuld des Einzeltäters nahe“ 296. Baumgarten kommt dann zu dem Schluss, „da nur die Rettungshandlung entschuldigt wird“, stelle der entschuldigende Notstand „einen Fall partieller Unzurechnungsfähigkeit“ dar297. Brauneck hat sich diesem Ansatz angenähert, indem sie ausführt, „das typische Bild, unter dem man sich diesen Notstand vorstellt, ist doch das der Panik, der blinden, instinktiven Rettungshandlungen eines Menschen, dessen System auf diese primitivsten Funktionen umgestellt ist und darum nicht ,funktionstüchtig‘ zur Abwägung und Befolgung des Rechts“ 298. Es bestehe eine „Vermutung der Unzurechnungsfähigkeit in Gefahr für Leib und Leben“ 299. Alle Entschuldigungsgründe seien eigentlich „Unterfälle der Unzurechnungsfähigkeit“ 300. Das Argument des Selbsterhaltungstriebes taucht noch heute in der modernen Literatur auf, jedoch in Kombination mit anderen Argumenten. Schünemann zum Beispiel hat sich diesem Ansatz, der die Wirkungslosigkeit der Strafandrohung 291

Baumgarten, Verbrechenslehre, 1913, S. 124. Baumgarten, Verbrechenslehre, 1913, S. 124 ff. 293 Baumgarten, Verbrechenslehre, 1913, S. 126. 294 Baumgarten, Verbrechenslehre, 1913, S. 126. 295 Baumgarten, Verbrechenslehre, 1913, S. 126. 296 Baumgarten, Verbrechenslehre, 1913, S. 127. 297 Baumgarten, Verbrechenslehre, 1913, S. 127, der selbst die naheliegende Kritik antizipiert, seine Auffassung erkläre nicht, warum die Straflosigkeit auch eintrete, wenn der Täter trotz der Not ganz in Ruhe gehandelt habe. Nach ihm ist der Notwehrexzess „ein vielleicht noch besseres Beispiel für Unzurechnungsfähigkeit als der Notstand“, was den zu Beginn dieser Abhandlung geäußerten Verdacht bestätigt, dass die gemeinsame Behandlung das Wesentliche verbirgt. 298 Brauneck, GA 1959, 262 ff., 269; dagegen zurecht Roxin, in: FS-Brauneck, S. 385 ff. 299 Brauneck, GA 1959, 262 ff., 269. 300 Brauneck, GA 1959, 262 ff., 269, 272. 292

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als Argument im Rahmen der Schuldlehre befürwortet, angeschlossen, ohne dabei aber die alte These der Unzurechnungsfähigkeit zu vertreten. Er meint, die Begründung des entschuldigenden Notstands fuße auf zwei selbständig tragfähigen Säulen: „unter dem empirischen Aspekt des ,Anders-Handeln-Könnens‘, d.h. der individuellen Vermeidbarkeit der Tat als Voraussetzung des Schuldvorwurfes, geht es um die Unwiderstehlichkeit des Selbsterhaltungstriebs; und auf der zweiten Stufe der Strafzwecke geht es um die bereits von Kant erkannte generalpräventive Sinnlosigkeit jeglicher Strafandrohung, die den Täter zur Preisgabe seines eigenen Lebens motivieren soll“ 301. Beim entschuldigenden Notstand gehe es um einen Fall, wo gegenüber einem „noch tolerablen Ausmaß menschlicher Schwäche Nachsicht geübt [wird] und das sozialschädliche Handeln also nur dann bestraft, wenn die Normbefolgung ohne weiteres zumutbar war“ 302. Auch das Reichsgericht hat stets das psychologisierende Argument des „Selbsterhaltungstriebs“ und des „starken seelischen Drucks“ als entscheidend für die Begründung einer Straffreiheit erachtet303. Diese Merkmale seien echte Schuldmerkmale. Der Bundesgerichtshof äußert bisweilen, dass das Recht „keine heldenhafte Haltung und Selbstsaufopferung“ verlangen dürfe (BGH Urteil vom 06.11.1951 – 1 StR 27/50). Diese Ideen liegen auch sowohl dem Entwurf 1962 als auch dem Alternativ-Entwurf 1966 zugrunde304. Das Argument des einem jeden Menschen innewohnenden Selbsterhaltungstriebes, der eine im Schuldbereich zu berücksichtigende Erschwerung der Motivation hervorruft, hat also eine lange Tradition. Trotzdem ist dieser Gedanke nicht imstande, den Gesamtkomplex des entschuldigenden Notstands zu erklären, zu begründen und vom rechtfertigenden Notstand zu differenzieren. Diese auf die Wirkungslosigkeit der Strafandrohung und auf den Gedanken des Selbsterhaltungstriebes basierte Konstruktion weist zunächst kein Erklärungspotenzial auf. Der numerus clausus der Rechtsgüter erklärt sich nicht305. Denn die Bedrohung der wirtschaftlichen Existenz der eigenen Familie z. B. könnte die Motivation mindestens gleichermaßen wie eine Leibesgefahr beeinträchtigen. Es ist auch nicht einzusehen, warum nicht ebenso andere Triebe von gleicher Intensität berücksichtigt werden sollten306. Auch die Ausnahmeregelungen sind dadurch nicht zu erfassen: Ein Täter z. B., der die Gefahr für seinen Sohn selbst verursacht hat, ist wahrscheinlich schwerer zu motivieren als ein Vater, der nichts getan hat. Denn der zweite kann den Zufall beschuldigen; der erste muss aber danach mit dem eigenen Schuldgefühl leben. Schließlich ist die Be301 302 303 304 305 306

Schünemann, ARSP Beiheft 100, 2005, S. 145 ff., 153. Schünemann, Coimbra Symposium für Claus Roxin 1995, S. 149 ff., 164. Baumgarten, Notstand, 1911, S. 18: „Prinzip des Selbsterhaltungstriebes“. Siehe Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl., § 22, Rn. 1 ff. So schon v. Ferneck, Rechtswidrigkeit, Bd. II/1, 1905, S. 44. Rudolphi, ZStW 78 (1966), S. 67 ff., 76.

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gründung zu schwach. Es wäre dann immer Aufgabe der Empirie festzustellen, ob der Täter noch motivierbar ist307. Das Hauptproblem ist aber der Adressat der Begründung, also das fehlende Begründungspotenzial: Maßgeblich ist auch hier die Perspektive der Allgemeinheit. Kurz gesagt: Es kann gut sein, dass wir den Täter von strafbarem Verhalten abhalten wollten bzw. dürften; wir schaffen es vor allem im Lebensnotstand lediglich nicht. Eine Rechtfertigung, auch gegenüber dem zu bestrafenden Täter bzw. dem unbeteiligten Opfer liefert dieses Argument nicht. Ob der behauptete Selbsterhaltungstrieb schließlich eine Differenzierung ermöglicht, ist zu bezweifeln, denn auch beim rechtfertigenden Notstand können existentielle Rechte auf der Erhaltungsseite stehen. In der gegenwärtigen Literatur sind andere Begründungen für die Schuldrelevanz des entschuldigenden Notstands zu finden. Unter diesen neuen Strömungen sind vor allem die normtheoretische These Fristers, die Thesen der Jakobs’schen Schule und die Begründung Pawliks besonders hervorzuheben. Das große Verdienst Fristers ist es, den entschuldigenden Notstand als ein genuines Schuldproblem zu begreifen. Er sucht nach einer „originären entschuldigenden Komponente“ 308. Frister unterscheidet zwischen der „Bewertung der Tat aus der Perspektive der Gemeinschaft“ – Rechtswidrigkeitsurteil – und der „Bewertung der Tat aus der Perspektive des Täters“ – Schuldurteil. Das Rechtswidrigkeitsurteil sei eine Bewertungsnorm, wobei „das Recht von dem Betroffenen nicht in jedem Fall verlangt, sich selbst für das rechtmäßige Verhalten zu entscheiden“.309 Erst die Schuld und die Zumutbarkeit enthielten eine Bestimmungsnorm für den Betroffenen310. Der Täter verdiene keinen Vorwurf 311, wenn er seiner eigenen Existenz Vorrang gewähre312. Er verletze dadurch keine Be307 So schon Otto, Pflichtenkollision, 3. Aufl., 1978, S. 63: „Zum anderen aber gelang Feuerbach nicht, eine allgemeine Notstandslösung zu finden. Er gibt lediglich einen Katalog einzelner Handlungen. Wann und wieweit aber unter Umständen eine Rechtspflicht zum Bestehen der Notstandssituation begründet ist, dass kann Feuernach genausowenig deuten wie z. B. Fichte.“ 308 Frister, Die Struktur, 1993, S. 211. 309 Frister, Die Struktur, 1993, S. 161. 310 Frister, Die Struktur, 1993, S. 161. 311 Frister, Strafrecht, AT, 7. Aufl., 2015, § 20, Rn. 5, S. 264 f. 312 Ähnlich Puppe, Strafrecht AT, 3. Aufl.§ 17, Rn. 5, S. 216: Verständnis für den Täter, wenn er nach seinen Präferenzen handelt: „Der Täter kann gewissermaßen sagen, ich weiß, dass das Recht mein Handeln nicht billigt, ich müsste aber wieder so handeln, falls ich nochmals in einen solchen Konflikt geraten sollte“; so schon Broglio, Der strafrechtliche Notstand, 1928, S. 23: „Das Recht kann von keinem der in Gefahrgemeinschaft Befindlichen verlangen, sein eigenes Leben niedriger als das seines Leidensgenossen zu veranschlagen“; er folgert aber daraus, die Handlung sei „unverboten“; auch Otto sucht nach Kriterien „der Priorität und der Präferenzen“ für die Lösung dieser Fälle: Otto, Pflichtenkollision, 3. Aufl., 1978, S. 1; auch Hellmuth Mayer hebt den Vorrang der eigenen Interessen hervor: im Fall des von ihm sogenannten „subjektiven Notstands“ sei aber die Handlung als unverboten zu bezeichnen (s. o.), H. Mayer, Strafrecht AT, 1953, S. 189.

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stimmungsnorm313. Auch Puppe schließt sich diesem Ansatz an, indem sie sagt, die Rechtsordnung habe Verständnis dafür, „dass er sich nach seinen persönlichen Präferenzen gerichtet hat“ 314. Wie weit dieses Verständnis reiche, sei Sache des Gesetzgebers: „Wie viel Nachsicht das Recht mit dem Bürger üben will, der statt nach den Präferenzen des Rechts nach seinen eigenen Präferenzen handelt, ist der Entscheidung des Gesetzgebers anheim gegeben“ 315. Wortmann schlägt eine ähnliche Konstruktion vor und will den entschuldigenden Notstand durch die Entstehung eines Konflikts zwischen „universalistischen und loyalistischen Wertmaßtäben“ erklären316. Die unbehebbare Inkompatibilität zwischen der Bewertung der Gesellschaft – „die Handlung ist rechtswidrig“ – und der Bewertung des Täters – „ich muss aber so handeln, denn anders werde ich untergehen“ – begründe die Existenz eines entschuldigenden Notstands.317 Damit bleiben aber immer noch die Ausnahmen des § 35 I 2 zu erklären. Diese Schwierigkeit schuldet die Theorie Fristers ihre Annäherung an das „altbekannte Selbsterhaltungsmotiv“ 318: Die eigenen Präferenzen vorzuziehen, ist nichts anderes als die Normativierung des Selbsterhaltungstriebes. Es bleibt deswegen noch näher zu erläutern, warum nicht auch der Selbstverursacher der Gefahr seiner eigenen Existenz den Vorrang geben darf. Hier greift er – wie sonst fast alle Ansätze in der Lehre – auf den Gedanken der Generalprävention zurück, auch wenn er es „sozialethische Komponente der Schuld“ nennt319: So scheitere die Entschuldigung bei Selbstverursachung der Gefahr, „weil das die Entscheidung konstituierende Verständnis für die Bevorzugung der eigenen Interessen im allgemeinen Rechtsbewußtsein weitgehend verloren geht, wenn der Betroffene für die Kollision selbst verantwortlich ist“ 320. Auch eine Entschuldigung des Täters, der in einem besonderen Rechtsverhältnis steht, sei „wegen des gemein313 Pawlik, Das Unrecht, 2012, S. 350: „Wer die Bewertung seiner Handlung durch die Allgemeinheit aus massiv belastenden ,Gründen (,Rechtsfeindlichkeit‘) nicht nachvollzieht, kann weder rechtlich noch sozialmoralisch mit Nachsicht rechnen. Es kommt vielmehr darauf an, ob die individuelle Bewertung sozial als zumindest verständlich eingeschätzt wird.“ 314 Puppe, Strafrecht AT, 3. Aufl., S. 226. 315 Puppe, Strafrecht AT, 3. Aufl., S. 226. 316 Wortmann, „Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens“, 2002, S. 88 ff. 317 Wortmann, „Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens“, 2002, S. 88 ff. 318 Pawlik, Das Unrecht, 2012, S. 350; Roxin, in: FS-Yamanaka 2017, S. 467 ff., 483: „keine konstruktiv mögliche These“; zutreffend hat Frister selbst das Beharren der Theorien auf der expliziten oder impliziten Beibehaltung der „Theorie des psychischen Drucks“ als Kardinalfehler bezeichnet: Frister, Die Struktur, 1993, S. 210. 319 Frister, Die Struktur, 1993, S. 259: die Entschuldigung legitimierte sich „nicht aus einer spezifischen Notwendigkeit von Sanktionen zur Erhaltung der Normanerkennung, sondern aus einer spezifischen Notwendigkeit der Norm für das gesellschaftliche Zusammenleben, ist also sozialethisch motiviert und hat mit Generalprävention im eigentlichen Sinne des Wortes nichts zu tun“. 320 Frister, Die Struktur, 1993, S. 213.

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samen Interesses aller Individuen an einem geordneten gesellschaftlichen Zusammenleben nicht tragbar“ 321. Dass das als eine Schuldkomponente verstanden wird und nicht als ein präventiver Aspekt, ändert nichts daran, dass die maßgebliche Perspektive die der Gemeinschaft ist. Auch bei ihm geht es letztlich „um die Beantwortung der Frage [. . .], welche Entscheidungen von dem einzelnen um des gesellschaftlichen Zusammenlebens willen legitimerweise verlangt werden können“ 322. Mit anderen Worten: Trotz der weiterführenden Gedanken weist seine Theorie kein Begründungspotenzial auf. Trotz ihres indivualistischen Ausgangspunkts werden die Ausnahmeregelungen des § 35 I 2 nur aus der Perspektive der Allgemeinheit erklärt und begründet. Die Perspektive der Allgemeinheit wird in offener und aufrichtiger Weise von der Jakobs’schen Schule (vor allem von Müssig und Timpe) in den Vordergrund gestellt. Von Täter und Opfer ist nicht die Rede. Denn die Schuld ist nach Jakobs insgesamt als ein „Derivat der Generalprävention“ zu verstehen und „hängt in dem Maß von der jeweiligen Verfassung der Gesellschaft ab“ 323. Der Täter lade Schuld auf sich, wenn er zuständig für die begangene rechtswidrige Tat sei: „Diese Zuständigkeit für einen Mangel an dominanter rechtlicher Motivation bei einem rechtswidrigen Verhalten ist die Schuld“ 324. Zuständigkeit bedeute, dass der Täter als Grund des Konfliktes zu betrachten sei325. Eine Erledigung des Konflikts ohne Bestrafung des Täters scheine inakzeptabel326. Soweit aber andere Möglichkeiten der Verarbeitung des Konflikts bestünden, „kann an die Stelle des Täters als Sinnproduzent seine Natürlichkeit treten“ 327. In seinem späteren Werk legt Jakobs Wert auf die Gegenüberstellung von deliktischem Sinn und Natur328: „Was nicht zugerechnet werden kann, ist, da Schicksal als Sinnspender in der Moderne ausscheidet, sinnlos, Natur“ 329. Nach ihm sind Norm, Normbruch und Strafe als „kommunikative Sequenz“ zu verstehen330. Schuldlos handle der Täter, „der sich trotz der gegebenen oder doch potenziellen Unrechtseinsicht als 321

Frister, Die Struktur, 1993, S. 214. Frister, Die Struktur, 1993, S. 215. 323 Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl., S. 482: „Zur Bestimmung der Schuld ist also auszuhandeln, wie viele soziale Zwänge dem von der Schuldzuschreibung betroffenen Täter aufgebürdet werden können und wie viele störende Eigenheiten des Täters vom Staat und von der Gesellschaft akzeptiert oder von Dritten – auch vom Opfer selbst – getragen werden müssen.“ 324 Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl., S. 469. 325 Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl., S. 480. 326 Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl., S. 487. 327 Jakobs, System, 2012, S. 60. 328 Jakobs, System, 2012, S. 60 f.: „Was Sinn ist und was Natur ist, ist nicht etwa vorgegeben, richtet sich vielmehr nach den Bedürfnissen und Möglichkeiten der Gesellschaft.“ 329 Jakobs, System, 2012, S. 23: „Der Code, den es bei der Entwicklung eines Zurechnungssystems zu konkretisieren gilt, lautet also ,Sinn versus Natur‘.“ 330 Jakobs, System, 2012, S. 9. 322

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ein nur-natürliches Geschehen und damit als sinnlos darstellen lässt“ 331. Diese „Kreatürlichkeit“ reiche aber nur so weit, „wie sich die Gesellschaft diese Sicht ,leisten‘ kann“ 332. Der entschuldigende Notstand sei eine Situation, die durch den Zufall oder durch das Unglück ohne Normdestabilisierung erklärt werden könne333 oder stelle eine Gelegenheit dar, „den vom Tod Bedrohten als Kreatur, Naturwesen, zu behandeln (sogenannter entschuldigender Notstand), allerdings nur, wenn ihn nicht die Obliegenheit traf, sich auf die Not einzustellen“ 334. Die Zumutbarkeitsklausel des § 35 I 2 wird ebenfalls mit dem Zuständigkeitsbegriff erklärt: „Die Erfüllung der Voraussetzungen entschuldigt nur, wenn der Täter nicht für die Konfliktlage zuständig ist“ 335. Hier erfolge aber keine außerordentliche, sondern eine normale bzw. ordentliche Zurechnung. Einigen werde trotz der existentiellen Notlage zugemutet, dass sie Rechtstreue leisten, vor allem denjenigen, „die sich ,die Suppe selbst eingebrockt‘ oder besondere Pflichten zu tragen und somit Anlass haben, sich entsprechend ,einzurichten‘. Die Schuld der Letztgenannten wird nicht durch außerordentliche, sondern durch besonders strenge ordentliche Zurechnung begründet“ 336. Es ist Jakobs hoch anzurechnen, dass er die Opferseite in der Diskussion über die ratio des entschuldigenden Notstands auch anhand normativer Erwägungen berücksichtigt, vor allem im Rahmen der Ausnahmeregeln (§ 35 I 2). So sagt er: „Dass der Täter nicht in der Obliegenheit stand, sich auf die Gefahrenlage einzustellen, erklärt auch, warum dem Opfer der Schutz einer gegen den Täter gerichteten Strafdrohung entzogen wird: Die Personalität des Täters wird als von seiner Kreatürlichkeit überrollt dargestellt und Sinnproduktion nicht mehr erwartet. [. . .] Von dem Täter hingegen, der sich auf den Konflikt einstellen musste, wird noch die Produktion von Sinn erwartet“ 337. Lugert versucht eine merkwürdige Kombination dieser Thesen mit einer objektivierten Fassung der Theorie des psychischen Drucks, ohne aus mei331 Jakobs, System, 2012, S. 60, 62: Schuld „als ein Zurückbleiben hinter einem aus Stabilisierungsgründen objektiv zu verlangenden Maß an Rechtstreue“. 332 Jakobs, System, 2012, S. 63. 333 Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl., S. 497 f., 567 ff. 334 Jakobs, System, 2012, S. 63 f.; siehe schon Jakobs, Norm, 3. Aufl., 2008, S. 104: Entschuldigung nur, „wenn dadurch die Verarbeitung des Konflikts nicht gehindert wird, wenn sich also der Konflikt als Folge ungünstiger Umwelt (Unglück) oder eines Fehlers eines anderen (dann ist diesem anderen zuzurechnen) darstellen lässt und das Individuum als bloßes Durchgangsstadium verstanden werden kann. Ist letzteres ausgeschlossen, sei es, weil sich die Person den Konflikt selbst ,eingebrockt‘ hat, sei es wegen ihres Status, wird keine Nachsicht geübt, obgleich sich, wie auf der Hand liegt, an der Unmöglichkeit, bei personalem Verhalten individuell auszukommen, kein Jota geändert hat“. 335 Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl., S. 573; jetzt taucht der Begriff der Zuständigkeit in diesem Kontext nicht mehr auf, Jakobs, System, 2012, S. 64; diese Obliegenheit besteht nach ihm bei allgemeiner Not noch immer. 336 Jakobs, System, 2012, S. 67. 337 Jakobs, System, 2012, S. 63 f., Fn. 134: es gehe nicht um die empirischen Effekte der Sanktionsnorm.

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ner Sicht neue Argumente in die Diskussion einzuführen338. Nach Müssig stellt der entschuldigende Notstand eine rechtliche Kategorie dar, bei welcher der Täter „von der normativen, dh der spezifisch strafrechtlichen Bedeutung seines tatbestandlichen Verhaltens distanziert werden kann, weil die bei der Zurechnung auf der Unrechtsebene vorausgesetze (situative) Freiheit individuell nicht aufzuweisen ist“ 339. In diesen Grenzsituationen werde die „normative Deutung“, die Handlung sei eine „strafrechtlich relevante Rechtsverletzung“, zurückgenommen, „weil der Tatkontext dem Täter nicht vollständig verfügbar, und insoweit nicht umfassend zu verantworten war“ 340. Die Konstruktion Pawliks ist schwer zu klassifizieren. Auch er begnügt sich mit der Perspektive der Allgemeinheit: Bei ihm steht stets die Verletzung der Pflicht aller Bürger, „an der Aufrechterhaltung eines Zustandes der Freiheitlichkeit mitzuwirken“, im Vordergrund341. An die Person wird die Norm gerichtet: „,Erfülle deine Mitwirkungspflicht!‘ – mit dieser Forderung wendet sich das Strafrecht an den einzelnen Bürger“ 342. Der aggressive rechtfertigende Notstand gründe sich auf einen „quasi versicherungsrechtliche[n] Gedanke[n] einer allgemeinen Entlastung von gewissen existentiellen Lebensrisiken“ 343. Eine Grenze hierzu bilde ein Verlust, der den Eingriffsadressaten dazu nötigen würde, „seine Lebensplanungen in merklicher Weise umzustellen“ 344. Der entschuldigende Notstand dagegen baue auf dem Gedanken der „Entlastung Unschuldiger von fundamentalen Daseinsrisiken“ auf 345. Er stellt auf die Rechtsposition der Eingriffsadressaten ab – das heißt: des Opfers des Eingriffes – und nicht auf den kontingenten Selbsterhaltungstrieb des Notstandstäters: Nur soweit das Opfer „eine Mitzuständigkeit für die Bewältigung der Konfliktlage trifft, ist eine Einschränkung der Bemühensobliegenheit des Eingreifenden legitimierbar“ 346. Mit 338 Lugert, Zu den erhöht Gefahrtragungspflichtigen, 1991, S. 102; Er versteht seine These als „Synthese der Theorie des ,psychischen Drucks‘ und der These Jakobs’ von der fehlenden ,Zufälligkeit‘ “, wobei man sich fragt, ob dabei nicht fehlende Zuständigkeit gemeint ist. 339 Müssig-MK, § 35, 3. Aufl., Rn. 1. 340 Müssig-MK, § 35, 3. Aufl., Rn. 1. 341 Pawlik, Das Unrecht, 2012, S. 25 ff., 258; siehe schon Pawlik, Das unerlaubte Verhalten, 1999, S. 56: „Straftat als freiheitsmißachtender Gegen-Weltentwurf“; Pawlik, Person, 2004, S. 82 ff., 88 ff.; spezifisch über den entschuldigenden Notstand Pawlik, JRE 11 (2003), S. 287 ff. 342 Pawlik, Das Unrecht, 2012, S. 255; Pawlik kritisiert aber die herrschende Meinung bei der Begründung des entschuldigenden Notstands, weil sie „bereits im Ansatz unvereinbar mit einer freiheitlichen Strafrechtskonzeption [ist], die den einzelnen Bürger gerade nicht als bloßen Funktionär übergeordneter Gemeinwohlbelange, sondern als eine selbständige und deshalb grundsätzlich auf eigene Rechnung und Verantwortung lebende Person begreift“ (S. 351). 343 Pawlik, Das Unrecht, 2012, S. 249. 344 Pawlik, Das Unrecht, 2012, S. 251. 345 Pawlik, Das Unrecht, 2012, S. 355. 346 Pawlik, Das Unrecht, 2012, S. 346.

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den „tatsächlichen Interessen“ des Täters habe das Opfer nichts zu tun347. „Nur das Anliegen des Eingreifenden, überhaupt als Subjekt präsent zu bleiben, muß vom Eingriffsadressaten deshalb als normativ bedeutsam anerkannt werden“ 348. Diese Einbeziehung der Opferperspektive ist an sich zu begrüßen. Der Hauptgedanke ist die weiterführende Idee der Zufälligkeit der Rollenverteilung349. Die Entlastung des Täters sei mit Gründen der Fairness zu erklären: „Weil der Eingriffsadressat bislang in gleicher Weise wie seine Mitbürger von der Aussicht auf die Eröffnung einer zusätzlichen Rettungschance in Notsituationen profitiert hat, wird er nicht gleichheitswidrig benachteiligt, wenn er einmal die Kehrseite dieser Option zu spüren bekommt“ 350. Dies ist eine interessante Erklärung des § 35 und weist zugleich Diffenrezierungspotenzial auf, obwohl Pawlik meint, es gebe keinen Unterschied zwischen Unrecht und Schuld351. Problematisch ist jedoch der Adressat der Begründung: Zwar ist in der Argumentation von Täter und Opfer die Rede, beide werden aber nur als „Repräsentant der Allgemeinheit“ begriffen. Letztendlich geht es also nur um die Belange der Gesellschaft. Trotz der Unterschiede der dargestellten Ansätze bleibt es dabei: Die betroffenen Personen kommen in der Argumentation entweder schlicht nicht vor oder ihre Belange stehen unter dem Vorbehalt des Gesamtnutzens. Ihre Rechte werden zu Verfügungsobjekten der Allgemeinheit gemacht. 4. Dritte Kategorie? Einigen Autoren zufolge lässt sich mithilfe der Kategorien Unrecht und Schuld das gänzlich eigenartige Problem des existentiellen Notstands nicht voll erfassen. Sie ordnen den entschuldigenden Notstand einer dritten Kategorie jenseits von Unrecht und Schuld zu. Die Fichtesche Exemptionstheorie lässt sich als ein Wegbereiter hierfür verstehen352. Alle früheren Bemühungen, so meinte Fichte, seien gescheitert „weil man sich das Princip aller Rechtsbeurtheilung nicht scharf genug dachte“ 353. Die Idee der Rechtslehre würde dadurch vernachlässigt354: „Die

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Pawlik, JRE 11 (2003), S. 287 ff., 299. Pawlik, Eine Theorie, JRE 11 (2003), S. 287 ff., 308: Die Belange seien „fundamentale Ermöglichungbedingungen seines Lebensentwurfs“. 349 Pawlik, Das Unrecht, 2012, S. 361. 350 Pawlik, Das Unrecht, 2012, S. 361. 351 Pawlik, Das Unrecht, 2012, S. 259 ff. 352 So schreibt Stammler, Darstellung, 1878, S. 41, dass Fichte „die originale Argumentation hierfür“ geliefert habe; über die nicht viel besprochenen Thesen Fichtes über den Aggressivnotstand siehe Renzikowski, in: von Hirsch/Neumann/Seelmann (Hrsg.), Solidarität im Strafrecht, 2013, S. 13 ff., 25 ff. 353 Fichte, Grundlage des Naturrechts (1796), Band III, 1971, S. 253. 354 Zaczyk, Das Strafrecht in der Rechtslehre J. G. Fichtes, 1981, S. 95: „Fichte geht in seiner Lösung ganz auf die Grundlage seiner Rechtslehre zurück.“ 348

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Frage der Rechtslehre ist: Wie können mehrere freie Wesen, als solche, beisammen bestehen? Indem nach der Art und Weise gefragt wird, wird die Möglichkeit des Beisammenbestehens überhaupt vorausgesetzt. Fällt diese Möglichkeit weg, so fällt nothwendig die erstere Frage nach der Bestimmung der Möglichkeit, also die Frage nach dem Rechte, ganz und gar weg“. Das Problem sei also nicht mit den Kategorien der Rechtslehre zu beurteilen. Es gebe „kein positives Recht, das Leben des Anderen meiner eigenen Erhaltung aufzuopfern; es ist aber nicht rechstwidrig, d. i. nicht streitend mit einem positiven Rechte des anderen, sein Leben, um den Preis des meinigen, zu erhalten; denn es ist hier vom Rechte überhaupt nicht mehr die Frage. Die Natur hat die Berechtigung für beide, zu leben, zurückgenommen; und die Entscheidung fällt der physischen Stärke und der Willkür anheim. Da aber dennoch beide betrachtet werden müssen als stehend unter dem Rechtsgesetze, unter welches sie denn auch nach der That, in Beziehung auf andere wieder kommen werden, so kann man das Nothrecht beschreiben, als das Recht, sich als gänzlich exemt von aller Rechtsgesetzgebung zu betrachten“ 355. Nach Binding ist die Handlung im Notstand – „ein[em] dem Recht sehr unerwünschte[n] Konflikt von zwei Dingen, die es gern beide erhalten sähe, während der Erhaltung des einen die Vernichtung oder Verletzung des andern bedingt“ 356 – unverboten357. Eine solche Konstellation sei schlicht nicht im Sinne der Dichotomie Recht/Unrecht regulierbar358: „Das Recht kann das Bestehen des Notstands fordern und tut dies öfter; aber es will es nicht; es verzichtet auf Befolgung der Norm, nicht weil es untunlich wäre vom Gefährdeten den nötigen Mut zu verlangen, sondern weil es dem Interesse der Rechtsordnung gleichmässig widerstreiten würde, ihre Befolgung zu fordern und ein Recht zu ihrer Uebertretung anzuerkennen, und weil es natürlich ist, dass der Gefährdete seinem Triebe der Rettung nachgiebt“ 359. Die Argumentation ist trotzdem immer noch, genauso wie bei Feuerbach, straftheoretisch orientiert360, nicht aber anhand negativ-, sondern positivgeneralpräventiver Erwägungen. Die Wirkungslosigkeit der Strafandrohung oder des Pflichtmotivs sei kein überzeugendes Argument für die Straflosigkeit, denn „die Tatsache, dass es Rechtspflichten zum Bestehen des Notstandes giebt, und die Erfahrung, dass das Pflichtmotiv durchaus wirksam bleiben kann,

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Fichte, Grundlage des Naturrechts (1796), Band III, 1971, S. 253. Binding, Handbuch, 1885, S. 756. 357 Binding, Handbuch, S. 765; dies sei ein „ganz unentbehrlicher Begriff“, Binding, Die Normen IV, 1919, S. 346, Fn. 15; so auch Broglio, Der strafrechtliche Notstand, 1928, S. 23: „die Tat ist rechtlich erlaubt, ohne daß eine Duldungspflicht auf der anderen Seite mit ihr korrespondierte, sie ist also einseitig erlaubt, unverboten“. Broglio verwendet aber die Worte „unverboten“ und „entschuldigt“ häufig synonym (S. 24). 358 Binding, Handbuch, S. 760 ff. 359 Binding, Handbuch, 1885, S. 766; auch der „Druck des Notstands“ trage zum Unverbotensein bei (785). 360 Gegen Kant und Feuerbach Binding, Handbuch, S. 764 ff. 356

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stürzen jene Begründung“ 361. Binding hatte wie fast alle Denker, die sich mit dem Problem befasst haben, die Situation des Lebensnotstands vor Augen. Ein Notrecht zuzugestehen wäre hier für die Rechtsordnung nachteilig: „Handelt es sich um einen Notstand zwischen Leben und Leben, und man nähme hier Notrechte an, so würden diese sich kreuzen, also bestimmungsgemäss paralysiren“ 362. Ein Unrechtsurteil wäre aber zugleich kontraproduktiv: „Kollidirt Leben mit Leben und beiden ist verboten sich auf Kosten des andern zu erhalten, so sollen nach dem Willen des Gesetzes beide zu Grunde gehen. Dieser Wille wäre aber die Unvernunft selbst“ 363. Ein Strafausschluss trotz der Normwidrigkeit wäre „widerspruchsvoll“ 364. Hinzu käme dass die Normen, wenn sie die Notstandshandlung verböten, sie ja die Wirksamkeit des Pflichtmotivs forderten: „Was die Rechtsordnung nicht fordern kann oder billigerweise nicht fordert, das wird sie nicht fordern“ 365. Eine Straflosigkeit wäre hier „unbegreiflich“, „weil dies Verlangen in der Unbilligkeit gründe!“ 366. Dies zeige ganz klar das Erfordernis eines unverschuldeten Notstandes367. Die Unverbotenheit der existentiellen Nothandlung bedeute aber nicht, dass eine punktuelle Aufhebung der Rechtsordnung stattfände: „Der Gesetzgeber kann sich aber der Pflicht gar nicht entziehen zu den Handlungen behufs Lösung des Notstandes Stellung zu nehmen. [. . .] Die Auffassung, dass der Notstand eine teilweise Aufhebung der Rechtsordnung begründe, kann heute nur noch wegen ihrer Seltsamkeit Erwähnung finden“ 368. Auch entstehe kein rechtsleerer Raum369. Der Staat lasse einige Handlungen straflos, weil er glaube „die Autorität der Normen auch ohne Strafe aufrecht hal-

361 Binding, Handbuch, 1885, S. 764; gegen Kant hat Binding eingewandt: „Kant hat aber mit dem Fehlschluss, das actum sei nicht inculpabile, sondern nur impunibile, den Grund zu der verwirrten Deliktstheorie [. . .] gelegt.“ 362 Binding, Handbuch, 1885, S.763: „Jeder der Lebensträger dürfte dem anderen angriffsweise ans Leben. Keiner von ihnen dürfte sich aber wider den Angriff des Gegners verteidigen. Kämen im Kampfe beide um, so lägen zwei rechtsmässige, also gebilligte Tötungen vor. Und so führte dieses Annahme von einem groben Widerspruche zum andern.“ 363 Binding, Handbuch, 1885, S. 765. 364 Binding, Handbuch, 1885, S. 764. 365 Binding, Handbuch, 1885, S. 765. 366 Binding, Handbuch, 1885, S. 765. 367 Binding, Handbuch, 1885, S. 778: „Dies Erfordernis des unverschuldeten Notstandes stimmt allerding nicht mit der Theorie, die Notstandsverletzung sei stets Delikt, bleibe aber straflos, weil das Recht nicht verlangen könne, dass jemand im Notstande ein Held sei. Diese Entschuldigung bleibt natürlich beim verschuldeten Notstande die gleiche wie beim unverschuldeten.“ 368 Binding, Handbuch, 1885, S. 760: „Der Gesetzgeber kann sich aber der Pflicht gar nicht entziehen zu den Handlungen behufs Lösung des Notstands Stellung zu nehmen.“ 369 Binding, Die Normen IV, 1919, S. 347, Fn. 15: „Sie fällt aber gar nicht in ,rechtsleeren Raum‘, sondern bleibt eine rechtlich scharf und nur scheinbar rein negativ charakterisierte Handlung.“

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ten zu können“ 370. Bei diesen Notlagen sei es nutzlos, die „Autorität der Norm“ zu bestätigen371. Das hat Armin Kaufmann richtig erkannt: „Die wertende Betrachtung des Motivs anhand des ,Interesses der Rechtsordnung‘ führt Binding zu der Auffassung, daß einerseits die Befolgung der Norm nicht gefordert, andererseits ein ,Recht zu ihrer Übertretung‘ auch nicht anerkannt werden könne“ 372. Die Konsequenzen dieses Ansatzes sind die Möglichkeit eines in vollem Umfang gesicherten Notwehrrechts gegen den Versuch der Notstandsverletzung und zugleich die Einschränkung der Unverbotenheit für die Handlung des Notstandstäters selbst. Die Notstandshilfe bliebe also verboten373. Bisweilen fällt es schwer, den Gedanken Bindings von der herrschenden, normativen Schuldtheorie abzugrenzen. Über den existentiellen Notstand sage das Recht, so Binding: „Ich kann aber dem Urheber der verletzenden Handlung wegen des bestehenden starken Druckes zu ihr höchstpersönlich keinen Vorwurf machen für die verletzende Handlung. Deshalb ziehe ich für solche Fälle zu seinen Gunsten mein Verbot zurück“ 374. Andere Autoren haben sich dieser These angeschlossen, teils mit anderen Argumenten. Oetker meint, man könne nicht behaupten, der existentielle Notstand sei dem Täter nur unzumutbar, denn hier liege eine Erwägung zugrunde, „die zu einer Verbotsausnahme führen müßte: in der Unbilligkeit des Verlangens, sich in solcher Notlage durch das Pflichtmotiv auf Kosten der Selbsterhaltung bestimmen zu lassen“ 375. Ferneck argumentiert normentheoretisch und fragt sich zum 370 Binding, Handbuch, 1885, S. 666, 761: „Mit gutem Grund hat man gesagt, dass die Strafe der Ausdruck und das Maass des Interesses sei, welches der Staat an der Befolgung der einzelnen Normen zeige. Dies Interesse bestimmt sich wesentlich nach der Heiligkeit der aufgestellten Pflichten und dem Werte der Güter, die durch die Normen geschützt werden sollen.“ 371 Binding, Handbuch, 1885, S. 666, 761. 372 Armin Kaufmann, Lebendiges und Totes, 1952, S. 204; siehe die Primärquelle Binding, Die Normen IV, 1919, S. 347, Fn. 15: Das Recht „kann aus den verschiedensten Gründen Bedenken tragen, irgend welchen Rechtsgenossen Verletzungsrechte unter bestimmten Voraussetzungen zu geben: denn darin kommt immer ein Interesse der Rechtsordnung an der Freigabe der verletzenden Handlung zum Ausdruck, und folgeweise muss dann grundsätzlich dem Angegriffenen das Notwehrrecht abgesprochen werden“. 373 Binding, Handbuch, 1885, S. 766; Binding, Die Normen IV, 1919, S. 346 f.: „Die Rechtsordnung glaubt, die Handlung selbst hinnehmen zu sollen, ohne aber dem dadurch Betroffenen die Preisgabe seiner Güter zuzumuten, ihm also die Notwehr zu versagen. Sie tut dies stets in Anerkennung einer Notlage des Handelnden.“ 374 Binding, Die Normen IV, 1919, S. 347, Fn. 15, und das trotz der polemischen Wendungen gegen Goldschmidt: „Mit der wieder so vollständig abstrusen Abhandlung von Goldschmidt (. . .) mich auseinanderzusetzen, lehne ich ab. Ich bemerke nur, dass G. mit seinem Mangel der Pflichtwidrigkeit genau auf mein Unverbotensein hinauskommt, den Gedanken nur nach der subjektiven Seite verdirbt.“ 375 Oetker, FG-Frank I, S. 359 ff., 367; siehe auch die Lösung von v. Weber, Das Notstandsproblem, 1925, S. 37 ff., 41, der von der „Aufhebung der persönlichen Rechtspflicht“ spricht (S. 133): „Die Lebensgefahr wirkt in der Regel echtes Notrecht mit ent-

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Beispiel: „Warum sollte man nicht sagen können: Wenn der Gesetzgeber die Handlung des Benötigten ausdrücklich für nicht strafbar erklärt, und die Handlung auch sonst keinerlei ,Unrechtsfolgen‘ nach sich zieht, so ist sie nicht als normwidrig, nicht als verboten anzusehen, und daher eine rechtliche freie Handlung“ 376. Es war das Verdienst Hellmuth Mayers, eine neue Begründung für diese Einheitstheorie eingeführt zu haben: Bei dem von ihm sogenannten subjektiven Notstand erfolge eine Privilegierung des Selbsterhaltungstriebes377. Der normative Gesichtspunkt, der die Rechtsordnung dazu veranlasst hat, die existentiellen Nothandlungen straffrei zu lassen, sei aber der Vorrang der eigenen Präferenzen378. Diese Handlungen seien unverboten, „weil dem Täter nicht zugemutet wird, auf die Wahrung seiner eigenen Interessen zu verzichten“ 379. Hier greife ein (Straf-)Unrechtsausschließungsgrund: „Die Notstandstat ist also unverboten, d. h. im strafrechtlichen Sinn rechtmäßig“ 380. Diese Konstruktion hat bis heute ihre Vertreter. Diese Autoren postulieren eine Art Neutralisierung der Norm381. Vor allem Arthur Kaufmann hat sich bemüht, nachzuweisen, dass Handlungen in der Notlage in einem „rechtsfreie[n] bzw. rechtswertungsfreie[n] Raum“ stattfänden382. Diese Kategorie bedeute keinen rechtlosen Naturzustand, sondern die sprechender Duldungspflicht. Nur wo die Nottat in fremdes Leben eingreift, entfällt das Notrecht. Doch ist auch hier die Nottat des Gefährdeten selbst oder eines nahen Angehörigen, wenn sie auch rechtlich mißbilligt ist, nicht rechtspflichtwidrig und deshalb straflos.“ 376 v. Ferneck, Rechtswidrigkeit, Bd. II/1, 1905, S. 71, 121: „Der Begriff der Entschuldigung ist ja ein spezifisch-moralischer Begriff, dem ein Platz im Bereiche des Rechts nicht zukommt.“ 377 H. Mayer, Strafrecht AT, 1953, S. 189. 378 H. Mayer, Strafrecht AT, 1953, S. 189. 379 H. Mayer, Strafrecht AT, 1953, S. 189, 191: „Das Recht enthält sich also jedes mißbilligenden Urteils über die Notstandstat, weil eine objektive Wertung durch das Recht in solchen Fällen nicht mehr möglich ist.“ 380 H. Mayer, Strafrecht AT, 1953, S. 191. 381 So der Ausdruck von Maurach, Grundriß des Strafrechts AT, 1948, S. 92; dies hat große Implikationen: „die bildhafte Vorstellung eines ,rechtsfreien Raumen‘ evoziert eine rechtsbegriffliche und anschließend eine rechtsontologische Fragestellung, weil es offenbar von unserem Begriff von Recht abhängt, ob wir darunter eine allumfassende Regelung der menschlichen Existenz oder nur einen bestimmten Ausschnitt verstehen, der dann eben auch einen Teil der menschlichen Existenz ungeregelt läßt“, Schünemann, Rechtsfreier Raum, ARSP Beiheft 100, 2005, S. 145 ff.; siehe auch Koriath, JRE 2003, S. 317 ff. Zur früheren Diskussion siehe die Untersuchung von Hirsch, in: FSBockelmann 1979, S. 89 ff. 382 Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 1997, S. 226 ff.; so auch Koriath, JRE 2003, S. 317 ff., 333: „Ich glaube, die Position eines rfR in den Fällen echter Kollision ist doch sehr plausibel. [. . .] Die Folgen einer strikten Beachtung des Tötungsverbotes auch in der Karneadessituation sind schlimmer als der Dispens von diesem Verbot. Und entfaltet ein sanktionsbewehrtes Tötungsverbot in dieser dramatischen Situation überhaupt eine präventive Wirkung?“; siehe Fehsenmeier, Das Denkmodell, 1970, S. 12 ff., 135 ff., 153, der den Ausdruck „Unrechtsbewertungsausschließungsgrund“ vorschlägt. Der Autor schreitet fort und schlägt de lege ferenda eine merkwür-

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Feststellung, ein rechtlich geregeltes Verhalten sei weder als rechtmäßig noch als rechtswidrig zutreffend einzustufen383. Die Bezeichnung dieses „Zwitterverhaltens“ als unverboten sei nicht ganz korrekt384. Ein gutes Beispiel hierfür sei nämlich der entschuldigende Notstand385. Die binären Wertungen „rechtmäßig“ und „rechtswidrig“ seien unzulänglich, „vor allem in Fällen tragischer Konflikte und existentieller Not, in Grenzsituationen also, kommt man mit den beiden Wertkategorien nicht aus“ 386. Die Kritik Bindings, die Bewertung der Handlung als rechtswidrig, aber entschuldbar, sei „die Unvernunft selbst“ wird von Arthur Kaufmann übernommen387. Der systematische Ort dieser Kategorie in der Verbrechenslehre sei zwischen Rechtmäßigkeit und Rechtwidrigkeit, und die Bestimmung einer Handlung als rechtswertungsfrei habe vor allem für die Notwehrfrage Folgen: die rechtswertungsfreien Handlungen sollten wie rechtmäßige behandelt werden388. Die These ist aber – trotz der unbestreitbaren Schönheit der „Allegorie des Unverbotenseins und des rechtsfreien Raums“ 389 – abzulehnen (s. o. B. II.), und das nicht nur, weil ein rechtswertungsfreier Raum sich nur vor der Wertung der Handlung als tatbestandsmäßig als denkbar erweist – es ist schwer zu behaupten, dass eine (tatbestandsmäßige!) Tötung rechtswertungsfrei sei390. Es ist Schünemann beizupflichten, wenn er meint: „in Beziehung auf Handlungen, die fremde

dige Vorschrift vor: „Absatz 1. Wer eine scheinbar rechtlich relevante Tat begeht, handelt rechtsfrei und wird nicht zur Verantwortung gezogen. Absatz 2. Eine scheinbar rechtlich relevante Tat liegt nur dann vor, wenn eine eindeutige Bewertung weder als rechtswidrig noch als rechtmäßig möglich ist.“ 383 Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 1997, S. 226 ff., 227: „Der Vorwurf, die Lehre vom rechtsfreien Raum führe zu einem rechtlosen Naturzustand, ist absurd“; siehe auch Engisch, Rechtstheorie, 1984, S. 23: „Der ,unverbotene Notstand‘ bedeutet eine rechtliche Freigabe sonst verbotenen Verhaltens. Wie der Nullpunkt auf dem Thermometer einen Wärmegrad anzeigt, so enthält die angebliche ,Indifferenz‘ des Rechts in Wahrheit eine rechtliche Stellungnahme. Sieht man aber das Handeln im Notstand als ,entschuldigt‘ an, so bedeutet auch dies wieder ein rechtliches Werturteil“; Engisch findet aber, es sei „ein angemessener Ausdruck für diese Auffassung, wenn man gelegentlich davon spricht, daß in der Not wieder der ursprüngliche rechtslose Naturzustand zur Geltung kommt“ (S. 37 f.). 384 Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 1997, S. 226 ff., 227. 385 Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 1997, S. 226 ff., 227. 386 Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 1997, S. 226 ff., 228. 387 Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 1997, S. 226 ff., 228. 388 Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 1997, S. 226 ff., 231 f.: „Rechtsfreier Raum heißt, daß die Rechtsordnung darauf verzichtet, das betreffende Verhalten zu bewerten. Für die Richtigkeit seiner Handlung ist der Handelnde selbst verantwortlich.“ 389 So der Ausdruck von Koriath, JRE 2003, S. 317 ff., 318. 390 Siehe auch Otto, Pflichtenkollision, 3. Aufl., 1978, S. 61, der sagt, auch der Rückzug der Rechtsordnung bedeute eine Stellungnahme: „Keinesfalls steht damit die Handlung dann noch außerhalb der Rechtsordnung.“

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Rechtsgüter verletzen und deshalb im Prinzip straftatbestandsmäßig sind, ist die Figur des rechtsfreien Raumes weder in systematischer noch in inhaltlicher Hinsicht akzeptabel“ 391. § 35 wird dadurch nicht erklärt und auch nicht begründet. Spätestens bei den Ausnahmen von der Entschuldigung wird die Schwäche dieser These klar. Denn sie erklärt eben nicht, warum eine rechtlich nicht regulierbare und deswegen nicht regulierte Situation plötzlich wieder nach den Kategorien des Rechts zu beurteilen ist, nämlich wenn der Täter die Gefahr selbst verursacht hat oder in einem besonderen Rechtsverhältnis steht. Diese These kann auch nicht erklären, warum das Opfer sein Notwehrrecht nur innerhalb der rechtlich anerkannten Grenzen ausüben darf. Das wäre ein „einseitig bindender Rechtszustand“, dessen Rechtfertigung schwer zu leisten ist.392 Wie ein rechtlicher Naturzustand plötzlich wieder seine Rechtlichkeit beansprucht, ist nicht klar. Selbst wenn man vertritt, hier sei die Handlung „unverboten“, muss man wieder die zentrale rechtliche Frage beantworten, ob das Opfer eine Duldungspflicht innehat. Das zu rechtfertigen ist aber ein genuines Rechtsanliegen. Es ist so, dass auch diese scheinbare neutrale Einstellung „immer noch eine Art von Bewertung bedeutet“ 393. Auch dieses Modell liefert keinen sicheren Boden für die Begründung des entschuldigenden Notstands. An den beschriebenen Theorien ist aber immerhin die Feststellung interessant, dass die Rede von „Nachsicht“ zu kurz greift394. Ebenfalls in diese Richtung gehen die Theorien, die den entschuldigenden Notstand außerhalb des Unrechts und der Schuld ansiedeln. Beispiel dafür sind die Tatverantwortungslehre von Maurach395 und die Thesen, die für einen von Günther erfundenen „Strafunrechtsausschluss“ plädieren. Beide Versuche argumentieren aber wiederum aus der Perspektive der Allgemeinheit und liefern daher keine vollständige Rechtfertigung gegenüber dem Täter bzw. dem Opfer. Die Maurach’sche Tatverantwortungslehre „als erste Stufe der Zurechenbarkeit“ 396 exkulpiert den Täter nach einem „agent-neutral“ generalisierendem Kriterium: Jeder an seiner Stelle würde so handeln („im Zweifel würde jeder Mensch so handeln wie er“)397. Maurach definiert Tatverantwortung als „das 391 Schünemann, ARSP Beiheft 100, 2005, S. 145 ff., 150: „vielmehr sind hier klare rechtliche Handlungsmaßstabe unverzichtbar“. 392 Pawlik, Das Unrecht, 2012, S. 347. 393 Engisch, Rechtstheorie, 1984, S. 45. 394 Siehe vor allem Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 1997, S. 226 ff., 229. 395 Maurach, Grundriß des Strafrechts AT, 1948, S. 92: „Schon dieser Meinungsstreit zeigt, daß die Fragestellung: Entscheidung auf dem Gebiet der RW oder der Schuld? verfehlt war.“ 396 Maurach, Grundriß des Strafrechts AT, 1948, S. 90; Maurach, Schuld und Verantwortung, 1948, S. 44; schon Maurach, Kritik der Notstandslehre, 1935, S. 88: „Sowohl Rechtfertigungs-, als auch Schuldkonstruktion können für die eigenartige Vertypung des § 54 StGB keine befriedigende Lösung bieten.“

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noch nicht vorwerfbare, aber gemißbilligte Verhältnis des Täters zu seiner Tat“ 398. Es gebe Gründe, die schon vor der Schuld – und nicht dort oder erst nach der Schuld – geprüft werden müssten. Der entschuldigende Notstand sei also eine Vorstufe der Schuld. Diese Gründe seien „gröbere“ und „generalisierende“ 399. Die Rechtsordnung trage dem „Allzumenschlichen“ Rechnung400. Hier bestehe eine unwiderlegliche Vermutung der Unzumutbarkeit, die absichtlich auf eine Nachprüfung anhand des konkreten Falles verzichte401. Von einem Vorwurf ist also nicht die Rede. Hier liege nur ein Missbilligungsurteil über den Täter vor402. Ob das zutrifft, ist eine schwierig zu beantwortende Frage: Ein Egoist würde seine verrückte Mutter lieber nicht retten; ein Religiöser könnte meinen, dass sein Vater nicht gerettet werden müsse, weil der Zufall dem Willen Gottes entspreche. Wie auch immer: wir bestrafen den Täter nicht, weil wir – die Gesellschaft – dasselbe tun würden. Frister ist zuzustimmen: „Das (hypothetische) Verhalten anderer hat für die Frage, ob und inwieweit wir einer Person ihr Verhalten zum Vorwurf machen, keine unmittelbare Relevanz“ 403. Genau dasselbe passiert beim Strafunrechtsausschluss in der Konstruktion Günthers404. Die Strafunrechtsausschließungsgründe stellen das Dogma der Einheit der Rechtsordnung in Frage405 und beschränken sich „auf die strafrechtliche Relevanz (Strafbarkeit) des Unrechtsgehalts der zu beurteilenden Handlung. Für die übrige Rechtsordnung, für das Zivil- und Öffentliche Recht, gelten sie deshalb grundsätzlich nicht“ 406. Günther räumt ein, dass sich seine Lehre in man397 Maurach, Grundriß des Strafrechts AT, 1948, S. 91; Maurach, Schuld und Verantwortung, 1948, S. 38: „Sie enthält darüber hinaus einen personellen Vergleich, und zwar zwischen dem Täter einerseits und dem durch das positive Recht umrissenen Querschnitt aller übrigen Rechtsgenossen andererseits.“ 398 Maurach, Grundriß des Strafrechts AT, 1948, S. 90. 399 Maurach, Grundriß des Strafrechts AT, 1948, S. 88; in Maurach, Kritik der Notstandslehre, 1935, S. 94 spricht er vom „soziale[n] Wert des Selbsterhaltungstriebes“, der als „Schwungrad der Kulturentwicklung“ zu bezeichnen sei. 400 Maurach, Grundriß des Strafrechts AT, 1948, S. 91. 401 Maurach, Grundriß des Strafrechts AT, 1948, S. 91; ähnlich Kuhnt, Pflichten, 1966, S. 58: „Es stellt bei Vorliegen der Voraussetzungen des entschuldigenden Notstands eine gesetzliche, unwiderlegliche Vermutung der Nichtzumutbarkeit rechtmäßiger Willensbildung auf.“ 402 Maurach, Grundriß des Strafrechts AT, 1948, S. 92. 403 Frister, Die Struktur, 1993, S. 151. 404 Dazu eingehend Roxin, in: FS-Oehler 1985, S. 181 ff. 405 Günther, Strafrechtswidrigkeit, 1983, S. 96 f.: Die Einheit der Rechtsordnung sei ein offenes oder regulatives Rechtsprinzip: „Sie programmiert nicht den Inhalt einer Entscheidung, enthält keine materialen Wertmaßstäbe, sondern setzt sie voraus“; siehe auch die Studie von Stoos, ZStW (24) 1904, S. 319 ff., 328; siehe auch G. Jellinek, in: G. Jellinek, Ausgewählte Schriften I, 1911, S. 76 ff.; den Klassiker von Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, 1987; eingehend aus dogmengeschichtlicher Perspektive hierzu Baldus, Die Einheit der Rechtsordnung, 1995. 406 Günther, Strafrechtswidrigkeit, 1983, S. 1.

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chen Hinsichten der Lehre des rechtsfreien Raumes annähere, trägt aber vor, die Idee des Strafunrechtsausschluss sei vor allem aus zwei Gründen überlegen: Sie beschränke sich erstens auf das Strafrecht und zweitens „braucht [man] nicht die rechtliche Relevanz straftatbestandsmäßiger Handlungen zu leugnen; sein Eingreifen führt vielmehr nur zu ihrer strafrechtlichen Irrelevanz und zu ,strafrechtsfreien Räumen‘ “ 407. Der Ausschluss sei eine Folge des ultima ratio-Grundsatzes408. Dieser Grundsatz ist aber grundsätzlich aus der Perspektive der Gesellschaft gedacht. Denn wenn sich die Notlagen plötzlich vermehren und wiederholen würden, so würden wir dem ultima-ratio-Grundsatz folgend die im Not handelnden Täter lieber bestrafen. Mit dieser interessanten These braucht man sich in der hiesigen Untersuchung nicht im Detail zu beschäftigen, denn sie liefert keine allgemeine Begründung des Rechtsinstituts des entschuldigenden Notstands – und damit kein Erklärungspotenzial –, sondern bleibt vor allem auf die sogenannte notstandsähnliche Lage zugeschnitten, eine Kategorie, die zwischen rechtfertigendem und entschuldigendem Notstand einzufügen sei409. Auch ihr Begründungs- und Differenzierungspotenzial ist zweifelhaft, weil die Lehre des Strafunrechtsausschlusses eher auf die strafrechtliche Würdigung des Täters fixiert ist; absichtlich lässt sie nämlich die Frage des Rechtskreises des Opfers beiseite410. Köhler hat eine eigene Konstruktion der These des Strafunrechtsausschlusses entwickelt: „Bei interpersonal-rechtswidrigem Handeln in einer Notlage schwerer Gutsbetroffenheit, insbesondere im Lebensnotstand, kann das Strafunrecht in seiner staatlich-allgemeingültigen Qualität ausgeschlossen sein“ 411. Die Katastrophenreaktionen im Lebensnotstand gehörten dagegen zur Schuld im strengen Sinne412. Das Tötungsverbot werde dadurch nicht einfach suspendiert. Das Un407

Günther, Strafrechtswidrigkeit, 1983, S. 264; siehe Janka, Der strafrechtliche Notstand, 1878, S. 192, der interessanterweise schon das Unrecht bejahen wollte, das „kriminelle Unrecht“ aber verneinte. 408 Günther, Strafrechtswidrigkeit, 1983, S. 158 ff.: „Schutzfunktion des Strafrechts“. Er leitet seine These auch aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ab (S. 245): „Die ,Strafwürdigkeit‘ ist als strafrechtliche Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsprinzips zu verstehen, die funktionsbestimmte Aspekte des Strafrechts – namentlich seine Straftatfolgenorientierung – berücksichtigt.“ 409 Günther, Strafrechtswidrigkeit, 1983, S. 326 ff., 329: „Beim Strafunrecht handelt es sich um eine selbständige, von der Strafschuld getrennte und ihr vorrangige Wertungsstufe. Infolgedessen können Entschuldigungs- und Schuldausschließungsgründe nie eine Regelungslücke im Bereich des Strafunrechtsausschlusses schließen“; darunter fielen auch die Fälle des Nötigungsnotstands (335 ff.). 410 Günther, Strafrechtswidrigkeit, 1983, S. 331: „das Eingreifen eines echten Strafunrechtsausschließungsgrundes zugunsten des Täters läßt den Rechtskreis des Opfers unberührt“. 411 Köhler, Strafrecht AT, 1997, S. 329; „Der Strafunrechtsausschluß setzt eine Kollisionslage solcher Art voraus, daß eine allgemeingültige Verhaltensnorm nicht wirklich existiert“ (336). 412 Köhler, Strafrecht AT, 1997, S. 329.

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recht weise aber keine staatsrechtliche Qualität auf413: „In Frage stehen kann aber das objektive Recht in seiner Allgemeingültigkeit, freilich in der interpersonalen Beziehung – denn das Verbot (die Unterlassungspflicht) wird durch den Notstand nicht suspendiert, die Lage ist nicht exemt, ,rechtsfrei‘ – wohl aber in seiner staatsrechtlichen und daher auch strafrechtlichen Qualität. [. . .] Die empirische Zufälligkeit der Existenzkrise als solche dispensiert das Rechtssubjekt nicht von staatsrechtlichen Verbotspflichten gegenüber anderen, führt objektiv und subjektiv keinesfalls zum Rückfall in den Naturzustand“ 414. Dieser Ausschluss solle auf ein Minimum reduziert werden: Er greife nur bei der Gefahr totalen Verlusts der rechtlichen Existenz oder einer substantiell-irreversiblen Einbuße415. Die Intuition, hier dürfe der Staat nicht bestrafen, ist richtig. Diese These ist allerdings ebenfalls auf die Täterseite fokussiert. Denn ein Lebensnotstand kann durchaus eine Tat rechtfertigen, wenn auf der Eingriffsseite kein existentielles Recht des Opfers steht. Die noch immer zu beantwortende Frage ist aber die nach dem Grund der Straflosigkeit einer Handlung, die existentielle Rechte eines Unschuldigen verletzt. Neuerdings hat Robles die Idee des Strafunrechtsausschlusses weiterentwickelt416. Die Fälle des entschuldigenden Notstandes seien als Strafunrechtsausschlüsse in bestimmten individuellen Situationen oder einfach als Strafunrechtsausschluss kraft Unzumutbarkeit zu bezeichnen417. Die Einbeziehung dieser jenseits der traditionellen Unrechts- und Schuldbegriffe anzusiedelnden Kategorie sei „zwingend“ für alle, die von einem kommunikativen Verbrechensbegriff ausgingen418. Dieser Ansatz verzichtet auf die Unterscheidung von Unrecht und Schuld, hebt aber dennoch die Sonderstellung der sogenannten Duldungspflichten hervor419. Beim sog. Strafunrechtsausschluss kraft Rechtfertigung mit geringeren oder nicht zurechenbaren Organisationspflichtverletzungen gebe es „eine abso413 Köhler, Strafrecht AT, 1997, S. 331: „insofern hat die Exemptionstheorie ein richtiges Moment begriffen“. 414 Köhler, Strafrecht AT, 1997, S. 330. 415 Köhler, Strafrecht AT, 1997, S. 334; Köhler vertritt aber zugleich eine strafbarkeitsausdehnende Auslegung des § 35, was die Einschränkung der Rechtsgüter anbelangt: „Werden andere Rechtsgüter vergleichbar schwer betroffen, so muß das Gesetz analog angewendet werden.“ 416 Robles, in: FS-Wolter 2013, S. 439 ff. 417 Robles, in: FS-Wolter 2013, S. 439 ff., 441 f., 445, im Gegensatz zum Strafunrechtsausschluss kraft Rechtfertigung „verbleibt damit ein Bereich des nicht strafrechtlich Verbotenen, der nicht mit dem Gedanken der Entschuldigung, sondern mit dem Fehlen des spezifischen Unwerts zusammenhängt, welches für jedes strafrechtliche Unrecht erforderlich ist“. 418 Robles, in: FS-Wolter 2013, S. 439 ff., 445. 419 Robles, in: FS-Wolter 2013, S. 439 ff., 442: „Selbstverständlich verzichtet diese Sichtweise nicht auf die sog. Duldungspflichten, sondern verneint einfach deren Automatismus: Es existieren Situationen eines Strafunrechtsausschlusses mit und ohne Duldungspflichten.“

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lute Grenze bei den Rechtsgütern der persönlichen Existenz“ 420. Beim Strafunrechtsausschluss kraft Unzumutbarkeit läge der Fall wesentlich anders. Die Unzumutbarkeit sei nicht in der Schuld zu platzieren, denn sie habe nicht mit der individuellen Situation des Täters zu tun, „sondern mit den Schwierigkeiten des Rechts, auf bestimmte Konfliktsituationen eine gerechte Antwort zu geben“ 421. Die Unzumutbarkeit manifestiere eine Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft und deren axiologische Grundlage setze „immer eine Art wechselseitiger gesellschaftlicher Verantwortlichkeit für die Konfliktsituation voraus, der sich der Täter stellt, so dass seine Reaktion aus psychologischer Sicht nicht nur verständlich wird, sondern auch einen normativen Anspruch auf distributive Gerechtigkeit ausdrückt“ 422. Daraus leitet er die ratio des entschuldigenden Notstands ab: „Der Staat würde widersprüchlich handeln, wenn er den Bürger bestrafen würde, der sich bis zum Zeitpunkt des Konflikts rechtstreu verhalten hat [. . .] ohne ihm eine vorzugwürdige Handlungsalternative anzubieten, gegenüber der Lösung des Konflikts, die der Täter selbst letztlich gewählt hat: die Rettung existentieller Interessen“ 423. Die existentielle Nothandlung sei deswegen unverboten, ganz im Sinne Bindings424. Das Gegenteil wäre „vielmehr ein (sozial) schlechtes Beispiel für die Verwaltung eigener Güter“ 425. Dem Problem der Duldungspflichten weicht der Autor ohne nähere Begründung aus: „Natürlich leiten sich hieraus keine wechselseitigen Duldungspflichten ab“ 426. Die Idee der „Alternativlosigkeit der Bürger“ im existentiellen Konflikt halte ich für weiterführend und werde später versuchen, sie näher zu konkretisieren; diese These beantwortet aber nicht die Frage, wieso das Opfer den rechtlichen Schutz der Strafandrohung verliert. Diese Idee ist also nicht falsch, sondern nur unvollständig. Andere Theorien wollen einen Mittelweg finden. Alle Versuche jedoch wollen erklären, weshalb die Gesellschaft Verständnis für diese Nottaten zeigen soll. So die Konstruktion von Neumann, der für eine „relative Situationsadäquanz“ plädiert, ein Gedanke, der „sich auf anerkannte gesellschaftliche Wertung berufen kann“ 427. Hier erkenne die Rechtsordnung „die Existenz besonderer Solidaritätsverhältnisse in engen sozialen Gemeinschaften“ an428. Ziemann bevorzugt eine Konstruktion, „die statt auf kriminalpolitische Sanktionsadäquanz auf gesellschaftliche Situationsadäquanz setzt“ 429. Ein Handeln zur Selbsterhaltung sei 420

Robles, in: FS-Wolter 2013, S. 439 ff., 445. Robles, in: FS-Wolter 2013, S. 439 ff., 446. 422 Robles, in: FS-Wolter 2013, S. 439 ff., 447. 423 Robles, in: FS-Wolter 2013, S. 439 ff., 448. 424 Robles, in: FS-Wolter 2013, S.439 ff., 448: „Es ist ,unverboten‘, sich selbst, also den eigenen Körper, als seines Nächsten zu betrachten.“ 425 Robles, in: FS-Wolter 2013, S. 439 ff. 426 Robles, in: FS-Wolter 2013, S. 439 ff., 448. 427 Neumann-NK, § 35, 5. Aufl., Rn. 6 f. 428 Neumann-NK, § 35, 5. Aufl., Rn. 6. 421

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„gesellschaftlich situationsadäquat“. Diese Konstruktion setze aber eine Normenordnung als prius voraus. Der Anhaltspunkt seien die Bedingungen der Begründung eines Rechtsverhältnisses. Diese Bedingungen entfielen, wenn die Bedingungen der personalen Existenz auf dem Spiel stehen. Die Rechtsordnung erwarte nicht, dass man auf sein fundamentales Recht auf Leben verzichtet.430 Diese Konzeption ist laut ihrem Verfechter mit der vertragstheoretischen Konstruktion von Momsen, welche dem entschuldigenden Notstand die Aufgabe zuweist, die Strafrechtsnormen vor Falsifikation zu retten, vereinbar431. Auch Safferling spricht von sozialer Verstehbarkeit des Verhaltens432. Das ist aber erneut eine Verquickung von Unrechts- und Schuldfragen, so dass es jedenfalls an Differenzierungspotenzial fehlt. Es wäre allerdings noch zu hinterfragen, ob es sich bei den Lösungen, die mit einer gewissen Sozialadäquanz der Handlung im existentiellen Notstand argumentieren, nicht um verkappte Rechtfertigungslösungen handelt. Der Rekurs auf gesellschaftliche Wertungen ist entweder als Leerformel zu entlarven ist oder bildet nur das Ergebnis einer noch zu leistenden Argumentationskette. Es fehlt also eine echte Begründung für die Straflosigkeit des entschuldigenden Notstands. 5. Sowohl Unrechts- als auch Schuldproblem? Die Unsicherheiten über die Platzierung sind nach anderer Meinung Produkt eines klassifikatorischen Rigorismus: Der entschuldigende Notstand sei sowohl Unrechts- als auch Schuldproblem. Der Sieg der normativen Schuldlehre zu Beginn des 20. Jahrhunderts – „Schuld ist Vorwerfbarkeit“, so die Studie Franks von 1907 433 – und zugleich die Etablierung des Zumutbarkeitsbegriffs hätten das Problem des entschuldigenden Notstandes zunächst domestiziert434. Bis dahin „hatte es die Auffassung, daß der strafrechtliche Notstand etwas mit der Schuld zu tun habe, sehr schwer, sich gegen das Schuldartendogma durchzusetzen“ 435. Die Unzumutbarkeit eines normkonformen Verhaltens ist demnach neben Unrechtsbewusstsein und der Schuldfähigkeit ein weiteres (wenn auch geschwächtes) Schuldmerkmal. Die Argumentation sei ab jetzt eine rein dogmatische bzw. interne: Das Problem sei innerhalb der Verbrechenslehre zu lösen. Spezifischer: 429

Ziemann, ZIS 2014, S. 479 ff. Ziemann, ZIS 2014, S. 479 ff., 486. 431 So Neumann-NK, § 35, 5. Aufl., Rn. 6a. 432 Safferling, Vorsatz und Schuld, S. 247 ff., 262. 433 Frank, Über den Aufbau, 1907, S. 11: „Schuld ist Vorwerfbarkeit. Der Ausdruck ist nicht schön, aber ich weiß keinen besseren.“ 434 Pawlik, JRE 11 (2003), S. 287 ff., 293; dazu siehe Peña-Wasaff, Der entschuldigende Notstand, 1979, S. 28 ff., 59 ff.; Wortmann, „Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens“, 2002, S. 52 ff.; Roxin, in: FS-Brauneck 1999, S. 385 ff. 435 Achenbach, Historische, 1974, S. 54; geschichtlich auch Marcetus, Zumutbarkeit, 1928, S. 1 ff. 430

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innerhalb der Schuldlehre. Es sei aber so, dass diese Behauptung die Beibehaltung unrechtsbezogener Gesichtspunkte nicht ausschließe. Diese Idee hat sich aber erst nach einem langen Weg durchgesetzt. Bahnbrechend war die schon erwähnte Arbeit von Frank – sie gilt als nicht weniger als ein „epochenmachendes Werk“ 436. Frank wollte das Dogma, „nach dem der Schuldbegriff nichts anderes enthält als die Unterbegriffe des Vorsatzes und der Fahrlässigkeit“, in Frage stellen437. Auch die sogenannten begleitenden Umstände, das heißt die Tatsachen, die „sonst für die rechtliche Beurteilung der Handlung von Bedeutung sein können“, gehörten zur Schuld438. Die allgemeine Idee eines Schuldausschließungsgrundes war der damalig herrschenden Lehre fremd: „Denn umfaßt der Schuldbegriff nichts weiter als die Summe von Vorsatz und Fahrlässigkeit, und bestehen diese in der bewußten oder unvorsichtigen Herbeiführung des Erfolgs, so bleibt es ganz unverständlich, wie die Schuld durch Notstand ausgeschlossen werden könnte“ 439. Alle Bestandteile des Schuldbegriffs ließen sich zusammenfassend als Vorwerfbarkeit bezeichnen440. Ein Bestandteil davon sei „die normale Beschaffenheit der Umstände, unter welchen der Täter handelt“ 441. Die Erklärung der ratio des Notstands stand für Frank im Mittelpunkt. Wenn man den Notstand also als Entschuldigungsgrund einstufen wolle, dann sei man, so Frank, gezwungen, „den Schuldbegriff so zu fassen, daß seine Existenz, sein Zutreffen, durch die Verhältnisse, unter denen die Handlung vorgenommen wird, auch berührt werden kann“ 442. Es sei auch so, dass der Gesetzgeber bei der Bestimmung dieser abnormen Umständen frei sei, wenn er nur das Hauptkriterium der Vorwerfbarkeit mitberücksichtige443. Der Begriff des Schuldausschließungsgrundes sei aber irreführend. Denn die normale Beschaffenheit der Begleitumstände sei ein positives Merkmal der Schuld: „Die Bezeichnung des Notstandes als eines Schuldausschließungsgrundes ist ebenso richtig und ebenso falsch wie der Satz: Stickstoff an Stelle von Sauerstoff ist ein Grund gegen das Vorhandensein von Wasser“ 444. Die Ausdrucksweise könne man aber 436 Achenbach, Historische, 1974, S. 101, 104: „Er wirkte als Katalysator in einem Entwicklungsprozeß, der so oder so in Gang gekommen wäre, in seiner konkreten Gestalt aber von Frank wesentliche Impulse erhalten hat.“ 437 Frank, Über den Aufbau, 1907, S. 4. 438 Frank, Über den Aufbau, 1907, S. 4. 439 Frank, Über den Aufbau, 1907, S. 6. 440 Frank, Über den Aufbau, 1907, S. 11. 441 Frank, Über den Aufbau, 1907, S. 12. 442 Frank, Über den Aufbau, 1907, S. 6. 443 Frank, Über den Aufbau, 1907, S. 13, 19: „Wer im Notstande, um sich aus der Gefahr zu retten, eine normalerweise strafbare Handlung begeht, handelt nicht schuldhaft, und wer das gleiche in der Notwehrlage tut, ebensowenig. An der Schuld aber fehlt es deshalb, weil dem Täter unter diesen Umständen sein Handeln nicht zum Vorwurf gemacht werden kann.“ 444 Frank, Über den Aufbau, 1907, S. 14.

