Das Gesetz des Unbewussten im Rechtsdiskurs: Grundlinien einer psychoanalytischen Rechtstheorie nach Freud und Lacan [1 ed.] 9783428530885, 9783428130887

Das ethische Ziel des Autors ist es, mittels der theoretischen Psychoanalyse Freuds und Lacans unbewusste Dimensionen in

115 10 1MB

German Pages 251 Year 2010

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Das Gesetz des Unbewussten im Rechtsdiskurs: Grundlinien einer psychoanalytischen Rechtstheorie nach Freud und Lacan [1 ed.]
 9783428530885, 9783428130887

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Schriften zur Rechtstheorie Heft 249

Das Gesetz des Unbewussten im Rechtsdiskurs: Grundlinien einer psychoanalytischen Rechtstheorie nach Freud und Lacan

Von Martin Schulte

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

MARTIN SCHULTE

Das Gesetz des Unbewussten im Rechtsdiskurs: Grundlinien einer psychoanalytischen Rechtstheorie nach Freud und Lacan

Schriften zur Rechtstheorie Heft 249

Das Gesetz des Unbewussten im Rechtsdiskurs: Grundlinien einer psychoanalytischen Rechtstheorie nach Freud und Lacan

Von Martin Schulte

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Der Fachbereich Rechtswissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main hat diese Arbeit im Jahre 2008 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

D 30 Alle Rechte vorbehalten  2010 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 978-3-428-13088-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Für Brigitte, Hermann, Sabine

Vorwort Enthält die vorliegende Arbeit eine psychoanalytische Theorie über das Juridische oder eine Rechtstheorie über die Psyche? Geht es um die psychische Dimension des Rechts oder eher um die juristische Dimension des Unbewussten? Ich denke, dass beide Lesarten möglich und adäquat sind. Im Grunde geht es um den Entwurf eines Menschenbildes, das gerade aus der Fusion und den Wechselwirkungen dieser beiden Disziplinen seinen Reiz erlangt. Was mir diese Arbeit persönlich gebracht hat, ist vor allem die Erkenntnis, dass sich auch das juristische Spiel zumindest insofern nicht von allen anderen sozialen Spielen unterscheidet, als dass das – überraschend juristisch agierende – Unbewusste immer der Steuermann ist und wir ständig darum bemüht sind, die „Ungerechtigkeiten“ zu verhandeln, die wir in der frühen Kindheit erdulden mussten. Manche tun dies in ideologisch komplex verschlüsselten – z. B. juristischen – Diskursen, andere sind in diesem Punkt vielleicht etwas direkter. Nur die Weisen wissen wohl, wie man aus diesem Spiel des endlosen und qualvollen Ringens um absolute Signifikanz im Symbolischen, welches für das Rechtswesen so bezeichnend ist, herauskommt. Der Beitrag, den diese Arbeit hierzu leisten möchte, ist, die Doppelbödigkeit der juristischen Signifikanten offenzulegen und zu beschreiben, wie das Sinnerlebnis auf der Ebene des Unbewussten im Zusammenwirken von Begehren und Genießen geformt wird. Dies geschieht über Diskurse. So ist auch der Jurist nicht auf den „Herrschaftsdiskurs“ festgelegt (auch wenn dieser sein Lieblingsdiskurs ist), sondern er kann (und soll) ebenso im „Diskurs des Analytikers“, dem Diskurs der Liebe, sprechen. Hierin liegt schließlich ein ethisches Anliegen dieser Arbeit. Ein anderes liegt darin, über die Offenlegung der Ursachen der Pathologien im Rechtsdiskurs deren Auflösung zu ermöglichen und Rechtssubjektivität damit von ihrer traumatischen Dimension zu befreien. Wie dem auch sei, dies ist der Ort, um zu danken, und wer in einer psychoanalytischen Disseration nicht seinen Eltern dankt, dem hätte Freud vielleicht einen missglückten Ausgang des Ödipuskomplexes bescheinigt. Es gibt aber neben der rückhaltlosen Unterstützung, die mir von beiden auf allen Ebenen zuteil wurde, auch ganz konkrete Gründe zum Danken: Meiner Mutter Brigitte dafür, dass sie nie müde wurde, mir zu verdeutlichen, dass Lacans Theorien im Grunde schon in der Kabbala vor- und bei Friedrich Weinreb parallelgedacht wurden, und natürlich ganz besonders dafür,

8

Vorwort

dass sie mich während der Disputation, als ich wohl gerade einmal mehr dabei war, mich mit völlig abstrakten Ausführungen um Kopf und Kragen zu reden, in letzter Sekunde ermahnte, ein Beispiel zu nennen. Meinem Vater Hermann danke ich für seine Bereitschaft, mir immer ein guter und engagierter Gesprächspartner auf einem Gebiet gewesen zu sein, das er Zeit seines langen Lebens sehr skeptisch betrachtet hatte, dafür, dass ich ohne ihn wohl nie verstanden hätte, was es mit Lacans „nom-du-père“ und „non-du-père“ wirklich auf sich hat und für die Durchsicht des Manuskripts. Es ist schon nicht alltäglich, dass man von einem Doktorvater durchgängig konstruktive Anregungen und wohlwollende Kritik bekommt, insbesondere wenn das Ausgangsmaterial so ungeschliffen ist, wie es das meine war. Etwas Besonderes ist es aber, in ihm einen Diskussionspartner zu finden, der intellektuelle Engpässe aufbrechen, ein völlig auf Freud und Lacan fokussiertes Denken in den viel größeren Gesamtkontext der modernen Psychoanalyse überführen und damit eine Arbeit lesbar machen kann. Dafür bin ich Herrn Prof. Dr. Dirk Fabricius weit über dieses Projekt hinaus zum Dank verpflichtet. Ein Gutachten zu schreiben, ist eine Sache. Dabei auf charmante Art Einblicke in das Seelenleben des Autors zu gewähren, gelingt wohl nur Wenigen: „Demgemäß ist auch der von Herrn Schulte verfasste ‚klare‘ Text eine durch Lacans symptomfreundlichen Stil möglich gemachtes Genießen der Sinnsuche für eine Rechtstheorie, welche auf das Begehren Acht gibt oder es wenigstens in Betracht zieht. Der Autor ist also zuerst selbst einmal Analysand unter dem Einfluss des Lacanschen Textes, und nur von dieser teils bewussten, teils unbewussten Erfahrung her wird er zum ‚Analytiker‘, der das Rechtswesen mit Hilfe von Lacans Theorie als Analysand traktiert.“ Ich danke Herrn Prof. Dr. Eugen Baer dafür, dass er Fakultäten und einen Ozean überquert und mir dabei Einblicke in Lacans Denken gewährt hat, die mir in vielen Jahren Forschung verschlossen geblieben sind. Noch gibt es wenige Juristen, die die Begrifflichkeiten von Lacan beherrschen. Ich danke Herrn Stefan Häußler für seine wertvollen Anregungen und Texte, die Durchsicht des Manuskripts und die Freundschaft. Last but not least danke ich Frau Sabine Machhausen, meiner „großen Anderen“, die mir durch ihre außergewöhnliche Beobachtungsgabe und ihr sicheres analytisches Gespür manches erspart und manches auch nicht erspart hat. Sie hat nicht nur das Manuskript durchgesehen, sondern auch die schwierige Aufgabe übernommen, meinen Kreisen Sinn zu geben, und auch dafür danke ich ihr. Und für die Liebe. Frankfurt am Main, im Februar 2009

Martin Schulte

Inhaltsverzeichnis Einleitung einer psychoanalytischen Rechtstheorie

13

A. Psychoanalyse und Rationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

B. Psychoanalytische Rechtstheorie und Rechtspsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

C. Wurzeln psychoanalytischer Rechtstheorie im postmodernen Denken . . . . . .

19

D. Auswahlmotive für Freud, Lacan und die Psychoanalyse. . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

Kapitel 1 Recht als Mythos: Der Ursprung des Vaterrechts bei Freud

25

A. Freuds Version der Entstehung der Ur-Gesetze in Totem und Tabu . . . . . . . .

26

B. Der ungeschriebene Text der Thora: Die Wiederholung des Vatermords. . . .

28

C. Historische Spekulation und psychologische Wahrheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

30

D. Freuds Privilegierung des Maskulinen und feministische Kritik . . . . . . . . . . . .

40

Kapitel 2 Legendre und der institutionelle Vater im Rechtsstaat

43

A. Das Verbrechen des Gefreiten Lortie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46

B. Die unbewusste Erotik im Verhältnis des Subjekts zu den Rechtsinstitutionen

50

C. Der I. II. III. IV. V.

Ödipusmythos als Allegorie der Beziehung von Subjekt und Autorität Die Familie als Urform der institutionellen Organisation . . . . . . . . . . . . . Der Körper der Institution und Terror des Textes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Kasuistik des Rechts und des Unbewussten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paternität als Referenzpunkt des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Referenzübertragung, Genealogie und Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

56 58 62 63 64 68

D. Recht, Hypermodernität, Verlust des Glaubens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

E. Die Beschwörung des Mythos im modernen Rechtsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . .

74

10

Inhaltsverzeichnis Kapitel 3 Lacan und das Gesetz des Signifikanten

A. Die Enstehung von Rechtssubjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der Ödipuskomplex als Grundlage des erotischen Rechtssubjekts . . . . . = ) und die Genese des Begehrens. . . . . . . . . II. Die Spaltung des Subjekts (S III. Der Objektbezug des Begehrens und des Triebes: Objet petit’a (I). . . . . IV. Das Trauma des Gesetzes: Kastrationserfahrung und Genießen . . . . . . . . V. Die Spaltung des Subjekts als Effekt des Signifikanten . . . . . . . . . . . . . . . VI. Der Name-des-Vaters und der phallische Signifikant als Legalfunktion VII. Schrebers Vater und Lacans Name-des-Vaters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Das I. II. III.

Gesetz in der Strukturierung der subjektiven Erfahrung: R, S, I. . . . . . . . Das Reale und das Trauma der Ungerechtigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die imaginäre Ordnung und die höhere Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . Das Rechtszeichen in der symbolischen Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die symbolische und die imaginäre Dimension der Signifikanten in der Sprache. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Herrschaftssignifikant und seine Beziehung zum Signifikat . . . . 3. Metapher, Metonymie und Gesetzesauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Alterität des Symbolischen und der große Andere des Rechts (A) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Der Signifikant des Mangels im Anderen S (A) und das Unbehagen in der Rechtsordnung S (§) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

C. Das I. II. III.

Recht als Funktion in der Topologie des Subjekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Symbolisierung des Imaginären als Kohärenzerfahrung . . . . . . . . . . . Das Reale im Symbolischen: Objet petit’a (II) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die imaginäre Vergegenständlichung des Realen (F) und die Symbole des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Sexuiertes Wissen und die Position des Subjekts gegenüber dem Anderen des Rechts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die Partikularität der subjektiven Erfahrung des Gesetzes: Das Sinthôme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Logik der Wahrheit und die sexuierten Positionen zum Anderen des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Logik der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Logik der Sexuierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

D. Recht als Erfahrung zwischen Signifikant und Objektbeziehung. . . . . . . . . . . . I. Die Paradoxien des moralischen Gesetzes (I): Annäherung an das Ding . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das metaphysische Ding bei Kant und Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vom metaphysischen Ding zum Ding des Unbewussten . . . . . . . . . . .

79 79 81 82 83 84 88 90 97 101 102 105 107 109 110 113 117 120 121 123 125 126 126 128 132 136 137 140 142 143 144

Inhaltsverzeichnis 3. Die ödipale Struktur des Dings als das verbotene Objekt und seine Beziehung zum Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die mythische Funktion des Dings als Bild der Einheit des Rechts 5. Die Fatalität der Annäherung an das Ding . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Gerechtigkeit, Bürgerrechte, Menschenrechte: Objet petit’a als legale Funktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Das bürgerliche Recht als Seinsgarant: Objet petit’a (III). . . . . . . . . . . . . IV. Die Paradoxien des moralischen Gesetzes (II): Kant mit Sade . . . . . . . . 1. Das Trauma des unerfüllbaren moralischen Gebots des Über-Ichs . . 2. Die Verschmelzung der Maximen Kants und Sades im Über-Ich . . . 3. Die Spaltung des Subjekts als Grund der Zwiespältigkeit im moralischen Imperativ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Unsicherheiten gegenüber dem Objekt der moralischen Pflicht 5. Die Lösung des Rätsels vom göttlichen Genießen und der doppelte Vater im Subjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Zwischenergebnis zur Natur des moralischen Gesetzes aus „Kant mit Sade“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die Spaltung in der Funktion des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Das Objekt im sozialen Band und im Rechtsdiskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Die psychoanalytische Seite des Rechts in Lacans Diskurstheorie. . . . . . . . . . I. Vier Möglichkeiten, das soziale Band im Rechtsdiskurs zu knüpfen . . . 1. Die Ökonomie des Begehrens als unbewusste Funktion diskursiven Sprechens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die vier Diskurspositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Verknüpfung und Bewegung der Diskurse auf dem Möbiusband. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Zeichen der Liebe: Diskurswechsel als Funktion im Rechtsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das totale Gesetz im Herrschaftsdiskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Struktur und Bedeutung des Herrschaftssignifikanten (S1) . . . . . . . . . 2. Die Entstehung von Bedeutung in der Beziehung von (S1) zu (S2) 3. Der Platzhalter eines unbewussten Phantasmas: Objet petit’a (IV). . 4. Die Herrschaft des Herrschaftssignifikanten in der Sprache . . . . . . . . 5. Das Gesetz ist das Gesetz: Legislatur als Herrschaftsdiskurs . . . . . . . III. Das autonome Ich im Diskurs der Universität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtsauslegung als Wirkungseinheit von Herrschafts- und Universitätsdiskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Identifikation und Wechselbeziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Totes Begehren und zwangsneurotische Züge in der Rechtsauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Diskursive Besonderheiten im Richter- und Gewohnheitsrecht . . . . . IV. Die schöpferische Autonomie im Diskurs des Hysterikers . . . . . . . . . . . . 1. Grundlagen der Hysterie: Das hysterische Rechtssubjekt . . . . . . . . . .

11

145 147 148 151 156 159 160 162 163 164 165 167 170 174 175 177 178 179 183 187 190 191 192 193 194 198 201 205 210 212 213 215 216

12

Inhaltsverzeichnis

V.

2. Struktur des hysterischen Diskurses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtsanwalt und Mandant: Die Vertretung des Begehrens der Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Liebe der Hysteriker: Anwaltliche Vertragsverhandlung und Streitvertretung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Ende des Taumels und die Wahrheit im Diskurs des Analytikers . . 1. Grundstruktur: Die Auflösung des Symptoms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Analytiker des gespaltenen Rechtssubjekts und das Rechtssymptom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

219 220 222 224 225 226

Schluss: Impulse einer psychoanalytischen Rechtstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 Verzeichnis einiger Grundbegriffe der Psychoanalyse nach Lacan . . . . . . . . . . 235 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 Personen- und Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247

„All art is at once surface and symbol. Those who go beneath the surface do so at their peril.“ Oscar Wilde1

Einleitung einer psychoanalytischen Rechtstheorie Gegenstand dieser Arbeit ist eine psychoanalytische Reflexion über die Entstehung und Funktionsweise von Gesetzen, Rechtssubjektivität und Rechtsdiskursen auf der Basis verschiedener Ansätze Sigmund Freuds und Jacques Lacans. Das Wesen einer psychoanalytischen Untersuchung besteht darin, ein Vokabular und eine Sprache für psychische, und das heißt mittlerweile: neuronale Spannungen zu finden, die weitenteils außerhalb des Kognitiven stehen.2 Diese Sprache ist metaphorisch. Die Bilder und strukturellen Beziehungen, wie sie von Freud und Lacan vorgeschlagen werden, sind alles andere als zwingend, und natürlich gibt es in der psychoanalytischen genauso wie in der philosophischen Literatur genügend Alternativen. Insbesondere bei Freud, auf den sich Lacan zentral, aber nicht unkritisch und vor allem sehr unkonventionell bezieht, ist vieles streitig, was zum Teil wohl auch auf aktuelleren Daten aus der psychoanalytischen Praxis beruht. Eine tiefere kritische Würdigung wird allerdings nur dort angestellt, wo es für die in dieser Arbeit vertretenen Thesen relevant ist. Daneben wird an geeigneten Stellen durch Anmerkungen auf neuere Entwicklungen hingewiesen. Sollten Passagen zugunsten der Fokussierung auf einen bestimmten Gedanken trotzdem einen zu dogmatischen Ton in Bezug auf Freud haben, so sei hier vorangestellt, dass man Freud sicher als Pionier, aber gewiss nicht als Vollender der Psychoanalyse betrachten darf. Gleiches gilt auch für Lacan. Trotzdem muss hier auch vorangestellt werden, dass eine Arbeit wie diese nur geschrieben werden kann, wenn man in Freuds und Lacans Theoriegebäuden einen universellen Wahrheitskern erkennt. Liest man psychoanalytische Texte ohne die Bildhaftigkeit ihrer Sprache zu verinnerlichen, wird vieles von vorneherein abenteuerlich oder unglaub1 The Picture of Dorian Gray, The Preface. („Jede Kunst ist zugleich Oberfläche und Symbol. Die unter die Oberfläche dringen, tun dies auf eigene Gefahr.“) 2 Vgl. zum Verhältnis von Neurowissenschaft und Psychoanalyse: Žižek, Parallaxe, S. 148 ff. Die Psychoanalyse ist danach in die Neurowissenschaft zu integrieren und setzt an dem Punkt ein, wo die Neurowissenschaft auf eine (für sie nicht erklärbare) Leerstelle verweist: Bei der Aufschlüsselung der Selbstbezüglichkeit des Bewusstseins.

14

Einleitung einer psychoanalytischen Rechtstheorie

würdig erscheinen. Dieser Eindruck wird noch verstärkt, wenn psychoanalytische Theorien zur Strukturierung von Rechtsdiskursen fruchtbar gemacht werden. Man muss sich für die Lektüre dieser Arbeit gewissermaßen damit abfinden, dass die Rationalität, welche diese Diskurse beanspruchen, in Frage gestellt wird. Dies allerdings vor dem Hintergrund, dass es den rationalen Diskurs – sofern man darunter eine Form des Sprechens ohne individuelles subjektives Begehren im Unbewussten des Sprechenden versteht, das ausschließlich an objektiv formulierbaren Zielen orientiert ist – außer als strukturell notwendiges imaginäres Konstrukt – nirgendwo gibt.3 Pointiert kann man in Anlehnung an Lacan sagen: Es gibt keinen diskursiven Sprechakt, in dem nicht unbewusst das Zeichen der Liebe des großen Anderen – der phantasmatischen Personifizierung der Gesamtheit der Symbole und Signifikanten, welche als „anders“ und als „Gegenüber“ erfahren wird – zirkuliert. Charakteristisch für dieses interdisziplinäre Projekt ist demnach, dass unbewusste Prozesse im Recht adressiert werden. Sobald man sich auf das Feld des Unbewussten begibt, trifft man auf das Begehren des Subjekts. Mit diesem Begehren ist bei Lacan ein seelischer Antrieb zur Behebung eines Mangelerlebens und einem damit verbundenen Aneignungswunsch eines Gegenstandes oder Zustandes gemeint, welcher geeignet erscheint, diesen Mangel aufzulösen. Das Begehren, das auch in Freuds Begriff der „wahren Konstruktion“ anklingt, wird nicht in bewussten, rational-kognitiven Prozessen, sondern im Unbewussten des Subjekts formuliert, tritt aber verschlüsselt in seinen Sprechakten zutage. Ziel der Arbeit ist es, diese Doppelbödigkeit zu untersuchen und sich so dem unbewussten Teil der sozialen Erscheinungsformen des Rechts, d.h. dem Gerichtsverfahren, der universitären Lehre und der außerprozessualen Verhandlung und Beratung, über die Sprache anzunähern. Es geht um die Frage: Wie spricht das Subjekt des Unbewussten über sein Begehren, wenn es an einem Rechtsdiskurs teilnimmt? Die Beschäftigung mit Lacan begegnet grundsätzlichen Schwierigkeiten. Bodo Kirchhoff hat diese wie folgt beschrieben: „Eingeweihten ist es vorbehalten, Lacan zu verstehen. Alle übrigen, die sich mit seinem Werk beschäftigt haben, können nur ihre Eindrücke wiedergeben. Geschieht dies noch dazu in komprimierter Form, bekommt manches den Anschein des Trivialen. Lacans Arbeit darzustellen ist unmöglich; man kann nur darauf verweisen.“4 3 Begriffe die eine spezifische psychoanalytische Besetzung haben, werden kursiv geschrieben. 4 Kirchhoff, Ich denke da, wo ich nicht bin – Unter dem Eindruck von Jacques Lacan: Die Kastration ist (k)ein Märchen, in: DIE ZEIT, Nr. 49, 28.11.1980.

A. Psychoanalyse und Rationalität

15

Das Projekt einer Analyse des Rechts mit Lacan ist damit Wagnis und Risiko. Es birgt die Möglichkeit, dass die Verwendung spezifischer Begrifflichkeiten nicht immer dem hoch komplexen Gesamtkontext gerecht wird, den Lacan in über 30 Jahren Forschung, Lehre und Praxis geschaffen hat. Damit entsteht manchmal vielleicht auch der Anschein von Trivialität, weil nicht immer die Tiefe erreicht werden kann, die zur vollständig adäquaten Beschreibung notwendig wäre. Allerdings kann man dies sicherlich auch in Bezug auf die dominanten Repräsentanten der deutschen Philosophiegeschichte (insbesondere Kant, Hegel und Heidegger) behaupten. Könnte man bei Lacan schon auf eine 200-jährige Rezeptionszeit zurück blicken, wie sie zumindest Kant und bald auch Hegel hatten, ist es nicht unwahrscheinlich, dass seine Thesen – sollte er bis dahin nicht in Vergessenheit geraten sein – im Jahr 2180 deutlich leichter rezipiert werden, als dies gegenwärtig wohl noch der Fall ist. Bis dahin kann man sich mit einer weiteren Prämisse Kirchhoffs behelfen: „Man muss Lacan nicht „richtig“ verstehen; man kann sich auch nur umsehen bei ihm, ganz unverschämt. Wer sucht, der findet. Ob man ihn nun überfliegt oder Wort für Wort studiert – eines wird bei der Lektüre immer deutlich werden: Sein Werk bereitet große Enttäuschung.“5

Grund hierfür mag sein, dass Lacan selbst seinen Diskurs als Nachahmung des Diskurses des Unbewussten verstanden hat. Programmatisch für das vorliegende Projekt soll jedenfalls keine „Enttäuschung“, sondern eher eine „Ent-Täuschung“ der imaginierten, phantasmatischen Strukturen des Begehrens sein, welche man mit Lacan in den Rechtsdiskursen ausmachen kann. Es geht auch hier – wie immer in der Psychoanalyse – um Befreiung und Autonomiegewinn durch Auflösung traumatischer Symptome.

A. Psychoanalyse und Rationalität Die Psychoanalyse mit ihrem Fokus auf die verdrängten und versteckten Domänen des Begehrens wird oft als eine zu bedrohliche oder zu persönliche Form des Wissens angesehen, um sie im Rahmen von rechtstheoretischen und anderen juristischen Fragestellungen heranzuziehen. In der Rechtswissenschaft ist die Psychoanalyse damit weitenteils immer noch ein dunkler, unentdeckter Kontinent. Sie scheint juristische Grundwahrheiten und Axiome zu erschüttern und die Rationalität der Rechtspraxis in Frage zu stellen, indem sie die unbewusste Ebene der Akteure innerhalb der Rechtsinstitutionen identifiziert und dabei die Wiederholungen, Verschie5 Kirchhoff, Ich denke da, wo ich nicht bin – Unter dem Eindruck von Jacques Lacan: Die Kastration ist (k)ein Märchen, in: DIE ZEIT, Nr. 49, 28.11.1980.

16

Einleitung einer psychoanalytischen Rechtstheorie

bungen und Verdrängungen, die Triebe und das Begehren der Rechtssubjekte, Autoren und Interpreten des Gesetzes untersucht. Es überrascht damit nicht, dass sich die Rechtstheorie der Psychoanalyse bisher weitgehend verschlossen hat. Insgesamt begegnet die Anwendung von psychoanalytischen Techniken auf soziale Phänomene Zweifeln, ob es „legitim“ sei, Konzepte, die ursprünglich für die individuelle Therapie psychischer Krankheiten entwickelt wurden, auf kollektive Einheiten und ideologisch-gesellschaftliche Prozesse auszudehnen und, wie z. B. Freud, von Religion als einer „allgemeinen Zwangsneurose“ zu sprechen.6 Der slowenische Analytiker Slavoj Žižek weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass das Feld des Sozialen nicht einfach auf einer anderen Ebene liegt, sondern das es sich um den Teil der individuellen Erfahrung handelt, bei dem sich die Individuen in Beziehung zueinander setzen. Das Individuum erfährt diese Ebene selbst als eine Ordnung, die minimal „verdinglicht“ entäußert ist. Žižek betont weiter, dass die Frage, ob die Psychoanalyse ein adäquates Verfahren zur Entschlüsselung gesellschaftlicher Phänomene sei, dahin präzisiert werden müsse, dass gefragt wird, wie die äußerlich-unpersönliche, gesellschaftlichsymbolische Ordnung institutionalisierter Praktiken und Glaubensvorstellungen einschließlich der sozialen Erscheinungen des Rechts (der große Andere) strukturiert sein muss, damit sich die Subjekte mit ihren Ängsten und Wünschen so komfortabel wie möglich in sie integrieren können.7 Hier liegt letztlich der progressive Impuls, den die Psychoanalyse auf gesellschaftlicher Ebene auch für das Recht leisten kann. Die Bedeutung der Psychoanalyse wird im aktuellen kulturellen Verständnis manchmal unterschätzt, auch wenn ihr Status als Wissenschaft im engeren Sinn noch nicht fest steht.8 Trotzdem sollte ihr Einfluss auf Soziologie, Politologie und Kriminologie nicht mehr ernsthaft bestritten werden, ungeachtet der Tatsache, dass viele Thesen und Methoden nach wie vor kontrovers diskutiert werden. Einer treuen Anhängerschaft steht häufig deutliche Ablehnung gegenüber, vermittelnde Positionen sind eher die Ausnahme. Allerdings haben einige Theorien innerhalb der Psychoanalyse, allen voran Freuds grundlegende Strukturierung des Unbewussten, der Verdrängungsmechanismus und die Entwicklung des Subjekts im Ödipuskomplex, nicht nur die postmoderne Dialektik sondern vor allem auch die Alltagssprache und -kultur entscheidend geprägt. Bei aller Kritik sollte man Freud jeden6 Freud, Die Zukunft einer Illusion, in: Fragen der Gesellschaft/Ursprünge der Religion, StA IX, S. 135–189 (S. 177 ff.). 7 Vgl. Žižek, Parallaxe, S. 11. 8 Dies könnte sich allerdings mit dem Fortschreiten der Neurowissenschaften und der Gehirnforschung in vielleicht schon absehbarer Zeit ändern.

B. Psychoanalytische Rechtstheorie und Rechtspsychologie

17

falls zugestehen, dass es die von ihm vorgeschlagenen Vokabeln auf einer breiten gesellschaftlichen Ebene ermöglicht haben, vorher schwer beschreibbare Phänomene nun relativ differenziert formulieren zu können. Dies könnte irgendwann auch für Lacan gelten.

B. Psychoanalytische Rechtstheorie und Rechtspsychologie Man kann, ungeachtet der verbreiteten Skepsis gegenüber der Einbeziehung unbewusster Prozesse, eine zunehmende Wahrnehmung und fortschreitende Ausdifferenzierung psychologischer Parameter in juristischen Publikationen beobachten, deren Ergebnisse teilweise auch in der Justiz praktisch angewandt werden. Dabei geht es in erster Linie um forensische Psychologie, d. i. die Anwendung der Psychologie im Rahmen von Gerichtsverfahren und die Kriminalpsychologie, welche sich der Entstehung und Aufdeckung von Kriminalität, der Kriminalprävention sowie der Behandlung von Straftätern widmet.9 Hinzugekommen sind v. a. in den USA oft von Prozessanwälten verfasste Handbücher, die den Prozessbeteiligten spezifische, an psychologischen Methoden orientierte Techniken und Strategien empfehlen, um erfolgreich vor Gericht zu agieren.10 Zwischen Rechtspsychologie und psychoanalytischer Rechtstheorie bestehen allerdings markante Unterschiede, auch wenn es im methodischen Ansatz häufig Überschneidungen und Parallelen gibt. Der signifikanteste liegt wohl darin, dass Rechtspsychologie weniger auf die Analyse und Beschreibung von allgemeinen, ggf. auf einen bestimmten Kulturkreis beschränkten Grundstrukturen von Rechtssystemen und -diskursen gerichtet ist, sondern auf den Umgang mit spezifischen, einzelfallsbezogenen Problemkreisen und Psychopathologien. Rechtspsychologie wendet dabei psychologische – aber nicht unbedingt psychoanalytische – Theorien, Methoden und Erkenntnisse zur Lösung dieser spezifischen Probleme innerhalb des Rechtssystems an und hat regelmäßig einen konkreten Bezug zu seelischen Parametern von Delinquenz (z. B. Erstellung von Täterprofilen und Sozialprognosen bei Häftlingen) oder familiären Extremsituationen (z. B. im Falle einer Scheidung oder im Zusammenhang mit Kindschafts- oder Betreuungsfragen). Während Rechtspsychologie oft eine starke Affinität zu den Sozialwissenschaften, zur Medizin und teilweise auch zur Psychiatrie hat, liegen die Bezugspunkte psychoanalytischer Rechtstheorie eher in der Philosophie, 9 Vgl. Kury/Obergfell-Fuchs, Rechtspsychologie; Psychologische Strukturen richterlicher Entscheidung. 10 Vgl. Oswald, Richterliche Urteilsbildung, in: Steller/Volbert, Psychologie im Strafverfahren, S. 250, mit ausführlicher Übersicht.

18

Einleitung einer psychoanalytischen Rechtstheorie

der Linguistik und der Semiotik. Es geht darum, die Emotionen und das Feld der Subjektivität nicht nur auf eine konkrete Fallgestaltung in einem Straf- oder familiengerichtlichen Prozess, sondern in die Analyse institutionalisierter Rechtsprozesse an sich, d.h. auf einer vom Einzelfall abstrahierten Ebene einzuführen, was – wie sich gegen Ende der Arbeit zeigt – bis in die Zivilprozessordnung gehen kann. Damit soll versucht werden, die Verknüpfung von institutionalisiertem Recht und Rechtsdiskurs mit der symbolischen Funktion des Rechts im Unbewussten in einem gesamtkulturellen Kontext offen zu legen. Ziel ist nicht ein hermeneutisches „Verstehen von Tiefsinn“, sondern es geht im Kern um die Entzifferung von Signifikantenketten. Ohne diesen bei Lacan zentralen Begriff hier schon vorgreifend ausführen zu wollen, besteht ein Grundgedanke der vorliegenden Arbeit darin, nicht nur die Teilnehmer der Rechtsdiskurse, sondern das Recht selbst, verstanden als Metaebene eines universell-abstrakten Subjekts des Unbewussten, in einer fiktiven Analysesituation als den Analysanden zu betrachten. Es soll konkret versucht werden, verschiedene theoretische und praktische Aspekte des Rechts so zu behandeln, als ob sie Gegenstand eines analytischen Diskurses wären, um so die materielle von der historischen Wahrheit des „juristischen Begehrens“ trennen zu können. Diese von Freud eingeführten Wahrheitsbegriffe sind nicht im Sinne einer absoluten Substanz zu verstehen. Die historische Wahrheit des Begehrens des Analysanden wird aus den Spuren seiner biographischen Vergangenheit konstruiert, an die er sich selbst erinnert. Diese teilt der Analytiker dem Analysanden mit, denn es geht um eine andere Wahrheit als jene, an die der Analysand zuerst glaubt. Letztere nennt Freud die materielle Wahrheit: Sie ist die Beschreibung jener Alltagserfahrung, die der gemeine Verstand wahrnimmt und empirisch „versteht“, ohne zu begreifen, dass sie imaginäre Elemente von Rationalisierungen enthält, und unbewusst das Verschleiern der historischen Wahrheit zum Ziel hat.11 Die Anerkennung dieses „Wahrheitskerns“ wirkt, sofern sie dem Analysanden einleuchtet, befreiend. Es geht damit letztlich nicht um einen rein intellektuellen oder kognitiven Wissensprozess, sondern eine psychoanalytische Rechtstheorie soll dazu beitragen, den Teilnehmern der Rechtsdiskurse das begriffliche und hermeneutische Instrumentarium zur Verfügung zu stellen, welches sie schließlich zur Annahme der eigenen Verantwortung und der Entdeckung des eigenen Begehrens und Wollens führt. Das charakteristische Spannungsverhältnis innerhalb der Psychoanalyse besteht in der Lücke zwischen dem (unmöglichen) Begehren der Rückkehr zur (traditionellen) maternellen Einheit und der modernen reflexiven Freiheit, deren Parameter sich auch und zu einem wesentlichen Teil in der Be11

Freud, Konstruktionen in der Analyse, in: StA Ergänzungsband, S. 405 ff.

C. Wurzeln psychoanalytischer Rechtstheorie im postmodernen Denken

19

ziehung von Rechtssubjekt und Gesetz manifestieren. Das Subjekt des Unbewussten befindet sich auf einer „exzentrischen Bahn“ (Hölderlin), die in einem endlosen Oszillieren zwischen diesen beiden Punkten besteht. Geprägt ist diese Bahn von der Unmöglichkeit und dem ständig scheiternden Versuch, den endgültigen Frieden zu erreichen.12 Das Urteil, mit dem das Rechtssubjekt zuweilen konfrontiert wird, ist damit letztlich die Manifestation der „Ur-Teilung“ die für das Subjekt paradigmatisch ist.