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„aus Rücksichten der Bequemlichkeit“ beibehalten445. Für die Verortung des Notstands ist die Relevanz der Leistung Franks kaum zu überschätzen. Erst die Idee der normalen Begleitumstände als Schuldelement hat die Einordnung des Notstands in der Schulddogmatik ermöglicht446. Diese Idee hat Frank aber in der 15. Auflage seines Kommentars entkräftet, vor allem durch die Verwendung eines positiven Schuldmerkmals der „Freiheit“ oder „Tatherrschaft“, dessen Beispiel eben der Notstand sei447. Danach hat er den Begriff der begleitenden Umstände als positives Merkmal der Schuld aufgegeben, an ihre Stelle tritt die Idee einer „normalen Motivierung“ 448. Dadurch wird der Weg für die Anerkennung von echten Entschuldigungsgründen – wie dem strafrechtlichen Notstand – geebnet. Erst die Studie „Notstand: ein Schuldproblem“ von Goldschmidt aber war es, die dem Notstand vollumfänglich seinen entschuldigenden Charakter zugewiesen hat449. Den Ausdruck Schuldausschließungsgrund verwirft er, an seine Stelle tritt die Kategorie der Entschuldigungsgründe450. Nach Goldschmidt ist das lange gesuchte normative Schuldmoment die Pflichtwidrigkeit451. So entsteht der Begriff der Pflichtnorm: „In gleichen Weise steht neben jeder Rechtsnorm, die von dem einzelnen ein bestimmtes äußeres Verhalten fordert, unausgesprochen eine Norm, die dem einzelnen auferlegt, sein inneres Verhalten so einzurichten, wie es nötig ist, um den von der Rechtsordnung an sein äußeres Verhalten gestellten Anforderungen entsprechen zu können“ 452. Das vorsätzliche Delikt enthalte deswegen 445 Frank, Über den Aufbau, 1907, S. 14: „Denn er verneint nicht durch einfaches, sondern durch motiviertes Bestreiten; er hat die Bedeutung einer negatio per positionem.“ 446 Achenbach, Historische, 1974, S. 103. 447 Achenbach, Historische, 1974, S. 100: „Dementsprechend erfährt die Konstruktion von Entschuldigungsgründen wiederum, allerding etwas stärker prononciert, Ablehnung.“ 448 Frank, Das Strafgesetzbuch, 18. Aufl., 1931, S. 136 ff., 165 ff.; die Entschuldigungsgründe fänden ihre Erklärung in der „Unfreiheit“ der Handlung des Täters: „Denn entschuldigenden Kraft kann er [der Notstand] nur haben, wenn er etwas ausschließt, was zur Schuld gehört. Das aber ist die Freiheit“ (136); über diesen Sinneswandel Achenbach, Historische, 1974, S. 100; dazu auch schon Freudenthal, Schuld und Vorwurf, 1922, S. 5; siehe auch Goldschmidt, in: FS-Frank, Bd. I, 1930, S. 428 ff. 449 Achenbach, Historische, 1974, S. 114 ff., 116: „Doch nicht die dogmatisch saubere Konstruktion der Schuldformen, sondern die Einordnung des strafrechtlichen Notstandes bildet Goldschmidts eigentliches Problem.“ 450 Goldschmidt, Der Notstand, ein Schuldproblem, 1913, S. 10 f. 451 Goldschmidt, Der Notstand, ein Schuldproblem, 1913, S. 11, 16: „Ich werde versuchen, diese Normen und damit die sedes materiae des normativen Schuldelements und der Entschuldigungsgründe aufzuweisen.“ 452 Goldschmidt, Der Notstand, ein Schuldproblem, 1913, S. 17: „Ich bin mir bewußt, daß der Ausdruck ,Pflichtnorm‘ hier eine vox ambigua ist. ,Pflichtnorm‘ bedeutet hier nicht die Norm als Pflichtinhalt – in diesem Sinne ist jeder rechtliche Imperativ als solcher eine Pflichtnorm –, sondern die Norm als Bewertungsmaßstab für pflichtgemäße oder pflichtwidrige Willensbestätigung“; Goldschmidt, in: FS-Frank, Bd. I, 1930,

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eine doppelte Normwidrigkeit: „objektiv die Übertretung der Rechtsnorm, subjektiv die Verletzung der korrespondierenden Pflichtnorm“ 453. Der Notstand sei Beispiel eines entsprechenden Entschuldigungsgrundes: „Ein so überwiegendes und gebilligtes Motiv ist grundsätzlich vor allem die Not“ 454. Hier habe der Gesetzgeber den Selbsterhaltungstrieb als typisiertes Pflichtmotiv anerkannt455. Quelle dieser Entschuldigungsgründe sei nicht nur die Rechtsordnung, sondern auch das Billigkeitsrecht456. Die Pflichtnormtheorie hat die Entschuldigungsgründe – unter ihnen der Notstand – dogmatisch „ausgefüllt“ 457. Durch den Beitrag von Freudenthal hat die Zumutbarkeitsidee eine individualisierende Wende erfahren. Seine Arbeit – „mehr eine Kampfschrift als eine akademische Abhandlung“ – verursachte eine große Diskussion458. Hervorzuheben ist vor allem das Abstellen auf den konkreten Täter. Nach Freudenthal sind die von Frank genannten begleitenden Umstände im Einzelfall zu prüfen: „Liegen sie in concreto so, daß zur Nichtbegehung der Straftat ein Maß von Widerstandskraft gehört hätte, wie man es normalerweise niemandem zumuten kann, so fehlt es mit dem Können am Vorwurf und mit dem Vorwurf an der Schuld“ 459. Abermals war das zu lösende Problem der Notstand. Beim Notstand fehle es am Können: „der Täter konnte unter den die Not darstellenden Begleitumständen die Begehung nicht vermeiden. Das Sollen bleibt dabei unberührt“ 460. Die Bezeichnung als Schuldausschließungsgrund sei aber verfehlt: „Wer also Notstand geltend macht, gibt nicht zu, schuldhaft gehandelt zu haben, sondern er bestreitet es. Denn er bestreitet, daß ein Schuldteil – das Können – vorgelegen habe, ohne das der Vorwurf und die Schuld nicht möglich ist“ 461. Wenn das Recht die Fälle des S. 428 ff., 440: Die Pflichtnormen „sind der Normenkomplex, dem die Entschuldigungsgründe angehören“. 453 Goldschmidt, Der Notstand, ein Schuldproblem, 1913, S. 20. 454 Goldschmidt, Der Notstand, ein Schuldproblem, 1913, S. 34; so auch in Goldschmidt, in: FS-Frank, Bd. I, 1930, S. 428 ff., 446. 455 Goldschmidt, in: FS-Frank, Bd. I, 1930, S. 428 ff., 452 f.; ähnlich Henkel, in: FSMezger 1954, S. 249 ff., 291: „Die gesetzliche Notstandsregelung bedeutet demnach ein Außerkraftsetzen der für das innere Verhalten des Täters geltenden Pflichtnorm (,Laß Dich durch die Vorstellung des mißbilligten tatbestandlichen Erfolges Deiner Handlung von ihr abhalten‘) mit Hilfe einer Ausnahmenorm, die den Schuldvorwurf entkräftet. [. . .] Grund der Strafbefreiung ist die Rücksicht auf die übermächtige Wirkung des Selbsterhaltungstriebes.“ 456 Goldschmidt, Der Notstand, ein Schuldproblem, 1913, S. 37; das hat Goldschmidt jedoch später selbst in Frage gestellt: Goldschmidt, in: FS-Frank, Bd. I, 1930, S. 428 ff., 441. 457 Achenbach, Historische, 1974, S. 122. 458 Achenbach, Historische, 1974, S. 143 ff. 459 Freudenthal, Schuld und Vorwurf, 1922, S. 7: „Wann es am Können fehlt, ist generell nicht zu sagen; es ist Frage tatsächlicher Feststellung im Einzelfalle.“ 460 Freudenthal, Schuld und Vorwurf, 1922, S. 9. 461 Freudenthal, Schuld und Vorwurf, 1922, S. 9: „Mit einer romanistischen Parallele ist negative Litiscontestation, nicht exceptio gegeben.“

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entschuldigenden Notstands nicht anerkenne, dann sei es mehr als lückenhaft: „es könnte zur Bestrafung Unschuldiger führen“ 462. Nach Freudenthal müsste die bei den Fahrlässigkeitsdelikten als Schuldausschließungsgrund anerkannte Unzumutbarkeit auf die vorsätzlich begangenen Delikte übertragen werden. Denn „was der Fahrlässigkeit recht ist, sollte dem Vorsatze nicht unbillig sein“ 463. Dieses Hin und Her der Meinungen über die Zumutbarkeit im Strafrecht hat Henkel 1954 einigermaßen domestiziert. Einer der Gründe, weshalb man den Zumutbarkeitsgedanken in der strafrechtlichen Diskussion überhaupt eingeführt hatte, sei nämlich die Unzufriedenheit mit der strafrechtlichen Notstandsregelung gewesen, „deren drückende Enge allerseits empfunden wurde“ 464. Die Unzumutbarkeit sei in diesem Kontext als eine Art „Zauberformel“ aufgetaucht465. Die Funktion des Zumutbarkeitsbegriffs sei aber eine bescheidenere, wenn auch zugleich allgemeinere, das heißt: er sei auch für die Unrechtsebene relevant466: Der Zumutbarkeitsbegriff gelte nämlich als „regulatives Prinzip“ 467. Durch diese rechtsmethodologische Feststellung wurde der Zumutbarkeit ein anderer Status zugewiesen: Sie ist nunmehr nicht nur Argument für oder gegen die Straflosigkeit einer Handlung, sondern das Ergebnis einer langen Argumentationskette. Die Gründe, die zum Beispiel den Staat veranlasst haben, den entschuldigenden Notstand straflos zu stellen, sind aber durch den Rekurs auf eine Zumutbarkeitsklausel noch nicht vorgetragen. Dieser Beitrag gilt als ein point of no return in der dogmatischen Diskussion. Der Notstand wird also zum Schuldproblem. Das bedeute aber, so manche, nicht, dass der Notstand exklusiv ein Schuldproblem darstelle. Die Vertreter dieser Meinung behaupten, dass die Schuld des Täters auf das von ihm verwirklichte Unrecht Bezug nehme. Die Lokalisierung des Notstandes innerhalb der Schuldlehre erlaube also nicht den Schluss, der entschuldigende Notstand lasse das Unrecht der Tat unberührt. Das Unrecht sei also auch graduierbar. Diese Grundidee wurde durch die berühmte These Kerns über die Grade der Rechtswidrigkeit ergänzt. Laut Kern ist die Idee, dass Rechtswidrigkeit anders als die Schuld keine Abstufungen kenne und ein „Alles oder Nichts“ darstelle, schlicht falsch468. Es 462 Freudenthal, Schuld und Vorwurf, 1922, S. 9; der Notstand sei ausgehend von der damaligen lex lata als Rechtfertigungsgrund auszulegen (S. 17). 463 Freudenthal, Schuld und Vorwurf, 1922, S. 15. 464 Henkel, in: FS-Mezger 1954, S. 249 ff. 465 Henkel, in: FS-Mezger 1954, S. 249 ff., 251. 466 Henkel, in: FS-Mezger 1954, S. 249 ff., 305: „Die ,Unzumutbarkeit‘ ist nicht ,übergesetzlicher Entschuldigungsgrund‘, sondern weniger und mehr: sie spielt ,in Einzelerwägungen da und dort‘ eine Rolle, aber diese Funktion ist eben doch eine weit ausgedehnte, denn sie erstreckt sich über den Bereich der Tatbestandsmäßigkeit, der Rechtswidrigkeit und der Schuld in gleicher Weise.“ 467 Henkel, in: FS-Mezger 1954, S. 249 ff., 268 ff., 270, 273 ff., 282 ff., 292, 298, 301 ff.; siehe auch Henkel, Recht und Individualität, 1958, S. 30 ff., 69 ff., 72 f. 468 Kern, ZStW (64) 1952, S. 255 ff.

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sei im Gegenteil so, dass man auch innerhalb der Rechtswidrigkeit behaupten könne, die eine Handlung sei rechtswidriger als die andere; das heiße, dass die Rechtswidrigkeit „mehr oder weniger groß sein kann“ 469. Ein gutes Beispiel hierfür sei die Überschreitung des Notwehrrechts. Denn der „Grad der Rechtswidrigkeit eines Tuns [ist] wesentlich geringer, wenn der Handelnde nur ein ihm an sich gegebenes Recht überschreitet, als wenn er überhaupt unberechtigt handelt“ 470. Auch bei Notstandsfällen könne es sein, dass die Rechtswidrigkeit der Tat graduell verschieden stark sei471. Der Grad der Rechtswidrigkeit beim Notstand sei immer herabgemindert, und „diese Herabminderung kann je nach dem Wertverhältnis der kontrastierenden Interessen oder nach dem Stärkeverhältnis der einander gegenüberstehenden Pflichten verschieden hoch sein“ 472. Aus diesen Prämissen ergebe sich eine neue Perspektive für den existentiellen Notstand. Der Notstand sei kein ausschließliches Unrechts- oder Schuldproblem und solle auch nicht einer dritten Kategorie zugewiesen werden. Die Grenze zwischen Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen, sagt Rudolphi, sei „fließend, [so dass] also durchaus auch bei der Frage der Entschuldigung noch Unrechtsgründe maßgebend sein können“ 473. Die einheitliche Betrachtung sei zu kurzsichtig. Die Postulierung eines rechtsfreien Raums bedeute nichts anderes als eine verfrühte Kapitulation gegenüber der unausweichlichen Herausforderung, diese Sachverhalte rechtlich zu regulieren. Es gebe nämlich keinen isolierten Aspekt – sei er unrechtsbezogen, sei er schuldbezogen –, der den entschuldigenden Notstand in all seinen Besonderheiten befriedigend erklären könne. Erfolgversprechender scheine eine Mischung von Aspekten zu sein, die den Staat dazu veranlasst habe, den Täter nicht zu bestrafen. Das war die Argumentationsstrategie der von Armin Kaufmann begründeten und noch herrschenden sogenannten doppelten Schuldminderungslehre474. Nach Armin Kaufmann ist die Zumutbarkeit als Problem der Schuldquantifizierung zu verstehen: „zur Schuld – im weiteren Sinne – gehört die Summe aller Schuldvor469 Kern, ZStW (64) 1952, S. 255 ff., 261, 276: „Im einzelnen ist der Grad der Rechtswidrigkeit vom Angriffsobjekt (insbesondere von dessen Wert), von der Art der Angriffshandlung, von der Besonderheit der Lage, insbesondere vom Verhalten des Verletzten (mitwirkendes Verschulden, speziell Provokation, Einwilligung) und vom Verhalten des Täters nach der Tat abhängig. Eine einschneidende Rolle spielt der Grad der Rechtswidrigkeit endlich in allen Konfliktslagen.“ 470 Kern, ZStW (64) 1952, S. 255 ff., 266. 471 Kern, ZStW (64) 1952, S. 255 ff., 287. 472 Kern, ZStW (64) 1952, S. 255 ff., 287. 473 Rudolphi, ZStW 78 (1966), S. 67 ff., 85: „Diesem in der Regelungsmaterie vorgegebenen Umstand ist Rechnung zu tragen, so daß es sich verbietet, Rechtfertigung und Entschuldigung als zwei einander diametral entgegengesetzte Begriffe zu betrachten.“ 474 So auch Peña-Wasaff, Der entschuldigende Notstand, 1979, S. 67 ff., 142; RogallSK § 35, 9. Aufl., Rn. 3 ff.

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aussetzungen, darunter auch – und keineswegs an letzter Stelle – das Unrecht! [. . .] Denn Unrechtsminderung bedeutet stets zugleich auch Schuldminderung“ 475. Das Unrecht bestehe aus zwei Elementen, nämlich dem Handlungs- und dem Erfolgsunwert. Die Verfolgung eines verständlichen Zweckes „mindert den Handlungsunwert und damit auch das von diesem abhängigen Maß des Schuldvorwurfes“ 476. Dem fügten andere Vertreter dieser Theorie eine Minderung des Erfolgsunwerts hinzu. Denn der Täter habe auch ein eigenes Rechtsgut – oder mindestens das einer nahestehenden Person – bewahrt. Das Saldo der Rechtsordnung sei etwas besser gestellt im Vergleich zu einer normalen Straftat, die nur eine Rechtsgutsverletzung bewirke. Es erfolge eine „Unrechtsminderung“, die „von der Wertdifferenz zwischen dem geretteten Rechtsgut und dem dafür aufgeopferten“ abhänge477. Darauf folge eine spezifische zweite Schuldminderung: „Wer in Not ist, dem fällt es schwerer, dem Appell der Norm zu folgen“ 478. Die erschwerte Motivation eines Täters in Notlage verursache deswegen wiederum eine Schuldminderung. Diese Summe erkläre, warum die Rechtsordnung faktisch darauf verzichte, den Schuldvorwurf zu erheben. Diese Argumentation konzentriert sich auf die bekannten Kategorien der Unrechts- und der Schulddogmatik: Handlungs- und Erfolgsunwert, Motivationserschwerung usw. Spätestens bei der Begründung der Ausnahmen taucht die straftheoretische bzw. generalpräventive Art und Weise zu argumentieren wieder auf: Nach Armin Kaufmann besteht trotz der existentiellen Notlage doch die Notwendigkeit einer Strafe, „wenn ohne Beeinträchtigung der Gesamtinteressen der Rechtsgemeinschaft nicht auf die Strafsanktion verzichtet werden kann“ 479. Neuerdings hat Frisch dieser Begründung ein neues Gewand verliehen480. Er versucht, die in der Regel nur vage konturierten Kategorien der Strafwürdigkeit und der Strafbedürftigkeit anhand der Institute des Allgemeinen Teils des Strafrechts zu konkretisieren. Ein von ihm gewähltes Beispiel ist der entschuldigende Notstand481. Beim entschuldigenden Notstand sei sowohl die Strafwürdigkeit als auch die Strafbedürftigkeit an sich vorhanden. Es sei erst „das Zusammenspiel von Erwägungen zur Strafwürdigkeit und solchen zur Strafbedürftigkeit“, das die Straflosigkeit zu erklären vermöge482. Die Handlung im existentiellen Notstand 475

Armin Kaufmann, Unterlassungsdelikte, 2. Aufl., 1988, S. 156 f. Armin Kaufmann, Unterlassungsdelikte, 2. Aufl., 1988, S. 157; zur Diskussion um den Handlungs- und Erfolgsunwert im Strafrechtssystem im Allgemeinen siehe Krauß, ZStW 76 (1964), S. 19 ff., 38 ff.; Lampe, Das personale Unrecht, 1967, S. 41 ff.; Mylonopoulos, Handlungs- und Erfolgsunwert im Strafrecht, 1981, S. 8 ff. 477 Armin Kaufmann, Unterlassungsdelikte, 2. Aufl., 1988, S. 157. 478 Armin Kaufmann, Unterlassungsdelikte, 2. Aufl., 1988, S. 158. 479 Armin Kaufmann, Unterlassungsdelikte, 2. Aufl., 1988, S. 158. 480 Frisch, GA 2017, S. 364 ff. 481 Frisch, GA 2017, S. 364 ff., 375 ff. 482 Frisch, GA 2017, S. 364 ff., 375. 476

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führe zu einer Reduzierung der Strafwürdigkeit: „In Fällen dieser Art ist wegen der bewirkten Erhaltung eines Rechtsguts schon die Gesamtbilanz des Unwerts geringer als in einem vergleichbaren ,Normalfall‘ ohne Notstandssituation; zugleich ist die Tat wegen der motivationsverengenden psychischen Lage des Täters erheblich weniger tadelnswert“ 483. Diese Tatsache erkläre aber allein noch nicht, warum die Rechtsordnung dieser Reduzierung der Strafwürdigkeit nicht mittels einer geminderten Strafe Rechnung trage. Wenn der Staat auf die Strafverhängung verzichte, dann hätten andere Erwägungen dazu beigetragen. Sie beträgen eben die zusätzlich abwesende Strafbedürftigkeit. Erstens sei die motivatorische Kraft der Verhaltensnorm in Extremfällen zu bezweifeln. Zweitens lasse sich in diesen Fällen keine Infragestellung der Normgeltung identifizieren: „Da die ohnehin stark reduzierte Strafe in Richtung auf die Bedeutung der verletzten Norm und die Bedeutung der Normverletzung in den Normalfällen, denen gegenüber die Geltung der Norm unbedingt zu erhalten ist, zudem auch nur wenig aussagekräftig erscheint, fehlt es damit letztlich an einem vitalen Bedürfnis, diese Strafe zu verhängen“ 484. Was in der klassischen Formulierung von Armin Kaufmann und Rudolphi als Unrechts- und Schuldminderung bezeichnet wurde, wird von Frisch als Strafwürdigkeits- und Strafbedürftigkeitsreduzierung begriffen. Das Argument der Normgeltung aber taucht nicht erst bei Frisch, sondern schon in der klassischen Formulierung auf: Wie oben gesehen, erklärte auch Armin Kaufmann die Ausnahmen der Exkulpation mit generalpräventiven Gründen. Diese synkretistische Theorie485 ist aber aus vielen Gründen abzulehnen486. Auf einen ersten Blick mag sie § 35 erklären. Dafür hat sie aber einen hohen Preis bezahlt: Die gelieferte Begründung ist dogmatisch unhaltbar. Denn nach einem zweiten Blick ist bereits das angebliche Erklärungspotenzial dieser Theorie zu bezweifeln: Wie würde diese Lehre z. B. erklären, dass ein Täter, der acht unschuldige Opfer eines gemeinsamen Unfalls tötet, um einen Angehörigen zu retten, nach § 35 nicht bestraft wird; jedoch der Täter, der einen Dritten tötet, um acht vom Personenkreis des § 35 nicht erfasste Menschen zu retten? Die doppelte Schuldminderungslehre sollte konsequenterweise den § 35 für falsch bzw. für zu eng gefasst halten. Die Theorie ist aber ganz im Gegenteil nur deshalb ein wissenschaftlicher Erfolg geworden, weil sie den § 35 angeblich er-

483

Frisch, GA 2017, S. 364 ff., 375. Frisch, GA 2017, S. 364 ff., 376; hier laufe die Rechtsordnung auf keinen Fall Gefahr, dass die Normgeltung erodiere: „der vernünftige Normadressat kann die Unterschiede in den Fallkonstellationen nachvollziehen und erwartet nicht, dass zur Bekräftigung der Normgeltung für die Normalfälle des täglichen Lebens auch in solchen Extremfällen gestraft wird“ (S. 380). 485 Bernsmann, „Entschuldigung“, 1989, S. 204; auch so Pawlik, JRE 11 (2003), S. 287 ff., 294. 486 Siehe die didaktische und überzeugende Benennung von acht Gründen gegen die doppelte Schuldminderungslehre bei Roxin, in: FS-Yamanaka 2017, S. 467 ff., 468 ff. 484

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klärt hat. Auch wenn man die Existenz einer doppelten Schuldminderung unterstellt, bleibt noch ein eklatanter Widerspruch mit anderen Wertentscheidungen des Gesetzgebers zu erklären, nämlich mit der verminderten Schuldfähigkeit (§ 21), die lediglich zu einer fakultativen Strafmilderung führt487. Auch lässt sich eine Unrechtsminderung im Sinne einer partiellen Kompensation des Erfolgsunwerts durch einen Erfolgswert (das Erhalten des eigenen Gutes) schwer behaupten488. Denn für den Erfolgsunwert einer Tat ist die durch die Handlung herbeigeführte Rechtsgutsverletzung und nicht der eventuelle Gewinn des handelnden Täters maßgeblich489. Oder ist das Unrecht der Tat eines Diebes, der dadurch reich und glücklich wird, auch gemindert?490 Es kann auch nicht richtig sein, dass „ein (unter Umständen existenzvernichtender) Eingriff in die Rechtssphäre des Opfers allein aus dem Grunde ein geringeres Unrecht dar[stellt], daß ein anderer davon profitiert“ 491. Deswegen ist Neumann beizupflichten, wenn er meint: „Wer seinen Zwillingsbruder tötet, um mit einer Organtransplantation sein eigenes Leben zu retten, verwirklicht nicht deshalb geringeres Unrecht, weil er zur Rettung eines anderen Lebens handelt“ 492. Auch die Existenz eines Handlungswerts ist höchst zweifelhaft. Denn hier will der Täter nicht ein Leben, sondern „sein Leben retten“ 493. Außerdem tritt die Entschuldigung auch dann ein, wenn die Rettungsaktion misslingt, das heißt, wenn niemand etwas dadurch gewinnt494. Auch beim fehlgeschlagenen Rettungsversuch wird nämlich richti487

So Roxin, in: FS-Yamanaka 2017, S. 467 ff., 469. So richtig Frister, JuS 2013, S. 1057 ff., 1063: „So ist z. B. das Unrecht einer ohne Not begangenen Sachbeschädigung (§ 303 StGB) oder eines ohne Not begangenen Hausfriedenbruchs (§ 123 StGB) nach der Wertung des StGB immer noch deutlich geringer als das durch die Not geminderte Unrecht eines im entschuldigenden Notstand begangenen Totschlags (§§ 212, 213 StGB)“; so auch Renzikowski, JRE 11 (2003), S. 269 ff., 274: „Demnach besitzt, überspitzt formuliert, ein Totschlag im Lebensnotstand nur das Gewicht eines Ladendiebstahls.“ 489 Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl., § 22, Rn. 10. 490 Puppe, Strafrecht AT, 3. Aufl., § 17, Rn. 4; Puppe hat Recht, wenn sie dagegen protestiert: „Aber niemand kann einen Vorteil für sich oder einen Anderen als Unrechtmilderung geltend machen, den er widerrechtlich erlangt hat. Oder soll der Betrüger oder Dieb eine Minderung des Unrechts, das er dem Opfer durch Schädigung seines Vermögens angetan hat, damit begründen können, dass er eben durch diese Handlung einen großen Vermögensvorteil für sich oder seine Angehörigen erlangt hat?“; so schon früher Neumann, Zurechnung und Vorverschulden, 1985, S. 211: Dann müsste es hingenommen werden, „wenn sich der wegen Betrug (§ 263 StGB) angeklagte Täter mit der Begründung auf eine Minderung des Erfolgsunwertes seiner Tat berufen würde, dass dem Vermögensschaden des Opfers eine Mehrung seines eigenen Vermögens gegenüberstehe“. 491 Pawlik, Das Unrecht, 2012, S. 351. 492 Neumann-NK, § 35, 5. Aufl., Rn. 4a. 493 Neumann, Zurechnung und Vorverschulden, 1985, S 217. 494 Neumann, Zurechnung und Vorverschulden, 1985, S. 210; Schneider, Grund und Grenzen, 1991, S. 96 f.; auch Roxin, in: FS-Yamanaka 2017, S. 467 ff., 471: Die Straflosigkeit setze keinen durch die Erhaltung eines Rechtsguts herabgeminderten Erfolgsunwert voraus. 488

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C. Theorie des entschuldigenden Notstands

gerweise exkulpiert. Die Theorie ist ein Kind der utilitaristisch fundierten Güterverrechnungsthese des rechtfertigenden Notstands495, das aber für die dort herrschende Unabwägbarkeit des Rechtsguts Leben blind ist: „Soweit es um die Entschuldigung von Tötungshandlungen geht, kollidiert eine Verrechnung von vernichteten und geschützten Rechtsgütern mit der Ablehnung einer Saldierung der geopferten und der geretteten Menschenleben im Rahmen des § 34 StGB“ 496. Die Entschuldigung ist richtigerweise ohne irgendwelche „Anleihen bei der Dogmatik von Handlungs- und Erfolgsunrecht“ zu konstruieren497. Von Differenzierungspotenzial kann auch nicht die Rede sein: Diese Ansätze wollen im Gegenteil den rechtfertigenden und entschuldigenden Notstand offensichtlich annähern; die Straflosigkeit ist demnach Summe einer Unrechts- und einer Schuldminderung. Es ist aber demgegenüber so, dass durch den Zumutbarkeitsbegriff Unrechtsund Schuldmomente verquickt wurden. Unrechtsbezogene Argumente haben jedoch oftmals eine gesellschaftsorientierte Struktur. Die Grenzen zwischen den beiden Notständen werden dadurch verwischt498. Dass die der doppelten Schuldminderungslehre zugrundeliegende Idee der Zumutbarkeit aus der Perspektive der Allgemeinheit gedacht ist, zeigen am besten die Ausführungen von Welzel, der sich später dieser Theorie angeschlossen hat499. Nach ihm ist mit der Zurechnungsfähigkeit und der Möglichkeit der Unrechtskenntnis die Schuld „sachlich begründet“; es gebe aber andere Gründe, die den Staat dazu veranlassten, die Schuld dem Täter „nachzusehen“. Das beste Beispiel sei genau der entschuldigende Notstand. Aber: „wie weit es [das Recht] mit der Nachsicht gehen will, das steht in seiner Macht“; der entschuldigende Notstand sei deswegen nur ein „faktischer Entschuldigungsgrund“ 500. Täter und Opfer sind so verstanden ledig495

Pawlik, Der rechtfertigende Notstand, 2002, S. 40: „Dieses Argument beruht auf der stillschweigenden Prämisse, daß der Erhaltung von Rechtsgütern ein strafrechtlich beachtlicher Eigenwert zukomme – eine Prämisse, die ihrerseits nur vor dem Hintergrund der Überzeugung verständlich wird, es sei (in einem strafrechtlich relevanten Sinn) ,gut‘, wenn gesamtgesellschaftlich möglichst viele Rechtsgüter zur Verfügung stünden.“ 496 Neumann, Zurechnung und Vorverschulden, 1985, S. 215; Puppe, Strafrecht AT, 3. Aufl., 2016, S. 229: „Ein Verhalten ist entweder rechtmäßig oder rechtswidrig, es kann nicht ein bisschen rechtmäßig und ein bisschen rechtswidrig sein“; siehe auch T. Zimmermann, Rettungstötungen, 2009, S. 222 ff.; Roxin, in: FS-Yamanaka 2017, S. 467 ff., 469. 497 So Neumann-NK, § 35, 5. Aufl., Rn. 4a. 498 Hefermehl, Der verursachte entschuldigende Notstand, 1980, S. 70: „Damit wird aber die innere Einheit der gesetzlichen Regelung zerrissen.“ 499 Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl., S. 178 ff. 500 Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl., S. 179; so auch Watzka, Die Zumutbarkeit, 1967, S. 168: „Die Rechtsordnung hat es nun durchaus in der Hand zu bestimmen, wie hoch die Sollensanforderungen zu spannen sind, inwieweit etwa im Notstand die menschliche Schwäche durch Entschuldigung einer mit Strafe bedrohten Handlung berücksichtigt sein soll.“

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lich die Gegenstände der Nachsicht der Rechtsordnung. Ihnen als Personen wird nichts erklärt. 6. Weder Unrechts- noch Schuldproblem? Es könnte aber sein, dass der entschuldigende Notstand weder ein Unrechts-, noch ein genuines Schuldproblem (im engeren Sinne) darstellt. Die vor allem von Roxin entwickelte präventiv orientierte Erklärung vermeidet fast alle durch die Etablierung der doppelten Schuldminderungslehre entstandenen Probleme. Vor allem korrigiert sie die Verquickung von Unrechts- und Schuldfrage: Der entschuldigende Notstand hat nichts mit dem Unrecht zu tun501. Nach Roxin ist der Täter in existentieller Notlage durchaus normativ ansprechbar, er ist psychisch und physisch imstande, die Norm zu beachten, so dass die Schuld noch immer besteht502. Der Täter sei „bei der Tat seiner geistigen und seelischen Verfassung nach für den Anruf der Norm disponiert“ 503. Der entschuldigende Notstand sei auch kein genuines Schuldproblem im engeren Sinn504. Der von Roxin begründete umfassende Verantwortlichkeitsbegriff enthält außer der Schuld des Täters noch die präventive Bestrafungsnotwendigkeit505. Die normative Ansprechbarkeit 501 Roxin, JuS 1988, S. 425 ff., 427: „Denn der Gesetzgeber hält, wenn er eine Notstandstat exkulpiert, am Normbefehl und damit an seinem Motivationswillen gegenüber dem Notstandstäter durchaus fest“; früher hatte Roxin dagegen konzediert, der entschuldigende Notstand sei auch für das Unrecht von Relevanz: „Der entschuldigende Notstand ist gleichzeitig als Unrechtsminderung von Bedeutung, weil er neben der rechtsgutsbeeinträchtigenden auch, wenngleich nicht überwiegende, rechtsgutserhaltende Wirkung hat“, ders., Kriminalpolitik, 2. Aufl., 1973, S. 43; so auch in ders., in: GSRadbruch 1968, S. 260 ff., 266: „Ebenso ist es, wie neuere Untersuchungen zeigen, unrichtig zu meinen, daß die zum Verantwortungsausschluß führenden Umstände (etwa eine Notstandssituation nach § 54 StGB) erst im Bereich der Schuld aufträten und für das Unrecht irrelevant seien.“ 502 Roxin, in: FS-Henkel, 1974, S. 171 ff., 183 ff.; ders., in: FS-Bockelmann 1979, S. 279 ff.; ders., in: FS-Brauneck 1999, S. 285 ff., 293: „Im Falle des exkulpierenden Notstandes (§ 35 StGB) wird man nur selten sagen können, daß der Täter nicht anders handeln kann; und wenn es einmal so ist, würde ohnehin § 20 StGB vorliegen, so daß es des § 35 StGB nicht bedürfte“; so schon auch Noll, in: FS-Hellmuth Mayer 1965, S. 219 ff., 225. 503 Roxin, Strafrecht AT, § 19 Rn. 36; ders., GA 2015, S. 489 ff., 490; ders., JuS 1988, S. 425 ff., 427; dazu siehe Hoyer, in: FS-Roxin II, 2011, S. 723 ff.; R. Merkel, Schuld, in: FS-Roxin II 2011, S. 737 ff. 504 Roxin, Kriminalpolitik, 2. Aufl., 1973, S. 33 ff.; ders., in: FS-Henkel, 1974, S. 171 ff., 183 ff.; siehe Wolter, GA 1996, S. 207 ff.; Schroth, in: FS-Roxin II 2011, S. 705 ff., 717 ff. 505 Roxin, Kriminalpolitik, 2. Aufl., 1973, S. 15: Die Schuld „hat es in Wahrheit weniger mit der empirisch schwer verifizierbaren Ermittlung des Andershandelnkönnens als mit der normativen Frage zu tun, ob und inwieweit ein grundsätzlich mit Strafe bedrohtes Verhalten bei irregulären persönlichkeits- oder situationsbedingtes Umständen noch der Strafsanktion bedarf“; so auch Schünemann, in: Schünemann (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 153 ff., 166 f.; dagegen Bernsmann, „Entschuldigung“, 1989, S. 220: „den general- und spezialpräventiven Ableitungen Roxins kann durchaus zugestimmt werden, doch ist das dabei verwendete ,Prinzip‘ letzt-

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genüge nämlich für die Bestrafung nicht506, sonst laufe man Gefahr, einen „Bestrafungsrigorismus“ zu praktizieren507. Zum „affektbedingten Motivationsdruck“ trete im Notstand ebendieses Fehlen einer präventiven Bestrafungsnotwendigkeit hinzu508. Die Seltenheit, die Unwiederholbarkeit der Situation – die jeden, sogar den rechtstreuesten Menschen der Welt, irgendwann treffen könne – machten die Bestrafung aus spezial- und generalpräventiven Gründen nicht notwendig509. Hier dürfe der Gesetzgeber Nachsicht mit dem Täter üben und „dabei auf das Verständnis der Allgemeinheit rechnen“ 510. Es fehle trotz der (geminderten) Schuld des Täters an der Strafbedürftigkeit511. Die Ausnahmen des § 35 erklärten sich ebenfalls aus generalpräventiven Gründen, so zunächst der beschränkte Katalog der Rechtsgüter: „Die Sicherung der körperlichen Integrität ist eine primäre Aufgabe des Strafrechts“. Auch die Rettung von nicht nahestehenden Personen würde das Rechtsbewusstsein erschüttern, vor allem weil der Täter hier ohne persönliche Not Schicksal spiele: „Dies gilt auch deshalb, weil die Zahl möglicher Rettungsschädigungen dadurch in einer die Rechtssicherheit gefährdenden intolerablen Weise ausgeweitet würde“ 512. Die Ausnahmen des § 35 I 2 ließen sich ebenfalls allein aus generalpräventiven Gründen erklären: „Die lich so unscharf und inhaltlich so offen, daß es zur Herleitung der Grenzen der Straffreiheit untauglich wird“; so auch T. Zimmermann, Rettungstötungen, 2009, S. 227; Antwort auf diese Einwände jetzt bei Roxin, in: FS-Yamanaka 2017, S. 467 ff., 479, der argumentiert, seiner Theorie gelinge es, den Gesetzestext ohne Friktionen zu erklären, und sie könne sich auf die Überzeugungskraft von common sense-Erwägungen berufen, „auf die kein Gesetzgeber verzichten kann“. 506 Roxin, in: FS-Bockelmann 1979, S. 279 ff., 282 ff., 284: „Denn die ,Schuld‘ ist dann nur eine notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung für eine Zurechnung zur strafrechtlichen Verantwortung“; Hörnle, JuS 2009, S. 873 ff., 877: „Der Täter wird nicht im engeren Sinne ,ent-schuldigt‘ (seine Schuld bleibt bestehen) – aber der Staat darf ihm nicht vorwerfen, nicht sein Leben geopfert zu haben.“ 507 Roxin, JuS 1988, S. 425 ff., 427; so auch Noll, in: FS-Hellmuth Mayer 1965, S. 219 ff. 508 Roxin, in: FS-Yamanaka 2017, S. 467 ff., 472.; auch bei Roxin bleibt das alte Argument des Motivationsdrucks nach wie vor maßgeblich. Die Strafmilderung bei vermeidbar irriger Annahme eines Notstands erklärt Roxin zum Beispiel mit der Erwägung, dass „der schuldmindernde Motivationsdruck, der auf dem Täter lastet“ hier derselbe sei wie bei einer wirklichen Notstandsgefahr. Sie ist aber nicht mehr das einzige Argument, das die Straflosigkeit erklärt; er spricht von menschlichen Schwächen als schuldmindernden Faktoren (S. 484). 509 Roxin, in: FS-Yamanaka 2017, S. 467 ff., 473: „Da niemand in einem solchen Fall im Voraus wissen kann, wie er reagieren wird (denn Angstreaktionen lassen sich kaum prognostizieren), wird es ihm recht sein, wenn er ggf., d. h. bei einer Rettung auf Kosten anderer oder einer Überschreitung der Notwehrgrenzen von der Milde des Gesetzgebers profitieren kann. Die entsprechenden Vorschriften werden also als sozial angemessen empfunden und begründen kein gesellschaftliches Strafbedürfnis.“ 510 Roxin, in: FS-Yamanaka 2017, S. 467 ff., 473. 511 So auch Kaspar, Strafrecht AT, 2. Aufl., Rn. 382; siehe Schroth, in: FS-Roxin II 2011, S. 705 ff., 717 ff. 512 Roxin, in: FS-Yamanaka 2017, S. 467 ff., 477.

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Pflicht des Staates zum Rechtsgüterschutz gestattet es nicht, dass Personen, die zur Gefahrenabwehr eingesetzt werden, sich ihren Pflichten straflos entziehen können (§ 35 I 2); die Aufrechterhaltung der Friedensordnung verbietet es, dass auch solche Personen, die eine Gefahr selbst verschuldet haben (§ 35 I 2), oder sie fälschlich annehmen (§ 35 II), sich ohne weiteres auf § 35 berufen können; dass die Gefahr wirtschaftlicher Verluste keine strafbefreiende Wirkung haben kann, erklärt sich daraus, dass sonst die Selbsthilfe den ordentlichen Rechtsgang verdrängen und die Gesellschaft ins Chaos führen könnte“ 513. Neuerdings wird diese These folgendermaßen zusammengefasst: „Der Grundgedanke ist der, dass in den Fällen der §§ 35, 33 StGB ein Verzicht auf Strafe weder aus Gründen des Rechtsgüterschutzes unzulässig noch geeignet ist, das Vertrauen der Allgemeinheit in die Durchsetzungskraft des Rechts erschüttern. Der Gesetzgeber kann also Nachsicht üben und dabei auf das Verständnis der Allgemeinheit rechnen“ 514. Als Beschreibung der Effekte ist das alles richtig. Roxin hat auch Recht, wenn er sagt, dass sich die Ausnahmen von der Entschuldigung im Notstand (§ 35 I 2) „aus präventiven Bedürfnissen erklären lassen“ 515. Es bleibt aber immer noch zu klären, wie man diese Ausnahmen begründen soll. Auch die Instrumentalisierungsgefahr hat Roxin beim entschuldigenden Notstand richtig erfasst: Die noch bestehende normative Ansprechbarkeit erklärt, warum wir bei den von dem Gesetzgeber vorgesehenen Ausnahmen keine Unschuldigen bestrafen; auch bei den Ausnahmen, bei denen der Richter „unter unmittelbarer Konkretisierung der (generalpräventiven) Gemeinwohlanforderungen entscheiden“ könne, zieht er eine äußerste Grenze, nämlich den höchstwahrscheinlichen Tod516. Diese materiellen Grenzen, die in den angeborenen Rechten der Person zu finden sind, gehen aber weiter. Die Rechtfertigung Roxins ist wiederum in erster Linie aus der Perspektive der Allgemeinheit gedacht. Die Generalprävention ist eine Überlegung bzw. eine Wirkung, die „auf der Makroebene stattfindet, ohne irgendeinen Bezug zu einem Individuum“ 517. Es fehlt noch immer an einer Rechtfertigung dem Täter gegenüber, warum wir gerade ihn trotz der existentiellen Notlage ausnahmsweise 513 Roxin, in: FS-Henkel, 1974, S. 171 ff., 184 ff.; so auch Rudolphi, in: Schünemann (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 74: „Sieht der Gesetzgeber aus Gründen der Unzumutbarkeit von Strafe ab, so findet dies also seine Erklärung darin, dass der Täter durch seine ihm zwar individuell zurechenbare, aber doch verzeihliche Tat die übertretene strafrechtliche Verhaltensnorm gerade nicht in einer Weise in Frage gestellt hat, dass es zu ihrer Festigung aus general- oder aus spezialpräventiven Gründen einer Strafverhängung bedürfte“; so auch Wolter, GA 1996, S. 207 ff., 212 ff. 514 Roxin, in: FS-Yamanaka 2017, S. 467 ff., 473, 478, der die Kritik, diese These verwechselte Ursache und Wirkung, für nicht zutreffend hält. 515 Roxin, JuS 1988, S. 425 ff., 427; siehe auch Wolter, GA 1996, S. 207 ff., 212 ff. 516 Roxin, in: FS-Henkel, 1974, S. 171 ff., 184. 517 Greco, Lebendiges, 2009, S. 504, 507: Dies könne erklären, „warum es in unserem Interesse liegt, den Täter in solchen Situationen zu bestrafen, nicht aber einsichtig machen, warum man dem Täter kein Unrecht antut, wenn man ihn bestraft“.

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bestrafen. Denn die Frage der gesellschaftlichen Gewinne bzw. Verluste ist schon durch das Rechtswidrigkeitsurteil geklärt worden. Der Verantwortlichkeitsbegriff ist an sich richtig. Es ist nicht so, dass strafzweck- bzw. gesellschaftsorientierte Überlegungen keinen Platz im Schuldbereich beanspruchen könnten; diese Argumente dienen jedoch eher der Ausweitung von jenseits der Schuld bestehenden Ausschlüssen der Verantwortlichkeit oder der Konkretisierung von flexiblen Begriffen innerhalb der Schuldkategorie (Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums, voluntatives Element der Schuldfähigkeit, Konturierung des Selbstverursachungsbegriffs beim entschuldigenden Notstand usw.); diese Argumente können aber nie zu einer Beschränkung von dem führen, was dem Kernbereich der Schuld angehört518. Die Schuld des Täters bildet die unüberschreitbare Grenze der präventiven Konturierung der Kategorien, die nämlich „in der Regel vor den Grenzen des äußerstenfalls erzwingbaren Könnens haltmachen“ 519. Nach Roxin enthält dieser Kern der Schuld, verstanden als normative Ansprechbarkeit – d. h. die Fähigkeit, von der Verhaltensnorm ansprechbar zu sein520 – lediglich die Schuldfähigkeit und das Unrechtsbewusstsein. So macht er deutlich: „Strafe ist dann die präventiv erforderliche Reaktion auf ein Verhalten, das trotz ,normativer Ansprechbarkeit‘ gegen die strafrechtliche Norm verstößt“ 521. Ich behaupte, dass dieser Kern ein wenig größer ist: Er enthält auch den entschuldigenden Notstand (s. u. C., IV). Denn die normative Ansprechbarkeit ist anders als bei Roxin zu verstehen, nämlich als Fähigkeit, von der Sanktionsnorm ansprechbar zu sein. Die Domäne des Verantwortlichkeitsbegriffs ist meines Erachtens der übergesetzliche Notstand und der Notwehrexzess (§ 33). Die hier formulierten Einwände beziehen sich daher auf die Erklärung des entschuldigenden Notstands, nicht aber auf den generellen Ansatz, der zweifelsohne weiterführend ist. 7. Vor- oder außerstrafrechtliches Problem? Andere Autoren meinen, das eigenartige Problem des entschuldigenden Notstands habe tiefere Wurzeln: Es sei ein vor- oder außerstrafrechtliches. Einerseits ist das Notstandsproblem viel tiefer verankert, als bisweilen behauptet wird. Andererseits sind diese tief verankerten Gründe der Straflosigkeit des existentiellen Notstands schwer zu begreifen, vor allem durch die vorgeprägten Kategorien der Verbrechenslehre. Deswegen überrascht es nicht, wenn man viele Ansätze in der Lehre findet, die entweder anhand vorstrafrechtlicher Argumente die Straflosig-

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Siehe Greco, Lebendiges, 2009, S. 505. Roxin, in: FS-Henkel, 1974, S. 171 ff., 184; so auch in ders., ZStW 96 (1984), S. 641 ff., 652 ff. 520 Roxin, in: FS-Bockelmann 1979, S. 279 ff. 521 Roxin, in: FS-Bockelmann 1979, S. 279 ff., 299. 519

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keit des entschuldigenden Notstand zu erklären versuchen – sei es mit Argumenten staatstheoretischer, rechtsphilosophischer oder rechtstheoretischer Natur; oder aber solche Ansätze, die intendieren, die unumstrittene Straflosigkeit im Rahmen der strafrechtlichen Kategorie zu erklären, die interessanterweise die außerstrafrechtlichen Erwägungen zu inkorporieren vermag, nämlich des Strafausschließungsgrunds522. Die außerstrafrechtliche Begründung wurde vor allem von Beling vertreten. Beling unterscheidet zwischen Rechtfertigungsgründen und einfachen Unrechtsausschließungsgründen523. Bei den ersten sei die Handlung erlaubt und es bestehe eine Duldungspflicht seitens des Opfers. Bei den zweiten sei die Handlung zwar nicht rechtswidrig, aber immerhin auch nicht erlaubt. Die Handlung sei rechtlich irrelevant524. Der Notstand bereite dieser Klassifikation viele Probleme. Ihn könne man sowohl als einen Rechtfertigungsgrund einordnen, „soweit die Beeinträchtigung des letzteren [Gutes] einen im Rechtssinn geringeren Schaden darstellt“ 525, als auch als eine rechtlich irrelevante Handlung, „soweit die beiderseitigen Schädigungen wertgleich sind“ 526. Die damals geltende Vorschrift des § 54 RStGB werdem dem aber nicht gerecht, weil sie weder dem Wortlaut noch dem Sinne nach „auf die Absteckung der Grenzen zwischen Recht und Unrecht beim Notstand“ zielt527. Die Gründe der Straflosigkeit seien andernorts zu suchen. Die Handlung im existentiellen Notstand sei auch schuldhaft – denn „zahlreiche Notstandshandlungen gereichen dem Handelnden durchaus zum Vorwurf“ 528 –, und eine schuldhafte Handlung ist nach Beling in der Regel eine strafbare Handlung529. Der Staat könne aber in einigen Fällen ohne einen erheblichen Prä522 Dieser sei ein weites und vernachlässigtes Feld, „dessen gründliche Bestellung noch mehrere Monographien erfordert“, Roxin, JuS 1988, S. 425 ff., 432. 523 Ausf. Beling, Grundzüge, 11. Aufl., 1930, S. 14 ff. 524 So Beling, Grundzüge, 11. Aufl., 1930, S. 14 f. 525 Beling, Grundzüge, 11. Aufl., 1930, S. 15. 526 Beling, Grundzüge, 11. Aufl., 1930, S. 15. 527 Beling, Grundzüge, 11. Aufl., 1930, S. 15 f. 528 Beling, Grundzüge, 11. Aufl., 1930, S. 33; Schuld ist nach ihm als „Vorwerfbarkeit oder Tadelhaftigkeit der Tat nach ihrer psychischen Seite hin [zu] definieren. [. . .] Soll der Ausdruck ,Vorwerfbarkeit‘ dazu dienen, um die Demarkationslinie der Schuld gegenüber sonstigen Verbrechensmomenten zu bezeichnen, so kann er lediglich auf die seelische Fehlerhaftigkeit der Tat bezogen werden. [. . .] So ist die strafrechtliche Schuld diejenige Tadelhaftigkeit einer Handlung, die gegeben ist, wenn es im Inneren des Handelnden nicht so aussah, wie es die Rechtsordnung erwartete, und wie sie es von dem Handelnden erwarten konnte“, ders., Unschuld, 1910, S. 8 f., S. 12 f. 529 Beling, Grundzüge, 11. Aufl., 1930, S. 31; früher hatte Beling argumentiert, die Verwirklichung der Strafdrohung müsse nicht immer stattfinden: „Wer für eine tatbestandsmäßige rechtswidrige schuldhafte Handlung eine passende Strafdrohung gefunden hat, steht nahe vor dem Urteil: die Handlung ist ein Verbrechen. Denn das bloße Zusammenstimmen von Strafdrohung und Tat sagt nur, daß es möglich ist, diese jener zu unterstellen; es sagt nicht, daß die Strafdrohung wirklich eingreift“, ders., Die Lehre vom Verbrechen, 1906, S. 51.

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ventionsverlust auf die Strafzufügung verzichten, mit anderen Worten: „Die gesetzgeberische Auffassung ist dabei die, daß hier die Staatsautorität durch Unterbleiben der Vergeltung keinen Schaden leidet“ 530. Diese Handlungen seien „atypische“ schuldhafte Handlungen: „Hier geht [der Gesetzgeber] noch einen Schritt weiter, indem er sogar den in den Typenkatalog eingetragenen Handlungen unter gewissen Voraussetzungen Straflosigkeit widerfahren läßt“ 531. Diese Umstände ließen sich als sachliche oder persönliche Strafausschließungsgründe bezeichnen532. Beim entschuldigenden Notstand komm es nicht zu einer Interessen- bzw. Güterabwägung, so dass die Regelung nur verständlich werde, wenn man annehme, „daß der Staat über solche das Rechtsgüterverhältnis überschreitenden, also nach der allgemeinen Regelung der Notstandsberechtigung [. . .] rechtswidrigen Notstandskehrungen im Hinblick auf die menschliche Unzulänglichkeit hinwegsieht, also reine Straflosigkeit gewährt. [. . .] § 54 bringe nur einen ,persönlichen‘ Strafausschließungsgrund“ 533. Der Ausdruck „Entschuldigung“ könne nach Beling täuschen, denn „,sich entschuldigen‘ heißt ja doch keineswegs nur aufzeigen, daß man schuldlos ist, sondern auch seine Schuld anerkennen und nur Verzeihung erbitten; entsprechend heißt ,eine Entschuldigung gelten lassen‘ keineswegs nur anerkennen, daß den anderen keine Schuld trifft, sondern auch trotz vorhandener Schuld ein Auge zudrücken. Und letzteres tut der Staat, wenn er die Tat bei Notstand im Sinne des § 54 StGB straflos läßt; er läßt die Tat trotz ihrer Rechtswidrigkeit und Schuldhaftigkeit als straflose passieren. Man darf eben nicht das große Gebiet der objektiven Strafausschließungsgründe verkennen“ 534. Früher sprach Beling von Strafdrohungsbedingungen und so sei „das Nichtvorhandensein eines Notstandes nach § 54 StGB allgemeine Bedingung für das Walten jeder wie immer gearteten Strafdrohung“ 535. Die Idee, dass diese Umstände außerhalb der traditionellen Verbrechensmomente der Handlung, der Tatbestandsmäßigkeit, der Rechtswidrigkeit und der Schuld lägen, blieb im Lauf der Entwicklung der Beling’schen Meinung aber dieselbe536. Was uns hier am 530

Beling, Grundzüge, 1930, S. 31. Beling, Grundzüge, 1930, S. 32. 532 Beling, Grundzüge, 1930, S. 32; so schon v. Alberti, Gefährdung, 1903, S. 48: „Sie bedeuten richtiger Ansicht nach [. . .] nur einen Strafausschließungsgrund. Denn es geschieht ja auf ihrem Anwendungsgebiet die Nottat weder zufolge eines ihr zu Grunde liegenden Rechts, noch in einem unzurechnungsfähigen Zustande.“ 533 Beling, Grundzüge, 11. Aufl., 1930, S. 33. 534 Beling, Unschuld, 1910, S. 10; über die Folge für die Teilnahmelehre siehe schon ders., Die Lehre vom Verbrechen, 1906, S. 63. 535 Beling, Die Lehre vom Verbrechen, 1906, S. 53; gegen den Begriff der Strafbedrohungsbedingung Frank, Über den Aufbau, 1907, S. 7: „Aber mir scheint nicht, daß dieser Begriff zur Klärung etwas beizutragen vermag. Denn die Frage ist doch die: warum tritt bei Notstand keine Strafe ein? Darauf gibt der Begriff der Strafdrohungsbedingung auch nicht einmal andeutungsweise eine Antwort. Er hat, auf den Notstand angewendet, nur technische, keine sachliche Bedeutung.“ 536 Beling, Die Lehre vom Verbrechen, 1906, S. 52. 531

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meisten interessiert, ist der Status dieser Kategorie. Sie genieße nicht dieselbe Bedeutung wie die übrigen zentralen Verbrechenselemente. Sie befinde sich stattdessen „an der Peripherie der Betrachtung“ 537. Schon früh hat man Beling entgegengehalten, dies sei keine echte Begründung: „Wer den Notstand einfach als Strafausschließungsgrund bezeichnet, läßt die Frage unentschieden“ 538. Hier wird die gnadenähnliche Konstruktion explizit vertreten, ohne jede Bemühung, den involvierten Personen gegenüber die Straflosigkeit oder gegebenenfalls die Strafbarkeit der Handlung zu begründen. Es existieren aber neue Strömungen, die anhand staatsphilosophischer Argumente den entschuldigenden Notstand zu begründen versuchen. Sie argumentieren unabhängig von der strafrechtsinternen Diskussion und stellen auf das Verhältnis zwischen Staat und Bürger ab. Ich denke, dass dieser Ausgangspunkt richtig ist. Die Idee einer allgemeinheitsbezogenen Nachsichtsausübung ist aber auch diesen Ansätzen nicht fremd. Die 1989 veröffentlichte Habilitationsschrift Bernsmanns hat Neuland betreten und war wegweisend. Bernsmann bemüht sich um die Konstruktion einer differenzierten staatsrechtlich fundierten Lösung. Die Grundidee sei eine „StrafSchutzpflicht“ des Staates: Der Staat müsse das Leben aller Bürger durch strafrechtliche Normen schützen. Beim Lebensnotstand sei diese Pflicht nicht immer durchführbar. In echten Gefahrengemeinschaften zum Beispiel entfalle diese Pflicht, „weil Lebensschutz materiell nicht gewährleistet werden kann“ 539. Bei diesen Fällen solle sogar eine Erlaubnis oder ein zwischen Rechtswidrigkeit und Schuld anzusiedelnder „Straffreiheitsgrund sui generis“ im Betracht kommen540. Eine Entschuldigung trete dagegen bei der Schuldunfähigkeit angenäherten Panikreaktionen ein541. Die Fälle wiederum, „die durch überlegt abgewendete Lebensgefahr charakterisiert sind“, seien schuldirrelevant und stellten lediglich einen Strafausschließungsgrund dar542. Andere Autoren argumentieren mit fairnessbezogenen Gesichtspunkten. Bei Hefermehl heißt es: „Gerechtfertigt erscheint die Nachsicht deshalb, da die darin liegende Verringerung des Rechtsgüterschutzes ausgeglichen wird durch eine Erweiterung des allgemeinen Freiheitsraumes bis 537 Beling, Die Lehre vom Verbrechen, 1906, S. 57; gegen ihn schon Goldschmidt, Der Notstand, ein Schuldproblem, 1913, S. 8: „Ein bloßer persönlicher Strafausschließungsgrund, wie es z. B. die Eigenschaft als Abgeordneter, das Familienverhältnis usw. bei gewissen Handlungen zweifelsfrei sind, wurzelt grundsätzlich in außerstrafrechtlichen Interessen. Die Rücksicht auf drückende Not aber ist ein echt deliktischer und also typisch strafrechtlicher Gesichtspunkt.“ 538 H. Mayer, Strafrecht AT, 1953, S. 189; so schon Dohna, Die Rechtswidrigkeit, 1905, S. 123. 539 Bernsmann, „Entschuldigung“, 1989, S. 347. 540 Bernsmann, „Entschuldigung“, 1989, S. 330. 541 Bernsmann, „Entschuldigung“, 1989, S. 368 ff. 542 Bernsmann, „Entschuldigung“, 1989, S. 379 ff.

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hin zum erlaubten Risiko, woran prinzipiell auch das Opfer teilhaft“ 543. Auch bei Neumann/Schroth kann man lesen: „Der Grund, weshalb man in solchen Situationen nicht bestraft, liegt in Fairnessvorstellungen. Nur derjenige soll mit Rechtsfolge ,Strafe‘ gesellschaftlich in Anspruch genommen werden, der ohne äußeren Zwang zwischen Verhaltensalternativen abwägen kann“ 544. Dieser von Bernsmann aufgezeigte Weg wurde von vielen anderen Autoren jüngst mit neuen Argumenten weitergeführt. Diese Thesen gehen in die richtige Richtung, und auch die hiesige Untersuchung atmet dieselbe „individualistische“ Luft. Meines Erachtens fehlt aber noch immer der Bezug auf die Qualität der involvierten Rechte. Dies erklärt, warum manchmal die Idee der Nachsichtsausübung plötzlich wieder auftaucht. Mein Versuch kann deswegen als eine Präzisierung der nachfolgend dargestellten Meinungen verstanden werden. Zimmermann argumentiert strikt individualistisch, basierend auf einer vor allem von Hoerster inspirierten neo-kontraktualistischen Rechtsbegründung. Eine Strafrechtsordnung ohne Notstandsentschuldigung würde „keine Zustimmung der Vertragsparteien hinter dem Schleier des Nichtwissens“ erhalten545. Ein an seinen eigenen Interessen orientierter Bürger würde zweifellos einer Norm wie dem deutschen § 35 zustimmen. Aus der Perspektive des Täters sei seine Handlung nicht „falsch“ 546. Auch dem Opfer gegenüber sei diese Regel rational: „Die Unwissenheit über die spätere Position in der Gesellschaft im Allgemeinen bzw. im Rahmen eines Notstandskonflikts im Speziellen erzwingt auch hier eine Chancen maximierende sowie Risiken minimierende Verhandlungsmaxime“ 547. Die Frage der Eingliederung des entschuldigenden Notstands innerhalb der Verbrechenslehre aber lässt Zimmermann merkwürdigerweise offen, so dass man hier trotz des Begründungspotenzials dieser These schwer von Erklärungs- und Differenzierungspotenzial sprechen kann548. Engländer stellt interessanterweise statt auf das Rechtsverhältnis der Konfliktbeteiligten zum Staat auf das Rechtsverhältnis zwischen den Konfliktbeteiligten ab: „In der Situation des entschuldigenden Notstandes führen die dadurch begründeten Verpflichtungen aber dazu, dass dem Einzelnem der letzte Ausweg

543

Hefermehl, Der verursachte entschuldigende Notstand, 1980, S. 78. Neumann/Schroth, Neuere Theorien, 1980, S. 49. 545 T. Zimmermann, Rettungstötungen, 2009, S. 229: „Mit der Pönalisierung der Notstandstat dokumentierte die Rechtsordnung aber gerade ihre Forderung an das Individuum, auf die Gebrauchmachung vom Faustrecht auch im existentiellen Notstand zu verzichten. Diese Forderung wäre aber nach dem oben Gesagten radikal vernunftwidrig, also inakzeptabel.“ 546 T. Zimmermann, Rettungstötungen, 2009, S. 230; dass diese Konstruktion Ähnlichkeiten mit der von Frister aufweist, erkennt T. Zimmermann selbst. 547 T. Zimmermann, Rettungstötungen, 2009, S. 232. 548 T. Zimmermann, Rettungstötungen, 2009, S. 234, Fn. 869. 544

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versperrt wird, seine existentiellen Interessen zu wahren“ 549. Es handle sich „beim Interesse des Einzelnen an der Erhaltung seiner existentiellen Güter als ,Geschäftsgrundlage‘ des Rechtsverhältnisses um ein rechtlich anerkanntes Anliegen, das prinzipiell dem entsprechenden Interesse des Eingriffsopfers nicht nachsteht“ 550. Diese Idee ist weiterführend, gibt aber keine Antwort auf die wesentliche Frage: Warum ist die Rettung der eigenen existentiellen Güter ein „generalisierendes rechtliches Anliegen“, das auch dem Opfer gegenüber Gültigkeit beansprucht? Diese Antwort wird eher vorausgesetzt als gegeben. Momsen versteht das Unzumutbarkeitskriterium als „Prävention gegenüber einer konkreten Falsifikation“ 551. Diese Regel lasse sich aus der Sicht einer an den eigenen Interessen orientierten Person erklären552. Zwei Gesichtspunkte spielten hierbei eine wichtige Rolle, nämlich die „Situationsadäquanz der Tätermotivation“ und die „präventive Wirkung des Sanktionsverzichts“ 553. Der entschuldigende Notstand sei Ausdruck eines liberalen Strafrechts, das die Befolgung seiner Normen nicht unbedingt fordern wolle: „Die Einziehung einer absoluten Grenze für die Reichweite strafrechtlicher Rechtspflichten ist die Voraussetzung der Akzeptanz strafrechtlicher Rechtspflichten und der präventiven Wirksamkeit der strafrechtlichen Sanktionen“ 554. Die Eingrenzung sei notwendig, weil sonst die „Tauglichkeit des Strafrechts als Instrument sozialer Friedenssicherung“ preisgegeben würde555. Hier wird offensichtlich nur aus der Perspektive der Allgemeinheit argumentiert: Es ist zu entschuldigen, weil das Strafrecht sonst seine Wirkung verlöre. Diese These ist also nicht weit entfernt von der alten Kant’schen These der Wirkungslosigkeit der Strafandrohung – eine These, die auf den Lebensnotstand fixiert ist. Renzikowski hat eine interessante rechtsphilosophisch fundierte „kontraktualistische Deutung“ des entschuldigenden Notstands entwickelt556. Er sagt: „Im existenzbedrohenden Notstand ist unter dem Zwang der Verhältnisse – mit Hobbes und Fichte – die öffentlich-rechtliche Verhaltensnorm aufgehoben. Sie wird deshalb vom Notstandstäter auch nicht verletzt. Insofern trifft die Redeweise von der ,Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens‘ zu. Das Privatrechtverhältnis zwischen den Bürgern wird dagegen – mit Kant gegen Hobbes und Fichte – nicht aufgehoben. Zwar entfällt die Garantie durch öffentlich-rechtliche Verhaltensnor549 Matt/Renzikowski/Engländer, § 35 StGB, Rn. 3, S. 447; ders., ZIS 2016, S. 608 ff., 614. 550 Matt/Renzikowski/Engländer, § 35 StGB, Rn. 3, S. 447. 551 Momsen, Die Zumutbarkeit, 2006, S. 70 ff., 158. 552 Momsen, Die Zumutbarkeit, 2006, S. 170 ff., 526 ff. 553 Momsen, Die Zumutbarkeit, 2006, S. 166 ff. 554 Momsen, Die Zumutbarkeit, 2006, S. 383. 555 Momsen, Die Zumutbarkeit, 2006, S. 539. 556 Renzikowski, JRE 11 (2003), S. 269 ff., 276 ff.

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men, aber dem betroffenen Opfer verbleiben die zivilrechtlichen Selbstschutzbefugnisse“ 557. Es fehlt aber immer noch eine weitere Begründung, die zu erklären vermag, warum beim entschuldigenden Notstand die öffentlich-rechtliche Verhaltensnorm aufgehoben wird. Zu dieser Begründung kommt man erst, wenn man auf die besondere Qualität der involvierten Rechte aufmerksam macht. Jüngst hat auch Hörnle eine Theorie des entschuldigenden Notstands entwickelt. Sie schlägt zunächst einen Abschied vom Schuldvorwurf vor: „Unter bestimmten situativ geprägten Umständen ist es möglich, in Anbetracht einer sehr außergewöhnlichen Situation für die Lage des Täters Verständnis zu entwickeln und das begangene Unrecht als Faktum zu tolerieren, das trotz des Unrechtscharakters so weit menschlich verständlich ist, dass der Verzicht auf ein staatliches Unwerturteil vertretbar ist“.558 Hier ist von einem „Verzicht auf einen Schuldvorwurf“ die Rede559. Ein „Vorwurf der Tat“ sei dagegen durchaus berechtigt, nicht aber der Vorwurf des persönlichen Versagens, „Du hättest anders entscheiden können“ 560. Diese Theorie beruht auf „einer andere[n] Gewichtung der Perspektiven“ 561. Der Verzicht auf Strafe „ergibt sich hier aus Wertungen der Gemeinschaft (unser Verständnis für die schwierige Situation, in der sich der Täter befand)“ 562. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist der „normative Individualismus“, „dass bei der Rechtfertigung staatlicher Freiheitseingriffe die Interessen konkret betroffener Individuen nicht ausgeblendet werden“ 563. Es gebe „keine Aufopferungspflichten in freiheitlich-individualistisch verfassten Staaten“ 564. Gäbe es § 35 nicht, „würde unbedingter Normgehorsam auch im Angesicht des eigenen Todes gefordert“ 565. Die ratio des entschuldigenden Notstands sei also, so Hörnle, folgendermaßen zusammenzufassen: „Beim Notstand hängt die Ratio 557 Renzikowski, JRE 11 (2003), S. 284; Hruschka, in: FS-Jakobs 2007, S. 189 ff., 203: „Die ,Nachsicht‘, die das Gericht übt, beruht auf der Funktionsuntüchtigkeit des öffentlichen Gesetzes.“ 558 Hörnle, Kriminalstrafe, 2013, S. 74 f. 559 Hörnle, Kriminalstrafe, 2013, S. 75. 560 Hörnle, Kriminalstrafe, 2013, S. 29, 44, 49 ff. 561 Hörnle, Kriminalstrafe, 2013, S. 75. 562 Hörnle, Kriminalstrafe, 2013, S. 75; so auch in Hörnle, Kultur, Gutachten C zum 70. Deutschen Juristentag, 2014, S. 34 f.: „Außerdem ist Straffreiheit auf Fälle beschränkt, in denen die Rechtsgemeinschaft bei einer wertenden Prüfung dessen, was aus der Sicht des Täters als Steuerungsfähigkeit einschränkende Ausnahmensituation zu beschreiben ist, dafür Verständnis entwickeln kann.“ 563 Hörnle, JZ 2006, S. 951 ff., 952 f. 564 Hörnle, JuS 2009, S. 873 ff., 876 ff.; so auch in Hörnle, Kultur, Gutachten C zum 70. Deutschen Juristentag, 2014, S. 35; ähnlich Lagodny, Strafrecht, 1996, S. 410: „Zwar ist die Verhaltensanforderung im geschilderten Fall keine ,Todesstrafe‘, aber – und das ist entscheidend – schon der Vorwurf kann in diesem Fall nur legitimiert werden, wenn man vom Täter die Selbsttötung verlangt.“ Dieser interessante Gedanke ist zu präzisieren (s. u. C., IV.). 565 Hörnle, JuS 2009, S. 873 ff., 877.

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der Entschuldigung nicht nur an einem (möglicherweise vorliegenden) emotionalen Ausnahmezustand, sondern an der Wertung, dass der Staat eine Aufopferung grundlegender Lebensinteressen nicht erwarten darf“ 566. „Der Täter wird nicht im engeren Sinne ,ent-schuldigt‘ (seine Schuld bleibt bestehen) – aber der Staat darf ihm nicht vorwerfen, nicht sein Leben geopfert zu haben“ 567. Als allgemeine Prinzipien des entschuldigenden Notstands nennt Hörnle die folgenden: „Erstens muss die Notsituation extrem sein, zweitens derartige Umstände selten, und drittens ihre existentielle Bedeutung jenseits von individuellen oder gruppengeprägten Vorstellungen nachfühl- und nachvollziehbar. Entschuldigungsgründe tragen dem Einbruch des Unvorhersehbaren, Außergewöhnlichen, existentiell Bedrohlichen in das Leben eines Individuums Rechnung, wenn die Rechtsgemeinschaft für diese Lage Verständnis aufbringen kann“ 568. Es liegt auf der Hand, dass diese Theorie zu sehr auf den Lebensnotstand fixiert ist, wie sie selbst einräumt569. Hörnle ordnet den entschuldigenden Notstand den „sonstigen Strafausschließungsgründen“ 570 zu. Diese These ist hochinteressant und greift viele wichtige Gesichtspunkte auf. Es fehlt meines Erachtens aber der Bezug auf die Qualität der involvierten Rechte (s. u. C., IV.). Dies ist der Grund, weshalb Hörnle sich trotz ihres individualistischen Ausgangspunkts plötzlich auf die leere und kollektivistische Idee der Nachsichtsausübung beziehen muss: „Der Verzicht auf Strafe ergibt sich hier aus Wertungen der Gemeinschaft (unser Verständnis für die schwierige Situation, in der sich der Täter befand)“ 571. Es ist Zeit, der gnadenähnlichen Konstruktion der Nachsichtsausübung eine Absage zu erteilen. 8. Die Bestätigung des Instrumentalisierungsverdachts „Tausend Kräfte sind am Werk, der Menschheit Not zu schaffen“ 572 – und weitere tausend benötigt man, um eine solide Dogmatik des entschuldigenden Notstands zu konstruieren. Die Straflosigkeit einiger Fälle des entschuldigenden Notstands wird als so selbstverständlich angesehen, dass die hierfür passende dogmatische Einkleidung ein Detail oder Geschmacksache zu sein scheint. Die kühnen Konstruktionen in der strafrechtlichen Lehre haben leider nicht ver566

Hörnle, Kultur, Gutachten C zum 70. Deutschen Juristentag, 2014, S. 35. Hörnle, JuS 2009, S. 873 ff., 877. 568 Hörnle, Kultur, Gutachten C zum 70. Deutschen Juristentag, 2014, S. 76: „Entschuldigungsgründe können aber nur atypische Umstände erfassen.“ 569 Hörnle, JuS 2009, S. 873 ff., 877: Die Übertragung dieser Gedanken auf den Leibes- und Freiheitsnotstand solle „nur in beschränktem Maße“ erfolgen. Das trifft auch auf den ähnlichen Ansatz von Lagodny zu: „Für die verbleibenden zwei Rechtsgüter des § 35 StGB (Leib und Freiheit) lassen sich vergleichbare Argumentationsmöglichkeiten nicht aufzeigen“: Lagodny, Strafrecht, 1996, S. 411. 570 Hörnle, Kriminalstrafe, 2013, S. 73. 571 Hörnle, Kriminalstrafe, 2013, S. 75. 572 M. E. Mayer, Der allgemeine Teil, 2. Aufl., 1923, S. 300. 567

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C. Theorie des entschuldigenden Notstands

hindert, dass der entschuldigende Notstand bisher zu einem gnadenähnlichen Rechtsinstitut degradiert wurde573. Gnade ist aber ein einseitiger Akt. Die Rechte der involvierten Personen kommen in diesen Konstruktionen zu kurz. Es geht um die Bestimmung der individuellen Schuld einer Person. Kindhäuser hat Recht, wenn er sagt: „Entschuldigungsgründe sind keine Gnadenerweise, sondern aus Gerechtigkeits- und Utilitätserwägungen geboten“ 574. Der entschuldigende Notstand hat nichts mit Gnade zu tun. Ihering betrachtet das Begnadigungsrecht als Sicherheitsventil des Rechts: „In diesem Sinne können wir die Begnadigung definieren als die Korrektur des als unvollkommen erkannten Gesetzes im einzelnen Falle, kurz ausgedrückt als die Selbstkorrektur der Gerechtigkeit“ 575. Auch bei Kant ist über das Begnadigungsrecht zu lesen: „In Ansehung der Verbrechen der Untertanen gegen einander steht es schlechterdings ihm [dem Souverän] nicht zu, es [das Begnadigungsrecht] auszuüben; denn hier ist Straflosigkeit (impunitas criminis) das größte Unrecht gegen die letztern“ 576, und Radbruch dekretiert: „Die Rechtseinrichtung der Gnade bedeutet die unverhohlene Anerkennung der Fragwürdigkeit allen Rechts“ 577. Diese gnadenähnliche Konstruktion genießt sogar eine gesetzgeberische Tradition: Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 hat den Diebstahl aus Hungersnot, der davor in Art. 166 CCC reguliert war, zur Begnadigung empfohlen (II 20 § 1115)578. Diese Konstruktion war anlässlich des Mignonette-Falls verständlich, wo dem englischen Gericht ein entschuldigender Notstand nicht zur Verfügung stand. Heute verkörpert sie aber nichts anderes als die diagnostizierte Inkapazität, rechtlich fundierte Gründe für den entschuldigenden Notstand vorzutragen. Stübinger ist diesbezüglich Recht zu geben: „Es geht daher letztlich überhaupt nicht um einen gnädigen Akt, sondern um einen notwendigen Rechtsakt“ 579. Der Satz von Tonio Walter – 573 Silva-Sánchez, in: FS-Hruschka 2005, S. 693: „Nachsicht und, vor allem, Unfähigkeit des Rechts solche Situationen sachgemäß zu lösen, stellen eine mögliche Begründung der Nicht-Bestrafung dar, die aber nicht weit von bloßer Gnade entfernt liegt“; dazu siehe Fehsenmeier, Das Denkmodell, 1970, S. 40 ff., 165. 574 Kindhäuser, Gefährdung, 1989, S. 37. 575 Ihering, Der Zweck im Recht I, 4. Aufl., S. 333, wo er das Notrecht problematisiert (S. 331 ff.). 576 Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1977, S. 460; Feuerbach, Lehrbuch, 1. Aufl., 1801, § 71, S. 55: „Giebt es überhaupt ein Begnadigungsrechts, so darf es doch nur dann ausgeübt werden, wenn die Anwendung des Strafgesetzes auf den vorliegenden Fall einen unausbleiblichen oder höchstwahrscheinlichen Nachtheil für den Staat selbst, in Anlehnung seines Hauptzwecks haben würde“; das müsse vorsichtig erfolgen, „wenn nicht die Gerechtigkeit dem Nutzen aufgeopfert und die Ausübung der Strafgesetze zum Spiele gesetzloses Willkühr werden soll.“ 577 Radbruch, Rechtsphilosophie, 8. Aufl., S. 272. 578 Siehe Küper, in: Erler/Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Band 3, 1984, S. 1064 ff., 1068; siehe auch Fehsenmeier, Das Denkmodell, 1970, S. 176 ff.; siehe jüngst Funk, Gnade und Gesetz, 2017, S. 24 ff. 579 Stübinger, Notwehr-Folter, 2015, S. 377: „Damit muss dann mehr gemeint sein, als jemandem bloß eine typisch menschliche Schwachheit nachzusehen.“

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„Charakterisieren läßt sich § 35 danach als eine Art strafrechtstheoretisch erforderliches, deswegen materiellrechtliches und zwingendes Gnadenrecht“ 580 – spiegelt den Hauptfehler der Diskussion wider. Es waren aber nicht nur die Autoren, die den existentiellen Notstand ganz aufrichtig als Strafausschließungsgrund angesiedelt haben und damit Gehorsam forderten, die Strafen aber „aus Gnade, Verzeihung oder Mitleid“ 581 nicht zufügen wollten, die den entschuldigenden Notstand in eine unkontrollierbare Konzession der Allgemeinheit verwandeln haben. Fast alle Meinungen in der Literatur, mit wenigen Ausnahmen, verdienen diesen Vorwurf. Binding hat aufgrund seiner kollektivistischen Gedanken – ohne jegliche kritische Betonung, ganz im Gegenteil – behauptet, der existentielle Notstand sei „eine durchaus gerechtfertigte Konzession an die Notlage des Handelnden“ 582. Bedauerlicherweise gibt man ihm letztlich bis heute Recht. Es ist vor allem der herrschenden Meinung, die den entschuldigenden Notstand als „Entschuldigungsgrund“ eingliedert, vorzuhalten, dass die Entscheidung über die Straflosigkeit des entschuldigenden Notstands wieder zur Sache des Gesetzgebers erklärt wurde. Otto hat einmal ganz klar formuliert: „Der Gesetzgeber ist weitgehend freigestellt in der Bildung und der Begrenzung sog. Entschuldigungsgründe. Es ist ihm überlassen, ob einem Täter eine Verhaltensweise vorgeworfen werden soll oder nicht“ 583. Das mag in einem gewissen Sinn richtig sein. Die Grenzen des Gesetzgebers sind aber vom verfassungsrechtlichen Schuldprinzip vorgegeben. Es ist unbestreitbar, dass ein Strafgesetzbuch, das sich den römischen Diktum error iuris nocet zu eigen machte oder dreijährige Kinder bestrafen wollte, illegitim und verfassungswidrig wäre. Denn damit wäre der Kern des Schuldprinzips verletzt. Die herrschende Meinung muss mit ihrer schwachen Begründung des entschuldigenden Notstands aber konsequenterweise behaupten, dass ein Strafgesetzbuch, das die Person bestrafte, die eine Straftat begeht, um ihr eigenes Leben oder das ihres Kindes zu retten, vielleicht unsensibel, aber nicht illegitim oder verfassungswidrig wäre. Das kann aber nicht richtig sein. In der strafrechtlichen Literatur fasst sich die Gnade in einem Ausdruck zusammen: Nachsichtsausübung. Dass diese angezeigt sei, ist eine leere Behauptung, die nicht imstande ist, eine Rücknahme der Strafandrohung bei schweren Straftaten zu begründen. Nachsicht zu üben bedeutet nichts anderes als dem mustergültigen Täter, der „unwillentlich“ die Norm übertreten hat, einen Gefallen zu tun. Das ist keine Begründung. Diese leere Behauptung ist aber zugleich schäd580

Walter, Der Kern, 2006, S. 137. So die Darstellung von Otto, Pflichtenkollision, 3. Aufl., 1978, S. 66; Roxin meint, die Idee liege schon begrifflich den Entschuldigungsgründen zugrunde: „Denn wer sich entschuldigt, bestreitet nicht seine Schuld; er bittet nur um Verzeihung und Nachsicht, um Schulderlaß“, Roxin, in: FS-Brauneck 1999, S. 385 ff., 397. 582 Binding, Die Normen IV, 1919, S. 347, Fn. 15. 583 Otto, Pflichtenkollision, 3. Aufl., 1978, S. 115. 581

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lich, und zwar wegen ihrer moralisierenden Tendenz. Die Gefahr einer „Ethisierung“ 584 ist nicht nur spekulativ. Es wurde in der Tat schon vertreten, der Täter in existentieller Not dokumentiere keine verwerfliche oder rechtsfeindliche Gesinnung585. Diese Tendenz hat zum Beispiel Jakobs in der Diskussion über den übergesetzlichen entschuldigenden Notstand richtig diagnostiziert: „Solche Nachsicht könnte sich das Recht nur leisten, wenn es die Moral zu lenken hätte und die Lenkung auch gelänge; ansonsten läuft der Ansatz darauf hinaus, die Flanken des Rechts zugunsten der Moral bloßzulegen“ 586. Bei der Erklärung der Ausnahmeregelung wird die – mal stärker, mal schwächer ausgeprägte, aber immer vorhandene – kollektivistische Auffassung der herrschenden Meinung deutlich. Es wird zum Beispiel behauptet, der Täter verdiene keine Nachsicht der Gesellschaft, wenn er die Gefahr selbst verursacht habe, oder es sei generalpräventiv unerträglich, wenn Gefahrtragungspflichtige – Feuerwehrleute, Polizeibeamte – sich auch auf Kosten Anderer retten könnten usw. Auch bei der sogenannten Sozialnot wird auf diese Weise argumentiert: In einer großen Inflationsperiode oder in Nachkriegszeiten sei kein entschuldigender Notstand anzunehmen, andernfalls entstünde „ein Kampf aller gegen alle“, so dass diese generalpräventive Einschränkung notwendig sei587. Selbst die Vertreter dieser Meinung erkennen implizit letztendlich die Unzulänglichkeit dieser Behauptung. Denn alle führen an, dass die Einschränkung spätestens bei der akuten Lebensgefahr ein Ende finde. Diese Gesichtspunkte sind nicht falsch, allerdings zu einseitig: Sie bleiben der Staatsräson verhaftet. Die Instrumentalisierung liegt nicht darin, dass es prinzipiell illegitim wäre, ausnahmsweise den Täter trotz der Not zu bestrafen, sondern darin, dass ihm gegenüber diese Bestrafung nicht begründet wird. Die tiefgreifende Intuition bezüglich der notwendigen Straffreiheit des existentiellen Notstandes hat sich in eine schwache, gnadenähnliche Konzession des Staates an den Täter verwandelt. Eine Konzession, die, wie alle anderen Konzessionen heute gilt, morgen vielleicht nicht mehr. Wenn man der Typologie des angelsächsischen Rechtsphilosophen Murphy folgt, ist der entschuldigende Notstand nur als forgiveness, nicht als excuse zu verstehen588. Eine merkwürdige „Konzession“, die sich alle Staatstheoretiker, Rechtsphilosophen und Strafrecht-

584

Dazu siehe Müssig-MK, § 35, 3. Aufl., Rn. 7. So Gallas, Beiträge, 1968, S. 59 ff., 68 f.; Schmidhäuser, Gesinnungsmerkmale im Strafrecht, 1958, S. 178 ff. 586 Jakobs, System, 2012, S. 65, Fn. 136. 587 Dazu siehe Neumann-NK, § 35, 5. Aufl., Rn. 11. 588 Murphy/Hampton, Forgiveness and mercy, 1998, S. 20; siehe auch Sarat/Hussain, Forgiveness, Mercy and Clemency, 2007; über die Bedeutung der Begriffe Entschuldigung, Verzeihung und Nachsicht in der philosophischen Debatte Kodalle, Theorie des Verzeihens, 2006, S. 12 ff. 585

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lehrer verschiedener Epochen zu eigen gemacht haben. Hier stößt die Idee einer „Gesellschaftslogik“ an ihre Grenzen589. Eine Rechtfertigung der Strafe dem Täter gegenüber, die vor allem ihm erklären könnte, warum eine existentielle Notlage zu seinen Gunsten nicht immer entschuldigend wirkt, wurde bisher noch nicht geliefert. Ebenso wenig wird gegenüber dem Opfer eine minimale Begründung vorgebracht, wieso es gerade bei einer seine Existenz bedrohenden Situation den normativen Schutz der Strafdrohung – und auch seine existentiellen Rechte – verliert. Mit anderen Worten: Der genaue Schuldgesichtspunkt wurde noch nicht gefunden. Alle Versuche in der Lehre sind, wie gezeigt, trotz ihrer Verschiedenheit in einem Punkt einig: Sie erklären den entschuldigenden Notstand aus der Perspektive der Allgemeinheit. Sie exkulpieren den Täter nur, soweit dies für die Gesamtheit vorteilhaft erscheint oder, wie Jakobs es formuliert: „Die soziale Ordnung lässt sich auf Bedürfnisse des Individuums nur insoweit ein, als die Möglichkeit der Sozialität dadurch nicht aufgehoben wird“ 590. Eine Rechtsordnung ohne einen entschuldigenden Notstand wäre demnach durchaus denkbar oder sogar – wenn die orakelhaften Präventionsindikatoren dazu zwingen würden – geboten. Zu guter Letzt erklären die Ansätze in der Lehre auch nicht die komplexe Struktur des § 35. Wenn man sagt, die Zumutbarkeitsfälle erklärten sich aus den Bedürfnissen der Allgemeinheit, dann bleibt immer noch zu erklären, woher diese soziologische Hypostasierung kommt und warum sie für den Täter und für das Opfer rechtlich maßgeblich ist. Die bestehenden Theorien des entschuldigenden Notstands weisen weder Erklärungs- noch Begründungs- noch Differenzierungspotenzial auf. Es wurden allerdings viele weiterführende Gedanken entwickelt, die noch näher zu präzisieren sind. 9. Zwischenfazit Der Täter und – in geringerem Maße – das Opfer werden durch die gängigen Theorien des existentiellen Notstands schlicht (in einem schwachen Sinne) instrumentalisiert. Ihnen werden nur gesellschaftsorientierte Begründungen vorgetragen. Diese kollektivistische Haltung verwandelt letztendlich alle existentiellen Rechte der Person in Rechte unter Vorbehalt des Gesamtnutzens. Auch die leibliche Existenz eines Menschen wird dadurch zur Sache der Allgemeinheit. Die durch den Zufall entstandene Notlage trifft Täter und Opfer gleichermaßen in ihrer existentiellen Lebensgrundlage. Beide sind als Menschen bzw. Personen betroffen. Die Frage soll deswegen anders formuliert werden. Maßgeblich und primär ist nicht, was die Allgemeinheit mit der Bestrafung bzw. Straffreiheit verliert oder gewinnt, sondern welche Rechte Täter und Opfer dabei verlieren. Denn die Distribution der Freiheitssphären zwischen Täter und Opfer als Bürger – als 589 590

Diesen Begriff verwendet Jakobs, System, 2012, S. 16. Jakobs, Norm, 3. Aufl., 2008, S. 107.

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C. Theorie des entschuldigenden Notstands

„Repräsentanten der Allgemeinheit“, wenn man so will – wurde schon durch das Rechtswidrigkeitsurteil geklärt. Es bleibt noch zu klären, ob der Staat den Täter als Person bestrafen darf. Das ist das Hauptanliegen einer nicht moralisierenden, dem Schuldprinzip entsprechenden strafbezogenen Schuldlehre.

IV. Der Notstand, ein Schuldproblem Beim entschuldigenden Notstand handelt der Täter laut dem deutschen Gesetz „ohne Schuld“. Die herrschende Meinung bestreitet das: Nach ihr bleibt wie gesehen ein „Schuldrest“ übrig591. Niemand bestreitet, dass Strafe Schuld voraussetzt592. Diese feste Überzeugung bleibt aber nichts anderes als ein leeres Versprechen, wenn man weder Schuld noch Strafe näher definiert oder ständig auf Umdefinitionen rekurriert. Die Vagheit dieser Sentenz lässt sich leicht aufzeigen. Ein von kollektivistischen Gesichtspunkten beeinflussbares Schuldprinzip garantiert nur in sehr begrenztem Maße die individuellen Rechte der Bürger593: Diese Rechte sind so verstanden nur „unantastbar“, soweit man keine unerträgliche entfernte sozialschädliche Folge anführen kann. Wenn man den Schuldbegriff ausschließlich „funktional“ definiert594 – wie es bei der Jakobs’schen Schule der Fall ist –, um ihn jederzeit an zweckbezogene gesellschaftliche Bedürfnisse anzupassen, dann wird es in der Tat schwer, die Bestrafung eines „schuldlosen“ Täters festzustellen. Alle Rechte stehen dann unter Vorbehalt, aber ein Recht unter Vorbehalt ist eben keines. Die Schuld aller Personen wird mindestens potenziell zur Sache der Allgemeinheit. Bestraft werden aber konkrete Personen. Die oben ausführlich dargestellte Diskussion über den Grund des entschuldigenden Notstands hat diesen Punkt hinreichend verdeutlicht: Man dürfe sein Leben retten, soweit dies „sozial erträglich“ erscheint. Das Notstandsproblem ist in diesem Kontext nur ein Zeichen der Notwendigkeit, die Schuld- und Strafbegriffe insgesamt neu zu formulieren bzw. zu präzisieren. Diese Begriffe enthalten einen festen Kern, an den jeder Gesetzgeber und auch die Wissenschaft gebunden sind. 591 Laut Kühl, Strafrecht AT, 8. Aufl., § 12, Rn. 3 liegt die verbleibende Schuld unterhalb der Strafwürdigkeitsgrenze. 592 Siehe Greco, Strafprozesstheorie, 2015, S. 657 ff.; siehe auch Frister, Schuldprinzip, 1988, S. 14 ff.; zu einigen wenigen Gegnern des Schuldprinzips siehe Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl., § 19, Rn. 51 ff. 593 Zur utilitaristischen Begründung des Schuldprinzips siehe Frister, Schuldprinzip, 1988, S. 19 ff.; für eine solche konsequentialistische Betrachtung des Schuldprinzips Karamagiolis, Die Struktur eines folgenorientierten Schuldprinzips, Baden-Baden, 2002, S. 115 ff., 122: „Das Argument für die Stützung der Entschuldigung bezieht sich auf diejenige Aktion, die für die Gemeinschaft die bestmöglichen Konsequenzen haben wird“; siehe zum Verhältnis von Schuldprinzip und Generalprävention Schöneborn, ZStW 88 (1976), S. 349 ff.; apologetisch und ausf. Jakobs, Das Schuldprinzip, 1993, S. 7 ff.; richtig dagegen Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl., § 10, Rn. 7 ff., 33 ff., der die konsequentialistischen Erwägungen nicht auf Schuldebene, sondern erst bei der nachfolgenden Frage der präventiven Bestrafungsnotwendigkeit einbezieht. 594 Dagegen Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl., § 19, Rn. 36 ff.

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Nun ist diese Aufgabe eine anspruchsvolle. Als das „weitaus wichtigste Kapitel des Strafrechts“ hat Beling die Schuldlehre bezeichnet595, und Roxin nennt die Schuld „ein ewiges Thema des Strafrechts und sein eigentliches Hauptproblem“ 596. Es sind also zunächst die Grundlinien einer Revision des normbezogenen Schuldbegriffs vorzustellen: Schuld ist das rechtwidrige Handeln trotz strafbezogener normativer Ansprechbarkeit (u. 1.). Die Argumentation muss vom Strafbegriff her erfolgen, so dass das Verhältnis zwischen Notstand und Strafe zu verdeutlichen ist (u. 2.). Dieses Verhältnis setzt Klarheit über den Strafbegriff voraus (u. 3.): Strafe ist der „Entzug“ angeborener Rechte – nicht von ungefähr dieselben angeborenen Rechte, die beim entschuldigenden Notstand auf dem Spiel stehen (Leben, Leib und Fortbewegungsfreiheit). Wenn man die Dinge so sieht, dann ist auch das Schuldprinzip strafbezogen neu zu definieren: Der Kern des Schuldprinzips liegt in dem Recht einer klugen Person, ein Leben ohne Strafe zu planen (u. 4.). Nach der Revision des traditionellen Schuldbegriffs ergibt sich die ratio des entschuldigenden Notstands als genuines Schuldproblem fast von selbst (u. 5.). 1. Grundlinien einer Revision des Schuldbegriffs Der Notstand ist in der Tat ein genuines Schuldproblem. Der Schuldbegriff ist aber seinerseits durchaus problematisch. Der traditionelle normbezogene Schuldbegriff weist trotz der Mühe und der liberalisierenden Tendenzen der herrschenden Lehre immer noch moralisierende und paternalistische Züge auf 597. Schuld wird als Nichtbeachtung der Norm verstanden und bleibt, wie oben ausführlich dargelegt wurde, aus der Perspektive der Allgemeinheit gedacht. Die Tatsache, dass das Strafgesetz als Richtschnur für das Verhalten des Bürgers mit einer Strafandrohung ausgestattet ist, kommt in der herrschenden Lehre leider zu kurz598. Die Norm als lex imperfecta im Sinne Bindings steht im Vordergrund599. Ein normgemäßes Verhalten ist aber für den schuldfähigen Täter fast immer theoretisch möglich, so dass die „Entschuldigung“ wie ein Gefallen des Staates konstruiert wird: Er übe Nachsicht, denn ein „Schuldrest“ bleibe immer noch übrig. Die richtige Lösung findet sich meines Erachtens in einer Änderung des Gegenstandes des Schuldurteils: Die Schuld des Täters ist auf die Sanktions595

Beling, Unschuld, 1910, S. 90. Roxin, in: FS-Bockelmann 1979, S. 279 ff. 597 Greco, Lebendiges, 2009, S. 494, über die Geschichte der Moralisierung des Schuldbegriffs; über die Instrumentalisierungstendenz dieses Begriffes siehe Greco, Strafprozesstheorie, 2015, S. 658: „etwas, das ihm bereits als Mensch zukommt, schon deshalb wegzunehmen, weil die anderen es brauchen, bedeutet, ihn buchstäblich zu instrumentalisieren“. 598 Greco, Lebendiges, 2009, S. 480, über die Notwendigkeit einer spezifischen Rechtfertigung für die „Belegung der verbotenen Handlungsweise mit Nachteilen, die klugheitsbezogene Gründe zur Befolgung des Verbotes anbieten wollen“. 599 Binding, Normen I, S. 432. 596

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norm – die Strafe – und nicht wie traditionell auf die Verhaltensnorm zu beziehen. Schuldhaft handelt man, wenn man eine rechtswidrige Tat trotz strafbezogener normativer Ansprechbarkeit begeht. Die Sanktionsnorm will dem Täter einen zusätzlichen klugheitsbezogenen Grund geben, die Tat nicht zu begehen. Die Sanktionsnorm dient dem Schutz potentieller Opfer von Straftaten600. Die Revisionsbedürftigkeit des Schuldbegriffs wird in der gegenwärtigen Lehre teilweise anerkannt. Der Schuldbegriff bereitet seit Langem viele Probleme601. Schon das Wort Schuld wird als verdächtig angesehen. Achenbach meint sogar, dass das Wort Schuld nicht die begriffliche Schärfe eines juristischen Begriffs habe, es sei lediglich „eine Metapher von hoher Bildkraft“ 602. Er schlägt deswegen den Ausdruck „individuelle Zurechnung“ anstelle von Schuld603 vor, denn letztere sei „als zu schwergewichtig für eine systematischterminologische Verwendung“ 604. Auch Roxin meint, „von der Sache her wäre es also vielleicht richtiger, von Verantwortlichkeit anstatt von Schuld zu sprechen“ 605. Die Notwendigkeit, den Strafbegriff in den Vordergrund zu stellen – das heißt: die Notwendigkeit, einen strafbezogenen Schuldbegriff zu konstruieren – wird dagegen selten gesehen. Zu dieser Weisheit ist die Lehre nur in der lokalen Diskussion über den Gegenstand des Unrechtsbewusstseins gekommen: Hier verlangen richtigerweise einige, dass der Täter mindestens die Sanktionierbarkeit und nicht nur die Normwidrigkeit des Verhaltens voraussehen könne606. Dieser Gedanke ist aber zu verallgemeinern. Denn der normbezogene Schuldbegriff ist letztendlich moralisierend und paternalistisch: Die moralisierenden Züge dieses Begriffs werden durch die Fixierung auf die Norm komplett verkannt. Der moralisierende Inhalt des Schuldbegriffs liegt keineswegs nur in dem Wort „Schuld“. Das jüngst erschienene Plädoyer Hörnles für eine „Kriminalstrafe ohne Schuldvorwurf“ zum Beispiel hat das Problem richtig diagnostiziert, wendet sich aber meines Erachtens gegen den falschen Widersacher. Nach Hörnle soll dem Täter nicht das „persönliche Versagen“ vorgeworfen werden607. Sie will aber am Vorwurf festhalten; nur das Wort Schuld – als Erforschung der Innenwelt des Täters – will sie vermeiden608. Die §§ 33, 35 seien also 600 Kühl, Strafrecht AT, 8. Aufl., § 12, Rn. 7: Durch die Entschuldigung nehme die Rechtsordnung dem Rechtsgut den präventiven Schutz. 601 Siehe dazu Müller-Dietz, Grenzen des Schuldgedankens, 1967, S. 1 ff., 7 ff. 602 Achenbach, Historische, 1974, S. 218 f. 603 Achenbach, Historische, 1974, S. 220 f. 604 Achenbach, Historische, 1974, S. 219. 605 Roxin, Kriminalpolitik, 2. Aufl., 1973, S. 34; ders., ZStW 96 (1984), S. 641 ff., 656. 606 Siehe über diese Diskussion Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl., § 21, Rn. 12 ff.; Leite, GA 2012, S. 688 ff.; NK-Neumann, § 17, 5. Aufl., Rn. 20 ff. m.w. N.: Kenntnis der Sanktionierbarkeit; siehe auch Greco, Lebendiges, 2009, S. 484 ff. 607 Richtig Hörnle, Kriminalstrafe, 2013, S. 11. 608 Hörnle, Kriminalstrafe, 2013, S. 58.

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keine Probleme der Schuld: „Die in diesen Normen angeordnete Straffreiheit lässt sich argumentativ untermauern, ohne dass es dazu des Begriffs ,Schuld‘ bedarf und ohne dass auf Anders-Entscheiden-Können oder andere Inhalte eines Schuldvorwurfs Bezug genommen werden muss“ 609. Das Problem liegt jedoch nicht beim Schuldvorwurf, der nach Hörnle durch einen „Unrechtvorwurf“ ersetzt werden sollte610. Das Problem liegt beim Vorwurf als konstitutive Missbilligung für die Tatbegehung, egal ob man diesen Vorwurf als einen Unrechts- oder Schuldvorwurf bezeichnet611. Hierin liegt die moralisierende Tendenz dieses Begriffs. Ein liberaler Staat darf dem Täter nur vorhalten, dass er die Strafe als Folge der Begehung von Straftaten hätte voraussehen und vermeiden können. Der Staat darf vom Bürger keine bestimmte Einstellung verlangen oder ihm diese gar mittels des Strafrechts aufzwingen612. Ein Vorwurf mangelnder Rechtstreue, dass also der Bürger die Norm nicht als Verhaltensmuster internalisiert habe, kommt nicht im Betracht. Das Strafrecht soll nur die äußere Bedingung eines freiheitlichen Zusammenlebens durch Strafandrohung und Strafverhängung garantieren. Wenn man dagegen behauptet, der Vorwurf rechtfertige sich aus Gesichtspunkten der Fairness, dann argumentiert man paternalistisch. Die Behauptung zum Beispiel, dem Täter gegenüber werde Strafe dadurch gerechtfertigt, „dass jedermann, auch der Täter selbst, tatsächlich dadurch begünstigt wurde, dass in der Vergangenheit viele andere Personen sich normgemäß verhalten haben“ nimmt auf den Willen des konkreten Täters nicht Bezug613. Diese These kann man so zusammenfassen: Der Profit, d. h. das Ziehen von Vorteilen, selbst ohne eine im Voraus erteilte Einwilligung, genügt bereits, um eine Bindung zu legitimieren614. Die zentrale Frage ist aber, ob es wirklich sein kann, dass ein anderer – hier der Staat – mir unaufgefordert eine Pflicht auferlegt, „by going ahead and starting the program themselves“ 615. Diese Frage ist zu verneinen: „One cannot, whatever one’s purposes, just act so as to give people benefits and then demand (or seize) payment. Nor can a group of persons do this“ 616 – jedenfalls nicht mittels Strafe. Andernfalls würde Schuld zugeschrieben, ohne Bezug zum Verhalten des Täters selbst. 609

Hörnle, Kriminalstrafe, 2013, S. 74. Hörnle, Kriminalstrafe, 2013, S. 49 ff. 611 Greco, Lebendiges, 2009, S. 487, der hier einen Individualmoralismus sieht: „Der Bürger hat das Recht zu bestimmen, welche Gründe er zu seinen Motiven macht.“ 612 Das ist eine grundlegende Überzeugung des Liberalismus. Dazu siehe Shklar, in: Rosenblum (Hrsg.), Liberalism and the moral life, 1991, S. 21 ff.: „Apart from prohibiting interference with the freedom of others, liberalism does not have any particular positive doctrines about how people are to conduct their lives or what personal choices they are to make“; dagegen Taylor, Negative Freiheit?, 1992, S. 118 ff. 613 So Hörnle, Straftheorien, 2011, S. 54. 614 So die Definition von Nozick, Anarchy, State, Utopia, 1974, S. 90. 615 Nozick, Anarchy, State, Utopia, 1974, S. 94. 616 Nozick, Anarchy, State, Utopia, 1974, S. 95. 610

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Der Schuldbegriff muss deswegen einer Revision unterzogen werden, nicht aber, wie Hörnle vorschlägt, schlicht aufgegeben werden. Das eigentliche Problem ist die Normbezogenheit dieses Begriffs, die vor allem erlaubt, dass die Perspektive der Allgemeinheit auch für die individuelle Schuld einer Person als maßgeblich erscheint. Es gilt also den Beitrag des Täters selbst zu einer eigenen Bestrafung zu identifizieren. Nur so wird die Strafe ihm gegenüber – als eigenständiger bzw. autonomer Person – gerechtfertigt. Der Grund dafür ist eigentlich einsichtig: Schuld ist keine Sache der Allgemeinheit. Schuld kann nur der Täter selbst durch sein eigenes Verhalten auf sich laden617. Dies erklärt sich aus der Tatsache, dass die Strafe als Reaktion von besonderer Qualität die konkrete Person in ihren existentiellen Rechten trifft. Die Gesellschaft hält aber keinen Anteil an meinem Leben oder meiner Fortbewegungsfreiheit618. Der Verlust angeborener Fortbewegungsfreiheit durch staatliche Strafe muss sich deswegen auf das eigene Verhalten des Täters beziehen – denn er und niemand sonst wird hierfür eingesperrt. Der Täter selbst verliert jenes Recht durch das eigene strafbare Verhalten. Diese für die Strafe konstitutive persönliche Betroffenheit macht es erforderlich, höhere Legitimationsanforderungen für den Strafeinsatz zu etablieren619. Diese Legitimationsanforderungen zu konstruieren, ist die Aufgabe der Verbrechenlehre. Alle Kategorien der Verbrechenslehre – dazu gehört auch die Notstandsdogmatik – sind auf die Bestimmung des Strafbegriffs angewiesen. Die Verbrechenslehre beinhaltet die Gesamtheit der Voraussetzungen, die den Entzug eines angeborenen Rechts – heute: der Fortbewegungsfreiheit – rechtfertigen. Diese Voraussetzungen müssen sehr streng sein. Das Verhältnis zwischen Verbrechen und Strafe ist ein ewiges Thema des Strafrechts. Pawlik meint: „Jede sachliche Definition der Strafe verweist ihrerseits auf den Begriff des Verbrechens“ 620. Diese Behauptung ist aber meines Erachtens auf den Kopf zu stellen: Das Verbrechen begeht ein Bürger. Die Strafe wird vom Staat als Repräsentanten aller Bürger angedroht und verhängt. Die erste Sorge eines liberalen Staats muss die Handlung des Staates sein621. „Was ist Strafe?“ ist die erste Frage des Strafrechts, auf die der Verbrechensbegriff sich beziehen muss. Notabene: Nicht die Frage nach 617 Greco, Strafprozesstheorie, 2015, S. 658: „Niemand kann sich entscheiden, einen anderen strafbar zu machen.“ 618 Greco, Der Anteil der Gesellschaft, Manuskript im Erscheinen. 619 So auch Neumann, in: Lüderssen (Hrsg.), Aufgeklärte Kriminalpolitik oder Kampf gegen das Böse, 1998, S. 391 ff., 402: „Die Voraussetzungen für die Verhängung von Strafe müssen so bestimmt werden, daß der einzelne die Möglichkeit hat, Sanktionen zu vermeiden.“ 620 Pawlik, Das Unrecht, 2012, S. 52, 58: „Daß beispielweise die [. . .] strafrechtliche Schuld anspruchsvollere Voraussetzungen beinhaltet als das zivilrechtliche Verschulden, läßt sich nur begreiflich machen, indem man auf die unterschiedlichen Ziele von Strafe einerseits und Schadensersatz andererseits abstellt.“ 621 Ausf. dazu Greco, Lebendiges, 2009, S. 480.

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der Legitimation der Strafe, sondern die Frage nach dem Strafbegriff. Es ist schon an diesem Punkt ein Unterschied zwischen Strafbegriff und der Rechtfertigung der Strafe anzuerkennen: Es besteht durchaus ein Unterschied zwischen den Merkmalen, die den Strafbegriff ausmachen, und den Merkmalen, die eine Strafe zu einer legitimen Strafe machen. Ansonsten wäre es begrifflich unmöglich, von illegitimen Strafen zu sprechen622: „Nach dem Sinn der Strafe können wir vernünftig erst fragen, wenn wir uns klargemacht haben, was wir unter ,Strafe‘ und unter ,Sinn‘ verstehen“ 623. Zu Recht wird in der Lehre behauptet, dass die Fragen des Straf- und Verbrechensbegriffs eigentlich zusammengehörten. So hat zum Beispiel schon Binding vertreten: „Verbrechen und Strafe verbindet man miteinander als selbstverständlich zusammengehörig und denkt beide wohl als verbunden zurück bis an den Anfang allen Rechts“ 624. Die präjudizielle Natur der Frage des Strafbegriffs wird jedoch in der Geschichte des Strafrechts vernachlässigt. Baumgarten hat Recht, wenn er zu dem von ihm so bezeichneten „Prioritätstreit zwischen Verbrechen und Strafe“ feststellt: „Nun macht sich aber bekanntlich bisweilen die Auffassung geltend, daß der Begriff der Strafe aus dem des Verbrechens abzuleiten sei“ 625. Dass die Priorität des Strafbegriffs vor dem Verbrechensbegriff verkannt wird, ist zu bedauern. Hier lohnt ein Rückgriff auf Feuerbach. Er plädierte eindeutig für die Priorität des Strafbegriffs: Der Strafbegriff – er verwandte den Begriff der bürgerlichen Strafe – sei „der Grundbegriff, von welchem das ganze Criminalrecht ausgeht und auf welchen alles zurückläuft“ 626. Er schritt fort: „Man kann es, ohne Uebertreibung sagen, daß von der Bestimmtheit oder Unbestimmtheit dieses einzigen Begriffs die Wahrheit oder Falschheit, die Consequenz oder Inconsequenz der ganzen Theorie, und die Festigkeit oder das Schwanken der Praxis abhängig ist“ 627. In einer anderen Passage heißt es: „Den wichtigsten Einfluß auf das Criminalrecht überhaupt, insbesondere aber auf die Lehre von der sogenannten Zurechnung der Handlungen, hat die richtige Bestimmung der Strafe und der Natur der strafenden Gewalt“ 628.

622 Greco, Lebendiges, 2009, S. 278: nur so könne man sagen, „dass Strafen illegitim sein und trotzdem Strafe heißen können (Argument der offenen Frage), um nicht unbegründete Legitimitätsvoraussetzungen als begriffliche Festlegung verkaufen zu können (Vermeidung der Begriffsjurisprudenz) und um nicht durch eine Verwechselung beider Ebenen durch bloße Namensänderungen Übergriffe zu legitimieren, die richtigerweise für illegitim zu erklären wären (Vermeidung des Etikettenschwindels)“. 623 Schmidhäuser, Vom Sinn der Strafe, 2. Aufl., 2004, S. 40. 624 Binding, Die Entstehung, 1909, S. 7. Janka hat zum Beispiel als die zentrale Frage behandelt: „Was ist ein kriminelles Unrecht?“ Er selbst fragt sich einige Seite später: „Aber kann ihn das Recht in Wirklichkeit strafen, kann es ihn als einen Verbrecher zeichnen?“: Janka, Der strafrechtliche Notstand, 1878, S. 187, 198. 625 Baumgarten, Verbrechenslehre, 1913, S. 2, 11. 626 Feuerbach, Revision I, 1799, S. XIX. 627 Feuerbach, Revision I, 1799, S. XIX. 628 Feuerbach, Revision I, 1799, S. 1.

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Auf den Punkt gebracht: Das Strafrechtssystem ist also nicht primär funktional aus dem Strafzweck oder aus dem Verbrechensbegriff, sondern zunächst aus dem Strafbegriff zu konstruieren. Man hat sich längst bemüht, eine teleologisch orientierte Strafrechtsdogmatik zu konstruieren629. Roxin hat schon 1973 hervorgehoben, „daß der richtige Weg nur darin bestehen kann, die kriminalpolitischen Wertentscheidungen in das System des Strafrechts“ eingehen zu lassen630. Hier standen bekanntlich die Strafzwecktheorien im Vordergrund, sie wurden als Ausgangspunkt der Systematisierung der Begriffe betrachtet. Diese systematische Bewegung war ein begrüßenswertes Plädoyer für eine zweckorientierte und rationale Dogmatik, was zweifelsohne einen Fortschritt darstellt. Viele Kategorien des Verbrechensbegriffs wurden durch diese systematische Strömung neu konstruiert. Die Frage der Zwecke der Strafe setzt aber logisch den Begriff der Strafe voraus. Erst nach dessen Bestimmung kommen die unentbehrlichen Fragen der Zweckmäßigkeit und Erforderlichkeit der Strafe zum Tragen. Die existentielle Natur der Rechte, die durch Strafe entzogen werden, bringt viele Konsequenzen für die Konturen der Verbrechenslehre mit sich – man vergegenwärtige sich hier die oben vorgeschlagene methodische Vorgehensweise (B., I.). So kommt man zum zentralen Punkt unseres Problems. Der geschichtlich unerschütterliche Konsens über die Straffreiheit des entschuldigenden Notstands erklärt sich erst, wenn man das Verhältnis zwischen Notstand und Strafe richtig begreift. Dieser Konsens setzt einen anderen voraus, nämlich den über die Rechtswidrigkeit der Handlung in existentieller Notlage. Eine rechtswidrige Handlung ist aber grundsätzlich zu bestrafen. Diese beiden Konsense zu vereinbaren, ist Gegenstand der oben genannten Hobbes’schen Herausforderung (s. o. B., II., 2.). Die Verhaltensnorm wurde verletzt und dem Opfer wird keine Duldungspflicht auferlegt631. Gemeinwohlbezogene Argumente sind verbraucht – die Tat ist nämlich „vom Standpunkt sozialer Konfliktsregelung aus falsch“, wenn man es mit Roxin sagen will632. Es bleibt noch zu klären, wieso man den Täter trotz dieser Normverletzung nicht bestrafen darf. Spätestens hier landet man bei der grundlegendsten Frage des Strafrechts, nämlich der Frage nach dem Strafbegriff. Dass das Notstandsproblem zu solchen allgemeineren Fragen des Strafrechts führt, bedeutet keine Perplexität – wie übrigens Henkel sehr plastisch formuliert hat: „Wie in einem Prisma die Lichtstrahlen gesammelt werden und in mannigfache Farben zerlegt wieder in Erscheinung treten, so stellt auch das Notstandsproblem einen Sammelpunkt für die verschiedensten grundlegenden Fragen der allgemeinen Strafrechtslehre dar“ 633. Die Fixierung auf die Norm hat zu dem Schluss 629

Roxin, Kriminalpolitik, 2. Aufl., 1973, S. 10 ff. Roxin, Kriminalpolitik, 2. Aufl., 1973, S. 10. 631 Wie oben dargestellt, verneinen Renzikowski und Frister schon die Verhaltensnormverletzung, erkennen aber zugleich, dass dem Opfer keine Duldungspflicht abverlangt wird. Das ist die zentrale Frage und insoweit besteht Einigkeit. 632 So Roxin, Kriminalpolitik, 2. Aufl., 1973, S. 33. 630

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geführt, der entschuldigende Notstand sei kein echtes Schuldproblem. Denn die Möglichkeit des Andershandelns oder die normative Ansprechbarkeit fehlen tatsächlich nicht vollständig634. Was hier fehlt, ist die Möglichkeit, Strafe zu vermeiden635. Die Bestimmung des Kerns des entschuldigenden Notstands setzt also eine vorherige Klärung hinsichtlich Schuldbegriffs voraus, der als rechtswidriges Handeln trotz strafbezogener normativer Ansprechbarkeit zu verstehen ist. Der Schuldbegriff vervollständigt sich jedoch nur, wenn man sich auch Klarheit über den Strafbegriff verschafft. Denn das Verhältnis zwischen Notstand, Schuld und Strafe ist der Schlüssel für die Bestimmung der ratio des entschuldigenden Notstands als genuines Schuldproblem. 2. Notstand und Strafe Die Argumentation muss also vom Strafbegriff ausgehen. Auf den Punkt gebracht heißt das: Die richtige Lösung erschließt sich erst, wenn man die Rechte, die in der existentiellen Notlage auf dem Spiel stehen – nämlich Leben, Leib und Freiheit –, zu den Rechten in Bezug setzt, die der Staat durch die Strafe dem Täter entzieht – heutzutage nur die Fortbewegungsfreiheit, früher aber auch das Leben, der Leib, die Ehre und die Rechtsfähigkeit. Der Blick auf die involvierten Rechte stellt den maßgeblichen Gesichtspunkt dar. Dieser Parallelismus ist keinesfalls zufällig. Er erklärt z. B., warum das Ordnungswidrigkeitenrecht, das keine Strafe im echten Sinne verhängt und wo es eher um kollektive Rechtsgüter geht, eine explizite Regel des entschuldigenden Notstands nicht kennt636. Im Zivilrecht, das bekanntermaßen Normen zum defensiven (§ 228 BGB) und aggressiven Notstand (§ 904 BGB) kennt, wird neben den rechtfertigenden Notständen regelmäßig kein entschuldigender Notstand als Komplementärfigur anerkannt: „Der entschuldigende Notstand nach § 35 StGB hat für das Zivilrecht keine unmittelbare Bedeutung“ 637. Auch die DDR, deren Menschenbild eher kollektivistisch war, kannte keine Vorschrift über den entschuldigenden Notstand638. Denn dort ging es um die Bürger als Teil der Gemeinschaft, nicht um Personen, die schon vor der Gesellschaft Rechte besitzen. 633

Henkel, Der Notstand,1931, S. 2. Dazu Roxin, Kriminalpolitik, 2. Aufl., 1973, S. 33 ff. 635 Ausf. Greco, Lebendiges, 2009, S. 490 ff. 636 „Im Unterschied zum Strafrecht kennt das OWiG grundsätzlich keinen die Vorwerfbarkeit ausschließenden Notstand“, Klesczewski, Ordnungswidrigkeitenrecht, 2. Aufl., 2016, S. 108; Es gibt nur eine explizite Regelung des rechtfertigenden Notstands (§ 16 OWiG). Als Entschuldigungsgrund ist nur der Notwehrexzess vorgesehen (§ 15 III OWiG). Das bedeutet aber nicht, das die Figur des entschuldigenden Notstands im Ordnungswidrigkeitenrecht von keinerlei Bedeutung ist, siehe hierzu Bohnert/Bülte, Ordnungswidrigkeitenrecht, 5. Aufl., 2016, S. 28 ff., 31 ff. 637 Hatzung, Dogmengeschichtliche Grundlagen, 1984, S. 36; mit einer eigenen Konstruktion Canaris, JZ 1963, S. 655 ff., 657. 638 Siehe Renzikowski, ZStW 106 (1994), S. 93 ff. 634

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Diesem Parallelismus scheint ein vergessenes Randargument von Feuerbach zu entsprechen, das in der ersten Auflage seines Lehrbuchs von 1801 zu lesen ist: Der Täter sei nicht zu bestrafen, „wenn die Person durch gewisses und gegenwärtiges, dem Strafübel entweder gleiches oder dasselbe überwiegendes Uebel zur That fortgetrieben wird“ 639. Die von Feuerbach gegebenen Beispiele sind der Diebstahl in rechter Hungersnot und die Tötung eines anderen, „um selbst einer augenblicklichen Lebensgefahr zu entgehen“ 640. Hier argumentiert Feuerbach nicht wie sonst strafzwecktheoretisch, sondern vom Strafbegriff her: Er vergleicht nämlich das, was in der existentiellen Notlage auf dem Spiel steht mit dem, was dem Täter später durch die staatliche Strafe entzogen wird. Diese Passage ist in den späteren Auflagen verschwunden. Das ist zu bedauern, denn sie besitzt große Potenz, den unerschütterlichen Konsens über die Straffreiheit zu erklären. Leider wird diese Idee Feuerbachs – soweit sie überhaupt erwähnt wird641 – als eine Schwäche bezeichnet, so etwa bei v. Hippel642. Nichts aber ist unrichtiger als dies. In der Notwehrdogmatik manifestiert auch Montenbruck dieselbe Intuition, indem er die These der Trennbarkeit von Personen- und Vermögensschutz bei der Notwehr erläutert. Er meint, das „sich“ bei § 32 betreffe nur „solche Rechtsgüter, die Teil der ,Person‘ sind, also insbesondere Leben, Leib und Freiheit“ 643. Der Personenschutz gehöre zum Kern, der Vermögensschutz zum Umfeld der Not639 Feuerbach, Lehrbuch, 1. Aufl., 1801, § 97, S. 76: „also kann nur unter Voraussetzung der Abschreckungsmöglichkeit ein Rechtsgrund der Zufügung der Strafe vorhanden seyn“ (§ 92). Der Notstand sei ein Problem der „Imputativität“ oder „Subjectiv[en] Gründ[e] der absoluten Strafbarkeit“: „Das Strafgesetz soll durch die Vorstellung des künftigen Uebels auf das Begehrungsvermögen wirken und dieses abhalt[en], die That zu wollen. Ein solches Uebel kann a) durch die Natur bevorstehen (Nothfall), oder es kann b) durch Menschen bewirkt werden, welches statt findet bey der compulsiven Gewalt eines andern, mit welcher er zur Begehung einer Verbrechens nöthigt“ (§ 93). Gegen mögliche Einwendungen sagte er: „Man könnte einwenden, die Wirksamkeit des Strafgesetzes sey hier nicht unmöglich. Der Mensch habe ja Freyheit. Gar wohl! Aber man vergesse nicht, daß wir in dem peinlichen Recht den Menschen nur als Natur und sinnliches Wesen betrachten können. Die Psychologie ist hier unsre Lehrerin, nicht die Metaphysik. Freyheit hat ihr Gebiet in der Moral. Nach psychologischen Gesetzen, welche sich auf die innere Natur des Menschen beziehen, ist in dem vorausgesetzten Fall, wie auch schon Filangieri und andere bemerkt haben, eine Willensbestimmung durch die Vorstellung des entfernten Strafübels nicht als möglich anzunehmen“ (§ 97). 640 Feuerbach, Lehrbuch, 1. Aufl., 1801, § 97, S. 76. 641 Diese Passage wird auch von Neumann-NK, § 34, 5. Aufl., 2017, Rn. 2 zitiert. Es handelt sich aber um die sprichwörtliche Ausnahme, die die Regel bestätigt. 642 v. Hippel, Deutsches Strafrecht, Bd. II, 1930, S. 217: „Die Bedeutung der Theorie Feuerbachs liegt in dem Streben nach allgemeiner Erfassung des Notstands, ihre Schwäche in der Annahme wegfallender Zurechnung und in dem Vergleich der Größe der Not mit der des drohenden Strafübels.“ 643 Montenbruck, Notwehr, 1983, S. 13, 17: „So gesehen, gehören zum Kernbereich der Notwehr alle nicht (rechtlich) frei verfügbaren Individualinteressen des einzelnen, also Leben sowie in einem beschränkten Maße auch Leib und – wie schon zu ergänzen ist – die Freiheit in einem engen Bereich.“

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wehr644. Hier ist die Parallele zum entschuldigenden Notstand mehr als evident: „Der Kernbereich der Notwehr und der entschuldigende Notstand stehen danach zudem in einem Stufenverhältnis: Jede Abwehrhandlung zum Schutz der (eigenen) Existenz ist regelmäßig zumindest entschuldigt. Sie ist als Akt der Notwehr zudem gerechtfertigt, wenn der Personengefahr ein rechtswidriger Angriff zugrundeliegt“ 645. Er meint, hier hätte man es mit der „sozialen Existenz“ der Person zu tun. Die strafrechtliche Lehre verwischt diesen Parallelismus leider, indem sie ein weiteres Interesse in die Waagschale legt, nämlich das „Interesse der Rechtsordnung“. Das Verbrechen verkörpere auch einen Geltungsschaden, so dass der Vergleich zwischen den Rechten des Täters und den durch die spätere Strafe zu entziehenden Rechten als eine Simplifikation zu entlarven sei, die die kommunikative Ebene der Straftat außer Acht lasse. So hat Ferneck die „Proportionalität zwischen Notübel und Strafübel“ erwähnt, sie aber nicht ausgeführt. Denn hierbei solle der Schaden, den die Rechtsordnung erleide, miteinbezogen werden: „Denn abgesehn davon, daß es sich häufig um inkommensurable Größen handelt (man denke aber auch noch an den diffamierenden Nebeneffekt einer strafrechtlichen Verurteilung), kämpft der Genötigte tatsächlich nicht nur gegen das Strafübel, wenn er der Not zu entgehen sucht: außer dem Träger der Interessen, in welche er einzugreifen sucht, und auf dessen Widerstand er sich in den meisten Fällen gefaßt machen muß, stellen sich ihm die ganze Autorität des Rechtes, sein moralisches Gefühl, daß er die Gefahr doch selbst zu tragen habe, eventuell sein Mitleid mit dem vom ihm Gefährdeten, vielleicht auch religiöse Bedenken, gesellschaftliche Anschauungen, ästhetische Vorstellungen usf. entgegen“ 646. Das Interesse der Rechtsordnung an der Geltung ihrer Normen steht auch hinter der viel propagierten Idee der „Erschwerung der normkonformen Motivation“, die für die Entwicklung des normativen Schuldbegriffs zentral war. Diese Idee hat Frister zu Recht als eine Metapher entlarvt: Sie bedeutet, „daß eine Person die Beachtung des Rechts besonders hoch bewerten muß, um sich auch in einer derartigen Situation noch rechtmäßig zu verhalten“ 647. Diese Art der Argumentation ist offensichtlich obrigkeitsstaatlich: Die Bürger haben so keine Rechte; sie sind nicht einmal Bürger, sondern Untertanen648. Die Entschuldigung einer Person wäre ausschließlich von der Autorität der Rechtsordnung zu bestimmen. Der Versuch der hiesigen Untersuchung ist es, eben diesen Gedanken auf den Kopf zu stellen: Es sind die Rechte der Personen in den Vordergrund zu stellen. Denn 644 Montenbruck, Notwehr, 1983, S. 15 f., wobei anzumerken ist, dass Montenbruck auch § 35 als Unterstützung seiner These anführt (18 ff., 72). 645 Montenbruck, Notwehr, 1983, S. 18. 646 v. Ferneck, Rechtswidrigkeit, Bd. II/1, 1905, S. 118. 647 Frister, Die Struktur, 1993, S. 150. 648 Über diese Terminologie Stolleis, Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit, 1990, S. 298 ff.

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das Handeln des Staates – vor allem der Erlass strafbewehrter Verbotsnormen – steht immer unter dem Verdacht der Instrumentalisierung. Nur wenn sich dieser nicht bestätigt, kommt die Frage der Zweckmäßigkeit der Bestrafung in Betracht. Dieses Verhältnis der in Konflikt geratenen und der durch die Strafe betroffenen Rechte wurde nicht nur in der strafrechtlichen Literatur bemerkt. Auch Kant hat sich diesen Parallelismus in einer bekannten Passage zu eigen gemacht, dabei aber strafzweckorientiert bzw. konsequentialistisch argumentiert: „Denn die durchs Gesetz angedrohte Strafe könnte doch nicht größer sein, als die des Verlusts des Lebens des ersteren. Nun kann ein solches Strafgesetz die beabsichtigte Wirkung gar nicht haben; denn die Bedrohung mit einem Übel, was noch ungewiß ist (dem Tode durch den richterlichen Spruch), kann die Furcht vor dem Übel, was gewiß ist (nämlich dem Ersaufen), nicht überwiegen“ 649. In einer anderen, weniger bekannten Passage heißt es: „Die Juristen haben recht, wenn sie behaupten, man dürfte einen anderen umbringen, um sein Leben zu erhalten. Nämlich man kann nicht gezwungen werden, dies zu unterlassen, weil die Strafe, vor der man sich scheuen soll, nicht größer sein kann als das, dem zu entfliehen er die Handlung tut, und das letztere nahe ist“ 650. Baumgarten schließt an diesen Gedanken an und postuliert eine Ausnahme von der Strafdrohung, „wenn das drohende Uebel den durch die Rettungshandlung zuzufügenden Schaden soweit übersteigt, daß die Rettungshandlung vom Rechtsgefühl des Durchschnittsmenschen gebilligt wird“, und geht einen Schritt weiter, indem er sagt: „Auch wenn die Strafe wirkungsvoll wäre, dürfte sie nicht in Aussicht gestellt werden, denn die Rechtsordnung hat keinen Grund, der Notstandshandlung ein Hindernis in den Weg zu legen“ 651. Neben der präsumierten Wirkungslosigkeit der Strafdrohung – denn die Lebensbedrohung hier und jetzt wiegt schwerer – taucht der Gedanke der Aequitas auf: „Wie es keinen Zweck hat, Mangel an Heroismus zu bestrafen, und wäre unbillig, selbst wenn es zweckmäßig wäre“ 652. Aus Billigkeitsgründen könne man den Kreis dieser Situationen sogar erweitern: „Nicht nur die Furcht vor Lebensverlust, sondern auch die vor Lebensentwertung [. . .], wie schwerer körperlicher Verletzung oder dauerndem Verlust der Freiheit, entschul649 Kant, Die Methaphysik der Sitten, S. 343; siehe dazu Henkel, Der Notstand, 1931, S. 40: diese These „beruht auf der Vorstellung eines Widerstreits zweier Motive in der Seele des Notstandstäters: Furcht vor der Notstandsgefahr – Furcht vor dem drohenden Strafübel“. 650 Diese Passage wird in dem interessanten Buch von Küper, Immanuel Kant, 1999, S. 25 zitiert. 651 Baumgarten, Notstand und Notwehr, 1911, S. 20. 652 Baumgarten, Notstand und Notwehr, 1911, S. 22, der wieder mit dem Topos des Selbsterhaltungstriebes argumentiert: „Der Selbsterhaltungstrieb ist so stark, daß dem einzelnen, der unter seinem Druck in die Lebenssphäre eines andern eingreift, kein irgend wie erheblicher Vorwurf gemacht werden kann. Eine schwere Strafe wäre eine unerträgliche Härte, eine leichte wegen ihres Mißverhältnisses zu der Bedeutung der in Betracht kommenden Handlung dem Rechtsgefühl schwerlich genehm und ganz gewiß zwecklos.“

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digt vor dem forum der Aequitas, wenngleich hier eine Strafe gefunden werden könnte, durch die dem Streben nach Rettung aus der Not wirksam entgegenzuarbeiten möglich wäre“ 653. Auch bei Hobbes ist über einen Parallele zwischen Lebensnotstand und Todestrafe zu lesen: „If I doe it not, I die presently; if I doe it, I die afterwards; therefore by doing it, there is time of life gained; Nature therefore compells him to the fact“ 654. Die Gegenüberstellung der involvierten Rechte hat also eine Tradition, aus der man aber in der strafrechtsinternen Diskussion bisher keine Konsequenzen gezogen hat. Die Strafe bringt strukturell eine persönliche Betroffenheit der Person mit sich: Diese verliert ihre angeborene Fortbewegungsfreiheit. Der Täter im entschuldigenden Notstand kann jedoch behaupten: „Ich bin in eine zufällige von mir nicht zu vertretenen Situation geraten, in der meine existentiellen Rechte in Gefahr sind. Ich bin bereits persönlich betroffen“. Das Opfer wird durch das Nothandeln ebenfalls existentiell betroffen. Die phänomenologische oder empirische Koinzidenz der Rechte, die in der existentiellen Notlage auf dem Spiel stehen, mit denen, die der Staat dem Täter durch die Strafe entziehen darf, ist also auch aus normativer Perspektive von Bedeutung, wie viele Autoren schon bemerkt haben. Es ist etwas näher zu erläutern, was man in der hiesigen Untersuchung unter Strafe versteht. Mit anderen Worten: Was ist gemeint, wenn man sagt, die Strafe treffe den Täter als Person? Die Herausforderung ist sodann, Konsequenzen aus dem beschriebenen Parallelismus zu ziehen. 3. Strafe als „Entzug“ angeborener Rechte der Person Die richtige Lösung erschließt sich, wenn man zwei Gedanken Grecos verbindet, ein Unterfangen, das von ihm selbst noch nicht geleistet wurde. Greco hat zunächst eine liberale, nicht moralisch aufgeladene Schuldlehre entwickelt, wonach strafrechtliche Schuld nichts anders als Vermeidbarkeit der Strafe ist: Schuld sei „strafbezogene Unklugheit“ 655. Diese Idee stammt aus dem Versuch, den ursprünglichen liberalen Kern der Theorie Feuerbachs, wonach der Grund der Strafzufügung die Einwilligung in die Strafe sei, wiederzubeleben. Nach Feuerbach ist die Strafe notwendige Folge des Verbrechens: „Wer diese Handlung thut, soll diese Strafe leiden; niemand der sie thut, darf der Strafe entgehen. Strafe und Verbrechen sind durch einander bedingt: niemand kann das Eine oder das Andere wollen; niemand zu der gesetzwidrigen That sich bestimmen, ohne dem damit verknüpften Uebel sich zu unterwerfen [. . .] Die Einwilligung in das rechtlich Bedingte schließt nun aber zugleich die Einwilligung in die rechtliche Bedingung in sich; [. . .] Thue ich gleichwohl die That, so berechtige ich den andern, mich als 653

Baumgarten, Notstand und Notwehr, 1911, S. 23. Hobbes, Leviathan, Chap. 27, S. 208; dazu siehe Dix, Lebensgefährdung, 1994, S. 81 ff. 655 Greco, Lebendiges, 2009, S. 490. 654

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dieser Bedingung unterworfen zu behandeln; berechtige also, durch das Verbrechen, den Staat, die gedrohte Strafe zu vollziehen“ 656. Der Täter habe nicht die Verletzung der Norm – wie in den herrschenden von der Zumutbarkeitsidee beeinflussten Theorien –, sondern die Strafe vermeiden können657. Das einzige, was der Staat zum Täter sagen könne, sei: „Du warst unklug“ 658 . Die Strafe zerstört als besonders schwere staatliche Reaktion jeden Lebensplan: „Es ist deshalb eine Anforderung der Klugheit, strafbedrohte Verhaltensweisen zu vermeiden, denn die Begehung derartiger Verhaltensweisen kann eine Strafe nach sich ziehen“ 659. Strafen seien „vom Staat verhängte, besonders schwere Übel körperlicher oder kommunikativer Art [. . .], die als objektive Reaktion für eine angenommene Straftat verhängt werden“ 660. Ob diese Gedanken die Begründung aller Einzelheiten des entschuldigenden Notstands zu tragen vermögen – eine Antwort, die nach Greco „einer weiteren Untersuchung vorbehalten“ bleibt661 – dies zu klären ist eben die hiesige Herausforderung. Auf die Unbestimmtheit des Strafbegriffs wurde schon seit langem in der Literatur hingewiesen662. Was damals in dieser Konstruktion fehlte, nämlich eine noch präzisere Definition des Inhalts des Strafbegriffs, wurde sechs Jahren später nachgeholt: „Das Übel der Strafe liegt also darin, dass sie sich gegen angeborene Rechte, d. h. gegen das Leben, die Rechtsfähigkeit, den Leib oder – im heutigen Strafrecht, das sich hat zähmen lassen, um die bisher genannten Rechte nicht mehr anzutasten – gegen die Freiheit als Fortbewegungsfreiheit bzw. als ,Freiheit der Person‘ i. S. von Art. 2 II GG richtet“ 663. Strafe – das heißt: der staatliche 656 Feuerbach, Revision I, 1799, S. 49, 54; diese Idee hatte Feuerbach noch in der ersten Auflage seines Lehrbuchs vertreten, wonach das Verbrechen die Handlung sei, durch die der Bürger „den Wechselvertrag zwischen ihm und dem Staate“ breche: „Denn die Strafe ist nothwendige Folge des übertretenen Strafgesetzes. Wer daher ein Strafgesetz übertritt, kommt in Beziehung auf die verwirkte Strafe aus dem Schutze des Staates, in wie ferne er die Rechte verliert, deren Verlust eine nothwendige Folge des vom Gesetz gedrohten und zuzufügenden Uebels ist. Der Staat soll ihm alle Rechte schützen; er übertritt das Gesetz – und nun entzieht ihm der Staat diese Rechte. Er bricht daher durch seine Uebertretung das rechtliche Verhältnis das zwischen ihm als Bürger und dem Staat als Beschützer aller Rechte ist“, Feuerbach, Lehrbuch, 1. Aufl., 1801, § 26, S. 22; diese Einwilligungslehre hat er später aufgegeben, dazu Greco, Lebendiges, 2009, S. 484 ff. 657 Greco, Lebendiges, 2009, S. 489. 658 Greco, Lebendiges, 2009, S. 491. 659 Greco, Lebendiges, 2009, S. 493. 660 Greco, Lebendiges, 2009, S. 303. 661 Greco, Lebendiges, 2009, S. 508. 662 Nagler, Die Strafe, 1918, S. 1 ff., 8 ff. 663 Greco, Strafprozesstheorie, S. 653 ff.; siehe auch Greco, GA 2015, 503 ff., 512 f.; Feuerbach definiert die Strafe folgendermaßen: Strafe „ist ein vom Staate, wegen einer begangenen Rechtsverletzung zugefügtes, durch ein Strafgesetz vorher angedrohtes sinnliches Uebel“, Feuerbach, Revision I, 1799, S. 56; so auch in Feuerbach, Lehrbuch, 1. Aufl., 1801, § 19, S. 17; siehe auch Schnyder, Delikt und Strafe in der gelehrten Strafrechtsliteratur des 16. Jahrhunderts, 2010, S. 95 ff.