C. Wurzeln psychoanalytischer Rechtstheorie im postmodernen Denken Man kann heute sagen, dass die psychoanalytische Reflexion des Begehrens des Rechtssubjekts in den Kontext des Übergangs von der klassischen Rechtsphilosophie und Methodenlehre zu einem weiter gefassten Begriff der Rechtstheorie fällt, welcher der kontinuierlichen Öffnung der Rechtswissenschaft gegenüber neueren Ansätzen Rechnung trägt. So haben sich innerhalb der aktuelleren Rechtstheorie bereits die Systemtheorie (Niklas Luhmann) und die Diskurstheorie (Jürgen Habermas) etabliert. Hinzugekommen sind nun Arbeiten, in denen z. B. auch Jacques Derrida oder Michel Foucault für die Analyse des Rechts fruchtbar gemacht werden.13 Trotz der völlig verschiedenen Ausgangspunkte sind alle diese Ansätze – einschließlich des hier verfolgten – von dem gemeinsamen Motiv getragen, die juristische Grundlagenforschung über das Feld der Rechtstheorie in eine universelle Kulturtheorie zu überführen, deren archimedischer Punkt die normative Funktion in der postmodernen bzw. -industriellen Gesellschaft ist.14 Auch wenn es sich bei der Anwendung der Psychoanalyse im Rahmen der Rechtstheorie um ein neueres Phänomen handelt, wird an geistesgeschichtliche Traditionen angeknüpft. Bei der genaueren Bestimmung dieser Tradition lohnt sich einführend der bereits angedeutete Verweis auf das Phänomen der Postmoderne: So ist es auch das Ziel dieser Arbeit, sich in den Kontext des postmodernen Denkens einzureihen, das verschiedene 12

Vgl. die Hölderlinpassage in Žižek, Parallaxe, S. 64. Einen aktuellen Überblick – einschließlich zu psychoanalytischer Rechtstheorie (Häußler) – bietet Buckel/Christensen/Fischer-Lescano, Neue Theorien des Rechts. 14 Eine sehr ambitionierter Versuch, die Psychoanalyse als universelle „Generaltheorie“ über das Recht zu etablieren, ist bereits 1965 von Ehrenzweig ( Psychoanalytical Jurisprudence: A Common Language For Babylon, in: Columbia Law Review 65, S. 1331 ff.) unternommen worden. Ehrenzweig geht davon aus, dass die Psychoanalyse als Theorie geeignet sei, praktisch alle herkömmlichen Rechtstheorien in einem gemeinsamen, nämlich psychoanalytischen, Begriffsrahmen zu integrieren. 13

20

Einleitung einer psychoanalytischen Rechtstheorie

Richtungen in der aktuellen Rechtstheorie beeinflusst hat. Der von JeanFrancois Lyotard, Derrida und Roland Barthes wesentlich geprägte Begriff der „Postmoderne“ ist durch das Ende der großen weltanschaulich fundierten Systeme gekennzeichnet, welches aus dem Scheitern der marxistischen Utopie und dem Ende des utopistisch-ideologischen Denkens überhaupt folgt. Die postmodernen Diskurse sind zumindest nach ihrem Selbstverständnis weniger politisch, ideologisch oder emotional, sondern eher durch eine ironische Grundhaltung motiviert. Diese führt aber nicht dazu, dass kein ernsthaftes Streben nach Erkenntnis betrieben würde; vielmehr findet eine (als notwendig erachtete) Abkehr von ehemals inflationär gebrauchten Absolutheitsansprüchen auf dem Feld der Theoriebildung statt. Es kann nicht genug betont werden, dass dies auch auf die vielfältigen Ansätze innerhalb der psychoanalytischen Theorie zutrifft. Kennzeichnend für die Postmoderne ist allerdings, dass sie eine Wende (oder Erweiterung) innerhalb des philosophischen Denkens hin zu einer Anerkennung der Macht des Unbewussten propagiert. So tritt insbesondere in Derridas Beschreibung der Postmoderne ein besonderer Bezug zur Psychoanalyse zutage: Danach entziehe sich die postmoderne Welt dem Verständnis des Menschen, weil hinter jeder Bedeutung eine weitere vermutet werde, die den Zugang zur Wahrheit einer Aussage versperrt. Entscheidend ist, dass der Begriff der „Wahrheit“ hier unmittelbar auf das Unbewusste bezogen ist. Derrida beschreibt das Phänomen dieser Differenz zwischen einem sprachlichen Zeichen (dem Signifikanten) und seiner Bedeutung (dem Signifikat) in einem sprachphilosophischen Ansatz mit dem Begriff der „Differance“. Dabei bezieht er sich – wie vielerorts auch Lacan – auf Ferdinand de Saussure. Von dieser Differance bleibe nur eine Spur des Gemeinten, die Derrida mit Rückgriff auf Freuds Theorie des Unbewussten erklärt: Weil das Unbewusste für uns nicht greifbar sei, sondern immer schon außer Reichweite und nur manchmal und dann über Umwege ins Bewusstsein zu bringen, könne es allenfalls erahnt werden. So werde die Alternative von Gegenwart und Abwesenheit überschritten. Derridas Differance ist (auch) die radikale Andersheit von Bewusstsein und dem Unbewussten und deutet damit auf eine Abkehr vom sog. „Logozentrismus“, d.h. der vernunftzentrierten Metaphysik und abendländischen Rationalität hin. Bedeutung erschließe sich immer nur in Spuren und immer erst nachträglich, und zwar ohne je gegenwärtig gewesen zu sein.15

15 Derrida, Die différance, in: Engelmann, Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart, S. 82.

D. Auswahlmotive für Freud, Lacan und die Psychoanalyse

21

D. Auswahlmotive für Freud, Lacan und die Psychoanalyse Die mannigfaltigen Richtungen innerhalb der psychoanalytischen Forschung – der frühe Bruch zwischen Freud und Carl Gustav Jung gehört hier zu den bekanntesten Weichenstellungen – machen es unmöglich, von „der Psychoanalyse“ oder sogar „der psychoanalytischen Rechtstheorie“ zu sprechen, weshalb eine Begrenzung notwendig ist. Ein wichtiger Grund für die Wahl von Freud und Lacan als wesentliche Bezugspunkte dieser Arbeit liegt zunächst darin, dass sie zu Fragen der psychischen Dimension von Recht und Gesetz explizit Stellung genommen haben. Insbesondere Freuds Vater(mords)mythos und Lacans darauf bauende interdisziplinäre Sprachund Diskursanalyse ermöglichen einen (nahezu) unmittelbaren rechtstheoretischen Zugang. Lacan kann nicht isoliert von Freud betrachtet werden, und man kann heute wohl sagen, dass Lacans linguistisch-progressive Lesart im Rahmen seiner „Retour à Freud“ zu einem wesentlichen Teil auch für die aktuelle Rezeption Freuds in der Literatur- und nun auch Rechtstheorie ursächlich ist. Lacans These war, dass namentlich der Ödipus- und der Kastrationskomplex und die phylogenetischen Schriften missverstanden oder vernachlässigt worden waren. Ein weiteres – allerdings ebenso pragmatisches – Argument für die Quellenwahl ist, dass sich gleichzeitig die Möglichkeit eröffnet, an aktuelle psychoanalytische Forschungen aus der anglo-amerikanischen und französischen Rechtstheorie anzuknüpfen, welche sich auf eben diese Affinität stützen. Freud, Lacan und ihre Vertreter, hier insbesondere von Bedeutung Žižek und der französische Rechtshistoriker Pierre Legendre, haben Psychoanalyse nie ausschließlich als Erklärungsmodel für individuelle Verhaltensmuster und Therapie zur Behandlung von Neurosen und Psychosen angesehen. Vielmehr gehen sie davon aus, dass sich aus psychoanalytischen Forschungen gleichzeitig Mittel zur Untersuchung von Kausalitäten ableiten lassen, durch welche das Individuum in die soziale Gemeinschaft eintritt, die das Subjekt in einem spezifischen gesellschaftlichen Kontext „produzieren“ (Legendre) und die sich durch die Perpetuierung bestimmter ideologischer Muster kontinuierlich reproduzieren.16 Ein materieller Grund für die Wahl Lacans ist nun, dass er das psychoanalytische Vokabular insbesondere durch Anknüpfungen und Verweise auf die strukturelle Anthropologie (Claude Lévi-Strauss), Semiotik, Linguistik (z. B. Ferdinand de Saussure), Philosophie (z. B. Kant und Sade) und Literatur (z. B. Edgar Allen Poe) maßgeblich erweitert hat, so dass auch eine Be16 Caudill, Freud and Critical Legal Studies: Contours of a Radical Socio-Legal Psychoanalysis, in: 66 Indiana Law Journal, S. 661.

22

Einleitung einer psychoanalytischen Rechtstheorie

zugnahme auf das Juridische nicht fern liegt. Lacans Theorie ist von ihrem Ansatz her integrativ, auch wenn das sicherlich von vielen bestritten wird. Allerdings werden Lacans Bezüge, Verweise und Rückverweisungen teilweise sogar als Aufhebung der klassischen Distanz von Philosophie und Psychoanalyse angesehen. Diese Gegensätzlichkeit besteht typischerweise darin, dass der philosophische Diskurs an Wahrheit, Gewissheit, Bewusstsein und Selbstbewusstsein orientiert ist, während der psychoanalytische vom Unbewussten spricht, das sich seiner selbst als mächtig wähnende Bewusstsein kritisiert und dabei Kategorien verwendet, die sich offenbar logischen Gesetzen entziehen.17 (Der Möglichkeit von) Freiheit und Autonomie stehen Triebe und Begehren gegenüber. Ist das Subjekt noch „Herr im eigenen Haus“? Diese Frage schafft für Lacan keinen unüberbrückbaren Graben, weil er in der Philosophie vielerorts eine präzise Formulierung der Arbeitsweise des Unbewussten erkennt, auch wenn die Terminologie eine andere ist. Diese Position wird im Rahmen aktueller psychoanalytischer Untersuchungen rechtlicher Komplexe beibehalten: So werden Verweise Lacans auf Hegel und Kant in den Arbeiten von Jeanne L. Schroeder und Žižek im Zusammenhang mit juristischen Fragestellungen untersucht, was schließlich eine Konkretisierung hin zu dem Begriff der psychoanalytischen Rechtsphilosophie nahe legt.18 Anders als die Philosophie bezieht sich die Psychoanalyse auf unbewusste, oft erotische Motive, was besonders in der von Freud behaupteten Dominanz des Erotischen im Psychismus deutlich wird. Dies trifft auch auf die Teilnehmer der Rechtsdiskurse zu und muss – so eine der hier vertretenen Hypothesen – zur Aufrechterhaltung ihrer Glaubwürdigkeit (institutionell) verdrängt werden. Den dabei operierenden Verdrängungsmechanismus kann man mit einer psychoanalytischen Rechtstheorie dekonstruieren: So kommt Schroeder zu dem Schluss, dass sich die erotischen Impulse des unbewussten Begehrens der Marktteilnehmer bis in die individualvertraglichen Beziehungen oder die rechtliche Konzeption des Eigentums zurückverfolgen lassen.19 Zentral für die vorliegende Arbeit ist auch Freuds berühmt-berüchtigte und auf einem anthropologischen Mythos basierende Theorie vom Ursprung des Gesetzes, die ihm allerdings selbst innerhalb der psychoanalytischen Forschung bis heute leidenschaftliche Kritik und teilweise auch Spott eingebracht hat. Freuds archäologisch nicht belegte These basiert auf einem ödi17

Widmer, Descartes und Lacan: Wie cartesianisch ist die Psychoanalyse?, S. 1. Žižek, The Unconscious Law: Towards an Ethics Beyond the Good, in: The Plague of Fantasies, S. 213 ff.; Schroeder, The Vestal and the Fasces: Hegel, Lacan, Property, and the Feminine. 19 Schroeder, The Triumph of Venus: The Erotics of the Market, S. 42. 18

D. Auswahlmotive für Freud, Lacan und die Psychoanalyse

23

pal motivierten Vatermord in der frühen Menschheitsgeschichte, welcher die Struktur des unbewussten subjektiven Begehrens geformt haben soll. Der Vatermord ist Freuds kollektiv verdrängtes Spektakel, das er an den Anfang einer Kultur setzt und mit dem er das Phänomen der Paternität des Rechts untersucht und dabei strukturelle Aussagen über Entstehung und Wirkung des Gesetzes in der Gesellschaft trifft. Diejenigen, welche an der Bedeutung von Freuds Fabel für das allgemeine kulturelle Verständnis der westlichen Zivilisation und ihrer Rechtssysteme festhalten, betonen heute weniger die historische als die psychische Realität der Geschichte. Thanos Lipowatz spricht etwa von der „Frage des Vaters als Gradmesser für das (Un-)Verständnis des spätmodernen Zeitgeists gegenüber der Radikalität Freuds“. Der auf der empirischen Ebene zugängliche „reale“ Vater mag als die allgemeine Ursache hysterischer Symptome eine gewisse Rolle spielen; für eine auf Freud aufbauende psychoanalytische Genealogie des Rechts liegt seine Bedeutung aber vor allem darin, dass er im Mittelpunkt eines allgemeinen kulturellen Phantasmas über den Ursprung des Rechts steht.20 Beachtlich ist in diesem Zusammenhang auch die von Legendre unternommene Fallanalyse des Gefreiten Dennis Lortie, der 1984 in einem Amoklauf den Versuch unternommen hatte, die kanadische Regierung umzubringen, denn die darin beleuchteten Daten sind geeignet, die psychischen Grundaussagen des Mythos auf eine empirische Ebene zu bringen. Aus der Analyse des psychopathologischen Lortie folgert Legendre ganz im Sinne Freuds, dass sich das Rechtssubjekt den Institutionen des Rechts unterwirft, welche die Autorität des Gesetzes in einem „Bild des Vaters“ vermitteln. Mittlerweile sind im Spektrum der psychoanalytischen Reflexion des Rechts Elemente einer Gesellschaftstheorie, einer Sprachtheorie und einer Individualtheorie auszumachen. Gemeinsam ist allen, dass sie das Recht aus dem (Freudschen) Unbewussten entwickeln. Während das Interesse des historisch geprägten, gesellschaftstheoretischen Ansatzes (Legendre) darin besteht, den Mechanismus zu beschreiben, in dem das Subjekt durch das Recht in seiner institutionalisierten Form ein soziales Band knüpft, konzentriert sich der sprachtheoretische Ansatz auf die formellen Voraussetzungen der Rechtsdiskurse (Schroeder, Ellie Ragland); der individualistische Ansatz untersucht die Teilnehmer der Rechtsdiskurse als Subjekte ihres Begehrens (Peter Goodrich). Darüber hinaus häufen sich aktuell Untersuchungen, die der Psychoanalyse ein Potential von der konkreten Ethikbestimmung bis hin zu manifesten Impulsen für die Rechtspraxis zusprechen.21 20

Vgl. Lipowatz, Der „Fortschritt in der Geistigkeit“ und der „Tod Gottes“, S. 8. Milovanovic, Psychoanalytic Semiotics, Chaos, and Rebellious Lawyering; Arrigo, The inside Out of the Dangerous Mentally Ill: Topological Applications to Law and Social Justice und Voruz, The Topology of the Subject of Law: The Nulli21

24

Einleitung einer psychoanalytischen Rechtstheorie

Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung ist Freuds Mythos von der Entstehung des Gesetzes in der Urhorde aus Totem und Tabu. Daran anschließend wird Legendres Analyse des Verbrechens des Gefreiten Lortie und seine auf den Ur-Mythos aufbauende Theorie über die Beziehung von Rechtssubjekt und Rechtsinstitution dargestellt und kritisch gewürdigt. Im dritten Teil werden zunächst einige theoretische Grundlagen dargestellt, um darauf aufbauend das Begehren der Teilnehmer der verschiedenen Rechtsdiskurse anhand der spezifischen Terminologie Lacans zu untersuchen. Zum Schluss wird die Frage nach möglichen Impulsen der bis dahin entwickelten psychoanalytischen Rechtstheorie u. a. im Zusammenhang mit Nietzsche erörtert.

biquity of the Fictional Fifth, alle in: Ragland/Milovanovic, Lacan: Topologically Speaking.

Kapitel 1

Recht als Mythos: Der Ursprung des Vaterrechts bei Freud Begriffe wie „Paternität“ oder „Paternalismus“ sind den Rechtsdiskursen nicht fremd. Nicht selten wird landläufig vom „Vater Staat“ gesprochen, wenn es um den Fiskus geht. Die spezifische Symbolik des Bildes vom Vater Staat kommt nicht von ungefähr. Auch wenn es im Rahmen einer historisch-globalen Betrachtung bemerkenswerte Alternativen gibt,1 soll hier unterstrichen werden, dass nicht nur Freud davon ausging, dass Gesetzesautorität jedenfalls im westlichen Kulturkreis durch ein Vaterbild vermittelt wird. Hierfür gibt es eine Tradition: Das römische Recht als die zumindest für die westliche Rechtstradition prägende Quelle hatte dem Familienoberhaupt, dem „Paterfamilias“, die absolute Gewalt über Leben und Tod zuerkannt. In dem privaten Recht des Vaters im Haus spiegelte sich das vergleichbare öffentliche Recht des Kaisers wider, dessen Laune zur Legislatur wurde und dessen Genießen Gesetzeskraft hatte. In der christlichen Nachfolge des römischen Rechts spiegelte sich wiederum in der Macht des Kaisers oder des Papstes die Macht des göttlichen Vaters wider. Vor diesem Hintergrund kann man sagen, dass Gesetzgebung und Rechtsprechung in der westlichen Tradition über weite Strecken an eine Position geknüpft 1 Zu den nahe liegenden Alternativen zum Vaterrecht gehört das Rechtsverständnis im Judentum, welches – obwohl er nicht religiös war – Freud als sein geistigkultureller Hintergrund gut bekannt war: Die Rechte der Frau im Judaismus sind denen der Männer traditionell angeglichen, und zwar in einem Maße, wie es sich in den westlichen Zivilgesellschaften erst in den letzten 100 Jahren entwickelte: Frauen waren seit jeher berechtigt, Verträge abzuschließen und Eigentum zu erwerben und zu veräußern. Zu den signifikantesten jüdischen Gesetzen gehört, dass sich die Zugehörigkeit zum Judentum bei Kindern aus Mischehen nach der Mutter und nicht nach dem Vater richtet. Folgt man modernen Interpreten des jüdischen Rechts, wie es aus der Thora abgeleitet wird, zeigt sich ein noch gravierenderer Unterschied zu dem (vater-)autoritätsbasierten, an den Buchstaben des Gesetzes geknüpften römischen Rechts: Der an die Vaterfigur geknüpfte Legalismus fällt hinter den „narrativen Kontext“ des Gesetzes zurück. So wird das Recht nicht mehr vorrangig als öffentliche, sondern eher als private Angelegenheit betrachtet, die die kulturellen Gebräuche als Hintergrund für eine Konfliktlösung anhand von Weisheitsregeln propagiert. Das Recht steht also immer schon vor dem Buchstaben des Gesetzes, wie ihn der Vater formuliert. (Vgl. Jackson, Wisdom-Laws: A Study of the Mishpatim of Exodus 21:1-22:16, S. 23 ff.)

26

Kap. 1: Recht als Mythos: Der Ursprung des Vaterrechts bei Freud

waren, die, gestützt auf eine komplexe – textbasierte – Ordnung, strukturell der des Vaters in der Familie entspricht. Recht zu sprechen hieß in der römisch-christlichen Tradition, eine auf den Vater bezogene Identität innerhalb der textuellen Ordnung der Macht zu finden und im wörtlichen Sinn „im Namen des Vaters“ zu sprechen, ganz egal, ob damit Gott, Kaiser, Souverän, Volk oder das Familienoberhaupt gemeint ist.

A. Freuds Version der Entstehung der Ur-Gesetze in Totem und Tabu Freud geht der Frage nach der Entstehung dieses Phänomens auf unkonventionelle Weise nach: In Totem und Tabu und Der Mann Moses und die monotheistische Religion entwirft er einen phylogenetischen Mythos von einem tyrannischen Urvater, mit dem er die Paternität des Rechts in einen psycho-kausalen Kontext setzt: Das Bild der Paternität bildet den Rahmen für die Entstehung des Gesetzes in der Ur-Gesellschaft, das gleichzeitig zum Ur-Gesetz der westlichen Zivilisation wird und sich bis in die Moderne fortsetzt. Freud sieht den Ursprung des Vaterrechts in einem Komplex aus Traumatisierung und Schuldgefühlen, Verdrängung und Erinnern, welchen er als die Folge eines in die Frühgeschichte der Menschheit zurückgehenden und unzählige Male wiederholten Vatermordes beschreibt, der später an Moses wiederholt und so als „archaische Erbschaft“ in die kollektive Psyche der westlichen Kultur eingeschrieben wurde. Rechtsautorität und Gesetzeskraft stehen danach in enger Beziehung zu einem sich durch die Menschheitsgeschichte ziehenden (Vatermords-)Trauma, das Freud als Erklärung für die „mystische Gewalt“ des Rechts dient. Was sich oberflächlich als Kodifizierung, Kanonisierung, Tradition und Auslegung (heiliger) Schriften als dem Archiv der abendländischen Rechts- und Religionsgeschichte darstellt, deutet Freud als Psychodrama, dessen Ursprünge weit vor die Erfindung der Schrift in die frühste Phylogenese der Menschheit zurückgehen.2 In Freuds Persönlichkeitstheorie spiegelt der Ursprungsmythos unmittelbar das Verhältnis der Einführung des väterlichen Gesetzes im Ödipuskomplex als zentrale Kindheitserfahrung wider und ist damit für die Entstehung des „Vaterrechts“ im sozialen Kontext verantwortlich. Freud greift die zentralen Themen des Ödipusmythos auf, nimmt aber einige entscheidende Variationen vor, mittels derer er die psychische Struktur des Gesetzes in der abendländischen Rechtstradition als das „Gesetz des Vaters“, und zwar nicht eines lebenden, realen, sondern eines „toten“ Vaters analysiert. Ziel 2

Assmann, Religion und kulturelles Gedächtnis, S. 62 ff.

A. Freuds Version der Entstehung der Ur-Gesetze in Totem und Tabu

27

seiner Kulturanalyse ist es, parallel zur Subjektsanalyse, in die Tiefendimension des vom Spannungsverhältnis zwischen Es und Über-Ich dominierten Unbewussten vorzudringen und so die Phänomene der „Paternität des Rechts“ und der monotheistischen Religion auf ihren Ursprung zurückzuführen. Freud stellt damit eine eigene Version der Verknüpfung der westlichen Rechtstradition und der christlich-jüdischen Tradition bis zu ihren Grundlagen in der Thora her, aus der sich das abendländische Recht als duales System zwischen geistlicher und weltlicher Legalität geformt hat. Dabei erkennt er einen traumatischen Gleichlauf von Natur und Kultur und beschreibt damit die originäre Triebstruktur und ihre gesellschaftlich notwendige Beschränkung als opponierende Systeme: Die organische Einheit des Körpers erfährt einen Bruch durch die Intervention von Symbolen. Dieses Zusammenwirken von Trieb und Triebbeschränkung formt nicht nur die Verknüpfung, welche zum Entstehen des sozialen Subjekts erforderlich ist, sondern auch zu dem, was das Phänomen der Zivilisation selbst ausmacht. Freuds Ausgangspunkt ist die urtümliche, bei manchen Naturvölkern noch bestehende Religionsform des Totemismus, einer Geisteshaltung, nach der dauernde Beziehungen zu Tieren, Gegenständen und Erscheinungen (den Totems) unterhalten werden, denen man sich in einem mystischen oder verwandtschaftlichen Sinne (Abstammung) verbunden glaubt. Es ist verboten, das Totemtier zu verletzen (Tabu), bis es in einer regelmäßig gefeierten Totemmahlzeit geschlachtet und gegessen wird. Darauf folgt rituelle Trauer, die in ungezügelte Freude mündet. Ausgehend von der Frage, warum der Totemismus notwendig mit dem Gebot der Exogamie verbunden ist, findet Freud einen tiefer liegenden, ursprünglicheren Sachverhalt, nachdem sich das Totemritual als die kultische Wiederholung eines ödipalen Verbrechens offenbart. Hierzu greift Freud Darwins und Atkinsons frühgeschichtliche Hypothese auf, dass die Urmenschen in kleinen Horden lebten, die von einem tyrannischen Patriarchen beherrscht wurden, der alle Infragestellungen seiner Autorität – insbesondere Ansprüche seiner rivalisierenden Söhne auf die Frauen des Clans – mit Verbannung, Kastration oder Tod bestrafte. Im Widerhall der strukturellen Logik des Ödipus- und Kastrationskomplexes taten sich die Söhne (der „Brüderclan“) in einem Akt des eifersüchtigen Aufbegehrens zusammen und ermordeten den verhassten Vater. Anschließend wurde der Körper verspeist, um sich die Macht des Vaters einzuverleiben. Allerdings brachte die Tat nicht die angestrebte Befreiung, denn ihr folgte ein fruchtloser Streit im Brüderclan um die Vorherrschaft in der Horde, sowie das Gefühl von Schuld und Reue, das Freud auf die ursprüngliche Zwiespältigkeit (Ambivalenz) der Gefühlsbeziehung zum Vater zurückführt. Um sich mit dem Vater nachträglich zu versöhnen, sollten die Früchte der Tat (vor allem die nun frei gewordenen Frauen) nicht „genossen“ werden. Zur Bezeichnung dieses Verbots errichteten die

28

Kap. 1: Recht als Mythos: Der Ursprung des Vaterrechts bei Freud

Söhne das Totem als den symbolischen Platzhalter der väterlichen Autorität. Neben das Inzestverbot trat ein Mordverbot, weil das Töten an den Mord am Urvater erinnerte. So entstand eine „erste Form der sozialen Organisation mit Triebverzicht, Anerkennung von gegenseitigen Verpflichtungen, Einsetzung bestimmter, für unverbrüchlich (heilig) erklärter Institutionen, die Anfänge also von Moral und Recht.“3

Das Verbrechen wurde schließlich verdrängt und in ein Schuldgefühl umgeformt, welches die totemistischen Religionen mit allen Formen von Ängsten und Vorsichtsmaßnahmen wie Tabus, Beschränkungen, Enthaltungen, Selbstzüchtigungen, grausamen Opfern etc. prägte. Das wichtigste dieser Tabus sieht Freud in dem Inzestverbot, in welchem er keinen biologischen, sondern einen ausschließlich sozialen Grund sieht: Eine Gesellschaft kann sich nur entwickeln, wenn Beziehungen zwischen verschiedenen Familien geknüpft und gruppeninterne, sexuell motivierte Konflikte verhindert werden. Der sexuelle Austausch wird so zur Grundlage für Kultur und Kommunikation. Obwohl diese von Jean-Baptiste Lamarck geprägte Theorie schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht mehr aktuell war, mutmaßte Freud, dass sich dieser Prozess im Laufe der Menschheitsgeschichte unzählige Male wiederholt habe. So habe sich die Erinerung von Generation zu Generation durch biologische Vererbung übertragen und sich damit in das kulturelle Gedächtnis als archaische Erbschaft eingeprägt. Die beharrliche Annahme einer vererbbaren Erinnerungslinie könnte auch dadurch motiviert gewesen sein, dass Freud so das Feld der Psychoanalyse vom individuellen auf das kollektive Verhalten erweitern konnte.4

B. Der ungeschriebene Text der Thora: Die Wiederholung des Vatermords Freud ging weiter davon aus, dass die Struktur des Vaterrechts in die abendländischen Religionen eingegangen sein musste. In Der Mann Moses und die monotheistische Religion stellte er deshalb eine weitere Hypothese auf, nach der sich der Vatermord aus den Zeiten der Wilden an Moses machtvoll wiederholt hatte. Die Grundkoordinaten sind folgende: Moses war kein Jude, sondern Ägypter und außerdem Anhänger des Ketzerkönigs Echnaton, welcher um 1350 v. Chr. den monotheistischen Kult des Lichtund Sonnengottes Aton aus dem Gedanken des einen, die Welt beherrschenden Pharaos entwickelte und an die Stelle der traditionellen polytheistischen Religion setzte. Als Echnaton starb und seine Nachfolger zu der ursprünglichen Göttermehrheit zurückkehren wollten, widersetzte sich Moses und 3 4

Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Religion, StA IX, S. 530. So Brunner, Psyche und Macht: Freud politisch lesen, S. 217 ff.

B. Der ungeschriebene Text der Thora

29

wanderte mit den im Delta siedelnden „Juden“, denen er die monotheistische Religion weitergab, nach Palästina aus. Freud beschreibt diese Weitergabe mit dem Begriff der Übertragung, womit in der Psychoanalyse ein Prozess beschrieben wird, bei dem der Analysand dem Analytiker Eigenschaften und Vorstellungen beimisst, die sich von früheren Personen in seinem Leben, besonders von den Eltern, herleiten. Hier werden diese auf die Hebräer übertragenen Vorstellungen durch den Stolz des Auserwähltseins und durch die Religion des Urvaters repräsentiert, an die sich die Hoffnung auf Belohnung und Auszeichnung knüpft, welche die versprochene Weltherrschaft bringen sollte.5 Auf Dauer erwiesen sich die Juden aber – parallel zu dem Brüderclan – den harten Anforderungen des abstrakten Monotheismus an ihre Glaubensstärke nicht gewachsen.6 Sie erschlugen Moses und verdrängten das Verbrechen anschließend. Die Intensität des traumatischen Gehalts der Tat sieht Freud darin, dass in ihr das bereits verdrängte Trauma des Vatermords in der Urhorde, das sich im Zustand der latenten Erinnerung befand, wiederbelebt wurde. So werden beide Mythen zu einem historisch-psychologischen Zusammenhang verdichtet. Das Gesetz des toten Vaters ist in seiner monotheistisch-mosaischen Fortsetzung durch die Wiederholung der Tat letztlich nur verstärkt worden. Die Notwendigkeit der Wiederholung sieht Freud darin, dass seit dem Mord an dem Urvater zwar das Gesetz des Vaters im Zeichen des Totemismus fortbestand und über das Mord- und Inzestverbots hinaus zu weiteren Beschränkungen, Selbstzüchtigungen etc. führte; es entwickelte sich jedoch im Zuge einer Vermenschlichung und Vervielfältigung des Totemtiers eine Göttermehrheit, die den Totemismus schließlich ersetzte. So wurde die ursprüngliche Struktur als Religion des Urvaters unkenntlich, obgleich sie als latente Erinnerung erhalten blieb und deswegen durch die Wiederholung aus dem Latenzzustand entbunden werden konnte. Auch hier betont Freud, dass es sich nicht um ein Phantasma, sondern um einen historischen Vorgang handelt, welcher sowohl das monotheistisch fundierte Gesetz als auch ein damit verknüpftes Schuld- und Verantwortungsgefühl begründet oder wesentlich verstärkt hatte. Um der Wirkung der Tat willen wäre dies parallel zu Totem und Tabu sicher nicht nötig gewesen. Die Wirkungsmöglichkeit eines entsprechenden Phantasmas hatte Freud selbst schon im Zusammenhang mit der Erforschung der Hysterie festgestellt, bei der ein tatsächlich nicht stattgefundener Missbrauch in der Kindheit durch 5

Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Religion, StA IX, S. 537. Besonders deutlich dargestellt ist das Leiden am Monotheismus in der Geschichte vom Tanz um das goldene Kalb (2. Mose, 32). Allerdings wird dagegen auch behauptet, dass wenn Moses wirklich ermordet worden wäre, dies auch in der Thora stehen würde (vgl. Yerushalmi, Freuds Moses. Endliches und unendliches Judentum, S. 125). 6

30

Kap. 1: Recht als Mythos: Der Ursprung des Vaterrechts bei Freud

ein entsprechendes Phantasma ersetzt werden konnte. Das kollektive Schuldphantasma hat allerdings auch einen Effekt produziert, der die Juden als erstes Volk der Geschichte dazu brachte, ein Verantwortungsgefühl zu entwickeln und selbstkritisch zu sein, die Schuld also nicht immer auf einen anderen abzuwälzen.7

C. Historische Spekulation und psychologische Wahrheit? Freud beschreibt in seinen Mythen den Ursprung der Zivilisation als Äquivalent zur strukturellen Genese des Subjekts des Unbewussten. In ihrem Ausgangspunkt basieren sowohl die Zivilisation als auch das Subjekt auf der Operation eines Gesetzes, das die Triebbefriedigung um das Symbol des toten Vaters strukturiert und mit strengen Verboten belegt. Die Mythen unterstreichen die gesellschaftliche Dimension der ödipalen Spannungen in den zivilisierten Gesellschaften, deren Ursprung bei Freud – ähnlich wie bei den Naturrechtlern Hobbes und Rousseau – letztlich bis zu dem Punkt zurück geht, an dem die Kultur begann, der menschlichen Natur Grenzen zu setzen. Die traumatische Verknüpfung von Natur und Kultur, welche Freud im Unbewussten der modernen Zivilisationen findet, spaltet die Einheit des Subjekts durch eine Invasion von Symbolen. Dabei formen die parallel laufenden Programme der menschlichen Triebe und ihrer kulturellen Beschränkung Subjekt und Zivilisation in einem Prozess, der von der Individual- zur Kollektivpsyche verläuft. So kommt Freud zu dem Schluss, dass die Grundlage gesellschaftlicher Autorität in der kollektiven Erinnerung einer Schuld liegt, welche die Folge des Mordes an einem tyrannischen Vater und seiner Ersetzung durch Rituale ist und welche Gesellschaften an das Gründungsbild eines abwesenden Vaters fesseln. Die Macht des Gesetzes leitet sich unmittelbar aus dem Mythos des abwesenden Vaters ab, in dessen Namen das Recht gesprochen wird. Es ist bei Freud nicht die Macht des realen Vaters, sondern – wie Lacan unterstreicht – dessen, „was uns die Religion gelehrt hat, den Namen-des-Vaters zu nennen.“ Durch die Ermordung des symbolischen, als Autor des Gesetzes imaginierten Vaters wird eine Instanz geschaffen, durch welche sich das Subjekt auf Lebenszeit an das Gesetz bindet: Der tote Vater.8 Nach dem Mythos entsteht die soziale Ordnung durch eine symbolische Schuld, welche das ergebene Subjekt antreibt, eine Gruppe, Gemeinschaft oder Gesellschaft zu schaffen, die um das Ritual der (Wieder-)Aufführung 7

Vgl. Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Religion, StA IX, S. 512. Lacan, The Function and Field of Speech and Language in Psychoanalysis, in: Écrits: A Selection (Fink), S. 199. 8

C. Historische Spekulation und psychologische Wahrheit?

31

des alles in Gang setzenden Vatermords kreist. Freud braucht den Ödipusmythos, um eine Erklärung für den primären Mechanismus zu finden, mit dem das Subjekt an das Gesetz gebunden wird. Dieser basiert auf der Abkehr von dem dualen Begehren, den Vater zu töten und die Mutter zu heiraten. Freuds Vorstellung, dass das Subjekt das väterliche „Nein“ akzeptiert und so in die symbolische Ordnung des Rechts eintritt, führt zu der Frage, aus welchem Grund das Subjekt auf sein Begehren verzichten, das väterliche Verbot internalisieren und sich so mit der Rolle und dem gesellschaftlichen Bild einer Autorität identifizieren sollte. Dieselbe Frage stellt sich im Hinblick auf die anthropologische Version in Totem und Tabu: Warum erkennen und identifizieren sich die Söhne mit der rituellen (Wieder-)Aufführung des Vatermordes in den vielfältigen eucharistischen Totemzeremonien und totemistischen Mahlzeiten? Freuds Antwort ist, dass sich im Ritus der gemeinsamen Mahlzeit, in dem sich die geteilte Schuld durch die Einverleibung des toten Vaters widerspiegelt, die Knüpfung eines sozialen Bandes vollzieht. In der Moderne findet diese auch durch die Identifikation mit gesellschaftlichen Institutionen statt. Ungeachtet der prähistorischen oder christlichen Varianten dieser Einverleibung entsteht das soziale Band zwischen den Söhnen durch ein Ritual, das ihnen die Identifikation mit der Institution der Gesellschaft erlaubt. Das kannibalische Fest, seine Fortführung in dem eucharistischen Ritus des Essens des Leibes Christi und Trinkens seines Blutes, sowie alle weiteren rituellen Mahlzeiten haben den gemeinsamen Sinn und Zweck, ein soziales Band durch eine identifikatorische Zeremonie zu knüpfen. Die Bilder und Symbole dienen dazu, Subjekte zu vereinen, die ehemals Rivalen waren: „Sie haben sich (. . .) durch die gleiche Liebe zu dem nämlichen Objekt miteinander identifizieren können.“9

Der Mythos suggeriert, dass die legale Ordnung einer Gesellschaft das in Totem und Tabu vorgezeichnete Urdrama, die Vatertötung mit allen weiteren Implikationen, den dieser Akt nach sich ziehen muss, voraussetzt. Der Vater ist die am Ursprung der Kultur liegende, beängstigende und ungewisse Gestalt einer allmächtigen, animalischen Person, die sich jeder weiteren Beschreibung entzieht, und die schließlich von ihren Söhnen getötet wird. Lacan bemerkt hierzu: „Es kommt in der Folge – und das ist eine Formulierung, bei der man sich nicht genug aufhält – zu einer ersten Übereinkunft, die ein wesentliches Moment dieses Gesetzes ist. Freud, und darin besteht seine Kunst, bringt es mit der Vatertötung in Verbindung und identifiziert es mit der Ambivalenz, die hierauf die Verhält9

Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, in: StA IX, S. 112; zu Essensriten und Identifikation im Recht: Goodrich, Law in the Courts of Love: Literature and other minor Jurisprudences, S. 72 ff.

32

Kap. 1: Recht als Mythos: Der Ursprung des Vaterrechts bei Freud

nisse des Sohnes zum Vater gründet, das heißt mit der Wiederkehr der Liebe nach vollendeter Tat.“10

Für die psychoanalytische Interpretation des Rechts sind damit zunächst zwei Aspekte bedeutend: Der erste ist, dass die Verbindung des Subjekts mit gesellschaftlichen Institutionen durch einen symbolischen Prozess der Identifikation mit Bildern bewirkt wird. In der Freudschen Variante ist dies das mythische Urbild des abwesenden oder toten Vaters, mit dem sich die Söhne identifizieren. Der zweite Aspekt ist, dass diese latente Identifikation eine libidinöse, erotische Struktur hat, denn die rivalisierenden Subjekte der prähistorischen Kulisse identifizieren sich mit dem Bild gesellschaftlicher Autorität durch die gleiche Liebe zu einem identischen Objekt des Begehrens. Durch die Interpretation des Symbolischen und der Bilder, welche das Subjekt des Unbewussten an das Gesetz binden, manifestiert sich ein System der subjektiven, erotischen Anbindung. Bei Freud wird durch Identifikation ein positives Band geknüpft, welches die Gemeinschaft nicht nur durch ein gemeinsames Objekt des Begehrens, sondern auch durch den Akt der gemeinsamen Verschuldung, die dieses Begehren in Gang setzt, verbindet. Diesen Akt beschreibt Freuds Mythos als die „Einverleibung des Begehrten“. Der Grund für den Zusammenhalt der Gruppe liegt danach in einem Opferritus, dem Essen des Fleisches und Trinken des Blutes eines Totemtiers, denn hierin liegt ein Verweis auf den Ursprung. Begehren und Affekt motivieren und binden das Subjekt auf individueller und auf sozialer Ebene. Identifikationsbilder verbinden Psyche und Sozius.11 So lässt sich folgern, dass die objektive Ebene der Rechtsbeziehungen von einer emotionalen Substanz, einer latenten Erotik getragen wird. Ziel einer psychoanalytischen Reflexion über das Recht kann es damit sein, die unbewusste Dimension des Rechts durch die Interpretation des verdrängten Begehrens und Beachtung der Symptome und Gestalten, welche die Rückkehr des Subjektiven in das Objektive bezeugen, zu erschließen. Die Mythenschöpfung von der Vatertötung – nach Lacan vielleicht der einzige Mythos, zu dem die Moderne fähig war – fixiert den Ausgangspunkt einer historischen Logik, welche die Prototypen hervorgebracht hat, die aufeinander folgend „Totemtier, der oder jener mehr oder weniger mächtige und eifersüchtige Gott, und schließlich einziger Gott, Gottvater heißen. Der Mythos der Vatertötung ist wohl der Mythos einer Zeit, für die Gott tot ist.“12 10

Lacan, Das Seminar VII: Die Ethik der Psychoanalyse, S. 214 (Rn. 207). Goodrich, Maladies of the Legal Soul, in: 54 Wash./Lee Law Review, S. 1048: Die institutionelle Rolle in professionellen Beziehungen verdeckt nur schwach, dass es sich um eine erotische Bindung handelt, eine narzisstische Liebe zu dem Rivalen, in dem sich das Subjekt selbst erkennt. 12 Lacan, Das Seminar VII: Die Ethik der Psychoanalyse, S. 215 (Rn. 209). 11

C. Historische Spekulation und psychologische Wahrheit?

33

Einer der zentralen Kritikpunkte an Freuds Mythos ist, dass die mit dem Vatermord verbundenen Anfänge der Kultur einer empirisch wissenschaftlichen Überprüfung nicht standhalten. So muss man sich fragen, warum Freud, wenn er das Ziel hatte, die religiösen Mythen auszutreiben oder zumindest seiner Kritik daran Plausibilität zu verleihen, dies ausgerechnet mit einem psychoanalytischen Mythos tat. Gerhard Vinnai sieht in Freuds Mythos die Wiederkehr einer von Freud selbst verdrängten Auseinandersetzung mit politischen Ereignissen, die gleichzeitig eine geheime Revolutionstheorie enthalte. Diese habe mehr mit der französischen Revolution und den ihr nachfolgenden sozialistischen und bürgerlichen Revolutionen zu tun, als mit den Anfängen der Kultur überhaupt. So kommt Vinnai zu dem Schluss, dass eine Parallele zwischen Freuds Ur-Revolution des Brüderclans gegen den Urvater und der französischen Revolution gegen den absolutistischen König im Namen der Brüderlichkeit besteht.13 Mit Vianni kann man sagen, dass Freud (vielleicht unbewusst) den revolutionären Charakter der Rechtsbegründung als programmatisches Element der Menschheitsgeschichte offen gelegt hat, ohne sich dabei in den aktuellen politischen Debatten seiner Zeit verfangen zu müssen. Gerade im Hinblick auf die Sozialwissenschaften wäre es mit Sicherheit verfehlt, die von Freud proklamierte Kausalität der Vaterautorität als universell-abschließendes Prinzip der Gesetzesautorität zu werten. Vinnai weist darauf hin, dass z. B. die Frankfurter Schule mit guten Gründen vertreten hat, dass sich die Machtverhältnisse innerhalb der Familie aus den gesellschaftlichen Machtverhältnissen in Wirtschaft und Staat ableiten und nicht umgekehrt. So setzt sich Freud dem Vorwurf aus, das Gewicht politischer Herrschaftsverhältnisse auf verleugnende Art unterzubewerten.14 Die radikalere Variante dieser Kritik von Deleuze und Guattari geht sogar soweit, die Psychoanalyse selbst als eine Ideologie im Dienste kapitalistisch-bürgerlicher Ausbeutung zu interpretieren, wobei sie sich auch explizit gegen die Lacansche Variante wendet.15 Allerdings gibt es auch bei Max Horkheimer Passagen, die Freuds familiäre Autoritätsanalyse zu einem gewissen Grad stützen, selbst wenn das bürgerliche Autoritätsverhältnis im Ganzen kritisch, nämlich als rationalisierte Unterordnung und Unselbstständigkeit beurteilt wird: „In dieser familialen Situation, die für die Entwicklung des Kindes bestimmend ist, wird bereits die Autoritätsstruktur der Wirklichkeit außerhalb der Familie weitgehend vorweggenommen: die herrschenden Verschiedenheiten der Existenzbedingungen, die das Individuum in der Welt vorfindet, sind einfach hinzuneh13 14 15

Vinnai, Jesus und Ödipus, S. 225 ff., 228. Vinnai, Jesus und Ödipus, S. 230. Deleuze/Guattari, Anti-Ödipus – Kapitalismus und Schizophrenie I, S. 381 ff.

34

Kap. 1: Recht als Mythos: Der Ursprung des Vaterrechts bei Freud

men, es muss unter ihrer Voraussetzung seinen Weg machen und soll nicht daran rütteln. Tatsachen erkennen heißt, sie anerkennen. Von der Natur gesetzte Unterschiede sind von Gott gewollt, und in der bürgerlichen Gesellschaft erscheinen auch Reichtum und Armut als naturgegeben. Indem das Kind in der väterlichen Stärke ein sittliches Verhältnis respektiert und somit das, was es mit seinem Verstand existierend feststellt, mit seinem Herzen lieben lernt, erfährt es die erste Ausbildung für das bürgerliche Autoritätsverhältnis.“16

In jedem Fall ist der für den Analytiker typische individualpsychologische, familiäre Ausgangspunkt fortwährend für Kritik aus einer soziologischen, die Herrschaftsverhältnisse hinterfragenden Perspektive anfällig. Überträgt man Freuds Darstellung der individuellen Entwicklung, in der sich der Sohn mit dem Vater in nachträglichem Gehorsam am Ende von Kindheitskonflikten versöhnt, auf eine gesamtgesellschaftliche Ebene, zeichnet sich ab, dass Freud es offenbar vernachlässigt hat, dass diese Versöhnung – wie Vinnai hervorhebt – gewissermaßen erpresst wird, weil die Macht des Vaters fortbesteht, solange die Familie von ihm abhängig ist. So bleibt der Aspekt, dass sich Herrschaft keineswegs nur aufgrund psychischer Zwangsmechanismen reproduziert, ausgeblendet.17 Fraglich ist allerdings, ob man Vinnai in seiner Freudkritik soweit folgen sollte, dass sich aus Freuds Analyse der Paternität des Rechts auch eine Legitimation von patriarchalischer Herrschaft und Ungleichheit in hierarchisch organisierten Gesellschaften ableiten lasse.18 Zwar trifft die Feststellung zu, dass das „Gesetz der Väter“ bei Freud insofern unausweichlich ist, als es für die Psyche konstitutiv und damit in der Lage ist, gesellschaftliche Ordnungen hervorzubringen, die dann als angemessen verinnerlicht werden. Man würde Freud aber sicherlich missverstehen, wenn man seine anthropologische Hypothese einer konkreten ideologischen – insbesondere autoritär-obrigkeitshörigen – Weltanschauung zuordnet. Folgt man Lacan und Žižek, liegt der tiefere Sinn von Freuds Mythos ganz woanders: Es geht danach nicht darum, konkrete ideologische Aussagen zu treffen oder Systeme zu stützen; vielmehr dient der Mythos dazu, eine Beziehung zur „Norm an sich“, dem sog. „Herrensignifikanten“ zu beschreiben und in den Kontext der Menschheitsgeschichte einzuordnen. Diese – über das Begehren initiierte – Verbindung braucht das Rechtssubjekt, um sich überhaupt innerhalb einer bestimmten – aber ideologisch beliebigen – Zeichenordnung, die Lacan die „symbolische Ordnung“ nennt und welche auch das Rechtssystem einschließt, integrieren zu können. Es handelt sich hierbei gleichwohl um eine auch im Mythos reflektierte „erzwungene Wahl“, deren einzige Alternative 16

Horkheimer, Autorität und Familie, in: Gesammelte Schriften Band 3, S. 390 ff. 17 Vinnai, Jesus und Ödipus, S. 232. 18 Vgl. Vinnai, Jesus und Ödipus, S. 235.

C. Historische Spekulation und psychologische Wahrheit?

35

gerade nicht die liberale Gesellschaft, sondern die Psychose ist; denn jedes Rechtssystem (wie im Übrigen auch die Anarchie) stellt nur eine weitere symbolische Ordnung dar. Die gegen Freud vorgetragene Ideologiekritik verkennt so wohl den auch im Mythos entscheidenden Mechanismus der symbolischen Ordnung, nämlich dass sich eine Vorschrift nur durch eine andere beseitigen lässt.19 Das Totem, das den mythologischen Grundstein der Zeichenordnung bildet, wird so zu dem „erhabenen Objekt der Ideologie“ (Žižek) an sich, ohne dass es – abgesehen vom Inzest- und Mordverbot – für eine konkrete Ordnung steht. Ein paralleles Phänomen aus der neueren Rechtsphilosophie ist die ideologiekritische Rezeption der „Grundnorm“ aus der Reinen Rechtslehre nach Hans Kelsen. Auch wenn Kelsens Erkenntnisziel ein anderes als das von Freud ist, nämlich eine Antwort auf die Frage, wie Legitimität „an sich“, d.h. frei von psychosozialen Kontexten, produziert werden kann, sehen sich sowohl Kelsen als auch Freud dem Vorwurf ausgesetzt, Wegbereiter (auch) autoritärer Systeme gewesen zu sein. Kelsen geht hierauf selbst ein: „Aber nicht minder häufig kann man hören: Die Reine Rechtslehre sei gar nicht imstande, ihre methodische Grundforderung zu erfüllen und sei selbst nur der Ausdruck einer bestimmten politischen Werthaltung. Aber welcher? Faschisten erklären sie für demokratischen Liberalismus, liberale oder sozialistische Demokraten halten sie für einen Schrittmacher des Faschismus. Von kommunistischer Seite wird sie als Ideologie eines kapitalistischen Etatismus, von nationalistisch-kapitalistischer Seite bald als krasser Bolschewismus, bald als versteckter Anarchismus disqualifiziert (. . .) Kurz, es gibt überhaupt keine politische Richtung, deren man die Reine Rechtslehre noch nicht verdächtigt hätte. Aber das gerade beweist besser, als sie es selbst könnte: ihre Reinheit.“20

Dass weder die Reine Rechtslehre noch der Ursprungsmythos von der Vatertötung eine autoritäre ideologische Richtung beschwören, ist eine Position, die sich seit Anbruch der Postmoderne und der aus ihr hervorgegangenen, von dominanten Ideologiegebäuden weniger abhängigen liberal-bürgerlichen Gesellschaft, anders als noch bis in die späte Nachkriegszeit hinein, sehr viel leichter vertreten lässt, aber auch Zustimmung verdient: Auf die Gefahr hin, Kelsen zu verkürzen, geht es ihm wie Freud letztlich darum, die Notwendigkeit der Bestimmung eines Ursprungs der Autorität zu unterstreichen, zu dem sich die Gesetze einer Rechtsordnung – bei Freud und Lacan sind es die Subjekte – in eine Beziehung setzen können, welche Kohärenz vermittelt: „Die vorausgesetzte Grundnorm (beinhaltet) nichts anderes (. . .) als die Einsetzung eines normerzeugenden Tatbestandes, die Ermächtigung einer normsetzenden Autorität oder – was dasselbe bedeutet – eine Regel, die bestimmt, wie die 19 20

Vgl. Butler, Žižek zur Einführung, S. 48 ff. (50). Kelsen, Reine Rechtslehre, Vorwort, S. V.

36

Kap. 1: Recht als Mythos: Der Ursprung des Vaterrechts bei Freud

generellen und individuellen Normen der auf dieser Grundnorm beruhenden Ordnung erzeugt werden sollen.“21

Es erscheint so nicht fern liegend, dass die ideologische Kritik an Freud und Kelsen parallel aus dem grundsätzlichen Misstrauen gegenüber Versuchen herrührt, das Phänomen der Gesetzeskraft und Legalität ideologiefrei zu beschreiben. Ob dieses Misstrauen berechtigt ist, soll hier nicht weiter beurteilt werden. José Brunner weist auf eine andere, oben kurz angedeutete Parallele zur Rechtsphilosophie hin: Diese liegt in der Hypothese, dass der bürgerlichen Gesellschaft ein archaischer Naturzustand vorausging, den auch Hobbes mit dem „Krieg aller gegen alle“ oder Rousseau im Gesellschaftsvertrag beschreiben. Den Theoretikern des Gesellschaftsvertrages diente der Naturzustand dazu, die strukturelle Vorrangigkeit solcher Aspekte und den Sinn und Zweck des Staates zu beleuchten. Die von Freud entwickelte Hypothese eines Urstadiums der Gesellschaft, das der politischen Autorität und dem Recht, wie wir es kennen, vorausgegangen sei, unterscheidet sich dadurch vom Leviathan oder Gesellschaftsvertrag, dass dieser Naturzustand schon die Charakteristika eines absolutistischen Regimes, d.h. Zwang, Gewalt und Abhängigkeit von einem Herrscher, enthält.22 Insbesondere ist es kein Akt der Vernunft, der die zu einem sozialen Dasein notwendige Beschränkung herbeiführt. Vielmehr ist es der ödipale Hass, welcher zunächst zum Vatermord und – wegen der Ambivalenz in der Vaterbeziehung – zur Liebe und Reue innerhalb des Brüderclans führt. Der Vertrag, den die Söhne nach der Errichtung des Totems schließen, ist also nicht so sehr durch die Notwendigkeit einer von willkürlicher Gewalt befreiten Gesellschaft zum Wohle aller geprägt, sondern basiert auf der symbolischen Wiederherstellung der Vaterautorität durch posthumen Gehorsam. Man kann sagen, dass der Vertrag damit eigentlich nicht zwischen den Mitgliedern des Clans, sondern mit dem toten Vater geschlossen wurde.23 In der Gegenüberstellung zu den Vertragstheorien mag man – wie aktuell Brunner – eine „autoritäre Neigung in der Darstellung der Sozialbeziehungen“ erkennen, und vielleicht sogar ein Menschenbild, nach dem das Subjekt von einem „angeborenen und unausrottbaren Verlangen nach Gehorsam getrieben wird“. Brunner geht allerdings soweit zu behaupten, dass es die „ideologische Funktion“ des Lamarckismus sei, die „Furcht vor Autoritätsfiguren als irrationale Reminiszenz aus Urhordenzeiten“ abzutun.24 Bei aller Problematik, die Freuds Mythenschöpfung vielleicht ge21 22 23

Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 199. Brunner, Psyche und Macht: Freud politisch lesen, S. 212. Brunner, Psyche und Macht: Freud politisch lesen, S. 216.

C. Historische Spekulation und psychologische Wahrheit?

37

rade auch aus einer politischen Perspektive enthält, sollte man nicht vergessen, dass er Zwänge in der Gesellschaft und der Religion offen gelegt hat, die das Subjekt an seiner freien Entfaltung hindern. Brunner scheint zu ignorieren, dass Freuds Grundanliegen innerhalb der Entwicklung der Psychoanalyse in erster Linie darin bestand, seine Analysanden von psychischen Zwängen, wie sie z. B. durch das Über-Ich entstehen können, zu befreien. Dass Freud in seinem Menschenbild von seiner in vieler Hinsicht autoritätshörigen Zeit, von der K.u.K.-Monarchie bis in den Nationalsozialismus, beeinflusst gewesen sein mag, ist möglich; für eine ideologische Absicht – wie Brunner sie unterstellt – bietet allerdings selbst eine isolierte Betrachtung von Totem und Tabu keine Stütze. Freuds Mythos ist kein ideologisches Leitbild, sondern das genaue Gegenteil: die metaphorische Repräsentation einer materiellen Wahrheit in Form einer pathologischen Über-Ich Fixierung in der Psyche der Zivilgesellschaften, in der das Subjekt gefangen ist. Brunners Analyse des Vatermordsmythos leidet an ihrem eigenen Psychologismus, auch wenn sie sicherlich eine interessante und bedenkenswerte Verknüpfung zu biographischen Aspekten Freuds herstellt; die ideologische Deutung verfällt trotzdem einem methodologischen Reduktionismus und nimmt damit die theoretische Intention des Autors nicht ernst genug. Freuds Werke sprechen aber, auch wenn sie genügend Raum für Kritik und Aktualisierung lassen, von selbst für ihn; denn es sind die Signifikanten, der Text selbst, der das Begehren des Autors trägt. Die im Unbewussten verankerten Kindheitsphantasmen, Erlebnisse und ihre Symptome hinterlassen nur am Rande ihre Spuren, sie erklären aber gerade nicht – wie Lipowatz unterstreicht – die Sublimierungsleistungen.25 Was Brunner letztlich entgeht, ist die Tatsache, dass der „Sündernfall“ nicht in der psychologischen Beschreibung einer pathologischen Struktur liegt, sondern in dem Verzicht des Subjekts auf seine radikale ethische Autonomie als Preis für die Zuflucht zu einem heteronomen Gesetz, welches als von außen auferlegt erfahren wird. Die symbolische Ordnung, deren Gründung Totem und Tabu metaphorisch beschreibt, ist eine ideologisch indifferente Form, deren repressiver Charakter ihrer konkreten Ausgestaltung vorgängig ist. Nach Derrida markiert Freuds Mythos – unabhängig von seinem zweifelhaften historischen Tatsachengehalt – einen unsichtbaren Riss in der Geschichte.26 Auch wenn eigentlich nichts Neues passiert ist, hat dieses „Nichts“ die beiden fundamentalen Verbote des Totemismus mit allen weiteren Implikationen hervorgebracht. Die Struktur der Erzählung ist so ange24 25 26

Brunner, Psyche und Macht: Freud politisch lesen, S. 219. Lipowatz, Der „Fortschritt in der Geistigkeit“ und der „Tod Gottes“, S. 9. Derrida, Before the Law, in: Acts of Literature, S. 199.

38

Kap. 1: Recht als Mythos: Der Ursprung des Vaterrechts bei Freud

legt, dass man weder gezwungen ist, an ihre Historizität zu glauben, noch sie zu bezweifeln. Es handelt sich um ein „Simulacrum der Geschichte“, dessen Ursprung im Imaginären liegt. Erkennt man in dem Gesetz einen mystischen Grund, verwundert es nicht, dass die Erzählung von diesem Grund ebenfalls mystisch ist, mit Derrida: „Die unmögliche Erzählung wird die Erzählung des Unmöglichen; die Erzählung des Verbotenen ist eine verbotene Erzählung.“27

In dieselbe Richtung geht Jan Assmann, der hervorhebt, dass Freud die Mythen vom Moses- und Vatermord brauchte, um die traumatische Gewalt erklären zu können, die den Monotheismus – und damit das Gesetz des Vaters – kennzeichnet.28 Seine Schlussfolgerung ist, dass der Mythos auch ein reales Element enthält, nämlich das der psychischen Realität des Traumas, was von umso größerer Bedeutung ist. Anders als Brunner konzentrieren sich Assmann und Derrida – und das ist bei der Freudinterpretation sicher nicht ganz fern liegend – auf die seelischen Tatsachen, d.h. das Trauma als Ursprung der Entstehung des Gesetzes. Im Unterschied zu den politischen und historischen Lesarten siedeln sie den Mythos nicht etwa „unterhalb“ der Geschichte, als unbewiesenes „Weniger“, sondern – als ihr eigentlicher Initiator – über ihr an, weil der Mythos – wenn man dem Phänomen der Paternität des Rechts einen empirischen, wahren Gehalt zuerkennt – durch die Geschichte der Menschheit fortwirkt. Wenn man sich vom Wortlaut des Ursprungsmythos löst und sich damit die Möglichkeit eröffnet, den Lamarckismus nicht biologisch, sondern metaphorisch zu deuten, beschreibt der Mythos eine unbewusste Sphäre, in der die Unterscheidung von Real/Irreal im Sinne geschichtlicher Faktizität nicht existiert. Trotz der problematischen anthropologisch-historischen Fiktion und dem naturwissenschaftlich überholten Lamarckismus kann man Freuds Mythos heute als Offenlegung eines verdrängten Täter-Traumas aus einem imaginären Vatermord werten. Hierzu war die tatsächliche Ausführung, d.h. ein juristisch beschreibbarer Sachverhalt im Grunde überflüssig, denn die historische Wahrheit liegt, wie Assmann unterstreicht, in der „psychischen Resonanz“ des Ereignisses, wofür aber schon der Tatentschluss als solcher – der sich in der ödipalen Formel unauslöschlich in die Psyche eingeschrieben hat – ausreichend ist.29 Bemüht man sich um ein Verständnis von Freuds spekulativer Vorgehensweise bei seiner Beschreibung eines der zentralen kulturellen Phänomene, ist es vielleicht hilfreich, einen zentralen Aspekt in Freuds persönlicher Dialektik zu beleuchten, wie dies Pohlen und Bautz-Holzherr getan haben: Danach hat Freud eine 27 28 29

Derrida, Before the Law, in: Acts of Literature, S. 200. Assmann, Religion und kulturelles Gedächtnis, S. 65. Assmann, Religion und kulturelles Gedächtnis, S. 66.

C. Historische Spekulation und psychologische Wahrheit?

39

„Geschichte des Menschen geschrieben, die eine Theorie der menschlichen Natur ist, einer Natur, die als Urnatur erscheint, einer Geschichte, die als Urgeschichte gefasst ist: Aus dem Familiendrama der ödipalen Inszenierung erschloss sich für Freud die Gestalt vom Urvatermord und Inzestbegehren, aus der Verdrängung erschloss sich die Urverdrängung, aus den Phantasien die Urphantasien, aus den Trieben die Urtriebe, aus den empirischen Objekten die Primärobjekte.“30

Vor dem Hintergrund, dass Freud in vieler Hinsicht Pionierarbeit geleistet hat, um ein neues Menschenbild in einer kohärenten Theorie beschreiben zu können, war es für ihn notwendig, die von ihm erkannten Phänomene insgesamt auf einen Ursprung zurück zu führen. So kam ihm die Theorie der archaischen Erbschaft gelegen, um die Kluft zwischen Individual- und Massenpsychologie zu überbrücken. Damit ist es ihm vielleicht gelungen, die bürgerliche Ideologie des autonomen Ichs zu transzendieren.31 Es hat deswegen für das Erkenntnisziel der theoretischen Psychoanalyse und einer psychoanalytischen Rechtstheorie wenig Sinn, Freuds über-historischen Aussagen anhand der mangelnden archäologischen Fundierung seines Mythos widerlegen zu wollen. Auch wenn sich ein entsprechender Vatermord nicht belegen lässt, sondern nur die „nachträgliche Wirkung eines mehrere Ereignisse vereinigenden Phantasmas“, ist zu berücksichtigen, dass es in der psychischen Realität des Unbewussten keine Möglichkeit der Abgrenzung zwischen Ereignissen/Taten und Phantasmen/Worten gibt.32 Ob man Freud in die Reihe der modernen Rechtstheoretiker aufnehmen sollte, bleibt trotzdem fraglich, und zwar insbesondere vor dem Hintergrund, dass für ihn das Gesetz letztlich nichts anderes ist, als das Verbot und nicht etwa das Verbot nur eine Form des Gesetzes. Das Verbot erfolgt zunächst durch den realen Vater der Urhorde, der den Söhnen mit Kastration droht, falls sie das Verbot verletzen sollten. Nach der Ermordung des Vaters wird das Verbot in der psychischen Instanz des Über-Ichs verinnerlicht. Das Gesetz nimmt nun für die Söhne, programmatisch für die Rechtssubjekte späterer Gesellschaften, einen ihnen vollständig innerlich erscheinenden Wert an. Freud hat, wohl auch aus der Erkenntnis einer gewissen Notwendigkeit empirischer Untermauerung heraus, einen äußeren Ursprung des Gesetzes ausgewiesen. Damit widerspricht er im Übrigen der Behauptung, das Über-Ich wäre eine universale und unüberwindliche Struktur des menschlichen Daseins – unabhängig von psychologischen oder historischen Umständen.33 Gleichwohl erlangt der Mythos auch in Bezug auf die Inter30 Pohlen/Bautz-Holzherr, Eine andere Aufklärung: Das Freudsche Subjekt in der Analyse, S. 176. 31 Pohlen/Bautz-Holzherr, Eine andere Aufklärung: Das Freudsche Subjekt in der Analyse, S. 186. 32 Lipowatz, Der „Fortschritt in der Geistigkeit“ und der „Tod Gottes“, S. 12. 33 Juranville, Lacan und die Philosophie, S. 259.

40

Kap. 1: Recht als Mythos: Der Ursprung des Vaterrechts bei Freud

nalisierung des Gesetzes erst durch die Loslösung von der historischen Hypothese aktuelle Bedeutung.34 Die Schwierigkeit bei der rechtstheoretischen Einordnung von Totem und Tabu besteht wohl letztlich darin, dass Freud sich hier aus der Analyse intrapsychischer Phänomene heraus auch auf das Feld der spekulativen Anthropologie und der historischen Genealogie von Legalität begibt. Damit provoziert er interpretatorische Schlüsse, die ein modernes und aufgeklärtes Rechtsverständnis, das sich von Mythen ebenso wie von historischen Spekulationen jeder Art zu befreien sucht, herausfordern. Freuds Thesen wären sicherlich leichter in aktuelle rechts- oder kulturtheoretische Diskurse integrierbar, wenn er – wie Kelsen in der 2. Auflage der Reinen Rechtslehre in Bezug auf die Grundnorm – terminologisch von der „Hypothese“ zur „Fiktion“ übergegangen wäre. Der Mythos vom Vatermord ist für die Entwicklung einer psychoanalytischen Rechtstheorie, welche beschreiben will, wie Gesetzesautorität in psychischen Strukturen reflektiert wird, trotz der aufgezeigten Problematik von Bedeutung. Allerdings steht man mit Freuds Hypothese der traumatischmystischen Gewalt des Gesetzes erst ganz am Anfang dieses Projekts, da die aus dem Mythos deduzierbaren Aussagen nur eine Grundtendenz vorgeben. Gesetzesautorität als psychisches Phänomen kann nur dann adäquat beschrieben werden, wenn man den Begriff des Subjekts des Unbewussten diesbezüglich viel weiter ausdifferenziert, als Freud dies in Totem und Tabu getan hat, was allerdings auch mit Hilfe und auf der Grundlage anderer Schriften und Theorien Freuds möglich ist.

D. Freuds Privilegierung des Maskulinen und feministische Kritik Sowohl die gesellschaftsbezogene Interpretation des Ödipusmythos, als auch das Gesetz des Vaters in Totem und Tabu enthalten eine vollständig maskuline Version von Gesellschaft und Gesetz. Analog zur christlichen Tradition wird die Vater-Sohn-Beziehung privilegiert. Koschorke unterstreicht deshalb, dass sich der Ödipuskomplex auf eine Rivalitätsbeziehung zwischen Vater und Sohn reduziert, die die Mutter zum Verschwinden bringt.35 Hierin liegt keine Zwangsläufigkeit. Um dies hervorzuheben, schlägt die feministi34 Eine umfassende Darstellung der historischen Ausfüllung von Gewissensvorstellungen bieten Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens, (auch mit Bezug zur Psychoanalyse), S. 383 ff. und Hahn, Identität und Selbstthematisierung, in: Hahn/Kapp, Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis, S. 9 ff. 35 Koschorke, Die Figur des Dritten bei Freud und Girard, in: Kraß/Tischel, Bündnis und Begehren. Ein Symposium über die Liebe, S. 23 ff.

D. Freuds Privilegierung des Maskulinen und feministische Kritik

41

sche Gegenposition konsequent die Privilegierung der Mutter-Tochter-Beziehung oder auch eine Neuinterpretation des Ödipusmythos vor, die sich teilweise auf das feminine Bild der Sphinx konzentriert.36 Allerdings greift die feministische Kritik in ihrer fundierten Variante nicht den gesellschaftstheoretischen Erkenntniswert von Freuds akkurater Darstellung patriarchalischer Strukturen und seiner väterlichen Verbildlichung von Autorität an. Der Bote sollte nicht um der Botschaft willen erschossen werden. Vielmehr kann man hier erkennen, dass Freuds Entschleierung patriarchalischer Strukturen im Unbewussten und insbesondere seine gesellschaftliche Dimensionierung der Psyche und Politisierung des Privaten ein Feld eröffneten, das später von der feministischen Gesellschaftstheorie eingenommen und umgeschrieben wurde. So wird auch die Möglichkeit erwogen, die „Vielfalt und Inklusivität prä-ödipaler Identifizierungen, gemäß derer z. B. auch die Identifizierung mit dem einen Elternteil die Liebe zum andern nicht ausschließe, post-ödipal zu reaktivieren“. Die post-ödipale Wiederherstellung der allumfassenden Position macht es auch möglich, verschiedene geschlechterspezifische Positionen mit derselben Erzählung auszudrücken, ohne die Psyche zu gefährden, d.h., sie gestatte eine Art Vielfalt in Bezug auf das Geschlecht.37 Die ödipale Konditionierung der Psyche als Ursprung der Autoritätsbindung ist danach nicht notwendig an eine identifikatorische Liebe zum Vater, sondern vielmehr an einen Moment der Differenz geknüpft. Der Ödipuskomplex eröffnet ein Verständnis vom Begehren, welches nicht auf einer auf das Objekt fixierten Bedürfnisbefriedigung basiert, sondern auf einer an die Phantasie und an das Zeichen gebundenen Wunscherfüllung.38 Die feministische Kritik an Freuds Vaterrechtsthese stellt damit nicht die Bedeutung der unbewussten Verbildlichungen von Autorität in Frage. Sie zieht eher in Zweifel, ob eine im Wesentlichen maskuline Metapher von Legalität zwangsläufig, wünschens- oder erstrebenswert ist. Sie richtet sich damit nicht gegen die psychoanalytische Methode der Zentrierung des Unbewussten und seiner Interpretation an sich, sondern gegen die spezifisch maskuline Interpretation der Institution des Rechts im aktuellen gesellschaftlichen Kontext.39 Mit Lacans Theorie der „sexuation“ entschärft sich das Spannungsfeld, welches sich aus feministischer Perspektive in Bezug auf Freuds Privilegie36 Vgl. Luce Irigaray, Thinking the Difference, S. 89–112; Christiane Olivier, Jocasta’s Children: The Imprint of the Mother; J.C. Smith/Carla Ferstman, The Castration of Oedipus: Feminism, Psychoanalysis, and the Will to Power. 37 Benjamin, Der Schatten des Anderen. Intersubjektivität, Gender, Psychoanalyse, S. 82 ff./95 ff. 38 Engel, Szenarien des Begehrens, Juridikum 4, S. 213. 39 Vgl. Goodrich, Maladies of the Legal Soul, in: 54 Wash./Lee Law Review, S. 1046 ff.

42

Kap. 1: Recht als Mythos: Der Ursprung des Vaterrechts bei Freud

rung der Vater-Sohn-Beziehung auftut: Die weibliche Entwicklung zum Subjekt in der ödipalen Phase wird als eigene (und gleichbedeutende) Version mit eigenen Implikationen beschrieben. Zu diesen gehört z. B. auch, dass die weibliche Variante gegenüber der männlichen einen Autonomiegewinn im Hinblick auf die Herrschaftssignifikanten der legalen Ordnung produzieren kann.40

40

Vgl. Kapitel 3 C. V. 3. (Die Logik der Sexuierung). Lacan konnte schließlich auch die bei Freud bekanntlich offen gebliebene Frage: „Was will das Weib?“ beantworten – Einen Herrscher den sie beherrschen kann.

Kapitel 2

Legendre und der institutionelle Vater im Rechtsstaat Pierre Legendre ist hier schon deswegen unumgänglich, weil er seit den 1970er Jahren kontinuierlich an einem geschlossenen Konzept gearbeitet hat, das als eine Form der psychoanalytischen Rechtstheorie bezeichnet werden kann. Legendre ist bislang wohl der einzige Theoretiker, der den Versuch unternommen hat, die Grundlagen der westlichen Rechtssysteme unter Hinzuziehung psychoanalytischer Techniken in einem geschlossenen Theoriegebäude zu beschreiben. Sein Umgang mit Freud und insbesondere Lacan ist dabei so frei, wie in dem Zitat Kirchhoffs zu Beginn der Einleitung vorgeschlagen: Er bedient sich einiger Konzepte, ohne dabei um eine umfassende Würdigung des Gesamtwerks bemüht zu sein. Respekt verdient sein Werk schon deswegen, weil es in seiner Methodenwahl interdisziplinär und kreativ ist: Für die Theorie Legendres sind gleichermaßen rechtshistorische und psychoanalytische Aspekte von Bedeutung. Für letztere ist eine detailorientierte Betrachtung Lacans allerdings nicht zwingend notwendig und in gewisser Weise vielleicht auch insofern hinderlich, als sie den Blick von dem ablenkt, worum es Legendre eigentlich geht. Weil Legendre nicht nur vor einem psychoanalytischen, sondern auch vor einem stark rechtshistorisch geprägten Hintergrund argumentiert, handelt es sich essenziell nicht um eine psychoanalytische Rechtstheorie im engeren Sinne, sondern um eine psychoanalytisch getriebene Form der historischen Analyse des Rechts. Aus diesem Grund und weil Legendre im Rahmen dieser Arbeit in erster Linie als bereits bestehendes Exempel einer psychoanalytisch beeinflussten Reflexion über das Recht lediglich kritisch dargestellt werden soll, erfolgt die Behandlung seiner Thesen im Aufbau vor der Erläuterung der für den Entwurf einer psychoanalytischen Rechtstheorie relevanten Konzepte Lacans. An den (wenigen) Stellen, wo die Darstellung Legendres unmittelbar auf Lacan Bezug nimmt, wird nach unten verwiesen. Allerdings ist Legendre wohl mit einem gewissen intuitiven Gespür für die Begriffe der Psychoanalyse, aber in jedem Fall ohne vertiefte Kenntnisse Lacans zugänglich. Zwar greift er auf das Vokabular Lacans zurück, setzt es aber so ein, dass sich der Sinn seiner Thesen auch ohne den spezifischen – und deutlich komplexeren – Hintergrund Lacans verstehen lässt.