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Entzug eines angeborenen Rechts als Reaktion auf ein Fehlverhalten664 – ist nur legitim, wenn der Täter sie durch sein eigenes Verhalten vermeiden konnte. Der Täter muss die Strafe selbst auf sich gezogen haben. Schünemann hat sich jüngst diesem Begriff angeschlossen, will ihn aber nicht „formal“, sondern typologisch“ bestimmen: „Eine Geldstrafe ist nicht nur dann einer Freiheitsstrafe gleichzustellen, wenn sie in eine Ersatzfreiheitsstrafe umgewandelt werden kann, sondern auch dann, wenn sie die wirtschaftliche Existenz vernichtet und deshalb unter dem Aspekt der ,Beeinträchtigung des Lebensstandards‘ einer Freiheitsentziehung gleichzustellen ist“ 665. Er fügt zugleich ein weiteres Merkmal hinzu, nämlich den „overkill“, der die Strafe strukturell schlimmer als Vergeltung mache666. Das ist richtig und weiterführend. Das Wesen der Strafe liegt im Entzug eines angeborenen Rechts, d.h. im modernen Rechtsstaat: der Fortbewegungsfreiheit. Diese Begrifflichkeit ist keineswegs Produkt eines Rückfalls in die Tradition der Begriffsjurisprudenz und ihrer „Inversionsmethode“ 667; sie muss hier aber inhaltlich noch näher definiert werden: Der Begriff des angeborenen Rechts weist naturrechtliche Züge auf und hat eine lange Tradition, vor allem im 17. und 18. Jahrhundert668. So definierte Hufeland 1790 das „ursprüngliche“ Naturrecht als „die Lehre von den Rechten, welche der Mensch im Naturzustande ursprünglich, ohne alle Voraussetzungen einer Handlung, hat“ 669. Das Leben gehöre „zu 664 Schmidhäuser, Vom Sinn der Strafe, 2. Aufl., 2004, S. 41: „in der Strafe wird ein Übel zugefügt als Reaktion auf eine Übeltat“; Hoerster, Muss Strafe sein?, 2012, S. 14: „Das Wort ,Strafe‘ bezeichnet ein Übel, das jemand einem Menschen in Reaktion auf eine angenommene Normverletzung zufügt, ohne dass dieses Übel in dem Zwang zur Wiedergutmachung eines durch die Normverletzung verursachten Schadens besteht.“ 665 Schünemann, in: FS-Neumann 2017, S. 1 ff., 3. 666 Schünemann, in: FS-Neumann 2017, S. 1 ff., 3. 667 Dazu Heck, in: Ellscheid/Hassemer, Interessenjurisprudenz, 1974, S. 41 ff. 668 Siehe Hufeland, Lehrsätze, 1790, § 4, S. 3, § 85, S. 44: „Es giebt also ursprüngliche und erworbene Güter“; v. Gros, Lehrbuch, 1805, § 48: Rechte, „die dem Menschen, blos darum, weil er ein freyes Wese vernünftiges Wesen in der Sinnenwelt ist, vermöge seiner menschlichen Natur zukommen“; Callisen, Rechts- und Sittenlehre, 1805, S. 48: Das absolute Naturrecht sei „ein System von Lehrsätzen, welche die Rechte bestimmen, die dem Menschen als Menschen (unter der alleinigen Voraussetzung seiner Menschheit) zukommen“; siehe Bauer, Lehrbuch, 1816, § 54 ff., S. 72 ff., § 60, S. 77: angeborene Rechte als Rechte, „welche dem Menschen, als solchen, blos durch die Natur beigelegt sind“; über das „System der unveräusserlichen und für den souveränen Gesamtwillen selbst unantastbaren Rechten des Individuums“ in dem germanischen Naturrecht des 18. Jahrhunderts siehe v. Gierke, Naturrecht, 1882, S. 28: „Von allen Lehren des Naturrechts hat die Lehre von den angebornen Menschenrechten am meisten gezündet“; ausf. G. Meyer, Der Staat und die erworbenen Rechte, 1895, S. 7 ff.; über das Naturrecht im 17. und 18. Jahrhundert siehe Stolleis, in: Stolleis (Hrsg.), Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert, 1977, S. 19 ff.; Dann/Klippel (Hrsg.), Naturrecht – Spätaufklärung – Revolution, 1995; ausf. Stödter, Öffentlich-rechtliche Entschädigung, 1933, S. 52 ff.; siehe auch Auer, Der Mensch hat Recht, 1956, S. 268 ff.; Verdross, Statisches und dynamisches Naturrecht, 1971, S. 25 ff. 669 Hufeland, Lehrsätze, 1790, § 18, S. 8: das „erwerbliche“ Naturrecht bestimmten „die allgemeinen Lehren von den Rechten, die der Mensch im Naturzustande erwerben

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seinen ersten und vornehmsten Gütern“, und „jeder Mensch darf also sein Leben durch Zwang erhalten“ 670. Auch die „Organe“ gehörten hierzu. Der Inbegriff aller Organe heiße Leib671, und das Recht auf Leib und Leben bestehe darin, „daß mein lebendiger Leib mir als Repräsentant meines eigentlichen Ichs in der Sinnenwelt zugestanden werde“ 672. Die angeborenen Rechte sind Rechte, die man einzig und allein aufgrund der Tatsache innehat, dass man ein Mensch ist673. Es sind Rechte, die man schon als Person und nicht erst als Bürger einer Gesellschaft innehat674. Der Antipode dieses Begriffs sind die erworbenen Rechte, das

kann“; Ahrens, Naturrecht, 1. Band, 1870, S. 365 f.: „Nach dem Grunde ihres Daseins sind die Rechte entweder Urrechte, welche durch das Wesen der menschlichen Persönlichkeit und die ursprünglichen Güter derselben (Leben, Ehre, Freiheit u.s.w.) gegeben sind, ohne dass es noch ein Willensact erforderlich wäre, oder erwerbliche Rechte, welche eine solche Handlung voraussetzen.“ 670 Hufeland, Lehrsätze, 1790, § 105 f., S. 53 f. 671 Hufeland, Lehrsätze, 1790, § 113, S. 56: „Also kann ich auch alle meine Glieder durch Zwang erhalten“ (§ 115, S. 57). Auch die ursprüngliche Ehre gehöre zu diesen Rechten (§ 132, S. 62); so auch v. Gros, Lehrbuch, 1805, § 115, S. 66: über das angeborene Recht auf „physische Existenz“. 672 Callisen, Rechts- und Sittenlehre, 1805, S. 50; Ahrens nennt als „Persönlichkeitsgüter“ das Leben, den Leib, die Ehre und die Freiheit: Ahrens, Naturrecht, 1. Band, 1870, S. 252, 365 ff. 673 v. Gros, Lehrbuch, 1805, § 80, S. 45 f.; Christiansen, Ueber erworbene Rechte, 1856, S. 30: angeborene Rechte als die „aus der bloßen Existenz der Persönlichkeit folgende Rechte“, die „der Person als solcher kraft Wesens der Persönlichkeit“ zustehen; Zöpfl, Grundriss, 1878, § 33, S. 86 f.: „Da die Persönlichkeit (die Eigenschaft als Rechtssubject) dem Menschen von Geburt aus zukommt, so bezeichnet man sie als absolutes, angeborenes Recht oder Urrecht. Im Gegensatze hiervon ist jede materielle Rechtserwerbung ein sog. Hypothetisches, d. h. nur unter gewissen Voraussetzungen zuständiges Recht“; diesen Begriff benutzte auch Kant: „dasjenige Recht, welches, unabhängig von allem rechtlichen Akt, jedermann von Natur zukommt“, Kant, Die Methaphysik der Sitten, S. 345. Es sei aber nur die „Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür), sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen, kraft seiner Menschheit, zustehende Recht“ (345); bei Fichte bereichnet der Begriff von Urrecht, als dasjenige Recht, „das jeder Person, als einer solchen, absolut zukommen soll“; dieses Urrecht sei „daher das absolute Recht der Person, in der Sinneswelt nur Ursache zu seyn“, Fichte, Grundlage, S. 113; über das Urrecht bei Fichte siehe Zaczyk, Das Strafrecht in der Rechtslehre J. G. Fichtes, 1981, S. 40 ff.; auch Callisen, Rechtsund Sittenlehre, 1805, S. 48 spricht manchmal von „Urrechte[n]“; so auch Ahrens, Naturrecht, 1. Band, 1870, S. 365; in der Diskussion des 19. Jahrhunderts sprach man auch von allgemeinen (angeborenen) und besonderen (erworbenen) Rechte[n]: siehe Christiansen, Ueber erworbene Rechte, 1856, S. 30, mit dem Argument, die traditionelle Terminologie sei unpassend, weil unter den erworbenen Rechten „manche ebenfalls schon durch die Geburt entstehen“. 674 Hufeland, Lehrsätze, 1790, § 12, S. 6: „Das Naturrecht (jus naturae) ist die Wissenschaft, welche die Zwangsrechte [. . .] des Menschen im Naturzustande lehrt.“ Naturzustand sei „der Inbegriff der rechtlichen Beziehungen, welche dem Menschen ausser dem Staat zukommen“; Callisen, Rechts- und Sittenlehre, 1805, S. 44: die Frage des „absoluten“ Naturrechts sei, „ob es Rechte des Menschen gebe, die nicht auf Verabredung allein beruhen, sondern die die Vernunft einem jeden als Menschen zuschreibt“;

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heißt die Rechte, die man erst innerhalb einer Gesellschaft durch einen staatlichen Akt oder Rechtstitel bekommt675. Sie sind Rechte, die „ein Factum“ voraussetzten, „wodurch etwas mit der Person des Subjects verknüpft wird“ 676. Hier ist vor allen das Vermögen zu erwähnen677. Es verwundert nicht, dass letztere in der Regel allein kraft rechtfertigenden Notstands (§ 34 StGB) verletzt werden dürfen. Denn hier geht es um die Frage, wie die Gesellschaft – ohne die Autonomie bzw. Menschenwürde der Personen anzutasten – einer Notlage mit möglichst wenig Nachteilen entkommen kann. Die erworbenen Rechte könnten auch in der Tradition des öffentlichen Rechts enteignet werden678, „sobald es mit der WohlZöpfl, Grundriss, 1878, § 1, S. 4; v. Gierke, Naturrecht, 1882, S. 28: „bei Eingehung der Staatsverträge vorbehalten[e] und darum vor und über aller Gesetzgebung bestehend[e] ursprüngliche Rechte“; Stödter, Öffentlich-rechtliche Entschädigung, 1933, S. 53, über „vorstaatliche, unveräußerliche Rechte“. 675 Siehe Greco, Strafprozesstheorie, 2015, S. 653 ff.; Stödter, Öffentlich-rechtliche Entschädigung, 1933, S. 56: „denn zu den angeborenen Rechten der naturrechtlichen Terminologie gehört die erworbene Befugnis nicht. Sie beruht auf einem konkreten Erwerbstitel, der sich seinerseits auf eine naturrechtliche Grundlage stützt. Jene folgen aus dem Naturrecht unmittelbar als dem Individuum a priori immanente und nicht durch einen besonderen Titel bedingte Attribute“; so auch Zachariä, Deutsches Staats- und Bundesrecht II, 1842, § 127, S. 91: durch „einen gültigen besondern Rechtstitel“ begründet; siehe Hufeland, Lehrsätze, 1790, § 191 f., S. 92: „Der Anfang des Eigenthums heisst die Erwerbung (aquisitio)“; v. Gros, Lehrbuch, 1805, § 134 ff., S. 75 ff.; „Man betrachtet in Ansehung derselben erstlich den Grund, warum eine Sache ein eigenthümliches Gut eines Menschen werden kann, oder den Rechtstitel (titulus acquirendi dominium)“. Später hat die Diskussion sich vor allem auf die Rückwirkungsmöglichkeit neuer Gesetze, die „wohlerworbene[n] Rechte“ zu entziehen, und zugleich auf die Idee des subjektiven Rechts konzentriert: Christiansen, Ueber erworbene Rechte, 1856, S. 9 ff., 23 („daß der Begriff des erworbenen Rechts nicht weiter ist, als der des subjektiven“), S. 89 ff., der hervorhebt, der Begriff des erworbenen Rechts werde bei ihm nicht als Gegenbegriff zu den angeborenen Rechte verwandt; Zachariä, Deutsches Staats- und Bundesrecht II, 1842, § 127 ff., S. 90 ff.; Lassale, Das System der erworbenen Rechte, S. 1 ff., 41 ff., 62 ff.; G. Jellinek, System, 1892, S. 46 ff.; Beling, Revolution und Recht, 1923, S. 36 f.; G. Meyer, Der Staat und die erworbenen Rechte, 1895, S. 1 ff.; Stödter, Öffentlich-rechtliche Entschädigung, Hamburg, 1933, S. 65: „Gelegentlich werden Problem der Rückwirkung und Problem der erworbenen Rechte identifiziert“. 676 v. Gros, Lehrbuch, 1805, § 81, S. 46. 677 So schon Hufeland, Lehrsätze, 1790, § 178, S. 84: „Alles, was nicht zu der ursprünglichen Vollkommenheit eines Menschen gehört, [. . .] heisst, in Rücksicht auf seine Fähigkeit, ein Gut des Menschen zu werden [. . .], (im Naturrecht) eine Sache (res)“; v. Gros, Lehrbuch, 1805, § 142 ff., S. 78 ff. 678 Ausf. Stödter, Öffentlich-rechtliche Entschädigung, 1933, S. 53 ff., 60 ff., 63: „Gilt doch der Grundsatz der Unverletzlichkeit für die angeborenen unveräußerlichen Menschenrechte in noch viel höheren Maß als für erworbene Befugnisse“; Christiansen, Ueber erworbene Rechte, 1856, S. 9 ff., 17 ff., 30: erworbene Rechte als Rechte, die der Person „in Folge besonderer Handlungen und Umstände zustehen“; G. Meyer, Der Staat und die erworbenen Rechte, 1895, S. 1 ff., 3: Maßgeblich sei die Unterscheidung „derjenigen Rechte, welche auf Grund des jus naturale oder des jus divinum, und derjenigen, welche auf Grund des jus civile erworben sind“; siehe schon Hufeland, Lehrsätze, 1790, § 384, S. 187: „es müssen auch sonst alle Mittel zur Erreichung des

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fahrt des Ganzen in Collision kommt“ – man spricht hier von einem jus eminens679. Die Rechte, die man schon als Mensch bzw. Person hat – nämlich die angeborenen Rechte –, sind aber gegen gesellschaftsorientiertes Kalkül resistent. Die angeborenen Rechte eines Unschuldigen sind unantastbar: Nur die Person selbst kann diese Rechte „verlieren“ 680. Deshalb scheint es angemessener, die Strafe als „Entzug“ – in Anführungszeichen – angeborener Rechte zu definieren. Denn diese Rechte hat eigentlich der Täter selbst durch sein Verhalten verwirkt, und die Schuldlehre ist die Lehre, die sich mit dem Beitrag des Täters selbst zu seiner Bestrafung beschäftigt. Diese Intuition bezüglich der Relevanz der involvierten Rechte lässt sich bei vielen Autoren auffinden, ihr wurde aber innerhalb der Notstandsdogmatik nicht nachgegangen. Auch die Verbindung zwischen dem Begriff des angeborenen Rechts und dem Strafbegriff wurde in der Literatur wenig behandelt – eine Ausnahme bildet die Studie von Bauer681. Zachariä hat allerdings schon 1842 hervorgehoben, dass die angeborenen Rechte grundsätzlich durch den Staat unverletzbar seien, diese „Verletzung“ jedoch gerechtfertigt erscheine, „wo und insoweit das Recht des Staats zur Strafe begründet ist“ 682. Das Verhältnis zwischen dem entschuldigenden Notstand und dem Strafbegriff ist wie gesehen deutlich, und es verwundert deswegen nicht, wenn Bernsmann in seiner fundamentalen Monographie behauptet, dass sich im gegenwärtigen § 35 eben „ein Rest an Naturrecht“ finde683. Auch Renzikowski stellt zu Recht

Zwecks von den Unterthanen gefördert werden können; daher also Recht auf das Vermögen der Unterthanen (potestas cameralis)“. 679 Zachariä, Deutsches Staats- und Bundesrecht II, 1842, § 127, S. 92: Es entstehe dadurch eine Entschädigungspflicht. 680 Greco, Strafprozesstheorie, 2015, S. 658: „Angeborene Rechte dürfen also dem Individuum nur entzogen werden, wenn das Individuum dies selbst zu verantworten hat, wenn er sein Recht insofern verwirkt, m. a. W.: wenn er Schuld auf sich geladen hat“; v. Gros, Lehrbuch, 1805, § 114, S. 64: „Der Mensch hat also ein angebornes Recht auf äussere Anerkennung der ihm zustehenden Menschenwürde“; G. Meyer, Der Staat und die erworbenen Rechte, 1895, S. 7: angeborene Rechte „konnten dem Menschen, weil sie ihm von Natur zustanden, gar nicht entzogen werden“; Ahrens, Naturrecht, 1. Band, 1870, S. 368, meinte, diese Rechte seien „unverwirkbar“, erkannte aber an, „die Freiheit [könnte] wegen Missbrauchs eine Beschränkung erleiden [. . .], aber es muss Jedem die Möglichkeit gewahrt bleiben, wieder in den vollen Genuss dieser Rechte einzutreten (daher auch grundsätzlich keine lebenslängliche Gefängnisstrafe)“. Das ist ein interessanter Gedanke, der aber eher mit der Frage der Legitimation der Strafe zu tun hat. 681 Bauer, Lehrbuch des Naturrechts, 1816, § 257, S. 335 f., § 258, S. 336: „Durch Rücksicht auf das Recht, welches die Strafe entzieht, oder einschränkt. Je mehrere, wichtigere und unersetzlichere Rechte durch die Strafe beschränkt, oder aufgehoben werden, desto härter ist die Strafe.“ 682 Zachariä, Deutsches Staats- und Bundesrecht II, 1842, § 127, S. 91. 683 Bernsmann, „Entschuldigung“, 1989, S. 285; auch Watzka, Die Zumutbarkeit, 1967, S. I; so hat Hufeland den existentiellen Notstand als „Collision“ betrachtet und eine Regel dafür formuliert: „Erhaltung der eignen ursprünglichen Vollkommenheit geht der Erhaltung der ursprünglichen Vollkommenheit eines andern, wenn sie in gleichem Maasse collidieren, vor“, Hufeland, Lehrsätze, 1790, § 171, S. 77 f.

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fest: „Insofern finden die in § 35 Abs. 1 S. 1 StGB genannten notstandsfähigen Rechtsgüter Leben, Leib und Freiheit eine Bestätigung in der rechtsphilosophischen Tradition“ 684. In der strafrechtlichen Literatur haben einige Autoren die besondere Dimension und Qualität einiger (angeborener) Rechte erkannt. Gemeinsam seien diesen Rechten gewisse Eigenschaften, wie die Unersetzlichkeit oder ihre Zugehörigkeit zur Persönlichkeit des Menschen. Feuerbach nennt zum Beispiel das Leben oder „ein anderes unersetzliches persönliches Gut“ 685. Auch im materiellen Verbrechensbegriff tauchte die Idee auf, es gebe Rechte, „für welche kein Aequivalent möglich ist“, so dass ein psychologischer Zwang unausweichlich sei686. Das Verbrechen sei als Verletzung „ursprüngliche[r] Rechte des Staats oder des Bürgers“ zu verstehen; als Verbrechen im engsten Sinne „ist eine durch ein Strafgesetz bedrohte Verletzung unersetzlicher Rechte zu verstehen“ 687. Und schon Binding erkannte Leben, Leib und Freiheit im Gegensatz zur Sklaverei als „Rechtsgüte[r] der Persönlichkeit“ an, die „die wesentlichen Eigenschaften der physischen Person nach heutigem Rechte bilden“. Auch die Entstehung der öffentlichen Strafe bestätigt den höheren Status dieser Rechte: Die öffentlichen Strafen erfolgten nämlich von Beginn an an Leben, Leib, Freiheit und Ehre688. Diese machen das Wesen der Persönlichkeit aus, das heißt: Sie sind diejenigen Güter, „deren Negirung die Unmöglichkeit zum physischen oder zum Leben in der bürgerlichen Gesellschaft herbeiführen würde, also das Leben und die Freiheit im Gegensatze zu der Sklaverei, die zum Leben nöthige Gesundheit und die weibliche Ehre“ 689. Ein in der Diskussion wichtiger Gesichtspunkt ist auch „die Ersetzlichkeit des von der Not bedrohten Interesses“ 690. Interessant war die frühere Diskussion über die sogenannte Ehrenstrafe und üner den Ehrennotstand. Einige waren schlicht gegen die Einbeziehung des Ehrennotstandes, weil dieses Gut nicht komplett unersetzlich sei691: „Unverletzbar ist jedoch lediglich die Qualität des Menschen als solchem, die angeborene Menschenwürde, von der Binding sagt, jeder Mensch besitze in seinem Menschentum ein Ehrenkapital, kraft dessen er beanspruchen könne, von allen anderen seinesgleichen behandelt

684

Renzikowski, JRE 11 (2003), S. 269 ff., 282. Feuerbach, Lehrbuch, 14. Aufl., 1847, § 91, S. 179; Callisen, Rechts- und Sittenlehre, 1805, S. 49, über das Recht auf Leib und Leben als Urrechte. 686 Feuerbach, Lehrbuch, 1. Aufl., 1801, § 16, S. 15 687 Feuerbach, Lehrbuch, 1. Aufl., 1801, § 27, S. 23. 688 Binding, Die Entstehung, 1909, S. 35; Binding, Handbuch, 1885, S. 783; nach ihm kann doch „darüber ein Zweifel kaum sein, dass, wie das Leben sich auf Kosten des Lebens und der Freiheit, so auch die Freiheit sich auf Kosten des Lebens im einzelnen Falle unverboten erretten kann“. 689 Stammler, Darstellung, 1878, S. 63. 690 v. Ferneck, Rechtswidrigkeit, Bd. II/1, 1905, S. 119. 691 Maurach, Notstandslehre, 1935, S. 105 f. 685

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zu werden“ 692. Es war dabei bereits unklar, ob die Ehre als angeborenes oder als erworbenes Recht anzusehen sei: „der Mensch ist nicht nur allein der Ehre fähig, sondern auch jeder Mensch – nicht lediglich der Bürger, oder der freie, oder der Standesgenosse – besitzt in seinem Menschentum ein Ehrenkapital, kraft dessen er beanspruchen kann von allen anderen als ihresgleichen behandelt zu werden. Dieser eigentümliche Menschenwert bildet das Rückgrat aller Ehre im Rechtssinne. Er eignet jedem Menschen vom Tage seiner Geburt an, und insoweit erscheint die Ehre als angeborenes Gut. [. . .] Dieser angeborenen Ehre widerstreitet jede Behandlung des Menschen in Wort und Tat, als sei er ein Tier oder ein Stück lebloser Natur“ 693. Binding meinte aber, dass als Schutzobjekt der Beleidung die Ehre nur als erworbenes Gut erscheine, als „Sozialpredikat“: „Im übrigen ist die Ehre eines Jeden seiner Hände eigenstes Werk, kein angeborenes, sondern ein wol erworbenes Gut. [. . .] Was der Einzelne der Gesamtheit wert ist, also in ihr gelten muß, kann sie nur nach seinen Leistungen in ihr und für sie bemessen. Danach und danach allein bestimmt sich die individuelle Ehre, die insoweit allerding als erworbener Sozialwert bezeichnet werden darf“ 694. Einige Autoren identifizieren dagegen einen Kernbereich der Ehre als Element der Identität der Persönlichkeit: „Das kann der Fall sein beim Kampf um den von der Menschenwürde geschützten Kernbereich der Ehre“ 695. Auch Bernsmann schließlich hat hervorgehoben, die Güter, die beim entschuldigenden Notstand auf dem Spiel stehen, seien unersetzbar, die „äußere Grundausstattung des Staatsbürgers“ 696. Was bei den Ehrenstrafen vorgedacht wurde, ist hier für die Notstandsdiskussion fruchtbar zu machen. In der Diskussion über den Notstand hat schon v. Alberti in einer in Vergessenheit geratenen Passage auf jene Unterscheidung von Rechten aufmerksam gemacht, seine Gedanken sind allerdings ohne weitere Resonanz in der Literatur geblieben: „Denn es kommen als Gegenstand in Not nicht nur natürliche Rechte (Existenz!) in Betracht, welche der Staat in seinen Schutz genommen und insofern als Rechte erklärt, die er aber nicht verliehen hat, sondern auch mittelbar oder unmittelbar verliehene Rechte. Des näheren bleibt dann zwischen dem Notstand absoluter bzw. dinglicher und demjenigen persönlicher Rechte zu unterscheiden“ 697. Helmers hat jüngst in einer hochinteressanten Monographie die klassische Gegenüberstellung angeborener und er692 Esser, Die Ehrenstrafe, 1959, S. 33; über diesen „inneren“ Ehrbegriff siehe Hirsch, Ehre und Beleidigung, 1967, S. 3, S. 55 ff.; über die Ehrenstrafe siehe auch Binding, Die Ehre, 1892, S. 9 ff. 693 Binding, Die Ehre, 1892, S. 14. 694 Binding, Die Ehre, 1892, S. 15. 695 Neumann-NK, § 35, 5. Aufl., 2017, Rn. 13: auch in Fällen, wo die Normbefolgung einem „inneren Zerbrechen“ folge oder ein „gewissenkonformes Leben“ unmöglich mache; siehe schon Broglio, Der strafrechtliche Notstand, 1928, S. 14 f. 696 Bernsmann, „Entschuldigung“, S. 310. 697 v. Alberti, Gefährdung, 1903, S. 14.

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worbener Rechten aufgegriffen und anhand seiner Interpretation die Rechtsphilosophie Kants für die Diskussion über das Notstandsrecht fruchtbar gemacht, wobei anzumerken ist, dass der Autor sich nicht mit dem entschuldigenden Notstand beschäftigt hat698. Es gebe ein „angeborenes Mein und Dein“, das den Personen „von Natur zukommt“, und daraus könne man bestimmte Güter ableiten, vor allem das Leben und die körperliche Integrität699. Es gebe auch erworbene Rechte, die durch einen spezifischen „Rechtsakt“ entstanden seien. Auch diese Rechte seien in gewissem Sinne vorstaatlich, weil sie aus einer Idee des „ursprünglichen Gesamtbesitzes“ folgten700. Die angeborenen Rechte seien das „innere Mein“ der Person, was vor allem bedeute, dass diese Rechte nicht in rechtfertigendem aggressivem Notstand in Anspruch genommen werden dürften: „Schon der Personenbegriff impliziert das und schließt ein Notstandsrecht zum Zugriff auf ,angeborene‘ Güter aus“ 701. Ein Notstandsrecht gebe es nur bezüglich erworbener Güter (auf der Eingriffsseite)702. Das ist an sich richtig – ob die anspruchsvolle Annahme eines „ursprünglichen Gesamtbesitzes“ zutrifft, soll einer anderen Untersuchung vorbehalten bleiben. Nicht der Selbsterhaltungstrieb703 oder die Wirkungslosigkeit der Strafandrohung also; auch nicht die fehlende Bestrafungsnotwendigkeit, sondern die Qualität der involvierten Rechte erklärt die überall anerkannte Straflosigkeit der Handlung in existentieller Not. Diese Unterscheidung der involvierten Rechte ist in der 698 Helmers, Möglichkeit, 2016, S. 115 ff., 127 ff., 155 ff., 211 ff., 223 ff., 247 ff., 249 ff. Er versucht, die These Kants, im Lebensnotstand trete eine Art „subjektive Straflosigkeit“ ein, „konsistenter zu machen“. Diese These sei nicht widersprüchlich, „wenn man den Grund der Unstrafbarkeit des im Lebensnotstand Tötenden als Fehlen einer materiellen Strafbarkeitsvoraussetzung – und zwar der Schuld – ausweisen kann“. Das ist genau die Herausforderung der hiesigen Untersuchung. 699 Helmers, Möglichkeit, 2016, S. 114 ff. 700 Helmers, Möglichkeit, 2016, S. 115 ff., 121 ff., 125: „Privatrechte bezüglich äußerer Gegenstände werden also nicht etwa erst im Staat konstituiert, sondern durch diesen nur durch Aufstellung bestimmter öffentlicher allgemeiner Gesetze (etwa Erwerbsregeln) und Garantierung von deren Durchsetzbarkeit konkret-bestimmt und gesichert.“ In einer anderen Passage heißt es: „Sowohl ,angeborene‘, als auch erworbene Rechte werden von Kant als Vernunftbegriffe bzw. auf Prinzipien a priori beruhende vorpositve Rechte vorgestellt“ (S. 154). 701 Helmers, Möglichkeit, 2016, S. 249. 702 Helmers, Möglichkeit, 2016, S. 251 ff. 703 So Janka, Der strafrechtliche Notstand, 1878, S. 198 f.; siehe auch Zöpfl, Grundriss, 1878, § 37, S. 90 f., der aus dem Recht der Selbsterhaltung als unveräusserliches Recht die Anerkennung der Straflosigkeit des Handelns in der Notwehr und im Notstand ableitet. Einige Seiten danach führt er aus: „Man streitet darüber, ob das Handeln im Nothstand ein Recht sei, ob es also ein sog. Nothrecht gebe oder nicht. Hier ist es zu bemerken: die Berufung auf einen Nothstand bezweckt immer eine Entschuldigung, excusatio, wegen vorliegenden formell fehlerhaften That“; ähnlich auch Callisen, Rechtsund Sittenlehre, 1805, S. 55; auch v. Gros, Lehrbuch, 1805, § 40, S. 16, erkannte kein Notrecht an, der Mensch sei aber in dringender Lebensgefahr „als entbunden von dem Rechtsgesetze zu betrachten“. Hier sei nur „Natur gegen Natur“, ganz im Sinne Fichtes.

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Tat die Schlüsselstelle der Notstandsdiskussion. Die gravierenden Verbrechen sind eben diejenigen Verbrechen, die gegen die angeborenen Rechte der Person begangen werden: Mord, Totschlag, Körperverletzung, Freiheitsberaubung. Diese Rechte muss der Staat durch eine Strafandrohung schützen. Die Rechtsfolge ist ihrerseits der mindestens potenzielle – wie bei der Geldstrafe, die sich in eine Freiheitsstrafe umwandeln kann (§ 43) – Entzug eines angeborenen Rechts, nämlich der Fortbewegungsfreiheit. Beim entschuldigenden Notstand soll ein Merkmal gefunden werden, das alle Menschen innehaben, mit anderen Worten: ein generalisierbares Merkmal, das auch dem Opfer als Person zusteht. Diese Bemühung trifft den wesentlichen Punkt der Begründung des entschuldigenden Notstands: Es ist also ein Merkmal zu finden, das auch dem Opfer gegenüber Gültigkeit beansprucht. Mit anderen Worten: Ein Merkmal, das alle Personen aufweisen704. Dieses Merkmal ist im Begriff der angeborenen Rechte zu sehen, die aus der „Natur der Menschen“ folgen; sie sind „für alle Menschen gleich“ 705. Beim entschuldigenden Notstand stehen gerade die angeborenen Rechte auf dem Spiel – und zwar auf beiden Seiten: Auch auf der Eingriffsseite ist eine persönliche Betroffenheit festzustellen, sonst greift schon der rechtfertigende Notstand ein. Die Fälle also, in denen das Opfer die „Allgemeinheit“ ist – wie die berühmten Meineidsfälle –, sind in der Regel als Rechtfertigungsproblem zu behandeln. Angeborene Rechte gehen erworbenen Rechten immer vor. Wenn man die Dinge so sieht, dann klingt der für den entschuldigenden Notstand von Oetker vorgeschlagene Ausdruck „Personennotstand“ recht gut706. Der Hauptgedanke ist, dass der Täter imstande sein muss, Strafe zu vermeiden. Ich schlage in der hiesigen Untersuchung deswegen eine Verbindung des Schuldbegriffs von Roxin – Schuld als rechtswidriges Handeln trotz normativer Ansprechbarkeit – mit der Idee Grecos von Schuld als strafbezogener Unklugheit vor. Schuld wird hier verstanden als das rechtswidrige Handeln trotz strafbezogener normativer Ansprechbarkeit. In der Notwehrdogmatik sagt man oft, der Angreifer habe normativ „sich selbst getötet“. Der strafbezogene Schuldbegriff bemüht sich darum, die Bedingung zu schaffen, um behaupten zu können: „Der Täter hat sich selbst bestraft“. Damit ist das Schuldprinzip angesprochen.

704 Hufeland, Lehrsätze, 1790, § 136 f., S. 64: „Die ursprünglichen Zwangsrechte beziehen sich auf solche Verhältnisse des Menschen, die bey allen gleich sind; folglich müssen auch alle Menschen gleiche Zwangsrechte haben“; Zöpfl, Grundriss, 1878, § 37, S. 90: Recht auf Leib und Leben als „die absolute Bedingung für alles menschliche Dasein“. 705 G. Meyer, Der Staat und die erworbenen Rechte, 1895, S. 7. 706 Oetker, FG-Frank I 1930, S. 359 ff., 388; so auch Janka, der eine Gefahr „welche seine persönliche Existenz in ihrer wesentlichen Integrität bedroht“ verlangte, Janka, Der strafrechtliche Notstand, 1878, S. 215.

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4. Schuldprinzip und Lebensplan „Wir müssen versuchen zu durchschauen, was eigentlich geschieht, wenn wir einen Menschen als Rechtsbrecher behandeln. Und dies nicht in erster Linie aus einem abstrakten Erkenntnisinteresse oder eben um der Perfektion sozialer Steuerungsprozesse willen: sondern deshalb, weil wir dem von einer strafrechtlichen Sanktion Betroffenen gegenüber verantworten müssen, was wir ihm zufügen.“ Stratenwerth, Die Zukunft des strafrechtlichen Schuldprinzips, Heidelberg/Karlsruhe, 1977, S. 49.

Das Schuldprinzip wird als einer der bedeutendsten Grundpfeiler des modernen Strafrechts gefeiert707. Sein Inhalt ist aber noch immer nebulös708. Die Begründung des Schuldprinzips leidet an einer hochgradigen Unbestimmtheit. Niemand bestreitet, dass die Strafe die Schuld des Täters voraussetzt709. Das Schuldprinzip sei als eine „rechtsstaatliche Barriere“ zu verstehen710 und habe sogar Verfassungsrang711. Häufig wird auch über den Zusammenhang von Schuldgrundsatz und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz diskutiert712. Welcher Grund es ist, der diesem Prinzip eine solche Bedeutung verleiht, bleibt bis heute unklar. Die Meinungen reichen von einem „Bundesverfassungsgerichtspositivismus“ 713 (mindestens seit BVerGE 20, 331 ff.) bis hin zu einer sittlichen Fundierung des Schuldprinzips, die behauptet, Schuld und Strafe seien „sittliche Phänomene und können daher sinnvoll nur mit dem Menschen in Verbindung gebracht wer707 Siehe Roxin, ZStW 96 (1984), S. 641 ff.; Stratenwerth, Die Zukunft des strafrechtlichen Schuldprinzips, 1977, S. 5 ff.; Hirsch, ZStW 106 (1994), S. 746 ff.; Hörnle, in: FS-Tiedemann 2008, S. 325 ff.; früher schon Arthur Kaufmann, Jura 1986, S. 225 ff.; über die Diskussion um das Verhältnis des entschuldigenden Notstands zum Schuldprinzip siehe Karamagiolis, Die Struktur, 2002, S. 113 ff., der sagt, dass „die Regelung des entschuldigenden Notstands als eine Erscheinung einer pragmatischen Notwendigkeit anzusehen [ist], die den Zweck hat, die Geltung des Strafrechts zu bewahren“. 708 Siehe Frister, Schuldprinzip, 1988, S. 13 ff., 16 ff. 709 Binding, Die Entstehung, 1909, S. 50. „Und an diesem tiefen Zusammenhang zwischen der Schuld, die nach Strafe ruft, und der Strafe, die allein des Schuldigen Haupt sucht und trifft – einer Verkettung, zu der es im ganzen weiten Gebiete des sozialen Lebens nicht die entfernteste Analogie gibt! – wird auch die Zukunft ohnmächtig rütteln, sollte sie so unklug sein, der Geschichte zu spotten, und versuchen, sich von einer ihrer größten Schöpfungen zu befreien: der im Feuer der Notwendigkeit gehärteten öffentlichen Strafe!“; siehe Roxin, MschrKrim 7/8 (1973), S. 316 ff. 710 Schünemann, in: Schünemann (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 153 ff., 178; siehe auch Frisch, NStZ 2013, S. 249 ff., 250: „prinzipielle Sperre für das Institut der Strafe“. 711 Dazu ausf. Hörnle, in: FS-Tiedemann 2008, S. 325 ff.; siehe Frister, Schuldprinzip, 1988, S. 37 f.; Otto, Schuld, GA 1981, S. 481 ff. 712 Frisch, NStZ 2013, S. 249 ff.; siehe schon Arthur Kaufmann, Schuldprinzip, in: FS-Lang 1976, S. 27 ff. 713 Greco, in: Brunhöber/Höffler/Kaspar/Reinbacher/M. Vormbaum (Hrsg.), Strafrecht und Verfassung, 2014, S. 13 ff.

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den“ 714. Auch Arthur Kaufmann hat das Verwirkungsmoment aufgegriffen, hat aber diesem wichtigen liberalen Gedanken moralisierende Züge verliehen, indem er sagt „Durch die Schuld hat der Täter seinen Anspruch, als Person respektiert zu werden, teilweise verwirkt“ 715. Eine präventive Begründung des Schuldprinzips wurde von Noll vorgeschlagen. Nach dem Schuldprinzip „sollen nur solche Handlungen bestraft werden, die der Täter hätte vermeiden können, da im gegenteiligen Fall die Verbotsnorm eine präventive Wirkung gar nicht entfalten konnte“ 716. Die schwache Begründung Lagodnys in Gestalt eines „formellen“ 717, aus der Grundrechtdogmatik abgeleiteten Schuldprinzips ist Produkt einer unerfreulichen, wenig reflektierten Übertragung der Verfassungsrechtsdogmatik auf die Strafrechtsdogmatik. Er fragt sich zum Beispiel, ob § 35 StGB „verfassungsrechtlich geboten“ sei718. Die Frage sei, ob „ein Eingriff in den sozialen Achtungsanspruch durch staatlichen Vorwurf noch angemessen ist, wenn sich der Grundrechtsträger in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum befand, wenn er schuldunfähig war oder unter den Voraussetzungen des § 35 StGB gehandelt hat“ 719. Diese Frage sei durch eine Abwägung zu beantworten: „Es geht vielmehr um Fragen, die erstens nur durch Abwägung entschieden werden (welches Maß an Selbstaufgabe darf man vom einzelnen noch verlangen?), und zweitens nur durch Abwägungsgrenzen gegebenenfalls korrigiert werden können“ 720. Es überrascht deswegen nicht, dass für diesen auf generelle Abwägungen basierten Ansatz die Einordnung des entschuldigenden Notstands eigentlich gleichgültig erscheint: „Ob der Notstand nach § 35 StGB dafür dann beim ,Rücktransfer‘ in strafrechtlichen Kategorien einer von der Schuld gesonderten Kategorie des Straftatbegriffs zugeschlagen und als ,Strafausschließungsgrund‘ behandelt werden muß, kann hier nicht vertieft werden“ 721. Bei § 35 StGB bestehe eine „abwehrrechtliche Abwägungsgrenze“ 722. Diese verworrene Lage ist für die Bestimmung des Schuldbegriffs schädlich. Auch das Schuldprinzip muss neu definiert werden. Es ist zunächst einmal zu erklären, dass für die hiesige Untersuchung die Debatte um die Willensfreiheit nicht maßgeblich ist723. Vieles spricht dafür, dass die 714 Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip, 2. Aufl., 1976, S. 116; aus diesem Gedanken hat Arthur Kaufmann die Konsequenz abgeleitet, dass Schuld immer Strafe nach sich ziehen muss: „Erst aus dieser Zweiseitigkeit des Schuldprinzips, d. h. daraus, daß nicht nur die Strafe der Schuld zu entsprechen hat, sondern daß Schuld auch Strafe notwendig macht, ergibt sich sein Absolutheitscharakter“ (S. 202). 715 Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip, 2. Aufl., 1976, S. 201. 716 Noll, in: FS-Hellmuth Mayer 1965, S. 219 ff., 220. 717 Wobei die von Lagodny vorgeschlagene Abgrenzung zwischen „formellem“ und „materiellem“ Schuldprinzip unverständlich bleibt, Lagodny, Strafrecht, 1996, S. 369. 718 Lagodny, Strafrecht, 1996, S. 368 719 Lagodny, Strafrecht, 1996, S. 368. 720 Lagodny, Strafrecht, 1996, S. 381. 721 Lagodny, Strafrecht, 1996, S. 381. 722 Lagodny, Strafrecht, 1996, S. 410.

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Anzweifelung der Willensfreiheit ein „realitätsfernes Gedankenspiel“ ist: „Denn die Willensfreiheit ist kein schlichtes bio-physikalisches Faktum, sondern ein Teil der sog. gesellschaftlichen Rekonstruktion der Wirklichkeit und gehört sogar [. . .] zu einer besonders elementaren Schicht mindestens der abendländischen Kultur, deren Preisgabe nur in der Falle der Auflösung dieser Kultur insgesamt denkbar wäre“ 724. Hier wird nur eine kluge Person vorausgesetzt, die durch Gründe – zum Beispiel: von Strafankündigungen – ansprechbar ist. Dieses Menschenbild setzt der Gesetzgeber voraus, indem er generelle Normen an den Bürger adressiert. Andernfalls wäre schon die Notwendigkeit einer Strafandrohung schwer zu rechtfertigen. Bereits die Idee einer die Vermeidung zukünftiger unerwünschter Ereignisse – ex ante – bewirkenden Norm würde unverständlich bleiben. Der Kern des Schuldprinzips liegt meines Erachtens in dem Recht der Person, ein autonomes und kluges Leben zu planen, was vor allem bedeutet, dass die Person das Recht hat, ein Leben ohne Strafe zu planen. Die Idee ist, dass die Person selbst die Kontrolle über ihre eigenen vorstaatlichen angeborenen Rechte hat725. Der Umgang mit den eigenen angeborenen Rechten bildet den Kernbereich des eigenen Lebensplans. Eine staatliche Strafe als Entzug eines angeborenen Rechts ist deswegen nur legitim, wenn die Person im Voraus durch eine kluge Entscheidung diese Strafe voraussehen und vermeiden konnte, das heißt: wenn man den Beitrag der Person selbst für ihre Bestrafung findet. Hier tauchen drei Begriffe auf, die näher verdeutlicht werden müssen, nämlich der Personenbegriff, der Klugheitsbegriff und der Begriff des Lebensplans. Alle diese Begriffe werden in der philosophischen und juristischen Diskussion oft verwendet, so dass man eine Erklärung schuldet, was man darunter versteht. Der Personenbegriff wird in der philosophischen Literatur heftig diskutiert726. Hier wird, wie schon angedeutet, lediglich ein bescheidener Personenbegriff vor723 Dazu im allgemein Börner, Die Willensfreiheit, 1857; Petersen, Willensfreiheit, 1905, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits die starke Überzeugung hatte, „dass die allgemeine Anerkennung des auf fast allen Gebieten siegreich fortschreitenden Determinismus nur noch eine Frage der Zeit sei“; Danner, Gibt es einen freien Willen? 2. Aufl., 1969, S. 23 ff., 84 ff.; Hillenkamp (Hrsg.), Neue Hirnforschung – Neues Strafrecht?, 2006; Spilgies, Die Bedeutung des Determinismus-Indeterminismus-Streits, 2004; Siesel, Das Strafrecht, die Neurophysiologie und die Willensfreiheit, 2009; Ruske, Ohne Schuld und Sühne, 2011, S. 253 ff.; Würfel, Freiheit als Grundlage der Schuld, 2011; jüngst ausf. Herzberg, Willensfreiheit und Schuldvorwurf, 2010; Hörnle, Kriminalstrafe, 2013; R. Merkel, Willensfreiheit und rechtliche Schuld, 2. Aufl., 2014. 724 Schünemann, in: Schünemann (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 153 ff., 163; so auch Hirsch, ZStW 106 (1994), S. 746 ff., 764; auch Roxin, in: FS-Arthur Kaufmann 1993, S. 519 ff. 725 Über die „Kontrolle durch den Täter“ als Merkmal des Schuldprinzips siehe Hörnle, in: FS-Tiedemann 2008, S. 325 ff., 340 ff. 726 Dazu ausf. Sturma, Philosophie der Person, 2. Aufl., 2008, S. 25 ff., 44 ff.; Sturma (Hrsg.), Person, 2001; Puttalaz/Schumacher (Hrsg.), Der Mensch und die Person, 2008; Klein/Menke (Hrsg.), Der Mensch als Person, 2011; siehe auch Gehlen, Der Mensch, 13. Aufl., 1986.

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ausgesetzt727. Personen sind demnach als isolierte Wesen zu verstehen, die angeborene Rechte als ontologisches Minimum schon vor der Gesellschaft besitzen und die durch Gründe ansprechbar sind: „Der einzelne ist älter als die Gemeinschaft“ 728. Selbst vor der Gesellschaft ist es aber nicht falsch vorauszusetzen, dass die isolierten Personen Verhältnisse zu einigen wenigen nahestehen Personen haben, die auch wichtig für die eigene Identität sind. Auch Hobbes erkannte diese vor der Gesellschaft bestehenden Rechte an, einschließlich ihrer engen Grenzen: „Hobbes knows that family members have strong bonds of affection that bind them to each other. His description of the state of nature describes a world in which there are only small families or groups that view each other with fear and hostility, and this kind of world is not purely hypothetical“ 729. In der Tradition des Naturrechts erkannte man dies als „Zwangsrecht für Freunde“ an: „Wenn die Vollkommenheit anderer zugleich einen Theil meiner eignen Vollkommenheit ausmacht; so erhalte ich dadurch noch ein grosses Zwangsrecht“ 730. Diese vorstaatlichen angeborenen Rechte sind die Merkmale, die alle Personen auf die gleiche Stufe stellen, ein gemeinsames anthropologisches Fundament, das jede Rechtsordnung respektieren muss. Deswegen ist es überzeugend zu behaupten, dass das Opfer in einem schwachen Sinne die Notlage des Täters „verstehen“ kann: Denn die involvierten Rechte haben alle Personen inne, und es geht nicht nur um eine subjektive Erfahrung eines konkreten Täters731. So wird eine minimale Begründung auch dem Opfer gegenüber geleistet, warum es den Schutz der Sanktionsnorm verliert.

727 Kersting, Verteidigung des Liberalismus, 2. Aufl., 2010, S. 35: „Jede politische Philosophie hat eine politische Anthropologie zur Grundlage. Daher ist es nicht überraschend, dass im Zentrum aller Kontroversen in der politischen Philosophie immer eine Auseinandersetzung um das richtige Menschenbild, das richtige Personenkonzept liegt. Man muss wissen, wer und was der Mensch ist, um erkennen zu können, welche Ordnung, welche Politik für ihn bekömmlich ist“; siehe auch Helmers, Möglichkeit, 2016, S. 211 ff. 728 Dix, Lebensgefährdung, 1994, S. 5; siehe den Sammelband Härle/Vogel (Hrsg.), „Vom Rechte, das mit uns geboren ist“, 2007; siehe auch Kipp, Mensch, Recht und Staat, 1947, S. 17 ff. sowie Greco, Strafprozesstheorie, 2015, S. 657; ebenso Helmers, Möglichkeit, 2016, S. 247: „Das heißt, der Staat in der Idee (wie er sein soll) generiert nicht originär Rechtsbeziehungen zwischen den Menschen, sondern setzt bestehende (vorstaatlich bzw. abstrahiert vom Staat zu denkende) Rechtsverhältnisse durch.“ 729 Gert, Hobbes, 2010, S. 112; siehe auch Böhme, Politische Rechte, 1993. 730 Hufeland, Lehrsätze, 1790, § 148, S. 69. 731 In der politischen Philosophie wird diskutiert, ob man auch für die eigenen natürlichen Eigenschaften (zum Beispiel: Talent und andere Begabungen) „verantwortlich“ gemacht werden kann oder ob diese Eigenschaften irgendwie kompensiert werden müssen: Kersting, Verteidigung des Liberalismus, 2. Aufl., 2010, S. 120 ff.; Rawls, A theory of justice, 1999, S. 383 f.; Nozick, Anarchy, 1974, S. 213 ff.; Fried, An Anatomy of Values, 1970, S. 201 ff., S. 205 ff., der sagt, einige Eigenschaften „are so closely related to a conception of one’s self, that to make them available for trading-off in a scheme of morality would be, as it were, to gain the world and lose one’s own soul“.

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Diese Behauptung ist selbstverständlich nicht unumstritten. Viele Autoren sind der Meinung, es gebe keine Rechte vor der Vergesellschaftung. Bei Kersting ist der Personenbegriff ein Derivat der Verstaatlichung, innerhalb derer die Individuen die Möglichkeit erlangen, „Person zu werden und ein Leben zu leben“ 732. Er sagt: „Erst der Staat erlaubt es uns, Person zu sein; das ist die personentheoretische Pointe des Friedens. Und er erlaubt es uns, weil wir Zukunft haben“ 733. Auch Jakobs sieht die Dinge anders. Er spricht von Individuen, die neben anderen eigene Präferenzzentren darstellten. Diese isoliert betrachteten Individuen regelten ihr eigenes Leben nach dem Schema Lust oder Unlust734. Die Person, die pflichtbezogen handeln soll, entstehe erst innerhalb einer verfassten Gruppe und sei imstande, „sich gegenüber anderen wegen der eigenen Wichtigkeit für das Ganze hervorzutun“ 735. Person ist in diesem Kontext ein normativer Begriff, eine echte Zuschreibung: „Die Person wird, wie schon angedeutet wurde, durch ihr Verhältnis zu anderen Personen, also durch ihre Rolle, bestimmt. Eine einzige Person ist ein Widerspruch in sich; Personen gibt es nur in einer – erst jetzt ist der Begriff im normativen Sinn angebracht – Gesellschaft“ 736. Auch der Leib sei Produkt einer Zuordnung: „Das heißt nicht, die Person sei mit einem Leib von Natur aus verbunden; denn es geht nicht um Naturwüchsigkeit, sondern um Zuordnung, und zwar nicht erst bei der Person, sondern schon beim Individuum“ 737. Dieser Ansatz zeigt aber seine Unhaltbarkeit spätestens bei der Frage der „Entpersonalisierung“ oder, noch spezifischer, bei den Grenzen des rechtfertigenden Notstands. Denn hier würden die Pflichten der Bürger als „Repräsentanten der Allgemeinheit“ nicht grenzenlos gelten: Das zufällig betroffene Opfer „erleidet nur einen passageren oder doch sehr klein bleibenden Nachteil und wird deshalb in seinem Dasein in der Gruppe nicht erschüttert“ 738. Aber: Wenn alle Rechte und Pflichten, wie Jakobs sagt, nur innerhalb der Gruppe einen Sinn haben, wieso kennen dann selbige Pflichten Grenzen, die außerhalb der Gesellschaft liegen? Wieso ist von einem „Dasein“ der Person die Rede? Die Grenzen der Entpersonalisierung oder, konkreter, des rechtfertigenden Notstands beweisen, dass es eine „Personalität“ – die Bezeichnung ist hier zweitrangig – vor der Ge732

Kersting, Verteidigung des Liberalismus, 2. Aufl., 2010, S. 55. Kersting, Verteidigung des Liberalismus, 2. Aufl., 2010, S. 55. 734 Jakobs, Norm, 3. Aufl., 2008, S. 33; zuletzt in Jakobs, Strafrechtswissenschaftliche Beiträge, 2017, S. XIV: „Gesellschaftlichkeit, Subjektivität und gesicherte Anerkennung als Rechtsperson sind gleichursprünglich.“ 735 Jakobs, Norm, 3. Aufl., 2008, S. 37. 736 Jakobs, Norm, 3. Aufl., 2008, S. 37, 119: „Setzt man allein bei den Bedürfnissen der Individuen an, so gelangt man nie zur Person, beharrt vielmehr bei den Kalkulationen innerhalb des Schemas von Lust und Unlust. Eine Person entsteht erst, wenn das Bedürfnis der Gruppe als Sollen auf den einzelnen übertragen und er damit als notwendiges Element der Gruppe definiert wird – wegen dieser seiner Notwendigkeit erhält er auch die Rechte, die er braucht, um seinen Pflichten genügen zu können.“ 737 Jakobs, Norm, 3. Aufl., 2008, S. 42. 738 Jakobs, Norm, 3. Aufl., 2008, S. 85. 733

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sellschaft gibt, die diese vor allem durch die Rechtsordnung respektieren soll; andernfalls behandelte man den Täter als bloße „Verfügungsmasse“ 739. Entpersonalisierung kann nur bedeuten: einer unschuldigen Person ihr Wesen – ihre angeborenen Rechte! – im Namen der Allgemeinheit zu entziehen. Nicht von ungefähr charakterisiert Jakobs die Zumutbarkeit der Normbefolgung als Konflikt zwischen den Bedürfnissen der Allgemeinheit oder der Gruppe und den Bedürfnissen der Individuen740. Das kann nur bedeuten, dass diese Bedürfnisse vor oder außerhalb der Gesellschaft bestehen. Die Betrachtung der Person als Träger angeborener Rechte ist das ontologische Minimum jeglicher Rechtsordnung. Hier war zugleich von einer klugen Person die Rede, die ein Leben ohne Strafe planen darf (nicht muss). Diese Konstruktion setzt damit einen Begriff der Klugheit voraus. Auch dieser Begriff hat eine lange Tradition. Schon zu Beginn der Neuzeit wurde der Klugheitsbegriff nicht mehr tugendethisch gefärbt verstanden – so wie es bei Aristoteles der Fall war741 –, sondern eher als ein auf die Lösung von Handlungsproblemen gerichteter Begriff, im Sinne einer Lebensführungskompetenz: „Das Leben verwandelt sich in eine Abfolge von Handlungen, die in einer Welt der Kontingenz mit dem Mißerfolgsschicksal bedroht sind. Klugheit nimmt vor diesem Hintergrund die Gestalt einer providentiellen, interessendienlichen Kontingenzbewältigungstechnik an“ 742. Eigentlich kann man hier mit einer sehr bescheidenen Definition operieren: Die ernsthafte Erwartung, dass sich an eine bestimmte Handlung notwendigerweise eine schlechte Folge anschließt, ist für einen klugen Menschen ein Grund, der sein Verhalten beeinflussen kann743. Denn Menschen besitzen die Fähigkeit, langfristige Pläne zu machen, und zugleich die „Vorstellung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und verfügen über eine providentielle, in die Zukunft hineingelangende Vernunft“ 744. 739

Jakobs, Norm, 3. Aufl., 2008, S. 84: „Auch die Gruppe muss sich auf Personalität ausrichten, also die Person wirklich als Trägerin von Rechten und Pflichten behandeln, eben nicht nur als Verfügungmasse.“ 740 Jakobs, Norm, 3. Aufl., 2008, S. 107. 741 Dazu siehe Marten, in: Kersting (Hrsg.), Klugheit, 2005, S. 155: „Der Kluge [. . .] ist nach Aristoteles nicht klug, weil er klug handelt, sondern er handelt klug, weil er klug ist“; auch Höffe, in: Kersting (Hrsg.), Klugheit, 2005, S. 301 ff. 742 Kersting, in: Kersting (Hrsg.), Klugheit, 2005, S. 7; siehe Koller, in: Kersting (Hrsg.), Klugheit, 2005, S. 271: „Klugheit besteht demnach in der Devise, bei unseren Handlungsentscheidungen jeweils unser vernünftiges, das heißt wohlerwogenes und langfristiges Selbstinteresse zu bedenken und unser Handeln nach Möglichkeit darauf auszurichten, worin dieses Selbstinteresse auch immer liegen mag.“ 743 So Greco, Lebendiges, 2009, S. 369, 491 ff.; zum Begriff der „prudence“ siehe Larmore, The autonomy of morality, 2008, S. 268 ff.; zur Diskussion um die praktische Rationalität siehe Gosepath (Hrsg.), Motive, Gründe, Zwecke, 1999; Gosepath, Aufgeklärtes Eigeninteresse, 1992, S. 209 ff. 744 So Kersting, in: Kersting (Hrsg.), Klugheit, 2005, S. 10, der den Ausdruck „praktische Ontologie unserer Selbstsorge“ erfunden hat; so auch Kersting, Verteidigung des Liberalismus, 2. Aufl., 2010, S. 27 f.; siehe Nozick, Anarchy, 1974, S. 49 f., über das „long-term planning“, „the overall conception of life and picture of one’s whole life“;

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Diese Zukunftsorientierung des Klugheitsbegriffs scheint unbestritten zu sein745. Die Lebensführung ist schließlich „temporal formiert“ 746. Auch bei Hobbes ist zu lesen: „As Prudence is a Praesumtion of the Future, contracted from the Experience of time Past: So there is a Praesumtion of things Past taken from other things (not future but) past also“ 747. In einer weiteren Passage heißt es: „When the thoughts of a man, that has a designe in hand, running over a multitude of things, observes how they conduce to that designe; or what designe they may conduce unto; if his observations be such as are not easie, or usuall, This wit of his is called Prudence“ 748. Diesen Klugheitsbegriff muss man mit der Hobbes’schen Idee der Rationalität als der Suche nach den individuellen Interessen (vor allem den Selbsterhaltungsinteressen) in Verbindung setzten749. Der Bürger darf ein Egoist sein. Es kann gut sein, dass er sich „den Regeln nicht beugt“, sondern diese „instrumentalisiert und nur solange beachtet, wie sie heilsam und nützlich sind“ 750. Wenn aber der Egoist die Regel bricht, dann tritt Strafe als

Fried, An Anatomy of Values, 1970, S. 157: „Life plans must deploy ends in time“; so auch Pawlik, Eine Theorie, JRE 11 (2003), S. 287 ff., 302: „Lebensentwürfe pflegen über die jeweilige Gegenwart ihrer Schöpfer hinauszuweisen. Ihre biographische Funktion besteht darin, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander zu verknüpfen“; siehe auch Nagel, in: Gosepath (Hrsg.), Motive, Gründe, Zwecke, 1999, S. 146 ff., 156 ff. 745 Über die Klugheit bei Adam Smith siehe Chwaszcza, in: Kersting (Hrsg.), Klugheit, 2005, S. 80: „Klugheit als Gegenwarttranszendierung, die die Voraussicht auf das zukünftige Wohlergehen erfordert“; Koller, in: Kersting (Hrsg.), Klugheit, 2005, S. 271, über das Bewusstsein menschlicher „zeitlicher Kontinuität“; Sturma, in: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hrsg.), Zeiterfahrung und Personalität, 1992, S. 123 ff., 135: „Die Gegenwart des personalen Lebens ist Kreuzung und Fluchtpunkt von Vergangenheit und Zukunft einer Person.“ 746 Sturma, in: Kersting (Hrsg.), Klugheit, 2005, S. 190: „Personen leben in einer Welt, in der alle Ereignisse aufeinander folgen oder gleichzeitig stattfinden, und auf dieses Universum von Einzeldingen und Ereignissen, das durch die Relationen ,vorher‘, ,gleichzeitig‘ und ,nachher‘ geordnet ist, beziehen sie sich mit Zeitverhältnissen, die der menschlichen Lebensform eigentümlich sind“; Mertens, in: Kersting (Hrsg.), Klugheit, 2005, S. 215 f.: „Hinsichtlich ihrer zeitlichen Struktur zeichnen sich kluge Handlungen vor allem durch ihre vorausschauende Sorge um eine wünschenswerte Zukunft aus. [. . .] Dementsprechend bestimmt die Zukunftsperspektive die dominante Ausrichtung eines Handelns, das wir als klug bezeichnen“; siehe auch Kersting, Verteidigung des Liberalismus, 2. Aufl., 2010, S. 35 ff., 55, nach dem das Personenverständnis „auf einen starken Identitätssinn und zeitliche Einheitstrukturen nicht verzichten kann“. 747 Hobbes, Leviathan, Kap. III, S. 23. 748 Hobbes, Leviathan, Kap. VIII, S. 52; siehe auch Dix, Lebensgefährdung, 1994, S. 4 ff. 749 Kersting, in: Kersting (Hrsg.), Klugheit, 2005, S. 8; auch Sturma, in: Kersting (Hrsg.), Klugheit, 2005, S. 182: „Der neuzeitliche Begriff der Klugheit ist eng mit dem des Selbstinteresses verbunden“; dazu Hegselmann, in: Hegselmann/Kliemt (Hrsg.), Moral und Interesse, 1997, S. 23 ff. 750 Kersting, in: Kersting (Hrsg.), Klugheit, 2005, S. 21; siehe auch Schüßler, Hobbes und der Egoismus, in: Hegselmann/Kliemt (Hrsg.), Moral und Interesse, 1997, S. 183 ff.

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Reaktion ein. In der strafrechtlichen Diskussion hat Hörnle diesen Gedanken fruchtbar gemacht. Sie nennt dies die normative Kompetenz des Bürgers: „Dazu gehört zum einen die Fähigkeit, die Berechtigung von Ansprüchen anderer Personen auf Unterlassen des Eindringens in ihre Freiheitssphäre zu verstehen oder aber jedenfalls die Klugheitsregeln zu erfassen, die wegen der sonst zu erwartenden Sanktionen ein Unterlassen gebieten“ 751. Wenn die Personen Klugheitsregeln erfassen können und zukunftsorientiert handeln, dann leuchtet es ein, zu sagen, dass der Kern des Schuldprinzips in dem Recht liegt, ein Leben ohne Strafe zu planen. Klugheitserwägungen dienen letztendlich ja der Wahl eines vernünftigen Lebensplans752, und deswegen richtet der Staat an den Bürger Normen, die strukturell zukunftsbezogen sind. Einer klugen Person wird in einem liberalen Staat ein autonomer Lebensplan ermöglicht753. Man hat das Recht, den „Entwurf eines einigermaßen sorgenfreien Lebens“ zu organisieren754. Dieser Begriff wird in der philosophischen Diskussion oft verwendet. So sagt Sturma: „Für den internen Zusammenhang von Selbstverständnis und zeitlicher Verlaufsform der eigenen Existenz ist in der neueren Philosophie der Begriff des Lebensplans geprägt worden. [. . .] Der Lebensplan ist vielmehr die selbstreferentielle Vereinheitlichungsperspektive von Wertungen und Handlungen über die Zeit hinweg“ 755. Der Lebensplan wird aber manchmal durch den Zufall umformuliert, was der Philosoph Larmore als die „vulnerability of our plans“ bezeichnet756: „Handlungsentscheidungen sollten so wenig wie möglich von Bedingungen abhängig gemacht werden, die prinzipiell nicht zu beherrschen sind“ 757. Nun ist es so, dass die staatliche Strafe kein Zufall sein darf 758. Die „epistemischen Unsicherheiten“ sind unvermeidbar, man sollte mindestens „unvernünftige Handlungen“ vermeiden759. Die Formulierung des eigenen Lebensplans enthält die Pflicht, einen respektvollen Umgang mit den Lebensplänen der anderen zu pflegen: „Wer sich und andere ernst nimmt, kann

751

Hörnle, Kriminalstrafe, 2013, S. 71. Koller, in: Kersting (Hrsg.), Klugheit, 2005, S. 279. 753 Über diesen Begriff ausf. Greco, Lebendiges, 2009, S. 491 ff.; siehe auch Fried, An Anatomy of Values, 1970, S. 97 ff.; siehe Rawls, A theory of justice, 1999, S. 123 ff.; Sturma, Philosophie der Person, 2. Aufl., 2008, S. 287 ff. 754 T. Zimmermann, Rettungstötungen, 2009, S. 235; über Lebensplan und Lebensgestaltung als Teil des Personenbegriffs spricht schon Lampe, Das personale Unrecht, 1967, S. 115 ff. 755 Sturma, in: Kersting (Hrsg.), Klugheit, 2005, S. 195. 756 Larmore, The autonomy of morality, 2008, S. 246 ff.; auch Fried, An Anatomy of Values, 1970, S. 162 ff. 757 Sturma, in: Kersting (Hrsg.), Klugheit, 2005, S. 196. 758 Greco, Lebendiges, 2009, S. 492. 759 Sturma, in: Kersting (Hrsg.), Klugheit, 2005, S. 196; siehe Fried, An Anatomy of Values, 1970, S. 155 ff., zur Bedeutung der Sterblichkeit bei der Formulierung des Lebensplans. 752

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weder mit sich noch mit anderen beliebig verfahren und wird nach Gründen für seine Verhaltensweisen suchen“ 760. Viele Entscheidungen erfolgen freilich unter Unsicherheiten und es kann auch passieren, dass sich die eigenen Präferenzen wandeln761. Für die strafrechtliche Diskussion interessiert vor allem, inwieweit die staatliche Strafe in das Kalkül einer klugen Person Eingang findet. Denn: „Der Kluge bedenkt nicht nur die intendierten Wirkungen seines Tuns und mißt diese an den Maßstäben, denen sein Handeln genügen soll. Er erwägt darüber hinaus auch die Folgen und Geschehnisse, die nicht in der unmittelbaren Absicht seines Handelns liegen, vor allem die, die die Verwirklichung des Handlungsziels gefährden können“ 762. Die Antwort leuchtet ein: Strafe ist Entzug angeborener Rechte. Der Verlust der angeborenen Rechte vernichtet oder erschwert in erheblicher Weise die Umsetzung eines Lebensplans: „Die Gefahr des Verlusts fundamentaler Rechtsgüter – zuvörderst des Lebens – bedeutet in dieser Perspektive, daß dem Betroffenen die Chance zu einer eigenen Zukunft abgeschnitten und sein Lebensentwurf damit zu einem Fragment zu werden droht“ 763. Denn dieser Verlust ist per definitionem irreversibel und nicht wiedergutzumachen. Ein Aspekt muss noch erwähnt werden. Die kluge Person handelt zukunftsorientiert, und deswegen kann das Recht an sie Normen richten. Die Person hat aber auch eine Vergangenheit, eine Biographie. Einige Handlungen der Person sind für ihren Lebensplan konstitutiv. Ebenfalls zur Biographie gehören einige vorherige, vor der Notlage bestehende, nähere Verhältnisse764. In der philosophischen Diskussion hat man den Begriff der „späteren Person“ entwickelt: „Die spätere Person ist der Standpunkt, den die Erlebnisperspektive der Gegenwart in der Zukunft einnehmen wird. In ihr ist dann die Lebensgeschichte der Person bis zu dem betreffenden Zeitpunkt eingeschrieben“ 765. Es wird zwischen drei Perspektiven unterschieden: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft766. Die Vergangenheit sei relevant, „insofern sie die Spielräume möglichen gegenwärtigen und

760 Sturma, in: Kersting (Hrsg.), Klugheit, 2005, S. 197; auch Mertens, in: Kersting (Hrsg.), Klugheit, 2005, S. 227, 235: „Die Sorge des Klugen betrifft ebenso den eigenen langfristigen Nutzen wie die verantwortliche Rücksicht auf andere.“ 761 Koller, in: Kersting (Hrsg.), Klugheit, 2005, S. 279. 762 Mertens, in: Kersting (Hrsg.), Klugheit, 2005, S. 220; Fried, An Anatomy of Values, 1970, S. 99, 155 ff. 763 Pawlik, JRE 11 (2003), S. 287 ff., 302. 764 Siehe Fried, An Anatomy of Values, 1970, S. 227: „But surely it would be absurd to insist that if a man could, at no risk or cost to himself, save one of two persons in equal peril, and one of those in peril was, say, his wife, he must treat both equally, perhaps by flipping a coin.“ Der Grund hierfür ist die Selbstbetroffenheit der Person. 765 Sturma, in: Kersting (Hrsg.), Klugheit, 2005, S. 197; siehe auch Fried, An Anatomy of Values, 1970, S. 160: „This analysis of identity over time also permits some conclusions about the senses in which a person may rationally be committed or constrained in his choices by his past self.“ 766 Mertens, in: Kersting (Hrsg.), Klugheit, 2005, S. 215 ff.

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künftigen Handelns mitbestimmt. Handlungssituationen tauchen in der Regel nicht aus dem Nichts auf, sondern zeichnen sich häufig schon in der Vergangenheit auf [. . .] Wer klug handelt, handelt als Person. Denn die Einheit der Person beruht erstens darauf, daß konkrete Handlungen im Horizont einer transsituativen, personalen Identität verschaffenden Orientierung vollzogen werden. In zeitlicher Hinsicht erfordert dies zweitens die Integration der gegenwärtigen Praxis in eine personale Bildungsgeschichte, die auf den Gesamtentwurf eines gelingenden Lebens ausgerichtet ist. [. . .] Dabei orientiert sich die gegenwärtige Praxis des Klugen an einer mit dem in der Vergangenheit ausgebildeten Lebensentwurf zusammenstimmenden wünschenswerten Zukunft“ 767. Jede Person hat das Recht, ein sorgenfreies Leben zu organisieren768. Eine wesentliche Umformulierung des Lebensplans anderer ist deswegen stets rechtswidrig. Die Kehrseite davon ist die Verantwortlichkeit für die wichtigen vergangenen freiheitseinschränkenden oder -erweiternden Entscheidungen, die auch in existentieller Not weitergelten müssen. Hier hat der Täter dem „Zufall“ gewissermaßen auf die Sprünge geholfen. Deswegen sind einige vorherige Entscheidungen der Person auch im existentiellen Notstand mit zu berücksichtigen. Zusammenfassend lässt sich sagen: Der Kern des Schuldprinzips liegt im Recht der klugen Person, ein Leben ohne Strafe zu planen. Die Schuld des Täters ist dann zu bejahen, wenn er die Strafe vermeiden konnte, wenn er also trotz strafbezogener normativer Ansprechbarkeit rechtswidrig gehandelt hat. Es bleibt also zu klären, ob der in den entschuldigenden Notstand geratene Täter Strafe vermeiden kann. 5. Die ratio des entschuldigenden Notstands Strafe setzt Schuld voraus. Strafe ist der „Entzug“ angeborener Rechte. Schuld ist die Begehung einer rechtswidrigen Tat trotz der strafbezogenen normativen Ansprechbarkeit – aufgrund derer der Täter ein angeborenes Recht verliert. Wenn der Täter die rechtswidrige Tat will, will er also notwendigerweise die Möglichkeit der damit verknüpften Strafe. Schuld ist also als Vermeidbarkeit – impliziert wird die Kontrollmöglichkeit des Täters – der Strafe als staatlicher Reaktion zu definieren. Jeder Lebensplan wird durch die Strafe einigermaßen zerstört. Der Kern des Schuldprinzips liegt also in dem Recht der Person, ein Leben ohne Strafe zu planen. 767

Mertens, in: Kersting (Hrsg.), Klugheit, 2005, S. 235. Renzikowski, JRE 11 (2003), S. 269 ff., 282: „Ansonsten wird die Existenz des Betroffenen als freies Wesen in der Rechtsgemeinschaft (Fichte) auch unter der Prämisse der prinzipiellen Selbstzuständigkeit für Schäden (,casum sentit dominus‘) nicht infrage gestellt“; siehe Fried, An Anatomy of Values, 1970, S. 196: „In all these situations we must consider not only the last moment of choice but the context, the history of circumstances, since these might create an obligation to act in certain way and may determine what the obligation is.“ 768

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So weit, so gut. Man vergegenwärtige sich aber das oben vorgeschlagene Gedankenexperiment: Denken wir den entschuldigenden Notstand hinweg und nehmen wir an, eine Person sei in Lebensgefahr geraten. Wenn wir phänomenologisch die existentielle Notlage näher betrachten, bemerken wir, dass dieselben angeborenen Rechte auf dem Spiel stehen, die durch die Strafe als Reaktion dem Täter entzogen werden: Leben, Leib und Freiheit. Mit anderen Worten: wenn der Staat den Täter für die Handlung in existentieller Not bestraft, belässt er dem Täter keine gangbare Alternative: Entweder verliert der Täter beim Kampf gegen das Opfer ein angeborenes Recht oder – wenn er den Kampf gewinnt und seine Rechte gewahrt bleiben – er verliert ein angeborenes Recht durch die später zu verhängende staatliche Strafe als Reaktion auf sein rechtswidriges Verhalten. Sein Lebensplan wird so oder so existentiell betroffen werden. Eine kluge Entscheidung, die seine angeborenen Rechte nicht antastet, ist in diesen existentiellen Notlagen nicht ersichtlich. Er kann die Strafe nicht vermeiden. Er ist von der Sanktionsnorm, verstanden als Appell an seine Klugheit, nicht normativ ansprechbar. Nicht nur die existentielle Notlage, sondern auch die später zu verhängende Strafe würde den Täter wie ein zufälliger Schicksalsschlag treffen. Hier besteht eindeutig ein wesentlicher Unterschied zwischen dem jeweiligen Verlust der angeborenen Rechte. Denn anders als bei der Strafverhängung beruht der Verlust eines angeborenen Rechts in der existentiellen Notlage nicht auf einem Handeln des Staates und erfolgt auch nicht als Reaktion auf ein rechtswidriges Verhalten. Es ist aber so, dass der Staat, wenn er die Notstandshandlung mit Strafe bedroht, dem Täter indirekt den Verlust des angeborenen Rechts in der Notlage zumutet, sich an dem Entzug des Rechts sozusagen beteiligt. Das ist der Grund, weshalb der Staat den entschuldigenden Notstand nicht bestrafen darf: Tut er dies, verletzt er das Schuldprinzip als das Recht, ein Leben ohne Strafe zu planen. Der Täter hat im Notstand keine Kontrolle über die eigenen angeborenen Rechte, die die Grundlage einer autonomen Lebensführung darstellen. Ein Leben ohne Strafe kann er nicht planen. Dieser Gedanke ist so tief verankert, dass ungeachtet der Staatsform ein Konsens über die Straflosigkeit des existentiellen Notstands zu beobachten ist. Dieser Konsens überrascht jedoch nicht, wenn man annimmt, dass hier eben die Rechte, die unabhängig vom Staat allen Personen zustehen, auf dem Spiel stehen. Die entschuldigende Notstandslage ist dadurch charakterisiert, dass der Täter die Strafe nur vermeiden kann, indem er ein angeborenes Recht verliert. Strafe ist ihrerseits auch ein „Entzug“ eines angeborenen Rechts. Der Täter kann also die Strafe nicht vermeiden. Er handelt somit ohne Schuld. Exkurs: Schuld und Prävention? Der übergesetzliche entschuldigende Notstand Die oben dargestellte Situation des entschuldigenden Notstands gehört zum Kern des Schuldbegriffs. Die Rechtsordnung darf diesen Kern auf keinen Fall

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verkennen: Gäbe es § 35 nicht, wäre die positivrechtliche Lage wegen einer Verletzung des Schuldprinzips als illegitim zu betrachten. Allerdings darf die Rechtsordnung die Fälle strafloser rechtswidriger Handlungen anhand anerkannter rechtlicher Kriterien expandieren769. Der Staat kann zum Beispiel durchaus etwas Strafe nennen, was strukturell keine Strafe im hier vertretenen Sinne ist770. Wenn er so verfährt, dann sind aber die höheren Legitimationsvoraussetzungen der Verbrechenslehre auch dort anzuwenden – denn sonst würde der Strafbegriff banalisiert. Eine Erweiterung des Strafbegriffs sowie der Grenzen des entschuldigenden Notstands ist also prinzipiell möglich. Eine solche Erweiterung ist aber keinesfalls zwingend und sollte auch nicht schrankenlos erfolgen. Hierfür sind präventive Gesichtspunkte maßgeblich771. Dies ist die Domäne des von Roxin entwickelten Verantwortlichkeitsbegriffs772. Er hat Recht, wenn er meint, auf andere Fälle der Unzumutbarkeit „kann das Schuldprinzip keine Antwort geben“ 773. Der Kern des Schuldprinzips ist in der Notstandssituation außerhalb des § 35 in der Tat nicht unmittelbar betroffen: Die Person zum Beispiel, die in einer Situation ohne Gefahr für sich selbst vor der Wahl des kleineren Übels steht, darf an einem Lebensplan ohne Strafe festhalten, indem sie nichts tut, vorausgesetzt, es liegt keine Garantenstellung vor. Die Frage ist, ob eine Bestrafung dieses Täters in einer solchen seltenen Situation notwendig oder zweckmäßig ist. Der Weg zu einer Straflosigkeit ist hier in der Annahme eines übergesetzlichen entschuldigenden Notstands zu erblicken. Der sogenannte übergesetzliche entschuldigende Notstand wirft bis heute viele schwierige Fragen auf. Ein allgemeiner Entschuldigungsgrund der „Unzumutbarkeit“ – wie ihn Freudenthal bekanntlich im Zuge der Euphorie für den normativen Schuldbegriffs vorgeschlagen hat – wird in der Regel abgelehnt774. Die herrschende Meinung bejaht jedoch in einigen begrenzten Fällen die Möglichkeit einer übergesetzlichen Entschuldigung des Täters. 769 Diese Expansion muss selbstverständlich von überzeugenden rechtlichen Argumenten unterstützt werden. So Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl., § 22, Rn. 145: „Das schließt jedoch nicht die Möglichkeit aus, bei scharf umrissenen Fallgruppen in behutsamer Fortentwicklung des geschriebenen Rechts einen Verantwortungsausschluss dort anzunehmen, wo die aus dem geltenden Gesetz zu gewinnenden Wertmaßstäbe das Fehlen eines präventiven Strafbedürfnisses mit Sicherheit erkennen lassen“; so auch Kühl, Strafrecht AT, 8. Aufl., § 12, Rn. 12. 770 Greco, Strafprozesstheorie, 2015, S. 661 ff., 671: „Zuletzt darf der Gesetzgeber alles zu einer Strafe erklären, was er als Strafe behandelt sehen und dem er schuldtilgende Wirkung beimessen will“. Greco bezeichnet diese Strafe als „Strafe im künstlichen Sinne“. 771 So auch Willenmann, Freiheitsdistribution, 2014, S. 448. 772 Für diesen Begriff auch Jäger, Strafrecht, AT, 8. Aufl., § 5, Rn. 190, S. 176 f. 773 Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl., § 22, Rn. 143, 144: „Das ist nicht eine Frage der Schuld, sondern der Verantwortlichkeit.“ Auch der Notwehrexzess gehört zum Verantwortlichkeitsbegriff. 774 Früher war die Diskussion über den übergesetzlichen Notstand eine Diskussion über den rechtfertigenden Notstand, der damals gesetzlich nicht vorgesehen war. Siehe Eb. Schmidt, Das Reichsgericht und der „übergesetzliche Notstand“, 1929, S. 350 ff.;

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In diesem Kontext könnte man mindestens an zwei Konstellationen denken, für die eine einheitliche Lösung sehr schwer zu finden ist775: die Fälle einer Gefahrgemeinschaft, bei der „ohnehin verlorene Menschen“ 776 verletzt oder getötet werden, um einige zu retten – und dabei abzuwenden, dass alle sterben777; und die Fälle, in denen ursprünglich Ungefährdete verletzt oder getötet werden, um eine große Zahl von Menschen zu retten, die Fälle also der Wahl des kleineren Übels778. Beim erstem Fall herrscht weitgehend Einigkeit über die Straflosigkeit des Täters779. Der maßgebliche Gesichtspunkt wird in der Tatsache gesehen, dass Grünhut, ZStW 51 (1931), S. 455 ff.; Marx, Grundprinzipien, 1933; die Ablehnung der Unzumutbarkeit als allgemeinem Entschuldigungsgrund wurde in der Regel mit kollektivistischen Argumenten untermauert, vor allem mit dem Argument, dass sonst die Gültigkeit der Normen des Rechts in Frage gestellt würde (dazu siehe Schaffstein, Die Nichtzumutbarkeit, 1933, S. 41 ff., 79). Man könnte auch argumentieren, dass eine Rücknahme der Sanktionsnorm für Fälle, in denen die Person nicht selbst betroffen ist, dem unschuldigen Opfer gegenüber nicht zu begründen wäre. 775 Dazu Küper, JuS 1981, S. 786 ff.; siehe die interessante Studie von Hilgendorf, in: Blaschke/Förster/Lumpp/Schmidt, Sicherheit statt Freiheit?, 2005, S. 107 ff., 132: „Tragische Extremsituationen juristisch zu durchdenken ist klug; der Versuchung zu widerstehen, sie rechtlich zu regeln, ist weise“; siehe auch Eb. Schmidt, SJZ 1949, S. 559 ff., 570: „Das Leben ist nun einmal erfinderischer als die Kunst der Menschen, Rechtssätze auszudenken.“ 776 Schon R. Merkel, Kollision, 1895, S. 47 f., wo, wenn ich richtige sehe, das Beispiel des Seils erstmals erwähnt wurde; siehe dazu auch Broglio, Der strafrechtliche Notstand, 1928, S. 20 f.; Hilgendorf, in: Blaschke/Förster/Lumpp/Schmidt, Sicherheit statt Freiheit?, 2005, S. 107 ff., 118 ff.; siehe Coninx, Solidaritätspflicht, 2012, S. 3 ff. 777 So in Fällen von Euthanasieärzten; dazu Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl., § 22, Rn. 147 f.; siehe OGHSt 1, 321; 2, 117, wo ein Strafausschließungsgrund angenommen wurde; dagegen siehe Welzel, MDR 1949, S. 373 ff.; Welzel, ZStW 63 (1951), S. 47 ff., 55: Strafausschließungsgrund als „gefährliche Halbheit“; Eb. Schmidt, SJZ 1949, S. 559 ff.; dafür siehe Peters, JR 1949, S. 496 ff.; dazu eingehend Bockelmann, ZStW 63 (1951), S. 13 ff.; siehe auch BGH NJW 1953, 513 ff.; Jäger, Verbrechen unter totalitärer Herrschaft, 1982, S. 81 ff.; Koch, JA 2005, S. 745 ff., 748 ff. 778 Dazu Hörnle, in: FS-Herzberg 2008, S. 555 ff.; siehe Matt/Renzikowski/Engländer, § 35 StGB, Rn. 3, 19 ff.; Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl., § 22, Rn. 146 ff. Maurach, Notstandslehre, 1935, S. 95. „Der Grundsatz der Wahl des kleineren Übels ist ein solcher, der unter deutlicher Zurückstellung der Interessen der unmittelbar Beteiligten die Interessen der Gemeinschaft in den Vordergrund stellt. Dieser aber ist es lieber, daß nur einer ihrer Rechtsgenossen untergeht, und nicht beide (Brett des Karneades), oder daß das materiell wertlosere Gut dem lebenskräftigeren zu weichen hat (Bergsteigerfall).“ 779 Einige sind der Meinung, hier trete schon eine Rechtfertigung der Tat ein. Zur Diskussion siehe Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl., § 22, Rn. 146 ff. Siehe auch Schünemann, ARSP Beiheft 100, 2005, S. 145 ff., 154, der meint, indem die herrschenden Lehre ad hoc einen übergesetzlichen Schuldausschluss statuiert, „desavouiert sie ihre eigene Entscheidung auf der Rechtswidrigkeitsebene, zerstört die Allgemeinheit des Gesetzes und lässt übrigens auch einem generalpräventiv fragwürdigen Kalkül freien Lauf, denn je mehr Bürger sich der Zumutung einer Beteiligung an Verbrechen widersetzen, umso größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass dann auch die Verbrechen insgesamt unterbleiben, wie ja gerade das Beispiel der sog. Euthanasieaktion Hitlers gezeigt hat“. Siehe auch Jakobs, System, 2012, S. 64: „Wenn es bei der Schuld um den Code ,deliktischer Sinn (Schuld) versus Natur (keine Schuld)‘ geht, so liegt auf der Hand, dass der übergesetzliche entschuldigende Notstand ein Unding, genauer: ein Unbegriff ist“ (. . .).

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C. Theorie des entschuldigenden Notstands

die Aufrechterhaltung der Sanktionsnorm hier die Tötung mehrerer Personen bedeuten wird, das heißt: kontraproduktiv wirkt. Dazu kommt auch die – wenn auch schwierig festzustellende – Unmöglichkeit, alle Personen zu retten, und ferner die Erwägung, dass die durch die Nothandlung getöteten Personen sich bereits in Lebensgefahr befanden. Der Täter habe nicht „Schicksal gespielt“. Hierhin gehört auch die brisante Frage der Straflosigkeit des Abschusses gekaperter Flugzeuge, über die nach dem Anschlag auf das World Trade Center 2001 und sodann im Zuge der Frage nach der Verfassungsmäßigkeit des deutschen § 14 III LuftSiG heftig diskutiert wurde780. Besonders die Begründung etwaiger Straflosigkeit ist hier streitig: Die Meinungen reichen von der Annahme eines defensiven Notstands781 oder einer Rechtfertigung ohne Duldungspflicht782 bis zur Annahme eines übergesetzlichen entschuldigenden Notstands783 – und auch eine „Entpersonalisierung“ des Täters wird als Erklärung für die Straflosigkeit erwähnt784. Engländer stellt als mögliche allgemeine Erklärung der Straflosigkeit des übergesetzlichen entschuldigenden Notstands die Behauptung auf, „dass es sich bei den entsprechenden Konfliktlagen nicht nur aus der subjektiven Perspektive des Täters, sondern auch aus der intersubjektiven Sicht der Rechtgemeinschaft um moralisch dilemmatische Situationen handelt, in denen eine gegen die rechtliche Lösung dieser Dilemmata verstoßende Gewissenentscheidung des Täters, weil für sie gleichfalls gute Gründe sprechen, Nachsicht verdient“ 785. Feste Kriterien sind trotz der Versuche in der Lehre schwer zu postulieren, was nicht überrascht: Hier handelt es sich um moralische Dilemmata, deren Lösung sich schwer aus einer Regel ableiten lässt. Hier gehe es um Staatsräson, nicht um Solidaritätspflichten: „Da die heutige Gesellschaft eine aus allgemeiner Solidarität resultierende, das Leben ergreifende Opferpflicht von Personen nicht kennt, werden die Geopferten zugunsten der durch das Opfer Geretteten entpersonalisiert; es handelt sich also um eine Ausnahme von dem Zustand allseitiger Rechtlichkeit, und dementsprechend wäre allenfalls an einen übergesetzlichen Strafausschließungsgrund zu denken“ (S. 65). 780 BVerfGE 115, 118 ff., 154 ff.; Hilgendorf, in: Blaschke/Förster/Lumpp/Schmidt, Sicherheit statt Freheit?, 2005, S. 107 ff., 124 ff.; Jäger, ZStW 115 (2003), S. 765 ff.; Sinn, NStZ 2004, S. 585 ff.; Mitsch, GA 2006 S. 11 ff., mit neuen Gedanken; Ladiges, ZIS 2008, S. 129 ff.; Rogall, NStZ 2008, S. 1 ff.; Pawlik, JZ 2004, S. 1045 ff.; Stübinger, „Not macht erfinderisch“, ZStW 123 (2011), S. 403 ff.; ausf. Stübinger, NotwehrFolter und Notstands-Tötung?, 2015, S. 271 ff.; Wilenmann, Freiheitsdistribution, 2014, S. 438 ff., S. 444 ff.; Neumann-NK, § 35, 5. Aufl., 2017, Rn. 62a: Problem der Unsicherheit der Prognose; siehe ausf. Archangelskij, Das Problem des Lebensnotstandes am Beispiel des Abschusses eines von Terroristen entführten Flugzeuges, S. 77 ff.; Cantón, LH-Mir Puig, Madrid, 2010, S. 405 ff.; Robles, LH-Mir Puig, Madrid, 2010, S. 445 ff. 781 Dazu siehe Köhler, in: FS-Schroeder 2006, S. 257 ff.; Hirsch, in: FS-Küper 2007, S. 149 ff.; Coca Vila, InDret 1/2011, S. 1 ff.; Wilenmann, ZStW 127 (2015), S. 888 ff. 782 So Robles, LH-Mir Puig, Madrid, 2010, S. 445 ff. 783 Ausf. Roxin, ZIS 2011, S. 552 ff. 784 Dazu siehe Jakobs, in: FS-Krey 2010, S. 207 ff. 785 Matt/Renzikowski/Engländer, § 35 StGB, Rn. 20; Neumann-NK, § 35, 5. Aufl., 2017, Rn. 60: „situationadäquates Verhalten“, wenn das Gut ohnehin verloren ist.

IV. Der Notstand, ein Schuldproblem

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Über die Straflosigkeit der Wahl des kleineren Übels herrscht dagegen keine Einigkeit786. Zu erwähnen ist hier das Beispiel von Engisch aus dem Jahr 1931: „Ein Weichenwärter stellt, um einen drohenden Zusammenstoß zu verhindern, die Weiche so, daß der Zug auf ein Nebengleis fährt. Er weiß zwar, dass auch hier ein Zusammenstoß erfolgen muß, da auf dem Nebengleis Güterwagen stehen, aber der Zusammenstoß wird lange nicht so heftig sein, als wenn beide Züge auf dem Hauptgleis zusammenstoßen würden. Jedoch sieht er voraus, daß dann, wenn der Zug auf das Nebengleis fährt, weniger Menschen verletzt werden“ 787. Welzel hat einige Jahre später ein ähnliches und viel zitiertes Beispiel gebildet788. In der englischsprachigen Diskussion ist dieses Problem als „trolley problem“ bekannt789. Im angelsächischen Raum wird zugleich heftig diskutiert, ob es in diesem Kontext zulässig sei, zu sagen „numbers should count“ 790. Die Meinungen dazu in der deutschen Diskussion sind uneinheitlich. Neumann hält die Zahl der geretteten Menschen nicht für den maßgeblichen Gesichtspunkt. Entscheidend sei vielmehr die Rettung einiger statt des Zulassens des Todes aller791. Hörnle meint, es falle schwer, „eine von genuin altruistischem Rettungswillen motivierte Handlung zu tadeln“, vor allem „wenn man bereit ist, eine egoistisch motivierte Handlung nach § 35 StGB zu entschuldigen“ 792. Hier könne man deswegen die Zahl der betroffenen Menschen als relevant ansehen“ 793. Die Lösungen all dieser Probleme müssen einer anderen spezifischen Untersuchung vorbehalten bleiben. Es sind nur die maßgeblichen Gesichtspunkte zu 786 Welzel wollte hier einen Schuldausschluss bejahen: Welzel, MDR 1949, S. 373 ff., 375; siehe auch mit neuen Argumenten ders., ZStW 63 (1951), S. 47 ff. 787 Das Beispiel wurde von Engisch anlässlich der Essener Tagung der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung im Jahre 1931 gebildet. So der Hinweis von Bergenroth, Putativnotstand, 1933, S. 31. 788 Welzel, ZStW 63 (1951), S. 47 ff., 51. 789 Foot, Virtues and vices, 2002, S. 19 ff.; Thomson, The realm of rights, 1990, S. 176 ff.; über die Thesen Thomsons siehe Naylor, Philosophy and Phenomenological research 48/4 (1988), S. 711 ff. und Gorr, Philosophical Studies 59/1 (1990), S. 91 ff.; Kamm, Intricate Ethics, 2007, S. 11 ff., S. 91 ff.; ausf. hierzu Rakowski, Columbia Law Review 1993, S.1064 ff. 790 Taurek, Philosophy & Public Affairs 6/4 (1977), S. 293 ff., 294, gegen die Verrechnung; gegen Taurek siehe Kavka, Philosophical Studies 36 (1979), S. 285 ff.; siehe auch Sanders, Philosophy & Public Affairs 17/1 (1988), S. 3 ff.; Hirose, Analysis 61/4 (2001), S. 341 ff.; Wasserman/Strudler, Philosophy & Public Affairs 31/1 (2003), S. 71 ff.; Timmermann, Analysis 64/2 (2004), S. 106 ff.; Otsuka, Philosophy & Public Affairs 32/4 (2004), S. 413 ff.; Meyer, Philosophy & Public Affairs 34/2 (2006), S. 136 ff.; Kamm, Intricate Ethics, 2007, S. 48 ff.; siehe auch Rakowski, The Hastings Center report 24/4 (1994), S. 33 ff. und Menzel, The Hastings Center report 24/1 (1994), S. 22 f. 791 So Neumann-NK, § 35, 5. Aufl., 2017, Rn. 62. T. Zimmermann, Rettungstötungen, 2009, S. 216: „Der noble Zweck der Rettung einer Vielzahl fremder Menschen wird vom Gesetz nicht honoriert.“ 792 Hörnle, in: FS-Herzberg 2008, S. 555 ff., 572. 793 Hörnle, in: FS-Herzberg 2008, S. 555 ff., 572.

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C. Theorie des entschuldigenden Notstands

erläutern. Hier treten, wie gesagt, präventive und konsequentialistische Gesichtspunkte auf die Bühne. Die Schwierigkeit in diesen Fällen ist, den unschuldigen Opfern gegenüber eine minimale Begründung zu leisten, vor allem weil es hier an der Selbstbetroffenheit des Täters grundsätzlich fehlt. Es geht nämlich um Fälle der Notstandshilfe, die aber weder den Täter noch seine Angehörigen oder andere ihm nahestehen Personen betrifft794. Diese Begründung dem Opfer gegenüber setzt also einiges voraus. Es ist meines Erachtens deswegen grundsätzlich zu verlangen, dass als Erhaltungsgut ein angeborenes Recht im oben definierten Sinne auf dem Spiel steht795. Pawlik thematisiert das Vermögen als notstandsfähiges Gut im Extremfall, wie beim drohenden Verlust eines Manuskripts, an dem ein Professor seit 20 Jahren gearbeitet hat: Dies sei denkbar, „normativ zwingend ist eine derartige Erweiterung allerdings nicht“ 796. Ich würde sagen, dass diese Erweiterung theoretisch in Betracht kommt, wenn die Gefahr für ein erworbenes Gut eine konkret feststellbare mittelbare Gefahr für ein angeborenes Recht darstellt, zum Beispiel, wenn die abzuwendende Schädigung des Vermögens zugleich die Existenz einer Person oder Familie vernichten würde – aber darüber muss man sich noch weitere Gedanken machen. Die zweite Voraussetzung wäre die nicht durch die Handlung des Täters verursachte, d. h. schon vorhandene persönliche Betroffenheit des Opfers. Die minimale Begründung dem Opfer gegenüber scheint unmöglich zu sein, wenn in angeborene Rechte vorher ungefährdeter Personen eingegriffen wird797. Man denke an die Verkürzung des Lebens eines Schwerkranken, um sein Herz einem anderen zu transplantieren798 – darüber wird auch in der englischsprachigen Literatur intensiv diskutiert799. Es ist also so, dass das Argument gegen eine Entschuldigung bei der Wahl des kleineren

794 Neumann-NK, § 35, 5. Aufl., 2017, Rn. 55: „Der mögliche Anwendungsbereich des übergesetzlichen entschuldigenden Notstands variiert damit in Abhängigkeit von den Positionen, die zur Reichweite der Rechtfertigungsgründe vertreten werden“; Hörnle, in: FS-Herzberg 2008, S. 555 ff., 571: Die wichtigste Frage sei: „Was sind tragenden Gründe hinter entschuldigenden Normen, und lassen sich diese auf andere Konstellationen übertragen?“; siehe auch Robles, LH-Mir Puig, Madrid, 2010, S. 445 ff., S. 455 ff. 795 Ähnlich Zieschang-LK, § 35, 12. Aufl., 2006, Rn. 11. Zieschang hat deswegen Recht, wenn er die Entscheidung OLG Hamm NJW 1976, 721 f. kritisiert, weil es hier nur um das Vermögen des Täters ging. 796 Pawlik, JRE 11 (2003), S. 287 ff., 309; zur wirtschaftlichen Existenz siehe schon Grünhut, ZStW 51 (1931), S. 455 ff., 468 f. 797 So auch mit überzeugenden Argumenten Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl., § 22, Rn. 163 ff., 164: „Unschuldige und an einer Gefahrensituation Unbeteiligte darauf vertrauen dürfen, dass das Recht sie gegen eine gewaltsame Zerstörung ihres Lebens oder ihrer Gesundheit durch eine Strafdrohung unter allen Umständen schützt.“ Hier zeigt sich die Relevanz der oben entwickelten These, dass die Strafdrohung dem Schutz potentieller unschuldiger Opfer diene, ganz deutlich. 798 Dazu siehe Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl., § 22, Rn. 164; dazu auch Hörnle, in: FS-Herzberg 2008, S. 555 ff., 556. 799 Ausf. Thomson, The realm of rights, 1990, S. 176 ff.

V. Grund und Grenzen des entschuldigenden Notstands

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Übels, hier werde Schicksal gespielt, letztendlich richtig ist: Man darf „Schicksal spielen“ nur innerhalb der Grenzen des rechtfertigenden Notstands, weil es dort um erworbene Rechte geht. Wenn dagegen angeborene Rechte auf dem Spiel stehen, dann muss die Handlung eines nicht persönlich betroffenen Täters grundsätzlich strafbar bleiben800. 6. Zwischenfazit Die Idee dieses Abschnitts war, die Grundlinien einer Revision des normbezogenen Schuldbegriffs anhand der Notstandsproblematik vorzustellen. Strafe setzt Schuld voraus. Strafe ist der „Entzug“ angeborener Rechte, und Schuld lässt sich als strafbezogene normative Ansprechbarkeit definieren – oder kürzer: Schuld ist Vermeidbarkeit der Strafe. Das Schuldprinzip ist als das Recht zu verstehen, ein Leben ohne Strafe zu planen. In existentieller Not fehlt dem Täter diese Möglichkeit, Strafe zu vermeiden; er handelt somit ohne Schuld. Damit wurden selbstverständlich nicht die letzten Worte über den Schuldbegriff gesprochen. Das hier entwickelte Konzept ist zweifelsohne anhand der anderen Schuldmerkmale näher auszuarbeiten. Roxin hat Recht, wenn er sagt, die strafrechtliche Diskussion über die Schuld sei „nie zur Ruhe gekommen“ 801 – und die Diskussion wird nie zur Ruhe kommen.

V. Grund und Grenzen des entschuldigenden Notstands Die hier abstrakt entwickelten Gedanken über den Grund des entschuldigenden Notstands müssen der Feuerprobe der oben genannten kumulativen Anforderungen an eine Theorie des entschuldigenden Notstands unterzogen werden. Eine umfassende und konsistente Theorie des entschuldigenden Notstands muss laut den gestellten Anforderungen die zwei vorhandenen Notstände (§§ 34, 35), die verschiedene rechtliche Folgen haben, differenzieren (1.); sie muss den involvierten Personen gegenüber – ohne Instrumentalisierung – begründen, warum Straflosigkeit eintritt und auch warum manchmal die Strafe trotz der existentiellen Not wieder in Betracht kommt (2.); und zuletzt muss die Theorie ihre heuristische Leistung aufzeigen, indem sie die komplizierte positivrechtliche Lage friktionsfrei erklärt (3.). 1. Differenzierungspotenzial Eine Theorie des entschuldigenden Notstands muss das Proprium der Entschuldigung begreifen, um erklären zu können, wieso eine Rechtsordnung zwei

800 Es können Faktoren auftauchen – wie eine Garantenstellung –, die womöglich zu einem anderen Ergebnis führen. 801 Roxin, in: FS-Bockelmann 1979, S. 279 ff.

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C. Theorie des entschuldigenden Notstands

strukturell verschiedene Notstände überhaupt benötigt802. Nicht einmal die Theorien, die eine Unterscheidung von Unrecht und Schuld verneinen, streiten die Existenz zweier verschiedener Notstände ab. Die Lehre hat früher die Meinung vertreten, dem rechtfertigenden und dem entschuldigenden Notstand lägen zwei verschiedene Grundideen zugrunde: Der rechtfertigende Notstand beruhe auf dem Gedanken der Interessenabwägung – ein Kind der Idee der materiellen Rechtswidrigkeit –, der auf die Suche nach einem sozial nützlichen Ergebnis gerichtet sei803; der entschuldigende Notstand setze seinerseits eine rechtswidrige Tat voraus, ihm liege aber die Idee des Selbsterhaltungstriebes zugrunde. Andere Theorien haben ebenso versucht, zwischen den Notständen zu differenzieren. Die Versuche sind aber gescheitert. Die Geschichte der Notstandsdogmatik ist wie gesehen die Geschichte ihrer Zersplitterung in der Verbrechenslehre. Man sieht es klar bei der herrschenden doppelten Schuldminderungslehre: Hier wird eine synkretistische These vertreten, nach der der entschuldigende Notstand sowohl Rechtfertigungs- als auch Entschuldigungsproblem ist. Damit erfolgt eine unsaubere Verquickung von Unrecht und Schuld, keine Differenzierung: Der entschuldigende Notstand wird als eine Qualifikation des rechtfertigenden Notstands angesehen. Die Schwäche dieser Meinungen wurden in der hiesigen Untersuchung schon ausführlich aufgezeigt (s. o. C., III., 5.). Aufgabe der Theorie des entschuldigenden Notstands ist es, den Sachunterschied zwischen den beiden Notständen zu identifizieren, der die unterschiedlichen rechtlichen Folgen der Institute zu erklären vermag: Man denke an die Existenz einer Duldungspflicht, die zum Beispiel Notwehr ausschließt, die unterschiedliche Behandlung der Irrtums- und Teilnahmefrage usw.804 Der maßgebliche Gesichtspunkt ist in der Qualität der involvierten Rechte zu erblicken. Beim rechtfertigenden Notstand geht es um die erworbenen Rechte, um Rechte also, die der Person nur innerhalb einer bestimmten Gesellschaft zustehen und deren Durchsetzung innerhalb dieser Gesellschaft durch die Rechtsordnung garantiert wird805. Hier ist es in begrenztem Maße richtig zu behaupten, dass die Person dem Gesellschaftsnutzen verpflichtet sei, so dass die Statuierung einer Duldungspflicht des Opfers zu rechtfertigen ist. Die Opfergrenze liegt aber gerade in den angeborenen Rechten der Person, in den Rechten also, die man schon vor der Gesellschaft und unabhängig von dieser innehat. Egal in welcher Gesellschaft man lebt: Man hat ein Recht auf Leben, Leib und Fortbewegungsfreiheit. Wenn angeborene Rechte sowohl auf Erhaltungs- als auch auf Eingriffs802 Hörnle, in: FS-Herzberg 2008, S. 555 ff., 574: „Ich sehe in der Unterscheidung der beiden Ebenen Rechtswidrigkeit und Schuld eine Chance, nämlich die Chance, der Komplexität schwieriger Notstandsfälle gerecht zu werden.“ 803 Siehe Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl., § 22, Rn. 1 ff. 804 Dazu siehe Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl., § 22, Rn. 3. 805 So die Theorie von Greco, Der Anteil der Gesellschaft, Manuskript (im Erscheinen).

V. Grund und Grenzen des entschuldigenden Notstands

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seite stehen, dann gibt es nur Raum für einen entschuldigenden Notstand. Diese Rechte darf man retten, ohne eine Strafe als Reaktion zu befürchten, die Schutzmöglichkeiten des unschuldigen Opfers bleiben aber bestehen. Denn dem Opfer darf der Staat auf keinen Fall das Recht verweigern, seine angeborenen Rechte zu verteidigen. Die Qualität der Rechte der Personen zeichnet die Trennlinie zwischen rechtfertigendem und entschuldigendem Notstand. 2. Begründungspotenzial Es ist dem Täter gegenüber zu begründen, wieso trotz der Notlage manchmal dennoch Strafe eintritt, nämlich in den Fällen der gesetzlich vorgesehenen Ausnahmen vom entschuldigenden Notstand. Die Rücknahme der Strafandrohung ist wiederum dem Opfer gegenüber begründungsbedürftig. Die hiesige Konzeption weist dieses Begründungspotenzial auf. Es kann erklärt werden, wieso ein geschichtlich so gefestigter, unerschütterlicher Konsens über die Straffreiheit des entschuldigenden Notstands besteht: Der für die Notlage unverantwortliche Täter ist im Begriff, ein noch rettbares angeborenes Recht zu verlieren, ein Recht, das ihm schon vor der Gesellschaft zusteht. Seine Existenz als Person ist gefährdet. Der Staat würde durch die Bestrafung dieser Nothandlung eine Lage schaffen, die den Täter vor ein auswegloses Dilemma stellt: Entweder verliert er sein angeborenes Recht beim Kampf gegen das Opfer oder er verliert es durch die nachfolgende staatliche Strafe. Im Naturzustand wäre der Täter besser gestellt. Deswegen bestraft der Staat die Handlung im entschuldigenden Notstand grundsätzlich nicht. Die Bewertung der Lage ändert sich aber drastisch, wenn die Notlage auf eine autonome Entscheidung des Täters zurückzuführen ist: Hier hat er einen Beitrag zur eigenen Bestrafung geleistet, so dass die Strafe ihm gegenüber durchaus begründet werden kann. Dem Opfer gegenüber wird auch eine minimale Begründung dafür geleistet, dass es den Schutz der Sanktionsnorm in dieser Daseinskrise verliert. Denn die Rechte, die auf dem Spiel stehen, kommen jedem Menschen „kraft seiner Menschheit“ zu. Genau das ist gemeint, wenn Rogall sagt: „Der Notstandstäter streitet in der Notstandssituation für Leben, Leib und Freiheit und damit für existentiell bedeutsame Rechtsgüter, die auch gegenüber den Belangen des Eingriffsopfers normativ relevant sind“ 806. Die Notlage trifft den Täter als Person, so dass die Straflosigkeit nicht durch eine subjektive Erfahrung des konkreten Täters bedingt wird. Die Begründung ist verallgemeinerbar. Wer Opfer und wer Täter wird, hängt nur vom Zufall ab807; niemand ist für die Rollenverteilung verantwortlich, andernfalls griffe § 35 I 2 ein. Die Handlung des Täters bleibt aber 806 807

Rogall-SK § 35, 9. Aufl., 2017, Rn. 12. Pawlik, Unrecht, 2012, S. 361.

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rechtswidrig, weil sonst dem Opfer der Verlust eines angeborenen Rechts ohne Verwirkung bzw. eigenes Verschulden abverlangt würde. Eine so gefasste Duldungspflicht würde das Opfer instrumentalisieren. Der Verlust des Schutzes der Sanktionsnorm wird also durch die hier vorgeschlagene Konstruktion erklärt: Der Täter ist eben im entschuldigenden Notstand nicht von der Sanktionsnorm ansprechbar – er ist nicht imstande, den Verlust seiner angeborenen Rechte ohne Begehung einer Straftat zu verhindern. Damit verbleiben dem Opfer lediglich die notwehrrechtlichen Schutzmöglichkeiten. 3. Erklärungspotenzial Die hiesigen abstrakten Überlegungen sind auch imstande, die komplexe Struktur des § 35 friktionsfrei und ohne Instrumentalisierung der Personen zu erklären. a) Gegenwärtige Gefahr Die Gegenwärtigkeit der Gefahr bereitet keine größeren Probleme. Denn es ist fast von allen Autoren und auch von der Rechtsprechung anerkannt, dass auch eine Dauergefahr unter dieses Tatbestandsmerkmal zu subsumieren ist808. Der Gefahrbegriff wird in der Regel einheitlich verstanden, das heißt: Man sieht keinen Grund, den beim rechtfertigenden Notstand des § 34 vorgesehenen Gefahrbegriff beim entschuldigenden Notstand anders zu definieren809. Es wird aber in der Literatur behauptet, diese Gefahr müsse beim § 35 eine bestimmte Intensität aufweisen, sodass geringfügige Körperverletzungen zum Beispiel ausscheiden müssten810. Das ist richtig. Die Erklärung hierfür liefert die hier vertretene Theorie des entschuldigenden Notstands: Eine echte existentielle Not setzt eine intensive Selbstbetroffenheit des Täters voraus. Nur dann wird eine Lage zu bejahen sein, in der der Täter Strafe nicht vermeiden kann. Auch wird wird nur bei dieser Selbstbetroffenheit des Täters eine minimale Begründung dem Opfer gegenüber geleistet. Denn durch die Nothandlung des Täters wird das Opfer notwendigerweise ebenfalls persönlich betroffen, andernfalls griffe schon der rechtfertigende Notstand des § 34 ein. Hier ist der Gedanke T. Zimmermanns hilfreich. Er schlägt eine Inversion der Angemessenheitsklausel des § 34 StGB vor811, um 808 Siehe dazu ausf. Küper, in: FS-Rudolphi 2004, S. 151 ff.; Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl., § 22, Rn. 15 ff.; Zieschang-LK § 35, 12. Aufl., 2006, Rn. 9 ff. 809 Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl., § 22, Rn. 15; siehe auch Kühl, Strafrecht AT, 8. Aufl., § 12, Rn. 41 ff.; Baumann/Weber/Mitsch/Eisele, Strafrecht AT, 12. Aufl., 2016, § 18, Rn. 18 ff.; Matt/Renzikowski/Engländer, § 35 StGB, Rn. 4. 810 Statt aller siehe Zieschang-LK § 35, 12. Aufl., 2006, Rn. 16; Kühl, Strafrecht AT, 8. Aufl., § 12, Rn. 32. 811 T. Zimmermann, Rettungstötungen, 2009, S. 236: „Denn was im Rahmen des rechtfertigenden Notstands als unzumutbarer Eingriff angesehen wird, muss logischerweise auch bei § 35 StGB gelten.“

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eine Gefahr für die (angeborenen) Rechtsgüter des § 35 bejahen zu können. Die Beeinträchtigung müsse „über das Maß der im aggressiven Notstand begründeten Duldungspflichten hinausreichen“, andernfalls müsste der Bürger sie als Gegenstand einer an jedermann gerichteten Solidaritätsanforderung hinnehmen812. Der Gefahrbegriff muss also beim entschuldigenden Notstand etwas enger verstanden werden als beim rechtfertigenden813. Beim rechtfertigenden Notstand ist es so, dass die dem Täter drohende Gefahr als Teil einer Gesamtabwägung aller involvierten Interessen erscheint. Beim entschuldigenden Notstand ist die Gefahr als absolute Größe auszulegen: Die Selbstbetroffenheit des Täters wird auch vom Opfer als ein Grund verstanden, diese Nothandlung nicht zu bestrafen. Eine Abwägung findet nicht statt. Auch die Tötung mehrerer Personen wird bei akuter Lebensgefahr des Täters grundsätzlich entschuldigt. Es leuchtet deswegen ein, dass der Gefahrbegriff bei den zwei Notständen nicht identisch sein darf. Eine weitere Frage, auf die in gebotener Kürze eingegangen werden soll, ist, ob der Staat die Aufopferung angeborener Rechte durch die Statuierung strafbewehrter Handlungspflichten anordnen kann. Sie stellt sich insbesondere bei der unterlassenen Hilfeleistung (§ 323c)814: Y liegt bewusstlos im dritten Stock eines brennenden Gebäudes. Passant X erblickt den Y im Fenster, müsste aber, um Y zu retten, mit schweren Verbrennungen am ganzen Körper rechnen. In diesem Fall ist eine Pflicht – zumal eine strafbewehrte Pflicht – zum Handeln nicht zu konstruieren. Die Zumutbarkeitsklausel des § 323c („und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr“)815 ist als objektives Tatbestandsmerkmal816 so auszulegen, dass eine Gefahr für angeborene Rechte im Sinne von § 35 unzumutbar ist817. Der Täter im oben gebildeten Beispiel hat sich deswegen nicht strafbar gemacht. Das ergibt sich aus der Wertung des § 35: Läge eine solche Gefahr für den Täter selbst vor, „dürfte“ er (in einem 812

So Müssig-MK, § 35, 3. Aufl., 2017, Rn. 25. Renzikowski, JRE 11 (2003), S. 269 ff., 282: „Die Privilegierung des Notstandstäters erscheint gleichwohl nur als berechtigt, wenn zumindest substanziell-irreversible Einbuße droht, d. h. die mögliche Beeinträchtigung der genannten Rechtsgüter muß erheblich sein“; so auch Matt/Renzikowski/Engländer, § 35 StGB, Rn. 4. 814 Zur Legitimität dieses Tatbestands siehe Naucke, in: FS-Welzel 1974, S. 761 ff.; Kargl, GA 1994, S. 247 ff.; Seelmann, JuS 1995, S. 281 ff.; Pawlik, GA 1995, S. 360 ff.; Morgenstern, Unterlassene Hilfeleistung, Solidarität und Recht, 1997, S. 126 ff.; zur Historie des § 323c siehe Gieseler, Unterlassene Hilfeleistung, 1999; siehe auch Harzer, Die tatbestandsmäßige Situation der unterlassenen Hilfeleistung gemäß § 323c StGB, 1999. 815 Dazu siehe NK-Gaede, § 323c, 5. Aufl., Rn. 12 ff.; Fischer, § 323c, 64. Aufl., Rn. 15 ff.; Frellesen, Die Zumutbarkeit der Hilfeleistung, Frankfurt am Main, 1980; siehe schon Vermander, Unfallsituation und Hilfspflicht im Rahmen des § 330c StGB, Tübingen, 1969, S. 82 ff. 816 Siehe Seelmann, JuS 1995, S. 281 ff. 817 Zur Frage, ob auch Gefahren für andere Rechtsgüter miteinzubeziehen sind NKGaede, § 323c, 5. Aufl., Rn. 12. 813

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schwachen Sinne) sogar mehrere Personen töten. Eine Bestrafung des Täters wäre nach der hiesigen Untersuchung wegen einer Verletzung des Schuldprinzips illegitim. Es wäre widersprüchlich, würde das Recht die Hinnahme einer solchen Gefahr für die angeborenen Rechte durch Strafe gebieten, wenn ein (unbekannter) Dritter in Gefahr gerät. b) Katalog der Rechtsgüter Die Beschränkung des Rechtsgutskatalogs – Leben, Leib und Freiheit – entspricht der Liste der erwähnten angeborenen Rechte, die eine lange Tradition hinter sich hat. Diese Rechte hängen keineswegs von der Verfasstheit oder der Organisationsform der Gesellschaft ab818. Sie kommen allen Personen zu. Eine beliebige Erweiterung dieses Katalogs auf andere, erworbene Rechte – wie das Vermögen – scheint innerhalb des Kernbereichs des entschuldigenden Notstands unvertretbar zu sein819. Eine etwaige Erweiterung muss mittels überzeugender Argumente eine große Begründungslast schultern. Dies ist – wie oben schon dargestellt – die Domäne des Verantwortlichkeitsbegriffs von Roxin. Es besteht selbstverständlich Streit über die Zugehörigkeit einiger Rechte zur Kategorie der angeborenen Rechte. Früher wurde zum Beispiel heftig über den Ehrennotstand diskutiert. Baumgarten zum Beispiel sagt: „eine Gleichstellung des Ehrennotstandes mit dem Lebensnotstand scheint [mir] fehlerhaft“ 820. Henkel dagegen denkt, dass es doch einen Platz für den Ehrennotstand gebe: „Unbestreitbar ist es, daß schon nach geltendem Recht der Ehrennotstand in gewissen Grenzen berücksichtigt wird, und zwar nach § 54 StGB, soweit die Ehrverletzung gleichzeitig eine Beeinträchtigung der Körperintegrität mit sich bringen würde“ 821. Ein Ehrennotstand komm in Betracht, wenn die Gefahr für die Ehre die ganze Persönlichkeit der Person bedrohe822. Entscheidend scheint demnach die Zugehörigkeit der gefährdeten Güter zu den angeborenen und unersetzlichen Gütern zu sein: „Die ,Person‘ – unter diesen Begriff können auch Angriffe gegen

818 Siehe aber Müssig-MK, § 35, 3. Aufl., 2017, Rn. 15: „Leben, Leib und räumliche Bewegungsfreiheit sind Aspekte einer rechtlich garantierten sozialen Praxis, die am Körper als äußerlichen Repräsentanten von Freiheit ihren symbolischen Kristallisationspunkt findet“; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht AT, 6. Aufl., 2011, § 10, S. 105: „elementare Individualrechtsgüter“. 819 Baumgarten, Notstand und Notwehr, 1911, S. 40: „Andererseits wird kein Zweifel bestehen, daß die Furcht vor Vermögensverlusten nicht jeden zu ihrer Abwendung vorgenommen Eingriff in die Rechtsgüter anderer zu entschuldigen vermag“; so auch Zieschang-LK, § 35, 12. Aufl., 2006, Rn. 15 f.; streitig ist, ob auch das ungeborene Leben als notstandsfähiges Rechtsgut gelten soll, was in der Regel verneint wird, siehe Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht AT, 6. Aufl., 2011, § 10, Rn. 105 f. 820 Baumgarten, Notstand und Notwehr, 1911, S. 40. 821 Henkel, Der Notstand, 1931, S. 101. 822 Greco, Strafprozesstheorie, 2015, S. 689 ff.

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die Geschlechtsehre und gegen die persönliche Freiheit fallen“ 823, und zwar wenn „ein dem Lebensverlust an Schwere vergleichbares Uebel droht“ 824. Eine Erweiterung auf die sexuelle Selbstbestimmung scheint mir akzeptabel und auch angebracht zu sein825, und das nicht nur wegen der modernen Relevanz dieses Rechtsguts, sondern wegen seiner ursprünglichen Natur: Auch die sexuelle Selbstbestimmtheit steht jeder Person zu und benötigt für ihre Entstehung keinen staatlichen Akt. c) Erforderlichkeit („nicht anders anwendbar“) Die Nichtandersabwendbarkeit der Gefahr lässt sich einfach erklären: wenn der Eingriff in existentielle Rechte des unschuldigen Opfers nicht die einzige Rettungsmöglichkeit des Täters darstellt, entsteht das oben genannte ausweglose Dilemma nicht. Der Täter kann sich also retten, ohne durch eine rechtswidrige Tat in die angeborenen Rechte des Opfers einzugreifen. Er kann Strafe vermeiden. Bei der Aufarbeitung des Rechtsstoffs wurde hervorgehoben, die Rechtsprechung verfahre bei der Auslegung der Erforderlichkeit manchmal zu streng826. Pawlik meint: „Im Ergebnis bleibt dem zurechnungsausschließenden Notstand mithin nur ein sehr kleiner Anwendungsbereich. Daß es damit sein Bewenden haben kann, gehört zu den im Alltag zumeist unbemerkt bleibenden Ruhmestiteln eines wohlgeordneten Staates“ 827. Denn in der Regel kann der Staat solche tragischen Situation durch gewisse Maßnahmen verhindern oder verwalten. In der Rechtsprechung wird auch behauptet: „Je schwerer die [. . .] abgenötigte Straftat ist, umso sorgfältiger muss die Prüfung sein“ (BGHSt 18, 311, 312). Das ist aber nur eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite sollte die Prüfung der Erforderlichkeit umso weniger streng sein, je schwerer die Selbstbetroffenheit des Täters ist. Denn ein Verlust angeborener Rechte ist für den Täter ein unumkehrbares Ereignis. Das sogenannte „Primat der Institutionen“ gilt auch beim entschuldigenden Notstand, muss aber anders, d. h. weniger streng verstanden werden. Denn bei dem rechtfertigenden Notstand geht es um erworbene Rechte, die innerhalb der Gesellschaft verwaltet werden und deren Verletzung in der Regel 823

Neubecker, Zwang und Notstand, Band I, 1910, S. 333. Baumgarten, Notstand und Notwehr, 1911, S. 41. Siehe auch oben S. 180 ff. der hiesigen Untersuchung. 825 Dazu siehe Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl., München, 2006, § 22, Rn. 25; für eine begrenzte Analogie, wenn das Gut besonders „persönlichkeitsnah“ ist, Stratenwerth, Strafrecht AT, 3. Aufl., 1981, § 10, Rn. 606; in Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht AT, 6. Aufl., 2011, § 10, Rn. 105 wird auch eine „weitere Auslegung“ vorgeschlagen, die die Fälle sexuellen Missbrauchs erfasst; Matt/Renzikowski/Engländer, § 35 StGB, Rn. 5. 826 Dazu siehe Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl., § 22, Rn. 18 ff. 827 Pawlik, Das Unrecht, 2012, S. 362. 824

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reversibel ist. Es geht in der Regel um reparable Schäden. Hier, genau wie beim Gefahrbegriff, sind die Sachunterschiede zwischen den Notständen zu respektieren. Die gesetzlichen Merkmale müssen deshalb im Lichte der ratio des Rechtsinstituts ausgelegt werden. d) Personenkreis und Notstandshilfe Es wurde bereits festgestellt, dass die Konturen der Schuldkategorien von präventiven Gesichtspunkten mitbestimmt werden (s. o., C., IV.). Die Behauptung zum Beispiel, im unvermeidbaren Verbotsirrtum (§ 17) handele der Täter nicht schuldhaft im strengen Sinne, ist zwar richtig und wird von deontologischen Gründen getragen828. In diesem Fall ist es dem Täter nicht möglich, ein Leben ohne Strafe zu planen; er kann Strafe nicht vermeiden. Dies bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass präventive Gesichtspunkte keinen Platz im Schuldbereich beanspruchen dürfen: Die Prüfung der „elastischen“ Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums im Sinne von § 17 etwa wird auch von solchen Gesichtspunkten beeinflusst; die Reichweite der dem Täter im Rahmen der Vermeidbarkeitsdogmatik obliegenden Erkundigungspflicht hängt von präventiven Erwägungen ab829. Die Balance zwischen „Schuld und Prävention“ kann also je nach Entschuldigungsgrund anders ausgestaltet sein830. So lässt sich auch fragen, ob die Figur der Notstandshilfe zum Kern der Schuld gehört oder ob sie im Gegenteil auf präventiven, konsequentialistischen Erwägungen beruht. Denn in diesen Fällen ist die Annahme der für den entschuldigenden Notstand erforderlichen Selbstbetroffenheit des Täters in besonderem Maße begründungsbedürftig, geht es doch um eine Gefahr für einen Dritten. Die Notstandshilfe ist gesetzlich auf Angehörige (§ 11 I Nr. 1) und seit 1975 darüber hinaus auf andere nahestehende Personen begrenzt. Die Straflosigkeit der Notstandshilfe lässt sich im Kern aus dem Schuldprinzip herleiten; lediglich ihre Reichweite wird von präventiven Gesichtspunkten bestimmt. Das heißt: Indem der Staat die Straflosigkeit auf Rettungshandlungen zugunsten Angehöriger im Sinne von § 11 I Nr. 1 oder sonst nahestehender Personen erstreckt, übt der Staat tatsächlich zum Teil „Nachsicht“. Maßgeblich ist, wie dargelegt, die Selbstbetroffenheit der Person, die in der Gefahr für ein eigenes angeborenes Recht besteht. Man könnte nun behaupten, die Verwandtschaft oder das Näheverhältnis zu anderen Personen sei kein „angeborenes Recht“. Die Verhältnisse werden immerhin in gewisser Weise sozial konstruiert oder sind von der staatlichen Rechtsordnung vorbestimmt und anerkannt. Ein Kind ohne Eltern ist aber unvorstellbar. Hier geht es, wenn man so will, doch um ein „angeborenes Recht“, um vorstaatliche Rechte. Durch eine Gefährdung des eigenen Kindes 828 Greco, Lebendiges, 2009, S. 484 ff., S. 505; mit einer präventiven Begründung Frisch, GA 2017, S. 699 ff. 829 Siehe NK-Neumann, § 17, 5. Aufl., Rn. 58 ff.; Leite, GA 2012, S. 688 ff. 830 Greco, Lebendiges, 2009, S. 505.

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sind die Eltern also auch selbst betroffen, deshalb gebietet das Schuldprinzip die Straflosigkeit der elterlichen Notstandhilfe. Es geht um eine mittelbare Selbstbetroffenheit831. Diese mittelbare Selbstbetroffenheit wird schon seit Langem in der Literatur vertreten: „Es kommt m. a. W. bei der Nothilfe in den subjektiven Fälen darauf an, daß der Nothelfer sich gewissermaßenn selbst in einem Notstand befunden hat. Steht der Nothelfer zu dem bedrängten in enger Beziehung, so wird dessen Not in der Regel ebenso stark und unter Umständen noch stärker auf ihn einwirken, als eigene Not dies vermöchte“ 832. Eine andere Lösung wäre sicherlich verfehlt: Sonst „dürfte“ eine Person gegebenenfalls jemanden töten, um ein eigenes wichtiges Körperglied zu retten, müsste aber dem Tod des eigenen Kindes untätig zusehen. Die Erstreckung auf andere Angehörige und vor allem auf nahestehende Personen lässt sich dagegen nur mit präventiven Gesichtspunkten erklären: Der Staat erkennt damit an, dass die Personen keine isolierten Wesen sind. Die Identität der Person wird auch durch andere Verhältnisse mitbestimmt. Schon bei Pufendorf ist zu lesen: es ist schon das Naturrecht, „das will, daß der Mensch als soziales Wesen lebe“ 833. Welzel meint in seiner Studie über Pufendorf, dass die socialitas als oberstes Prinzip des Naturrechts anzusehen sei834: „Der Mensch hat zwei Neigungen (inclinationes): den Selbsterhaltungstrieb und den Trieb zur Gesellschaft“ 835. In der Carolina werden andere Personen erwähnt (Art. 166 CC: „sein weib oder kinde“)836. Eine einschränkende Lösung aber, die zum Beispiel die Notstandshilfe nur im Eltern-Kind-Verhältnis anerkennen würde, wäre zwar sehr streng, würde aber nicht gegen das Schuldprinzip verstoßen. Die hiesige Theorie vermag diese Begrenzung zu erklären. Früher sagte man, hier entstehe derselbe seelische Druck wie in eigener Gefahr, was sich schwer mit der objektiven Betrachtungsweise des Gesetzes vereinbaren lässt837. Coninx 831 T. Zimmermann, Rettungstötungen, 2009, S. 237 ff.; so schon Henkel, Der Notstand, 1931, S. 123: „Der Nothelfer befindet sich hier selbst mittelbar in einem Notstand.“ 832 Henkel, Der Notstand, S. 121; so auch Renzikowski, JRE 11 (2003), S. 269 ff., 282; siehe Matt/Renzikowski/Engländer, § 35 StGB, Rn. 3: „Die Exkulpation der Notstandshilfe zugunsten von Angehörigen oder sonst nahestehenden Personen findet ihre Begründung darin, dass als existentielles Interesse des einzelnen auch die Sorge um das grundlegende Wohl persönlich eng mit ihm verbundenen Menschen gelten kann.“ 833 Pufendorf, Über die Pflicht, Zweites Buch, 2. Kapitel, § 2, 1994, S. 151. 834 Welzel, Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs, 1958, S. 31 ff.; Eb. Schmidt, Einführung, 3. Aufl., 1965, S. 159. 835 Welzel, Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs, 1958, S. 41. 836 Bernsmann, „Entschuldigung“, S. 81 ff. 837 Dazu Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl., § 22, Rn. 30, Schünemann meint, dass die Einbeziehung dieser Personen „extrem weit“ gehe, sie sei „nur wegen ihrer Einschränkung durch die Zumutbarkeitsklausel vertretbar“. Er meint zugleich, dass heute dies „einen Anachronismus“ darstelle. Diese Behauptung ist durchaus konsequent für ihn, der die Begründung des entschuldigenden Notstands in der Wirkungslosigkeit der Strafandrohung wegen der „kreatürlichen Angst“ und dem „akuten Selbsterhaltungsimpuls“

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hält heute Solidaritätsüberlegungen für maßgeblich838. Die Möglichkeit einer Rettung Angehöriger und anderer nahestehender Personen erklärt sich durch die Überlegung, dass der Gesetzgeber im Schuldbereich die primären Verhältnisse des Täters als Person ernst nimmt: Der Täter ist kein isolierter Mensch, so dass die näheren Verhältnisse, die er schon vor der Notlage hatte, zu berücksichtigen sind. Seine Biographie als Person – nicht seine Rolle als Bürger – ist ernst zu nehmen. Hier wird der Täter auch selbst betroffen, und es ist auf ihn und nicht auf die gefährdete Person abzustellen839. e) Rettungsabsicht Beim entschuldigenden Notstand ist eine Rettungsabsicht zu verlangen (wobei daneben auch andere Motive eine Rolle spielen dürfen). Das Verlangen einer solchen Absicht – anders als beim rechtfertigenden Notstand, wo die Kenntnis der rechtfertigenden Umstände ausreicht840 – erklärt sich aus der Tatsache, dass der Staat keinesfalls vor einem Dilemma steht, wenn der Täter seine angeborenen Rechte nicht retten will 841. Diese Rechte darf nämlich niemand anders verwirken als die Person selbst. Nur so wird auch die Selbstbetroffenheit des Täters für das Opfer verständlich: Der Grund, weshalb das Opfer den Schutz der Strafandrohung verliert, ist eben die zufällige Selbstbetroffenheit des Täters. Wenn der Täter seine angeborene Rechte nicht retten will, dann gibt es keinen Grund mehr, das Opfer ungeschützt zu lassen. f) Die zumutbare Hinnahme der Gefahr842 Die Strafe tritt trotz der existentiellen Not ein, wenn dem Täter zugemutet wird, die Gefahr hinzunehmen (§ 35 I 2). Der deutsche Gesetzgeber liefert zwei Beispiele für die Generalklausel („namentlich“), die sehr hilfreich für die Konkretisierung dieses offenen Rechtsbegriffs sind, nämlich die Selbstverursachung und die Übernahme eines besonderen Rechtsverhältnisses. Die dahinterstehenden Gedanken sind aber sehr alt und liegen letztendlich jeglicher gerechten Zurechsieht; siehe Schünemann, Sinn und Zweck der Strafe, in: FS-Yamanaka 2017, S. 501 ff., 509 f. 838 Coninx, JRE 22 (2014), S. 117 ff., die auch diese Einschränkung für anachronistisch hält. 839 So Matt/Renzikowski/Engländer, § 35 StGB, Rn. 3 840 Dazu statt aller Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl., § 14, Rn. 94 ff. 841 Siehe auch Puppe, Strafrecht, 3. Aufl., 2016, S. 226: „Weiter folgt daraus, dass der Täter wirklich aus den Präferenzen heraus gehandelt haben muss, für die die Rechtsordnung Verständnis aufbringt. Er muss also das Motiv gehabt haben, die Gefahr von sich oder seinem Angehörigen abzuwenden“; siehe Zieschang-LK § 35, 12. Aufl., 2006, Rn. 38 ff.; so auch Frister, Strafrecht AT, 7. Aufl., 2015, § 20, Rn. 16. 842 Ausf. hierzu Watzka, Die Zumutbarkeit, 1967, S. 18 ff., 78: Zumutbarkeit in diesem Kontext „als generalisierende Sollensgrenze mit regulativer Funktion“.

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nungslehre zugrunde. Diese Gedanken sind zum Beispiel schon in der Zurechnungslehre Pufendorfs zu lesen. Nach der Darstellung eines Beispiels erklärt er, dass die „Entschuldigung“ nicht in Betracht komm, „wenn ich ihm [dem Opfer] gegenüber durch eine besondere Verpflichtung verbunden bin, aus freien Stücken eine Gefahr auf mich zu nehmen“ 843. In einer anderen Passage setzt Pufendorf für die „Entschuldigung“ voraus, dass man sich „ohne eigene Schuld“ in einer Notlage befinde844. Es bleibe also die Möglichkeit einer Zurechnung bestehen, wenn der Täter „durch eigene Schuld seine Fähigkeit, die Leistung zu erbringen, verschlechtert oder verloren hat“ 845. Auch in der politischen Philosophie wird darüber diskutiert. Dix problematisiert zum Beispiel, ob in der Lehre Hobbes’ eine „naturgesetzwidrige Instrumentalisierung der wahren Freiheit“ eine Bestrafung des Täters rechtfertigen könne846: „Denn wenn auch die isoliert betrachtete Tat selbst in einer entschuldigenden Situation ausgeführt wurde, so war doch gerade die Herbeiführung dieser Situation und damit der Anlaß zur Verübung einer gesetzwidrigen Tat vom Täter bewußt unter dieser Zielsetzung herbeigeführt worden“ 847. Feuerbach verlangte einen „unverschuldeten Gemüthzustand“ 848. Nach ihm ist derjenige strafbar, der sich „durch eine zurechnungsfähige Uebertretung des Gesetzes gegen die Fahrlässigkeit in den Zustand der Nichtzurechnungsfähigkeit versetzt hat“ 849. Neubecker hat vorgeschlagen, dass die Herbeiführung der Notstandslage nicht die Straflosigkeit aufheben, sondern als autonomes „Polizeidelikt“ vorgesehen werden solle850. Das entscheidende Kriterium wäre in dem Verstoß gegen die eigenen Interessen zu erblicken851. Bei diesen Ausnahmen wird gelegentlich auch eine gemeinschaftsbezogene Einschränkung der Entschuldigung im Notstand vertreten. So sagt Kuhnt in seiner Monographie: „Somit ist Hauptzweck der Strafe im Bereich der Notstandspflichten, die Bedeutung der

843

Pufendorf, Über die Pflicht, Erstes Buch, 5. Kapitel, § 22, 1994, S. 70. Pufendorf, Über die Pflicht, Erstes Buch, 5. Kapitel, § 23, 1994, S. 70; Pufendorf spricht auch von einem „Verschulden“, aber eher auf die Befugnis, fremde Sachen zu zerstören, bezogen (§ 24). 845 Pufendorf, Über die Pflicht, Erstes Buch, 1. Kapitel, § 23, 1994, S. 36: „Wenn das der Fall ist, kann die Sache so behandelt werden, als wenn die Leistung noch erbracht werden könnte. Denn sonst bestünde leicht die Möglichkeit, sich einer Verbindlichkeit, deren Erfüllung ein wenig mühsamer ist, dadurch zu entziehen, daß man sich selbst freiwillig die Möglichkeit ihrer Erfüllung nähme.“ 846 Dix, Lebensgefährdung, 1994, S. 152 ff., 154 ff., 156: „Denn gerade weil es, wie oben dargelegt, der Rationalität des Subjekts entspricht, sich in den durch die positiven Gesetze vorgegebenen Bahnen zu bewegen, kann es unmöglich selbst rational sein, die wahre Freiheit dazu zu instrumentalisieren, diese Bahnen zu verlassen.“ 847 Dix, Lebensgefährdung, 1994, S. 154. 848 Feuerbach, Lehrbuch, 14. Aufl., 1847, § 90, S. 163. 849 Feuerbach, Lehrbuch, 1. Aufl., 1801, § 95, S. 74. 850 Neubecker, Zwang und Notstand, Band I, 1910, S. 330; Hefermehl, Der verursachte entschuldigende Notstand, 1980, S. 35. 851 Hefermehl, Der verursachte entschuldigende Notstand, 1980, S. 106. 844

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sozialen Gemeinschaftsordnung als Schranke auch für vitale Individualinteressen aufzuzeigen und die grundsätzliche Unverletzlichkeit unbeteiligter Rechtsgüter einzuprägen“ 852. Es ist kein Geheimnis, dass gerade die Erklärung der Ausnahmenregelung der Literatur immer große Probleme bereitet hat. Die Flut der Theorien ist höchstwahrscheinlich vor allem darauf zurückzuführen853. Die auf den Selbsterhaltungstrieb basierten Theorien versagen, wie dargelegt, bei den gesetzlichen Ausnahmen. Die doppelte Schuldminderungslehre hat die Ausnahme durch eine Verquickung zwischen Unrecht und Schuld zu erklären versucht, und Roxin hebt den generalpräventiven Aspekt der Ausnahmen hervor854. Gerade bei der Erklärung der Ausnahmen werden die kollektivistischen Züge der Ansätze offensichtlich, wie schon oben gezeigt wurde. Die hier entwickelte Theorie erklärt auch die Ausnahmen, ohne die Personen zu instrumentalisieren. Ein angeborenes Recht kann dem Täter nur entzogen werden, wenn er das selbst zu verantworten hat. Strafe setzt Schuld voraus. Bei den vorgesehenen Ausnahmen hat der Täter seine angeborenen Rechte durch sein Fehlverhalten verwirkt. Damit wird auch der eigene Beitrag des Täters zu seiner Bestrafung identifiziert. Er hätte Strafe durchaus vermeiden können. Die existentielle Notlage ist keinesfalls dem Zufall zuzuschreiben. Eine Straflosigkeit auch in diesen Fällen würde das Opfer im oben definierten Sinne instrumentalisieren. Dies ist der Kern der Erklärung der Ausnahmen. Die Strafe ist also dem Täter gegenüber gerechtfertigt: Er hat Schuld auf sich geladen. Dieses wichtige Thema der Notstandsdogmatik ist näher zu verdeutlichen. aa) Selbstverursachung Das Merkmal der Selbstverursachung hat die Lehre immer beschäftigt. Baumgarten meint dazu: „Ueber keine Einzelfrage aus der Notstandslehre ist mehr geschrieben worden als über diese“ 855, und nach Henkel ist dies „eine der am meisten erörterten, zugleich eine der am heftigsten umstrittenen Fragen des Notstandsrechts“ 856. Es handelt sich in der Tat um „eine sehr kniffliche Frage“ 857. Roxin hat die Sorge des Gesetzgebers mit großer Klarheit beschrieben: „Gerade wegen der Schwierigkeit einer normativen Regelung von Extremkonstellationen 852 Kuhnt, Pflichten, 1966, S. 207. Er sagt: „Die Tendenz nach erhöhten Pflichten muß zwar bei zunehmendem Verständnis des Individuums als eines sozialen Gemeinschaftswesens stetig wachsen“ (S. 172). 853 Kühl, Strafrecht AT, 8. Aufl., § 12, Rn. 22 plädiert deswegen für eine komplexe Erklärung des § 35: „Die differenzierte Regelung des entschuldigenden Notstands kann somit nicht durch einen Gesichtspunkt vollständig erklärt werden.“ 854 Über die Diskussion siehe ausf. Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl., § 22, Rn. 35 ff. 855 Baumgarten, Notstand und Notwehr, 1911, S. 46; schon Janka, Der strafrechtliche Notstand, 1878, S. 248 ff. 856 Henkel, Der Notstand, 1931, S. 135. 857 Neubecker, Zwang und Notstand, Band I, 1910, S. 325.

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muß der Gesetzgeber alles daransetzen, schon die Entstehung solcher Situationen zu verhindern“ 858. In der älteren Fassung der Vorschrift zum entschuldigenden Notstand (§ 54 RStGB) war von einer „unverschuldeten“ Herbeiführung der Notstandslage die Rede859. Bei dem früher spezifisch normierten Nötigungsnotstand des § 52 RStGB galt diese explizite Einschränkung nicht. Es gab aber Autoren, wie Binding, die das Merkmal des Unverschuldetseins auch auf den § 52 RStGB übertragen wollten860. Die Rechtsprechung indes prüfte in der Regel ein Verschulden des Täters anhand eines allgemeinen Zumutbarkeitsgedankens861. Dies klingt intuitiv einleuchtend, war aber nicht unumstritten. Einige haben wegen der Schwierigkeit der Behandlung des verschuldeten Notstands alternative Regelungen vorgeschlagen. Ein solcher Vorschlag war die Bestrafung des Verschuldens der Notlage selbst862. So hat Neubecker vertreten: „Man strafe den verschuldeten Notstand, die ,Verschuldung‘ des Notstandes. Dann ist man aus allen Schwierigkeiten und Kontroversen heraus, und, was noch wichtiger ist, man befindet sich im Einklang mit den Forderungen der Gerechtigkeit“ 863. Es wird auch oft eine Parallele zur actio libera in causa864 gezogen oder auf die Bestrafung des Vorverschuldens865 rekurriert. So sagte Goldschmidt: „Weder als Rechtfertigungs- noch als Entschuldigungsgrund ist der Notstand davon abhängig zu machen, daß die ,Gefahr‘ eine ,unverschuldete‘ war“ 866. Er plädierte für eine direkte Anwendung der actio libera in causa, was eine spezifische Regel erübrigen würde867. Auch 858 Roxin, in: FS-Henkel, 1974, S. 171 ff., 184; zur Verschuldensfrage im Zivilrecht siehe Canaris, JZ 1963, S. 655 ff. 859 Ausf. hierzu Hefermehl, Der verursachte entschuldigende Notstand, 1980, S. 18 ff. 860 Binding, Handbuch, 1885, S. 769: „Es ist undenkbar, denjenigen zu strafen, der den Notstand absichtlich durch Herbeiführung einer Naturkatastrophe verursacht hat, den Andern aber straflos zu lassen, der zu gleichem Zwecke die gefährliche Drohung provoziert.“ 861 Siehe Hefermehl, Der verursachte entschuldigende Notstand, 1980, S. 29 ff. 862 Kuhnt, Pflichten, 1966, S. 68 f.: „Nach der hier vorgeschlagenen Lösung könnte eine Sondervorschrift dem Richter die Möglichkeit geben, die schuldhafte Herbeiführung einer Notstandshandlung innerhalb eines bestimmten Rahmens nach pflichtgemäßem Ermessen zu bestrafen oder auch ganz von Strafe abzusehen.“ 863 Neubecker, Zwang und Notstand, Band I, 1910, S. 331. 864 Kuhnt, Pflichten, 1966, S. 62: „mit der schuldhaften Herbeiführung des Notstands soll die auf die ganze Tat bezogene Schuld beginnen; es muß dann selbst angesichts einer Notstandsgefahr unbillig erscheinen, Dritte für die Pflichtwidrigkeit büßen zu lassen“. 865 T. Zimmermann, Rettungstötungen, 2009, S. 242 f. Puppe, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 3. Aufl., 2016, S. 227: Es gehe nicht um Vorverschulden, sondern um ein Anheben der Unzumutbarkeitsgrenze: „Es geht vielmehr darum, dass man vom Täter mehr Opferbereitschaft, Selbstbeherrschung und Mut verlangt, weil er die Gefahr selbst verursacht. Er muss dabei also pflichtwidrig in Bezug auf diese Gefahr gehandelt haben.“ 866 Goldschmidt, Der Notstand, ein Schuldproblem, 1913, S. 51. 867 Goldschmidt, Der Notstand, ein Schuldproblem, 1913, S. 53.

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über die Möglichkeit einer sogenannten außerordentlichen Zurechnung wird diskutiert868. Trotz aller Meinungsunterschiede besteht ein weitgehender Konsens über die Relevanz der Selbstverursachung der Gefahr: Dieser Täter darf nicht mit kompletter Straffreiheit honoriert werden. Diesem Verlangen eines unverschuldeten Notstands liege ein „durchaus gesunder“ Gedanke zugrunde: „er lautet für den Rechtsgüternotstand dahin, dass es nicht ein anderer büssen soll, wenn ich mich in Gefahr gestürzt habe, – auf die Spitze getrieben: wer sich in Gefahr begeben hat, komme drin um“ 869. Seit 1975 benutzt das Gesetz das Wort Verursachung. Das war nur eine scheinbare Lösung dieser alten Frage: „Damit sind aber mehr Unklarheiten geschaffen als beseitigt worden“, behauptet Roxin mit Recht870. Denn es ist schon klar, dass die Verursachung im Sinne der conditio sine qua non-Formel für die Versagung der Entschuldigung nicht ausreichen kann. Auch sozialadäquates Verhalten wäre damit erfasst871. Die moderne Lehre spricht in diesem Kontext von einer Obliegenheitsverletzung: „Erweitert wird nicht der Bereich der Handlungspflichten, sondern der der Zumutbarkeit der Erfüllung dieser Pflichten“ 872. Denn die Selbstgefährdung ist nicht pflichtwidrig oder verboten873. Schon Henkel hat bemerkt, dass es hier tatsächlich ungenau ist, über eine Pflichtwidrigkeit oder ein Verschulden im technischen Sinn zu sprechen: „Vom Verschulden bezüglich der Herbeiführung der Gefahr kann man also hier nur in einem unjuristischen, allgemeinen Sinne reden, indem man das Urteil ausspricht, daß der Notstandstäter, ,es sich selbst zuzuschreiben‘ habe“ 874. Vielmehr müsse der Täter den Notstand „ohne Rechtgrund“ 875 verursacht haben oder eine bestimmte Lage sich als voraussehbar erweisen: „Der konkrete Notstand muss voraussehbar gewesen sein, die Möglichkeit, dass es zu irgend einem Notstande kommen könne, reicht nicht aus“ 876. 868

Renzikowski, JRE 11 (2003), S. 269 ff., S. 284. Binding, Handbuch, 1885, S. 778: „Also gerade vom Urheber des verschuldeten Notstandes verlangt die Rechtsordnung, dass er ihn bestehe, dass er also ,Held‘ sei“; gegen ihn Kuhnt, Pflichten, 1966, S. 181 f. 870 Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl., § 22, Rn. 44. 871 So Kühl, Strafrecht AT, 8. Aufl., § 12, Rn. 62 f. 872 Neumann, Zurechnung und Vorverschulden, 1985, S. 223; Hörnle, JuS 2009, S. 873 ff., 879: Man müsse „eine unvernünftige und gewichtige Obliegenheitsverletzung und somit die vorwerfbare Verursachung einer vorhersehbaren Gefahr voraussetzen“; Matt/Renzikowski/Engländer, § 35 StGB, Rn. 9. 873 Neumann, Zurechnung und Vorverschulden, 1985, S. 234; siehe auch Hefermehl, Der verursachte entschuldigende Notstand, 1980, S. 80 ff., 102: „Die Rechtsordnung verbietet es nicht, sich selbst in Gefahr zu bringen, zu schädigen oder einen Nachteil zuzufügen.“ 874 Henkel, Der Notstand, 1931, S. 140. 875 Dieses Kriterium wird von Roxin erwähnt, Roxin, JA 1990, S. 139. 876 Binding, Handbuch, 1885, S. 778; siehe auch H. Mayer, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1953, S. 193: „Verschuldet ist die Notlage dann, wenn der Gefährdete sich ohne 869

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Eine andere viel diskutierte Frage ist, ob der Täter nur die Gefahr selbst verursacht haben muss oder ob er zusätzlich die spätere Notstandssituation mindestens vorhergesehen haben muss877. Der Richter müsste, um die Entschuldigung auszuschließen, die Vorhersehbarkeit der Gefahr und auch der Nothandlung als einzige Möglichkeit, daraus zu entkommen, prüfen. Das ist streitig. Laut Neumann ist dieses zweite Merkmal „unerheblich“ 878. Zur früheren Fassung des Gesetzes behauptete zum Beispiel Welzel, dass Verschulden nur vorliege, wenn nicht bloß die Gefahr, „sondern [. . .] auch die Notwendigkeit der Verletzung fremder Rechtsgüter pflichtwidrig herbeigeführt war“ 879. Diese Problematik der Selbstverursachung wird besonders schwierig in der Konstellation der Notstandshilfe880. Schon Binding hatte diese Konstellation im Visier. Er bezeichnete sie als mittelbaren Notstand: „Notstand ist also für den rettenden Angehörigen nur dann ein unverschuldeter, wenn weder er selbst noch der vom Notstand unmittelbar Betroffenen ihn verschuldet hat“ 881. Welche Perspektive ist die maßgebliche? Wenn man auf die Motivation des Notstandshelfers abstellt, entsteht ein Unbehagen: „Bei der Rettung Angehöriger überwiegt nicht die Fremdnützigkeit der Handlung, sondern das Eigeninteresse an ihrer Vornahme. Dieses Eigeninteresse ist gerade dann besonders stark, wenn der Nothelfer die Notstandslage verschuldet hat“ 882. Es kommt nur auf das Verschulden des Nothelfers selbst an, denn maßgeblich ist allein sein Dilemma, es geht um seine Kontrollmöglichkeit883. So viel zu den zahlreichen Einzelproblemen dieses Merkmals. Hier geht es primär um die grundsätzliche Erklärung dieser Einschränkung der Entschuldigung im Notstand. Die Erklärung liefert die hiesige Theorie des entschuldigenden Notstands. Wenn ein Täter die Notlage selbst verursacht, dann ist es so, dass das Problem, vor dem der Staat sodann steht, eigentlich dem Verantwortungsbereich des Täters zuzuschreiben ist. Die Strafe hätte der Täter vermeiden können, Rechtsgrund in eine Gefahr begeben hat, aus welcher er sich nur durch die Notstandshandlung retten kann, obwohl er diese Sachlage vorausgesehen hat oder voraussehen konnte“; Kühl, Strafrecht AT, 8. Aufl., § 12, Rn. 63. 877 Statt aller siehe Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl., § 22, Rn. 48. 878 Neumann-NK, § 35, 5. Aufl., 2017, Rn. 36; Neumann, Zurechnung und Vorverschulden, 1985, S. 234 ff. 879 Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 2. Aufl., 1949, S. 51; siehe schon Henkel, Der Notstand, 1931, S. 139. 880 Kuhnt, Pflichten, 1966, S. 148 ff.: „Wer zu einem Menschen in einem engen Verhältnis steht, empfindet fremde Not präsumtiv als eigene, weil er durch dessen Verlust selber zutiefst getroffen wird.“; siehe Zieschang-LK, § 35, 12. Aufl., 2006, Rn. 64 ff. 881 Binding, Handbuch, 1885, S. 788; siehe heute Neumann-NK, § 35, 5. Aufl., 2017, Rn. 38: „Auch im Falle der Notstandshilfe kommt es nach dem Wortlaut des § 35 auf das Verhalten des Notstandstäters, nicht auf das der in Gefahr befindlichen nahestehenden Person an.“ 882 Kuhnt, Pflichten, 1966, S. 158. 883 Henkel meinte, andernfalls entstünde eine unbillige Prüfungspflicht bezüglich des etwaigen Verschuldens der zu rettenden Person: Der Notstand, 1931, S. 147.