44

Kap. 2: Legendre und der institutionelle Vater im Rechtsstaat

Wie Freud geht auch Legendre davon aus, dass der Vater auf einer unbewussten Ebene eine spezifische – dominante – Funktion einnimmt. Diese bezeichnet er als konstitutiv für das Verhältnis des Subjekts zum Staat und seinen Institutionen, den Behörden und Ministerien und damit schließlich auch zum Gesetz. In der Abhandlung Das Verbrechen des Gefreiten Lortie formuliert Legendre diese These an dem historischen Fall Denis Lorties exemplarisch aus. Um die Dominanz des Vaterbildes in der (unbewussten) Beziehung des Subjekts zum Rechtsstaat zu untermauern, bezieht sich Legendre auf die Einschreibung von Lacans Metapher des Namens-des-Vaters in das Unbewusste1 als systemkonstituierenden Faktor. Man kann zwei grundlegende Aspekte in Legendres Werk ausmachen: Erstens bezieht er sich auf psychoanalytische Kategorien, wie neben dem Namen-des-Vaters etwa auf die narzisstische Verhaftung des Egos im Imaginären, d.h. den Phantasmen, in denen das Subjekt seinem Dasein eine exponierte Stellung gibt; zweitens bringt er diese mit juristischen Schlüsselkonzepten der abendländischen Rechtstradition – namentlich der Dogmatik und Kasuistik – in Verbindung. Indem Legendre die „symbolische Funktion“ des Rechts, der Rechtsinstitutionen und des Rechtsdiskurses anhand der Methode und Ethik der Psychoanalyse beschreibt, entsteht ein in sich schlüssiges Bild der Wechselbeziehung von Rechtstheorie und Psychoanalyse. Diese liegt für ihn in dem unbewussten Mechanismus der kontinuierlichen Reproduktion gesellschaftlicher Ordnungen, mit dem das Recht, d.h. der Rechtsstaat durch die Errichtung von Rechtsinstitutionen und den Erlass von Gesetzen, das Subjekt an sich bindet. So ist Legendres Werk von einem Satz geprägt, in dem sich der jeweilige Gegenstand von Rechtstheorie und Psychoanalyse vereinigt: Recht ist eine Funktion im Unbewussten. Entscheidend ist hier, dass Recht nicht nur eine externe Komponente hat, wie etwa die Rechtsprechung der Gerichte, sondern auch eine interne, psychische, die über den Vater vermittelt wird und deren individuelle Entwicklung entscheidend vom Vater (oder der jeweils präsenten Vaterfigur) geprägt wird. Zur Bestimmung des Ursprungs dieses psychischen Prozesses, der gleichzeitig den Beginn der Geschichte der gegenwärtigen Rechtsinstitutionen markiert, knüpft Legendre an Freuds Mythen-Theorie Totem und Tabu und Der Mann Moses und die monotheistische Religion von der kulturellen Vererbung des Gesetzes durch Sprache an: „Eine Reflexion über Recht und Psychoanalyse stößt unausweichlich auf ein beständiges Problem: Die Beziehung von Subjekt und Sprache. Diese kann nur über die institutionalisierte Wirkungsweise der Sprache im gesamtkulturellen Kontext 1

Vgl. Kapitel 3 B. III. (Das Rechtszeichen in der symbolischen Ordnung).

Kap. 2: Legendre und der institutionelle Vater im Rechtsstaat

45

verstanden werden. Was Freud mit den Begrifflichkeiten in Totem und Tabu nachzeichnet, ist der textuelle Horizont der juristischen Montage.“2

Die unbewussten Prozesse, welche durch den Vater geformt werden, und die westliche Rechtstradition des Ableitens und Schließens teilen damit denselben, schwer fassbaren Ursprung, der sich in einer gemeinsamen – sprachbasierten – Struktur fortsetzt und so die Möglichkeit der parallelen Interpretation innerhalb derselben institutionellen Bedeutungsordnung, welcher beide angehören, eröffnet.3 Legendre formuliert eine Schnittstelle von Psychoanalyse und Recht, welche in der symbolischen Funktion des Vaters liegt. Durch sie wird das unbewusste Begehren des Subjekts aus seiner diffusen Orientierung heraus in rechtlich institutionalisierte Bahnen geleitet. Nach Legendre kann das Subjekt nur durch eine Verknüpfung der drei Elemente, welche die Psychoanalyse als die Essentialia des Menschlichen beschreibt – das Gesellschaftliche, das Biologische und das Unbewusste – geschaffen werden. Die normative Funktion des Rechts sei es, diese Verknüpfung herzustellen. Der tiefere Grund für die staatlichen Rechtsinstitutionen liege also darin, die Einheit des Subjekts und die damit einhergehende Reproduktion des Menschlichen zu vollziehen.4 Zur Beschreibung dieses Prozesses benutzt Legendre das Bild vom atomaren Band, durch welches dem Subjekt die normative Logik des Verbots vermittelt wird.5 Die Bedingungen dafür schaffe die Gesellschaft, die in ihrer Essenz eine Funktionseinheit zur Schaffung des Subjekts über das Recht darstelle. Die Gesellschaft müsse so in ihrer Funktion als Register zur Entfaltung des atomaren Bands des Rechts verstanden werden, das dazu dient, dem Subjekt die inhaltlich nicht spezifizierte Logik der autoritären Beschränkung seiner Handlungsmöglichkeiten zu vermitteln.6 Dies geschieht laut Legendre über die Repräsentation des Ursprungs des Rechts, der Institutionalisierung des „Warum?“, welche notwendig von der Durchsetzung des Verbots begleitet werde.7 Ausgefüllt werde diese Funktion von den Institutionen und Texten des Rechts, die dem Subjekt so einen Bezug zu dem Heiligtum, Tabu und Verbot, und damit Kohärenz, Lebensraum und normativen Halt vermitteln. So kommt Legendre zu dem Schluss, dass das Recht die Ursprungsfrage in dem einzig möglichen Weg, nämlich im Mythos, beantwortet, den die Rechtsinstitutionen verkünden und inszenieren.8 2 3 4 5 6 7 8

Legendre, The Other Dimension of Law, in: 16 Cardozo Law Review, S. 945. Goodrich, Law and the Unconscious: A Legendre Reader, S. 35. Legendre, The Lost Temporality of Law, in: 1 Law/Critique (1), S. 12. Legendre, The Other Dimension of Law, in: 16 Cardozo Law Review, S. 954. Legendre, The Other Dimension of Law, in: 16 Cardozo Law Review, S. 947. Legendre, The Lost Temporality of Law, in: 1 Law/Critique (1), S. 11. Legendre, Communication Dogmatique, S. 37.

46

Kap. 2: Legendre und der institutionelle Vater im Rechtsstaat

A. Das Verbrechen des Gefreiten Lortie Legendre zeigt anhand des Lortie-Falls, wie das „Delirium“ eines verdrängten ödipalen Kindheitstraumas die Psyche und die Handlungen eines Erwachsenen bestimmen kann: Am Freitag, den 4. Mai 1984, während er den Premierminister Quebecs, René Lévesque, eine Ansprache im Fernsehen halten sah, formte sich in dem sehr verstörten Gefreiten der kanadischen Armee Denis Lortie die Idee, die Regierung von Quebec zu massakrieren. Später begründet er diesen ersten Impuls damit, dass die regierende Parti Québécois „der französischen Sprache geschadet hätte“. Er würde deshalb „etwas zerstören, was die französische Sprache zerstören wollte“. Den Wunsch nach der Rettung der Sprache durch das Töten der Regierung formulierte Lortie vielfältig: „Ich werde etwas Schaden anrichten, um etwas Gutes zu tun“.9 Etwas früher, Ende April, hatte Lortie einen Urlaubsantrag in seiner Kaserne in Ottawa eingereicht. Unter dem Vorwand, seine Frau besuchen zu wollen, um ein „Scheidungsproblem zu regeln“, hatte er versucht, drei Urlaubstage bei seinem unmittelbaren Vorgesetzten, Sergeant Chénier, auszuhandeln. Sein Antrag wurde abgelehnt und Lortie gestand später ein, dass dabei etwas Seltsames passiert war: Er hatte das Gesicht seines Vaters in Sergeant Chénier gesehen. Lortie war jedenfalls ein Urlaubstag gewährt worden: Montag, der 7. Mai. Am Samstag, dem 5. Mai, führte er eine Inventur seines Ausrüstungsarsenals in der Kaserne durch und entnahm seine komplette Montur. Am Sonntag, dem 6. Mai, fuhr er nach Quebec, mietete sich in ein Motel ein und inspizierte die Zitadelle auf der Suche nach einem Ort zum töten und getötet werden. Am Montag besuchte er das Gebäude der Nationalversammlung mit einer Touristengruppe und kaufte dann ein Diktaphon mit drei Kassetten. Anschließend nahm Lortie drei separate Nachrichten auf, in denen er seiner Frau, dem Militärkaplan und einem Radiomoderator seinen mörderischen Plan sowie seinen eigenen unmittelbar anschließenden Tod ankündigte. Am Morgen des 8. Mai 1984, von dem Lortie sagte, dass „ich innerlich wusste, dass er der Tiefpunkt meines Lebens, mein Todestag sein würde“,10 zog Lortie seine komplette Uniform und Ausrüstung an, einschließlich seines Revolvers und seines Maschinengewehrs. In tadellosem Aufzug und polierten Schuhen, gestärkter Uniform und in Besitz seines Ausweises verließ er das Motel auf dem Weg zur Schlacht. Er verschickte eine Kassette mit der Post an seine Frau, fuhr zu dem Radiosender und gab die Kassette ab. Als nächstes fuhr er in die Nähe der Zitadelle und wartete im Auto auf den Moment, an dem seine Kassette im Radio gespielt würde. Die Unterbrechung des regulären Radioprogramms sollte das Signal seines Angriffs sein. Diese blieb allerdings aus, woraufhin Lortie in Panik sein Auto verließ. Zunächst gab er einige Schüsse auf den Eingang der Zitadelle ab und lief dann auf das Gebäude der Nationalversammlung zu, welches direkt nebenan lag. Lortie betrat die Nationalversammlung durch einen Seiteneingang. Zuerst zerstörte er ein rotes Notruftelefon, welches zu internen Sicherheitszwecken diente, und feuerte dann auf die Rezeptionistin, ihr zuschreiend, dass sie unverzüglich gehen solle. 9 10

Legendre, Le crime du corporal Lortie: Traité sur le père, S. 95. Legendre, Le crime du corporal Lortie: Traité sur le père, S. 89.

A. Das Verbrechen des Gefreiten Lortie

47

Dann stürzte Lortie die Korridore der Nationalversammlung hinunter, auf jeden schießend, der seinen Weg kreuzte. Nachdem er drei Menschen getötet und acht verletzt hatte, kam er schließlich bei der Abgeordnetenkammer, dem „Blauen Zimmer“ an. Wie es der Zufall wollte, befand sich an dem Tag, den er zur „Tötung der Regierung“ ausgesucht hatte, niemand in den Räumlichkeiten, da keine Tagung einberaumt war. Lortie setzte sich auf den Stuhl des Präsidenten und feuerte einige Schüsse in eine unmittelbar vor ihm stehende Uhr ab, bevor er auf die umliegenden Sitzreihen schoss, in denen sonst die Abgeordneten gesessen hätten. Der Sicherheitschef der Nationalversammlung überzeugte Lortie schließlich, seine Waffen abzugeben. Er wurde verhaftet, ohne dass es zu seinem vorausgesagten Tod hatte kommen müssen. Auf die Frage nach seinen Motiven antwortete er, dass er diese nicht angeben könne: „Es ist mein Kopf und nicht mein Herz gewesen.“ Während er auf der Polizeiwache wartete, hatte Lortie eine Vision, in der er das Gesicht eines alten Mannes sah, der ihm auf mysteriöse Weise zu verstehen gab, dass ihm alle seine Übertretungen vergeben werden würden. Im Zuge der späteren Vernehmung und des direkten Verhörs wurde sein Verbrechen durch eine Reihe spontaner bzw. intuitiver Äußerungen näher beleuchtet. Lortie stammte aus einer sechsköpfigen Familie. Sein Vater war Alkoholiker gewesen und hatte Frau und Kinder misshandelt. Zudem unterhielt er ein inzestuöses Verhältnis mit Lorties ältester Schwester. Er hatte mehrfach im Gefängnis eingesessen und die Familie verlassen, als Lortie noch jung gewesen war. Irgendwann hatten sich die Kinder sogar zusammengetan und verschiedene Waffen im Haus versteckt, einander schwörend, den Vater zu töten, falls er das nächste Mal ihnen gegenüber gewalttätig werden würde. Während er die Fragen nach den Gründen seines Verbrechens beantwortete, kam Lortie an einen Punkt, an dem er davon sprach, eine Schlacht gegen eine „innere Negativität“ zu verlieren, eine Schlacht gegen eine schreckliche Angst, dass er zu seinem eigenen Vater werden würde. Noch bemerkenswerter war seine Aussage, dass „die Regierung von Quebec das Gesicht meines Vaters trug.“ Anderswo sprach Lortie von seiner Tat mit den Worten: „Ich fühlte mich in der Lage, diese Autorität zu zerstören, meine Kraft war zügellos.“11 Einige Details sind darüber hinaus erwähnenswert: In der Nachricht an seine Frau erklärte er ihr seine Liebe: „Mein Herz ist Dein, aber mein Kopf ist anderswo.“12 Gleichzeitig bekundete er seine Absicht zu töten und getötet zu werden. Sowohl in Beziehung zu den Morden als auch seiner eigenen Auslöschung gab Lortie an, dass er nicht wüsste, warum er diese Taten ausführen wollte. Er wüsste nur, dass er sie ausführen musste, dass es sich um Imperative handelte. Dieser tödliche Imperativ, den er als innere Stimme vernahm, spiegelte sich auch nach außen. Zusätzlich zu den Kassettenaufnahmen seiner Absichten wurde die Fülle der Ereignisse des 8. Mai 1984 von Sicherheitskameras im Gebäude der Nationalversammlung aufgenommen und Lortie vor und während seines Prozesses vorgespielt. Er empfand die Bilder als so schrecklich und unerträglich, dass er in seiner Zelle aufsprang und mit dem Kopf gegen die Wand schlug. Er hatte während einer Vorführung geäußert, dass „ich sie sehen musste. Es war die Entscheidung, die ich treffen musste. Ich musste dort hindurch gehen . . .“ An anderer Stelle antwortete er: „Sie wissen, dass ich nicht sagen 11 12

Legendre, Le crime du corporal Lortie: Traité sur le père, S. 61. Legendre, Le crime du corporal Lortie: Traité sur le père, S. 95.

48

Kap. 2: Legendre und der institutionelle Vater im Rechtsstaat

kann, es nicht zu sein. Ich bin es.“13 Die doppelte Verneinung repräsentiert, was im Wesentlichen als „unbewusste Selbst-Identifikation“ bezeichnet werden kann, das Hinzufügen eines externen oder gesellschaftlichen Grundes, der es dem Subjekt leichter macht, die Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen.

Legendre kommt es darauf an, zu zeigen, dass der Vater die Beziehung des Subjekts zur institutionellen Rechtsordnung vermittelt, indem er den strukturellen Ort, welchen die staatliche Autorität oder das Gesetz im Psychismus später einnehmen, innerhalb der Familie vorbereitet: Im familiären Mikrokosmos findet danach die Konditionierung des Subjekts zum Rechtssubjekt statt. Aus der familiären Autorität wird im späteren Makrokosmos der staatlichen Rechtsordnung Legitimität, vorausgesetzt, dass der Vater – anders als bei Lortie – diesen Schritt nicht vereitelt. Eine zentrale Erkenntnis aus Legendres Analyse ist damit, dass die Grenzen zwischen Recht und Familie, öffentlich und privat, gesellschaftlich und intim, fließend sind. Jedenfalls wurden sie im Verlauf von Lorties pathologischer Reise sehr deutlich vermischt, überschritten und vernebelt. Lorties zahlreiche Referenzen zu Vaterfiguren, die befehlen, ablehnen und verfolgen, zeichnen nicht nur ein modernes Bild des Freudschen Urvaters als absolute Autorität, sondern fungieren auch als Referenz zu einem Ursprung des Gesetzes. Lorties Begehren war darauf gerichtet, ein Bild zu zerstören. Dieses Bild bestand letztlich in dem Phantasma der Paternität, das für seine „innere Negativität“ verantwortlich war. So war sein Verbrechen in Wahrheit nicht gegen die innerhalb seines Phantasmas als Vater fungierende Regierung, sondern gegen das phantasmatische Bild selbst gerichtet. Der Begriff des Phantasmas der Paternität ist bei Legendre als das fundamentale Phantasma einer Kultur zu verstehen, welches – in Anlehnung an Lacans Definition – nicht nur die spezifische Funktion hat, als Abwehr gegen die Kastrationsangst, oder in der post-ödipalen Zeit: gegen den Mangel im Anderen, d. i. die Signifikation der Unerfüllbarkeit des Begehrens im Symbolischen,14 zu fungieren. Das fundamentale Phantasma ist individuell, steht aber hinter dem partikulären Phantasma zurück. Auf ihm beruhen die Identität des Subjekts und die Formen seines Begehrens; es ist ein Modus, nach dem das Subjekt sein Genießen reguliert und organisiert.15 Die Macht der phantasmatischen Bilder liegt nach Lacan nicht allein in ihrer imaginären Dimension begründet, sondern vor allem in ihrer Einbettung in die symbolische Ordnung. Das Phantasma ist immer ein „Bild“ – und dies zeigt sich sehr deutlich an Lorties metaphorischer Verschiebung vom 13

Legendre, Le crime du corporal Lortie: Traité sur le père, S. 105. Vgl. Kapitel 3 B. III. 5. (Der Signifikant des Mangels im Anderen S (A) und das Unbehagen in der Rechtsordnung S (§). 15 Lacan, Le Seminar VII. Le transfert, S. 127. 14

A. Das Verbrechen des Gefreiten Lortie

49

realen (tyrannischen) Vater hin zu der Regierung von Quebec – „das in der signifikanten Struktur in Funktion tritt.“16 Das Bild, die Imago, spielt in Legendres Rechtstheorie eine tragende Rolle. Es funktioniert dort als gesellschaftliche Form der Repräsentation des Autoritätsprinzips, welches sich auf den Vater, den Souverän oder das Recht selbst stützt. Auf der Ebene der Institutionen vermittelt das Bild der Autorität auch gesellschaftliche Macht und kollektive Zugehörigkeit. Das innere Bild der Autorität funktioniert nicht nur als ein Objekt der Furcht, sondern vermittelt auch Faszination und Liebe. Das Bild zeigt dem Rechtssubjekt das Absolute und lässt das Recht so als Diskurs erscheinen, der zwischen dem Göttlichen als dem unbekannten Raum der Autorität und dem Humanen, der weltlichen Instanz, vermittelt. Das Gesetz fixiert das Bild vom gesellschaftlichen Vater oder von der familiären Autorität innerhalb des Subjekts als ein Idealobjekt der Verehrung und der Liebe. Das Bild ist in diesem Sinne für Legendre ein Mechanismus der subjektiven Unterwerfung unter eine gesellschaftliche Autorität. Auf der Individualebene spielt es in der Formung einer Identität des Subjekts als Rechtssubjekt eine wichtige Rolle. Das Bild ist hier das Mittel, durch welches sich das Subjekt von sich selbst abgrenzt und so zu einer Identität gelangt. Durch das Bild sieht sich das Subjekt wie in einem Spiegel, in dem es zum ersten Mal eine Einheit und gleichermaßen eine Trennung erkennt, welche ihm schließlich die Sozialisation erlaubt.17 Auch bei Lortie ist das Bild entscheidend, und zwar sowohl auf der sozialen, als auch auf der individuellen Ebene. Gesellschaftlich ist es das Antlitz der Autorität, welches Lortie als Gefangener seiner Psychose, durch welche er nicht mehr zwischen dem realen Vater und „Vater Staat“ unterscheiden konnte, aus der „Textur des Lebens“ auszulöschen sucht. Das Bild oder Gesicht des Vaters erscheint durchgängig in Lorties Erzählung und seinen Interpretationen. Genau genommen begehrte Lortie den Platz des Vaters einzunehmen, verkannte aber, dass dies nicht der Platz seines eigenen Vaters, sondern vielmehr eine abstrakte Instanz eines Autoritätsprinzips war. Zwar wollte Lortie den Platz des Vaters einnehmen, er fürchtete aber gleichzeitig, wie sein eigener Vater zu werden. Kurz gesagt, er verwechselte zwei bestimmte Orte oder Funktionen des Bildes. Das Bild repräsentiert oder erscheint als Verlangen nach der textuellen Ordnung und ihrer Hierarchie der 16 Lacan, Die Ausrichtung der Kur und die Prinzipien ihrer Macht, in: Schriften I, S. 230 (explizit von Melanie Klein abweichend). 17 Legendre, Dieu au miroir. Étude sur l’institution des Images. Legendre folgt in seiner Entwicklung institutioneller Identität Lacans Theorie vom Spiegelstadium, innerhalb der dieser den Eintritt des infantilen Subjekts in die imaginäre und die symbolische Ordnung beschreibt, welche unten in Kapitel 3 C. II. (Das Reale im Symbolischen: Objet petit’a) im Detail erläutert wird.

50

Kap. 2: Legendre und der institutionelle Vater im Rechtsstaat

autoritativen Orte, sprich ihrer Autoren und Autoritäten. Es vermittelt die unbenennbare Dimension dieser Macht, und kann sich zwischen den Reichen des Familiären und des Öffentlichen, zwischen Institutionalität und Intimität bewegen. So ist es insgesamt wenig erstaunlich, dass Lortie, als er sich und seine Handlungen auf der Videoaufzeichnung sah, in der Lage war, sich immerhin zu einem gewissen Grad mit sich selbst zu identifizieren: „Ich kann nicht sagen, dass ich das nicht bin. Ich bin es.“ Seine virtuelle Präsenz in den Bildern, mit welchen er auf dem Video konfrontiert wurde, war für ihn realer als ein Mechanismus der Identifikation, als die „hyperreale“ Erfahrung des Tötens, die er tatsächlich gerade durchlebt hatte. Lortie konnte die „innere Negativität“, welche für ihn durch den bösen Vater, der er nicht werden wollte, repräsentiert wurde, nicht länger leugnen oder beiseite schieben. Lortie erkannte unbewusst, dass er das Gesetz des Vaters als abstrakte Begrenzung der Seiten des legitimen gesellschaftlichen Sprechaktes in seiner vatermörderischen Absicht, die er mit den Begriffen eines Begehrens kundtat, zerstören wollte. Ziel seines verzweifelten Angriffs war nicht eine Person oder die stellvertretenden Regierungsbeamten, sondern die Vaterautorität an sich, den Ursprung oder die Quelle seines Leidens.

B. Die unbewusste Erotik im Verhältnis des Subjekts zu den Rechtsinstitutionen „Der Staatsmann erzeugt öffentliche Leidenschaften, um den Gewinn von der dadurch erweckten Gegenleidenschaft zu haben.“ Friedrich Nietzsche18

Der Untersuchung unbewusster Prozesse, aus denen Recht als intrapsychisches Phänomen hervorgeht, legt Legendre eine rigorose Anwendung der psychoanalytischen Technik Freuds zugrunde, mit der er historische und theoretische Aspekte des Rechts beleuchtet. Sein Unternehmen lässt sich in rechtshistorischen Begrifflichkeiten prägnant als das der Wiederherstellung einer „verdrängten Poesie des Rechts“ bezeichnen.19 Legendre zieht eine Vielzahl römischer Rechtstexte heran, auf deren Grundlage er eine Theorie der „erotischen Anbindung des Subjekts zur Macht“ und eine korrespondierende Ästhetik der Unterwerfung unter das Recht entwickelt. Fragen des Rechts sind für ihn immer auch Fragen einer subjektiven Anbindung, Faszination und Zuwendung. Sie betreffen eine Reihe institutioneller Themen und können nie vollständig in Außerachtlassung von persönlichen Motiven 18 Menschliches, Allzumenschliches, Sentenz 453 (Der Steuermann der Leidenschaften). 19 Goodrich, „The Unconscious is a Jurist“: Psychoanalysis and Law in the Work of Pierre Legendre, in: 20 Legal Studies Forum, S. 198.

B. Erotik im Verhältnis des Subjekts zu den Rechtsinstitutionen

51

und Begehren, Phantasmen und Wahrheiten beantwortet werden. Legendres Analyse konzentriert sich auf die unbewusste Ebene der mehr als alle anderen gesellschaftlichen Praktiken um Objektivität bemühten Rechtspraxis, welche deswegen dazu dienen kann, Schnittstellen zwischen den Disziplinen des Rechts und der Psychoanalyse herauszuarbeiten, wie Legendre am Fall Lorties illustriert. Legendre geht davon aus, dass die westliche Staatsorganisation wesentlich auf einen unbewussten Mechanismus der Faszination gestützt ist, den er als die „Verhaftung“ oder „Gefangennahme des Subjekts“ bezeichnet. Im Grunde handelt es sich hierbei weniger um eine Verallgemeinerung und Abstraktion des Begehrens der Beamten, welche in den Rechtsinstitutionen wirken, als um ein hypothetisches Begehren, das überindividuell in einer ganz bestimmten Ausprägung innerhalb der Kulturgeschichte fortdauert. Dieses Begehren formt sich nicht aus einer Art „Depluralisierung“ des individuellen Begehrens, sondern ist gewissermaßen vorgängig, da es einer im modernen Staat „vorinstallierten“, übergeordneten psycho-sozialen Grundstruktur folgt. Die Rechtsordnung ist danach letztlich ein struktureller Mechanismus, der auf die Reproduktion von Subjektivität gerichtet ist. Neu ist bei Legendre weniger, dass auch das Rechtssubjekt das „Produkt“ eines gesellschaftlichen Prozesses ist, der auf kontinuierliche Wandlung und Erneuerung ausgerichtet ist. Allerdings weist er darauf hin, dass ein spezifisches normatives Element schon in der Entstehung des Subjekts eine zentrale Rolle spielt, und zwar als etwas, das nicht nur als kodifizierter Buchstabe, sondern als fundamentale Struktur im Psychismus Bestand hat. Das „Gesetz“ steht im Mittelpunkt der symbolischen Ordnung, welche in Anlehnung an Lacans dreigliedrige Strukturierung der subjektiven Erfahrung20 als Gesamtheit der soziokulturellen Regeln und Bedeutungseinheiten für die Entstehung von individueller Identität maßgeblich ist. Allerdings geht Legendre hinsichtlich der Bedeutung oder Tragweite der juristischen Struktur des Subjekts weit über Lacan hinaus: Wo Lacan auf das Unbewusste als „wie eine Sprache strukturiert“ Bezug nimmt, fügt Legendre hinzu, dass das Unbewusste „wie ein Jurist handelt“.21 Die Gesetzmäßigkeiten, welche Lacan in Form einer weitgehend linguistisch terminologisierten Analyse entwickelt, werden so zu einer „juristischen“ Struktur. Legendre bezieht sich damit nur wage auf die Definition des Juristischen im allgemeinen Sprachgebrauch, etwa im Sinne der stringenten Subsumtion von Lebenssachverhalten unter das positive Gesetz, denn im Unbewussten besteht aufgrund der individuellen Geschichte des Subjekts kein allgemeiner 20 Siehe hierzu ausführlich Kapitel 3 C. (Das Recht als Funktion in der Topologie des Subjekts). 21 Goodrich, Law and the Unconscious: A Legendre Reader, S. 33.

52

Kap. 2: Legendre und der institutionelle Vater im Rechtsstaat

Nenner, der es rechtfertigen würde, eine so weitreichende und universell formulierte Analogie aufzustellen. Damit birgt die griffige Formulierung Legendres gerade auch im Hinblick auf Lacan die Gefahr, dass das weit ausdifferenzierte Schema, welches letzterer im Hinblick auf die Logik des Unbewussten entwickelt hat, keinen angemessenen Widerhall findet. Trotzdem macht Legendre den in jedem Fall beachtlichen Versuch, das Wesen der Rechtsinstitutionen in einen Kontext zu setzen, der über die pragmatische Notwendigkeit der Staatsorganisation hinausgeht. Ohne dass Legendres konkrete Analyse etwas Zwingendes hat, enthält sie den zentralen Gedanken, dass institutionalisiertes Recht einen psychischen Grund hat, welcher gegenüber der konkreten Ausgestaltung vorgängig ist. Legendre geht weiter davon aus, dass die Techniken der Referenz und der Dogmatik, in denen sich Recht manifestiert, dazu dienen, dass sich das Subjekt den Institutionen zuwendet. Diese Zuwendung stelle nichts anderes als die Bereitschaft dar, sich als begeisterter Zuschauer der Inszenierung der mythischen Ursprungsformel und dem Verbot zu gerieren. Ganz im Sinne seines konservativen oder orthodoxen Rechtsverständnisses geht es Legendre darum, das „Enigma des Subjekts, das Delirium der Institutionen zu entschlüsseln und die einfachste und unbeantwortbare Frage zu stellen: Was bringt das Subjekt dazu, die gesellschaftlichen Repräsentationen, das lebende Bildnis oder Emblem des Rechts zu lieben?“22

Eine ähnliche Fragestellung findet sich bei Herbert Marcuse, auf die hier kurz zur Verdeutlichung Legendres hingewiesen werden soll: In Der eindimensionale Mensch und insbesondere in dem Essay Triebstruktur und Gesellschaft untersucht Marcuse die Dynamik sozio-pathologischer Phänomene unter Einbeziehung psychoanalytischer Formeln und geht von einem historisch-kontingenten Faktum, keiner zeitlosen Bedingung der menschlichen Existenz aus, unter deren Einfluss sich die Repression der Triebe entwickelt. Ausgangspunkt hierfür ist die Lebensnot (Ananke). Diese psychische Kon= ) wiederfindet, dition, die sich bei Lacan in dem gespaltenen Subjekt (S kann bei Legendre letztlich auch als Grund für die Faszinationsformel ausgemacht werden. Damit wird die libidinöse Anbindung des Subjekts an die Rechtsinstitutionen zu einem temporär-pathologischen – und gerade nicht zu einem positiven, wünschenswerten – Phänomen, welches Spielraum zu seiner Auflösung enthält und (nach Marcuse) herausfordert. Ob diese Auflösung in dem von Marcuse verfolgten marxistischen Ansatz der Abkehr von entfremdeter Arbeit und Abschaffung der „zusätzlichen“, d.h. für die Aufrechterhaltung von Kultur nicht mehr notwendigen Unterdrückung liegt, sei hier dahingestellt. Gemeinsam ist beiden Theoretikern jedenfalls, dass 22

Goodrich, Law and the Unconscious: A Legendre Reader, S. 7.

B. Erotik im Verhältnis des Subjekts zu den Rechtsinstitutionen

53

die Flucht des Subjekts aus sozialer Repression (oder irgend einem anderen Grund der Lebensnot) letztlich im Phantasma liegt, welches das vom Realitätsprinzip (d. i. die Gesamtheit der zwanghaften Einschränkungen, die der Äußerung der Instinkte durch eine spezifische Gesellschaftsform zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt auferlegt sind) befreite Refugium des Subjekts darstellt. Während Marcuse aber die Phantasie als die einzige Form des Denkens bezeichnet, die von der Herrschaft des Realitätsprinzips freigehalten ist, bewertet Legendre die phantasmatische Faszination gerade als etwas, das für die reale Herrschaftsstruktur konstitutiv ist. So geht auch die Gesellschaftskritik von Legendre und Marcuse in eine völlig gegensätzliche Richtung: Legendre beklagt die Abkehr von dem phantasmatischen (libidinösen) Referenzpunkt des Vaterrechts, Marcuse beschwört hingegen eine „Selbst-Sublimierung der sexuellen Triebe“, die kultiviertere Beziehungen der Individuen untereinander ermöglichen würde und geht von einer dem Eros innewohnenden libidinösen Moral aus, die nach der Abschaffung der zusätzlichen Unterdrückung und der damit verbundenen Herrschaftsformen zur Ausprägung einer befreiten Gesellschaft führen könnte.23 Während Legendre das historisch fundierte Phantasma stützen will, weil er damit letztlich das Subjekt und das Recht in einem harmonischen Verhältnis sieht, will Marcuse das Phantasma dazu nutzen, sich von repressiven Mechanismen zu befreien. An der Gegenüberstellung von Marcuse und Legendre zeigt sich, dass selbst die Psychoanalyse ideologisch betrieben werden kann und dabei auch, wo genau (aus psychoanalytischer Sicht) der Unterschied zwischen konservativem („rechtem“) und progressivem („linkem“) Denken verläuft: in der wertenden Vorstellung darüber, in welcher Beziehung die bestehenden Herrschaftsinstitutionen zu dem Mangel oder der Lebensnot des Subjekts stehen. Es lässt sich jedenfalls gut vertreten, dass Legendres „Verhaftung des Subjekts“ durch die Rechtsinstitutionen ein Phänomen ist, das im engeren Zusammenhang mit der „Eindimensionalität“ des Menschen steht, wie Marcuse sie ausgemacht und kritisiert hat. Solange das Subjekt in dieser Form der selbsterzeugten sozialen Pathologie verharrt, werden progressiver Wandel, Vernunft und Freiheit dauerhaft unterdrückt.24 23 Den Begriff der „Selbst-Sublimierung“ beschreibt einen Prozess, nach dem die „genitofugale“ Libido dazu tendiere, sich auf den ganzen Körper auszubreiten, aber in der gesellschaftlichen Praxis, d.h. zuerst in dem realen Mangel, später in der gesellschaftliche Zwangsordnung, auf eine bestimmte Form genitaler Sexualität fixiert werde. Davon befreit würden sich die sexuellen Triebe in kulturelle Regungen verwandeln und den ganzen Menschen mit einem körperbasiertem Glücksempfinden erfüllen. Da der Mensch aber immer schon sozialisiert ist, z. B. über Sprache, sei die Befreiung des Eros nur als soziale Tat möglich; vgl. Marcuse, Eros und Kultur. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, S. 257 ff. 24 Vgl. Möll, Kulturkritik von Herbert Marcuse – Totalitarismustheoretisches Denken von links, in: Aufklärung und Kritik 1/2004, S. 6.