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C. Theorie des entschuldigenden Notstands

wenn er die existentielle Notlage nicht selbst verursacht hätte. Dafür muss der Täter sich aber die Möglichkeit der Entstehung einer Notstandslage vorgestellt haben. Hier ist eine Erklärung dem Opfer gegenüber entbehrlich, weil ihm nichts genommen wird: Denn wer eine Gefahr für angeborene Rechte anderer geschaffen hat, darf keine fremden Rechte verletzen. Auch bei der Notstandshilfe ist auf die Person des Täters abzustellen. Denn der Grund der Entschuldigung ist seine (mittelbare) Selbstbetroffenheit. bb) Besondere Rechtsverhältnisse Umstritten sind auch die Reichweite und die materielle Begründung des gesetzlichen Begriffs des „besonderen Rechtsverhältnisses“ 884. Lugert spricht in diesem Kontext von einer „erhöhten Gefahrtragungspflicht“ 885. Als gesicherte Erkenntnis gilt, dass die erhöhten Gefahrtragungspflichten von Personen im besonderen Rechtsverhältnis die Hinnahme sogenannter berufstypischer Gefahren gegenüber der Allgemeinheit umfasst. Das ist richtig und, soweit ich sehe, unbestreitbar. Es wird auch behauptet, dass diese Gefahrtragungspflichten nicht absolut zu verstehen seien (s. o. C., I., 3.). Sie kennen durchaus Grenzen. Eine Grenze ist jedenfalls erreicht, wenn man vor dem sicheren eigenen Tod steht886. Fraglich ist aber der genaue Inhalt dieser Pflichten. Es wird heftig diskutiert, ob damit nur die öffentlich-rechtlichen Pflichten gegenüber der Allgemeinheit gemeint sind oder auch besondere Pflichten gegenüber bestimmter Personen oder Gruppen – oder sogar Garantenstellungen jeglicher Art – unter den Begriff zu subsumieren sind887. Hörnle meint zum Beispiel, hier gelte eine Beschränkung auf die Tätigkeiten, „die primär auf Gefahrabwehr ausgerichtet sind“ 888. Bernsmann meint, es sei unmöglich, „eine auch nur halbwegs trennscharfe Eingrenzung des Begriffes

884

Ausf. dazu Bernsmann, in: FS-Blau 1985, S. 23 ff. Lugert, Notstand, 1991, S. 17. 886 Früher anders aber Binding, Handbuch, 1885, S. 782: „Diese Pflichten hat er selbstverständlich im Notfalle mit Opferung seines Lebens zu erfüllen“; siehe auch Roxin, Strafrecht AT I, § 22 Rn. 41: „Auch bei berufsspezifischen Gefahren wird man freilich nicht verlangen können, dass der Schutzpflichtige den sicheren oder höchstwahrscheinlichen Tod auf sich nimmt; das Recht fordert die Hinnahme von Gefahren, aber nicht die bewusste Lebensaufopferung.“ 887 Bernsmann, in: FS-Blau 1985, S. 23 ff., 40 ff.; in der politischen Philosophie siehe Fried, An Anatomy of Values, 1970, S. 227: „One answer is that where the potential rescuer occupies no office such as the captain of a ship, public health official, or the like, the occurrence of the accident may itself stand as a sufficient randomizing event to meet the dictates of fairness, so he may prefer his friend or loved one“; dazu Williams, Moral Luck, 1999, S. 17 f.; Pawlik, JRE 11 (2003), S. 287 ff., 306: Pawlik meint, Personen mit Schutzpflichten nur gegenüber einer bestimmten Zahl anderer Personen hätten keine institutionelle Pflicht, so dass ihre Pflicht nicht „systematisch mit der von Gefahrverursachern auf eine[r] Stufe“ stünde. Folge sei eine Strafmilderung. 888 Hörnle, JuS 2009, S. 873 ff., 879. 885

V. Grund und Grenzen des entschuldigenden Notstands

235

des ,besonderen Rechtsverhältnisses‘ anzugeben“ 889. Jedenfalls muss man hier restriktiv vorgehen, weil in diesem Fall anders als bei der Selbstverursachung keine fakultative Strafmilderung vorgesehen ist. Diese Ausnahme beruht auch auf einer autonomen Entscheidung des Täters selbst. Auch die Personen, die in besonderen Rechtsverhältnissen stehen, haben sich selbst vor der Notlage für eine Erweiterung ihrer Pflichten als Bürger, wodurch ihre angeborene Rechte in eine kritische Situation geraten, entschieden. Diese Entscheidung ist also Teil der Biographie des Täters als Person. Wie schon angedeutet, respektiert der Staat den Täter als Person, indem er seine Biographie – das heißt: die schon vor der Notlage wichtigen biographischen Daten: nähere Verhältnisse usw. – ernst nimmt. Die aus einer Stelle als Polizist oder Feuerwehrmann entstandene konstante Konfrontation mit Gefahren für Leben, Leib oder Freiheit ist Teil des Lebensplans des Täters selbst: „Man tut diesem Bürger deshalb kein Unrecht, wenn man ihn nach seinem eigenen Lebensplan behandelt und ihm die Konfrontation mit der Gefahr zumutet“ 890. Er hätte ein Leben ohne Strafe planen können, indem er sich für keine solche Tätigkeit entschieden hätte. Nicht die Rolle, die der Täter in der Gesellschaft eingenommen hat, sondern dass er seine eigenen angeborenen Rechte in Gefahr gebracht hat, ist hierfür maßgeblich. Die Literatur sieht die Lage ähnlich. So schreibt T. Zimmermann: „Das Fundament der Erweiterung der Zumutbarkeitsgrenze in diesen Fällen ist dabei jedoch stets die Freiwilligkeit, mit der die Personen ihre verantwortungsvolle Aufgabe übernommen haben“ 891. Puppe sagt, hier habe der Täter nicht nur einen Vertrauenstatbestand geschaffen, „in dem er versprochen hat, andere vor dieser Gefahr zu schützen, sondern auch einen Platz eingenommen, den sonst ein anderer hätte einnehmen können, der in seiner Pflichterfüllung nicht versagt hätte“ 892. Diese Ideen werden meines Erachtens durch die hier vertretene These bestätigt. cc) Andere Fälle Andere, im Gesetz nicht ausdrücklich vorgesehene Fälle der zumutbaren Gefahrhinnahme sind denkbar („namentlich“). Diese Generalklausel muss man aber restriktiv auslegen. Denn sie wirkt grundsätzlich strafbarkeitsausdehnend. Hier könnte man die Fälle der Sozialnot oder Jedermannsgefahren893 anführen, oder die Fälle von gesetzlich angeordneten Gefahren wie der Untersuchungshaft. 889

Bernsmann, in: FS-Blau 1985, S. 23 ff., 41. Greco, Lebendiges, 2009, S. 507: „Diese Pflicht ist nicht anders als die Kehrseite der Anerkennung des Rechts jedes einzelnen Bürgers auf freie Gestaltung seines individuellen Lebensplans.“ 891 T. Zimmermann, Rettungstötungen, 2009, S. 247. 892 Puppe, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 3. Aufl., S. 227. 893 T. Zimmermann, Rettungstötungen, 2009, S. 254 ff. 890

236

C. Theorie des entschuldigenden Notstands

Schon Pufendorf hat es hervorgehoben: „Anders ist es nur, wenn ein solcher Fall kraft ausdrücklicher Anordnung oder nach der Natur der Angelegenheit vom Gesetz mit umfaßt ist“ 894. Hier wird in der Regel über die Verurteilung materiell Unschuldiger diskutiert: „Da in diesem Fall die Rechtsgutsbeeinträchtigung nach dem Entscheidungsprogramm des materiellen Rechts gerade nicht erfolgen soll, wird man dem Betroffenen die Berufung auf § 35 hier nicht generell versagen können“ 895; die aus Rechtfertigungsgründen entstandenen Duldungspflichten oder die Existenz einer Garantenstellung schließen die Möglichkeit einer Handlung im entschuldigenden Notstand grundsätzlich aus896. Bei all diesen Fällen wird aber der sichere Tod als die äußerste Grenze anerkannt897. Es fragt sich aber, ob dieser „absolute“ Lebensschutz898 auch im Kriegsfalle fortbesteht. Man denke an einen Soldaten, der eingezogen und sodann verpflichtet wird, sich in größte Lebensgefahr zu begeben899. Ist er zu entschuldigen, wenn er einen unbeteiligten Menschen tötet, um sein Leben zu retten, oder darf der Staat verlangen, dass er zum Wohle des Volkes sein eigenes Leben opfert? Roxin schreibt dazu: „Die meisten modernen Staaten gebieten unter Strafdruck im Kriege und in Situationen nach Art des § 35 I 2 die Hinnahme des Todes oder großer Todesgefahr“ 900. In § 6 WStG liest man tatsächlich: „Furcht vor persönlicher Gefahr entschuldigt eine Tat nicht, wenn die soldatische Pflicht verlangt, die Gefahr zu bestehen“ 901. Diese soldatische Pflicht, die im äußersten Fall die Preisgabe des eigenen Lebens umfasst, wird als „Pflicht zur Tapferkeit“ bezeichnet (§ 7 SG: „Der Soldat hat die Pflicht, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen“); eine Pflicht, die nicht nur, aber vor allem „während eines bewaffneten Konflikts“ gilt902. Ob sich diese Lebensaufopferungspflicht im Kriegsfalle aber legitimieren lässt, ist zu bezweifeln, vor allem wenn man die Straflosigkeit des

894

Pufendorf, Über die Pflicht, Erstes Buch, 5. Kapitel, § 21, 1994, S. 68. Neumann-NK, § 35, 5. Aufl., 2017, Rn. 52. 896 Neumann-NK, § 35, 5. Aufl., 2017, Rn. 52. 897 Dazu siehe Neumann-NK, § 35, 5. Aufl., 2017, Rn. 51. 898 Zu diesem topos siehe BGHSt 41, 317, 325; Fischer, in: FS-Roxin II 2011, S. 557 ff., 558 ff.: „absolut“ ist cum grano salis zu verstehen, da Tötungen in Notwehr (§ 32) rechtmäßig sein können. 899 Ob die Behauptung, es gebe für Soldaten im Krieg eine solche Pflicht zur Lebensaufopferung, zu legitimieren ist, wird in der modernen Literatur teilweise bestritten: Gauder, Das abverlangte Lebensopfer, S. 15 ff., 43 ff.; dies., NZWehrr 2009, S. 98 ff., 111 ff., 117. 900 Roxin, Strafrecht AT I, § 22 Rn. 14. 901 Siehe Erbs/Kohlhaas/Dau, WStG, 2017, § 6 Rn. 1: Dem Soldaten ist die Berufung auf den entschuldigenden Notstand gemäß § 35 versagt, „wenn eine soldatische Pflicht von ihm verlangt, die Gefahr zu bestehen“. 902 Dazu statt aller Erbs/Kohlhaas/Dau, WStG, 2017, § 6 Rn. 1; MK-Dau, WStG § 6, 3. Aufl., Rn. 1: „wehrrechtspezifische Ausnahmebestimmung zu § 35 StGB“. 895

V. Grund und Grenzen des entschuldigenden Notstands

237

entschuldigenden Notstands „individualistisch“ begründet. Diese Frage ist aus zwei Gründen schwierig zu beantworten: Erstens kennt die zwischenmenschliche Solidarität, wie gesehen, eine feste rechtliche Grenze: die Aufopferung der eigenen existentiellen Güter – die Rechtsordnung rechtfertigt Eingriffe in diese Güter gemäß § 34 nicht (s. o. C., II., 3.). Es fragt sich also, ob der Staat dem Einzelnen im Kriegsfalle ausnahmsweise im Namen des Volkes eine Duldungspflicht auferlegen darf, Gefahren für seine angeborene Rechte grenzenlos hinzunehmen. Zweitens kann dort, wo eine Wehrpflicht besteht, von einer vorausgegangenen autonomen Entscheidung der Person – wie in den Fällen des besonderen Rechtsverhältnisses und der Selbstverursachung der Gefahr – nicht die Rede sein903 (Berufssoldaten und Freiwillige bleiben ausgeklammert). Die Pflicht zur Aufopferung des eigenen Lebens im Kriegsfalle lässt sich also tatsächlich nicht anhand der bislang vorgetragenen „individualistischen“ Erwägungen legitimieren (s. o., C., IV., 5.). Vertragstheoretisch gedeutet ist der Krieg das Gegenteil des erwünschten Rechtszustandes, in dem die angeborenen Rechte gesichert sind. Dieses Unbehagen ist jedoch keinesfalls eine Schwäche der in dieser Untersuchung vorgeschlagenen Konstruktion. Denn Krieg – oder ein bewaffneter Konflikt im Sinne des Völkerrechts904 – ist einer individualistischen Betrachtung per definitionem schwer zugänglich: Es geht primär um Staaten, nicht um Individuen905. Mit Recht hat R. Merkel von der „normativ unreine[n] Sphäre des Krieges“ gesprochen906. Im Krieg wird zumeist die Frage nach dem „militärischen Vorteil“ eines Handelns oder nach seiner Verhältnismäßigkeit gestellt. Damit wird den Rechten der Betroffenen kein Wort gewidmet, und wenn dies geschieht, sind die individuellen Rechte von zweitrangiger Bedeutung. Stattdessen wird diskutiert, ob etwaige „Kollateralschäden“, wie die „unvermeidlichen“ Tötungen unbeteiligter Zivilisten, sogar als rechtmäßig betrachtet werden dürfen907; eine Frage, die in Friedenszeiten zurecht in der Regel nicht einmal gestellt wird908. Der Krieg fordert also die liberal-individualistischen Kategorien des Strafrechts insgesamt heraus, so auch den entschuldigenden Notstand. Damit soll nicht gesagt werden, dass sich eine Lebensaufopferungspflicht im Kriegsfalle überhaupt nicht legimitieren lasse. Die Legitimierung der staatlich auferlegten Pflicht zur Lebensaufopferung im Kriegsfall erfordert aber eine gesonderte Behandlung, die den Rahmen dieser Untersuchung sprengen würde909.

903

Dazu siehe Helmers, Möglichkeit, 2016, S. 283. Ausf. dazu Kotzur, ArchVolk 40 (2002), S. 454 ff., 461 ff. 905 Aus interessanter individualistischer Perspektive aber T. Zimmermann, JZ 2014, S. 388 ff. 906 Merkel, JZ 2012, S. 1137 ff.; siehe dazu T. Zimmermann, JZ 2014, S. 388 ff. 907 Merkel, JZ 2012, S. 1137 ff. 908 Siehe T. Zimmermann, JZ 2014, S. 388 ff. 909 Zur Gegenüberstellung von „Friedens- und Kriegsstrafrecht“ siehe T. Zimmermann, GA 2010, S. 507 ff., 509 ff. 904

238

C. Theorie des entschuldigenden Notstands

g) Proportionalität Die Proportionalitätserfordernisse beim entschuldigenden Notstand verdienen meines Erachtens eine gesonderte Behandlung. Denn hier findet grundsätzlich keine Interessenabwägung statt. Es ist schwer zu erklären, wieso die herrschende Meinung die These vertritt, bei einem „krassen Missverhältnis“ scheide eine Entschuldigung aus. Der entschuldigende Notstand kennt keine explizite Interessenabwägungsklausel, so dass die Einschränkung seines Anwendungsbereichs durch eine Verhältnismäßigkeitsprüfung von Tatfolgen und Gefahrabwendung auf den ersten Blick fehl am Platze erscheint910. Die herrschende Meinung behauptet aber trotzdem, die Gefahr sei hinzunehmen, wenn die angerichteten Schäden unverhältnismäßig erschienen911. Die doppelte Schuldminderungslehre versucht diese Proportionalitätserfordernisse mit der Idee einer Kompensation zwischen Erhaltungs- und Eingriffsgut zu rechtfertigen. Peña-Wasaff zum Beispiel schreibt, dass das gefährdete Rechtsgut „nicht um jeden Preis“ geschützt werden solle und eine Entschuldigung nur dann eintrete, „wenn der Schaden, den sie [die Tat] stiftet, nicht unverhältnismäßig größer ist als der erreichte Nutzen, da nur in diesem Fall das Unrecht als gemindert angesehen werden kann“ 912. Vor allem die Erstreckung des existentiellen Notstands auf den Leibesnotstand und jetzt auch auf den Freiheitsnotstand hat dieses Problem aufgeworfen: „Es kann aber unmöglich die Absicht des Gesetzes sein, die Gesundheit hierin dem Leben durchaus gleichzustellen, und für den Leibnotstand wird man dann notgedrungen wieder zu der Aufwerfung der Proportionalitätsfrage im einzelnen Falle gedrängt“ 913. Denn in akuter Lebensgefahr darf der Täter sogar mehrere Personen töten. Die Verhältnismäßigkeit ist tatsächlich ein sehr schwer zu fassendes Merkmal, und es überrascht deswegen nicht, dass der Gesetzgeber dazu geschwiegen hat: „es ist aber zu subintelligiren, und erst dann wird GB § 54 nicht in hohem Maasse anstössig“ 914. 910 Dazu ausf. Neumann-NK, § 35, 5. Aufl., 2017, Rn. 47 ff.; das ÖStGB enthält einen expliziten Verweis darauf: „§ 10 I öStGB: Wer eine mit Strafe bedrohte Tat begeht, um einen unmittelbar drohenden bedeutenden Nachteil von sich oder einem anderen abzuwenden, ist entschuldigt, wenn der aus der Tat drohende Schaden nicht unverhältnismäßig schwerer wiegt als der Nachteil, den sie abwenden soll, und in der Lage des Täters von einem mit den rechtlich geschützten Werten verbundenen Menschen kein anderes Verhalten zu erwarten war.“ 911 Siehe Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl., § 22, Rn. 54 ff.; ausf. hierzu ZieschangLK, § 35, 12. Aufl., 2006, Rn. 62 ff.; Kühl, Strafrecht AT, 8. Aufl., § 12, Rn. 53: „ungeschriebenes Merkmal“. 912 Peña-Wasaff, Der entschuldigende Notstand, 1979, S. 142. 913 Binding, Handbuch, 1885, S. 774; H. Mayer, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 1953, S. 189: „Güterabwägung nach dem Maßstab der Zumutbarkeit“; siehe Kühl, Strafrecht AT, 8. Aufl., § 12, Rn. 11, der meint, hier sei der Gesetzgeber zu weit gegangen. 914 Binding, Handbuch, 1885, S. 784: Die Beispiele Bindings zeigen seine kollektivistischen Züge: „Es hiesse die Ausnahme von der Norm zu weit treiben, sollte es einem Deutschen unverboten sein zur Rettung von Leib oder Leben seiner selbst etwa ein

VI. Ergebnisse des Kapitels

239

Die von der herrschenden Lehre verlangten gewissen Proportionalitätserfordernisse lassen sich unschwer erklären, wenn man mit der oben genannten minimalen Rechtfertigung der Straffreiheit dem Opfer gegenüber ernst macht. Der Staat muss Täter und Opfer soweit wie möglich gleichbehandeln. Beide sind Opfer einer zufällig entstandenen existentiellen Krise. Aber auch in dieser Krise darf der Täter nicht alles tun. Auch angeborene Rechte sind abstufbar: Das Leben steht hierarchisch auf jeden Fall auf höchster Stufe im Vergleich zum Leib und zur Fortbewegungsfreiheit. Man darf also nicht zweiundzwanzig Personen töten, um sein Bein zu retten. Das Proportionalitätserfordernis versteht man deswegen erst, wenn man die Belange des Täters mit den Belangen des Opfers vergleicht915. Mit anderen Worten: Wenn man die Qualität der involvierten Rechte der Personen vergleicht.

VI. Ergebnisse des Kapitels Somit komme ich zum Ende dieses Kapitels. Hellmuth Mayer hat einmal zu Recht gesagt: „Nothandeln bringt leider meist nur Notlösungen zustande“ 916. Die Fixierung auf die vage Idee der Nachsichtsausübung ist eine solche Notlösung. Die Vernachlässigung des Verhältnisses zwischen entschuldigendem Notstand und Strafbegriff war meines Erachtens der Hauptfehler der Lehre – die Verbrechenlehre ist primär aus dem Strafbegriff zu konstruieren. Strafe lässt sich als der „Entzug“ angeborener Rechte definieren. Der normbezogene Schuldbegriff ist revisionsbedürftig, und in der hiesigen Untersuchung habe ich versucht, die Grundlinien einer Revision zu bestimmen. Der existentielle Notstand ist ein genuines Schuldproblem, und Schuld ist das rechtswidrige Handeln trotz strafbezogener normativer Ansprechbarkeit. Der hiesige Versuch zielte darauf, die Rechte der Person in den Vordergrund zu stellen, um den Beitrag der Person selbst zu ihrer Bestrafung zu identifizieren. Im existentiellen Notstand ist die Person nicht in der Lage, ein Leben ohne Strafe zu planen; die Bestrafung des

Regiment deutscher Truppen dem Feinde in die Hände zu spielen“, siehe dazu Henkel, Der Notstand, 1931, S. 45. 915 Neumann-NK, § 35, 5. Aufl., Rn. 49. Neumann postuliert, hier könne eine Inversion des Maßstabs des rechtfertigenden Notstands gelten: Wenn das Eingriffsinteresse das Rettungsinteresse wesentlich überwiege, dann sei die Handlung in existentieller Not disproportional: „in überwiegende Interessen anderer kann nicht straflos eingreifen, wer umgekehrt nach Notstandsregeln verpflichtet wäre, zur Rettung des fremden Interesses einen Eingriff in seine eigenen Interessen zu dulden“. Die Rettung aus akuter Gefahr aber sei noch zu entschuldigenden, selbst wenn man mehrere Personen töte; siehe den interessanten Gedanken von Matt/Renzikowski/Engländer, § 35 StGB, Rn. 13: „Der Täter kann seine Belange denen des Opfers dann nicht mehr als prinzipiell gleichgestellt entgegenhalten, wenn der durch ihn angerichtete Schaden außer Verhältnis zu der abgewendeten Gefahr steht, dh. das beeinträchtige Interesse das geschützte Interesse wesentlich überwiegt.“ 916 H. Mayer, Strafrecht, AT, 1967, § 20, S. 87.

240

C. Theorie des entschuldigenden Notstands

Täters würde dem Kern des Schuldprinzips widersprechen. Wenn es § 35 nicht gäbe, würden wir im Namen der Gesellschaft Unschuldige bestrafen. Auch wenn man in den Wortlaut des § 35 blickt, liest man: der Täter „handelt ohne Schuld“. Das Gesetz ist manchmal klüger als man denkt.

D. Der Irrtum beim entschuldigenden Notstand Die Irrtümer beim entschuldigenden Notstand lassen sich schwerlich einheitlich erklären. Die Fallkonstellationen sind hochkompliziert1. Es leuchtet ein, dass es in einer existentiellen Notlage zu Fehleinschätzugen kommen kann, sowohl im tatsächlichen als auch im rechtlichen Bereich: Man glaubt zum Beispiel, die Notlage sei ausweglos (Irrtum im tatsächlichen Bereich); man denkt, ein Dritter sei Angehöriger oder dass auch die Rettung der sexuellen Selbstbestimmung durch eine Tötungshandlung entschuldbar sei usw. (Irrtum im rechtlichen Bereich). Sind alle dieser Irrtümer zu entschuldigen oder sogar zu rechtfertigen? Der deutsche Gesetzgeber hat trotz dieser Schwierigkeiten eine (wenig diskutierte) Regelung hierzu getroffen. § 35 II lautet: „Nimmt der Täter bei Begehung der Tat irrig Umstände an, welche ihn nach Absatz 1 entschuldigen würden, so wird er nur dann bestraft, wenn er den Irrtum vermeiden konnte. Die Strafe ist nach § 49 Abs. 1 zu mildern.“ Die in § 35 II vorgesehene Irrtumsregelung bildet keinen echten Notstandsfall, so dass sich eine gesonderte Behandlung dieser Problematik rechtfertigt2. Auf der anderen Seite wäre es verfehlt, die Erklärung dieser Irrtumsregelung ganz unabhängig von der oben gelieferten Begründung des entschuldigenden Notstands zu liefern. Denn kein anderes rechtliches Institut kennt eine „eigene“ spezifische Irrtumsregelung. Auf Rechtfertigungsebene kennt man nut Irrtümer über die Existenz oder Grenzen oder über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes im Allgemeinen. Diese einmalige Sonderregelung bildet neben der Ausnahmeregelung (§ 35 I 2) einen weiteren Grund, weshalb eine friktionsfreie Erklärung des § 35 schwierig zu konstruieren ist. Die Schwierigkeit bei der Erklärung dieser Irrtumsvorschrift ist nachzuvollziehen, denn sie bildet einen Schnittpunkt zweier Kardinalprobleme des Strafrechts; nämlich des Notstands – und „[d]er Notstand ist eines der schwersten Probleme der Strafrechtsgeschichte“ 3 – und der seit ewigen Zeiten umstrittenen Irrtumslehre4. Es verwundert also

1 Mit weiteren Nachweisen und Beispielen siehe Vogler, GA 1969, S. 108 ff.; Hardtung, ZStW 108 (1996), S. 36 ff. 2 Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl., § 22, Rn. 59 ff., 61: selbstständige Irrtumskategorie. 3 Welzel, Der allgemeine Teil des deutschen Strafrechts, 1940, S. 52. 4 Frisch, in: Eser/Perron, Rechtfertigung und Entschuldigung III, 1991, S. 217 ff., 261, mit einem Versuch, eine „grundlagenorientierte, methodisch fundierte Irrtumslehre“ zu etablieren.

242

D. Der Irrtum beim entschuldigenden Notstand

nicht, dass eine systematische Aufarbeitung der Irrtumsregelung des § 35 II, „der strengsten gesetzlichen Regelung für Irrtumsfälle“ 5, noch nicht vollständig geleistet wurde. Die Behauptung Siegerts, der entschuldigende Putativnotstand sei ein „stieffmütterlich behandeltes Problem“,6 trifft noch immer zu. Dem Irrtum im Bereich der Schuld wurde tatsächlich innerhalb der Strafrechtsdogmatik bislang keine besondere Bedeutung beigemessen: „Das Gesetz kennt also zwar einen Irrtum über den Tatbestand und einen Irrtum über die Rechtswidrigkeit, aber nicht einen Irrtum über die Schuld schlechthin“ 7. Das hängt selbstverständlich mit den Unsicherheiten bei der Begründung des entschuldigenden Notstands und bei der Bestimmung des Schuldbegriffs zusammen8. Ob der Irrtum über Entschuldigungsgründe von Relevanz ist, „richtet sich nach den rationes, die den jeweiligen Entschuldigungsgründen zugrunde liegen“ 9 – weil diese rationes nicht richtig begriffen wurden, bleibt auch die Irrtumsdogmatik unklar. Es ist also auf die sekundäre Natur jeder Irrtumsdogmatik zu achten10. Die Lage ist sehr interessant: Einerseits wird die Erklärung der Irrtumslehre durch die Begründung des entschuldigenden Notstands bedingt, andererseits aber ist es so, dass das Vorhandensein einer solchen Irrtumsregelung für die Begründung des § 35 relevant und vielsagend ist. Es besteht weitgehend eine Interdependenz der Probleme – diese Interdependenz hat konkrete Folgen zum Beispiel für die Frage der Analogiefähigkeit des § 35 II. Diese sekundäre Natur der irrtumsdogmatik wird in der Lehre teilweise erkannt. Es sei zuvörderst Frank genannt: „Die Irrtumslehre ist also nur die Dolus-

5

Küper, JZ 1989, S. 617 ff., 627. Siegert, Notstand und Putativnotstand, 1931, S. 2. Das Problem des Irrtums bei Entschuldigungsgründen ist ein altes: Binding hat einmal im Anschluss an Bittinger die Berücksichtigung der irrtümlichen Annahme von Schuldausschließungsgründen seitens der damaligen Lehre und Rechtsprechung als Beweis dafür vorgebracht, dass das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit zum Vorsatz gehöre: Binding, Die Normen III, 1918, S. 309, Fn 26. 7 Warda, Jura 1979, S. 1 ff., 2. 8 Bergenroth, Putativnotstand, 1933, S. 47; Salomon, Die irrtümliche Annahme, 1931, S. 2 f., 16; Stuckenberg, Vorstudien, 2007, S. 497; Pawlik, JRE 11 (2003), S. 287 ff.; Siegert, Notstand und Putativnotstand, 1931, S.1, 62; in Spanien Lorenzo, La exculpación penal, 2009, S. 397; Correa, Inexigibilidad, 2004, S. 94 ff.; Rudolphi, ZStW 78 (1966), S. 67 ff., 99; Roxin, JA 1990, S. 97 ff., 98; Wortmann, Inhalt und Bedeutung, 2002, S. 51 ff. 9 Stuckenberg, Vorstudien, 2007, S. 497; so schon Salomon, Die irrtümliche Annahme, 1931, S. 2: „Von dem Begriff des Notstandes hat denn auch jede Untersuchung des Putativnotstandes auszugehen“: Kuhnt, Pflichten, 1966, S. 209: „Wegen der Berücksichtigung der anormalen Motivation beim entschuldigenden Notstand werden vielfach Irrtumsfragen im Zusammenhang mit dem strafrechtlichen Notstand nicht nach den allgemeinen Regeln, sondern nach besonderen Grundsätzen behandelt.“ 10 Diese Einsicht stellt eines der größten Verdienste der grundlegenden Monographie von Kohlrausch, Irrtum und Schuldbegriff, 1903, S. 6 ff. dar: „sekundäre Natur des Irrtums“. 6

D. Der Irrtum beim entschuldigenden Notstand

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lehre vom negativen Standpunkt aus betrachtet“ 11. Auch Siegert hat in seiner Monographie über den Putativnotstand behauptet: „Damit die Stellung des Putativnotstandes im Strafrechtssystem ermittelt werden kann, müssen wir aber notwendigerweise auf die Fälle des echten Notstandes und ihre rechtliche Natur hinweisen“ 12. Eine unabhängige Irrtumsdogmatik wäre schlicht voraussetzungslos. Ein Irrtum im Bereich der Schuld setzt notwendigerweise einen positiven Schuldbegriff voraus. Dasselbe gilt für den Unrechtsbegriff. Wenn das Unrecht rein objektiv ist, besteht Konsens, dass dieser Tatsachenirrtum die Vorsatzschuld ausschließen sollte13. Dass der Irrtum beim entschuldigenden Notstand das Unrecht nicht auszuschließen vermag, ist ebenfalls klar: Wenn das objektive Gegebensein der Notlage das Unrecht unberührt lässt, darf die irrtümliche Annahme der Notlage nicht plötzlich Unrechtsrelevanz erlangen14. Auf die wechselseitige Abhängigkeit von Irrtum und Schuld ist in beiden Richtungen zu achten. § 35 II beweist zum Beispiel, dass der Gesetzgeber sich gegen eine exklusiv subjektive Deutung des entschuldigenden Notstands entschieden hat. Denn für die subjektive Deutung, die die ratio der Exkulpation lediglich im subjektiven Motivationsdruck des Täters sieht, gibt es keinen Unterschied zwischen einer echten und einer nur eingebildeten Notlage. Früher war es tatsächlich so, dass die Begründung, weshalb man beim Irrtum über die tatsächlichen Umstände eines Entschuldigungsgrundes die sogenannte Vorsatzschuld verneinen sollte, normalerweise nicht in der damaligen Fassung des § 59 RStGB gesucht wurde; vielmehr suchte und fand man sie in der ratio des entschuldigenden Notstandes selbst, nämlich in dem Motivationsdruck, der „in einem solchen Fall nicht anders sei als dann, wenn die entsprechende Annahme der Wirklichkeit entsprochen hätte“ 15. Dies muss auch so sein. Wäre der entschuldigende Notstand ein rein objektiver Schuldausschließungsgrund, wäre ein Irrtum des Täters über das Bestehen der Voraussetzungen als irrelevant zu betrachten (wie bei der Unzurechnungsfähig-

11 Frank, Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, 18. Aufl., 1931, S. 193; ähnlich Welzel in der ersten. Aufl. seines Lehrbuches: „Der Irrtum ist die umgekehrte Vorsatzlehre“, Welzel, Der allgemeine Teil des deutschen Strafrechts, 1940, S. 44; so auch Beyerlein, Unrechtsbewusstsein, 1953, S. 54: „Eine selbständige, unabhängige Bedeutung kommt dem Begriff Irrtum nicht zu.“ 12 Siegert, Notstand und Putativnotstand, 1931, S. 1; Siegert, ZStW 52 (1932), S. 48 ff., S. 50: „Strafrechtlich beachtlicher Notstand und Putativnotstand verhalten sich also zueinander wie zwei sich schneidende Kreise. Darin liegt eine besondere Schwierigkeit für die Behandlung des Putativnotstands.“ 13 Ausf. Frisch, in: Eser/Perron, Rechtfertigung und Entschuldigung III, 1991, S. 217 ff., 222 ff., 229 ff. 14 Frisch, in: Eser/Perron, Rechtfertigung und Entschuldigung III, 1991, S. 217 ff., 240 ff. 15 So richtig Frisch, in: Eser/Perron, Rechtfertigung und Entschuldigung III, 1991, S. 217 ff., 223.

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D. Der Irrtum beim entschuldigenden Notstand

keit)16. Wäre die Entschuldigung rein subjektiv begründet, dann wäre der Irrtum dem echten Notstand gleichgestellt (wie bei der Zumutbarkeitslösung)17. Ein eigenständiges Irrtumsproblem entsteht erst, wenn man sowohl objektive als auch subjektive Merkmale für den entschuldigenden Notstand verlangt. Das ist eben die heutige, positivrechtliche Lage: „Die Erwägungen, die den Gesetzgeber veranlasst haben, bei tatsächlichem Bestehen der Entschuldigungsgründe, obwohl Unrecht und Schuld nur gemildert und nicht ausgeschlossen sind, auf Strafe zu verzichten, sollten auch bei nur eingebildeter Entschuldigungssituation nicht völlig außer Betracht bleiben“ 18. Auch die hypothetische Prüfung erfordert dies („[. . .] welche ihn nach Absatz 1 entschuldigen würden“). Insoweit gilt: wo kein Notstand, dort auch kein Putativnotstand. Die subjektive Seite (die sog. Rettungsabsicht) ist ohne Weiteres übertragbar: Auch bei der irrigen Annahme der Notlage muss geprüft werden, ob der Täter seine Rechte retten wollte. Eine Theorie des entschuldigenden Notstands, die die Irrtumsregelung des § 35 II nicht mindestens in ihren Grundzügen erklärt, würde nach meiner Auffassung unvollständig bleiben – insofern dient dieses Kapitel der Vervollständigung. In diesem Kontext muss man allerdings darauf hinweisen, dass deduktivistische Lösungen, die keinen Bezug auf die wirklichen Probleme der Irrtumsdogmatik nehmen, auf dem Holzweg sind. Dies ist vor allem bei der Irrtumsdogmatik gefährlich. Denn die Irrtumslehre wurde immer benutzt, um abstrakte systematische Grundthesen zu „beweisen“. So hat Engisch in der Diskussion über den Irrtum bei Rechtfertigungsgründen treffend bemerkt, „daß Dogmatismus und Begriffsjurisprudenz die Oberhand zu bekommen scheinen in einer Frage, die letztlich unter Gerechtigkeits- und Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten beantwortet werden muß“ 19. Auch bei Arthur Kaufmann ist zu lesen: „Die Hauptschwierigkeit liegt darin, daß die Irrtumsfrage nicht isoliert betrachtet und gelöst werden kann. Sie hängt aufs engste zusammen mit den Grundelementen der Verbrechenslehre: Handlung, Unrecht, Schuld“ 20 – das ist richtig, muss aber cum grano salis verstanden werden. Tiedemann hat richtigerweise auf diese Gefahr des Deduktivismus bei der Diskussion des Irrtums im Bereich der Schuld hingewiesen: „Die Behandlung des Irrtums ist keine System-, sondern eine Zurechnungsfrage“ 21. In der Lehre sind Meinungen zu finden, die einfach deduktivistisch, ohne Bezug zu den konkreten Problemen des Irrtums beim entschuldigenden Notstand, vorge16 So schon Geyer, in: Geyer, Kleine Schriften strafrechtlichen Inhaltes, 1889, S. 297 ff., 304 f.; siehe auch Siegert, Notstand und Putativnotstand, 1931, S. 62, 70; Hardwig, Die Zurechnung, 1957, S. 238, Fn. 487. 17 Stuckenberg, Vorstudien, 2007, S. 364 ff. 18 Vogler, GA 1969, S. 108 ff., 115. 19 Engisch, ZStW 70 (1958), S. 566 ff. 20 Arthur Kaufmann, ZStW 76 (1964), S. 543 ff. 21 Tiedemann, in: Eser/Fletcher (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung, Band II, 1988, S. 1005, 1010.

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hen. So argumentiert Beyerlein, der für eine Gleichbehandlung der Irrtümer über die tatsächlichen Voraussetzungen der Rechtsfertigungs- und Entschuldigungsgründe plädiert, der Unterschied zwischen Unrecht und Schuld sei lediglich „systematisch, konstruktionell“ 22. Hier ist ein Mittelweg – zwischen voraussetzungsloser Isolierung der Irrtumsdogmatik und ästhetisch bedingter Ableitung der konkreten Probleme der Irrtumsdogmatik direkt aus systematischen Dogmen – zu wählen. Auch die oben ausführlich dargestellte Begründung des entschuldigenden Notstands ist für die Bestimmung der Konturen der Irrtumsregelung von erheblicher Bedeutung. Die Begründung der Irrtumsregelung sieht sich allerdings mit einer großen Schwierigkeit konfrontiert. Es fehlt hier nämlich eine grundlegende Voraussetzung des entschuldigenden Notstands, eine Voraussetzung, die eigentlich erst erklärt, weshalb ein so eindeutiger Konsens über die Straflosigkeit der existentiellen Nothandlung überhaupt erreicht wurde: Es fehlt die Selbstbetroffenheit der Person. Hier ist der Täter nicht objektiv persönlich betroffen, so dass eine minimale Begründung dem Opfer gegenüber schwerfällt. Denn es ist nicht leicht zu erklären, wieso eine nicht generalisierbare subjektive Erfahrung einer Person für andere maßgeblich sein sollte – diese rechtsphilosophische Frage zu ignorieren ist meines Erachtens einer der Hauptfehler der herrschenden Meinung (s. o. B., I.). Man vergegenwärtige sich die unumstrittene These, dass der Täter bei objektiv gegebener akuter Lebensgefahr – selbst ein Täter, der die Gefahr grundsätzlich hinzunehmen hätte – sogar mehrere Personen straflos töten „darf“. Der Umkehrschluss zu dieser Behauptung liegt auf der Hand: Bei nur eingebildeter Selbstbetroffenheit müssen die Kriterien einer Entschuldigung enger sein. Hier könnte man sogar mit Hilfe einer opferbezogenen Konstruktion gegen die Beachtung von Irrtümern im Bereich des entschuldigenden Notstandes argumentieren23. In der Diskussion taucht manchmal, wie schon gesehen, ein normtheoretisches, opferbezogenes Argument auf, das besagt, dass bei dem entschuldigenden Notstand die Sanktionsnorm des Tatbestands aufgehoben werde. Die Sanktionsnorm sei aber die Bestätigung der Ernsthaftigkeit des Verbots. Eine Aufhebung der Sanktionsnorm führe deshalb dazu, das unschuldige Opfer ungeschützt zu lassen24, vor allem wenn die Notlage nur nach der Vorstellung des Täters bestehe. Eine Rücknahme der Sanktionsnorm bei einer eingebildeten Vorstellung des Täters erscheint zweifelhaft. Dieses Argument wurde ähnlich schon bei v. Weber formuliert, in einem 1947 erschienenen Aufsatz über den Diebstahl in 22 Beyerlein, Unrechtsbewusstsein, 1953, S. 120; dagegen schon Graf, Irrtümer, 1967, S. 48 ff. 23 Darüber Klimsch, Die dogmatische Behandlung, 1993, S. 66 f.: „Sieht man das Problem ,Bewertungsirrtum‘ von der Opferseite, muß man alle Fehlvorstellungen des Täters in diesem Bereich für unbeachtlich halten.“ Klimsch befürwortet aber die Ausdehnung von § 35 II auch auf Bewertungsirrtümer. 24 Siehe Neumann, Zurechnung und Vorverschulden, 1985, S. 235.

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D. Der Irrtum beim entschuldigenden Notstand

rechter Hungersnot: „Denn die Anerkennung strafbefreienden Notstandes entzieht der bestehenden Eigentums- und Verbrauchsregelungsordnung den strafrechtlichen Schutz“ 25. Diese Argumente tendieren zu einer möglichst restriktiven Auslegung des entschuldigenden Notstandes, die sogar zu einer Abschaffung der Schuldtatbestandsirrtumsregelung führen könnte26. Hier zeigt sich abermals die Gegenüberstellung von Individualisierung und Generalisierung beim Notstand, die vor allem in der Diskussion über die Zumutbarkeit als voluntatives Schuldmerkmal von Bedeutung war. In der Besprechung eines Buches von Schaffstein hat zum Beispiel Welzel 1937 über die damals herrschende Auffassung des übergesetzlichen Notstands behauptet: „das vom RG. erforderte, aber von der h. L. abgelehnte subjektive Element der pflichtgemäßen Prüfung der Notstandsvoraussetzungen (bei Abtreibung z. B. durch einen Arzt) ist nichts anderes als die notwendige Voraussetzung zur Sicherung des Rechts vor schrankenloser Individualisierung, vor allem auch vor Berufung auf Putativnotstand“ 27. Wenn man über den Irrtum beim entschuldigenden Notstand sprechen will, spricht man automatisch über die etwaige entschuldigende Kraft einer bloßen Vorstellung des Täters, die manchmal das Lebens eines konkreten unschuldigen Opfers in der Wirklichkeit kosten kann28. Diese Irrtumsregel begründet die herrschende Meinung lediglich durch leere Behauptungen. Für den oben kritisierten normbezogenen Schuldbegriff bleibt beim entschuldigenden Notstand ein Schuldrest übrig, sei es als Andershandelnkönnen, sei es als normative Ansprechbarkeit verstanden29. Die Irrtumsregelung beweist die gerade dargelegte Schwäche dieser Behauptung: Wenn bereits in einer objektiv vorliegenden Notstandslage nur „Nachsicht geübt“ wird, dann ist es in der Tat schwierig zu begründen, wieso die Allgemeinheit oder die Rechtsordnung bei einer irrigen Vorstellung des Täters, die das Leben eines Unschuldigen kosten kann, immer noch Verständnis für die Tat aufbringen soll. Wenn dieser Vorstellung irgendeine entschuldigende Wirkung beigemessen werden soll, dann braucht man einen anderen rechtlich relevanten Aspekt, der die Objektivität bzw. die Generalisierbarkeit der subjektiven Lage des Täters garantiert. Man könnte eine gewisse Kompensation in der Tatsache bzw. Erfahrungsregel erblicken, dass 25

v. Weber, MDR 1947, S. 78. Bernsmann, „Entschuldigung“, 1989, S. 441 ff. 27 Welzel, ZStW 56 (1937), S. 118 ff., 121; über die Diskussion siehe Rosenbaum, Die Arbeit der Großen Strafrechtskommission, 2004, S. 79; siehe auch Lange, JZ 1953, S. 9 ff., 14. 28 Das hat Roxin richtig erkannt, Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl., § 22, Rn. 59: „Diese präventiven Bedürfnisse verändern sich, wenn der Notstand nur in der Vorstellung des Täters existiert. Es wäre mit der Aufgabe eines wirksamen strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes nicht vereinbar, wenn vorsätzliche und rechtswidrige Straftaten, die keiner objektiven Zwangslage entspringen, schon auf Grund einer vermeidbaren irrigen Tätervorstellung straflos blieben.“ 29 Armin Kaufmann, ZStW 80 (1968), S. 34 ff., 45 f. 26

I. Zur Relevanz der Problematik

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bei unerwarteten tragischen Notlagen irrige Annahmen nicht selten sind. Denn dass der Irrtum bei solchen Nothandlungen häufig vorkommt, leuchtet ein und wird seit langem in der Lehre anerkannt30. Mit der Begründung dem Opfer gegenüber muss sich aber eine Theorie des entschuldigenden Notstands auch hier beschäftigen. Bei § 35 II hat der Gesetzgeber also eine echte Wertentscheidung getroffen. Diese Wertentscheidung zu erklären und zu begründen, ist das Hauptziel dieses Teils der Untersuchung. Zunächst ist die Relevanz der Problematik zu demonstrieren und zugleich auf einige Fälle der Rechtsprechung hinzuweisen (u. II.). Danach sind die Ansätze der Lehre, die die Irrtumsregelung zu erklären versuchen – nämlich die Zumutbarkeits-, die Fahrlässigkeits- und die Vorsatzlösung –, zu würdigen, um sodann eine eigene Begründung vorzuschlagen (u. IV.). Zuletzt sind die wenig beachteten konkreten Probleme des § 35 II zu analysieren (V.). Die hier entwickelte These über den entschuldigenden Notstand hilft meines Erachtens zugleich, etwas Licht indie Dogmatik des Irrtums beim entschuldigenden Notstand zu bringen: Ich denke, die Konturen des Irrtums beim entschuldigenden Notstand und die Begründung der Ausnahmeregelung des § 35 I 2 – der Zumutbarkeit der Gefahrhinnahme – lassen sich auf einen gemeinsamen Gedanken zurückführen, nämlich die Idee der Identifizierung des Beitrags der Person selbst zu ihrer Bestrafung. Schmidhäuser hat 1975 gesagt: „Die gesetzliche Regelung § 35 II wird voraussichtlich weithin als befreiende gesetzgeberische Tat angesehen werden; daß sie nur eine fruchtlose Selbsttäuschung war, wird man vielleicht in 30 Jahren feststellen“ 31. Es ist die Hauptabsicht dieses Teils der Untersuchung, die Unrichtigkeit dieser Behauptung nach 40 Jahren aufzuzeigen.

I. Zur Relevanz der Problematik § 35 II scheint auf den ersten Blick eine harmlose Vorschrift zu sein. Soziologisch betrachtet ist es ohne Zweifel zu begrüßen, dass entsprechende Fälle selten vorkommen32. Eine Rechtsordnung und eine Wissenschaft aber, die sich gerade gegenüber diesen Fällen eher passiv und intuitiv – d.h. ohne nähere systematische Aufarbeitung und Infragestellung – verhalten, zeigen damit, dass sie die Rechte der Bürger nicht ernst genug nehmen. Hinter dieser Vorschrift stecken zugleich viele interessante Probleme. Wenn man sich Gedanken über die Grundlagen und die Konturen des Irrtums über die tatsächlichen Voraussetzungen des entschuldigenden Notstandes (§ 35 II) machen will, sollte man zunächst klarstellen, dass dieses Thema durch eine Kombination vieler Faktoren gekennzeichnet ist, die eine wissenschaftliche Diskussion rechtfertigen: 30 v. Alberti, Gefährdung, 1903, S. 57: „Es ist ja klar, daß Irrtumsfälle einschlägig sehr häufig vorkommen können.“ 31 Schmidhäuser, Strafrecht, AT, 2. Aufl., 1975, S. 470. 32 Hörnle, JuS 2009, S. 873 ff., 875.

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Erstens ist anzumerken, dass der § 35 II viele dogmatisch schwierige – und fast 40 Jahre nach dem Erlass der Vorschrift noch unbeantwortete – Fragen aufwirft33. In seiner umfangreichen Habilitationsschrift von 1987 über die vorsatzausschließenden und nichtvorsatzausschließenden Irrtümer hat Kuhlen § 35 II nicht näher behandelt, trotz seiner Behauptung, „ob ein Irrtum relevant ist, läßt sich zunächst von seinen Rechtsfolgen aus bestimmen“ 34. § 35 II wirft eine Reihe interessanter, aber dennoch wenig diskutierter Fragen auf 35: Soll man dem Irrtum über die rechtliche Bedeutung der objektiven Merkmale des entschuldigenden Notstandes – trotz des Wortlauts des § 35 II – irgendeine Relevanz beimessen? Sind alle Merkmale des § 35 I „Umstände“ im Sinne des § 35 II, sodass sie als mögliche Gegenstände des Irrtums in Betracht kommen? Weist die gesetzlich vorgesehene Vermeidbarkeitsprüfung Eigentümlichkeiten im Vergleich zur Vermeidbarkeitsprüfung gem. § 17 auf? Allerorts wird behauptet, der Schuldtatbestandsirrtum stelle „einen Irrtum eigener Art“ 36 dar, einen Irrtum „sui generis“, und die gesetzgeberische Entscheidung sei „schwer zu erklären“ 37. Das ist auch richtig. Man ist sich nur insoweit einig, als dass es sich beim Schuldtatbestandsirrtum „weder um einen Tatbestands- noch um einen Verbotsirrtum handelt“ 38. Trotz dieser dogmatischen Perplexitäten gibt es bis heute kaum eine umfassende Darstellung und Lösung des Problems39, und es ist zu bedauern, dass das Thema lediglich eine „Randerscheinung in der dogmatischen Auseinandersetzung“ 40 ist. Zweitens betrifft diese Irrtumsproblematik wie schon angedeutet grundlegende Fragen der Verbrechenslehre. Auch die Richtigkeit der Regelung ist nicht unkontrovers. Man findet Meinungen in der Literatur, die diese Irrtumsregelung schlicht für unhaltbar halten. So Schmidhäuser: § 35 II sei „willkürlich und damit rechtsstaatlich unhaltbar“ 41. Frister hält ihn für „rechtspolitisch fragwür33 Bernsmann hält die Irrtumsregelung für eine „offene Frage“, Bernsmann, „Entschuldigung“, 1989, S. 152. 34 Kuhlen, Die Unterscheidung, 1987, S. 37. 35 Siehe Hörnle, JuS 2009, 873 ff., 875. 36 Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, AT, 5. Aufl., § 48, S. 507; auch Zieschang, JA 2007, S. 685; Vogler, GA 1969, S. 110; Küper, JZ 1983, S. 88 ff., 94; Walter, Der Kern, 2006, S. 328; Gropengießer, Der Haustyrannenmord, 2008, S. 38. 37 Puppe, Strafrecht, AT, 3. Aufl., 2011, § 17, Rn. 10, S. 217. 38 Roxin, Die Behandlung, ZStW 76 (1964), S. 608; siehe auch Schröder, Die Notstandsregelung, in: FS-Eb. Schmidt 1961, S. 290 ff., 296 ff. 39 Klimsch, Die dogmatische Behandlung, 1993, S. 28. 40 Vogler, GA 1969, S. 103 ff. Siegert, Notstand und Putativnotstand, 1931, S. 2; „eines der schwierigen Lückenprobleme des Notstandes“, Borgdorf, Die Lücken, 1935, S. 21. Salomon meint, dass dies „freilich darauf zurückzuführen ist, daß der Notstand selbst und seine wissenschaftliche Bedeutung im Mittelpunkt der Erörterung stand und so den Blick für das sekundäre Problem des Notstandsirrtums trübte“, Salomon, Die irrtümliche Annahme, 1931, S. 2 ff. Das stimmte damals und es stimmt noch heute. 41 Schmidhäuser, Strafrecht, Studienbuch, 2. Aufl., 1984, 8/27: „§ 35 II ist demnach in der Rechtsanwendung nicht im vorgeblichen Sinne zu beachten“; dagegen Klimsch,

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dig“ 42. Dieser Irrtum entschuldigt aber de lege lata den Täter genauso wie die anderen sogenannten Entschuldigungsgründe. Weiter trägt diese „harmlose“ Vorschrift auch eine grundlegende strafrechtliche Frage in sich, nämlich die der Unterscheidung von Unrecht und Schuld, und verweist auf den Schuldbegriff. Der sog. Putativnotstand wurde schon einmal als Beweis für die Begründung der strengen Schuldtheorie benutzt43. Hinter der kleinen Frage des Irrtums beim entschuldigenden Notstand verstecken sich also echte Grundsatzfragen des Strafrechts. Auch eine gewisse praktische Relevanz kann man dem Problem nicht absprechen. Zwei Konstellationen aus der Rechtsprechung sollten dies verdeutlichen, nämlich der sogenannte Haustyrannenfall und die Nötigungsnotstandsfälle. Über den Haustyrannenfall44 hat sich der Bundesgerichtshof vor nicht allzu langer Zeit geäußert: Die Angeklagte dachte, dass ihre Lage „ausweglos“ sei, und tötete absichtlich ihren Mann. Der BGH meint aber, es sei „regelmäßig vom Täter zu verlangen, daß er zunächst die Hilfe Dritter, namentlich staatlicher Stellen in Anspruch nimmt“ (BGHSt 48, 255 ff., 261; so bereits BGH GA 1967, 113 f.). Das hatte die Angeklagte nicht getan. Sie irrte sich also über die tatsächlichen Voraussetzungen des Merkmales „nicht anders abwendbar“ (§ 35 I 1)45. Der Nötigungsnotstand wiederum kommt häufig z. B. bei der falschen uneidlichen Aussage (§ 153) und beim Meineid (§ 154) vor46: Der Täter nimmt irrtümlich an

Die dogmatische Behandlung, 1993, S. 171 f., der eine „zentrale Bedeutung von § 35 Abs. 2 im System der Entschuldigungsgründe“ sieht. 42 Frister, Strafrecht AT, 7. Aufl., 2015, § 20, Rn. 17. 43 Rosenbaum, Die Arbeit der Großen Strafrechtskommission, 2004, S. 90 f.; m.w. N. Roxin, Strafrecht AT, 4. Aufl., § 14, Rn. 63, S. 626; Rn. 83 ff., S. 634 ff. 44 Siehe RGSt 60, 318 ff.; diese Fälle sind „nicht selten“, Duttge, § 35, NK-GS, 2. Aufl., 2001, Rn. 20. Siehe auch BGH NStZ-RR 2006, 200 ff., 201; geschichtlich zu diesen Fällen Schaffstein, in: FS-Stutte, S. 253 ff. 45 Gropengießer, Der Haustyrannenmord, 2008, S. 181: eigenartiger Vorschlag: „kleiner“ entschuldigender Notstand für den Haustyrannenmord, wenn einige Voraussetzungen des § 35 fehlen, wegen der schweren persönlichen Lage; kritisch zur Anwendung des § 35 II in diesen Fällen Neumann, in: FS-Eser 2005, S. 431 ff., 437: „Aber dieser Weg dürfte kaum zum Ziel führen, weil das Gefühl der Ausweglosigkeit der Situation bei der Täterin in diesen Fällen regelmäßig nicht auf kognitiven Defiziten, nicht auf einem Verkennen der Tatsituation (einschließlich der institutionellen Hilfsmöglichkeiten) beruht, sondern auf dem Fehlen der sozialen Kompetenz, alternative Handlungsund Lösungsmöglichkeiten zu realisieren.“ Neumann schlägt deshalb die Anwendung des § 213 auf diese Fälle vor (438). 46 Über die Notwendigkeit einer präventiv orientierten kriminalpolitischen Einschränkung der entschuldigenden Wirkung des Notstands in diesen Fällen: „Es darf nicht verkannt werden, dass die Zubilligung des Entschuldigungsgrundes des Notstandes gegenüber einem wissentlich falschen Eid eine große Gefahr für die Rechtspflege in sich birgt, dass daher das Vorhandensein der Voraussetzungen und die Pflichtmäßigkeit des Verhaltens des Täters einer besonders strengen Prüfung unterworfen werden müssen.“ (RGSt 66, 228; dies betont auch RGSt 66, 397 ff., 400); siehe auch BGHSt 5, 371 ff.: Die Angeklagte hatte einen Meineid (§ 154) und eine wissentlich falsche uneidliche Aussage (§ 153) zugunsten F. begangen. F. hatte ihr gedroht, „er werde sie töten,

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(man stelle sich vor, die Bedrohung war nicht ernst gemeint oder ihre Realisierung objektiv unmöglich), dass sich sein Leib, sein Leben oder seine Freiheit, wenn er nicht falsch aussagt, in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr befinden würde (siehe RGSt 66, 227; BGHSt 5, 371; 18, 311). Die praktische Relevanz steigt erheblich, wenn man bedenkt, dass der § 35 II womöglich auf alle anderen gesetzlichen oder übergesetzlichen Entschuldigungsgründe anwendbar ist, die auf ähnlichen Gedanken beruhen47. Das bedeutet konkret, dass das Problem nicht allein beim entschuldigenden Notstand gemäß § 35, sondern auch an einer Vielzahl weiterer Stellen auftreten kann48: zunächst beim generalklauselartigen Entschuldigungsgrund der Unzumutbarkeit, der von der herrschenden Meinung für Fahrlässigkeits-49 und Unterlassungsdelikte postuliert wird50; beim übergesetzlichen entschuldigenden Notstand51 (man denke an den oben schon erwähnten Fall des Abschusses eines gekaperten Flugzeugs mit unschuldi-

wenn sie nicht die unwahren Aussagen erstatte“ (372). Der Tatrichter verneinte die Anwendung des § 52, weil F. sich in Untersuchungshaft befunden hatte, er „sei dadurch an einer Verwirklichung seiner Drohungen gehindert gewesen“. Es bestand also keine gegenwärtige Gefahr (372). Die Angeklagte hätte eine etwaige Gefahr dadurch abwenden können, „dass sie die Drohung dem Gericht bekannt gab“ (372). Es sei, so der BGH, nicht ausreichend geprüft worden, „ob die Angeklagte das Vorliegen dieses Schuldausschließungsgrundes wenigstens irrtümlich angenommen habe“ (372). „War für sie [die Angeklagte] nur erkennbar, nicht aber ihr bewußt, daß F. in Haft behalten werde, so ist ihr allenfalls vorzuwerfen, daß sie eine tatsächliche Voraussetzung des Nötigungsnotstandes aus Fahrlässigkeit für gegeben gehalten hat“ (374). Nach der hiesigen Konstruktion sind diese Fälle aber als Fälle des rechtfertigenden Notstands zu behandeln. 47 Siehe Roxin, Strafrecht, AT I, 4. Aufl., 2006, § 22, Rn. 140: darüber herrschen aber „viele Unklarheiten“; Walter, in: FS-Roxin 2011, S. 763 ff., der aber über „Opportunitätsregeln“ spricht und die Analogie auf die Gründe beschränkt, deren ratio „Nachsicht mit menschlicher Schwäche ist“: „Irrtumsresistent seien a) alle rein subjektiv formulierten Regelungen (z. B. § 258 Abs. 5); Gleichstellung; b) allein objektive; c) unzugängliche Merkmale, etwa die asthenische Affekte bei § 33; d) die Merkmale, die nicht für eine menschliche Schwäche stehen, also nicht zu deren Ursachen gehören“ (772 f.); Bott, In dubio pro Straffreiheit?, München, 2011, S. 286, leugnet jede Analogiemöglichkeit: § 35 II sei „allein auf Irrtümer über den Tatbestand des § 35 I StGB beschränkt“; gegen die Existenz übergesetzlicher Entschuldigungsgründe schon RGSt 66, 397 ff. 48 Klimsch, Die dogmatische Behandlung, 1993, S. 81: „Daran zeigt sich, daß in § 35 Abs. 2 ein Potenzial steckt, das über die Regelung des Irrtums hinsichtlich des entschuldigenden Notstandes hinausgeht.“ 49 Man könnte sich z. B. vorstellen, dass im berühmten Leinenfänger-Fall ein Irrtum vorgelegen habe (RGSt 30, 25 ff.). Dort stellte sich die Frage nach der Unzumutbarkeit bei einem fahrlässigen Delikt: „ob es dem Angeklagten als Pflicht zugemutet werden konnte, eher dem Befehle seines Dienstherrn sich zu entziehen und den Verlust seiner Stellung auf sich zu nehmen, als durch Benutzung des ihm zugewiesenen Pferdes zum Fahren bewußterweise die Möglichkeit der körperlichen Verletzung eines Anderen zu setzen [. . .]“ (RGSt 30, 25, ff., 28). 50 Ausf. Donner, Die Zumutbarkeitsgrenzen, 2007; siehe auch darüber Roxin, NJW 1969, S. 2038 ff., 2040. 51 So Neumann-NK, § 35, 3. Aufl., Rn. 67; siehe auch Schaffstein, NStZ 1989, S. 153 ff.

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gen Passagieren52); bei allen Fällen, die z. B. nach Roxin „Verantwortungsausschließungsgründe“ sind, wie dem Notwehrexzess des § 33, der Gewissenstat, dem zivilen Ungehorsam, aber auch bei Tatbeständen des besonderen Teils, wie bei der unterlassenen Strafanzeige gegen Angehörige des § 139 III, der Strafvereitelung zugunsten eines Angehörigen des § 258 VI usw. Drittens hat die Regelung des Schuldtatbestandsirrtums auch eine kriminalpolitische „Entlastungsfunktion“: Dadurch, dass die Rechtsprechung die Merkmale des § 35 II besonders restriktiv auslegt – „die Rechtsprechung entschuldigt in den Urteilen, in denen § 35 aufgegriffen wird, im Ergebnis meistens nicht“ 53 – entsteht viel Raum für irrige Vorstellungen des Täters, wie der Haustyrannenfall jüngst gezeigt hat54. Nach der Verneinung des Merkmales „nicht anders abwendbare Gefahr“ ist sodann stets zu prüfen, ob der Täter irrig angenommen hat, seine Lage sei z. B. „ausweglos“ 55. Die graduelle Objektivierung der Merkmale des entschuldigenden Notstandes bringt als Folge die Vermehrung der Irrtumsgegenstände mit sich. Man denke an einen Irrtum über den Personenkreis (OLG Koblenz NJW 1988, 2316). Der § 35 II ermöglicht also Einzelfallgerechtigkeit, indem er den Staat verpflichtet, nochmals zu fragen, ob der Täter – obwohl die von ihm angenommene Entschuldigungslage objektiv nach § 35 I fehlt – eine Entschuldigung verdient. Denn zu Fehleinschätzungen kommt es in einer existentiellen Notlage extrem häufig, teilweise auch weil die Rechtsprechung die Voraussetzungen des § 35 I sehr streng auslegt. Viertens handelt es sich bei der Regelung des § 35 II um ein wahres Machtwort des Gesetzgebers56. Solche Machtworte sind aus der Sicht der Wissenschaft 52 Über die ex ante-Prognoseunsicherheit dieser Fälle – die die Möglichkeit des Irrtums selbstverständlich erhöht – siehe Hörnle, in: FS-Herzberg, 2008, S. 555 ff., 556, Fn. 4 und auch das Bundesverfassungsgericht in BVerfGE 115 ff., 155. 53 Hörnle, JuS 2009, S. 874; § 35 wird bisweilen nur beiläufig erwähnt und rasch ohne jegliche Begründungsbemühungen abglehnt (so z. B. BGHSt 55, 191 ff., 198). 54 So auch Frister, Strafrecht AT, 6. Aufl., 2013, 20. Kap.,Rn. 8; dazu siehe ausf. Schaffstein, Die entschuldigte Vatertötung, S. 253 ff., 266, Fn. 19; Neumann, in: FSEser 2005, S. 431 ff., 433: „Der Hinweis auf die Möglichkeit eines Irrtums der Angeklagten, für den es im Sachverhalt keinen Anhaltspunkt gab, wirkt in hohem Maße gekünstelt und soll offensichtlich nur den Weg eröffnen, ohne Rückgriff auf die vom BGH inzwischen eher zurückhaltend gehandhabte Rechtsfolgenlösung zu einer angemessenen zeitigen Freiheitsstrafe zu gelangen“; diese sog. Entlastungsfunktion sieht man auch ganz klar in der schon zitierten Entscheidung BGHSt 5, 371 ff. (Meineid im Nötigungsnotstand); siehe auch BGH NStZ-RR 2006, 200 ff. 55 Die Rechtsprechung verlangt wie schon gesehen vom Täter eine Prüfung „nach besten Kräften“ (z. B. Hirschfänger-Fall, BGH NStZ 1992, 487). Manchmal verlangt die Rechtsprechung sogar, dass der Täter andere rechtliche Nachteile erleidet (BayOLG GA 1973, 208 ff.). Dagegen aber Roxin, Strafrecht, AT, 4. Aufl., 2006, § 22, Rn. 20, S. 971 f.; ders., JA 1990, S. 100: „Sonst nimmt der Staat die Vergünstigung, die er mit der einen Hand gibt, mit der anderen zum guten Teil wieder weg.“; so auch NeumannNK, § 35, 3. Aufl., Rn. 28. 56 Vorläufer dieser Regelung mag der § 40 Abs. 2, E 1959 II gewesen sein: „Nimmt der Täter bei Begehung der Tat irrig Umstände an, welche die Tat nach Abs. 1 entschul-

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D. Der Irrtum beim entschuldigenden Notstand

stets mit Misstrauen zu analysieren. Trotz des unsicheren Bodens der damals kaum entwickelten wissenschaftlichen Diskussion hat der Gesetzgeber hier eine klare Entscheidung getroffen57: „Die Irrtumsfrage ,war‘ (vor der Reform) hier umstritten“ 58. Die Rechtsprechung vertrat damals mit wenigen Ausnahmen (s. u.) die sogenannte Fahrlässigkeitslösung59. Graf stellte 1967 fest: „Die Entwurfsvordigen würden, so wird er nur dann bestraft, wenn ihm der Irrtum vorzuwerfen ist. Die Strafe ist nach § 63 Abs. 1 mit folgender Maßgabe zu mildern: [. . .]“; so auch E 1960, § 40 Abs. 2; dazu ausf. Graf, Irrtümer, 1967, S. 115 f. 57 Nach Meinung Einiger ist diese „kriminalpolitisch höchst zweifelhaft“, Roxin/ Schünemann/Haffke, Strafrechtliche, 4. Aufl. 1985, S. 116. Früher wurde die Frage, ob der Gesetzgeber einschreiten sollte, je nach Begründung des entschuldigenden Notstandes unterschiedlich beantwortet: Henkel, Der Notstand, S. 128 f.: „Unerträgliche Lücke“: Borgdorf, Die Lücken, 1935, S. 20: „Pflicht des Gesetzgebers“; Bergenroth, Der übergesetzliche Putativnotstand, 1933, S. 1; Arthur Kaufmann, ZStW 76 (1964), S. 543 ff., 578: „Aber eine generelle Irrtumsvorschrift für Schuldausschließungsgründe bringt auf jeden Fall die Gefahr mit sich, daß sie auf den gesamten Bereich der Schuld, insbesondere auch auf die Zurechnungsfähigkeit, angewendet würde, was aber zu höchst unerfreulichen Ergebnissen führen könnte. Man sollte diese Frage daher auch in Zukunft Rechtsprechung und Lehre überlassen und auf gesetzliche Vorschriften verzichten.“ Es handle sich um eine „hinsichtlich ihrer Sachgerechtigkeit umstritten[e] gesetzgeberisch[e] Entscheidung“; siehe Kühl, Strafrecht AT, 8. Aufl., S. 480 ff.; Frisch, in: Eser/Perron, Rechtfertigung und Entschuldigung III, 1991, S. 217 ff., 242: „nicht überall auf Zustimmung gestoßen“. Hierauf ist noch zurückzukommen. 58 Schmidhäuser, Strafrecht, AT, 2. Aufl., 1975, S. 470; ausf. Graf, Irrtümer, 1967, S. 108 ff.; über den Entwurf 1962 hat Arthur Kaufmann gesagt: „Die Entwürfe haben hier mehrfach geschwankt. So enthalten E 1958 und E 1959 I ähnliche Bestimmungen wie der E 1962, während im E 1959 II und im E 1960 der Irrtum über entschuldigende Umstände überhaupt nicht geregelt ist.“, Arthur Kaufmann, ZStW 76 (1964), S. 543 ff., 577. 59 Siehe zum Beispiel RGSt 59, 69 ff. Die Angeklagte hatte ihr einsturzgefährdetes Haus in Brand gesetzt: „Nochmalige Vorstellungen bei den Behörden [. . .] habe sie für zwecklos gehalten, im Freien habe sie aber ebenso wenig bleiben können. Sie habe daher angenommen, nur, wenn Sie das Haus anzünde, erreiche sie von den Behörden die Zuweisung einer geeigneten sicheren Unterkunft“ (70). Die Angeklagte hatte in der Vergangenheit die Behörden mehrfach vergeblich um Hilfe ersucht. Sie dachte daher, dass weitere Bemühungen zu keinem Ergebnis führen würden. Ein solcher Irrtum schließe, so das Reichsgericht, den Vorsatz aus (71). Das Gericht führte weiter aus, dass diese Meinung auch nicht auf Fahrlässigkeit beruht habe, sodass eine fahrlässige Brandstiftung jedenfalls ausscheide (72; so auch in einem obiter dictum RGSt 60, 318 ff., 322); siehe auch den „Kommunisten-Fall“, veröffentlicht in RGSt 66, 222 ff.: Der Angeklagte hatte einen Meineid begangen, aus Furcht vor der Rache der „Kommunisten“, die „seit längerer Zeit einen unerträglichen Terror“ ausübten. Einer der Kommunisten hatte dem Angeklagte angekündigt, „wenn er [der Kommunist] wegen jener Sache ,unschuldig‘ verurteilt werde, so werde der Angeklagte es zwar nicht von ihm, aber von anderen ,besorgt bekommen‘ “. Der Angeklagte dachte also, dass er eine schwere körperliche Misshandlung erleiden könnte. § 54 RStGB kommt dann in Betracht, wenn der Meineid wirklich den letzten Ausweg dargestellt habe, d. h., wenn die Gefahr „nicht anders abwendbar war“ (RGSt 66, 222 ff., 226 ff.). Der Angeklagte habe womöglich die Gefahr durch Verweigerung der Aussage oder doch der Beeidigung beseitigen können: „Sind aber verschiedene Rettungsmöglichkeiten Übel von verschiedener Größe, so darf nur das kleinere gewählt werden. Die Unannehmlichkeiten, die für den Angeklagten aus der Nichterfüllung der Verpflichtung zur Zeugenschaft und Eidesleistung folgen konn-

I. Zur Relevanz der Problematik

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schläge bieten ein uneinheitliches Bild“ 60. Der § 35 II ist wahrscheinlich das beste Beispiel dafür, wie der Gesetzgeber eine wissenschaftliche Diskussion bremsen kann61. Viele alte Entwürfe hatten ganz verschiedene Lösungen für das Problem des Putativnotstandes vorgeschlagen. Später rief er eine große Diskussion in der Großen Strafrechtskommission (E 1962) hervor62. Die Diskussionen dazu fielen im Vergleich zu den anderen allgemeinen Irrtumsfragen ziemlich lang aus: „Nachdem die Beratungen zu den allgemeinen Irrtumsregelungen des künftigen Strafrechts nach zwei Sitzungen am 4. Februar 1955 mit einer Abstimmung abgeschlossen und weder einer zweiten Beratung noch einer zweiten Abstimmung zugeführt worden, wurde dem Sonderproblem des Putativnotstandes eine Beratungszeit von insgesamt vier Jahren im Rahmen von fünf Sitzungen und diversen Abstimmungen in erster und zweiter Lesung gewidmet“.63 Die Große Strafrechtskommission hat sich für eine Sonderregelung des Irrtums beim entschuldigenden Notstand ausgesprochen (§ 40 E 1962)64. Insbesondere Welzel vertrat die Meinung, dass die Fälle des Putativnotstandes die strenge Schuldtheorie stützen65. Denn die damalige Rechtsprechung verlangte eine sog. Prüfungspflicht66. Hier ist in Erinnerung zu rufen, dass das StGB vor 1975 eine einzige Irrtumsvorschrift (§ 59) beinhaltete, „die wegen ihrer weisen Zurückhaltung eine Weiterentwicklung der Lehre vom Irrtum ermöglicht hat“ 67. Die Parallele zur Diskussion über den sog. Erlaubnistatbestandsirrtum ist hier erhellend. Dort lag eine briten, hätten keine Gefahr für Leib und Leben bedeutet“ (227). Es könne aber ein Putativnotstand vorgelegen haben: „Denn der dem § 54 StGB zugrunde liegende Rechtsgedanke, daß dem Täter beim Vorhandensein der dort vorgesehenen Voraussetzungen wegen des hierdurch bewirkten seelischen Drucks ein normgemäßes Verhalten nicht zugemutet werden könne, trifft, wenn die Notstandsvoraussetzungen nur in der Vorstellung des Täters bestehen, ebenso zu, wie bei ihrem wirklichen Vorhandensein [. . .]. Beruht die irrige Annahme auf Fahrlässigkeit, und gehört die Notstandshandlung zu den auch für den Fall der Fahrlässigkeit mit Strafe bedrohten Handlungen, so kann der Notstandstäter wegen fahrlässiger Begehung bestraft werden“ (227). Das Reichsgericht hat aber offengelassen, ob diese Lösung durch die Anwendung des § 59 RStGB oder auf anderem Weg erfolgen soll (227 f.); siehe auch RGSt 66, 98. Diese Rechtsprechung wurde vom Bundesgerichtshof weitergeführt (BGHSt 5, 371, 374; 18, 311 f.). Siehe u. III. 2. 60 Graf, Irrtümer, 1967, S. 118; früher schon Mezger in 1957: „Die Rechtslage bei vermeintlichem Notstand ist streitig“, Mezger-LK, § 54, 8. Aufl., 1957. 61 Siehe Frisch, in: Eser/Perron, Rechtfertigung und Entschuldigung III, 1991, S. 217 ff., 241 f. 62 Ausf. Rosenbaum, Die Arbeit der Großen Strafrechtskommission, 2004, S. 38, 56 ff., 79, 216 ff., 220. 63 Rosenbaum, Die Arbeit der Großen Strafrechtskommission, 2004, S. 219. 64 Zu der Diskussion siehe zum Beispiel Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, 2. Band AT, 19. Sitzung, 1958, S. 154 ff. 65 Siehe auch Welzel, in: Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, 2. Band AT, 19. Sitzung, 1958, S. 157 ff. 66 Darüber siehe Rosenbaum, Die Arbeit der Großen Strafrechtskommission, 2004, S. 90 f. 67 Arthur Kaufmann, ZStW 76 (1964), S. 543 ff., 544.