54

Kap. 2: Legendre und der institutionelle Vater im Rechtsstaat

Der Fokus von Legendres psychoanalytischer Rechtstheorie liegt aber auch in der Aufschlüsselung dieses Phantasmas und damit zunächst in der Erklärung des Phänomens der Entstehung und Wirkungsweise subjektiver Rechtsbindung, welche deutliche Parallelen einer religiösen Struktur aufweist, ohne dass auf eine konkrete Gottesvorstellung Bezug genommen wird. Der analytische Ansatz ist damit nicht progressiv in dem Sinne, dass über eine (neue) theoretische Fundierung des Rechts zu einem gerechteren Recht gelangt werden sollte. Trotzdem ist dieser Ansatz auch für die progressive Rechtsfortbildung, die auf ein möglichst differenziertes Verständnis subjektiver Rechtsbindung angewiesen ist, nicht nutzlos, denn nur wenn der Faszinationsmechnismus und das Delirium erkannt sind, können sie überwunden werden. Legendre nähert sich der Frage, warum das Subjekt zum Rechtssubjekt wird, mit Hilfe des Lacanschen Spiegelstadiums an, welches eine entscheidende Funktion in der Bildung der Identität in der psychischen Entwicklung hat. So interpretiert er den Eintritt in die symbolische Ordnung – die zweite Geburt des Subjekts – als Unterwerfung unter den Spiegel des Rechts. Die Aufgabe des Rechts besteht nach Legendre darin, das Subjekt zu faszinieren und es im Bild des schon Bekannten gebannt zu halten. Das Recht muss nicht nur als System von Definitionen und Identifikationen funktionieren, sondern es muss auch das Bild einfangen. Ohne diese glaubensgesteuerte Anbindung des Subjekts kann es danach kein Recht geben. Rechtsbindung ist damit die Kunst, das Subjekt mittels eines Bildes zu verführen. Seine Rechtstreue liegt in der Beziehung zu diesem Bild begründet. Legendre entwirft so eine Theorie, nach der das Subjekt über eine erotische Faszination und damit einer mit seinem Begehren korrespondierenden Ästhetik an die Macht gebunden wird, welche ihm in Form der Rechtsinstitutionen gegenüber tritt.25 Eine tragende Rolle im Ablauf des Spiegelstadiums spielt für Legendre die narzisstische Struktur des Subjekts. Die Rechtsinstitutionen machen sich diese imaginäre Funktion zu Nutzen, um dem Unbewussten die Dimension der Wahrheit zu vermitteln und so die Übertragung des Rechts zu gewährleisten: „Recht als das grundlegende gesellschaftliche Prinzip der Autorität ist integraler Bestandteil der symbolischen Dimension sozialer Beziehungen und formt den Kontext oder Spiegel, in dem Identität innerhalb der Institution konstruiert wird.“26

Recht und Staat treten dem Subjekt mit einer Inszenierung imaginärer Montagen und komplexer Anordnungen von Bildern gegenüber, die es ero25 26

Goodrich, Law and the Unconscious: A Legendre Reader, S. 4. Goodrich, Law and the Unconscious: A Legendre Reader, S. 6.

B. Erotik im Verhältnis des Subjekts zu den Rechtsinstitutionen

55

tisch und ästhetisch zum Glauben führen sollen. Die politische Ordnung stützt sich auf die Manipulation der subjektiven Anbindung durch das Spiel der Bilder. Weil die Verbindung politischer oder rechtlicher Autorität eine Sache des Begehrens ist – der „Liebe zum Zensor“ – wird sie erfolgreich durch Bilder und andere Fiktionen eines Gesetzesautors, sprich der Verbildlichung einer souveränen Macht hervorgerufen. Rechtsautorität ist somit die Verbildlichung einer geisterhaften Struktur, welche die Unterwerfung des Subjekts bedingt. Legendre bezeichnet dies als die „Gefangennahme des Subjekts durch die Institutionen.“27 Um die Wirkungsweise des Rechts zu verstehen, ist es deswegen nötig, seine Ästhetik, d.h. den erotischen Charakter der Anbindung an die Institutionen zu verstehen: „Die erste Lektion der Ästhetik des Rechts ist die, dass es, um das Subjekt durch die Institutionen einzunehmen, eines delikaten und komplizierten Spiels der Anziehung und Bedrohung bedarf, welches im Sinne des psychoanalytischen Begriffs des Begehrens verstanden werden muss. Ästhetik lehrt uns, dass die Institution vom Subjekt die Einschreibung eines Bildes vom Gesellschaftlichen als Objekt der Liebe verlangt. Noch paradoxer, das Subjekt muss dazu gelangen, seine Unterwerfung unter die Macht zu begehren; es muss die Zeichen der Macht lieben, die Embleme der Autorität, welche keine physische Präsenz haben können und deswegen als phantastische oder imaginäre Formen erscheinen müssen.“28

Legendre beschreibt diesen Vorgang in Anlehnung an die Begrifflichkeiten des Feudalsystems als „Lehenstreue“: Die von den Institutionen aufgestellten und repräsentierten Mythen sind so machtvoll, dass sie das Subjekt fesseln und ihm eine zentrierte Verortung der Referenz aufzeigen können. Mittels eines Bildes reißen sie das „betäubte Subjekt aus seinem narkotischen Schlaf“, welches „das Begehren einfängt“ und auf die Institution überträgt.29 Die Anbindung an die institutionalisierte Form des Rechts und seiner Genealogie ist subtil: „Wenn das Recht bindet, tut es dies trügerisch, es bindet unbewusst und effektiv – eher durch Akzeptanz, durch die Übereinstimmung von Sprachakten und der Maske einer Persönlichkeit, als im Rahmen einer Invasion des Alltäglichen.“30

Mit dem Aufkommen erster moderner Formen der abendländischen Legalität mit textlicher Positivierung und der Einrichtung rechtlicher Institutionen, die mit den Diskursen des kanonischen Rechts und seiner Kasuistik zusammengingen und diese gleichzeitig sublimierten, wurde die Seele zu einem Schlüsselbegriff in der Wirkungsweise einer damit geschaffenen In27

Goodrich, Law and the Unconscious: A Legendre Reader, S. 259. Goodrich, Law and the Unconscious: A Legendre Reader, S. 17. 29 Pottage, Crime and Culture: The Relevance of the Psychoanalytical, in: 55 The Modern Law Review, S. 428. 30 Goodrich, Languages of Law: From Logics of Memory to Nomadic Masks, S. 9. 28

56

Kap. 2: Legendre und der institutionelle Vater im Rechtsstaat

stitutionalität, welche ihre Ambitionen bis ins Letzte erfüllen konnte. Die Bedingung des Rechtssubjekts ist eine gehorsame Seele, ebenso wie das Gesetz an seinen Überbringer gebunden ist. Zugleich eröffnet sich hiermit die Perspektive auf Subjekte in ihrer psychischen Interaktion mit den neu geschaffenen Rechtsinstitutionen. So kann es nach Legendre keinen Gerichtshof geben, der seine Rechtsprechung nicht in einem innerlichen Urteil, korrespondierend mit dem Gewissen, manifestiert. Recht muss deswegen immer als duales System erscheinen, mit einer inneren und einer äußeren Seite. Das Gericht ist demnach immer sowohl geistig als auch sinnlich, es repräsentiert eine physische und eine psychische Instanz und hat damit eine „spirituelle und eine zeitliche Seite“.31 Das Recht arbeite die Lehenstreue des Subjekts in so tief liegende Strukturen ein, dass ein großer Teil des täglichen Lebens die gelebte Geschichte und Erfahrung der Existenz als Rechtssubjekt ist. Die unablässig repetierten Dogmen, welche das Subjekt an das Recht binden, manifestierten sich in alltäglich erfahrenen Gefühlen, welche wie eine kontinuierlich verabreichte Droge im Körper wirkten. Das von Legendre beschriebene Szenario wirft die Frage auf, ob das gesetzliche Recht damit auf ein Spiegelbild des Gewissens reduziert wird, wie es die Rechtsinstitutionen in dem Subjekt installieren. Damit würden die Begriffe „Recht“ und „Freiheit“ zu gegensätzlichen Punkten, was sicherlich keine adäquate Beschreibung des modernen demokratischen Rechtsstaates darstellt, welcher einen weiten Spielraum für legislative Erneuerungsprozesse eröffnet. Zutreffend ist an Legendres Analyse aber in jedem Fall, dass Rechtsbindung und Akzeptanz von Urteilen eine starke psychische Dimension haben, die nicht a priori besteht, sondern erst entwickelt werden muss. Er schießt jedoch über das Ziel hinaus, wenn er impliziert, dass das Gewissen des Rechtsubjekts keine darüber hinausgehende Dimension hätte, auf welche der Urteilssatz keinen Zugriff hat.

C. Der Ödipusmythos als Allegorie der Beziehung von Subjekt und Autorität Der Fall Lorties ist der Fall eines Sohnes, der seinen Vater töten will und der dieses Begehren auslebt, indem er versucht, die soziale Repräsentation des Phantasmas der Paternität selbst auszulöschen, in diesem Fall die Regierung von Quebec. Die Thematik des Vatermordes führt die Analyse des Rechts unmittelbar zu einer originär Freudschen Problematik: Der Vater der Psychoanalyse identifiziert das ödipale Begehren der Vatertötung als einen fundamentalen Operationsmodus des Rechts. Das Phänomen der Entstehung 31 Goodrich, Translating Legendre or, The Poetical Sermon of a Contemporary Jurist, in: 16 Cardozo Law Review, S. 971.

C. Ödipusmythos als Allegorie von Subjekt und Autorität

57

von Autorität spielt in seinen grundlegenden Arbeiten zur menschlichen Psyche eine tragende Rolle. Der Schlüssel zur Funktionsweise der subjektiven Anerkennung von Autorität liegt in dem psychischen Apparat und dem Verdrängungsmechanismus. Zusammen mit dem Ödipus- und dem Kastrationskomplex bilden sie das Kernstück von Freuds allgemeiner Persönlichkeitstheorie, in der die psychischen Prozesse von Wechselwirkungen zwischen bewussten und unbewussten Vorgängen veranschaulicht werden, die moralischem und normativem Handeln vorgeschaltet sind. So entsteht eine unbewusste Struktur, die für die Teilnahme an einem Rechtsdiskurs Bedingung ist. Legendre benutzt hierfür den Begriff der „Einschreibung“. Die Entstehungsgeschichte der Topologie des psychischen Apparates ist damit gleichzeitig die Geschichte der Begegnung des Subjekts mit dem Gesetz, die Freud in dem Mythos von König Ödipus metaphorisch verschlüsselt sieht. Schon in der Traumdeutung interpretiert Freud den Ödipusmythos als Aufarbeitung eines paradigmatischen Traumgeschehens, in dem sich der Wunsch nach der Mutter und dem Tod des Vaters artikuliert, und zwar selbst dann, wenn der Vater bereits tot sein sollte.32 Gleichzeitig sieht er in dem Mythos die universelle Struktur der Beziehung des Kindes zu seinen Eltern enthalten: „Sein Schicksal ergreift uns nur darum, weil es das unserige hätte werden können, weil das Orakel vor unserer Geburt denselben Fluch über uns verhängt hat wie über ihn. (. . .) Während der Dichter in jener Untersuchung die Schuld des Ödipus ans Licht bringt, nötigt er uns zurErkenntnis unseres eigenen Inneren, in dem jene Impulse, wenn auch unterdrückt, noch immer vorhanden sind.“33

Die Psychoanalyse erkennt in dem Ödipusmythos insbesondere über die Technik der Traumdeutung als dem „Königsweg zum Unbewussten“ eine Allegorie der menschlichen Beziehung zur Autorität.34 Der metaphorische Charakter des Ödipusmythos wird deutlich in Freuds Lesart der Erzählung als eine Reihe von Rätseln, die entschlüsselt werden müssen. Beginnend mit den enigmatischen Orakelsprüchen über das Rätsel der Sphinx mündet die Geschichte in der Auflösung des Rätsels, wer König Laius einst erschlagen hatte: „Aber er, wo ist er? Wo soll nun gelesen werden Die schwindende Aufzeichnung dieser alten Schuld?“35 32 Die Traumdeutung, StA II, S. 264 ff. Freud diskutiert hier den Fall eines Patienten, dem es unmöglich schien auf die Straße zu gehen, da er von der Angst gequält wurde, jeden zu töten, der ihm begegnete. „Die Analyse deckte als die Begründung dieser peinlichen Zwangsneurose Mordimpulse gegen seinen etwas überstrengen Vater auf.“ 33 Freud, Die Traumdeutung, StA II, S. 267. 34 Goodrich, Maladies of the Legal Soul, in: 54 Wash./Lee Law Review, S. 1037. 35 Freud, Die Traumdeutung, S. 267 (Aus Sophokles zitierend).

58

Kap. 2: Legendre und der institutionelle Vater im Rechtsstaat

Lacan verweist in seiner Freudinterpretation auf die textuelle Metapher von Psyche und Historie, die durch die psychoanalytische Technik der symptomatischen Rekonstruktion biographischer und historischer Spuren erhellt werden kann. Das Subjekt erscheint damit als „Text“, der anhand seiner unbewussten biographischen Struktur, welche sich in Wiederholungen, Versprechern oder anderen offensichtlich unbeabsichtigten Sprechakten manifestiert, rekonstruierbar und interpretierbar ist: „Das Symptom erschließt sich in der Analyse von Sprache, weil das Symptom selbst wie eine Sprache strukturiert ist.“36

Das enigmatische Symptom kann sich als Wort, Satz, Handlung oder auch in Form eines Bildes äußern und steht in einer spezifischen Beziehung zur Geschichte des Subjekts. Es gehört zu dem Zeichen bzw. zu der unbewussten Zeichenkette der Sprache, weil es sich der Dechiffrierung öffnet.37 Die psychoanalytische Technik ist damit nicht nur eine Methode der Interpretation von Texten, sondern auch der Seele und Kultur als Text. Vor diesem Hintergrund kann die Psychoanalyse – wie Goodrich an einer Vielzahl von Fallbeispielen gezeigt hat – eine alternative Interpretationstechnik von Rechtstexten liefern, die sich auf Symptome und latente Bedeutungen konzentriert.38 I. Die Familie als Urform der institutionellen Organisation Unter Bezugnahme auf Freud und Lacan problematisiert Legendre die Familie als Nukleus einer institutionellen Organisation von Subjektivität. Die Funktion des ödipalen Gesetzes des Verbots der Mutter und Anerkennung des Vaters im Unbewussten liegt demnach darin, den Platz des Subjekts innerhalb der Institution der Familie vorzubestimmen. Das Gesetz der Familie legt die Beziehungen und Rollen, das „familiäre Schicksal“, in welches das Subjekt hineingeboren wird, fest. Dieses Gesetz wird zu einem grundlegenden gesellschaftlichen Prinzip der Autorität als Teil der symbolischen Dimension gesellschaftlicher Beziehungen. Es formt den Kontext in dem die Institutionen Identität vermitteln. Legendres Projekt der Neuinterpretation der Phänomenologie des Rechts aus einer psychoanalytischen Per36 Lacan, The Function and Field of Speech and Language in Psychoanalysis, S. 58 (Rn. 269). Lacans beschreibt das Symptom zunächst als Signifikant, weicht hiervon aber bald ab, da Symptome in Bezug auf eine psychotische Struktur keine universelle, fixierbare Bedeutung signifizieren: Ein neurotisches Symptom hat nicht zwangsläufig eine direkte Verbindung zu einer neurotischen Struktur. 37 Ragland-Sullivan, Lacan’s Seminar on James Joyce: Writing as Symptom and ‚Singular Solution‘, in: Feldstein/Sussman, Psychoanalysis and . . ., S. 73. 38 Goodrich, Oedipus Lex: Psychoanalysis, History, Law, S. 118–122; Maladies of the Legal Soul, in: 54 Wash./Lee Law Review, S. 1055 ff.

C. Ödipusmythos als Allegorie von Subjekt und Autorität

59

spektive ist deswegen weniger ein Plädoyer für die Nützlichkeit der Psychoanalyse bei der Erklärung bestimmter Aspekte der Subjektivität im Recht, als vielmehr eine Methode zur „Wiedereinschreibung des Gesetzes in unser Verständnis von Subjektivität.“39

So gesehen ist der Fall Lortie nach Legendre nicht nur ein Exempel des Nutzens der Psychoanalyse zur Erklärung der unbewussten Triebfedern der Handlungen eines Subjekts, sondern auch eine lebhafte, und – gerade weil er auf einer Perversion beruht – eine deutliche und repräsentative Darstellung für das Verständnis der Rechtskategorien, welche das Subjekt konstituieren. Lorties Tat deutet auf die nicht aufgelöste ödipale Spannung, in der sich ein elementarer Autoritätskonflikt manifestiert hat. Der in der normalen Entwicklung des Subjekts im Wesentlichen beigelegte Vaterkonflikt wurde für Lortie zu einem unerträglichen Trauma, dessen er sich um jeden Preis entledigen musste, denn die Auflösung des Vaterkonflikts ist das für die subjektive Anerkennung von Autorität zentrale Ereignis: Mit Abschluss der ödipalen Kindheitsphase verdrängt das Subjekt sein ödipales Begehren.40 Dieser Prozess, von Freud als Urverdrängung bezeichnet, ist für die Prägung des Unbewussten von entscheidender Bedeutung. Folgt man Freud und Legendre, ist der Mythos die Beschreibung eines zentralen, wenn natürlich auch nicht des einzigen Ereignisses in der Geschichte der Entstehung von Subjektivität. Durch diese ursprüngliche Verdrängung wird dem Subjekt ein Programm eingeschrieben, mit dem es seinem Begehren eine Orientierung geben und es begrenzen kann, indem es die Autorität des Vaters durch dessen Verbot der Einheit mit der Mutter anerkennt. Hierin liegt der fundamentale Entstehungsakt des Rechtssubjekts, da er den Ausgangspunkt und die Grundlage für jede Form der Anerkennung von gesetzlicher Autorität auf gesellschaftlicher Ebene bildet. Freuds Begriff der Urverdrängung ist damit zentral für das Verständnis der Beziehung des Subjekts zum Gesetz. Das Subjekt ist damit in seiner ursprünglichen Beziehung zur Autorität im Wesentlichen das Subjekt des Unbewussten, denn der Ödipuskomplex be39 Goodrich, „The Unconscious is a Jurist“: Psychoanalysis and Law in the Work of Pierre Legendre, in: 20 Legal Studies Forum, S. 200. 40 Neben der Verdrängung als Schutzfunktion der Psyche besteht gleichermaßen die Möglichkeit der Nichtbewältigung dieses Ablösungsvorgangs in Form eines als erzwungen erfahrenen Verzichts auf das geschlechtliche Begehren des gegengeschlechtlichen Elternteils. Diese wird psychoanalytisch als Basis für viele neurotische Erkrankungen interpretiert. Es entsteht gegenüber dem Vater (und in Übertragung gegen alle Autoritäten) keine Autonomie. Ein übersteigertes Geltungsbedürfnis als Kompensation von Minderwertigkeitsgefühlen, neurotische Störungen und Persönlichkeitsstörungen werden in der klassischen Psychoanalyse als typische Folge angesehen.

60

Kap. 2: Legendre und der institutionelle Vater im Rechtsstaat

schreibt die erste Begegnung mit einer absoluten Grenze, der Autorität des Gesetzes des Vaters. Es handelt sich um eine Darstellung der subjektiven Struktur der Anerkenntnis und gleichzeitig der (neurotischen) Revolte gegen das Gesetz. In der ödipalen Struktur trägt das Subjekt seinen Konflikt zwischen dem Begehren der Übertretung und der Unterwerfung unter das Gesetz aus. Begehren und Gesetz stehen folglich in einer dialektischen Beziehung, denn das Subjekt definiert das Gesetz erst in Bezug auf das Verbot, mit dem sein Begehren konfrontiert ist. Das psychische Programm, das durch die Urverdrängung in das Subjekt eingeschrieben wurde, ist gleichzeitig der konstituierende Akt für das Phänomen der Subjektivität selbst. Ohne die Entwicklungsstufen des Ödipus- und des Kastrationskomplexes findet nach Freud keine Subjektivierung des Individuums statt. Das Subjekt des Unbewussten ist damit eine Einheit, in der das väterliche Gesetz als die Urform der Anerkennung von Autorität mittels der Urverdrängung installiert wurde. Freuds Interpretation des Ödipusmythos als textuelle Metapher der Psyche überträgt die tragische, schicksalhafte Dimension des Mythos in das Sein des Subjekts. Es ist die Geschichte eines unbewussten Gesetzes, einer Erzählung von Schicksal oder Vorbestimmung, welche den Lebensweg des Subjekts unabhängig von seinem Willen festlegt. Im Ödipusmythos wird der Triumph des göttlichen Willens über die menschliche Unfähigkeit dargestellt, dem Dogma des Unbewussten zu entkommen. Legendre schliesst hieraus, dass auf dem Grund der Psyche des Subjekts das Phantasma einer Identität verankert liegt, die Vorstellung einer institutionellen Rolle. Das ödipale Schicksal schreibt sich als Phantasma in die Psyche des Subjekts ein. Dieser Prozess, die Gesetzmäßigkeit dieser Einschreibung, wird im Mythos dargestellt. Damit das Subjekt seine Identität erkennen kann, muss es seine genealogischen Wurzeln, den Ort von dem es in die gesellschaftliche Ordnung gekommen ist, kennen. Nur durch dieses Wissen kann es dem ödipalen Schicksal entgehen. Die gesellschaftliche Ordnung folgt einer Gesetzmäßigkeit von vorbestimmten Orten, die dem Subjekt das Phantasma einer Identität als einen Ort und eine Rolle in der Gesellschaft einschärfen. Dieser Prozess setzt das Subjekt in eine Beziehung zu einer sozialen Struktur, die ihm nicht notwendig bewusst ist. Vielmehr führt es das unbewusste Diktat seiner Herkunft, der Geburt und frühen Erfahrungen aus.41 Mit Lacan und Legendre lässt sich das Rechtssystem so nicht nur als System objektiver Regeln, sondern auch als symbolische Ordnung und imaginäres Register interpretieren. Das Subjekt erkennt und formt eine affektive Anbindung an das von ihm erkannte Gesetz durch Symbole und Bilder eines imaginären gesellschaftlichen Ortes der Geborgenheit. So unterstreicht Le41

Goodrich, Maladies of the Legal Soul, in: 54 Wash./Lee Law Review, S. 1038.

C. Ödipusmythos als Allegorie von Subjekt und Autorität

61

gendre, dass das Rechtssubjekt viel eher durch imaginäre Identifikationen oder Phantasmen einer gemeinsamen Substanz und durch interne und selbst auferlegte Grenzen an die Autorität der Rechtsinstitutionen gebunden ist, als durch das positive Recht und seine staatliche Durchsetzung. Legendres Analyse ist eng mit dem römischen Recht verbunden. Die Funktion des Gesetzes besteht parallel zur Psychoanalyse darin, das „Leben zu institutionalisieren“ (vitam instituere).42 Die Psychoanalyse ist damit sowohl eine Methode der Interpretation von individuellen Biographien, als auch von institutioneller Geschichte. Sie erlaubt es, wie Legendre unterstreicht, unbewusste Prozesse der Teilnehmer der Rechtsdiskurse wahrzunehmen und damit auf die „andere Ebene“ des Rechts zu gelangen.43 So kann man sich der Subjektivität der Rechtspraxis als „Affektivität des Rechts“ annähern.44 Eine psychoanalytische Rechtstheorie hat so das Potential, das Rätsel der subjektiven Anbindung an die Institutionen zu beleuchten: Was bringt das Subjekt dazu, die gesellschaftlichen Repräsentationen, die lebenden Bilder und Embleme des Rechts zu lieben und sich den Institutionen zu unterwerfen und das Recht zu befolgen? Wieso ist Lortie und nicht die Regierung von Quebec verrückt?45 Diese Fragen lassen kaum eine eindeutige Antwort zu. Im Erfahrungshorizont des Rechtssubjekts handeln die Institutionen wie eine natürliche Person, die nicht (notwendig) frei von den deliriumartigen, gewalttätigen oder dichterischen Zuständen ist, welche gemeinhin als „Leidenschaft“, „Wahnsinn“ oder „Liebe“ bezeichnet werden. Worum es grundsätzlich geht, ist die Fähigkeit des Subjekts, seine Identität oder Rolle innerhalb der „familiären“ Ordnung der Institutionen, der häuslichen Regierung, zu erkennen. Gleich ob institutionell oder individuell, Wahnsinn manifestiert sich umgehend in dem Unvermögen zu erkennen, wo, wie, wann und mit wem das Subjekt berechtigt ist zu sprechen. Das Gesetz ist in diesem Zusammenhang schlicht eine Manifestation einer Machtstruktur, und Wahnsinn ist der gescheiterte Versuch, den Raum und die Bilder oder Gesichter dieser manifesten Struktur zu überschauen. Dies beschreibt präzise das Problem Lorties: In dem verzweifelten Versuch, eine Regierung mit dem Gesicht seines Vaters, sprich das gesellschaftliche Phantasma der Paternität, und damit die rechtlichen Kategorien der Institutionalisierung von Subjektivität aus42

Legendre, L’inestimable Objet de la Transmission, S. 137. Legendre, The Other Dimension of Law, in: 16 Cardozo Law Review, S. 943 ff. 44 Mills, On the Other Side of Silence: Affective Lawyering and Intimate Abuse, in: 81 Cornell Law Review, S. 1225. 45 Vgl. Hachamovitch, In Emulation of the Clouds: An Essay on the Obscure Object of Judgement, in: Douzinas/Goodrich, Politics, Postmodernity and Critical Legal Studies. 43

62

Kap. 2: Legendre und der institutionelle Vater im Rechtsstaat

zulöschen, wird die Funktion – hier insbesondere das Scheitern – des Gesetzes (als Manifestation des Untergangs des Ödipuskomplexes) überdeutlich. Lorties Übertretung war letztlich die Folge eines Begehrens, einen teuflischen Vater zu zerstören, welcher von Lortie mit diesem Phantasma in der psychotischen Manifestation des Präsidenten von Quebec identifiziert wurde. Einen ersten Ausdruck fand dieses Begehren in einem Bestreben, die Zerstörung einer Nationalsprache zu verhindern. Während die Anspielung auf die Sprache einerseits als akzidentiell empfunden werden kann, ist es genauso möglich, sie als die grundlegendste Referenz zu Struktur und Gesetz zu verstehen. II. Der Körper der Institution und Terror des Textes Nach Legendre handeln die Rechtsinstitutionen nicht nur wie eine natürliche Person, sondern auch als ob sie einen Körper und ein Unterbewusstsein hätten. Seit Lacan hat die Psychoanalyse kontinuierlich hervorgehoben, dass wir in der Sprachförmigkeit des Unbewussten gefangen sind. Der Beobachtung, dass sich das Unbewusste in einer vorgegebenen sprachförmigen symbolischen Struktur formt, in welche das Subjekt hineingeboren wird, fügt Legendre nun hinzu, dass wir in der westlichen Welt Bewohner einer sehr spezifischen materiellen Form oder eines Körpers von Sprache sind, nämlich dem Gesetzestext oder den niedergeschriebenen Interpretationen des Gesetzes. Die Referenz zur Sprache und damit auch zu den Texten des Rechts führt zu der fundamentalen Struktur, der symbolischen Form und geschriebenen Identität der westlichen Institutionen. Die Frage des Rechts ist eine Frage der Struktur und für Legendre bedeutet dies eine Frage eines Textes oder Buches oder der Bücher, welche die Grundlegung der verschiedenen gesellschaftlichen Orte legitimer Autorität liefern. Unsere soziale Identität und unser institutioneller Platz werden durch den Text vermittelt. Der Text gibt uns die Gerichtsbarkeit oder Fähigkeit, Recht zu sprechen; in dieser metaphorischen Dimensionierung kann man mit Goodrich schließlich sagen, dass das Rechtssubjekt in dem Text geboren wird und in ihm stirbt, da es keine Existenz außerhalb der textuellen Ordnung gibt.46 Der strukturelle Text – oder in einer Etymologie: der „Terror“ und das Territorium der westlichen Institutionen – hat seinen Ursprung im römischen Recht und insbesondere im Corpus Iuris Civilis, welcher im späten 12. Jahrhundert Teil der abendländischen Tradition wurde. Durch die Aufnahme dieses massiven Textkörpers, so Legendre und andere, wurde die westliche Form der Institutionalisierung des Rechts in ihrer historischen Grundlegung 46 Goodrich, Languages of Law: From Logics of Memory to Nomadic Masks, S. 278.

C. Ödipusmythos als Allegorie von Subjekt und Autorität

63

und fundamental juristischen Form geschaffen.47 Die Aufnahme des römischen Rechts war eine komplizierte Symbiose der Erbschaft zweier Reiche und Systeme, nämlich des kanonischen und des justinianischen, imperialen Rechts. Die Systematisierung dieser beiden textuellen Systeme durch die Kategorien der klassischen römischen Rechtswissenschaft begründete, was Legendre als die interpretatorische Revolution des 12. Jahrhunderts bezeichnet. Die Rezeption des römischen Rechts eröffnet danach eine auf den Text bezogene Methode der sozialen Organisation, der institutionellen Handlungsweise und gleichzeitig die grundlegenden Kategorien der gesellschaftlichen Strukturen und des subjektiven Lebensstils. Besonders bemerkenswert ist dabei für Legendre das Prinzip der Autorität, welches im Zusammenhang mit der Macht des Vaters als Autor des Gesetzes steht. III. Die Kasuistik des Rechts und des Unbewussten Eine weitere Beobachtung führt wieder zu dem Fall Lorties und dessen besonderer Beispielhaftigkeit für Legendres Begriff von der strukturellen Verknüpfung und Bedeutung des „Gesetzes im Unbewussten“: Sowohl das Recht als auch die Psychoanalyse sind methodisch jeweils Formen der Kasuistik. So kann man mit Legendre folgern, dass die wohl tiefste und in einem gewissen Sinn auch offensichtlichste Parallele zwischen den beiden Disziplinen darin liegt, dass beide eine Methode zur Lösung individueller Konfliktfälle liefern. Zwar ist die Psychoanalyse zunächst auf intra-personelle Konflikte gerichtet, z. B. eine neurotische Über-Ich-Fixierung, wohingegen das Rechtssystem ein Modell zur Beilegung inter-personeller Konflikte darstellt. Allerdings erkennt man bei näherem Hinsehen, dass auch die Psychoanalyse die (Re-)Integration des Analysanden auf der inter-personellen Ebene (z. B. in der Familie oder am Arbeitsplatz) verfolgt, ebenso wie auch ein Rechtssatz nicht nur das Verhältnis zwischen den Rechtssubjekten reguliert, sondern dem individuellen Rechtssubjekt über seine vom Gericht oder Verwaltungsbeamten gelieferte Begründung auch eine Möglichkeit geben soll, den Konflikt innerlich ablegen zu können. Legendre unterstreicht, dass die kasuistische Tradition auf die mittelalterliche Rezeption und Ausarbeitung des römischen und kanonischen Rechts zurück geht und neben den normativen Fragestellungen des Rechts die Aufnahme eines komplexen Apparates von Gewissens- oder Ethikfragen einschließt. Von Bedeutung ist hierbei auch, dass diese vielfältigen Problemstellungen und Streitfragen die Moraltheologie als mögliche Grundlage des 47

Goodrich, „The Unconscious is a Jurist“: Psychoanalysis and Law in the Work of Pierre Legendre, in: 20 Legal Studies Forum, S. 202, mit Verweis auf Legendre, Les enfants du texte: Etude sur la fonction parentale des états.

64

Kap. 2: Legendre und der institutionelle Vater im Rechtsstaat

Rechts einführte, so dass Fragen des Rechts und des Gewissens oder der Ethik parallel und auch in einer parallelen Terminologie behandelt wurden. Rechts- und Ethikfragen gehörten beide der „Institution des Lebens“ an, der gesellschaftlichen Manifestation der Differenz, dem Reich der Dinge, über welche gerichtet wurde. Der individuelle Fall und Handlungsgrund unterliegt zwar dem Recht; dieses kann sich aber auf das Gewissen oder die Gesetze eines Staates beziehen und sowohl spirituell als säkular motiviert sein; in jedem Fall besteht jedoch ein Subjekt der Entscheidung, welches notwendigerweise mit dem Sachverhalt verknüpft ist. So zeigt sich nach Legendre/ Lacan, dass die Differenz zwischen den institutionellen und den intrapsychischen Kategorien des Richtens zu einer Illusion wird.48 Es handelt sich danach schlicht um zwei Seiten einer Medaille. Die Lösung eines Falls erfordert ein Urteil, welches sich an das Subjekt richtet und dabei gleichermaßen den Konflikt mit dem anderen und seinem eigenen Unbewussten und dessen Gesetz adressiert. In dem komplexen Zusammenspiel der Geschichte der Fallstudien und der Kunst der Kasuistik findet Legendre damit schließlich einen Raum, in dem er das Bestehen eines Gesetzes im Unbewussten ausmachen kann.49 IV. Paternität als Referenzpunkt des Rechts Die zentrale Funktion des Rechts in Legendres Theorie kann auch als die des „Referenzpunktes“ beschrieben werden, welcher – wenn man an die ödipale Konstellation anknüpft – auf den Vater verweist. Allerdings handelt es sich nicht um einen direkten, unmittelbaren Verweis, denn der Vater steht nicht für sein eigenes Recht, er kann sich selbst auf kein Recht stützen; er repräsentiert nur eine weitere Repräsentation, welche auf der Ebene des Rechts im gesellschaftlichen Kontext auf den „Vater an sich“ verweist. Hierin liegt das Prinzip der Reproduktion des sprechenden Subjekts selbst verankert.50 Aus dieser symbolischen Funktion des Vaters in Kultur und Sprache formt sich die Repräsentation der Beziehung zum Ursprung und zum Verbot, worin gleichzeitig die grundlegende Kraft und Wirkung des Rechts liegt: „Das gesetzliche Verbot bezieht sich auf die symbolische Grundlegung in einer Autorität oder einem Raum von Macht, der dem positiven Recht gleichermaßen voran und darüber hinaus geht. Im Sinne seiner symbolischen Funktion steht jede 48

Vgl. Caudill, Lacan and the Subject of Law: Toward a Psychoanalytic Critical Legal Theory. 49 Goodrich, „The Unconscious is a Jurist“: Psychoanalysis and Law in the Work of Pierre Legendre, in: 20 Legal Studies Forum, S. 206. 50 Legendre, L’Inestimable Objet de la Transmission, S. 312, zitiert aus: Goodrich, Languages of Law: From Logics of Memory to Nomadic Masks, S. 286.

C. Ödipusmythos als Allegorie von Subjekt und Autorität

65

Äußerung des Rechts nicht nur in Bezug zu einer Norm oder einem Statut, sondern auch zu einer Autorität, die über dem Buchstaben des Rechts steht, welche Recht erst ermöglicht und seine Auslegung legitimiert. Das Verbot bezieht sich folglich auf etwas, das die transzendente Qualität der Rechtsauslegung genannt werden könnte.“51

Innerhalb der modernen Rechtskultur wird das positive Recht zum Träger der symbolischen Funktion des Verbots; in ihm liegt der Raum der mythischen Beziehung zu Ursprüngen und Grenzen. Indem es diese in den Raum des Mythischen verortet, legitimiert das Recht seine Erscheinungsformen und Äußerungen: „Von diesem emblematischen Fluchtpunkt aus erhält das Recht sowohl seinen Namen, als auch seine Autorität: Wie ein Schirm vor dem unaussprechlichen und unsichtbaren Reich des Anderen hängt das Bildnis des Kaisers dort, um zu vermitteln, um unschuldig das wahre Recht zu sprechen.“52

Recht ist niemals bloß eine positivierte Verhaltensanforderung in Form eines utilitaristischen Herrschaftsausdrucks, sondern darüber hinaus eine als transzendent empfundene Sphäre. Mit anderen Worten: Recht basiert auch auf einem Phantasma, das sich in der Analyse Legendres als die Beschwörung eines Ortes unhinterfragbarer mythischer Autorität beschreiben lässt, die sich im Unbewussten – oder nach Lacan: – im Reich des Anderen entfaltet. Man kann an dieser Stelle einen feinen, aber doch markanten Unterschied zwischen den beiden Theoretikern ausmachen. Während Legendre immer den mythischen Charakter des Rechtssystems als eine ihm äußerlich anhaftende Eigenschaft betont, ist das „Reich des Anderen“ bei Lacan die Beschreibung eines weitaus abstrakteren Phantasmas, welches sich erst in der höchst individuellen Beziehung des Subjekts zu seinen Signifikanten konkretisiert und damit durchaus Raum für ein deutlich weniger mythisch geprägtes Rechtsverständnis schafft. Der Kreis schließt sich nur dann, wenn man den Mythos als unvermeidlichen Teil zur Beschreibung dieses spezifischen Phantasmas anerkennt, welches Legendre den okzidentalen Rechtsordnungen attestiert. So gehen Legendre und Goodrich davon aus, dass Gesetze als Reaktion auf die externen Regulationsanforderungen der Gesellschaft bloße „Unfälle“ oder bestenfalls Effekte eines vorausgehenden, überlegenen Grundes sind, welcher die innere Natur und das höchste Gesetz des Subjekts formt.53 Die Referenz zu dem unnahbaren, mystischen – phantasmatischen – Grund der Autorität beantwortet die Ursprungsfrage und formt so die Aner51

Goodrich, Law and the Unconscious: A Legendre Reader, S. 259. Goodrich, Languages of Law: From Logics of Memory to Nomadic Masks, S. 271. 53 Goodrich, Law in the Courts of Love: Literature and other minor Jurisprudences, S. 21. 52

66

Kap. 2: Legendre und der institutionelle Vater im Rechtsstaat

kennung des Rechts und zwar durch die Garantie der Erfahrung der kulturellen symbolischen Ordnung als „Wahrheit“. Dieser Prozess manifestiert sich über die Einschreibung einer Genealogie der Ursprünge des Rechts in das Unbewusste. In diesem Ursprung treffen sich alle Systeme, die über den Mechanismus der Anerkennung als Wahrheit gesellschaftskonstituierend wirken: „Wenn sich die Strukturformeln des Rechts, der Religion und des Mythos zu reproduzieren scheinen, ist dies nur deswegen der Fall, weil jede von ihnen einen Modus der Produktion und Manipulation der Glaubensverknüpfungen darstellt: des Schmiedens unbewusster Identifikationen.“54

Ein entscheidendes Charakteristikum der Referenz ist – parallel zu Lacans Namen-des-Vaters – dass sie als Name funktioniert. Ein Name, der in die symbolische Ordnung und – in der Analyse Legendres – in die Rechtstexte eingeschrieben ist. Der Name bezieht sich allerdings nicht auf etwas – ein Ding – das außerhalb des Textes liegt, sondern auf eine ihm selbst innewohnende Referenz. Der Name eines Textes kann sich nur auf andere Texte innerhalb derselben Ordnung beziehen, die sich durch ihre Zugehörigkeit zu einem System legitimiert und eint. Für den Gesetzestext ist dies die „mythische Einheit des Rechts“, d. i. die Funktion, welche den individuellen Rechtsakt überdauert und dadurch beweist, dass die Institutionen als der inkorporierte Glaube an die Rechtsordnung der Referenzpunkt, die „NullFunktion“ sind.55 Der Referenzpunkt hat eine außerordentliche Wirkung auf das Subjekt. Mit Goodrich: „Der Text ist ein Land (. . .). In seinem Namen leben und sterben wir; er ist unausweichlich, er ist Vernunft, Symbol des Lebens.“56

Für Legendre liegt die Bedeutung dieser Referenz darin, dass die Vernunft selbst innerhalb der genealogischen Linie institutionalisiert ist, auf deren Endpunkt die Referenz verweist, und somit tief im Unbewussten verortet wird. Das Problem der Vernunft wird damit gleichermaßen als das Problem der Humanisierung des Individuums erkannt, welche sich nur in Abhängigkeit zu den unbewussten Repräsentationen des mythischen Ursprungs des Rechts vollziehen kann.57 Die Referenz ist damit, indem sie die Übertragung in das Unbewusste leistet, sowohl Grund der Anerkenntnis legitimer Auto54 Pottage, The Paternity of Law, in: Douzinas/Goodrich, Politics, Postmodernity and Critical Legal Studies, S. 150. 55 Goodrich, Languages of Law: From Logics of Memory to Nomadic Masks, S. 280 ff. 56 Goodrich, Languages of Law: From Logics of Memory to Nomadic Masks, S. 278. 57 Legendre, The Lost Temporality of Law: An Interview with Pierre Legendre, in: 1 Law and Critique, S. 5.

C. Ödipusmythos als Allegorie von Subjekt und Autorität

67

rität, als auch die Struktur und die Logik der Vernunft selbst. In der Konsequenz bedeutet das, dass sich das subjektive Vernunfterlebnis eines Rechtssatzes nicht an seiner Wirksamkeit für das Allgemeinwohl oder an einem beliebigen humanitärem Ziel misst, sondern ausschließlich an seiner Bezüglichkeit auf einen phantasmatischen Referenzpunkt, der sich auf der Ebene des Unbewussten auf den ödipalen Vater bezieht. So kommt man (ohne dass Legendre dies explizit äußert und vielleicht sogar bestreiten würde) zur Dekonstruktion des Vernunftideals, was zwar letztlich zu einer universellen Instabilität des Rechts in seiner Bezüglichkeit zu Vernunft und Wahrheit führt. Gleichzeitig kann man mit dieser These das Unbehagen gegenüber der Überzeugung von der Begründbarkeit des menschlichen Handelns aus Vernunftprinzipien erklären. Vernunft ist also nicht eine Form des Denkens, welche von den Affekten befreit ist, sondern sie tritt genau dann ein, wenn das Subjekt eine Bezüglichkeit zu einem phantasmatischen Referenzpunkt fühlt. So ist Legendre in jedem Fall näher an Nietzsche, als z. B. am Deutschen Idealismus: Nach Nietzsche muss eine kritische Aufklärung die Vernunft sogar vom Zwang der Wahrheit befreien, um eine andere Vernünftigkeit, die der „wahren“ Vernunft als Unvernunft gilt, um den Anderen, das ihr Selbst ist, zum Durchbruch zu verhelfen. Nicht nur die Affekte müssen mit Vernunft aufgeklärt werden, sondern die Vernunft muss positiv aus der leiblichen „Unvernunft“ der Affekte verstanden werden und nicht bloß durch rationalen Ausschluss der Affekte als des schlechthin Bösen der Vernunft, das aus deren Reich auszuschließen ist wie aus dem Reich Gottes.58 In der von Lacan inspirierten Version Legendres werden diese Affekte zu einem weiteren Begriff für das phantasmatische Genießen, welches in dem Vernunftsschluss liegt. Diesen universellen Mechanismus konkretisiert Legendre auf die Formel von dem Theater des mythischen Ursprungs, das die Rechtsinstitutionen als manifester, d.h. „sichtbarer“ Teil dieses Phantasmas inszenieren. Die Hypothese einer unbewussten, über die Institutionen vermittelten Referenzbezüglichkeit des Rechtsschlusses oder des gefühlten Rechts im Rechtssubjekt basiert letztlich auf einem Verständnis des institutionellen Rechtswesens, nachdem die einzelnen Prozesse, welche innerhalb der Rechtsinstitutionen ablaufen, um eine psychische Metaebene ergänzt werden, welche – wenn man Legendre und Goodrich hier folgen will – nur aus einer abstrakt-distanzierten Perspektive erkennbar ist. Man kann sagen, dass Legendre dasjenige, was bei Kant und anderen als metaphysische Ebene in der Rechtbegründung beschrieben wird, auf die Ebene des Unbewussten als die phantasmatische Beziehung des Rechtssubjekts zu den Institutionen 58

Vgl. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, in: KSA Band 13, S. 536 ff. und Caysa, Nietzsches existenzielle Wende der Aufklärung und der Kritik, in: Reschke, Nietzsche, Radikalaufklärer oder radikaler Gegenaufklärer?, S. 264.

68

Kap. 2: Legendre und der institutionelle Vater im Rechtsstaat

überträgt. Legendre unterstreicht das unbewusste Streben nach einer übergeordneten Autorität, die für ihn in die Rechtsinstitutionen als deren Repräsentanten „hineinphantasiert“ wird. Ob er damit den (psychologischen) Kern der Institutionen umfassend und ausschließlich getroffen hat, kann wohl bezweifelt werden. Dass die lange Geschichte der Metaphysik ihren tieferen Grund in einem Phantasma hat, ist allerdings ein bedenkenswerter Ansatz, auch wenn die psychoanalytischen Formulierungen deutlich unbequemer wirken, als die in der Metaphysik gängigen. V. Referenzübertragung, Genealogie und Dogmatik Wie funktioniert die Referenzübertragung und wie wirkt sie konkret auf das Subjekt? Legendre geht davon aus, dass die gesellschaftliche Produktion und Übertragung des Rechts durch Texte initiiert wird, und zwar insbesondere diejenigen, welche als Teil der Dogmatik verstanden und nach ihren stilistischen und inhaltlichen Anforderungen produziert werden. Der Begriff der Dogmatik hat eine Reihe von Implikationen, welche sich im Kern auf die Ableitung von Verhaltensanforderungen aus rechtlichen Dogmen bezieht. Dabei geht es um die Aufstellung einer sprachlich-logischen Kette, ausgehend von den übergeordneten, z. B. in der Verfassung verankerten Rechtssätzen, hin zu dem konkreten Rechtssatz, welcher einen individuellen Konflikt lösen soll. Die Frage nach der gesellschaftlichen Existenz und Wirkung des Rechts ist damit eine Frage des Rechtsdiskurses, der in einem Bedingungsverhältnis zur Dogmatik steht. Nach Legendre reduziert sich das Gesellschaftliche auf den Diskurs als die Abfolge von Wörtern, die eine textuelle Ordnung bilden, welche sich an das Subjekt richtet. Bildlich gesprochen handelt es sich um eine Inszenierung eines Lehrstückes mit dem Titel „Warum gibt es Recht?“, innerhalb dessen eine Fiktion der Ursprünge dargestellt wird.59 Der Sinn der Dogmatik liegt also darin, einen Ort des Rechts zu inszenieren, gleichzeitig aber auch, die Existenz des Rechts und seine Übertragung zum Subjekt mittels des Diskurses und des Textes zu garantieren. So erscheint uns Recht maßgeblich als integraler Bestandteil einer Anordnung von Texten, welche in den traditionsreichen westlichen Gesellschaften die Funktion erfüllen, den Menschen mit der institutionellen Dimension des Verbots, bekannt und es verständlich zu machen.60 Es ist also die Abstammung, der Status des Teils der genealogischen Linie zum mythischen Ursprung, welche für ihre Existenz und Wirkung als institutionelles Phänomen bürgen. Mit Hachamovitch: 59 60

Legendre, The Other Dimension of Law, in: 16 Cardozo Law Review, S. 949. Legendre, The Other Dimension of Law, in: 16 Cardozo Law Review, S. 953.

C. Ödipusmythos als Allegorie von Subjekt und Autorität

69

„Das Recht ist ein Ort mit einer mythischen Genealogie, ein Ort, der wieder und wieder eingesetzt wird, um die Erscheinung von Wahrheit zu bezeichnen. Das Leben in der Industriegesellschaft erkennt sich selbst nur, indem es sich zu dem absoluten Ort des Wissens in Beziehung setzt, blutrot mit einem unvergesslichen Bild in seiner Mitte, ein Theater der Wahrheit, welches den logischen Ort eines Diskurses bezeichnet, ein Diskurs, in welchem das Orakel der Macht enthalten ist.“61

In der Art und Weise, wie sich Rechtstexte voneinander ableiten, wie sie sich in ein kanonisches System einordnen, liegt die Übertragung sowie der Fortbestand des institutionellen Rechts in das Unbewusste begründet. Das Bestehen des Rechts im „Unbewussten der westlichen Institution“ ist das Bestehen auf einer hierarchischen Tradition großer Texte, das „Bestehen auf einem Text ohne Subjekt“.62 Durch die Anordnung und inhärente Logik der dogmatischen Texte werden dem individuellen Subjekt ein Ort und ein Name innerhalb der kulturellen Gesellschaftsordnung zugewiesen, zusammen mit der normativen Logik, ein Subjekt des Unbewussten zu sein. Legendre schafft schließlich den Brückenschlag von der Phylogenese Freuds in Totem und Tabu zu den Wurzeln der abendländischen Rechtstradition im römischen Recht. So wird dem Subjekt, indem es auf einen juristischen Stil – die Kategorien des römischen Rechts und seiner Nachfolger – festgelegt wird, ein Status innerhalb der Reproduktion seiner Spezies gegeben. Dieser Status bezieht sich nicht nur auf seine Person, sondern auch auf die unbewussten Identifikationen, welche die Konfrontation des Subjekts mit seiner Endlichkeit – dem Tod – strukturieren und die notorische Frage des Inzests berühren.63 Das Recht wirkt humanisierend, indem es die Fiktion der Vereinbarkeit von Subjektivität durch die Reihe von Texten und die Rolle der Juristen produziert, welche die Genealogie und Bedeutung dieser Texte interpretieren: „Die Reflexion der Fundamente präsentiert sich als der Weg vom Ursprung, und dieser Ursprung ist ein Wort, das Wort „Recht“ [ius]. Der Jurist ist eingeladen, die Abstammung dieses Namens zu erforschen.“64

In der Deutung der Referenz als Fundierung eines Ursprungsmythos muss der Text selbst als Beschwörung einer Dimension des heiligen Mysteriums verstanden werden, denn seine Struktur gründet sich auf eine originäre Wahrheit, die in der Metaphysik mit der göttlichen Quelle der leben61 Hachamovitch, One Law in the Other, International Journal for the Semiotics of Law III (8), S. 194. 62 Goodrich, Law and the Unconscious: A Legendre Reader, S. 22. 63 Legendre, L’Inestimable Objet de la Transmission, zitiert aus: Pottage, The Paternity of Law, in: Douzinas/Goodrich, Politics, Postmodernity and Critical Legal Studies, S. 151. 64 Legendre, The Other Dimension of Law, in: 16 Cardozo Law Review, S. 948.

70

Kap. 2: Legendre und der institutionelle Vater im Rechtsstaat

den, orakelhaften Schrift zusammenfällt und politisch als der souveräne Autor des Gesetzes repräsentiert wird.65 Von zentraler Bedeutung für die Übertragung und Wirkung der Referenz ist, dass ihr eine Ableitungslogik zugrunde liegt, die mit der Sprache des Unbewussten korrespondiert. Nur deswegen kann sie das Subjekt leidenschaftlich und machtvoll an sich binden. Hachamovitch spricht hier von einem „prêt-à-porter Phantasma“, welches das Recht dem Subjekt in institutionellen Sprachakten vermittelt. So sucht das Subjekt die Bestimmung des Rechts in dessen ekstatischen Charakter, in der Fähigkeit, einen unbewussten Glauben an einen Diskurs zu mobilisieren, welcher durch den „übermächtigen Signifikanten“ inspiriert ist.66 Die radikale Schlussfolgerung für eine psychoanalytische Rechtstheorie in der Folge Legendres ist damit, dass sich die Struktur des Unbewussten – weil es durch das Recht institutionell nach seiner Genealogie, Logik und Vernunft geformt wird – mit der des Rechts deckt: „Das Unbewusste ist ein Jurist.“67

Die Übertragung des Rechts in das Unbewusste wird erst dadurch garantiert, dass das Unbewusste durch die Funktion und Wirkung des institutionalisierten Rechts mobilisiert wird. Zentral ist hierbei der Mechanismus der Wiederholung, der innerhalb der Übertragung der Referenz durch das institutionalisierte Recht aktiviert wird, denn die Beziehung zum mythischen Ursprung wird vom Subjekt verdrängt. Die institutionalisierte Form der Reproduktion des Rechts schreibt dem Subjekt deswegen einen sich allein im Unbewussten entfaltenden Wiederholungsmodus ein. Der Jurist wiederholt unbewusst und unhinterfragt, weil er den genealogischen Ausgangspunkt, dasjenige, was als die „göttliche Quelle“ erscheint, verdrängt hat. Was bleibt, ist die aus dem Ursprung abgeleitete Logik der Vernunft und die lineare Abfolge des Textes, welche die Logik der Referenz – ohne sie dem Bewusstsein zugänglich zu machen – übertragen.68 Die Besonderheit an Legendres Bestimmung der Dogmatik ist nicht allein, dass sie als ebenso notwendige wie vergängliche Manifestation des juristischen Diskurses die Referenz konstruiert und garantiert; Dogmatik hat die Funktion, das Subjekt für die Logik der Institutionen einzunehmen, und zwar durch die ununterbrochene Rekonstruktion der Realität selbst. Die Bedeutung von Dogmatik liegt darin, dass sie eine 65

Goodrich, Law and the Unconscious: A Legendre Reader, S. 262. Hachamovitch, One Law in the Other, in: International Journal for the Semiotics of Law III (8), S. 194. 67 Pottage, The Paternity of Law, in: Douzinas/Goodrich, Politics, Postmodernity and Critical Legal Studies, S. 161. 68 Goodrich, Law in the Courts of Love: Literature and other minor Jurisprudences, S. 174. 66

D. Recht, Hypermodernität, Verlust des Glaubens

71

„Verbindung von Bildern (‚montages‘) hervorbringt, die uns zwingt, den Blick darauf zu richten, worum es in institutionellen Systemen geht: die Beziehung der Menschheit zum Recht.“69

Dogmatik „verführt“ das Subjekt, indem es im Unbewussten ein von leidenschaftlicher Verbildlichung geprägtes Verhältnis zum Text hervorruft und so unmittelbar mit dem Begehren korrespondiert. So lässt sie sich als die juristische Kunst beschreiben, das unbewusste Begehren zu vereinnahmen, welches so empfänglich gegenüber dem Zauber des Bildes ist. Die Funktion der Dogmatik ist es, Repräsentationen zu weben, welche das begehrende Subjekt verführen und faszinieren und es in einer erotischen Verhaftung zu dem Bild des Absoluten halten.70 So enthüllt sich ein vollständig poetisch-künstlerischer Aspekt der Dogmatik, ein Mechanismus, der sich treffsicher parallel zur Sublimierungsfunktion von Dichtung und darstellender Kunst beschreiben lässt. Akzeptiert man, dass Dogmatik auf der Ebene des Unbewussten funktioniert, erscheint dies plausibel. In der dichterischen, „imaginären“ Seite des Rechts liegt allerdings ein noch größeres Potential, nämlich im Subjekt eine Glaubensdimension zu begründen, mit anderen Worten: den Glauben an die Institutionen des Rechts einzufordern. Hierin findet sich die Antriebskraft der gesamten Zivilisation, welche Legendre als das Territorium und gleichermaßen die Institution des Bürgerlichen Rechtssystems erkennt und die durch Gedächtnis und Wiederholung innerhalb einer religiösen Struktur aufrecht erhalten werden. Das Subjekt wird damit in einer Beziehung der „Lehenstreue“ gehalten, institutionalisiert durch „industrielle Botschaften als Strukturen politischer Liebe, structure caritas, die den Sozialkörper in einem liturgischen Effekt erlöst.“71

D. Recht, Hypermodernität, Verlust des Glaubens Legendre geht jedoch über die psychoanalytische Untersuchung der historischen Wurzeln und Strukturen des abendländischen Rechts hinaus. Eine seiner Schlüsselthesen ist, dass die Legalität selbst in ihrem zeitgenössischpostmodernen Kontext gefährdet ist. Seine Kritik zielt auf die „technokratische Entmythisierung“, die er in der „hypermodernen“ Gesellschaft ausmacht, und welche die Mythen, d.h. die „sinnstiftenden Metaphern“ kon69

Legendre, Le Désir Politique de Dieu, S. 34, zitiert aus: Goodrich, Languages of Law: From Logics of Memory to Nomadic Masks, S. 273. 70 Pottage, The Paternity of Law, in: Douzinas/Goodrich, Politics, Postmodernity and Critical Legal Studies, S. 149. 71 Hachamovitch, One Law in the Other, in: International Journal for the Semiotics of Law III (8), S. 192.

72

Kap. 2: Legendre und der institutionelle Vater im Rechtsstaat

tinuierlich dekonstruiert.72 Der Systemfehler der postmodernen Gesellschaft liege darin, dass sie das Erbe eines mindestens zweitausendjährigen Prozesses zersetzt, in welchem die abendländischen Gesellschaften eine Verbindung zwischen dem mythisch-heiligen Referenzpunkt und einer Legalität schufen, welche die Reproduktion des gesellschaftlichen Menschen überblickt, sprich dem Subjekt das Sinngefühl vermittelt, Teil der genealogischen Linie seiner Spezies zu sein: „Die klassischen juridischen Fiktionen haben eine spezifische Verbindung zwischen der symbolischen Ordnung und dem unbewussten Begehren geschaffen. Indem wir diese Fiktionen ignorieren, ignorieren wir die essentielle und effektive Natur unserer Kultur.“73

Legendres Kernthese ist, dass der Postmodernismus die symbolische Funktion des Vaters untergräbt und so einen gesellschaftlichen Zustand schafft, in dem das Subjekt dem permanenten Risiko der Psychose ausgesetzt ist. Die moderne Gesellschaft scheine sich danach ihrer selbst einen immer größer werdenden Teil an Subjektivität zu verweigern. Legendre formuliert so eine Anklage gegen die zeitgenössische Zivilisation. Damit Subjektivität erscheint, müsse eine Referenz des Textes und der Institution bestehen, kurz, eine ganze Kultur der Elternschaft und Abstammung. Die Abschaffung der Abstammungsstruktur werde zu einem „kriminellen Akt symbolischer Entbehrung“.74 Die vom westlichen Humanismus initiierte Entwertung oder Pluralisierung des Referenzpunktes in der Gegenwartskultur bedeute weiter eine neue Form der „Enthumanisierung“, welche sich als „Krise der Vaterschaft“ äußere.75 Man könne in der Misere schon das Ausmaß einer mythologischen, nicht bloß anthropologischen Dimension erkennen, denn ihr Ergebnis sei die Aufspaltung der vormals bestehenden Einheit der politischen Macht, 72

Legendre, The Lost Temporality of Law, 1 Law/Critique (1), S. 16. Pottage, The Paternity of Law, in: Douzinas/Goodrich, Politics, Postmodernity and Critical Legal Studies, S. 153. 74 Schütz, Sons of Writ, Sons of Wrath: Pierre Legendre’s Critique of Rational Law-giving, in: 16 Cardozo Law Review, S. 1016. 75 Pottage, The Paternity of Law, in: Douzinas/Goodrich, Politics, Postmodernity and Critical Legal Studies, S. 154. Legendre thematisiert mit der „Krise der Vaterschaft“ ein mittlerweile viel und auf sehr verschiedenen Ebenen diskutiertes Phänomen, wobei es im Kern wohl meistens um die grundsätzliche Hinterfragung oder Infragestellung der traditionellen strukturellen Funktion des Vaters geht. Anfang der neunziger Jahre interessierte man sich z. B. in der sozialwissenschaftlichen Forschung (und in den Medien) vor allem dann für die Person des Vaters, wenn dieser als Mißbraucher seiner Kinder auftrat. Lenzen spricht deswegen von „fortgesetzte(n) Diffamierungen und vaterfeindliche(n) Tendenzen, Tendenzen der Liquidation des Vaters, Tendenzen zur Reduktion väterlicher Funktionen“ (Lenzen, Vaterschaft. Vom Patriarchat zur Alimentation, S. 239). 73

D. Recht, Hypermodernität, Verlust des Glaubens

73

welche sich auf ihre Vollstreckungsmöglichkeit stützt, und der Macht, welche auf eine unbewusste, nicht lenkbare Anerkennung gestützt ist. Diese Einmischung habe die westlichen Regierungssysteme dazu gebracht, die symbolische Ordnung, innerhalb der sich Subjektivität in Form eines institutionellen Lebens entfalten kann, zu korrumpieren.76 Dabei sei es insbesondere die moderne und postmoderne Wissenschaft, welche – indem sie die Grenzen der Manipulierbarkeit der menschlichen Existenz verkennt – den symbolischen Status der Referenz äußerst wirksam untergräbt. Wissenschaft, als Meisterin einer unendlich manipulierbaren Textur, bestätigt gebührend, dass nichts verboten oder unmöglich ist. Die Reproduktion des Menschen als Frage der religiösen oder kulturellen Interpretation ist durch eine Technologie ersetzt worden, welche nach Legendre kaum mehr kann, als Fleisch zu produzieren.77 So offenbart er ein ethisches Anliegen, mittels der mythischen Inszenierung der Justiz eine Aufwertung und Kommunikation der Referenz zu mobilisieren.78 Goodrich kommentiert dies in seiner Einschätzung zum Recht im Postmodernismus: „Die postmoderne These, dass wir weniger vertragsschließende Subjekte des Rechts, als vertragsgebundene Reliquien sind, geisterhafte Formen eines Aufklärungsprojekts, das von der Geschichte überholt und überdauert wurde, erfordert eine Neustrukturierung des gesamten Prozesses im Umgang mit Tradition.“79

Legendre argumentiert gegen die postmoderne Dekonstruktion der Referenz und für eine Rückkehr zu den Wurzeln und der Kunst der traditionellen Rechtsdogmatik als Quelle der Wiederaufrichtung der Referenz in einer Zeit, in der sie zu kollabieren droht. Es geht ihm um eine Wiederbelebung des Textes durch eine Revolution in der Jurisprudenz, die das Ziel hat, wieder ein „sprechendes Recht“ hervorzubringen.80 Die Mittel, mit denen dem „hypermodernen Recht“ widerstanden werden könne, liegen in der emotionalen Dimension des Rechts, seinen Gestalten, Figuren, seiner Architektur, seinen Riten und Mythen.81

76 Schütz, Sons of Writ, Sons of Wrath: Pierre Legendre’s Critique of Rational Law-giving, in: 16 Cardozo Law Review, S. 1007. 77 Pottage, The Paternity of Law, in: Douzinas/Goodrich, Politics, Postmodernity and Critical Legal Studies, S. 153. 78 Pottage, Crime and Culture: The Relevance of the Psychoanalytical, in: 55 The Modern Law Review, S. 423. 79 Goodrich, Languages of Law: From Logics of Memory to Nomadic Masks, S. 8. 80 Goodrich, Translating Legendre or, The Poetical Sermon of a Contemporary Jurist, in: 16 Cardozo Law Review, S. 970 ff. 81 Goodrich, Oedipus Lex, S. 15; Law and the Unconscious: A Legendre Reader, S. 16 ff.; Languages of Law: From Logics of Memory to Nomadic Masks, S. 11.

74

Kap. 2: Legendre und der institutionelle Vater im Rechtsstaat

E. Die Beschwörung des Mythos im modernen Rechtsstaat Vor dem Hintergrund, dass es sich um eine Theorie aus dem späten 20. Jahrhundert handelt, ist Legendres Insistieren auf die Notwendigkeit von Mythos und Heiligtum zunächst erstaunlich. Warum braucht das Subjekt am Ende der Postmoderne noch metaphysische Konstruktionen, um staatliche Gesetzesautorität anerkennen zu können? Reicht nicht die Erkenntnis, dass sich unser Rechts- und Wertesystem im sozialen Zusammenleben etabliert hat und – abgesehen von den notwendigen Konflikten und nie vermeidbaren Unstimmigkeiten im Detail – den Rechtssubjekten größtmögliche Entfaltungsspielräume bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung des befriedeten Zusammenlebens erlaubt? An dieser Stelle ist es wichtig, die psychoanalytische Dimension und die Nähe zu Lacan in Legendres Theorie zu betonen: Die Heimat des Subjekts liegt nicht im Bewussten, sondern im Unbewussten. Der hier wichtige Lacan-Satz, dass Gott unbewusst sei,82 kann in dem Sinne interpretiert werden, dass sich das „Göttliche“ immer dann offenbart, wenn sich das Subjekt auf das Unbewusste einlässt. So würde der psychoanalytische Ansatz, der immer von dem Subjekt des Unbewussten ausgeht, bei der Frage nach den psychischen Bedingungen für subjektive Rechtsbindung zwangsläufig zu einem – notwendig als wahr empfundenen – Bezug zum Heiligtum führen. In der letzten Konsequenz müsste dann auch eine Rechtstheorie, die den Ort des Göttlichen im Unbewussten sieht, Gott als wahr anerkennen, um selbst glaubwürdig zu sein. Genauso besteht aber die Möglichkeit, den Fokus auf die subjektive Ebene als das, was sich zwischen Körper, Sprache und Imagination abspielt, zu richten. Dann spielt die Phantasmenbildung die entscheidende Rolle. Das Subjekt des Unbewussten ist danach eine Interpretation des menschlichen Seins als von Phantasmen strukturiert. Diese sind aber nicht belanglos, sondern sie geben dem Subjekt Halt und Orientierung, ungeachtet der Tatsache, dass sie grundsätzlich analysierbar und auflösbar sind. Die (therapeutische) Analyse ist aber auch aus einer klinischen Perspektive nur statthaft, wenn das spezifische Phantasma zu Leiden Anlass gibt, wenn das Subjekt also überzeugt ist, dass sein Leben ohne dieses Phantasma erträglicher wäre. Insofern kann man Legendres Analyse in der Weise verstehen, dass er das Phantasma eines heiligen Ortes als Ursprung des Rechts als notwendigen Modus für eine Gesellschaft betrachtet, die wirklich an die Richtigkeit ihres Rechts glaubt. Eine Hypermodernität, welche Gott sozusagen „weg-therapiert“, ist für den Rechtsstaat subversiv. Recht ist nur durch den Bezug auf seine heilige Quelle richtig. Wenn man die Frage nach Gottes Wahrheit 82

Lacan, Das Seminar XI: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 65.

E. Die Beschwörung des Mythos im modernen Rechtsstaat

75

nicht stellen möchte, muss man davon ausgehen, dass es keine andere Heimat als die des Phantasmas gibt. Die Frage nach der Wahrheit Gottes verliert damit an Bedeutung, vorausgesetzt man lässt sich darauf ein, das Phantasma nicht gering zu schätzen oder abzulehnen. Vielmehr gilt es anzuerkennen, dass das menschliche Sein auf diese Art strukturiert ist und keine andere Heimat als das Phantasma kennt.83 Man wird Legendre damit wohl eher gerecht, wenn man die erwähnten Begrifflichkeiten und Bezugnahmen im Sinne einer Interpretation der Funktionsweise der Psyche begreift, wobei „das Heilige“ nicht als Verweis auf Repräsentationen von Übersinnlichem verstanden werden sollte oder muss, sondern vielmehr als Metapher für einen strukturellen Ort oder einen Prozess innerhalb der Psyche, an dem sich auch die Anerkennung von Gesetzen vollzieht. Legendre möchte nicht so sehr betonen, dass der Grund für die Autorität des Gesetzes in einem göttlichen Ursprung liegt. Seine Autorität beruht vielmehr auf einem unbewussten Phantasma, in welchem die Vorstellung von einem Heiligtum eine zentrale Rolle spielt. Man muss allerdings davon ausgehen, dass die Aura des Heiligtums in Bezug auf Rechtsautorität für Legendre strukturell nicht nur notwendig, sondern auch adäquat ist. Die Theoretisierung des Phantasmas als strukturelle Notwendigkeit macht eine so fundierte Rechtstheorie zwangsläufig zu einer „Geheimwissenschaft“; denn sobald das Rechtssubjekt mit dem phantasmatischen Charakter seines Glaubens konfrontiert wird, entsteht wieder das alte Misstrauen, dass Recht nur eine von Partikulärinteressen geleitete Willkürlichkeit sein könnte. Die Hypothese, dass es neben dem Phantasma nichts gibt, was unserer Erkenntnis zugänglich wäre, könnte dann ein nur schwacher Trost sein. Bemerkenswert an der Theorie Legendres ist zudem, dass er nicht nur psychoanalytische Ansätze in einen rechtstheoretischen Kontext überträgt, sondern auch eine geschichtliche Dimension hinzufügt: Legendre verortet die Entstehung der Funktion des Rechts in die historisch definierbare Ära der römischen Juristen, welche er für die Einsetzung der Strukturformel des Ursprungsmythos und damit für die Institutionalisierung der Humanität in der abendländischen Rechtstradition verantwortlich macht. Kernpunkt dieser Lesart ist es also nicht, Licht auf eine bestimmte Strukturierungsfunktion im Recht zu werfen, um so etwa zu einem revolutionierten Rechtsverständnis zu gelangen; vielmehr liegt dieser in der Anknüpfung der Psychoanalyse an die Funktion des Rechts, wie sie im Ursprung der westlichen Rechtstradition konstruiert wurde. Die Grundlage hierfür schafft ein differenziertes Verständnis des Unbewussten und seiner Verknüpfung mit der gesellschaft83 Vgl. Widmer, Descartes und Lacan: Wie cartesianisch ist die Psychoanalyse?, S. 12.