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D. Der Irrtum beim entschuldigenden Notstand

sante, heftige wissenschaftliche Diskussion vor, und der Gesetzgeber hat sich zurückhaltend verhalten68; hier aber hat der Gesetzgeber die Macht seiner Feder ganz deutlich gezeigt. Es ist zwar durchaus legitim, dass er endgültig entscheiden will, dass die rechtswidrige Tötung oder die gravierende Leibes- oder Freiheitsverletzung eines Unschuldigen immer und ohne Ausnahme (d.h. bei den echten ebenso wie bei den vermeintlichen entschuldigenden Notstandsfällen) eine vorsätzliche Tat darstellt. Ob diese Entscheidung des Gesetzgebers als letztes Wort gelten darf oder soll, ist eine andere Frage. Dass die Wissenschaft diese Irrtumsregelung bisher vernachlässigt hat, ist zu bedauern. Denn der unvermeidbare Irrtum über die Umstände des entschuldigenden Notstands ist ein echter gesetzlicher Entschuldigungsgrund wie alle anderen, mit dem sich die Wissenschaft befassen muss. Die Straflosigkeit schwerer Taten gegen die angeborenen Rechte der Person ist erklärungsbedürftig. Die stiefmütterliche Behandlung dieses Themas soll hier nicht beibehalten werden.

II. Die ratio der Irrtumsregelung beim entschuldigenden Notstand Es sind zwei Fragen zu unterscheiden. Die erste Frage ist die nach dem Grund der Existenz einer solchen Irrtumsregelung – die Frage des Ob. Der entschuldigende Notstand in seinem oben bestimmten Kern folgt unmittelbar aus dem Schuldprinzip. Eine Rechtsordnung ohne einen auf die angeborenen Rechte der Person bezogenen entschuldigenden Notstand ist eine illegitime Rechtsordnung. Ist es aber möglich, eine legitime Rechtsordnung ohne eine Regelung des Irrtums beim entschuldigenden Notstand zu konstruieren? (u. 1.). Die zweite Frage ist die Frage des Wie. Vorausgesetzt eine solche Regelung existiert, oder soll existieren, wie ist sie rechtlich zu strukturieren? Die Hauptfrage lautet: Ist dieser Irrtum vorsatzrelevant? (u. 2.). Erst nach der Beantwortung dieser Frage werde ich eine eigene Begründung für die Irrtumsregelung beim entschuldigenden Notstand vorschlagen (u. 3.). 1. Begründung der Existenz einer Sonderregelung für den Irrtum beim entschuldigenden Notstand Die Existenz der Sonderregel des § 35 II ist nicht unumstritten. Hirsch bezeichnet sie als „übertriebene[n] Perfektionismus“: „Denn in der Praxis hat sie nur geringe Bedeutung, so daß man wohl auch ohne gesetzliche Regelung auskommen und die Lösung nötigenfalls aus allgemeinen dogmatischen Grundsät68 Ein Grund dafür ist die „große systematische Frage“, die sich hinter dieser Diskussion verbirgt, nämlich die über den zwei- oder dreistufigen Aufbau der Verbrechenslehre.

II. Die ratio der Irrtumsregelung beim entschuldigenden Notstand

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zen ableiten könne“ 69. Ein anderes wichtiges Problem liegt in der Ableitung des Irrtums beim entschuldigenden Notstand direkt aus dem verfassungsrechtlichen Schuldprinzip. Diesen Weg hat Vogler gewählt: Das Versagen des Täters, wenn unvermeidbar, sei ihm nicht vorzuwerfen, denn das Verhalten, das der Täter sich vorstellte, „stimmt mit dem Recht überein“ 70. Dies ist aber kein gangbarer Weg für die herrschende Meinung, die schon beim objektiv gegebenen entschuldigenden Notstand eine Ableitung aus dem Schuldprinzip verneint. Man könnte dieser Ableitung auch entgegenhalten, dass eine Rechtsordnung, die einen Irrtum beim entschuldigenden Notstand nicht anerkennen würde, nicht schlicht und per se ungerecht wäre; sie wäre aber „unsensibel“. Tatsächlich liegt dieses Argument dem verbreiteten Gedanken nahe, wonach beim entschuldigenden Notstand eine Schuld des Täters im Sinne der „normativen Ansprechbarkeit“ an sich übrigbleibe – der sogenannte Schuldrest –, der Gesetzgeber aber aus anderen Gründen auf eine Bestrafung verzichte71. Das ist auch der Grund, weshalb einige Autoren zwischen Schuldausschließungsgründen (z. B. Fehlen von Zurechnungsfähigkeit oder Unrechtsbewusstsein) und Entschuldigungsgründen (z. B. dem entschuldigenden Notstand) unterscheiden. Eine Rechtsordnung, die Kinder bestraft sowie Täter, die ihr Verhalten wegen Fehlens von Unrechtsbewusstsein nicht vermeiden konnten, verstößt ja zweifelsohne gegen das Schuldprinzip. Die Merkmale des § 35 I sind so verstanden zwar schuldrelevant, schließen aber die Schuld des Täters nicht komplett aus. Sonst würden in der Person von Selbstverursachern einer Notlage und den Tätern, die in einem besonderen Rechtsverhältnis stehen, Unschuldige bestraft.72 Wäre diese Meinung richtig, müsste schon die Existenz der Notlage die Schuld ausschließen. Gerade deswegen aber wäre es kein Verstoß gegen das Schuldprinzip, wenn es überhaupt keine Schuldtatbestandsirrtumsregelung gäbe73. Auch Hörnle meint, dass § 35 nicht direkt aus dem verfassungsrechtlichen Schuldprinzip abzuleiten sei. Es gebe aber gute Gründe für die Rege69

Hirsch, in: Hirsch, Strafrechtliche Probleme, 1999, S. 932 ff., 953. Vogler, GA 1969, S. 111. 71 Roxin, JA 1990, S. 97 ff.; Roxin, in: FS-Brauneck, 1999, S. 385 ff., 393 ff.; Wolter, GA 1996, S. 207 ff., 212 ff. Schünemann, Einführung, in: Schünemann (Hrsg.), Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, S. 48; auch Schneider, Selbstbegünstigungsprinzips, 1991, S. 63 ff. Krit. zur Strafzwecklehre Hardtung, ZStW 108 (1996), S. 36 f.: „vager Gesichtspunkt“. 72 Siehe schon Graf, Irrtümer, 1967, S. 14 sowie Armin Kaufmann, in: FS-Eb. Schmidt, 1961, S. 319 ff., 320: „In diesen Fällen werden jedoch nicht Unschuldige bestraft, obwohl der ,Schuldausschließungsgrund‘ des § 54 StGB, der seinen Voraussetzungen nach vorliegt, nicht angewandt wird. Vielmehr bleibt das Schuldprinzip gewahrt, weil die Unzumutbarkeitsgründe nicht zum Ausschluß der Schuld führen, sondern zu einer erheblichen Minderung des Schuldvorwurfes, und dann die Rechtsordnung im Regelfall, aber eben nicht immer, auf das praktische Erheben des Schuldvorwurfes, d. h. auf die Bestrafung, verzichtet“; siehe auch Armin Kaufmann., Normentheorie, 1954, S. 201 ff.; Armin Kaufmann, Unterlassungsdelikte, 2. Aufl., 1988, S. 153 ff. 73 Siehe Donner, Die Zumutbarkeitsgrenzen, 2007, S. 174: § 35 sei „keine notwendige Einrichtung“. 70

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D. Der Irrtum beim entschuldigenden Notstand

lung, und zwar „dass, wer sich in die Lage des Handelnden versetzt, Verständnis aufbringen kann, wenn dieser aus seiner unentrinnbar subjektiven Perspektive sein Interesse an der eigenen Rettung oder der Rettung Nahestehender höher gewichtet hat als dies aus der Perspektive Dritter angebracht war“ 74. Die Existenz der Irrtumsregelung wäre nichts als eine Konzession an den Täter. Für die hier entwickelte Theorie des entschuldigenden Notstands ist eine solche Irrtumsregelung in ihrem Kern doch aus dem Schuldprinzip abzuleiten: Bei den unvermeidbaren Irrtümern lässt sich der Beitrag des Täters für die eigene Bestrafung nicht identifizieren. Der Vermeidbarkeitsbegriff fungiert hier als Kompensation für die Fehleinschätzung des Täters. Diese Feststellung ist nicht unproblematisch. Denn die persönliche Selbstbetroffenheit des Täters ist nicht gegeben, und eine punktuelle und nicht verallgemeinerbare subjektive Erfahrung des Täters ist prinzipiell für das Opfer nicht maßgeblich. Diese Regel wird – wie beim übergesetzlichen entschuldigenden Notstand, wo die persönliche Selbstbetroffenheit ebenso fehlt – durch präventive Gesichtspunkte konturiert. § 35 II trifft eine Irrtumsregelung im Spannungsverhältnis zwischen Schuld und Prävention. Denn die Gefahr des Verlusts der angeborenen Rechte existiert nur in der Vorstellung des Täters. Das oben beschriebene Dilemma existiert also nicht. Es ist aber so, dass eine solche Regel vernünftig erscheint, vor allem wegen der Tatsache, dass im solchen Notlagen, in denen die angeborenen Rechte des Täters mindestens nach seiner Vorstellung in Gefahr sind, Fehleinschätzungen nicht selten vorkommen. Der Vermeidbarkeitsbegriff garantiert in diesem Kontext eine gewisse Objektivität der Behauptung des Täters und hat dieselbe Funktion wie die Generalklausel der zumutbaren Gefahrhinnahme: Der Vermeidbarkeitsbegriff dient also dazu, den Beitrag des Täters zur eigenen Bestrafung zu identifizieren. Nur bei Unvermeidbarkeit der Fehleinschätzung ist dem Opfer die Straflosigkeit des Täters zu erklären, im Übrigen wird der Lage mit einer obligatorischen Strafmilderung Rechnung getragen. In ihrem Kern ist die Irrtumsproblematik ein Schuldproblem. Dieser Kern ist jedoch ein kleiner. Größere Bedeutung kommt den präventiven Gründen zu, sie sind für die Bestimmung der äußeren Konturen dieser Regelung maßgeblich. Es gibt noch einen strukturellen Grund für die Existenz einer solchen Regelung. Der Grund für die Relevanz des Schuldtatbestandsirrtums besteht darin, dass der Gesetzgeber, der sich richtigerweise für einen entschuldigenden Notstand entschlossen hat, dafür – d. h. als Voraussetzung einer kompletten Entschuldigung – die Kenntnis der tatsächlichen Umstände, die die Notlage hervorrufen, verlangt. Der Gesetzgeber geht sogar weiter, indem er auch einen Rettungswillen verlangt („um die Gefahr [. . .] abzuwenden“). Auch die Rechtsprechung betont diesen Aspekt. In BGHSt 3, 271 ff., 272 ist zu lesen: „Die Anwendung des § 52 StGB setzt voraus, daß der Täter die ihm angesonnene strafbare Handlung began74

Hörnle, in: FS-Tiedemann, 2008, S. 325 ff., 342.

II. Die ratio der Irrtumsregelung beim entschuldigenden Notstand

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gen hat, um der ihm sonst drohenden gegenwärtigen Leibes- oder Lebensgefahr zu entgehen. Die bloße Feststellung, daß dem Täter eine solche Gefahr im Falle der Nichtausführung drohte, genügt allein nicht“. Dass dem subjektiven Moment ein höherer Wert beizumessen ist, wird in BGHSt 3, 271 ff., 275 (Gestapo-Polizist, der Befehle zur Körperverletzung im Amt befolgt hatte) betont: „Der Nationalsozialismus habe, vor allem in den Jahren von 1943 bis Kriegsende, nicht nur gegen politische Gegner und sog. Staatsfeinde, sondern auch gegen die eigenen Mitarbeiter und Anhänger, die staatliche Anordnungen vereitelt hätten, mit den äußersten Terrormaßnahmen gewütet. Wenn die Angeklagten ihre Mitwirkung bei der geforderten ,Sonderbehandlung‘ versagt hätten, hätte ihnen die Einweisung in ein Konzentrationslager und als Angehörigen der SS nach den damaligen Kriegsgesetzen die Todesstrafe gedroht. Diese Gefahr sei in anderer Weise als durch Befolgung der ihnen erteilten dienstlichen Weisungen nicht abwendbar gewesen, mindestens sei ihnen kein Vorwurf daraus zu machen, daß sie dieses Glaubens gewesen sein. Diese Feststellungen reichen für die Anwendung des § 52 StGB nicht aus. Wer eine ihm angesonnene Handlung ausführt, braucht sie, auch wenn ihm für den Fall der Nichtausführung Leibes- oder Lebensgefahr droht, keineswegs deswegen auszuführen, um dieser Gefahr zu entgehen. Es können für ihn auch ganz andere Gründe bestimmend sein als das Bestreben, der Gefahr auszuweichen. Dann ist aber § 52 StGB nicht anwendbar“. Das Subjektive ist also von Relevanz, sogar um den Täter bei einer wirklich vorhandenen Notlage zu entschuldigen. Das bedeutet: Wenn die Notlage, die wirklich vorliegt, vom Täter verkannt wird, dann kommt wegen des Fehlens eines subjektiven Merkmales keine Entschuldigung in Betracht und es tritt (die ungemilderte) Strafe ein. Damit liegt auch ein Umkehrschluss auf der Hand: Wenn die Notlage nicht vorliegt, der Täter eine solche aber irrig angenommen hat, muss der Gesetzgeber diesem Irrtum irgendeine Relevanz beimessen. Es besteht also ein synallagmatisches Verhältnis zwischen dem Erfordernis einer Kenntnis für die Entschuldigung und der Anerkennung der Relevanz einer irrigen Annahme der Notlage75. Dass dieser strukturelle Grund relevant ist, zeigt am besten ein Vergleich mit der Zurechnungsfähigkeit (auch für die herrschende Meinung ein echter „Schuldausschließungsgrund“). Nehmen wir etwas an, der vierzehnjährige Tierquäler hält sich für dreizehn76 oder „jemand [hat sich] bei einer Unrechtshandlung für unzurechnungsfähig gehalten [. . .], etwa weil er in einem früheren Straf75 In diesem Sinne liegt Graf auch richtig, aber er leitet dieses Ergebnis aus dem Schuldprinzip ab: „Es ist undenkbar, einerseits einen Täter immer dann zu bestrafen, wenn er tatsächlich vorliegende Notstandsumstände nicht kannte, aber andererseits jedesmal subjektive Momente ganz auszuschalten, wenn die objektiven Notstandsvoraussetzungen nicht gegeben sind, und folglich auch dann zu bestrafen, mit anderen Worten, stets zuungunsten des Täters zu entscheiden“, Graf, Irrtümer, 1967, S. 42 f. 76 Hardtung, ZStW 108 (1996), S. 26 ff., 46.

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D. Der Irrtum beim entschuldigenden Notstand

verfahren deshalb freigesprochen worden ist“ 77. Bei der Zurechnungsfähigkeit verlangt der Gesetzgeber keine Kenntnis, um die Schuld des Täters auszuschließen. Auf der anderen Seite ist der Irrtum über die Voraussetzungen dieses Schuldausschlusses auch nicht beachtlich. Der Gesetzgeber hat die Unzurechnungsfähigkeit objektiv konstruiert, sodass eine Irrtumsregelung in diesem Kontext verfehlt wäre. Um diesen Gedanken dem Verdacht des Formalismus zu entziehen und ihn auf einen materiellen Boden zu stellen, muss man die Frage beantworten, weshalb der Gesetzgeber die Kenntnis des schuldrelevanten Merkmales manchmal verlangt und manchmal darauf verzichtet. Die Antwort findet sich bei der Verortung der Störfaktoren78. Dieses Kriterium hat Hörnle für die Unterscheidung zwischen Schuldausschließungsgrund und Entschuldigungsgrund eingeführt: „Bei den Schuldausschließungsgründen liegt die Störung in der inneren Verfassung des Täters, d. h. einer mitgebrachten, nicht durch konkret-situativen äußeren Druck verursachten fehlenden Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit“ 79. Wenn dagegen erst eine äußere Lage eine bestimmte zu privilegierende „psychischen Motivationslage“ hervorruft, dann scheint es vernünftig, dass der Gesetzgeber mindestens die Kenntnis der äußeren Lage verlangt. Denn bei § 35 verzichtet er auf eine Einzelfallprüfung der wirklichen Existenz des „Motivationsdruckes“ und vermutet den Kausalzusammenhang zwischen der externen Notlage und dem internen Dilemma eines Täters, dessen angeborenene Recht in Gefahr geraten sind. Voraussetzung dieser Vermutung aber muss mindestens die Kenntnis der Notlage sein, ansonsten wäre der vermutete Kausalzusammenhang eine schlichte Fiktion. Die Kenntnis ist sozusagen das „Bindeglied“ zwischen externum (der äußeren Notlage) und internum (dem vermuteten inneren Konflikt des Täters). Bei der Zurechnungsfähigkeit geht es dagegen exklusiv um ein internum, d. h. einen Prozess, der schon in der inneren Verfassung des Täters begonnen hat. Gerade deswegen kann hier der Gesetzgeber auf einen Zusammenhang verzichten. Ich fasse damit meine These zusammen: Unvermeidbare Irrtümer über tatsächliche Notumstände sind notwendigerweise zu entschuldigen. Dies folgt aus dem Schuldprinzip. Die äußeren Konturen der Irrtumsregelung – insbesondere der Vermeidbarkeitsbegriff – sind aber von präventiven Gesichtspunkten bestimmt. Bei der Bestimmung dieser Konturen ist darauf zu achten, dass auch dem Opfer gegenüber eine minimale Begründung geleistet werden muss. Darüber hinaus besteht ein struktureller Grund, der die Existenz einer solchen Regelung rechtfertigt: Wenn ein Gesetzgeber sich vernünftigerweise für eine gesetzliche Regelung 77 Graf, Irrtümer, 1967, S. 2, der meint, es ist folglich gleichgültig, welche Vorstellungen sich der Täter von seiner eigenen Zurechnungsfähigkeit macht“; „Umstände sind Befunde, die außerhalb des Täters stehen“ (S. 116). 78 Hörnle, JuS 2009, S. 874. 79 Hörnle, JuS 2009, S. 874.

II. Die ratio der Irrtumsregelung beim entschuldigenden Notstand

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des entschuldigenden Notstands entschlossen hat und zugleich für die Bejahung der Entschuldigung mindestens die Kenntnis80 der tatsächlichen Voraussetzungen der vorhandenen Notlage verlangt, dann ist es konsequent, dem Schuldtatbestandsirrtum auch eine Relevanz beizumessen. Diese Regel trägt auch der Behauptung Rechnung, dass Fehleinschätzungen bei diesen plötzlich entstandenen existentiellen Notlagen nicht selten vorkommen. 2. Die Ansätze in der Lehre Die Entscheidung des Gesetzgebers ist klar: Der Irrtum beim entschuldigenden Notstand schließt den Vorsatz (und damit das Vorsatzunrecht) nicht aus, so dass zum Beispiel eine Teilnahme möglich ist: Wenn B eine Pistole für A besorgt, mit der A vier Personen tötet, weil er sich eine existentielle Notlage eingebildet hat, macht sich B strafbar – es liegt eine vorsätzliche rechtswidrige Tat im Sinne des § 27 vor –, wenn alle Voraussetzungen der Beihilfe vorliegen. Die vom deutschen Gesetzgeber getroffene Entscheidung ist jedoch trotz ihrer Klarheit erklärungsbedürftig. Denn die Richtigkeit der Regelung des § 35 II – dieses „Machtworts“ – ist keineswegs evident. Der deutsche Gesetzgeber hat sogar vielmals geschwankt, wie Arthur Kaufmann instruktiv dargestellt hat: E 1958 und E 1959 I enthielten ähnliche Bestimmungen wie E 1962; E 1959 II und E 1960 enthielten aber keine spezifische Regelung des Irrtums über entschuldigende Umstände81. Auch von der Rechtsprechung wird die Regel unterschiedlich ausgelegt: „Die Gerichte sind in der Anerkennung der Wirksamkeit des Irrtums über die äußeren Voraussetzungen eines Entschuldigungs- oder Schuldminderungsgrundes sehr vorsichtig“ 82. Es gilt deswegen, die Richtigkeit der Entscheidung des deutschen Gesetzgebers zu überprüfen. Es ist durchaus denkbar, diese Regelung anders zu gestalten. Der Gesetzgeber hätte zum Beispiel eine allgemeine Regelung des Entschuldigungsirrtums wählen können, die die Irrtümer über die rechtfertigenden sowie über die entschuldigenden Umstände gleich behandelt, wie es der portugiesische Gesetzgeber getan hat83 – ein Gesetzgeber, der einen Allgemeinen Teil geschaffen hat, der dem 80 Die h. M. verlangt darüber hinausgehend richtigerweise (s. o. C., V., 3., e)) einen Rettungswillen. Einige Autoren begnügen sich mit der Kenntnis: „Die Lauterkeit der Motivation dürfte nach dem Tatprinzip keine Rolle spielen“; so Kühl, Strafrecht, AT, 8. Aufl., S. 402, Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl., 1991, S. 572 f.; „Diese Lösung zum ,Rettungszweck‘ beim entschuldigenden Notstand ist nur mühsam mit dem Tatprinzip vereinbar“, sagt Timpe, Grundfälle, JuS 1984, S. 860; „Ein moralisch dominierendes Rettungsmotiv darf nicht gefordert werden“: Köhler, Strafrecht, AT, 1997, S. 338 f. 81 Siehe im Detail Arthur Kaufmann, ZStW 76 (1964), S. 543 ff., 576 ff., Fn. 107. 82 Hardwig, Die Zurechnung, S. 237 f.; zu weiteren Fällen siehe Bachmann, JA 2009, S. 510 ff. 83 Artigo 16 ë „Erro sobre as circunstâncias do facto. 1 – O erro sobre elementos de facto ou de direito de um tipo de crime, ou sobre proibições cujo conhecimento for razoavelmente indispensável para que o agente possa tomar consciência da ilicitude do

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D. Der Irrtum beim entschuldigenden Notstand

deutschen ansonsten sehr ähnlich ist. Auch hätte der deutsche Gesetzgeber, der sich für eine Sonderregelung entschieden hat, diese so ausgestalten können wie der österreichische Gesetzgeber, der sich explizit für einen Vorsatzausschluss entschieden hat84. Er hätte auch schweigen können, sei es aus Zurückhaltung gegenüber einer offenen, noch nicht ausreichend diskutierten Frage, sei es aus Verkennung des Schuldtatbestandsirrtums als autonomes Problem (wie AE 196685). Somit sind die drei möglichen, herkömmlichen Erklärungen der Relevanz und der Rechtsfolge des Schuldtatbestandsirrtums genannt, nämlich eine Zumutbarkeits-, eine Fahrlässigkeits- und eine Vorsatzlösung. a) Die Zumutbarkeitslösung Für die Zumutbarkeitslösung gibt es kein eigenständiges Problem des Schuldtatbestandsirrtums. Diese Meinung wurde mehrmals vertreten und lag z. B. dem AE 1966 zugrunde. Nicht von ungefähr hat Vogler 1969 gefragt, „ob der Irrtum über Entschuldigungsgründe überhaupt einen Teilbereich der strafrechtlichen Irrtumslehre bildet“ 86. Diese Lösung behauptet in der Regel, dass die ratio des entschuldigenden Notstandes ausschließlich im seelischen Motivationsdruck des Täters liege. Dieser sei aber gleich, unabhängig davon, ob die Notlage, die diesen psychischen Druck hervorruft, wirklich oder nur nach der Vorstellung des Täters vorliegt. So die berühmten Worte von Radbruch: „Nicht der Notstand ist in Wahrheit Entschuldigungsgrund, sondern die Annahme des Notstandes“ 87. Die facto, exclui o dolo. 2 – O preceituado no número anterior abrange o erro sobre um estado de coisas que, a existir, excluiria a ilicitude do facto ou a culpa do agente.“; siehe dazu Figuereido Dias, in: Eser/Perron, Rechtfertigung und Entschuldigung III, 1991, S. 201 ff., 210 f.; eine solche Regel wurde auch in der deutschen Diskussion schon vorgeschlagen: Graf, Irrtümer, 1967, S. 118. 84 § 10 II öStGB: „Der Täter ist nicht entschuldigt, wenn er sich der Gefahr ohne einen von der Rechtsordnung anerkannten Grund bewußt ausgesetzt hat. Der Täter ist wegen fahrlässiger Begehung zu bestrafen, wenn er die Voraussetzungen, unter denen seine Handlung entschuldigt wäre, in einem Irrtum angenommen hat, der auf Fahrlässigkeit beruhte, und die fahrlässige Begehung mit Strafe bedroht ist.“ 85 So im Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzesbuches, AT, 2. Aufl., 1969, S. 61: „Für die Frage, ob der Täter entschuldigt ist, kommt es immer nur auf die psychische Zwangssituation an, in der er sich befindet, und diese ist die gleiche, ob er die Gefahrenlage zu Recht oder irrtümlich, sei es auch schuldhaft, annimmt. In beiden Fällen geht es allein darum, ob dem Täter rechtmäßiges Verhalten zumutbar ist oder nicht.“ 86 Vogler, GA 1969, S. 103. 87 Radbruch, Festgabe für Frank, 1930, S. 158 ff., 166; Martens, Der Irrtum, 1928, S. 46; früher schon Hegler, ZStW 36 (1915), S. 184 ff., 216: „Die ungewöhnliche Motivationslage, besonders die psychische Zwangssituation ist ja ganz dieselbe, wie bei objektivem Vorliegen“; Zimmerl, Zur Lehre vom Tatbestand, 1928, S. 68; so auch Hardwig, Die Zurechnung, 1957, S. 238: „denn für die Schuld kann es wohl kaum einen Unterschied ausmachen, ob eine Notsituation beispielsweise tatsächlich vorgelegen hat oder der Täter nur dieser Meinung war“; Arthur Kaufmann, ZStW 76 (1964), S. 543 ff., 576 ff. m.w. N.; für die subjektive Deutung des entschuldigenden Notstands auch Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl., 1969, § 23, S. 178 f.: „nur ein faktischer Ent-

II. Die ratio der Irrtumsregelung beim entschuldigenden Notstand

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irrige Vorstellung des Täters, es habe z. B. eine gegenwärtige, nicht anders abwendbare Gefahr vorgelegen, sei lediglich ein Zumutbarkeitsproblem88, wobei die Maßstäbe beim Putativnotstand strenger als beim echten entschuldigenden Notstand seien89. Auch Welzel hat Ähnliches gesagt: „Wenn der Täter die Voraussetzungen des entschuldigenden Notstandes [. . .] irrigerweise annimmt, befindet er sich in derselben seelischen Konfliktslage wie dann, wenn seine Annahme zutrifft. Da die Gründe, die im Notstand die Möglichkeit rechtmäßiger Willensbestimmung beeinträchtigen, gerade in der seelischen Situation des Täters begründet liegen, ist Nachsicht (Entschuldigung) hier wie dort zu üben, – es sei denn, daß der Irrtum des Täters selbst vermeidbar war; doch mildert sich dann der Schuldvorwurf in dem Maße, wie die irrige Annahme der Notstandslage vermeidbar war“ 90. Eine Irrtumsregelung sei also nicht erforderlich91. Diese Lösung wurde besonders leidenschaftlich von Arthur Kaufmann vertreten92. Siegert hat 1932 behauptet, dass der Sachverhaltsirrtum für die Schuld unwesentlich und nur „ein Indiz“ für einen Irrtum über die Rechtswidrigkeit sei. Die anderen Fälle des Putativnotstandes „gehören dagegen zur Frage der seelischen Zwangslage. Die im Putativnotstand begangenen straffreien Handlungen fallen entweder unter das Problem des Irrtums über die Rechtswidrigkeit oder des der seelischen Zwangslage“ 93. Sobald man bemerkt, dass die subjektive Deutung des entschuldigenden Notstands viele wichtige Anhänger besaß, überrascht es nicht, dass keine echte

schuldigungsgrund“; wohl auch Otto, Grundkurs Strafrecht, 6. Aufl., 2000, § 14, Rn. 1, S. 214; Rengier, Strafrecht, AT, 9. Aufl., 2017, § 26, Rn. 1, S. 243 f.; Hirsch-LK, § 35, 11. Aufl., Rn. 3, S. 76; zum Topos „seelischer Druck“ siehe Henkel, Der Notstand, 1931, S. 128 f. 88 Dagegen Vogler, GA 1969, S. 108 ff. 89 Siehe Salomon, Die irrtümliche Annahme, 1931, S. 58 ff., der aber eine Vorsatzlösung vertritt (S. 71). 90 Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl., 1969, § 23, S. 182. 91 Gallas hält diese Lösung für eine „Verquickung“ zwei verschiedener Fragen, Gallas, ZStW 80 (1968), S. 1 ff., 30. 92 So Arthur Kaufmann, ZStW 76 (1964), S. 543 ff., 577: „In Wahrheit handelt es sich überhaupt nicht um ein Irrtumsproblem, und daher passen weder die Tatbestandsnoch die Verbotsirrtumsregeln. Es gibt keine Putativ-Entschuldigungsgründe. Denn bei den Entschuldigungsgründen kommt es immer auf die psychische Zwangssituation an, und diese ist die gleiche, ob der Täter die Voraussetzungen des Notstands usw. zu Recht oder irrtümlich annimmt. (Konsequenterweise vermag daher eine tatsächlich vorliegende Notstandssituation die Schuld dann nicht auszuschließen, wenn der Täter sich ihrer nicht bewußt ist.) In beiden Fällen geht die Frage allein dahin, ob dem Täter rechtmäßiges Verhalten zumutbar ist oder nicht. Diese Frage läßt sich mit einer Irrtumsvorschrift nicht angemessen lösen.“ Sollte es eine Irrtumsregelung geben, dann sei eine Regelung „sinnvoller“, die dem Verbotsirrtum ähnelte (S. 578). Auch Arthur Kaufmann, JZ 1956, S. 353; Arthur Kaufmann, Das Unrechtsbewusstsein, 1949, S. 182. 93 Siegert, ZStW 52 (1932), S. 48 ff., 60, 67 ff.; siehe dazu Grünhut, ZStW 52 (1932), S. 350 ff., der meint, dass die Fahrlässigkeitslösung nur widerspruchsfrei zu konstruieren sei, wenn man für den Vorsatz das Bewusstsein der Pflichtwidrigkeit verlange.

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D. Der Irrtum beim entschuldigenden Notstand

wissenschaftliche Diskussion über den Schuldtatbestandsirrtum stattgefunden hat. Diese Erklärung hängt aber zwangsläufig mit der subjektiven Deutung des entschuldigenden Notstands selbst zusammen, einer These, die sich als falsch erwiesen hat, wie oben schon dargelegt wurde (s. o. C., III., 3.). Es ist vor allem zu erwähnen, dass diese Lösung nicht imstande ist, gegenüber dem Opfer zu begründen, wieso eine Erschwernis der Motivation des Täters auch für es maßgeblich sein sollte, zumal in einem Fall, in dem diese Erschwernis auf einer Fehleinschätzung des Täters beruht. Von einem Erklärungspotenzial kann gar nicht die Rede sein. Auch die Konturen dieses leeren Zumutbarkeitsbegriffs bleiben unklar. b) Die Fahrlässigkeitslösung Die Gegenthese zu der im deutschen Gesetz vorgesehenen Lösung ist die sogenannte Fahrlässigkeitslösung. Sie kann sich auf eine lange Tradition berufen, wonach der Tatirrtum immer den Vorsatz ausschließe. Das war zugleich der Hauptgedanke des Reichgerichts, das auch den Irrtum über § 54 RStGB so behandelt hat94. Auch frühere Entwürfe hatten sich dafür entschieden – so § 40 des Entwurfes 195895. Das Hauptargument hierfür war, dass der Täter, der sich über die tatsächlichen Voraussetzungen des entschuldigenden Notstandes geirrt hat, „an sich rechtstreu“ sei, weil er, wenn seine Vorstellung wirklich zuträfe, nach den Maßstäben der Rechtsordnung entschuldigt sei96. Noch in BGH, Urteil vom 15.6.1962 – 2 StR 531/61, liest man, dass ein Irrtum über die Voraussetzungen des damals geltenden § 52 den Vorsatz ausschließt97. Trotz des Einschreitens des Gesetzgebers hat die Fahrlässigkeitslösung noch immer ihre Anhänger. So hält Frister in seiner Habilitationsschrift von 1993 die aktuelle Regelung des § 35 II aus der Perspektive der heute herrschenden eingeschränkten Schuldtheorie für „überaus problematisch“ 98 und „fragwürdig“ 99. Er basiert diese Einschätzung auf seiner Konzeption der Entschuldigung als „Ergebnis einer Bewertung aus der Perspektive des Betroffenen“ und sagt, dass „der entschuldigende Sachverhalt den Normbefehl speziell gegenüber der Person des Betroffenen aufhebt“ (dazu s. o. S. 141 ff.)100. Der § 35 II sei strukturell dem

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Siehe Frank, Das Strafgesetzbuch, 18. Aufl., 1931, S. 166. Engisch, ZStW 70 (1958), S. 566 ff., 612 ff. 96 Siehe Frisch, in: Eser/Perron, Rechtfertigung und Entschuldigung III, 1991, S. 217 ff., 242. 97 „Hatte er dieses Bewußtsein nicht, so irrte er über eine tatsächliche Voraussetzung des § 53 StGB und kann nicht wegen vorsätzlicher Begehung bestraft werden.“ 98 Frister, Die Struktur, 1993, S. 236. 99 Frister, Die Struktur, 1993, S. 237. 100 Frister, Die Struktur, 1993, S. 235. 95

II. Die ratio der Irrtumsregelung beim entschuldigenden Notstand

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Erlaubnistatbestandsirrtum „sehr ähnlich“ 101. Das Argument, das die sogenannten eingeschränkten Schuldtheorien102 benutzen, um zu rechtfertigen, dass die Rechtsfolge des Erlaubnistatbestandsirrtums die Bestrafung allenfalls aus dem Fahrlässigkeitsdelikt sein müsste, sei auf den Irrtum beim entschuldigenden Notstand „ohne weiteres zu übertragen“ 103. Das Verhalten des Täters „widerspricht nicht der Bewertung der Rechtsordnung aus der Perspektive des Betroffenen, die erst die Verpflichtung des Täters, sich für die Beachtung der Norm zu entscheiden, konstituiert“ 104. Hier entfalle zwar nicht der Tatbestandsvorsatz, sondern die „vorsätzliche Schuld“ 105. Auch Frisch erklärt, § 35 II sei „nicht unproblematisch“ 106. Der Vorwurf „gründet sich [. . .] darauf, daß der Täter vermeidbar in die der Entscheidung zugrundeliegende psychische Lage geraten ist, also auf einen vorgelagerten Vorwurf“. Hier finde nur eine „vermeidbar[e] Güterbeeinträchtigung“ statt und das Entscheidungsverhalten sei „schuldlos“: Es solle bloße Fahrlässigkeitsbestrafung erfolgen107. Frisch verneint aber das Vorsatzunrecht nicht108. Diese These ist der sogenannten rechtsfolgenverweisenden Schuldtheorie sehr ähnlich. Sogar der Bundesgerichtshof scheint jetzt die Meinung zu vertreten, dass beim Erlaubnistatbestandsirrtum (§ 16 I S. 1) der Ausschluss der „Vorsatzschuld“ erfolge109; eine nähere Begründung liefert er leider nicht. Das Argument der „Rechtstreue“ des über Tatsachen irrenden Täters fällt – wenn es überhaupt irgendeine Gültigkeit beanspruchen kann – im vorliegenden Kontext viel schwächer aus110. Beim entschuldigenden Notstand ist die Rechtswidrigkeit der Tat sogar eine Voraussetzung für die Bejahung der Entschuldigung (§ 35 I S. 1). Der Täter wird „lediglich“ für seine rechtswidrige Tat exkulpiert. Welzel hat damit Recht, wenn er sagt: „Bei den Rechtfertigungsgründen konnte die Lehre von den negativen Tatbeständen wenigstens den Schein für die Berech101

Frister, Die Struktur, 1993, S. 235. Statt aller Roxin, Strafrecht, AT I, 4. Aufl., 2006, § 14, Rn. 52 ff., S. 622 ff. 103 Frister, Die Struktur, 1993, S. 235 f. 104 Frister, Die Struktur, 1993, S. 236. 105 Frister, Die Struktur, S. 236; so auch Figueiredo Dias, in: Eser/Perron, Rechtfertigung und Entschuldigung III, 1991, S. 201 ff., 210 f. 106 Frisch, in: Eser/Perron, Rechtfertigung und Entschuldigung III, 1991, S. 217 ff., S. 275. 107 Frisch, in: Eser/Perron, Rechtfertigung und Entschuldigung III, 1991, S. 217 ff., S. 275. 108 Frisch, in: Eser/Perron, Rechtfertigung und Entschuldigung III, 1991, S. 217 ff., S. 275, Fn 174. 109 Siehe den sog. „Hells Angels“-Fall, BGH NStZ 2012, 272 ff., 273; Anm. Engländer, 274 ff.; auch Mandla StV, S. 334 ff. 110 Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen kommt zu denselben Ergebnissen wie die eingeschränkte Schuldtheorie. Dagegen Welzel, in: Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, 2. Band, AT, 1958, Anhang Nr. 1, S. 5: „Hier kann die L. v. d. n. T. nicht einmal den Schein erwecken, daß das Vorliegen der Notstandsvoraussetzungen den Delikttatbestand ausschließe.“ 102

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D. Der Irrtum beim entschuldigenden Notstand

tigung, beide Irrtumsfälle zu unterscheiden, erwecken. Hier kann dieser Schein von vornherein nicht entstehen. Die tatsächlichen Voraussetzungen eines Entschuldigungsgrundes schließen ganz sicher nicht den Tatbestand eines Deliktes aus“ 111. Nicht umsonst wird diese Lösung mittlerweile von Strafrechtlern vertreten, die die Unterscheidung von Unrecht und Schuld relativieren möchten und versuchen, § 35 I nicht mehr als eine „Entschuldigung“ im klassischen Sinne zu deuten. Ein Beispiel dafür ist Köhler, der von einem „Strafunrechtsausschluss“ spricht und sich wohl der Fahrlässigkeitslösung angeschlossen hat112. Man könnte die Fahrlässigkeitslösung auch rechtfertigen, wenn man die ratio der Entschuldigung partiell in einer Unrechtsminderung sehen würde – so die herrschende doppelte Schuldminderungslehre113 –, so dass der Schuldtatbestandsirrtum auch die „Qualität“ des Unrechts zum Gegenstand hätte. Auch eine subjektive Deutung der Entschuldigung könnte mit Hilfe des actio libera in causa-Gedankens zu einer Fahrlässigkeitsstrafbarkeit kommen. Diese Lösung hat Roxin einmal vertreten, indem er eine Aufspaltung der Tat postulierte: Die rechtswidrige Handlung selbst sei durch den psychischen Druck entschuldigt; zu bestrafen sei deshalb nicht diese Handlung, sondern der Irrtum als solcher. „Eine auf Fahrlässigkeit beruhende prima causa verursacht eine vorsätzliche Rechtsgüterverletzung, die als solche entschuldigt wird, die Zurechenbarkeit der Erstursache aber nicht ausschließen kann“ 114. Weil diese Lösung sich auf den Rechtsgedanken der actio libera in causa stütze, bedürfe es an sich keiner gesetzlichen Regelung: „Sämtliche Bestimmungen über den Entschuldigungsirrtum sind zu streichen.“ 115 Und jüngst hat T. Zimmermann diesen Weg gewählt: „Tatsächlich fehlt es dem Täter im Falle einer lediglich imaginierten Notstandssituation jedoch am Strafunrechtswillen. [. . .] Als Anknüpfungspunkt der Strafbarkeit dient auch hier ein mittelbares Verschulden (Vorverschulden)“ 116. Er fol111

Welzel, ZStW 67 (1955), S. 196 ff., 222. „[. . .] unterstellt also den Faktenirrtum bei Fahrlässigkeit (Vermeidbarkeit) der [. . .] Vorsatzstrafe. Das ist systematisch widersprüchlich. Insofern die Notstandslage das Strafunrecht betrifft, müßte der Faktenirrtum nach den Regeln der Tatfahrlässigkeit behandelt werden (sog. Fahrlässigkeitslösung)“, Köhler, Strafrecht, AT, Berlin, 1997, S. 339. Interessant auch Jakobs: „Diese Lösung ist nicht falsch, sondern einseitig: Sie schließt diejenigen Haftungen überhaupt nicht aus, die bestehen, weil der Täter durch seinen vermeidbaren Irrtum die Konfliktlage verursacht hat, so daß ein strengerer Maßstab anzulegen ist, und weil er je nach Fallgestaltung noch in der Konfliktlage den Irrtum revidieren kann“ (Strafrecht, AT, 2. Aufl., Berlin, 1991, § 17, S. 516), der aber schließlich für eine Vorsatzlösung plädiert. 113 Rudolphi, ZStW 78 (1966), S. 81 ff., 84 ff.: ein „Zwittergebild“; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, AT, 5. Aufl., 1996, § 44, S. 480; Hirsch-LK, § 35, 11. Aufl., Rn. 4, S. 76 f.; Rogall-SK, § 35, Rn. 3 ff., S. 4 ff.; Vogler, GA 1969, S. 103 ff.; Frisch, Vorsatz und Risiko, 1983, S. 470: „am ehesten plausibel“; Kühl, Strafrecht, AT, 8. Aufl., S. 392 ff. 114 Roxin, ZStW 76 (1964), S. 612. Zur aktuellen Meinung von Roxin s. o. C. III. 6. 115 Roxin, ZStW 76 (1964), S. 612. 116 T. Zimmermann, Rettungstötungen, 2009, S. 261. 112

II. Die ratio der Irrtumsregelung beim entschuldigenden Notstand

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gert daraus: „Die Strafbarkeit wird nicht an die vorsätzliche Handlung, sondern an das zeitlich vorgelagerte fahrlässige Verhalten geknüpft“ 117. Dem hat man stets entgegengehalten, diese Lösung sei kriminalpolitisch unhaltbar. Denn sie erlaube Strafbarkeitslücken dort, wo keine fahrlässige Bestrafung vorgesehen sei118 und schließe zugleich die Teilnahmemöglichkeit aus, wenn man die Akzessorietät der Teilnahme annehme. Diese Argumente sind nicht zu unterschätzen, weil – anders als bei der Notwehr, die sich nur gegen die Güter des Angreifers richtet – alle Tatbestände „notstandsfähig“ sind. Gerade deswegen hat Engisch – selbst ein Vertreter dieser Lösung – eine generelle Bestrafung der sogenannten „Notstandsfahrlässigkeit“ postuliert119. Deshalb wurde die Fahrlässigkeitslösung immer mit einer „Prüfungspflicht“ als ungeschriebenes Merkmal des echten entschuldigenden Notstands verbunden: Nur der, der die Notlage nach besten Kräften geprüft habe, könne sich später auf einen Schuldtatbestandsirrtum berufen120. Diese strenge Einschränkung wurde stark kritisiert. Welzel hat sich entschieden dagegen gewandt: Dies sei eine „Überspannung des subjektiven Rechtfertigungselementes“ 121. Engisch behauptet, dass diese Einschränkung die Gerichte dazu verleiten könnte, Verdachtsstrafen auszusprechen, 117 T. Zimmermann, Rettungstötungen, 2009, S. 261. Auch Siegert, Notstand und Putativnotstand, 1931, S. 84: „Es bleibt also noch zu prüfen, ob aus der Genesis der abnormen Motivationslage dem Täter irgendein Schuldvorwurf gemacht werden kann“; auch Schröder, in: FS-Eb. Schmidt, 1961, S. 290 ff., 300: Der Vorwurf gegen den Täter sei, „sich fahrlässig geirrt zu haben“. 118 Siehe Peña-Wasaff, Der entschuldigende Notstand, 1979, S. 150; Welzel meinte, dass diese Umwandlung eines Vorsatzdeliktes in ein Fahrlässigkeitsdelikt ein groteskes Ergebnis darstelle, Welzel, ZStW 67 (1955), S. 196 ff., 222. 119 Engisch, ZStW 70 (1958), S. 612 ff., 615: „Dann ist es nicht mehr möglich, daß sich jeder Dunkelmann auf wirklichen oder vermeintlichen übergesetzlichen Notstand beruft. Das ist hier nicht näher auszuführen. Jedenfalls müßte die Anwendung der Regeln über den Verbotsirrtum auf Fälle nicht zu widerlegender Ausreden zum Mißbrauch dieser Regeln in Richtung einer ,Verdachtsstrafe‘ führen. Setzen wir dagegen voraus, daß ein Arzt wirklich die Voraussetzungen der Schwangerschaftsunterbrechung für gegeben erachtete, aber ohne sorgfältige Prüfung, also übereilt der Meinung war, die Voraussetzungen der gerechtfertigten Unterbrechung seien gegeben, so ist die Qualifikation einer Tat als vorsätzliche Abtreibung im Verbotsirrtum mit bloßer fakultativer Strafmilderung zu hart. Dagegen ist die oben von mir vorgeschlagene Fassung des § 40 geeignet, zu einem gerechten Ergebnis zu führen, ohne daß sogar eine Sonderbestimmung bei der Abtreibung geschaffen werden müßte: Bestrafung der fahrlässigen (leichtfertigen) Schwangerschaftsunterbrechung auf der Grundlage einer Strafdrohung, wie sie für Fahrlässigkeitstaten angemessen ist, unter dem Titel ,Notstandsfahrlässigkeit‘ “. Engisch konzentrierte sich auf den rechtfertigenden Notstand, sagte aber auch, dass seine Gedanken auch auf den entschuldigenden Notstand Anwendung finden sollten (S. 610, Fn. 95); so auch Schröder, in: FS-Eb. Schmidt 1961, S. 290 ff. 298 ff.; krit. dazu Roxin, ZStW 76 (1964), S. 594 und Welzel, ZStW 76 (1964), S. 632, der im Übrigen für den Entwurf 1962 plädiert. 120 Siehe schon RGSt 61, 242 ff.; 62, 137 ff. 121 Welzel, JZ 1955, S. 142 ff., 143; Welzel, ZStW 76 (1964), S. 619 ff., 628. Siehe auch Sengmüller, Die Sonderbehandlung, 1960, S. 50.

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D. Der Irrtum beim entschuldigenden Notstand

„indem man den vom Täter angeführten Irrtum von vornherein mit dem Bemerken als ,Ausrede‘ abtut, er habe die Sachlage nicht hinreichend geprüft.“ 122 Der Bundesgerichtshof hat – trotz der Anerkennung der Schuldtheorie in BGHSt 2, 194 – die Rechtsprechung des Reichgerichts im Sinne der Fahrlässigkeitslösung fortgeführt (z. B. in einem Meineidsfall 1954, BGHSt 5, 311123). Erst 1965 hat der Bundesgerichtshof sodann Zweifel über die Kohärenz dieser Lösung mit der Schuldtheorie angemeldet: „Ob diese Rechtsprechung fortzusetzen wäre oder die vom BGH vertretene Schuldtheorie (BGHSt 2, 194, 208) folgerecht dazu führt, die vorsätzliche Tat als solche, nur gemildert nach den Grundsätzen über den Verbotsirrtum, zu bestrafen – weil der Nötigungsnotstand zwar die Schuld, aber nicht den Vorsatz berührt [. . .] –, kann der Senat nicht entscheiden, solange nicht die Frage entscheidungserheblich und die Strafkammer sich darüber schlüssig geworden ist“ (BGH GA 1967, 113 f.). Diese Lösung ist aber nicht nur kriminalpolitisch fragwürdig, sondern auch falsch. Denn sie setzt voraus, dass die ratio der Entschuldigung eben vor allem der subjektive Motivationsdruck des Täters ist – auch die zweite Schuldminderung der doppelten Schuldminderungslehre wird im Motivationsdruck des Täters gesehen. Die Fahrlässigkeitslösung will also das fahrlässige Vorverhalten des Täters bestrafen, denn die Nothandlung an sich sei wegen des subjektiven Drucks des Täters entschuldigt. Diese subjektive Begründung ist aber verfehlt (s. o. C III. 3.). Es ist so, dass es beim Vorverhalten schon an einer wesentlichen Voraussetzung des entschuldigenden Notstands fehlt, nämlich der maßgeblichen Selbstbetroffenheit des Täters. Es ist also widersprüchlich, hier von einer Fahrlässigkeitsbestrafung zu sprechen. Hier ist zugleich auf eine Parallele zur selbstverursachten Notstandslage hinzuweisen. Bei der Selbstverursachung kommen häufig fahrlässige Obliegenheitsverletzungen vor, die eine Berufung auf die Entschuldigung ausschließen124: Der Täter vergisst seine Schwimmweste bei einer erkennbar gefährlichen Schifffahrt und tötet nach einem Unfall seinen Freund, um sich mit dessen Schwimmweste zu retten. Hier wird dem Täter eine (fakultative) Strafmilderung für seine vorsätzliche begangene Straftat gewährt. Das ist richtig. Es ist nicht einzusehen, wieso dies beim Irrtum anders sein soll. Roxin hat meines Erachtens in diesem Kontext zurecht behauptet: „Denn wenn ein wirklich bestehender Notstand an der Vorsätzlichkeit der Tat nichts ändert [. . .], kann seine irrtümliche Annahme auf den Vorsatz natürlich auch keinen Einfluss haben“ 125. 122

Graf, Irrtümer, 1967, S. 115. Siehe Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl., 1969, S. 182: „Hier ist die Umdeutung einer vorsätzlichen Tat in eine fahrlässige besonders ungereimt [. . .] Hier handelt es sich um die äußerliche Übertragung der ohnehin fehlerhaften Lehre von den negativen Tatumständen.“ 124 Siegert, Notstand und Putativnotstand, 1931, S. 94 ff., hat diese Parallele erkannt und vertritt auch bei der Selbstverursachung eine Fahrlässigkeitsbestrafung. Siehe auch Graf, Irrtümer 1967, S. 52. 123

II. Die ratio der Irrtumsregelung beim entschuldigenden Notstand

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c) Die Vorsatzlösung Aber wie gesagt: Hier ist der Gesetzgeber eingeschritten und hat sich eindeutig im Sinne der sogenannten Vorsatzlösung entschieden. § 35 II kann man entnehmen, dass der Vorsatz des Täters bei der irrigen Annahme unberührt bleibt. Diese Lösung ist auch nicht neu. Salomon z. B. hat dies schon 1931 vertreten126. Damals wurde sie als Verbotsirrtumslösung betrachtet, da auch den Verbotsirrtümern nur (wenn überhaupt) eine nicht vorsatzausschließende Wirkung zugesprochen wurde127. Sie ist an sich auch richtig (u. III., 3.), und das nicht nur „aus praktischen Gründen“ 128, d. h. um Strafbarkeitslücken zu vermeiden. Es ist außerdem bemerkenswert, dass der BGH mindestens einmal vor Geltung des § 35 diese Lösung vertreten hat (BGH Urteil vom 20.12.1955, 5 StR 532/ 55): „Läßt sich ein Notstand nach § 54 StGB nicht wider legen, so war zwar nicht der Vorsatz der Tötung, aber ihre Vorwerfbarkeit, also die Schuld des Angeklagten ausgeschlossen. War keine Notstandslage vorhanden, so wird zu untersuchen sein, ob der Angeklagte ihre tatsächlichen Voraussetzungen irrig angenommen hat. Ein solcher vermeintlicher Notstand würde zwar ebenfalls nicht den Vorsatz der Tötung beseitigen, könnte aber für die Schuld des Angeklagten von Bedeutung sein“. In der Lehre wird hierfür vorgebracht, dass, wenn beim echten entschuldigenden Notstand des § 35 I der Vorsatz unberührt bleibe, dies auch beim Schuldtatbestandsirrtum des § 35 II gelten müsse129. Das ist aber nicht das einzige Argument, das für die Vorsatzlösung spricht. Das will ich näher ausführen. 3. Eigene Begründung Es ist kein Geheimnis, das der Schuldtatbestandsirrtum einen Irrtum eigener Art darstellt. Die gesetzgeberische Entscheidung verkörpert in der Tat eine merkwürdige Kombination von Merkmalen, die zum Tatbestands-, Erlaubnistatbestands- und Verbotsirrtum gehören130. § 35 II verlangt ausdrücklich eine Ver125

Roxin, Strafrecht, AT, 4. Aufl., 2006, § 22, Rn. 60. Salomon, Die irrtümliche Annahme, 1931, S. 71; wohl auch Hardwig, Die Zurechnung, S. 238. 127 So ausdrücklich Salomon, Die irrtümliche Annahme,1931, S. 71. 128 Wie Sengmüller, Die Sonderbehandlung, 1960, S. 84 meint: „Trotzdem erscheint es jedoch aus praktischen Gründen geboten, dem über tatsächliche Voraussetzungen eines Entschuldigungsgrundes irrenden Täter das Risiko für den rechtswidrigen Eingriff in einen fremden Rechtskreis oder in fremde Rechtsgüter aufzuerlegen, was dadurch geschehen kann, dass man einen derartigen Irrtum ,wie‘ einen Verbotsirrtum behandelt (obwohl er in Wahrheit gar keiner ist). Der Grund hierfür liegt darin, dass der über einen entschuldigenden Sachverhalt irrende Täter die Hauptbestandteile der Straftat, nämlich Tatbestandsmäßigkeit und Rechtswidrigkeit, kennt und sich lediglich hinsichtlich der Schuld in Unkenntnis befindet.“ 129 Roxin, Strafrecht, AT I, 4. Aufl., 2006, § 22, Rn. 59 ff., S. 897. 130 Dazu siehe auch Bernsmann, „Entschuldigung“, 1989, S. 151. 126

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D. Der Irrtum beim entschuldigenden Notstand

meidbarkeitsprüfung, wie beim Verbotsirrtum (§ 17), wo es sich aber um eine rein tatsächliche Prüfung handelt; zu prüfen ist hier auch hypothetisch, ob der Täter entschuldigt wäre, wenn seine Vorstellung richtig wäre, genau wie beim gesetzlich nicht geregelten Erlaubnistatbestandsirrtum; § 35 II verlangt, dass der Täter „Umstände“ irrig annimmt, wie § 16 II. Der Vorsatz bleibt wie beim Verbotsirrtum aber unberührt. Es ist hier auch auf einen möglichen Vergleich mit dem Gültigkeitsirrtum hinzuweisen, „insoweit die Existenz höherrangigen Rechts quasi-faktische Umstände sind, von denen die fehlerhafte Wertung abhängt“ 131. Die Frage der Begründung der Vorsatzlösung hat fundamentale Bedeutung. Sie wurde früher nicht wirklich gestellt, zum Teil weil damals eine einheitliche Behandlung des Notstandes stattfand, zum Teil weil die Schuldlehre – d. h.: die Trennung von Vorsatz und Unrechtsbewusstsein – sich noch nicht etabliert hatte. Es tauchte aber schon damals der Gedanke auf, dass der Irrtum beim Notstand einer besonderen Behandlung gegenüber den anderen Rechtsfertigungs- bzw. Entschuldigungsgründen bedürfe132. Der Notstand nämlich weise einige Besonderheiten auf: Es gebe keinen rechtswidrigen Angriff wie bei der Notwehr und die Notlage sei Gegenstand einer Abwägung des Täters. Der Notstand sei im Prinzip auf fast alle Tatbestände des Besonderen Teils anwendbar, anders als die Einwilligung und die Notwehr.133 Ein Beispiel aus der Geschichte: Der Entwurf 1958 war der erste, in dem eine besondere Regelung des Irrtums beim Notstand auftaucht (§ 40).134 Dort wurden Irrtümmer über den rechtfertigenden und entschuldigenden Notstand gleichbehandelt, gegenüber den anderen Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründen kam ihnen aber eine besondere Behandlung zu135. Auch der Entwurf 1962 stellte beide Irrtümer gleich (§ 20), sah aber eine (strengere) Sonderregelung für den entschuldigenden Notstand vor (§ 40 II)136. Der Notstandsirrtum ist ohne Zweifel zugleich der praktisch relevanteste Fall des Irrtums im Bereich der Rechtfertigung und der Entschuldigung. Abermals ist der Vergleich von Schuldtatbestandsirrtum und Erlaubnistatbestandsirrtum in Erinnerung zu rufen: Dort heftige Diskussion, kein Einschreiten

131

Momsen, Die Zumutbarkeit, 2006, S. 372. Siehe vor allem die Monographie von Sengmüller, Die Sonderbehandlung, 1960. 133 So auch Vogler, GA 1969, S. 114. 134 Sengmüller, Die Sonderbehandlung, 1960, S. 42; siehe dazu auch Engisch, ZStW 70 (1958), S. 566 ff., 608 ff. Auch im Entwurf 1959 II taucht eine besondere Regelung des Notstandsirrtums auf: Schröder, in: FS-Eb. Schmidt 1961, S. 290 ff. Gegen diese „uneinheitliche“ Lösung schon Roxin, MschrKrim 1961, S. 211 ff. 135 Sengmüller, Die Sonderbehandlung, 1960, S. 43 ff., 92: Die Sonderbehandlung sei dadurch gerechtfertigt, dass bei der Notstandsituation die „Vehemenz“ eines plötzlichen Angriffes nicht vorliege. Die Notstandshandlung ermögliche also eine „sorgfältige Überlegung und Prüfung“ (S. 93); früher schon Hardwig, GA 1956, S. 369 ff., 378. 136 Die Diskussionen über den Irrtum beim Notstand findet man in: Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, 2. Band, AT, 1958, S. 157 ff. 132

III. Die konkreten dogmatischen Fragen im Bereich des Irrtums

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des Gesetzgebers und keine Vorsatzbestrafung (so die herrschende Meinung137); hier keine heftige Diskussion, ein klares Einschreiten des Gesetzgebers und eine klare Regelung, wonach der Vorsatz unberührt bleibt. Die Vorfrage muss also lauten: Was rechtfertigt diesen großen Unterschied?138 Die Folge für die Behandlung des Irrtums ist diese: Wenn der Täter sich einen Sachverhalt vorstellt, der ihn rechtfertigen würde, dann glaubt der Täter ein Recht (im strengen Sinne des Wortes) auf die Handlung zu haben, ein Recht auf die Ausdehnung seiner eigenen Rechtssphäre zuungunsten des Opfers, dem eine Duldungspflicht auferlegt würde. Es gibt aber kein Recht in diesem Sinne auf die Vornahme einer zu entschuldigenden Handlung. Der Täter, der einen entschuldigenden Sachverhalt annimmt, wähnt sich also nicht berechtigt auf die Rechtssphäre des Opfers einzuwirken, sondern glaubt an seine eigene Schuldlosigkeit für die vorsätzliche schwere Verletzung eines in der Regel unschuldigen Opfers. Wir befinden uns hier auf der Ebene der Sanktionsnorm. Das ist der richtige Kern der von Roxin hervorgehobenen „Differenz zwischen objektiver und subjektiver Rechtstreue“ 139. Ich bevorzuge aber die Formulierung in der Sprache der Rechte, d. h. eine Formulierung aus der Sicht der Bürger anstatt aus der Sicht des Staates: Die Annahme eines anerkannten Rechts (eines Recht also, das auch dem Opfer zugutekommen könnte) ist etwas anders als die Annahme einer straflosen Handlung. Das rechtfertigt die strengere Behandlung des Schuldtatbestandsirrtums (Vorsatzbestrafung) im Vergleich zum Erlaubnistatbestandsirrtum (keine Vorsatzbestrafung)140. Das ist der entscheidende Punkt. Die Vorsatzlösung ist an sich also richtig. Der Gesetzgeber kann sich auf gute Gründe berufen.

III. Die konkreten dogmatischen Fragen im Bereich des Irrtums beim entschuldigenden Notstand Nachdem die formelle Struktur der gesetzgeberischen Entscheidung und auch die materiellen Gründe der Vorsatzlösung schon dargestellt worden sind, kann man sich nun den grundlegenden, offenen Fragen des Schuldtatbestandsirrtums zuwenden. 137

Statt aller siehe Roxin, Strafrecht, AT, 4. Aufl., § 14, Rn. 52 ff. Ziegert, Vorsatz, Schuld und Vorverschulden, 1987, S. 14: Die Stellung des Vorsatzes im Verbrechensaufbau sei streitig. Bergenroth, Der übergesetzliche Putativnotstand, 1933, S. 66 ff.: umfassender Begriff des Verbotenseins (Rechtswidrigkeit und Schuld). Er hat eine einheitliche Behandlung des Irrtums über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes oder eines Entschuldigungsgrundes vertreten. 139 Roxin, ZStW 76 (1964), S. 604. 140 Siehe aber Welzel, ZStW 67 (1955), S. 196 ff., 223: „Man kann die irrige Annahme der Voraussetzungen von Entschuldigungsgründen nicht anders behandeln als die irrige Annahme der Voraussetzungen von Rechtfertigungsgründen, vollends dann nicht, wenn man den Notstand i. S. der herrschenden Differenzierungstheorie, d. h. teils als Rechtsfertigungs-, teils als Entschuldigungsgrund regeln will.“ 138

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D. Der Irrtum beim entschuldigenden Notstand

1. Der Begriff der „Umstände“ im Sinne § 35 StGB Ganz wie bei § 16 ist auch hier von „Umständen“ die Rede. Es muss also genau bestimmt werden, was man unter Umstand im Sinne § 35 II versteht. Die Reichweite des Schuldtatbestandsirrtums hängt selbstverständlich hiervon ab141. Es ist vor allem umstritten, ob man darunter nur die „positiven“ Voraussetzungen (die gegenwärtige, nicht anders abwendbare Gefahr für Leben, Leib oder Freiheit, § 35 I 1) oder auch die „negativen“ (die der Zumutbarkeitsklausel, wie die Fälle der Selbstverursachung der Gefahr und des besonderen Rechtsverhältnisses, § 35 II 2) einordnen soll. Der Wortlaut ist hier entscheidend: § 35 II ist in allen Fällen des § 35 I anwendbar142. Es ist anzumerken, dass das Merkmal „nicht anders abwendbar“ an sich auch negativ formuliert ist und niemand daran zweifelt, dass ein Irrtum über dieses Merkmal relevant ist. Die Zumutbarkeitsklausel ist eine Art „gesamtschuldbewertendes“ Merkmal, solche „erfassen nicht einzelne Umstände der Tat, sondern bezeichnen die rechtliche Bewertung der Tatumstände“ 143. Die Voraussetzungen der Zumutbarkeitsklausel sind also sicherlich „Umstände“ im Sinne des § 35 II. Wer über die Voraussetzungen der Selbstverursachung der Gefahr in unvermeidbarer Weise irrt, ist grundsätzlich zu entschuldigen. Jakobs versucht mit seiner Differenzierung von „vorstellungsabhängigen“ und „vorstellungsunabhängigen“ Merkmalen144 die entschuldigende Wirkung einiger Fehlvorstellungen zu verneinen. Es ist laut Jakobs zu unterscheiden zwischen Merkmalen, „die den schuldrelevanten Befund unabhängig von der Vorstellung des Täters über diesen Befund bezeichnen, und Merkmalen, bei denen (auch) die Beziehung des Täters zu einem (vermeintlich oder wirklich vorliegenden) Befund relevant ist“ 145. Vorstellungsunabhängige seien vor allem die subjektiven Merkmale, „d. h. einen Befund der Täterpsyche bezeichnende Merkmale“ wie z. B. die für §§ 20 f. maßgeblichen146. Aber auch objektive Schuldmerkmale, die die motivationsunabhängigen Regelungen der Zuständigkeit des Täters für eine Konfliktlage darstellten, seien vorstellungsunabhängig147. Ein Beispiel von Ja141 Siehe Schlüchter, Irrtum, 1983, S. 187 ff., die vertritt, dass ein Irrtum über entschuldigende Umstände vorliege, wenn der Täter „sich über den von dem jeweiligen Merkmal bestimmten Sachverhaltsausschnitt so weit im klaren ist, um die diesem Merkmal innewohnende(n) die Rechtsgutsbeeinträchtigung entschuldigende(n) Komponente(n) erfaßt zu haben“. 142 Siehe auch Bachmann, JA 2009, S. 510 ff. 143 Hardtung, ZStW 108 (1996), S. 28; dazu siehe auch Walter, Der Kern, 2006, S. 331; Schlüchter, Irrtum, 1983, S. 187 ff., 189 f. 144 Jakobs, Strafrecht, AT, 2. Aufl., 1991, § 17, S. 513 ff.; beim Putativnotstand verlangt Jakobs ausnahmsweise zusätzlich einen Rettungswillen als Kompensation für die Abwesenheit der Notlage. 145 Jakobs, Strafrecht, AT, 2. Aufl., § 17, S. 513 ff. 146 Jakobs, Strafrecht, AT, 2. Aufl., § 17, S. 514. 147 Jakobs, Strafrecht, AT, 2. Aufl., § 17, S. 514.