76

Kap. 2: Legendre und der institutionelle Vater im Rechtsstaat

lichen und biologischen Ebene des Humanen, welche in den Entstehungsprozess der abendländischen Rechtstradition integriert werden. Mit Goodrich: „In Legendres Analyse ahmt die Struktur des Rechts die der Psyche nach, und zwar aus dem einfachen historischen Grund, dass die scholastischen Kategorien, welche entworfen wurden, um die Seele zu regieren (regimen animarum) in beträchtlichem Maße mit den dogmatischen Kategorien sozialer Regulierung zusammen fielen.“84

Hierin erschließt sich die prägnante Aussage Legendres, dass das Unbewusste selbst alle Eigenschaften eines Juristen aufweist.85 Durch die Einführung der psychoanalytischen Theorie in die Rechtswissenschaft hat Legendre erheblich zum Verständnis der modernen Jurisprudenz beigetragen. Indem er die analytische Funktion des Vaters mit den grundlegenden Texten der westlichen Legalität über ihren mythischen Status verbindet, demonstriert er die Bedeutung des Rechts für die Zivilisation. Die Abstammung und Ableitung, die unbewusste Logik des rechtlichen Schließens, die Rolle des Dogmas und der poetischen Seite des Gesetzes werfen ein neues Licht auf die innere Struktur und Arbeitsweise der Rechtsinstitutionen. Legendre leitet das Studium und die Wissenschaft des Rechts zurück zu seinen mythischen Grundlagen und zeigt die unbewussten Strukturen auf, in denen die mythische Seite des Rechts wirksam ist. Legendres Werk wird von einem zentralen Aspekt getragen, welcher sich direkt auf Lacan bezieht: Der machtvollen Wiedereinsetzung des Vaters.86 Die für die Anerkenntnis von Rechtsnormen so wichtige mythische Autorität kann nur funktionieren, wenn der symbolische Vater den Ort der finalen Referenz einnimmt. So ist seine Position hinsichtlich der Frage nach dem Status der Vaterfunktion innerhalb der modernen Legalität eindeutig: „Es gibt etwas, von dem man sich nicht lossagen kann, nämlich die logische Verknüpfung, welche die juristischen Mechanismen der westlichen Industriegesellschaft mit der Geschichte des römischen Rechts verbindet und so das institutionelle Prinzip der Vernunft formt.“87

Die oft von einem gewissen Pathos getragenen Formulierungen Legendres und seiner Interpreten suggerieren zuweilen auch einen Widerspruch 84

Goodrich, Law and the Unconscious: A Legendre Reader, S. 33. Vgl. Goodrich, „The Unconscious is a Jurist“: Psychoanalysis and Law in the Work of Pierre Legendre, in: 20 Legal Studies Forum, S. 195. 86 Pottage, The Paternity of Law, in: Douzinas/Goodrich, Politics, Postmodernity and Critical Legal Studies, S. 167: „Legendre reinstates the father with a vengeance.“ 87 Legendre, L’Empire de la Vérité, S. 37, zitiert aus: Pottage, The Paternity of Law, in: Douzinas/Goodrich, Politics, Postmodernity and Critical Legal Studies, S. 166. 85

E. Die Beschwörung des Mythos im modernen Rechtsstaat

77

zu der sachlichen, entmythisierenden Sprache, in der psychoanalytische Texte regelmäßig formuliert sind. Dies führt zu Unsicherheiten, die nicht zuletzt die eigentliche Rolle des Vaters in Legendres Universum betreffen, wobei sich insbesondere die Frage stellt, wer oder was sich eigentlich hinter dem Begriff des Vaters verbirgt. Der Vater ist für Legendre vor allem ein inneres Bild, das dem mythischen Totem aus Freuds Fabel angenähert ist. Er ist damit gleichzeitig Auslöser und Repräsentant einer psychischen Struktur, welche die Anerkennung von Rechtsautorität sowohl bedingt als auch einfordert. Indem Legendre die „machtvolle Wiedereinsetzung des Vaters“ im Rahmen einer Rechtstheorie vollzieht, propagiert er ein konservatives Staatsverständnis, das ihn von anderen psychoanalytisch inspirierten Rechtstheoretikern wie Schroeder oder auch Žižek und nicht zuletzt von Lacan selbst deutlich abgrenzt. Costas Douzinas formuliert das Problem wie folgt: „Wenn Legendre zwei Formen des Rechts als strukturell parallel laufend analysiert, wiederholt er, was Lacan nicht müde wurde zu betonen. Nur an dem Punkt, wo er das Gesetz des Vaters wörtlich nimmt und zu einer juristischen Funktion macht, wenn er den Rechtsinstitutionen in ihrer konkreten Rechtspraxis die Aufgabe des Totems auferlegt oder psychische Funktionen zuschreibt, unterscheidet er sich vom Meister und macht den Rechtsdiskurs zum herrschaftlichsten von allen Diskursen [. . .] Während Lacan die Psychoanalyse zum Recht bringt, gibt Legendre das Recht der Psychoanalyse zurück und bringt so die orthodoxeste aller Rechtstheorien hervor.“88

Diese Wendung von einer analytischen zu einer programmatischen Theorie erschwert den neutralen Zugang zu Legendre erheblich, denn die Psychoanalyse ermöglicht zwar Aussagen über Ursprung und Wirkungsweise paternalistischer Strukturen im (Rechts-)Staat, sie propagiert diese aber nicht. Über die Analyse hinaus konstatiert Legendre die institutionelle Inszenierung eines Vaterbildes als Grundlage des Rechtsstaates und tritt so als konservativer Therapeut der abendländischen Zivilgesellschaft auf. Beachtlich ist dies vor dem Hintergrund, dass die Psychoanalyse auf einer gesellschaftlichen Ebene – zumindest wenn man Freud, Marcuse und aktuell Žižek heranzieht – fundamentale Kritikpunkte an der Zivilgesellschaft formuliert. In einem Punkt bleibt Legendres Werk allerdings unangefochten, und zwar darin, dass er beständig bekräftigt, dass zwischen den Domänen des Rechts und der Subjektivität ein kontinuierlicher Gleichlauf besteht. Recht ist immer subjektsbezogen, eine entsubjektivierte Ebene des Rechts ist nie mehr als eine imaginäre Größe, welche ihren Sinn darin hat, Rechtsbindung auf einer tieferen, nicht nur pragmatisch motivierten Ebene zu ermöglichen. 88 Douzinas, Psychoanalysis Becomes the Law: Notes on an Encounter Foretold, in: XX Public Forum 3, S. 354.

78

Kap. 2: Legendre und der institutionelle Vater im Rechtsstaat

Wenn Legendre behauptet, dass das Subjekt durch das Recht institutionalisiert wird und sich das Recht gleichzeitig aber auf anthropologische Fundamente der Subjektivität stützt, werden seine Thesen jedoch im Detail problematisch, da sie – wie bei Freud – empirisch oft nicht belegbar sind und damit ebenso phantasmatisch wirken, wie die mythischen Konstruktionen, welche er beschwört. Insbesondere die fundamentale Kritik am modernen demokratischen Staatswesen vernachlässigt deren ausdifferenzierte Pluralität rechtlicher Positionen, welche sich beständig in den kritischen Autoritätsdiskursen widerspiegelt. Man kann wohl mit Legendre sagen, dass eine mythische Beziehung den Glauben an das Recht als solchem erleichtert. Dass aber eine kritische Beziehung zu der – historisch präsenten – „Paternität des Rechts“ eine Tendenz zur Psychose haben soll und nur die vollständige Anerkennung des symbolischen Vaters als unvermeidlichen Bezugspunkt ein „gesundes“ Verhältnis zum Recht bedingen soll, kann mit Recht bezweifelt werden. Zu den zentralen Kritikpunkten an Legendre gehört schließlich auch, dass er Begrifflichkeiten Lacans um den Preis einer trügerischen Reduktion in seine Rechtstheorie importiert, indem er das Recht ausschließlich in der Dimension des Symbolischen verortet.89 Lacans Analyse der vier Diskurse, welche im späteren Verlauf der Arbeit ausführlich untersucht werden, postuliert im Gegenzug dazu eine strukturelle Heterogenität zwischen Recht und Psychoanalyse, welche im Ergebnis eine Reduktion des Rechts auf subjektive Phantasmen vermeidet.

89

Chaumon, Lacan – La loi, le sujet et la jouissance, S. 11.

Kapitel 3

Lacan und das Gesetz des Signifikanten Im folgenden Kapitel soll versucht werden, mit Hilfe von Lacans Theorie über die Struktur des Unbewussten zu einer Annäherung an spezifische rechtstheoretische Fragestellungen zu gelangen. Zentral ist dabei die Rolle der Sprache und insbesondere, welchen unbewussten Gesetzmäßigkeiten sie im Rechtsdenken des Subjekts folgt. Dabei soll auch gesagt werden, was das Rechtssubjekt eigentlich ist, was es antreibt und welche Mechanismen es zu einem Subjekt des Begehrens machen. Schließlich stellt sich auch die Frage nach der unbewussten Dimension des Gesetzes. Mit „Gesetz“ meint Lacan meistens nicht das positivierte, normative Recht eines Staates, sondern er zielt auf den ursprünglichen psychischen Mechanismus ab, der die Anerkennung von Normen ermöglicht. Die Psychoanalyse geht davon aus, dass es einen universellen Ablauf von Ereignissen in der Kindheit gibt, der „normal“ oder traumatisch verlaufen kann, wobei dies nur die Eckpunkte der Vielzahl von Entwicklungsmöglichkeiten beschreibt. Je nachdem, welchen Weg die Entwicklung nimmt, wird das Subjekt einen einfacheren oder schwierigeren Zugang zur Norm entwickeln.

A. Die Enstehung von Rechtssubjektivität Eine der zentralen Fragen für Lacan und die psychoanalytische Theorie im Allgemeinen ist das Phänomen der Subjektivität. Die hierzu entwickelten Antworten sollen Ausgangspunkt und Grundlage des folgenden Kapitels sein, wobei es insbesondere um die Frage geht, was „Rechtssubjektivität“ innerhalb der Analyse des Unbewussten bedeutet und welche Rolle dabei Gesetz und Autorität spielen. Zu den hierzu maßgeblichen Übereinstimmungen zwischen Freud und Lacan gehört, dass der Ödipuskomplex einschließlich seiner Ergänzungen und Variationen im Kastrationskomplex und in den Ursprungsmythen fundamentale Bedeutung für die Entstehung und das Verständnis von Subjektivität hat. Die Grundthese des folgenden Kapitels ist, dass Lacans Freudinterpretation als eigenständige Theorie vom Ursprung und der Wirkungsweise des Rechts gelesen werden kann, die sich radikal an dem unbewussten Begehren des Subjekts orientiert. Über Lacan soll dabei insbesondere die Bezie-

80

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

hung des Subjekts zum Recht als eine Form des Genießens – der „Erotik des Rechts“ – herausgearbeitet werden.1 Ziel der Analyse ist es zu zeigen, wie das Subjekt des Unbewussten sein Genießen innerhalb der und über die Rechtsordnung organisiert. Hierbei spielt der Ödipuskomplex eine entscheidende Rolle. Seine Bedeutung liegt konkret darin, dass er ein duales Begehren formuliert, welches das Subjekt dazu motiviert, ein spezifisches soziales Band mit anderen Subjekten zu knüpfen. Dieses soziale Band ist in seinem Wesen mit einem „Gesellschaftsvertrag“ vergleichbar, welcher den Zweck hat, die potentiell mörderische Konkurrenz um das imaginierte – unverfügbare – ödipale Objekt des Begehrens (die Mutter) aufzulösen. Der von Lacan vorgeschlagene „Vertrag“ basiert schließlich auf der Fiktion, dass das Begehren nicht auf eine Leerstelle – das objet petit’a – gerichtet sei. Manifestiert wird die Vereinbarung in der intersubjektiven Kommunikation, dem Diskurs, welcher als Ausdruck der gegenseitigen Anerkennung des Begehrens des anderen Subjekts die ödipale Aggression aus dem sozialen Zusammenleben herausnimmt.2 Sprache und Recht sind Ausdrucksformen von Subjektivität. Diesem Prozess liegt eine strukturelle Logik zugrunde, anhand der sich die subjektive Rechtsbindung – die Gesetzeskraft – psychologisch aufschlüsseln lässt. Lacan geht davon aus, dass Freud durch seine auf den Ödipus- und Kastrationskomplex bezogene Mythenschöpfung dieser Struktur eine epische Form gegeben hat, welche eine gewisse Vorhersehbarkeit in ihrer Funktionsweise garantiert.3 Was Freud in Form des Mythos beschreibt, interpretiert Lacan als strukturellen Einblick in die humane Sexuierung („sexuation“), womit er den Prozess der Entstehung und Reproduktion des Subjekts als Sprachwesen durch die Interpretation der sexuellen Differenz im ödipalen Konflikt bezeichnet.4 Lacan ermöglicht so Ausdifferenzierungen in der Analyse des Rechtssystems, die über Freuds grundlegende Aussagen zu Gesellschaft und Recht deutlich hinausgehen. Insbesondere die Analyse des Begehrens als Grundlage der Sprache und seine Strukturierung der vier Diskurse eröffnen die Möglichkeit, die gängigen Formen der Rechtsdiskurse innerhalb der Kategorien des Begehrens, der Wahrheit und des Wissens zu beschreiben. 1

Vgl. Schroeder, The Triumph of Venus: The Erotics of the Market, S. 42 ff. Vgl. Häußler, Gefühlskritik als Rechtskritik: Psychoanalytische Rechtstheorien und die Reflexion von Gefühlen in der Rechtsphilosophie, in: Bung/Valerius/Ziemann, Normativität und Rechtskritik (ARSP Beiheft 114), S. 220. 3 Ragland, Lacan and the Subject of Law: Sexuation and Discourse in the Mapping of Subject Positions That Give the Ur-Form of Law, in: 54 Wash./Lee Law Review, S. 1091; Lacan, The Seminar I: Freud’s Papers on Technique, S. 80. 4 Ragland, Lacan and the Subject of Law: Sexuation and Discourse in the Mapping of Subject Positions that Give the Ur-Form of Law, in: 54 Wash./Lee Law Review, S. 1091. Zur Terminologie siehe auch Evans, An Introductory Dictionary of Lacanian Psychoanalysis, S. 178 ff. 2

A. Die Enstehung von Rechtssubjektivität

81

Gleichzeitig wird über Lacan eine Theorie der Objekte des Rechts entwickelt, in der die Funktion des Moralgesetzes in seiner Beziehung zum positiven Gesetz erörtert wird. I. Der Ödipuskomplex als Grundlage des erotischen Rechtssubjekts Worin besteht die konkrete Bedeutung des Ödipuskomplexes für die Rechtstheorie? Lacan interpretiert ihn als Ursprungsformel der Subjektivität, für welche die Möglichkeit normativen Denkens Voraussetzung ist. Normatives Denken basiert auf einem Gründungsakt, der in der Psyche stattfindet. Dabei handelt es sich um die erzwungene Anerkennung des fundamentalen Verbotes der Mutter durch den Vater, welche in die Struktur des Unbewussten eingeschrieben wird und dazu führt, dass das Subjekt fortan begehrt. Der Unterschied zwischen dem Begehren und Wünschen oder Bedürfnissen liegt darin, dass das Begehren immer unbewusst ist. Es steht in Bezug zu unbewussten Repräsentationen und gehört deswegen in die Welt des Phantasmas. Lacan sieht in Freuds Mythos eine bildhafte Darstellung des grundlegenden Strukturierungsprozess des Unbewussten. Ausgehend von der Beobachtung, dass das Unbewusste von einem immensen Entzug von Lustgefühlen geprägt ist, findet Freud Spuren, die auf die Intervention eines unausweichlichen Verbots deuten, welches er auf eine erzwungene Organisation und Regulation der menschlichen Sexualität bezieht. Diese präzisiert er auf einen fundamentalen Konflikt zwischen Begehren und „Gesetz“. Das unbewusste Begehren entsteht konkret durch das väterliche Inzestverbot der Mutter als dem fundamentalen Befriedigungsobjekt.5 Die Erfahrung des verlorenen Objekts hinterlässt eine Repräsentation in Form einer Erinnerungsspur des ursprünglichen Befriedigungserlebnisses aus der ödipalen Beziehung des Kindes zur Mutter. Die Triebe werden zum Begehren, wenn sie auf diese Repräsentationen treffen.6 Freud geht davon aus, dass eine der unabdingbaren Komponenten dieser Erfahrung eine spezifische „Wahrnehmung ist, deren Erinnerungsbild von jetzt an mit der Gedächtnisspur der Bedürfniserregung assoziiert bleibt. Sobald dies Bedürfnis ein nächstes Mal auftritt, wird sich, dank der hergestellten Verknüpfung, eine psychische Regung ergeben, welche das Erinnerungsbild jener Wahrnehmung wieder besetzen und die Wahrnehmung selbst wieder hervorrufen, also eigentlich die Situation der ers5 Vgl. Häußler, Gefühlskritik als Rechtskritik: Psychoanalytische Rechtstheorien und die Reflexion von Gefühlen in der Rechtsphilosophie, in: Bung/Valerius/Ziemann, Normativität und Rechtskritik (ARSP Beiheft 114), S. 219. 6 Lacan, The Subversion of the Subject and the Dialectic of Desire in the Freudian Unconscious, in: Écrits: A Selection (Fink), S. 300.

82

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

ten Befriedigung wiederherstellen will. Eine solche Regung ist das, was wir Wunsch heißen; das Wiedererscheinen der Wahrnehmung ist die Wunscherfüllung.“7

Im selben Kontext führt Freud weiter aus, dass der Traum einen vollständigen psychischen Akt darstellt, dessen Antriebskraft immer das Begehren ist, das erfüllt werden will. Seine Schlussfolgerung ist, dass sich das Begehren auf die Wiederholung des Befriedigungserlebnisses bezieht. =) II. Die Spaltung des Subjekts (S und die Genese des Begehrens Die Frage nach der Entstehung des Begehrens, welches das Subjekt motiviert, innerhalb des Symbolischen zu agieren, beantwortet Lacan mit einem Schnitt oder einer Spaltung. Auf die konkrete Bedeutung von Lacans Begriff des Symbolischen wird noch ausführlich eingegangen. Kurz gesagt, handelt es sich um die Gesamtheit der (Sprach-)Zeichen, welche auch die Rechtsordnung einschließt. Bei der Spaltung des Subjekts handelt es sich um einen Vorgang innerhalb von Sprache oder, in Bezug auf den ursprünglichen Akt, um eine Verkettung von Erlebnissen, welche die spezifische Struktur des Unbewussten bestimmen, von der Lacan ausgeht. Die ursprüngliche Spaltung liegt in der infantilen Erfahrung eines Objektverlustes, welche den Mangel in das Sein des Subjekts einführt und damit das Begehren in Gang setzt. Lacan führt den Objektverlust auf die phantasmatische symbolische Kastration, die Freud im Kastrationskomplex beschreibt. Das ursprüngliche Begehren ist der Effekt eines Mangels, der aus der verlorenen Einheit mit der Mutter resultiert und der gleichzeitig den ersten Signifikanten im Subjekt als Sprachwesen markiert. In diesem Spannungsfeld zwischen Begehren und Symbol entsteht die Sprache. Sie bewirkt, dass das Dasein als Mangel- und Sprechwesen von dem Wunsch nach Rückkehr bestimmt wird, denn ein reales Objekt hat es, um auf den Organismus einzuwirken, nicht nötig, symbolisiert zu werden. Die phantasmatische Struktur des Begehrens des Subjekts ist darauf gerichtet, das (vermeintlich) verlorene Objekt an den Ort zurück zu bringen, an dem es gleichermaßen erwartet wird. Dieser „Platzverweis“ im Psychismus ist das Gesetz der komplexen Verkettung des symbolischen, imaginären und realen Registers, auf die noch ausführlich eingegangen wird. „Es gibt das Gefühl des Seins nur für ein sprechendes Subjekt: [. . .], das nicht das Reale, sondern die Sprache voraussetzt.“8 7

Freud, Die Traumdeutung, StA II, S. 539. Safouan, Die Struktur in der Psychoanalyse, in: Wahl, Einführung in den Strukturalismus, S. 276. 8

A. Die Enstehung von Rechtssubjektivität

83

Die Entstehung des ödipalen Begehrens folgt einem Prozess von Imaginierung und Symbolisierung, innerhalb dessen die phantasmatische Vorstellung von und Beziehung zu dem großen Anderen entscheidend ist. Das ursprüngliche Begehren des Subjekts ist auf ein inneres Bild von der pränatalen Einheit (der Mutterimago) gerichtet und wird in der symbolischen Textur des Diskurses zu einem unbewussten Verlangen nach Liebe, und zwar in Form der Anerkennung der eigenen Identität durch den großen Anderen.9 Der Andere ist eine imaginäre Repräsentation, ein Symbol der Vollständigkeit, die dem Mangel entgegengesetzt ist. Das Begehren, aus dem sich alle Wünsche des Subjekts ableiten, lässt sich damit im Kern als das Begehren des Anderen beschreiben.10 Das Subjekt tritt aufgrund der Vermutung in den Diskurs ein, dass es durch das Wissen des Anderen in seinem Sein bestätigt oder garantiert wird. Das Verbot der Mutter eröffnet schließlich das ethische Gesetz der Psychoanalyse als ein unbewusstes Streben nach Einheit, dessen (verdrängte) Wahrheit in seiner Unerfüllbarkeit liegt. Dabei ist es im Ergebnis gleich, ob der Verlust die Ursache des Verbots oder – was tatsächlich den Kern wohl eher trifft – das Verbot ein Konstrukt in der subjektiven Erfahrung ist, das die tatsächliche Unmöglichkeit der Wunscherfüllung verdecken soll. III. Der Objektbezug des Begehrens und des Triebes: Objet petit’a (I) Das Begehren ist anders als Wünsche unerfüllbar, weil es nach Lacan auf ein bereits verlorenes, unwiederbringliches Objekt gerichtet ist. Auf dieses Objekt verweist das Inzestverbot, indem es auf die als ursprüngliches Liebesobjekt imaginierte Mutter deutet. Die analytische „Desillusionierung der Mutterimago“ als inneres Bild der Ungeschiedenheit und Vollständigkeit (als Rückkehr und höchstes Gut), strukturiert die phantasmatischen Ersatzbildungen eines verlorenen Objektes, welche das Begehren des Subjekts als kontinuierliche Funktion der Symbolisierung einer imaginären Einheit aufrechterhalten. Diese als Phantasma konstruierten Substitute der verlorenen Einheit operieren als Objekt-Ursache des Begehrens, denen Lacan die Bezeichnung „objet petit’a“ zuweist.11 Es handelt sich hierbei um einen zen9

Lacan, The Subversion of the Subject and the Dialectic of Desire in the Freudian Unconscious, in: Écrits: A Selection (Fink), S. 300. 10 Lacan, Das Seminar XI: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 122. 11 Das „a“ bezieht sich auf das französische „autre“, (das bzw. der „andere“) und ist von Lacans Konzept des großen Anderen (A) zu unterscheiden, der – wie oben angedeutet – für die symbolische Ordnung stehen kann. Lacan bestand darauf, diesen Begriff nicht zu übersetzen, um seinen Status als algebraisches Zeichen zu unterstreichen (vgl. Evans, An Introductory Dictionary of Lacanian Psychoanalysis, S. 125).

84

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

tralen Aspekt in Lacans Denken, der auch in der topologischen Strukturierung des Unbewussten und im Diskurs wieder aufgegriffen und ausführlich diskutiert wird.12 Das Phantasma, welches das begehrende Subjekt um das objet petit’a herum entwickelt, ist durch die traumatische Erfahrung des Verlustes bedingt, der selbst außerhalb des Symbolisierbaren liegt und mit dem unerreichbaren „Ding an sich“ zusammen fällt. Objet petit’a ist damit in seiner dialektischen Funktion im Begehren die phantasmatische – metonymische – Verkörperung der Einheit (und gleichzeitig der Leere), denn ein beliebiges Objekt (das „Partialobjekt“) kann als deren Repräsentant fungieren. Das Subjekt begehrt, weil es kontinuierlich auf Objekte konzentriert (und sich diesen dialektisch anzunähern versucht), die sich aber – sobald sie erreicht sind, als leer erweisen. Anders der Trieb, der in Abgrenzung zum Begehren nicht-dialektisch ist, weil er nichts transzendiert: Im Trieb wird der Verlust selbst zum Objekt. Der Trieb kreist sozusagen nicht um das Objekt, sondern er beschreibt das „Feststecken“ der Libido an einem Partialobjekt. So gelangt Žižek zu einer Definition des Todestriebes, die dem gängigen Verständnis als Verlangen nach (Selbst-)Zerstörung entgegengesetzt ist. Vielmehr handelt es sich danach um einen Namen für das „Untote“, also das ewige Leben selbst, sprich um das schreckliche Schicksal, im endlosen Wiederholungskreislauf des Umherwandelns in Schuld und Schmerz gefangen zu sein. Hierin liegt schließlich die Paradoxie des Freudschen Begriffes vom Todestrieb, der eigentlich sein genaues Gegenteil bezeichnet, nämlich wie die Unsterblichkeit innerhalb der Psychoanalyse erscheint: Als unheimlicher Antrieb, das Leben exzessiv genießen zu müssen.13 IV. Das Trauma des Gesetzes: Kastrationserfahrung und Genießen Die gesetzliche Intervention des Vaters wird als traumatisch erfahren, was Freud auf die imaginierte Erfahrung der Kastration zurückführt. Mit dem Begriff der Kastrationsangst als maskuline Variante und dem femininen Pendant des Kastrationskomplexes beschreibt Freud die Entdeckung des anatomischen Geschlechterunterschieds durch das Kleinkind als Teilaspekt des ödipalen Stadiums, der diesem eine entscheidende Prägung gibt. Die Entwicklung verläuft bei Mädchen und Jungen unterschiedlich, beruht aber für Freud und Lacan auf der Gemeinsamkeit, dass Kinder beiderlei Geschlechts den Besitz eines Penis als den Normalfall betrachten. Bei Mäd12 13

Vgl. Kapitel 3 D. II. (Gerechtigkeit, Bürgerrecht, Menschenrechte). Žižek, Parallaxe, S. 60 ff.

A. Die Enstehung von Rechtssubjektivität

85

chen führt die Beobachtung, selbst keinen Penis zu besitzen, zu Penisneid und Ablehnung der Mutter. Diese wird für das Fehlen – die traumatische Erfahrung, kastriert zu sein – verantwortlich gemacht. Durch die Zuwendung des Mädchens zum Vater gerät es in die ödipale Situation, in welcher der gegengeschlechtliche Elternteil begehrt wird.14 Für den kleinen Jungen löst die Entdeckung des Geschlechtsunterschieds ein anderes Trauma aus: Aufgrund der Erfahrung, dass manche Menschen keinen Penis haben, schließt er, dass eine Kastration stattgefunden haben muss. Er reagiert mit der Angstvorstellung, auch kastriert werden zu können und verbindet diese mit seinem ödipalen Begehren der Mutter und Hass gegen den konkurrierenden Vater.15 Um der imaginierten Möglichkeit der Kastration durch den überlegenen Vater zu entgehen, gibt der Junge in der ödipalen Phase den Wunsch nach der Mutter auf.16 Im normalen Verlauf der Kindheit gelingt es dem Jungen schließlich, dieser Situation eine positive Wendung zu geben, indem er sich mit dem Vater identifiziert, weil er sich wünscht, wie der Vater (im Besitz der Mutter) zu sein.17 Aus der unterschiedlichen Kastrationserfahrung folgert Lacan in seiner Theorie der Sexuierung, dass es maskuline und feminine Positionen in der Beziehung des Subjekts zum Gesetz gibt.18 Der hier zunächst entscheidende Aspekt der Kastrationserfahrung liegt darin, dass sie bewirkt, dass sich das Subjekt als gespalten und mangelhaft begreift. In dem Spannungsverhältnis zwischen Mangel und Sein spielt das im „Gesetz des Vaters“ enthaltene Verbot des Genießens eine entscheidende Rolle. Lacans Begriff für das Genießen ist „jouissance“. Anders als das deutsche Wort enthält der Begriff eine sexuelle Konnotation, mit der ein Bezug zu den Trieben angedeutet wird. Trotzdem definiert Lacan „Genießen“ und „Lust“ als gegensätzlich. Er geht davon aus, dass Lust auf einem Verbot beruht, das dem Verbotenen erst seinen Wert verschafft. Das Lust14 Als weibliche Analogie des Ödipuskomplexes schlägt Jung den Begriff des Elektrakomplexes vor. In der griechischen Sage wollte Elektra den Mord ihres Vaters Agamemnon rächen und stiftete ihren Bruder Orestes zum Mord an ihrer Mutter Klytaimnestra und ihrem Stiefvater Aigisthos an. 15 Die Kastrationsangst kann gleichzeitig auch dahingehend gedeutet werden, dass möglicherweise die Scham, „gar nicht zu können“, verdeckt wird, weil in der Kastrationsdrohung zumindest in der männlichen Variante noch die Anerkennung des Könnens steckt: Im Kern wäre dann nur auf der Primärebene von einer (gefühlten) Bedrohung zu sprechen, welche eigentlich dazu dient, den „Spott“ des Vaters über die Unfähigkeit des Sohnes zu verdecken. 16 Es spricht viel dafür, dass die ödipalen Wünsche und Ängste einer „Als ob“-Logik folgen, also dem Übergangsraum, dem „Pretend Play“, zuzurechnen sind. 17 Freud, Abriß der Psychoanalyse, S. 16 ff. und 49. 18 Zu den Auswirkungen dieser Theorie auf das Juridische: Voruz, The Topology of the Subject of Law: The Nullibiquity of the Fictional Fith, in: Ragland/Milovanovic, Lacan: Topologically Speaking, S. 299 ff.

86

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

prinzip funktioniert deswegen als Begrenzung des Genießens; es handelt sich um ein Gesetz, welches dem Subjekt gebietet, so wenig wie möglich zu genießen. Gleichzeitig versucht das Subjekt fortwährend, die Verbote, welche ihm in Bezug auf sein Genießen auferlegt werden, zu übertreten, und sich „jenseits des Lustprinzips“ zu bewegen. Das Ergebnis dieser Übertretungen ist jedoch regelmäßig nicht Genuss oder Lust, sondern Qual, weil das Subjekt nur einen bestimmten Grad von Lust ertragen kann. Jenseits dieser Grenze wird der Genuss qualvoll. Diese qualvolle Lust bezeichnet Lacan als jouissance: „Jouissance ist Leiden.“19

Ihr Verbot ist ein integraler Bestandteil der symbolischen Struktur der Sprache und des Gesetzes.20 Sobald das Subjekt in die symbolische Ordnung eintritt, opfert es einen Teil seiner jouissance. Sie ist dem Sprechenden an sich verboten: „Kastration bedeutet, dass jouissance abgelehnt werden muss, so dass sie auf der umgekehrten Leiter des Gesetzes des Begehrens erreicht werden kann.“21

Das Inzesttabu und die Kastrationsdrohung im Ödipuskomplex sind die ursprünglichen Gesetze, die das Begehren entfachen. So ist der Eintritt in die symbolische Ordnung überhaupt eine Form des Verbotes des Genießens und – im übertragenen Sinn – eine Form der symbolischen Kastration. Das symbolische Verbot des Genießens im Inzesttabu als dem ursprünglichen Gesetz, das im Ödipuskomplex verankert liegt, offenbart sich paradoxerweise als ein Verbot von etwas, das ohnehin unmöglich ist. Die Funktion des Inzesttabus liegt somit in der Aufrechterhaltung der neurotischen Illusion, dass es ein erfüllbares Begehren gibt, welches in Abwesenheit des Verbotes erreichbar wäre. Erst das Verbot, d.h. das Gesetz selbst, schafft das Begehren, es zu übertreten, so dass der fundamentale Charakter des Gesetzes in der „jouissance der Übertretung“ liegt.22 Nach Lacan ist jedes „Wissen“ (savoir) auf die Wahrheit des unbewussten Begehrens bezogen. Das Genießen gibt es nur als eines der „Wahrheit“. Diese tritt als Identifikation mit einem Ideal oder imaginären und symbolischen Wesenszügen auf, die eine Person zum Subjekt ihrer eigenen Materialität von Bedeutungen machen. Von diesem auf das Begehren gegründeten Wissen ist das Subjekt jedoch abgeschnitten; deswegen ist Lacans Subjekt grundsätz= ). Es gibt nur den Zustand der Gespaltenheit, so dass sich lich gespalten (S 19

Lacan, The Seminar VII: The Ethics of Psychoanalysis, S. 187. Lacan, The Subversion of the Subject and the Dialectic of Desire in the Freudian Unconscious, in: Écrits: A Selection (Fink), S. 319. 21 Lacan, The Subversion of the Subject and the Dialectic of Desire in the Freudian Unconscious, in: Écrits: A Selection (Fink), S. 324. 22 Lacan, Das Seminar VII: Die Ethik der Psychoanalyse, Kapitel 15. 20

A. Die Enstehung von Rechtssubjektivität

87

mit Fink sagen lässt, dass Subjektivität gerade in dieser Gespaltenheit liegt.23 Die Einführung dieses Gesetzes als „Gründungsakt“ der Subjektivität bildet die Urform der subjektiven Anerkennung von Autorität, die Struktur, welche schließlich die Anerkennung des Gesetzes und damit auch einer Staatsordnung ermöglicht. Die Entstehung des Begehrens fällt mit der Einführung des Gesetzes zusammen. Die Motivation des Subjekts, in einen Rechtsdiskurs einzutreten, liegt folglich in seinem Begehren, das Befriedigungserlebnis der Erfahrung von Einheit und Sinnfülle aus der frühkindlichsymbiotischen Mutterbeziehung, die durch die väterliche Intervention beendet wurde, zu wiederholen. Diese Interventionserfahrung wurde durch die Urverdrängung als Erinnerungsspur im Unbewussten fixiert und besteht dort als kontinuierlich erfahrener Mangel-im-Sein fort. Gesetz und Begehren stehen damit in einer dialektischen Beziehung, in der das prohibitorische Gesetz die „Kehrseite des Begehrens“ bezeichnet.24 Das Begehren des Rechts ist der Reflex eines ontologischen Mangels, dessen Ursprung in der ödipalen Strukturierung des Subjekts liegt. Das Subjekt des Begehrens braucht den Diskurs, um seinen ödipalen Mangel-imSein erträglich machen zu können, indem es ein soziales Band knüpft. Dementsprechend definiert Lacan den Diskurs als soziales Band, das sich auf Sprache gründet.25 Zu den fundamentalen Thesen einer auf Lacan bauenden Rechtstheorie gehört es deswegen, dass sich das Recht nach der Gesetzmäßigkeit der ödipalen Formel entwickelt, und zwar über die Sprache (die das Begehren artikuliert) zum Diskurs (der den Mangel verhandelt). Dieses Begehren ist das Spiegelbild des Mangels, der durch die Trennung des Kindes von der Mutter durch das Gesetz des Vaters entsteht.26 Die Analyse des „erotischen Rechtssubjekts“ führt damit über das unbewusste Wissen und Genießen des „Schnitts“, den das Gesetz des Vaters in die unbewussten Denkprozesse des Subjekts einfügt. Subjektivität ist folglich kein Urzustand, sondern eine Stufe in der Entwicklung des Individuums, ein spezifisches Verhältnis des Menschen zu seinem grundsätzlich unbewussten Begehren, das in der Konfrontation mit dem Gesetz geformt wird. Das Er23

Fink, The Lacanian Subject: Between Language and Jouissance, S. 45. Lacan, Kant avec Sade, in: Écrits, S. 787; vgl. auch Evans, An Introductory Dictionary of Lacanian Psychoanalysis, S. 99. 25 Ragland, The Discourse of the Master, in: Apollon/Feldstein, Lacan, Politics, Aesthetics, S. 127 ff. 26 Die Trennung von der vereinnahmenden Mutter kann genauso als Befreiung gedeutet werden. Sie ist damit dann auch ein Schritt, welcher zu der Individuation und zum Autonomiegewinn beiträgt. Die Identifikation mit dem als Aggressor empfundenen Vater wird dann zu einem (eigentlich unnötigen) Abwehrmechanismus, der den potentiellen Autonomiegewinn zunichte macht. 24

88

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

reichen dieser Stufe ist die Folge der Entwicklung der dialektischen Beziehung zwischen Begehren und Gesetz, die sich im Moment der Auflösung der ödipalen Spannung, dem Dazwischentreten des Vaters in die MutterKind-Symbiose, einstellt. Das Subjekt der Psychoanalyse ist damit das Subjekt des Begehrens und des Unbewussten. Aus Lacans These, dass das Unbewusste wie eine Sprache strukturiert ist, folgt weiter, dass das Subjekt des Unbewussten nur innerhalb von Sprache existiert. Lacan weist damit auf die in der Linguistik und Logik bestehende Definition des Subjekts als im Aussagesatz dem Prädikat vorangestellt und dem Objekt entgegengesetzt hin. Gleichzeitig spielt er auf die philosophischen Nuancen und Konnotationen des Objektsbegriffs an und unterstreicht, dass sich seine Konzeption des Subjekts auf diejenigen Aspekte des menschlichen Seins bezieht, welche nicht objektiviert, d.h. auf ein Ding reduziert werden können: „Was nennen wir das Subjekt? Recht präzise das, was in der Entwicklung der Objektivierung außerhalb des Objekts liegt.“27

V. Die Spaltung des Subjekts als Effekt des Signifikanten In seinen späteren Schriften analysiert Lacan die Spaltung des Subjekts auch als einen „Effekt des Signifikanten“, resultierend aus der Tatsache, dass das Subjekt spricht.28 Diese Formel basiert auf Lacans Definition des Subjekts als dasjenige, was „von einem Signifikanten für einen anderen Signifikanten repräsentiert“ wird. Das Subjekt selbst ist damit letztlich ein „Effekt der Sprache“.29 Dieser Satz erschließt sich nur, wenn man sich vergegenwärtigt, dass es Lacan hier ausschließlich um die Analyse des Subjekts des Unbewussten geht, welches selbst wiederum „wie eine Sprache“ strukturiert ist: „Eines Tages wurde mir bewusst, dass es seit der Entdeckung des Unbewussten schwierig war, die Linguistik außer Acht zu lassen. Meine Formulierung, dass das Unbewusste wie eine Sprache strukturiert ist, gehört (indessen) nicht zum Feld der Linguistik. (. . .) Was man vielleicht wirklich sagt, liegt versteckt hinter dem was gesagt wurde als dem was gehört werden konnte.“30

Die Aussage wird in dem Moment, in dem sie sich als Klang der Stimme innerhalb von Sprache entäußert, von dem Subjekt des Aussagens getrennt. Durch diesen Akt entsteht die Differenz zu dem Subjekt der Aussage. In dem Übergang von dem Akt des Aussagens hin zur Aussage entsteht etwas, 27 28 29 30

Lacan, Lacan, Lacan, Lacan,

The Seminar I: Freud’s Papers on Technique, S. 194. Das Seminar XI: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 217. Position de l’inconscient, in: Écrits, S. 835. Le Séminaire XX: Encore, S. 27.