III. Die konkreten dogmatischen Fragen im Bereich des Irrtums

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kobs: „Wer im Wald leichtsinnig geraucht hat, ist bei einem dadurch entstandenen Waldbrand nicht entschuldigt, wenn er sein Leben auf Kosten des Lebens eines anderen in der Meinung rettet, sein Rauchen sei für den Brand nicht ursächlich geworden; er ist aber entschuldigt, wenn er die Ursächlichkeit irrig annimmt“ 148. Das Abstellen auf die Vermeidbarkeit im § 35 II stehe dieser Lösung nicht entgegen: „denn diese Regelung hat wie jede Vermeidbarkeitsregelung nur einen Sinn, wenn sie allein auf motivationsrelevante Umstände bezogen wird, nicht aber auf den Maßstab, mit dem die Motivation zu messen ist“ 149. Vorstellungsabhängig seien z. B. die Gefahrenlage und deren Abwendbarkeit beim § 35 I: „Wer nicht wissen kann, daß er in Lebensgefahr schwebt, kann sich auch nicht in einer entschuldigenden Weise aus der Gefahr befreien“.150 In diesen Fällen tauchen noch zwei Voraussetzungen für eine Entschuldigung auf: Eine Motivationsbelastung müsse wirklich – nicht nur präsumiert – vorliegen, und der Irrtum müsse unvermeidbar sein151. Beim Irrtum „bleibt nur eine Motivationsbelastung als entschuldigendes Moment, und diese Belastung muß deshalb wirklich sein“ 152. „Für den Täter in putativem Nötigungsnotstand muß die existentielle Gefahr Hauptgrund seiner Handlung sein; beim wirklichen Nötigungsnotstand reicht nicht nur hin, daß sie eine Handlungsbedingung unter anderen ist, sondern selbst bei bloßer Kenntnis der Gefahr und der abzuwendenden Wirkung seiner Handlung wird der Täter entschuldigt“ 153. Allerdings macht § 35 II keine Ausnahmen, sodass mir diese These eine unzulässige Analogie zuungunsten des Täters zu sein scheint. Die entschuldigende Kraft des § 35 I entfaltet sich erst bei Feststellung des Vorhandenseins aller „tatbestandlichen“ Merkmale. Die Ausnahmeregelungen des § 35 I 2 spielen beim Gesamtkomplex des § 35 die wichtige Rolle, den Beitrag des Täters für seine eigene Bestrafung zu identifizieren. Ein Irrtum über die tatsächlichen Voraussetzungen der Pflicht zur Hinnahme der Gefahr muss deswegen beachtlich sein. Es besteht kein Grund, eine Beschränkung auf der Irrtumsebene vorzuschlagen154. 148 Jakobs, Strafrecht, AT, 2. Aufl., § 17, S. 514; dagegen mit Recht Walter, Der Kern, 2006, S. 328 ff. 149 Jakobs, Strafrecht, AT, 2. Aufl., § 17, S. 514. 150 Jakobs, Strafrecht, AT, 2. Aufl., § 17, S. 514. 151 Jakobs, Strafrecht, AT, 2. Aufl., § 17, S. 515. 152 Jakobs, Strafrecht, AT, 2. Aufl., § 17, S. 515. 153 Jakobs, Strafrecht, AT, 2. Aufl., § 17, S. 515. 154 Hardtung, ZStW 108 (1996), S. 28 ff., 32, der die umgekehrten Fälle der unvermeidbaren Fehlannahme eines Zumutbarkeitsgrundes thematisiert: „Die Fehlvorstellung, den Brand selbst verursacht zu haben, muß T weiterhin belasten.“ Roxin erwähnt auch den Fall, „dass ein nach § 35 I 1 Gefahrtragungspflichtiger einem Irrtum über die Voraussetzungen des § 35 I 1 verfällt“. Hier fehlen aber zwei wesentliche Merkmale des entschuldigenden Notstands, sodass die einzig richtige Lösung meines Erachtens wäre, die Regel des unvermeidbaren Irrtums des § 35 II anzuwenden: fakultative Strafmilderung bei der Selbstverursachung und ungemilderte Strafe bei besonderem Rechtsverhältnis. So auch der Vorschlag von Roxin, Strafrecht, AT, 4. Aufl., § 14, Rn. 64.

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D. Der Irrtum beim entschuldigenden Notstand

2. Der Begriff des Irrtums Beim Irrtumsbegriff ist zuerst eine hypothetische Prüfung durchzuführen, um festzustellen, ob der Täter gem. § 35 I zu entschuldigen wäre, wenn seine Vorstellung der Wirklichkeit entsprechen würde. Ich denke, dass eine minimale Plausibilität der Vorstellung als Teil des Irrtumsbegriffs anzusehen ist: Höchst unplausible Vorstellungen können noch nicht als (rechtlich relevante) Irrtümer angesehen werden155. Denn hier geht es immer um schwerwiegende Taten. Ein wahnbedingter Notstand ist also auszuschließen, aus denselben Gründen, weshalb eine leichte Selbstbetroffenheit des Täters – eine kurze Freiheitsberaubung zum Beispiel – von dem Gefahrbegriff nicht erfasst sein soll. Siehe zum Beispiel den Fall, der BGH NStZ 2011, 336 f. zugrunde lag: Der paranoide Täter wollte verhaftet werden, um ins Gefängnis „umzuziehen“ und so der Gefahr, in der er sich wähnte, zu entgegehen. Anlässlich einer Anmerkung zum Katzenkönig-Fall (BGHSt 35, 347) hat Herzberg gesagt: „Der Gesetzgeber ist nicht als lächerliche und abergläubische Person zu denken. (. . .)“ 156. Auch Zweifel über die Voraussetzungen kommen in diesem Kontext häufig vor157. Ein Schulbeispiel: „Wenn X sieht, wie der fremde Rottweiler zähnefletschend auf ihn und die Passanten Y und Z zustürzt, weiß er, daß der Hund entweder ihn oder Y oder Z schwer verletzen wird“.158 Hier vertritt die herrschende Meinung – wie beim Unrechtzweifel im Verbotsirrtum – die Unvereinbarkeit des Zweifels mit dem Irrtum159. Es gibt aber viele Vorschläge, diese Meinung zu flexibilisieren: Eine Lösung versucht, durch eine ex ante-Betrachtung der Gefahr einige Fälle des Zweifels auszuschließen; nach einer anderen Ansicht sollen nur unbehebbare Zweifel relevant sein160; schließlich wird vertreten, dass ein Vertrauen des Täters auf das Vorliegen der fraglichen Umstände einen Irrtum begründe161. Beim hier diskutierten Problem sind aber die Parallelen zum Unrechtszweifel keinesfalls evident. Denn hier geht es um tatsächliche Zweifel, die 155 So schon Graf, Irrtümer, 1967, S. 41 ff.; auch Jakobs, Strafrecht, AT, 2. Aufl., 1991, § 17, S. 516. „Da die Entschuldigungsgründe nur die Befreiung aus erfahrbar-irdischen Katastrophen regeln, führt die Annahme überirdischer Gefahren nicht zu einem Irrtum über die Voraussetzungen des Entschuldigungstatbestands“. 156 Herzberg, Jura 1990, S. 16 ff., 18: hier habe der BGH einen Putativnotstand gesehen, „wo in Wahrheit nur ein ,Wahnnotstand‘ gegeben war“; siehe auch Schumann, NStZ 1990, S. 32 ff.; zu den Meinungen von Herzberg und Schuman siehe kritisch Roßmüller/Rohrer, Jura 1990, S. 582 ff. 157 Hardtung, ZStW 108 (1996), S. 26 ff., 38 ff. Siehe auch Leite, GA 2012, S. 688 ff.; ders., Dúvida, 2012, S. 1 ff. 158 Hardtung, ZStW 108 (1996), S. 26 ff., 38 f. 159 Statt aller Fischer, Strafgesetzbuch, 64. Aufl., 2017, § 35, Rn. 16; über diese „Unvereinbarkeitsthese“ siehe Leite, GA 2012, S. 688 ff., 691 ff.; auch ders., Dúvida, 2012, S. 17 ff., 55 ff. 160 So Jakobs, Strafrecht, AT, 2. Aufl., 1991, § 17, S. 515, Fn. 136a; auch Walter, Der Kern, 2006, S. 332 f. 161 Zieschang-LK, § 35, Rn. 74.

III. Die konkreten dogmatischen Fragen im Bereich des Irrtums

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einen Entscheidungszwang hervorrufen können. Mir leuchtet auch nicht ein, dass ein leichtfertiger, vermeidbarer Irrtum besser gestellt werden soll als ein plausibler Zweifel162, so dass meines Erachtens plausible Zweifel in den Irrtumsbegriff miteinzubeziehen sind. Denn sonst wäre es so, dass „der zunächst vielleicht sehr sorgfältig prüfende, dann zweifelnde Täter schlechter gestellt wird als der noch so leichtfertig Irrende, der immerhin noch zwingend in den Genuß einer Strafmilderung gelangt“.163 Wahnbedingte Vorstellungen sind also auszuschließen; plausible Zweifel rufen aber einen Irrtum hervor. 3. Die Vermeidbarkeit Der § 35 II kennt eine Vermeidbarkeitsprüfung, die der des § 17 ähnelt164. Wenn der Irrtum vermeidbar ist, kommt es zu einer – anders als dort – obligatorischen Strafmilderung; ist der Irrtum unvermeidbar, so ist der Täter entschuldigt. Früher war von der Vorwerfbarkeit des Irrtums die Rede165. Der Unterschied besteht aber im Gegenstand der Prüfung: dort muss man die Rechtslage prüfen; hier geht es nach der herrschenden Meinung lediglich um die tatsächlichen Voraussetzungen166. Auch hier muss man aber strikt zwischen dem Irrtumsbegriff und der Vermeidbarkeit eines Irrtums unterscheiden167. Bei der Vermeidbarkeitsprüfung gem. § 35 II168 verhält sich die Rechtsprechung besonders streng. Der Täter müsse die Notlage nach besten Kräften prü162

Ähnlich Warda, in: FS-Lange, 1976, S. 122 ff., 138. Bernsmann, „Entschuldigung“, S. 443; zu diesem Argument Leite, GA 2012, S. 688 ff., 697; auch ders., Dúvida, S. 133 ff. 164 Dazu siehe Schmidhäuser, Strafrecht, AT, 2. Aufl., 1975, S. 470, mit seiner eigenartigen Konstruktion: „Die Regelung des 35 § II meint jedoch nur solche Fälle, in denen die Gefahr noch gar nicht ,gegenwärtig‘ war und in denen also die Notstandslage gar nicht gegeben ist; nur dann nämlich kommt eine ,Vermeidbarkeit‘ des Irrtums überhaupt in Betracht. Wenn nämlich der Täter die Notlage wirklich als gegenwärtig erlebt (in der Weise, in der sie vom Gesetz vernünftigerweise für die Entschuldigung vorausgesetzt ist), dann wird kein Lebenssachverhalt mehr zu finden sein, der eine Vermeidbarkeit des Irrtums ergibt. Das subjektive Erlebnis einer Notstandslage als einer gegenwärtigen Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit schließt die Annahme einer Vermeidbarkeit des Irrtums aus, weil der Täter sich in solchen Fällen subjektiv von seinem eigenen Erleben gar nicht distanzieren kann. Akademische ,Papierfälle‘ sind ungeeignet, hier eine andere Strafrechtsanwendung als richtig darzutun; die Vermeidbarkeit eines Irrtums kann nicht als feststehende Größe in einem beliebigen Sachverhalt unterstellt werden“; Hruschka, Strafrecht, 2. Aufl., 1988, S. 266: Vermeidbarkeit als Obliegenheit. 165 Kuhnt, Pflichten, 1966, S. 216 ff. 166 Die Situationen sind eben sehr unterschiedlich: „Auf eine Sinneswahrnehmung glaubt jeder sich unmittelbar verlassen zu können, es bietet sich weniger Anlaß, sie zu verifizieren als eine Bewertung. Außerdem ist die Rechtskenntnis gewissermaßen statistischer Natur. Der Täter tritt mit ihr in eine Situation, in der sich die Tatsachenkenntnis erst bildet“, Krümpelmann, GA 1968, S. 136. 167 Darüber Leite, GA 2012, S. 688 ff., 693; auch ders., Dúvida, S. 94 ff., 143 ff. 168 Schmidhäuser, Strafrecht, AT, 2. Aufl., 1975, S. 470: Unabhängig von der Vermeidbarkeit sei in den Irrtumsfällen „die unrechte Tat voll entschuldigt“. Das subjektive 163

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D. Der Irrtum beim entschuldigenden Notstand

fen: „Der Genötigte oder vermeintlich Genötigte muß alle seine geistigen und körperlichen Fähigkeiten eingesetzt haben.“ (BGHSt 18, 311). Die Anforderungen seien nach den Umständen zu bestimmen: „Von Bedeutung sind dafür insbesondere die Schwere der Tat und die Umstände, unter denen die Prüfung stattgefunden hat, insbesondere die Zeitspanne, die für sie zur Verfügung stand und ob dem Täter eine ruhige Überlegung möglich war. [. . .] Daher werden an die Prüfungspflicht der Angeklagten strenge Anforderungen zu stellen sein“ (BGHSt 48, 255 ff., S. 262 f.). Zwei Situationen seien zu unterscheiden: Erkundigungsmöglichkeit (häufig bei Dauergefahren169) und Entscheidungszwang.170 Es müsse gefragt werden, ob „der Angeklagten vor der Tat eine lange Überlegungsfrist zur Verfügung stand, in der sie Erkundigungen über Möglichkeiten zur anderweitigen Abwendbarkeit der Gefahr und Rat hätte einholen können.“ (BGHSt 48, 255 ff., 262). So auch BGH NStZ 1992, 487 ff.: „In Extremfällen kann die Notwendigkeit eingehender Prüfung sogar entfallen. So ist es von wesentlicher Bedeutung, ob die konkreten Tatumstände ein sofortiges Handeln zur wirksamen Vermeidung eigener Rechtsguteinbußen erfordern oder ob dem Täter die Möglichkeit zu ruhiger Überlegung zur Verfügung steht. Auch kommt es darauf an, ob die zumutbare Anwendung milderer Mittel sich geradezu aufdrängt oder nur entfernt in Betracht kommt“. Auch die Schwere der Tat sei zu berücksichtigen171. Hier solle der Maßstab der Tatfahrlässigkeit gelten.172 Trotz der Ähnlichkeit mit der Vermeidbarkeitsprüfung des Verbotsirrtums sollte man hier anders argumentieren. Die Ähnlichkeiten verschwinden, sobald man an das notwendige Verhältnis des Schuldtatbestandsirrtums zur ratio des entschuldigenden Notstandes denkt. Denn für den Irrtum über die VoraussetzunErlebnis einer Notstandslage als eine gegenwärtige Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit schließe die Annahme einer Vermeidbarkeit des Irrtums aus, weil der Täter sich in solchen Fällen subjektiv von seinem eigenen Erleben gar nicht distanzieren könne; „die Vermeidbarkeit eines Irrtums kann nicht als feststehende Größe in einem beliebigen Sachverhalt unterstellt werden“, Schmidhäuser, Strafrecht, AT, 2. Aufl., 1975, S. 470. Er fährt fort: „rechtsstaatlich unhaltbar“; da „es bei der Entschuldigung ohnehin nur auf das subjektive Erleben des Täters ankommt, brauchte auf dieses Phänomen hier nicht eingegangen zu werden“; und: „Widerspruch“, „willkürliche Herausnahme“, Schmidhäuser, Strafrecht, AT, Studienbuch, 2. Aufl., 1984, S. 248. Mit Recht dagegen Hardtung, ZStW 108 (1996), S. 26 ff., 41: „Die Existenz der Unvermeidbarkeitsklausel zeigt, daß den Entschuldigungsregeln nicht allein das Prinzip des subjektiven Erlebens zugrunde liegt.“ 169 Dieses Beispiel auch bei Krümpelmann, GA 1968, S. 129 ff., 136. 170 Roxin, ZStW 76 (1964), S. 609 f. 171 Bernsmann, „Entschuldigung“, 1989, S. 442: „Wer andere so ernsthaft verletzt, daß er zur Straflosigkeit der Anwendung der Vorschrift des § 35 bedarf, hat die notstandsrelevanten ,Umstände‘ so genau zu prüfen, wie das nach Maßgabe der Situation nur möglich ist.“ 172 So auch Walter, Der Kern, 2006, S. 333; auch Hardtung, ZStW 108 (1996), S. 28, S. 40; Küper, JZ 1989, S. 617 ff., 627: „Vermdeidbarkeitszusammenhang“; Engelmann, in: FS-Traeger, 1926, S. 133 ff., 169.

III. Die konkreten dogmatischen Fragen im Bereich des Irrtums

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gen des entschuldigenden Notstandes ist ein Entscheidungszwang konstitutiv, sonst liegt schon keine gegenwärtige, nicht anders abwendbare Gefahr vor. Der Täter will nicht handeln; er muss handeln, um eine Gefahr abzuwenden, um seine angeborene Rechte zu retten. Wenn jemand im Unrechtszweifel nicht handelt, dann hat er maximal die Ausübung eines Rechtes auf eine Handlung zu verlieren. Beim entschuldigenden Notstand wird der Täter „überrascht“ (sonst liegt eine Selbstverursachung vor, die die Entschuldigung ausschließt, § 35 I 2) und muss sofort handeln. Auch bei einer Dauergefahr ist ein Entscheidungszwang nicht undenkbar173 – man denke nochmals an den Haustyrannenfall174. Eine Erkundigungspflicht zu postulieren, erschiene auch hier mindestens merkwürdig und realitätsfremd. Denn wenn der Täter sich erkundigt, um nach Auswegen zu suchen, und etwa zu hören bekommt, dass seine Situation ausweglos sei, dann sind wir schon im Bereich der Auslegung des objektiven Merkmals der Nichtandersabwendbarkeit der Gefahr – bei einem Rechtsirrtum also. § 35 II stellt also wirklich einen Irrtum „sui generis“ dar, und so müssen seine Eigentümlichkeiten auch respektiert werden175. Die hiesige Theorie des entschuldigenden Notstands erklärt auch die Relevanz dieses Merkmals. Der Vermeidbarkeitsbegriff ist das wichtigste Merkmal dieser Irrtumsdogmatik176. Dieser Begriff garantiert eine Objektivität gegenüber der Fehleinschätzung des Täters: Vermeidbare Fehleinschätzungen sind dem Opfer 173

So auch Peña-Wasaff, Der entschuldigende Notstand, 1979, S. 20. In BGH NStZ-RR 2006, 200 f. wird die Überlegungszeit bei einer Dauergefahr als für die Vermeidbarkeit relevantes Kriterium erwähnt. 175 Auch in den Fällen des Zweifels liegen Eigentümlichkeiten vor. Die Kriterien, die zur Bestimmung des dolus eventualis herangezogen werden, helfen hier nicht weiter, denn sie sind durch ihre Anwendung innerhalb des Unrechts „verbraucht“: Hier bewegt der Täter „sich genauso eindeutig im Bereich des nicht mehr tolerierten Risikos wie jener Täter, der die Voraussetzungen eines entschuldigenden Notstandes für möglicherweise nicht gegeben ansieht – es etwa für möglich hält, daß auch ein milderes als das von ihm eingesetzte Mittel die Gefahr abwendet.“, so Frisch, Vorsatz und Risiko, 1983, S. 464 ff. Die Frage, „ob und inwieweit solche Möglichkeits- und Wahrscheinlichkeitsvorstellungen ausreichen, um dem Täter bestimmte Privilegierungen zu verschaffen“, ist sicherlich normativ zu stellen und hängt von der „ratio“ des entschuldigenden Notstandes ab (Frisch, Vorsatz und Risiko, 1983, S. 465). Warda schlägt folgende Kriterien vor: a) Handeln, „um ein dem Risiko einer strafbaren Normverletzung in seiner Vorstellung als alternative Möglichkeit gegenüberstehendes erhebliches anderweitiges Risiko abzuwenden.“ Unberechtigt sei das Handeln, wenn die Unterlassung „keinen nennenswerten Nachteil für sie oder irgend jemand anders bedeuten“. Nur wenn bei der Unterlassung „inakzeptable Schäden für schützenswerte Güter oder Interessen drohen würden“; nur „wenn die vorgestellte Eventualgefahr Höchstwerte vom Range des Lebens oder der Gesundheit bzw. – bei überindividuellen Rechtsgütern – von der Bedeutung des Bestandes oder der Sicherheit des Staates betrifft“; b) Entscheidungszwang. Zuwarten, Ausweichen, Flucht seien zu verlangen; c) kein vorheriger Sorgfaltsmangel, kein Vorverschulden bei der Entstehung der Gefahr, wozu auch e die missachtete Möglichkeit gehör, die Zweifel zu beheben („als Primärmaßnahme geboten“). Der Grundsatz der Subsidiarität sei zu beachten. Siehe Warda, in: FS-Lange, 1976, S. 122 ff., 138. 176 Diese Bedeutung erkennt auch Hardtung, ZStW 108 (1996), S. 28, 41. 174

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D. Der Irrtum beim entschuldigenden Notstand

gegenüber nicht zu vertreten, so dass die Sanktionsnorm nicht zurückgenommen werden kann. Deswegen sind präventive Gesichtspunkten bei der Bestimmung der Vermeidbarkeit des Irrtums sehr wichtig. Die Begründung dem Täter gegenüber, warum in diesen Fällen Strafe eintritt, ist leicht zu leisten: Seine angeborenen Rechte sind entweder in Wirklichkeit nicht gefährdet, oder es liegen die Voraussetzungen einer straflosen Nothandlung nicht vor. Bei vermeidbarem Irrtum kann zugleich der Beitrag des Täters selbst für seine (gemilderte) Bestrafung identifiziert werden: Er hätte die Verletzung des unschuldigen Opfers vermeiden können. Dieses Merkmal hat dieselbe Funktion wie die Generalklausel der zumutbaren Hinnahme der Gefahr bei objektiv gegebenen Notlagen. Dort wie hier wird der Beitrag des Täters für seine Bestrafung identifiziert: Ein Leben ohne Strafe wäre für ihn durchaus möglich. 4. Der Irrtum über die entschuldigende Norm Ist der Täter zu entschuldigen, wenn er fälschlich annimmt, er könnte jemanden töten, um das ganze Vermögen seiner Familie zu retten? Bei diesem Fall geht es nicht um einen Irrtum im tatsächlichen Bereich. Es besteht stattdessen eine Divergenz in der Bewertung des Verhaltens durch den Täter und durch die Rechtsordnung. Die herrschende Meinung behauptet, dass der Irrtum über die entschuldigende Norm – d. h. ein „Rechtsirrtum“ bei Entschuldigungsgründen – unbeachtlich sei. Diese Meinung kann sich auch auf den Wortlaut berufen. Der Gesetzgeber habe sich bei § 35 II absichtlich auf den „Tatirrtum“ beschränkt; rechtliche Erwägungen seien keine „Umstände“ in Sinne des Gesetzes177. Das gilt als „unbestritten“,178 als „Evidenzurteil“ 179. Auch die Rechtsprechung denkt so180. Neben dem Wortlautargument steht ein wichtiger materieller Gesichtspunkt: Der Rechtsirrtum sei unbeachtlich, „denn allein die Rechtsordnung und 177

Hardtung, ZStW 108 (1996), S. 26 f. Peña-Wasaff, Der entschuldigende Notstand, 1979, S. 154; Siegert, Notstand und Putativnotstand, 1931, S. 66, 97.; Murmann, Grundkurs Strafrecht, 4. Aufl., § 26, Rn. 75, S. 320; Hirsch-LK, § 35, 11. Aufl., Rn. 75; Rogall-SK, § 35, Rn. 47; MüssigMK, § 35, Rn. 85: „die Grenzen der Rechtssolidarität unterliegen nicht der individuellen Deutungskompetenz“; Vogler, GA 1969, S. 106 ff.; Salomon, Die irrtümliche Annahme, 1931, S. 5 ff. So auch die frühere Rechtsprechung: RGSt 36, 335 ff. 179 Klimsch, Die dogmatische Behandlung, 1993, S. 58 f.; Frisch, in: Eser/Perron, Rechtfertigung und Entschuldigung III, 1991, S. 217 ff., 241: „breiter Konsens“; so schon Hegler, ZStW 36 (1915), S. 184 ff., 216. 180 RGSt 36, 334 ff., 337; 60, 318 ff., 319; siehe auch den Fall von BGH NStZ 2001, 324 f.: „Die Einfuhr und die Überlassung eines Betäubungsmittels sind nicht dadurch gerechtfertigt oder entschuldigt, dass der Täter einem unheilbar schwerstkranken Betäubungsmittelempfänger, dem er nicht persönlich nahesteht, zu einem freien Suizid verhelfen will. [. . .] Er nahm an, dass sein Verhalten nach deutschem Recht nicht strafbar sei. Dabei ging er von der Straflosigkeit der Teilnahme an einer Selbsttötung aus. Er wusste nicht, dass Pentobarbital dem deutschen Betäubungsmittelrecht unterliegt. Entsprechende Erkundigungen unternahm er nicht.“ 178

III. Die konkreten dogmatischen Fragen im Bereich des Irrtums

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nicht der betroffene einzelne bestimmt die Grenzen der Unzumutbarkeit“ 181 oder anders formuliert: „die Grenzen der Rechtssolidarität sollten nicht der individuellen Deutungskompetenz unterstellt worden“ 182. Es handle sich um rechtsbegriffliche Fragen, „mit denen sich der Täter nicht zu beschäftigen braucht“ 183. Diese Meinung stützt sich teilweise auf die Idee des „Motivationsdrucks“ als ratio der Entschuldigung, was aber falsch ist. Anhand eines normbezogenen Schuldbegriffs versteht sich die Irrelevanz rechtlicher Irrtümer im Bereich der Schuld von selbst. Denn der entschuldigende Notstand verkörpert eine rechtswidrige und an sich schuldhafte begangene Tat. Das „Üben von Nachsicht“ durch die Rechtsordnung ist nicht Sache des Täters: Eine Konzession ist eben per definitionem ein einseitiger Akt. Die Grenzen der Nachsicht können nicht von der Vorstellung des Täters abhängen. Diese Argumente sind auch gewichtig. Denn hier – anders als beim Erlaubnistatbestandsirrtum – hat der Täter kein Recht auf die Rechtssphäre des Opfers. Selbst wenn seine Vorstellung richtig wäre, hätte er kein Recht darauf, in die Rechtssphäre des Opfers einzugreifen. Das Opfer behält grundsätzlich sein Notwehrrecht184. Der oben genannte strukturelle Grund ist aber hier noch einmal das synallagmatische Verhältnis zwischen Kenntnis und Irrtum. Um eine Entschuldigung zu bejahen, verlangt die Rechtsordnung dem Täter keine rechtliche Überlegung ab. Die Rechtsansicht des Täters über den Begriff des Angehörigen (§ 11 I Nr. 1) ist irrelevant sowohl für die Bejahung der Entschuldigung, wenn dieses Merkmal nach der Rechtsordnung erfüllt ist, als auch für den etwaigen Irrtum über diesen Begriff, wenn nach der Rechtsordnung der Dritte kein Angehöriger ist. Ein weiteres Beispiel: Ein Täter hält sein Verhalten für strafbar, weil er von der alten Rechtslage ausgeht und denkt, dass die Freiheit kein notstandsfähiges Rechtsgut im Sinne des entschuldigenden Notstandes darstelle (so § 54 a. F.). Trotz seiner rechtlichen Überlegung wird er heutzutage entschuldigt, wenn alle anderen Voraussetzungen des § 35 erfüllt sind. Die Kehrseite davon müsste sein, dass die Rechtsansicht des Täters auch beim Irrtum irrelevant sein muss. So argumentierte kohärenterweise zum Beispiel schon 1915 Hegler185. Ich denke dennoch, dass die Frage nicht so schnell zu beantworten ist, vor allem für eine Untersuchung, die die Schuld als das rechtswidrige Handeln trotz strafbezogener Ansprechbarkeit definiert hat (s. o. C., IV.). Das Thema ist wahr181

Baumann/Weber/Mitsch/Eisele, Strafrecht, AT, 12. Aufl., § 18, Rn. 45, S. 525. Pawlik, Das Unrecht, 2012, S. 272; so auch Frisch, in: Eser/Perron, Rechtfertigung und Entschuldigung III, 1991, S. 217 ff., 241; schon Graf, Irrtümer, 1967, S. 60: „Es ist ja im Strafrecht, genauer: im Bereich der strafrechtlichen Entschuldigung, nicht Sache des Täters, sich etwas zu verzeihen.“ 183 Walter, Der Kern, 2006, S. 330. 184 Klimsch, Die dogmatische Behandlung des Irrtums, 1993, S. 67 ff., der für Beachtung des „Bewertungsirrtums“ plädiert (S. 69). 185 Hegler, ZStW 36 (1915), S. 184 ff., 216. 182

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D. Der Irrtum beim entschuldigenden Notstand

lich „diskussionsbedürftig“ 186. Trotz der oben genannten Argumente sollte man aber nicht alle „Rechtsirrtümer“ als unwiderruflich unbeachtlich abstempeln. Denn es bestehen andere Argumentationslinien, die die einschränkende Anerkennung von Rechtsirrtümern mindestens a priori nicht ausschließen. Pawlik hat also recht, wenn er meint, es „wäre normtheoretisch auch ohne weiteres vertretbar, das Unrechtsbewusstsein auf einen solchermaßen erweiterten Unrechtsbegriff zu beziehen [einschließlich der Entschuldigungsgründe]. Das hat aber der Gesetzgeber nicht getan“ 187. Man könnte auch sagen, dass der Täter im Rechtsirrtum weniger kriminelle Energie einsetze als ohne diesen Irrtum188. Maurach hat eine weitere Argumentationslinie vorgeschlagen. Er meint, dieser Irrtum sei relevant, „da ein Irrtum über den Bestand der Norm einem solchen über ihre determinierende Kraft inhaltlich gleichsteht“ 189, und folgert daraus, dass der Täter in einem Verbotsirrtum „zwar Schlechtes erreicht, aber wenigstens Gutes gewollt [hat]. Das Gleiche gilt für einen Irrtum über seine Verantwortlichkeit (z. B. Putativnotstand nach § 54). Denn hier ist ja die Mißbilligung des Täters unmittelbar von seinem Verhältnis zur Tat abhängig; und dieses Verhältnis war eben kein mißbilligtes“ 190. Eine subjektive Begründung würde im Prinzip auch Rechtsirrtümer für beachtlich erklären, weil der psychische Druck hier derselbe ist, gleichgültig, ob der Irrtum auf tatsächlichen oder rechtlichen Überlegungen beruht191. Wenn man argumentiert, dass der Gegenstand des Unrechtsbewusstseins die Strafbarkeit der Handlung ist, dann würde man ceteris paribus auch annehmen müssen, dass die Regelung des Verbotsirrtums auch hier grundsätzlich anwendbar sei192. Bei Anwendung des hier befürworteten strafbezogenen Schuldbegriffs leuchtet eine solche Lösung ein: Die Sanktions- und nicht die Verhaltensnorm soll dem Täter einen klugheitsbezogenen Grund liefern – vermeide Strafe! –, die Straftat nicht zu begehen; beim entschuldigenden Notstand wird nun gerade die Sanktionsnorm zurückgenommen, sodass einem Irrtum diesbezüglich eine gewisse Relevanz beizumessen ist. Dem Irrtum über die entschuldigende Norm soll also Relevanz beigemessen werden. Allerdings wird dieser in der Regel vermeidbar sein. Denn dass die schwere Verletzung eines anderen nur in sehr begrenzten Fällen nicht zu bestrafen ist, ist allgemein bekannt.

186 Tiedemann, in: Eser/Fletcher (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung, Band II, 1988, S. 1019. 187 Pawlik, Das Unrecht, 2012, S. 272. 188 Hardtung, Der Irrtum, ZStW 108 (1996), S. 27: „Daß der Gesetzgeber den Entschuldigungsirrtum tatsächlich nicht entlastend berücksichtigt hat, heißt also nicht, dass er es nicht gekonnt hätte.“ 189 Maurach, Deutsches Strafrecht, AT, 1958, S. 382. 190 Maurach, Grundriß des Strafrechts AT, 1948, S. 96. 191 So schon Bergenroth, Der übergesetzliche Putativnotstand, 1933, S. 69 ff., 74; auch Klimsch, Die dogmatische Behandlung, 1993, S. 68 f., 171. 192 Bergenroth, Der übergesetzliche Putativnotstand, 1933, S. 66 ff.

III. Die konkreten dogmatischen Fragen im Bereich des Irrtums

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So argumentiert Frister, dass nach seiner Normentheorie die Regelung des Verbotsirrtums anzuwenden sei.193 Ein Entschuldigungsirrtum solle relevant sein, denn der Täter „verkennt also die Norm, die ihn zu einem rechtmäßigen Verhalten motivieren soll“. Erst dem Zumutbarkeitsurteil, nicht schon dem Rechtswidrigkeitsurteil, komme eine Bestimmungsfunktion zu194. Frister kritisiert zugleich den fiktiven Charakter der herrschenden Meinung: „Der juristische Laie denkt nicht in exakten strafrechtsdogmatischen Kategorien, so dass die Frage, ob er sich einen nicht existierenden Rechtfertigungsgrund oder einen nicht existierenden Entschuldigungsgrund für sein Handeln vorgestellt hat, praktisch oft gar nicht zu entscheiden sein wird“.195 Die schwierigen Auslegungsfragen, so Stuckenberg, seien für den normalen Bürger nicht greifbar: „Folglich betreffen Rechtsunsicherheiten im Kernbereich weniger das grundsätzliche Verbot als seine präzisen Konturen und seine Ausnahmen. [. . .] Jeder weiß, dass Tötung und Körperverletzung anderer grundsätzlich verboten ist – aber wann sind sie in Notsituationen erlaubt, wann nur entschuldigt?“ 196. Dieses Argument, so Kohlhaas, sei besonders gewichtig in solchen Ausnahmesituationen: „Daß aber vom Standpunkt des nichtjuristisch geschulten Normaltäters ein Qualitätsunterschied zwischen fehlendem Unrechtsbewußtsein und dem Wissen darum, daß die Tat nicht strafbar sei, nicht besteht, dürfte kaum zu bestreiten sein. [. . .] Der Laie erfaßt die subtilen und sogar von den Rechtsgelehrten durchaus nicht einhellig beurteilten Unterschiede zwischen Rechtswidrigkeit, Schuld und Straflosigkeit nicht, und er kann sie auch nicht erfassen. Von ihm aus gesehen muß daher der modernen Richtung des Verbotsirrtums entsprechend – unbeschadet systematischer Verschiedenheiten – danach geurteilt werden, was er selbst sich vor Tatbegehung über die Strafbarkeit, die für ihn dem Verbotensein gleichsteht, vorgestellt hat.“ 197. Auch Joecks ist der Meinung, dass hier die Regelung des § 17 anzuwenden sei, und nennt ein Beispiel: „T meinte, er dürfe dem O den Rettungsring auch wegnehmen, um seine Katze auf diese Art und Weise vor dem

193 Frister, Strafrecht, AT, 7. Aufl., 2015, § 20, Rn. 18; ähnlich Tiedemann, in: Eser/ Fletcher (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung, Band II, 1988, S. 1019. Zur a priori bestehenden Möglichkeit, den Entschuldigungsirrtum mindestens als Strafmilderungsgrund zu betrachten, siehe Hardtung, ZStW 108 (1996), S. 26 ff.: „er muß weniger kriminelle Energie zur Begehung der Tat aufbringen“. 194 Frister, Die Struktur, 1993, S. 239 f., 260. 195 Frister, Die Struktur, 1993, S. 240; siehe auch Beyerlein, Unrechtsbewusstsein, 1953, S. 120 f.: in beiden Fälle halte sich der Täter für straflos; die Unterscheidung von Unecht und Schuld habe nur eine „systeminterne Bedeutung“; so auch Walter, Der Kern, 2006, S. 331; a. A. aber Graf, Irrtümer, 1967, S. 49: „Nicht in den Worten der Rechtswissenschaft, aber der Sache nach ist der Unterschied zwischen Allgemeinanforderung und Individualzumutbarkeit Allgemeingut.“ 196 Stuckenberg, Vorstudien, 2007, S. 453. Siehe auch Welzel, Vom irrenden Gewissen, 1949, S. 9. 197 Kohlhaas, Der Irrtum, ZStW 70 (1958), S. 219; so schon Beyerlein, Unrechtsbewusstsein, 1953, S. 121.

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D. Der Irrtum beim entschuldigenden Notstand

Ertrinken zu retten“. Hier gelte § 17, der Irrtum sei aber selbstverständlich vermeidbar198. Dazu kommt auch die Tatsache, dass die Auslegung der Merkmale nicht immer einheitlich erfolgt: Ob die Angst vor nächtlichen Besuchen eines Eindringlings für eine Freiheitsbeeinträchtigung im Sinne des § 35 I genügt, ist zweifelhaft: der Bundesgerichtshof bejaht dies (sog. Spanner-Fall, BGH NJW 1970, 2053); Teile der Wissenschaft verneinen dies199. Ob die Freiheit der sexuellen Selbstbestimmung auch mit einbezogen werden sollte, ist bis heute umstritten, wie oben dargestellt wurde. Auch die Komplexität der Vorschrift und deren strenge Handhabung seitens der Rechtsprechung sprechen für die Anerkennung mindestens einiger rechtlicher Fehleinschätzungen. Denn die ewigen Probleme der Unterscheidung von Tatbestandsirrtümern über normative Merkmale und Verbotsirrtümern kommen auch in diesem Kontext zum Tragen. Walter erkennt richtigerweise an, dass besonders bei „normativen Merkmalen“ weitere Probleme auftauchen200. Ein Beispiel sei das Merkmal des besonderen Rechtsverhältnisses, das ein „rechtinstitutionelles Merkmal“ sei201. Es ist bemerkenswert, dass sich Fischer202 und auch einmal der BGH in einer nicht veröffentlichten Entscheidung (BGH Urteil vom 8.10.1963 – 5 StR 344/63) schon in diesem Sinne geäußert haben. Siehe auch BGH Urteil vom 15.6.1962 – 2 StR 531/61, eine Entscheidung über die Strafbarkeit von Massenerschießungen von Juden: „Insbesondere könnte das Schwurgericht es unterlassen haben zu prüfen, ob der Angeklagte sich nicht nur in einem vermeidbaren Verbotsirrtum befunden hat. Hätte er nämlich nur geglaubt, bereits die entfernte Möglichkeit einer Gefahr entschuldige ihn, so hätte er sich nicht über einen tatsächlichen Umstand geirrt, sondern lediglich die Grenzen des § 52 StGB falsch bestimmt“. Hier ergibt sich ein „nebulöses Bild, wenn es um Irrtümer geht, die sich auf eines der zahlreichen normativen Merkmale beziehen.“ 203 Eine Lösung könne „nur unter

198

Siehe Joecks, Studienkommentar, 11. Aufl., § 17, Rn. 12. Siehe Frister, Strafrecht AT, 7. Aufl., 2015, § 20, Rn. 6. 200 Walter, Der Kern, 2006, S. 330 f. 201 Walter, Der Kern, 2006, S. 331. 202 Fischer, Strafgesetzbuch, 64. Aufl., 2017, § 35, Rn. 17: „Bewertungs- und Subsumtionsirrtümer scheiden aus und können nur zu einem Verbotsirrtum führen; ebenso ein Irrtum über die Reichweite des Schuldausschließungsgrundes“. Zieschang schließt diese Möglichkeit nicht generell aus: „Das bedeutet nicht, dass alle Rechtsirrtümer aus Absatz 2 herausfallen, es ist vielmehr zu unterscheiden zwischen solchen, die ganz unabhängig von der Notstandsvorschrift einzelne Sachverhaltsumstände konstituieren (z. B. der Täter hält den als besonderes Rechtsverhältnis zu wertenden Status fälschlich aus Rechtsgründen für nicht wirksam zustande gekommen), und solchen, die erst die rechtliche Bewertung durch die Notstandsvorschrift betreffen. Nicht erfasst sind die Letzteren, da sie sich auf einen Bereich beziehen, auf den sich der Putativnotstand nicht erstreckt“, Zieschang-LK, § 35, Rn. 75. 203 Bernsmann, „Entschuldigung“, 1989, S. 150. 199

III. Die konkreten dogmatischen Fragen im Bereich des Irrtums

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Bezugnahme auf die ratio der Notstands-(Irrtums-)Regelung begründet werden“ 204. Eine weitere Bemerkung ist angebracht. Man denke z. B. an den KatzenkönigFall (BGHSt 35, 347 ff.): Hier beging der Täter infolge einer wahnbedingten Überlegung einen Mordversuch, dachte aber, er sei durch § 34 gerechtfertigt205, handelte also in indirekten Verbotsirrtum. Ist es wirklich sachgerecht, dass man einen unvernünftigen Irrtum über einen nichtexistierenden Rechtfertigungsgrund generell als Verbotsirrtum betrachtet und eine vernünftige, plausible Fehlvorstellung über den entschuldigenden Notstand immer und ohne Ausnahme für unbeachtlich erklärt? Die Grenzen zwischen rechtfertigendem und entschuldigendem Notstand sind fließend, und es hängt manchmal vom Zufall ab, ob der Rechtsirrtum relevant ist. Die Lehre nimmt in der Regel an, dass es Fälle geben kann, in denen ein Verbotsirrtum und ein Irrtum im Sinne des § 35 II zusammentreffen. Man sollte sich überlegen, ob nicht mindestens hochplausible rechtliche Überlegungen (das Kriterium muss hier objektiv sein) ausnahmsweise beachtlich sind. Hier ist ein oben genannter Gedanke aufzugreifen. Der Kern der Entschuldigung ist deontologisch zu bestimmen (s. o. C., IV.). Wenn der Täter über die rechtlichen Voraussetzungen der eigenen Bestrafung in unvermeidbarer Weise irrt, dann ist der Täter zu entschuldigen. Er konnte Strafe nicht vermeiden. Die Konturen der rechtlichen Begriffe aber sind anhand konsquentialistischer bzw. präventiver Erwägungen anzupassen. Der Vermeidbarkeitsbegriff spielt hier die maßgebliche Rolle und soll vor allem vermeiden, dass eine individuelle und nicht generalisierbare Vorstellung des Täters sich letzendlich als entscheidend erweist. Beim Irrtum über die entschuldigenden Norm erfolgt aber eine Art Inversion: Der Täter ist wegen der besonderen Qualität der betroffenen Rechte grundsätzlich nicht zu entschuldigen, nur ausnahmsweise, wenn sein Irrtum unvermeidbar war. Die schwere Verletzung Unschuldiger ist grundsätzlich rechtswidrig und strafbar, sodass ein rechtlicher Irrtum über die entschuldigende Norm in der Regel als vermeidbar einzustufen ist. Denn es ist dem Opfer schwer zu erklären, warum die rechtliche Überlegung einer anderen Person für ihn maßgeblich sein sollte. Das Opfer verdient hier in der Regel den Schutz der Sanktionsnorm. 5. Analogiefähigkeit des § 35 II StGB Die Frage, ob § 35 II durch einen Analogieschluss auf alle anderen Fälle der „Unzumutbarkeit“ anzuwenden ist206, ist in dieser Allgemeinheit zu verneinen. Die Irrtumsregelung des § 35 II steht und fällt mit der Begründung und den Konturen des entschuldigenden Notstands. Die Relevanz des Irrtums folgt erstens aus 204 205 206

Bernsmann, „Entschuldigung“, 1989, S. 151. Darüber siehe Walter, Der Kern, 2006, S. 352. Siehe Walter, in: FS-Roxin 2011, S. 763 ff.

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D. Der Irrtum beim entschuldigenden Notstand

der ratio des entschuldigenden Notstands. Die Regelung ist zweitens eine Konzession an eine Person, die plötzlich im Begriff ist, ihre angeborenen Rechte zu verlieren: In solchen Situationen sind Fehleinschätzungen nicht selten. Drittens kann man die Regel aus der Struktur der Entschuldigung folgern: Der entschuldigende Notstand verlangt ein stark ausgeprägtes subjektives Entschuldigungselement („Gefahrabwendungswille“), sodass ein synallagmatisches Verhältnis zwischen Kenntnis bzw. Wille und Irrtum anzuerkennen ist. Diese Gründe sind nicht in allen Fällen der „Unzumutbarkeit“ vorhanden. Hirsch meint: „Wenn ein Gesetzgeber heute eine Irrtumsregelung nach Art des § 35 Absatz 2 schaffen will, hätte er sie daher von vornherein auf alle Fälle der irrigen Annahme eines entschuldigenden Sachverhalts auszudehnen und folgerichtig im Gesetz als eine der allgemeinen Irrtumsvorschriften einzuordnen“ 207. § 35 II sei aber, so Walter, „der Prototyp“ aller „Opportunitätsregeln zur menschlichen Schwäche“ und sei daher allgemein übertragbar208. Ein zwingender Analogieschluss scheint mir vor allem beim Unterlassungs- und Fahrlässigkeitsdelikt fehl am Platz. Eine Irrtumsdogmatik sollte den Besonderheiten dieser Erscheinungsformen der Straftat Rechnung tragen. Die Sonderregelung für den entschuldigenden Notstand – der Gesetzgeber hätte auch eine allgemeinere Regel vorsehen können – ist für sie keinesfalls maßgeblich. Auch die Übertragung auf den Notwehrexzess ist fraglich. Hruschka meint, eine Übertragung des § 35 II sei hier berechtigt, „weil derjenige, der irrig eine Notwehrlage annimmt, sich subjektiv in genau derselben Situation befindet wie derjenige, der einem gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff tatsächlich ausgesetzt ist“ 209. Dagegen aber Graf: „Jedoch sind mit Furcht, Schrecken und Bestürzung Seelenzustände gemeint. [. . .] Ein Irrtum, erschreckt, in Furcht, bestürzt zu sein, ist schon der Natur der Sache nach nicht vorstellbar“ 210. Diese Kategorie hat aber wenig mit der Schuld des Täters zu tun und scheint eher fast exklusiv auf präventiven Gesichtspunkten zu basieren. Die Struktur und die Begründung der Kategorie haben, wie gesehen, Folgen für die Irrtumsdogmatik. Eine Analogie wäre meines Erachtens dagegen bei den Fällen des übergesetzlichen Notstands anzunehmen211. Denn hier könnte man zweifelsohne sagen, dass die grundsätzliche Struktur des entschuldigenden Notstands vorhanden ist. Eine andere zu beantwortende Frage betrifft die Behandlung des Irrtums bei den Tatbeständen des besonderen Teils, die im Prinzip „Schuldmerkmale“ aufweisen, wie die unterlassene Hilfeleistung mit ihrer Zumutbarkeitsklausel (§ 323c) – wenn man dieses Merkmal für ein Schuldmerkmal hält –, aber auch 207 208 209 210 211

Hirsch, in: Hirsch, Strafrechtliche Probleme, 1999, S. 932 ff., 953. Walter, Der Kern, 2006, S. 351. Hruschka, Strafrecht, 2. Aufl., 1988, S. 271 ff. Graf, Irrtümer, 1967, S. 3. Siehe BGHSt 35, 350 f.

III. Die konkreten dogmatischen Fragen im Bereich des Irrtums

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andere Tatbestände (§§ 157, 258 V, 139 III). Das hat Tiedemann trefflich und präzise bemerkt212. Die herrschende Meinung tendiert dazu, zu sagen, dass zum Beispiel die Zumutbarkeitsklausel des § 323c ein Merkmal des objektiven Tatbestands sei und der Irrtum über ihre tatsächlichen Voraussetzungen also ein Tatbestandsirrtum (§ 16)213. Man könnte hier behaupten, dass vielmehr die Natur, das Wesen des Merkmales entscheidend sei, nicht seine topographische, manchmal zufällige Lokalisierung. Die echten „Schuldmerkmale“ sollten also die Regel, die der Gesetzgeber für den entschuldigenden Notstand getroffen hat, respektieren. Sonst läge ein systematischer Widerspruch vor. Roxin führt aus: „Es wäre ganz unverständlich, wenn jemand, der im Falle des § 35 z. B. irrtümlich einen Fremden für einen Angehörigen hält, nur bei Unvermeidbarkeit des Irrtums exkulpiert wäre, während derjenige, dem dieselbe Fehlvorstellung im Rahmen der §§ 139 III 1; 258 VI unterliefe, bei noch so grobem Verschulden straflos bleibe“ 214. Man könnte sagen, § 35 II sei auf die sogenannten „als Strafausschließungsgründe ausgestaltet[en] Entschuldigungsgründe“ anzuwenden215. Beispiele wären §§ 258, V, VI; 258a III; 138 III S. 1 – nicht aber § 157 II, weil hier nur die Möglichkeit des Absehens der Strafe vorgesehen ist. Dies soll auf einer „strukturell ähnlichen Erwägung wie der entschuldigende Notstand“ beruhen216. Es ist aber schon streitig, ob eine Vermeidbarkeitsprüfung stattfinden sollte, was letztendlich von der Formulierung des konkreten Tatbestandes abhängt217. Die Selbst- und Angehörigenbegünstigungshandlungen der §§ 258 V und 157 zum Beispiel sind laut Frister „subjektiv formuliert“ 218. Warda meint, der sachliche Grund des § 258 VI liege in der „Rücksichtnahme auf eine notstandsähnliche Lage“ und der Irrtum sei hier der richtigen Vorstellung gleichzustellen. Er schlägt eine subjektive Umdeutung des § 258 VI vor: Maßgeblich sei das Vorhandensein der seelischen Motivationslage: Die „gebotene Subjektivierung der im Gesetzwortlaut objektiv

212 Tiedemann, in: Eser/Fletcher (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung, Band II, 1988, S. 1016 ff. 213 Statt aller Wohlers-NK, § 323c, 3. Aufl., Rn. 11 ff. Zu den Gründen der Einführung der Klausel im Tatbestand siehe Seelmann, JuS 1995, S. 281 ff., 285 ff.: als Korrektiv, um die Kriminalisierung „auf ein erträgliches Maß zu reduzieren“; ähnlich wie die „Verwerflichkeit“ beim Nötigungstatbestand (§ 240 II). Siehe auch Pawlik, GA 1995, S. 360 ff., 370 ff. 214 Roxin, Strafrecht, AT I, 4 . Aufl., 2006, § 22, Rn. 141. 215 Früher diskutierte man über den Irrtum beim damals geltenden § 217: Allein die subjektive Möglichkeit sei entscheidend: „Daß die Täterin ihren Irrtum unter Umständen hätte vermeiden können, spielt ebenfalls keine Rolle: entscheidend für die Gewährung des Privilegs ist allein, daß sie für sich von der Nichtehelichkeit ausgeht“. Das sei anders, „wo auch jenseits des Möglichkeitsaspekts nicht schon bestimmte Annahmen des Täters genügen, das Privileg vielmehr bestimmte Gegebenheiten tatsächlich voraussetzt“; siehe Frisch, Vorsatz und Risiko, 1983, S. 470. 216 Frister, Strafrecht AT, 7. Aufl., 2015, § 21, Rn. 12. 217 Frister, Strafrecht AT, 7. Aufl., 2015, § 21, Rn. 13. 218 Frister, Die Struktur, 1993, S. 238.

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D. Der Irrtum beim entschuldigenden Notstand

gehaltenen Straffreiheitsvoraussetzungen“ 219. Hier lohnt sich die Lektüre einer Entscheidung des Reichsgerichts: es sei so, dass „das Bestehen einer Gefahr eigener Strafverfolgung die Zumutbarkeit einer Befolgung der Norm des § 257 aufhebt und damit – dem Falle des Notstands nach § 54 StGB vergleichbar – beim Bestehen einer solchen Gefahr die Strafbarkeit der Handlung entfällt, so muß die irrige Vorstellung des Täters über jenen Umstand nach § 59 StGB beachtet werden, so daß für das Vorliegen des Entschuldigungs- oder Rechtfertigungsgrundes, der dem Täter gegenüber dem gesetzlichen Verbot zur Seite steht, nur die Auffassung des Täters selbst über eine ihm drohende Gefahr der Strafverfolgung maßgebend sein kann“ (RGSt 60, 101 ff., 103). In der Tat weisen § 258 V und VI Ähnlichkeiten mit dem entschuldigenden Notstand auf: „Es ist unstrittig, dass die Strafbefreiung auf einer notstandsähnlichen Lage beruht“ 220. Bei diesem Tatbestand kommt wegen seiner spezifischen Struktur ein Analogieschluss in Betracht. Hier befindet sich der Täter gleichfalls in einem Dilemma zwischen der Beachtung der Norm und dem Verlust eines angeborenen Rechts durch die staatliche Strafe. Das hat zum Beispiel Roxin gemerkt, der diesbezüglich strafbezogen argumentiert: „Furcht vor Strafe wird den nach § 35 exkulpierenden Motivationen gleichgestellt“ 221. Man sieht an dieser Diskussionen, dass der Analogieschluss nur zulässig ist, wenn man dasselbe Dilemma, das im entschuldigenden Notstand besteht, beim konkreten Tatbestand ausmachen kann222. Dies festzustellen ist eine Arbeit, die anhand der konkreten Tatbestände erfolgen muss, und diese Aufgabe gehört damit zum Besonderen Teil des Strafrechts. Eine pauschale Behauptung, § 35 II sei auf alle Fälle der „Unzumutbarkeit“ oder des „Motivationsdrucks“ anzuwenden, ist aber verfehlt.

IV. Ergebnisse des Kapitels Der Irrtum über den entschuldigenden Notstand ist ein echter Entschuldigungsgrund, der in seinem Kern aus dem Schuldprinzip folgt. Es gibt zugleich präventive Gesichtspunkte, die die Existenz einer solchen Sonderregelung nahe219 Warda, Jura 1979, S. 286 ff., 293 f.; siehe auch Schünemann, GA 1986, S. 293 ff., 303. 220 Roxin, Strafrecht, AT I, 4 . Aufl., 2006, § 22, Rn. 138. 221 Roxin, Strafrecht, AT I, 4 . Aufl., 2006, § 22, Rn. 138. 222 Frisch, in: Eser/Perron, Rechtfertigung und Entschuldigung III, 1991, S. 217 ff., 242: Spannung zwischen § 35 II und der Behandlung des Irrtums bei objektiven Schuldminderungsgründen: „Denn bei diesen soll bereits die irrtümliche Annahme des privilegierenden Merkmals oder Sachverhalts als solche die Vorsatzschuld des strengeren Delikts ausschließen; dort denkt man nicht daran, diesen Ausschluß von der Unvermeidbarkeit des Irrtums abhängig zu machen“; Volk, ZStW 97 (1985), S. 871 ff., 882: „Auch manche Privilegierung könnte mißlingen, wenn man über die psychischen Auswirkungen der entlastenden Umstände konkrete Nachforschungen anstellen würde – so ist die Lehre von den objektiv gefaßten Schuldmerkmalen entstanden.“

IV. Ergebnisse des Kapitels

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legen, vor allem die Idee einer Konzession an die Häufigkeit von Fehleinschätzungen in solchen existentiellen Notlagen und die Struktur des entschuldigenden Notstands, bei dem auf der subjektiven Seite („Gefährdungswille“) hohe Anforderungen gestellt werden. Es besteht ein synallagmatisches Verhältnis zwischen Kenntnis und Irrtum. Es ist aber dem Opfer gegenüber schwer zu begründen, wieso eine subjektive Vorstellung des Täters für es maßgeblich sein soll. Hier fehlt die persönliche Selbstbetroffenheit, die in der Gefahr für angeborene Rechte zu sehen ist, sodass das Opfer den Schutz der Sanktionsnorm immer noch verdient. Der Vermeidbarkeitsbegriff garantiert aber die Objektivität bzw. die Generalisierbarkeit der Vorstellung des Täters: Bei unvermeidbaren Irrtümern ist ein Beitrag des Täters für seine eigene Bestrafung nicht zu identifizieren. Straflosigkeit ist also auch anhand präventiver Argumente zu begründen. Diese Argumente ändern aber keinesfalls etwas an der vorsätzlichen Natur der Nothandlung des Täters: Der Täter behauptet nicht, ein Recht auf die Rechtssphäre des Opfers zu haben. Der Täter darf aber um eine Rücknahme der Sanktionsnorm bitten. Der deutsche Gesetzgeber hat deswegen meines Erachtens bei § 35 II die richtige Entscheidung getroffen. Es ist zuletzt hervorzuheben, dass die Irrtumsdogmatik von der konkreten Begründung des entschuldigenden Notstands abhängt, so dass ein allgemein postulierter Analogieschluss nicht zu begründen ist.

E. Ergebnisse der Untersuchung I. Das Hauptziel der hiesigen Untersuchung ist die Bestimmung des Kerns des entschuldigenden Notstands. Der unausweichlichen Erklärung der komplexen Vorschrift des § 35 folgt die wissenschaftlich anspruchsvolle Aufgabe, das dort geregelte Rechtsinstitut zu begründen und vom sogenannten rechtfertigenden Notstand abzugrenzen. Die Erklärungen in der Lehre sind vielfältig; ein Punkt eint sie jedoch: Sie alle vertreten die Straflosigkeit gewisser Handlungen in existentieller Not (A.). II. Diese Untersuchung ist ein Plädoyer für die Annäherung von Rechtsphilosophie und Strafrechtssystem (B., I.). Die Rechte der in Konflikt geratenen Personen sind in den Vordergrund zu stellen. Die rechtliche Lösung der Fälle der existentiellen Not darf keine Person instrumentalisieren. Auch dürfen Täter und Opfer nicht ungleich behandelt werden. Erst danach kommen die aus der Perspektive der Gemeinschaft gedachten Zweckmäßigkeitserwägungen in Betracht. Es ist keineswegs selbstverständlich, dass das subjektive Erleben des Täters – sein Selbsterhaltungstrieb, die Erschwernis seiner normkonformen Motivation – für das Opfer maßgeblich sein soll. Auch ist zu begründen, wieso bisweilen trotz der existentiellen Not Strafe eintritt, nämlich dann, wenn die Gefahr hinzunehmen ist (§ 35 I 2). Die Antworten auf diese rechtsphilosophischen Fragen muss eine Theorie des entschuldigenden Notstands liefern. III. Der erste Versuch, die Straflosigkeit des entschuldigenden Notstands zu erklären, ist staatstheoretischer Provenienz: Die Tat in existentieller Not sei unverbietbar (B., II., 1.). Dem Staat fehle die Strafkompetenz. Diese Behauptung basiert aber allein auf der Perspektive des Täters. Dem Opfer wird damit nicht erklärt, warum es den Schutz der Strafandrohung verliert. Auch die Frage, warum eine Duldungspflicht des Opfers unbegründbar ist, wird dadurch nicht beantwortet. Die Herausforderung ist, die Straflosigkeit zu erklären, ohne die involvierten Personen zu instrumentalisieren (B., II., 2.). Der Instrumentalisierungsbegriff ist vielschichtig und lässt sich in einem starken Sinne mit der Objektformel definieren oder wie hier in einem schwächeren Sinne als Eingriff in existentielle bzw. angeborene Rechte einer Person aus bloßen gemeinschaftsbezogenen Erwägungen. Diese Rechte besonderer Qualität – Leben, Leib und Fortbewegungsfreiheit – dürfen auf keinen Fall unter einem Gesamtnutzenvorbehalt stehen. Konkreter gesagt: einer Person gegenüber zu begründen, dass sie ihren Leib nicht retten darf, weil das „sozial unerträglich“ sei, heißt, sie in diesem zweiten Sinne zu instrumentalisieren (B., II., 3.).

E. Ergebnisse der Untersuchung

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IV. Fast alle Meinungen in der Literatur greifen auf eine kollektivistische, gnadenähnliche Idee der Übung von Nachsicht zurück. Die leere Behauptung der Nachsicht steht und fällt mit der Idee, im entschuldigenden Notstand verbleibe ein „Schuldrest“, mit anderen Worten: der Täter könne theoretisch normkonform handeln. Ein Vorwurf sei also durchaus möglich. Der Staat verzeihe die Handlungen in existentieller Not aber grundsätzlich. Die genauen Gründe hierfür werden aber nicht genannt; dieses Konstrukt scheint eher zu existieren, um die Ausnahmeregelungen zu erklären. Die Argumentation verläuft meist zirkulär (B., III., 1., 2.). Dieses Problem wird vertieft, wenn man für eine gemeinsame Behandlung des entschuldigenden Notstands und des Notwehrexzesses als Entschuldigungsgründe plädiert. Dadurch wird das Schuldmoment des entschuldigenden Notstands komplett verkannt (B., III., 3.). All diese Probleme wurzeln in einem abzulehnenden normbezogenen Schuldbegriff, der einer Revision bedarf. Um das Schuldmoment des entschuldigenden Notstands zu begreifen, wird ein Gedankenexperiment vorgeschlagen: das Hinwegdenken der gesetzlichen Regelung des entschuldigenden Notstands (B., IV.). V. Die notwendige Aufarbeitung des Rechtsstoffes und der deutschen Rechtsprechung führt zu dem Ergebnis, dass die Straflosigkeit auf einen Kern reduziert werden muss, nämlich auf die Fälle, in denen der Täter existentiell selbstbetroffen ist und zugleich niemand die Notlage zu vertreten hat; andernfalls greifen entweder die Ausnahmen des § 35 II oder es handelt sich um einen Fall des rechtfertigenden defensiven Notstands. Die äußerste Grenze jeglicher Zweckmäßigkeitserwägungen bildet die akute Gefahr des sicheren Todes des Täters. Die Frage ist nun, ob diese Selbstbetroffenheit auch bei Gefahren für andere Rechte zu bejahen ist. Schon hier ist deutlich zu erkennen, dass es nicht um bloße Übung von Nachsicht, sondern um Respekt vor den Rechten der Person geht (C., I.). VI. Eine Theorie des entschuldigenden Notstands muss drei Anforderungen gerecht werden: Sie muss zunächst allen involvierten Personen die Voraussetzungen der Straflosigkeit des entschuldigenden Notstands gemäß des komplexen § 35 erklären (Erklärungspotenzial; C., II., 1.). Es gibt viele Gesichtspunkte zu erklären: die Beschränkung des Rechtsgutskatalogs, die Ausnahmeregelungen, die Irrtumsregelung usw. Die Theorie muss ferner den involvierten Personen gegenüber begründen, wieso Strafe manchmal eintritt, manchmal aber nicht (Begründungspotenzial; C., II., 2.). Der Täter soll vor allem erfahren, wieso eine Gefahr für seine existentiellen Rechte nicht immer entschuldigend wirkt, nämlich dann nicht, wenn er diese Gefahr hinzunehmen hat. Dem Opfer gegenüber muss begründet werden, warum es den Schutz der Strafandrohung gerade in einer solch existentiellen Krise verliert. Dafür sind Überlegungen über den Zweck der Strafandrohung anzustellen. Zuletzt ist auch erklärungsbedürftig, wie man die beiden Notstände differenziert – dass nämlich der rechtfertigende und der entschuldigende Notstand zu unterscheiden sind, ist heute unbestritten (Differenzierungspotenzial; C., II., 3.).

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E. Ergebnisse der Untersuchung

VII. Die Ansätze in der Lehre genügen diesen Anforderungen nicht. Denn die Erklärung, die Begründung und die Differenzierung dürfen keine der involvierten Personen im oben definierten Sinne instrumentalisieren. Die Auseinandersetzung mit den in der Literatur vertreten Thesen zeigt, dass der entschuldigende Notstand innerhalb der Verbrechenslehre bis heute keinen unumstrittenen Platz zugewiesen bekommen hat: Die Lösungen reichen von einer Unrechtsrelevanz des entschuldigenden Notstands bis hin zur Erklärung der Straflosigkeit anhand außerstrafrechtlicher Erwägungen. In der Mitte steht die herrschende doppelte Schuldminderungslehre, die eine gemischte Natur des entschuldigenden Notstands vertritt. Alle Ansätze liefern entweder leere, gnadenähnliche Begründungen, oder sie bleiben auf die Perspektive der Gemeinschaft fixiert: Die Entschuldigung hängt nach ihnen letztendlich von der sozialen Erträglichkeit der Straflosigkeit ab. Ein leerer Begriff ist aber kein fester Boden, auf dem man konkrete Schlussfolgerungen für die Probleme der Notstandsdogmatik ziehen könnte. Die Rechte der involvierten Personen kommen nicht zur Sprache. Diese Personen werden dadurch instrumentalisiert (C., III.). VIII. Der Notstand ist ein Schuldproblem (C., IV.). Die Schwäche der Ansätze in der Lehre sind der Beweis dafür, dass auch deren Ausgangspunkt – nämlich der Schuldbegriff – verfehlt ist. Der normbezogene Schuldbegriff ist einer Revision zu unterziehen, deren Grundlinien in der hiesigen Untersuchung näher bestimmt werden sollten. Ein normgemäßes Verhalten ist für den schuldfähigen Täter fast immer theoretisch möglich, so dass die „Entschuldigung“ auf der Grundlage des herkömmlichen Begriffs wie ein Gefallen des Staates konstruiert wird. Schuld ist aber stattdessen als die Begehung einer Straftat trotz strafbezogener normativer Ansprechbarkeit zu definieren. Nicht die Verhaltens-, sondern die Sanktionsnorm soll dem Täter einen klugheitsbezogenen Grund geben, die Tat nicht zu begehen. Die Sanktionsnorm dient dem Schutz potentieller Opfer von Straftaten, sodass die punktuelle Zurücknahme dieses Schutzes in existentieller Not auch dem Opfer gegenüber begründungsbedürftig ist – denn das Proprium des entschuldigenden Notstands liegt auf der Opfer-, nicht auf der Täterseite. Es ist der Strafbegriff als prius zu behandeln: Das Strafrechtssystem ist nicht primär funktional aus dem Strafzweck oder aus dem Verbrechensbegriff, sondern aus dem Strafbegriff zu konstruieren (C., IV., 1.). IX. Der maßgebliche, von der herrschenden Meinung vernachlässigte Gesichtspunkt ist die Qualität der involvierten Rechte. Die richtige Lösung ergibt sich, wenn man die Rechte, die in der existentiellen Notlage auf dem Spiel stehen – nämlich Leben, Leib und Freiheit –, zu den Rechten in Bezug setzt, die der Staat durch die Strafe dem Täter entzieht – heutzutage nur die Fortbewegungsfreiheit, früher aber auch das Leben, der Leib, die Ehre und die Rechtsfähigkeit (C., IV., 2.). Diese Behauptung setzt eine Bestimmung des Strafbegriffs voraus: Strafe ist als Entzug eines angeborenen Rechts zu definieren, heutzutage nur der Fortbewegungsfreiheit. Der Begriff des angeborenen Rechts hat eine lange Tradi-

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tion, vor allem in der Naturrechtslehre des 17. und 18. Jahrhunderts. Diese Rechte sind namentlich solche, die man „kraft seiner Menschheit“ schon vor der Gesellschaft innehat (C., IV., 3.). Wenn man den Strafbegriff so definiert, dann ist auch das Schuldprinzip neu zu definieren: Der Kern des Schuldprinzips liegt in dem Recht der Person, ein autonomes und kluges Leben zu planen. Das bedeutet vor allem, dass die Person das Recht hat, ein Leben ohne Strafe zu planen. Bei der Schuld geht es also in erster Linie um die Bestimmung des eigenen Beitrags des Täters zu seiner Bestrafung. Über die soziale Erträglichkeit der Straflosigkeit hat der Täter nämlich keine Kontrolle (C., IV., 4.). X. Im entschuldigenden Notstand stehen gerade die angeborenen Rechte auf dem Spiel, die später durch eine staatliche Strafe theoretisch entzogen werden dürfen: Leben, Leib und Fortbewegungsfreiheit. Die entschuldigende Notstandslage ist dadurch charakterisiert, dass der Täter die Strafe nur vermeiden kann, indem er ein angeborenes Recht aufgibt. Die Strafe ist aber ihrerseits ein „Entzug“ eines angeborenen Rechts. Der Täter kann also die Strafe nicht vermeiden: Er ist von der Sanktionsnorm, verstanden als Appell an seine Klugheit, nicht normativ ansprechbar. Er handelt ohne Schuld – es bleibt kein „Schuldrest“ übrig. Hierin liegt der Kern des entschuldigenden Notstands, der durch einen Rekurs auf die Idee der Nachsicht keineswegs hinreichend bestimmt wird (C., IV., 5.). Verkennt der Staat diesen Kern, verletzt er das Schuldprinzip. Er kann aber die Reichweite der Entschuldigung erweitern, wie zum Beispiel in den Fällen des sogenannten übergesetzlichen entschuldigenden Notstands. Hier ist die Domäne des von Roxin begründeten Verantwortlichkeitsbegriffs (Exkurs). Jener abstrakte Gedanke zeigt sein heuristisches Potenzial bei den konkreten Fragen des entschuldigenden Notstands: Die hiesige Theorie weist Differenzierungs-, Begründungs- und Erklärungspotenzial auf (C., V.). XI. Auch die Sonderbehandlung des Irrtums beim entschuldigenden Notstand vermag sie hinreichend zu erklären (D., I.). Die Straflosigkeit des unvermeidbaren Irrtums sowohl über Tatumstände als auch über die entschuldigende Norm folgt aus dem Schuldprinzip: In diesen Fällen lässt sich der Beitrag des Täters für die eigene Bestrafung nicht identifizieren (D., II.). Das Erfordernis der Vermeidbarkeit sorgt dafür, dass die Fehleinschätzung des Täters eine gewisse Objektivität aufweist, so dass die Straflosigkeit auch dem Opfer gegenüber zu rechtfertigen ist. Die Konturen der Vermeidbarkeitsprüfung werden von präventiven Gesichtspunkten bestimmt: Es ist für die Vermeidbarkeit ein strenger Prüfungsmaßstab anzulegen, vor allem bei Irrtümern über die entschuldigende Norm. Auch die vom deutschen Gesetzgeber vertretene Vorsatzlösung erweist sich schließlich als richtig: Der Täter im existentiellen Notstand hat kein Recht auf die Rechtssphäre des Opfers (D., II., 3.; D., III.).

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Sachwortverzeichnis Analogiefähigkeit der Irrtumsregelung 281–284 Angeborene Rechte 195–203 Besondere Rechtsverhältnisse 234–235 Brett des Karneades 87 Doppelte Schuldminderungslehre 162– 167 Entschuldigender Notstand 15–19, 66– 77, 182–213, 219–239 Erworbene Rechte 193–203 Gefahrbegriff 222–224 Gesetzesentwürfe 20–21 Gleichheit 46–47 Hegel 117 Hobbes 48–58 Instrumentalisierung 36, 58–66, 177–181 Irrtum 34 – über die entschuldigende Norm 24, 276–281 – über die entschuldigenden Umstände 241–269 Kant 117 Kriminalpolitik 34

Nötigungsnotstand 127–128 Notwehrexzess 77–80 Opfer 103–116 Proportionalität 23, 98–99, 238 Rechtfertigender Notstand 119–130 – aggressiver Notstand 123–127 – defensiver Notstand 25, 129 Schuld und Prävention 214–219 Schuldbegriff 66–77, 183–189 – als strafbezogene normative Ansprechbarkeit 27, 170, 188–189, 202 Schuldprinzip 64, 203–212 „Schuldrest“ 67–72 Selbstverursachung 230–234 Strafandrohung 62–64, 74, 103, 106–116 Strafbegriff 41–42, 189, 193–203 Strafrechtssystem 32–42, 188 Strafunrechtsausschluss 153–154 Übergesetzlicher entschuldigender Notstand 25, 213–219 Unrecht und Schuld 118–120 „Unverbietbarkeitsthese“ 42–48, 147– 150

Mignonette–Fall 88 Verantwortlichkeitslehre 35–36, 167–171 Nachsichtausübung 71–77, 179 Normentheorie 16, 67–72, 109

Zumutbarkeit 157–167