A. Die Enstehung von Rechtssubjektivität

89

das das Subjekt überdauert, und das als Wissen in den Anderen, womit hier zunächst das andere Subjekt und dann die symbolische Ordnung gemeint ist, übergeht. Dieses Wissen ist aber getrennt von der Wahrheit, welche bei dem Subjekt des Aussagens verbleibt. Dies führt Lacan später zu der Analyse des Subjekts im Spannungsfeld zwischen Wahrheit und Wissen und setzt sich in seiner Diskursanalyse fort.31 Dass Subjekt ist dort getrennt von seinem eigenen Wissen. Lacan unterscheidet das Subjekt der Aussage von dem Subjekt des Aussagens, um zu zeigen, dass das Subjekt, weil es spricht, geteilt, „kastriert“ und sich selbst entfremdet ist. Der Zustand der Spaltung bezeichnet die Unmöglichkeit des Ideals eines vollständig präsenten Selbst-Bewusstseins. Das Subjekt wird sich selbst nie vollständig kennen, sondern immer von seinem eigenen Wissen getrennt und abgeschnitten sein. Diese Spaltung symboli= ), während das imaginäre siert Lacan in dem ausgestrichenen Subjekt (S Konstrukt des ungespaltenen Subjekts in phonetischer Anlehnung an Freuds Es mit (S) bezeichnet wird. Außerhalb des Imaginären besteht das Subjekt nur in der Spaltung. Hierin zeigt Lacan die Omnipräsenz des Unbewussten. Das Subjekt des Unbewussten oszilliert zwischen Verleugnung, Verwerfung und Akzeptanz seiner Wünsche. Im Gegensatz zu dem wirtschaftlich rational handelnden Marktteilnehmer, der „weiß, was er will“ (und damit letztlich auch nur ein imaginäres Konstrukt bzw. ein systemnotwendiger struktureller Ort ist), kennt das Subjekt der Psychoanalyse sein wahres Begehren oft nicht oder will es nicht kennen.32 Lacans Subjekt steht damit im Gegensatz zu dem autonomen Individuum der klassischen liberalen Philosophie, dessen Existenz an einen spezifischen Naturzustand geknüpft ist: Das mit einem freien Willen oder mit praktischer Vernunft begabte Individuum bzw. Ego – der ideale Teilnehmer des von Habermas vorgeschlagenen Diskurses – ist ein imaginäres Konstrukt und gleichzeitig ein Herrschaftssignifikant liberaler demokratischer Systeme. Auch Hobbes, Rousseau oder Marx gehen letztlich von einem Subjekt aus, das nach einem singulären Interesse handelnd zu einer bestimmten Staatsform gelangt, vom Gesellschaftsvertrag bis hin zur „klassenlosen Gesellschaft“. Noch weiter geht wohl Kant, der über die Bestimmung dessen, was das Subjekt in Ausführung seiner Vernunft wollen darf, eine (möglicherweise vermutete) Gespaltenheit durch einen zu verinnerlichenden Impe31

Lacan, La Science et la Vérité, in: Écrits, S. 856. Ein entscheidender Aspekt bei dieser Spaltung ist, dass sie dem Subjekt inhärent ist. Žižek beschreibt die Spaltung als die Trennung zwischen dem, was das Subjekt weiß und dem, was es dem Anderen zu wissen unterstellt/zuschreibt. Das ist der Grund für die katastrophale Wirkung, dass der Andere etwas, weiß, was er nicht wissen sollte, worin der eigentliche Grund für das Erlebnis von Schuld liegt (vgl. Parallaxe, S. 74). 32

90

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

rativ überwindet. Entscheidend ist dabei, dass das Subjekt in seinem Begehren von Beginn an festgelegt ist. Lacans Subjekt ist nur in einem konkreten gesellschaftlichen Kontext erkennbar. Es formt sich durch intersubjektive Beziehungen und kann nur als Struktur beschrieben werden, deren einzelne Komponenten in Lacans Werk fortlaufend Modifizierungen und Konkretisierungen erfahren. Der Begriff der „Struktur“ enthält sowohl intersubjektive als auch intrasubjektive Komponenten im Sinne einer Beschreibung von psychischen Repräsentationen von zwischenmenschlichen, interpersonalen Beziehungen. Indem Lacan der Struktur eine Schlüsselposition einräumt, unterstreicht er, dass das Subjekt nicht aus einer spezifischen „Essenz“ determiniert wird, sondern durch seine Positionierung in Bezug zu anderen Subjekten oder Signifikanten.33 Hierin liegt eine von Schroeder hervorgehobene Parallele zu Hegels Rechtssubjekt, das sich nur durch den Staat als spezifisches System von Signifikanten und Regulationsmechanismen von Intersubjektivität formen kann, da es sich gegenüber anderen Subjekten durch durchsetzbare Rechte und Pflichten definiert.34 Im Rechtsdiskurs entfaltet sich Subjektivität in einer Subordinationsbeziehung: Das Subjekt unterwirft sich einem anderen Subjekt, das etwa die Position des Souveräns einnimmt. VI. Der Name-des-Vaters und der phallische Signifikant als Legalfunktion Wie Freud hat Lacan im Rahmen seiner Strukturierung des Unbewussten Aussagen zur Systemlogik der Gesellschaft gemacht. Das Unbewusste bestimmt danach, wie wir unsere gesellschaftliche Ordnung innerhalb von Sprache organisieren. Das „Gesetz“ nimmt auch für Lacan eine exponierte Stellung ein, und zwar sowohl als struktureller Ort der Autorität im Unbewussten als auch in seiner positivierten Form im Rechtsstaat. Lacans Begriffswelten eröffnen so eine Möglichkeit, unbewusste Kausalitäten in der Entstehung des Rechtssubjekts und der Rechtsordnung zu beschreiben. Hierzu gehört die Funktionsweise der Anerkennung symbolischer Autorität, der „Gesetzeskraft“ auf der Ebene des Unbewussten. Lacans Vorgehensweise und Begrifflichkeiten orientieren sich dabei stark an der strukturellen Linguistik und Semiotik. Charakteristisch ist hier, dass Lacan das „Sprachzeichen“ in eine spezifische Beziehung zur Libido setzt.35 33

Evans, An Introductory Dictionary of Lacanian Psychoanalysis, S. 192 ff. Schroeder, The Vestal and the Fasces: Hegel, Lacan, Property and the Feminine, S. 19–24/27–34. 35 Miller, A Reading of Some Details in Television in Dialogue with the Audience, in: 4 Newsletter of the Freudian Field (1–2), S. 4. 34

A. Die Enstehung von Rechtssubjektivität

91

Lacans Neukonzeptionierung des Ödipus- und Kastrationskomplexes besteht im Wesentlichen darin, dass er das prohibitorische Symbol des toten Vaters – Freuds Totem – als Signifikanten interpretiert. Dieser Signifikant hat seine Primärfunktion im Unbewussten, das Lacan als Netzwerk von Signifikanten beschreibt. Diese Konzeption leitet er aus seinem allgemeinen Verständnis der Freudschen Annäherung an das Gesetz und der Vatersymbolik als linguistische Konzeption ab. Hierin spiegelt sich eine rigorose Wendung in seinem Denken wider, in dessen Fokus nun Signifikant und Signifikat stehen. Im Rahmen der einführenden Darstellung von Lacans Theorie der Signifikanten wird schon vorgreifend auf die nachfolgenden Kapitel über die Strukturierung der subjektiven Erfahrung im Realen, Symbolischen (der große Andere) und Imaginären Bezug genommen. Der Grund hierfür liegt darin, dass die Verflechtungen zwischen beiden Konzeptualisierungen des Unbewussten vorgreifende Verweisungen unumgänglich machen. Die Behandlung der Signifikanten wurde hier vorgezogen, um alle wesentlichen Aspekte im Rahmen der Entstehung von (Rechts-)Subjektivität zu beleuchten. Auf die Funktion der Signifikanten wird im Folgenden immer wieder Bezug genommen. Während es später darum gehen wird, ihre spezifische Fiktion im Recht und Rechtsdiskurs auf einer weiter abstrahierten Ebene zu untersuchen, soll hier zunächst der Prozess der Enstehung von Signifikation im Subjekt beleuchtet werden. In der konsequenten Darstellung der Logik des Unbewussten in der Urverdrängung (des ödipalen Begehrens) musste es einen ersten Signifikanten geben. Lacans Zielsetzung bei der Beschreibung dieses Signifikanten richtet sich auf eine strukturelle Theoretisierung von Freuds Diagnosetechnik und psychopathologischen Kategorisierungen, in der er die Differenzierung zwischen Neurose, Psychose und Perversion mit der Beziehung des Subjekts zu dem prohibitorischen „toten“ Vater in Verbindung setzt. Der damit verfolgte klinische Zweck bestand darin, die Strukturen der Neurose und Psychose über das Auftreten oder Ausbleiben der unbewussten Operation des Gesetzes voneinander abzugrenzen. Dabei entwickelt Lacan auch die Beziehung von Signifikation zu den Sprachfunktionen der Metapher und der Metonymie36 innerhalb des Subjekts des Unbewussten und des großen Anderen (der symbolischen Ordnung der Sprache und des Rechts),37 die auch in der Analyse der Arbeitsweise der Signifikanten innerhalb von Rechtsprozessen eine wichtige Rolle spielen werden. Die Beziehung von Subjekt und Gesetz wird – so die fundamentale These – von der Beziehung des Subjekts zum Vater bestimmt. Der Name36

Vgl. Kapitel 3 B. III. 3. (Metapher, Metonymie und Gesetzesauslegung). Vgl. Kapitel 3 B. III. 4. (Die Alterität des Symbolischen und der große Andere des Rechts [A]). 37

92

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

des-Vaters ist Lacans Begriff für die symbolische Funktion, welche durch die Geschichte hindurch die Vaterfigur mit dem Gesetz identifiziert.38 Lacan überträgt Freuds ödipalen Mythos vom Ursprung des Gesetzes in die Familie und entwickelt so eine universelle Grundstruktur des Phänomens der subjektiven Anerkennung der symbolischen Autorität des Gesetzes. Das zentrale Ereignis in der Entstehungsgeschichte des Rechtssubjekts ist die Konfrontation des Subjekts mit dem Namen-des-Vaters. In der Homophonie „le nom du père“ – der Name des Vaters – und „le non du père“ – das „Nein des Vaters“ – unterstreicht Lacan die sowohl legislatorische als auch prohibitorische Funktion des symbolischen Vaters. Das Subjekt tritt durch die Anerkenntnis des „Namens“ bzw. des „Neins“ des Vaters am Ende der ödipalen Phase in die symbolische Ordnung ein: „Wenn Freud auf dem Ödipuskomplex bestand (. . .) tat er dies offensichtlich deswegen, weil er hierin den Ursprung des Gesetzes erkannt hat. Dieses fundamentale Gesetz ist das Gesetz der Symbolisierung. Hierin liegt die Bedeutung des Ödipuskomplexes.“39

Anknüpfend an Freuds Thesen über den Ödipus- und Kastrationskomplex als den Paradigmen des Verdrängungsmechanismus in der Urverdrängung liest Lacan die beiden Komplexe als Metapher, die er als das linguistische Äquivalent der Verdrängung bezeichnet.40 Innerhalb der Logik des Unbewussten wird im Rahmen der Verdrängung ein Signifikant durch einen anderen mittels einer metaphorischen Substitution ersetzt. Lacan deutet den Ödipuskomplex deswegen als „Funktion der Vatermetapher“ (métaphore paternelle).41 Das Symbol des toten Vaters nimmt so die Position eines Signifikanten innerhalb der allgemeinen Ordnung von Signifikantenverkettungen ein, die das Unbewusste und damit in kausaler Fortführung auch die gesellschaftliche Ordnung strukturieren. Die Funktion des Symbols liegt darin, das Subjekt über dessen Begehren an das Gesetz (des Vaters) zu binden. Entscheidend ist, dass der „tote“ Vater bzw. der Name-des-Vaters als Signifikant operiert. Diesen bezeichnet Lacan als den phallischen Signifikanten, der in dem Netzwerk von Signifikanten die Funktion des Ausgangspunkts und Ursprungs einnimmt. Lacans Verständnis vom Ursprung des Rechts in seiner referentiellen Beziehung zum „toten“ Vater als dem phallischen Signifikanten und zur Kastrationserfahrung knüpft damit unmittelbar an Totem und Tabu an: Der 38 Lacan, The Function and Field of Speech and Language in Psychoanalysis, in: Écrits: A Selection (Sheridan), S. 67. 39 Lacan, The Seminar III: Psychoses, S. 83. 40 Vgl. Kapitel 3 B. III. 3. (Metapher, Metonymie und Gesetzesauslegung). 41 Lacan, On a Question Prior to Any Possible Treatment of Psychosis, in: Écrits: A Selection (Sheridan), S. 190.

A. Die Enstehung von Rechtssubjektivität

93

symbolische Vater, welcher durch das Totem repräsentiert wird, ist der erste Signifikant, dessen Signifikat das Gesetz ist. Die Grundstruktur des Gesetzes der Identität ist das phallische Gesetz, welches den Namen-desVaters einsetzt und sich in letzter Konsequenz auf den Tod bezieht, denn das Gesetz ist immer das Gesetz des toten Vaters, eine symbolische Funktion. Diese tritt als Strukturierung des Begehrens hervor, welche auf den phallischen Signifikanten verweist und als Gebot der Differenz zu verstehen ist. Diese Differenz folgt aus dem Charakter des Begehrens als Ergebnis eines Prozesses zwischen Signifikanten, denn es entsteht erst in dem Spannungsverhältnis zwischen dem Symbol des toten Vaters und seinem Gesetz. Da sich das Begehren damit als Erfahrung einer Differenz äußert, fehlt notwendig ein konkretes Objekt, auf das es sich richten kann: Das Objekt des Begehrens ist immer abwesend. Die Strukturierung des Begehrens als Differenz folgt der beschriebenen Logik des Ödipus- und des Kastrationskomplexes: Das väterliche Inzestverbot als Dogma der sexuellen Beschränkung führt nach Lacan zu der infantilen Erfahrung der Separation von der Mutter und der damit einhergehenden Entfremdung durch den Eintritt in die symbolische Ordnung des Anderen.42 Dieses traumatische Erlebnis bedingt wiederum die Symbolisierung des auf die Mutter gerichteten sexuellen Begehrens des Vaters, welcher damit gleichzeitig das ödipale Begehren des Kindes nach Einheit mit der Mutter mit einem Verbot belegt. Das Kind symbolisiert als erstes Gesetz das väterliche Verbot der Mutter in einem dem tyrannischen Urvater angenäherten Bild des Vaters, der sein eigenes Begehren der Mutter als ein implizites „Nein“ zu einer symbiotischen Einheit des Kindes mit ihr äußert. Die Symbolisierung des Gesetzes des Vaters ist der Moment, in dem das Subjekt die symbolische Ordnung betritt. Dabei findet eine Verschiebung der Identifikation von dem Begehren der Mutter hin zu dem Gesetz des Vaters statt. Zur Beschreibung der symbolischen Verschiebung der Identifikationen führt Lacan den Begriff des Phallus und später des phallischen Signifikanten ein. Der Phallus (F) bezeichnet das Objekt des Begehrens der Mutter, 42 Die von Lacan vorgeschlagene Separationsentfremdung ist im Kontext der psychoanalytischen Forschung keine alternativlose Zwangsläufigkeit. Genauso besteht Grund zu der Annahme, dass die Getrenntheitsempfindung das Primäre ist, auf deren Basis die Gemeinsamkeitserlebnisse mit anderen möglich werden, die aber nicht das Gefühl auslöschen, ein separates Individuum zu sein. Das Kleinkind ist danach innerlich zerrissen von dem Wunsch nach Regression in die symbiotische Beziehung zur Mutter und dem gleichzeitigen Streben nach Unabhängigkeit ihr gegenüber. Dies führt in der alternativen Betrachtung unweigerlich zu einer Krise des Kindes, welche um den 18. Monat ihren Höhepunkt erreicht. „Die Überwindung der Krise führt zur Konsolidierung der Individualität und zu den Anfängen der emotionalen Objektkonstanz.“ (Metzger, Zwischen Dyade und Triade, S. 31.)

94

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

mit dem das Kind Eins werden will. Dieser Prozess ist auf die Erfahrung des Kindes zurück zu führen, dass es die Mutter nicht vollständig erfüllt, da es einen Rivalen hat: Die Mutter begehrt den Vater. Das Kind realisiert nun, dass die Mutter nicht allmächtig und komplett ist, sprich nicht vollständig dem großen Anderen entspricht, und zwar weil sie selbst begehrt. Wenn sie nun den Vater begehrt, muss ihr dieser überlegen sein, sprich in Besitz des Objektes ihres Begehrens sein. Lacans Begriff für dieses Objekt ist der Phallus. In der dialektischen Beziehung zu dem unbewussten Begehren der Mutter ist es der Phallus, der für das Kind den Signifikanten des Namens-des-Vaters bezeichnet.43 Dieser steht nicht für einen spezifischen Inhalt des Begehrens, da ein Name auf keinen weiteren Signifikanten verweist, sondern zumindest insoweit für das Unbewusste der Mutter selbst, als das Unbewusste eine Interpretation der sexuellen Differenz darstellt, die sich sowohl auf den Phallus, als auch die Kastration als Referenzpunkte bezieht. Der Phallus bezeichnet damit unbewusste Botschaften aus dem Begehren der Mutter, welche das symbolische Ideal-Ego – die narzisstischen Identifikationen – des Kindes auslösen und der Subjektivität des Begehrens und den hierdurch produzierten Phantasmen eine erste Form geben. Der Phallus als Signifikant des Namens-des-Vaters verweist damit auf die imaginierte Erfahrung einer symbolischen Kastration, in der sich eine symbolische Verschiebung von der Identifikation mit dem Begehren der Mutter hin zur Identifikation mit dem „Nein“ des Vaters vollzieht. Die symbolische Kastration ist eine negative Erfahrung der Begegnung mit der Leere des Realen44 (der traumatischen Erfahrung des Nicht-Symbolisierbaren), die sich im Verlust als Trauma, das sich im Zusammenwirken imaginärer und tatsächlicher (symbolischer) Erfahrung formt. Der Verlust der Vorstellungen, die dem Universum des Subjekts eine Struktur zu geben scheinen, wenn auch in falschen Fassaden und Illusionen, führen zu einer Begegnung mit dem Realen der Angst selbst.45 Durch die Analyse der Psychosen belegt Lacan empirisch, was es heißt, innerhalb der inzestuösen Struktur und damit außerhalb des Diskurses zu stehen. Sprache wird nicht zum Zweck des Austausches gebraucht (und damit um den Mangel-im-Sein zu leugnen), sondern der Psychotiker ist ständig bemüht, sich den Anderen erträglich zu machen. Das Subjekt innerhalb des Diskurses tauscht hingegen leidlos ein Ding gegen ein anderes aus. Hierin zeigt sich die Anwesenheit des Gesetzes als Voraussetzung des dialektischen Denkens: Das Gesetz bezieht sich fundamental auf das Wissen, dass die Einheit mit der Mutter verboten ist. 43

Schroeder, The Vestal and the Fasces: Property and the Feminine in Law and Psychoanalysis, in: 16 Cardozo Law Review, S. 895. 44 Vgl. Kapitel 3 B. I. (Das Reale und das Trauma der Ungerechtigkeit). 45 Lacan, Le Séminaire X: L’Angoisse, S. 122, 127.

A. Die Enstehung von Rechtssubjektivität

95

Die normative Struktur erlangt das Gesetz durch die symbolische Kastration des Kindes, die der Vater durch seinen unbestreitbaren Anspruch auf die Mutter durchführt. Die Identifikation mit der „Mutter-der-Triebe“ wird zugunsten der Identifikation mit dem „Vater-der-Sprache“ insofern aufgegeben, als die Sprache den Trieben entgegensteht. Die Hinwendung zum Vater erfordert dessen Symbolisierung als Urvater, der selbst nicht kastriert ist. Dieses Bild vom Freudschen Vater wird notwendig als paradoxes Prinzip erfahren, da der Vater das Gesetz nur deswegen einfordert, weil er von demselben ausgenommen ist. Der Vater nimmt die Position des obszönen Urvaters ein, wenn sich sein Anspruch auf die Mutter mit dem Sein außerhalb des Gesetzes deckt.46 Soweit das Kind den Mangel symbolisiert, der das erste Wissen von der Differenz als einer Differenz zwischen den Geschlechtern markiert, kann dies als Interaktionswirkung zwischen dem Symbolischen und dem Imaginären beschrieben werden. Lacan kennzeichnet diese Erfahrung mit dem Mathem47des negativen Phallus (–F). Hieraus entwickelt sich stufenweise das auf den Mangel gestützte Subjekt des Be= ). Der Mangel-im-Sein zeigt sich immer dort, wo das Subjekt gehrens (S seinen Willen äußert. Dieses Sein- oder Haben-Wollen wird zu einem grundlegenden strukturellen Faktor. Lacan sieht die Primärursache des von ihm beschriebenen Mangels in einem negativen Effekt des Gesetzes, weil dieses in seiner Urform des väterlichen „Neins“ einen Schnitt in den Identifikationsprozess des Kindes mit der maternellen Einheit bringt. Das Rechtssubjekt ist also das Subjekt des Begehrens, dessen Mangel in der Präsenz von Identität auf dem Feld der Sprache besteht und das darauf konstituiert ist, seinen Mangel-im-Sein durch den Austausch von Dingen zu beruhigen, der ihm im sozialen Kontext durch das Gesetz der Gesellschaft garantiert wird. Indem Lacan zeigt, dass das sprechende Subjekt in einer rationalen Logik innerhalb der Sprache und der Gesellschaft funktioniert, aber trotzdem ein anderes Verhältnis zu dem Mangel-im-Sein haben kann, als dies gewöhnlich der Fall ist, zeigt er, dass das Subjekt nicht zwangsläufig dem Mangel als Referenz unterworfen ist. Der Mangel ist dennoch die Grundlage für das dialektische Denken, dessen Äquivalent eine dynamische Bewegung inner46

Lacan, Le Séminare XX: Encore, S. 25. Der Begriff des „Mathems“ ist ein Neologismus, den Lacan im Rahmen seiner quasi-mathematischen Darstellung von unbewussten Prozessen eingeführt hat. Eine Analogie zu dem Begriff des „Mythems“ von Lévi-Strauss, den dieser zur Beschreibung der grundlegenden Bestandteile von mythologischen Systemen eingeführt hatte, liegt nahe (Evans, An Introductory Dictionary of Lacanian Psychoanalysis, S. 108.). Lacan beschreibt das Mathem als eine Bezeichnung absoluter Signifikation, d.h. sie bezeichnen das Ende einer Signifikationskette (Lacan, The subversion of the subject and the dialectic of desire in the Freudian unconscious, in: Écrits: A Selection (Sheridan), S. 314). 47

96

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

halb grammatikalisch strukturierter Sprache ist. Der Zweck von Sprache außerhalb der Psychose liegt darin, den Mangel-im-Sein auszufüllen, welcher mit dem ursprünglichen Begehren korrespondiert, das durch die Symbolisierung des Körpers im infantilen Stadium konstituiert wurde. Der Körper ist folglich eine imaginäre Konstruktion, die sich auf die Dynamik des Erlangens und Verlierens von Lustobjekten stützt. Die ersten Formen des Denkens beziehen sich auf die Strukturen, welche im Moment der ersten Erfahrung des Verlustes geformt wurden, die das ursprüngliche Begehren hervorrief. Die Urform des Denkens kommt damit von körperlichen Identifikationen, die an ein Nichts, eine Fehlstelle geknüpft sind. Der phallische Signifikant nimmt in der metaphorischen Operation die Substitutionsfunktion ein: Das unbewusste Begehren der Mutter wird durch den Namen-des-Vaters ersetzt. Im Gegensatz dazu steht der imaginäre Phallus, der eine Objekt-Ursache des Begehrens bezeichnet und insofern der Metonymie folgt. Er ist auf das nicht-dialektische objet petit’a gerichtet, das Substitutionsobjekt, welches das Begehren in Gang setzt. Der phallische Signifikant weist hingegen auf eine dialektische Bewegung der Identifikation zwischen Mutter und Vater von Seiten des Kindes. Er deutet auf die Wirkung eines Verbots, welches den Mangel-im-Sein erzeugt und dessen spiegelbildliches Gegenüber das Subjekt des Begehrens ist. Das väterliche „Nein“ zur Einheit mit der Mutter zieht einen Trennstrich durch die elementaren Denkprozesse des Kindes, die nun in zwei Arten des Wissens unterteilt werden: (1) Das narzisstische Wissen des imaginären Egos und (2) das Wissen um das Begehren, das sich auf den Namen-des-Vaters bezieht. Das Subjekt konstituiert sich damit ursprünglich innerhalb einer Negativität und Abhängigkeit von einem Netzwerk von Signifikanten. Es erscheint insbesondere im Hinblick auf Freuds These von der kulturellen Beschränkung dieses Begehrens als Paradoxon, dass die Minimalvoraussetzungen des sozialen Bandes erst dann gegeben sind, wenn Sprache dazu gebraucht wird, die zentrale ödipale Konditionierung des Subjekts, den Mangel-imSein zu verhandeln. Lacans Diskurs ist dementsprechend nicht gleichbedeutend mit Konversation, Kommunikation, Sprache oder intersubjektivem Sprachaustausch. Vielmehr schafft der Diskurs ein soziales Band, wenn der Sprecher den anderen von einer Position aus adressiert, die sich durch den Mangel definiert, um mit der Sprache eben diesen Mangel zu verhandeln. Dabei ist ein zentrales Element des Diskurses das Wissen um diesen Mangel. Diskurs bezieht sich damit immer auf Sprache und Wissen, deren (ursprüngliche) Funktion darin besteht, diesen Mangel innerhalb der diskursiven Kommunikation als einem kontinuierlichen Prozess auszufüllen.

A. Die Enstehung von Rechtssubjektivität

97

Subjektivität bedeutet – so kann man es vielleicht am kürzesten beschreiben – über den eigenen Mangel zu sprechen. Lacans Theorie über den Namen-des-Vaters als ausdifferenzierte Analyse der ödipalen Entwicklung enthält damit auch die Möglichkeit einer unmittelbar rechtstheoretischen Lesart. Auf der Ebene des Juridischen wird aus dem ursprünglichen Gesetz – dem Namen-des-Vaters – ein beliebiges Gesetz, welches sich in seinem Autoritätsanspruch (der subjektiven Anerkenntnis) aber auf den Namen-desVaters bezieht. Dabei handelt es sich in erster Linie um eine strukturelle Beziehung zu dem Signifikanten, der dem symbolischen Signifikantenuniversum des mangelnden Subjekts Stabilität vermittelt. So besteht ein struktureller Gleichlauf zwischen dem System des positiven Rechts, dass sich auf ein übergeordnetes Gesetz – das Grundgesetz – bezieht, und dem Gesetz der Sprache, die erst dann Bedeutung vermittelt, wenn sie eine Beziehung zu ihrem Ursprungssignifikanten suggeriert und damit den Mangel erträglicher macht. VII. Schrebers Vater und Lacans Name-des-Vaters Bei der Entwicklung des Namens-des-Vaters kommt Lacan immer wieder auf den u. a. auch von Freud ausführlich besprochenen Fall des ehemaligen Senatspräsidenten beim Kgl. Oberlandesgericht Dresden, Dr. Daniel Paul Schreber (1842–1911) zurück. Die Fallanalyse Schrebers ist hier von Interesse, weil sie die Funktionsweise des Namens-des-Vaters und damit die Determinierung der Beziehung von Subjekt und Gesetz an dem Scheitern dieser Beziehung verdeutlicht. Schreber litt unter der schizophrenen Wahnvorstellung, berufen zu sein, die Welt, welche er dem Untergang geweiht sah, zu retten. Hierzu glaubte er, eine Frau werden zu müssen, um mit Gott schlafen und so ein besseres Menschengeschlecht zeugen zu können. Nach einem mehrjährigen Klinikaufenthalt veröffentlichte er 1903 die autobiographische Schrift Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken. Sie enthält eine komplexe Erläuterung der unsterblichen, sich im Nervensystem befindenden menschlichen Seele sowie eine Beschreibung Gottes als Struktur unzähliger Nervenstränge, der „ewigen Gottesnerven“. Im Rahmen seiner Einweisung in eine Nervenheilanstalt wurde Schreber entmündigt, wogegen er sich schließlich erfolgreich wehrte. Im Mittelpunkt des Verfahrens stand Schrebers Schrift, die für den behandelnden Arzt und Gutachter Flechsig ein hinreichender Beweis für den Wahnsinn ihres Verfassers war. Ganz anders sahen dies Schrebers frühere Kollegen am Königlichen Oberlandesgericht: Der „hohe sprachliche Ausdruck“ und das „ernsthafte Bestreben nach Wahrheitsfindung“ brachten Schreber in die bürgerliche Gesellschaft zurück. Schrebers Vater, Prof. Daniel Gottlob Moritz Schreber (1808–1861), war trotz seiner brutalen „Erziehungsmethoden“ zumindest nach dem damals

98

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

geltenden Strafrecht vermutlich nicht kriminell, wie man es jedenfalls von Lorties Vater annehmen muss.48 Er hatte allerdings nicht nur die „Schrebergartenbewegung“ ins Leben gerufen, sondern auch absonderliche Vorstellungen von der „körperlichen und nationalen Ertüchtigung“, die er in Schriften über „Menschenveredelung“ und „Zimmergymnastik“ festhielt. Er experimentierte mit mechanischen Geräten zur Verhinderung der Masturbation und wird als einer der Hauptvertreter der „schwarzen Pädagogik“, der früher gängigen gewalttätigen und repressiven Erziehung, bezeichnet. Neben Daniel Paul wurde noch bei zwei weiteren seiner Kinder eine Geisteskrankheit diagnostiziert. Schon der Ödipusmythos deutet auf einen wichtigen strukturellen Aspekt für die Analyse des Phänomens elterlicher Gewalt. So weist z. B. Georges Devereux in Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften darauf hin, dass Ödipus von seinen Eltern verkrüppelt und ausgesetzt wurde, und deutet damit das elterliche Verbrechen als das ursprüngliche, in welchem die auch bei Schreber zutage getretene Traumatisierung ihre Wurzel hat. Nicht das Orakel bringt das Gesetz des Schicksals in Gang: Vater, Mutter und Sohn sind es, die aus dem Orakel sprechen. Woher weiß Laios, dass Ödipus ihn töten könnte? Aus sich selbst und seinen eigenen, gegen den Sohn gerichteten, unbewussten, destruktiven Wünschen.49 In Freuds Beschreibung des Schicksals von Laios, Jokaste und Ödipus zeigt er, dass die Entwicklung des Subjekts durch bewusste und unbewusste seelische Wünsche bestimmt wird. Dabei impliziert er, dass dies in einem gewissen Rahmen bis zu einer Zwangsläufigkeit gehen kann. Wie auch an den Fällen Lorties und Schrebers wird dabei deutlich, dass die ödipalen Konflikte einen verschiedenen Ausgang nehmen können, der jeweilige Komplex sich also aufgrund unterschiedlicher, z. B. familiärer und soziokultureller Randbedingungen in singulärer Weise strukturiert. Die psychische Konstitution des Subjekts folgt einer Gesetzmäßigkeit in der ödipalen Phase, welche Konflikte bedingt, über deren Ausgang letztlich eine Vielzahl von äußeren Bedingungen in der psycho-sozialen Entwicklung des Subjekts entscheidet. Ohne die heute fortschreitende Entwicklung in der Neurobiologie zu kennen, war Freud bei der Entdeckung des Ödipuskomplexes von der biologi48 Die rechtspsychologische Fortentwicklung des Strafrechts hat diesen Zustand mittlerweile überwunden, auch wenn die Komplexität des Phänomens der Kindesmisshandlung für die strafrechtliche Beurteilung auf der Ebene der Schuld weiterhin eine Herausforderung darstellt. Während einerseits eine ausdifferenzierte Tätertypologie entwickelt wurde, wird zunehmend auf einen soziologisch-strukturellen Kausalzusammenhang verwiesen: Die Lebensfeindlichkeit der sozialen Realität findet in den Entbehrungen der Kinder ihren symbolischen Ausdruck (vgl. Graf/Ottomeyer, Szenen der Gewalt – in Alltagsleben, Kulturindustrie und Politik). 49 Vgl. Thomä/Kächele, Psychoanalytische Therapie, Band 3: Forschung, S. 100.

A. Die Enstehung von Rechtssubjektivität

99

schen Gesetzmäßigkeit seiner Struktur beeindruckt, sah aber auch, dass die immer unterschiedlichen Formen seiner Bewältigung (oder Nicht-Bewältigung) und damit seiner psychodynamischen Wirksamkeit, dem Erleben und Verhalten eine besondere individuelle Prägung geben. Wie im Fall Lortie birgt Schrebers Vaterbeziehung reichlich Konfliktpotential. Freud bezeichnet den verdrängten Vaterkonflikt als entscheidend für die paranoiden Vorstellungen, wobei insbesondere das unbewusste Phänomen der Kastrationsangst eine wichtige Rolle spielt. Daneben identifizierte Freud Schrebers Phantasie der Geschlechtstransformation als ein möglicherweise auf seinen Arzt Flechsig gerichtetes, verschlüsseltes homoerotischen Begehren. Der psychische Widerstand gegen diesen Wunsch führte zu einer Form von Verfolgungswahn, die sich zuerst auf den Arzt und dann auf Gott bezog. Die persönliche Tragödie wurde schließlich in eine weltweite Katastrophe projiziert. Die Wahnvorstellungen und Halluzinationen wurden durch einen Realitätsbruch hervorgerufen, der schließlich in der Erlöserphantasie aufging.50 Aufbauend auf seine an Saussures Konzeption vom Signifikanten und Signifikat angelehnte These, dass das Unbewusste wie eine Sprache strukturiert ist, liest Lacan Freuds Fallanalyse Schrebers als Offenlegung der Beziehung zwischen Subjekt und Signifikanten. Es geht um die Art und Weise, wie das Subjekt durch den Signifikanten strukturiert wird. Das Subjekt erfährt die Welt in erster Linie als symbolische Sprachstruktur aus bedeutungsvermittelnden Signifikantenverkettungen. Eine besondere Stellung nimmt dabei der Signifikant des Namens-des-Vaters ein, denn er bestimmt die Beziehung des Subjekts zum Gesetz.51 Jedes Gesetz, so Lacan, spricht immer schon „im Namen des Vaters“ und verdankt diesem seine Autorität. Paternität ist für Lacan weniger eine biologische Kausalität als eine symbolische Zuordnung, die für das Subjekt unmittelbar mit der Erfahrung des Gesetzes verknüpft ist. Die konkrete Ausgestaltung dieser symbolischen Zuordnung bestimmt nach Lacan das Verhältnis des Subjekts zur Autorität. Autorität ist dabei als struktureller Ort zu verstehen, der sich erst in einem individuellen symbolischen Kontext konkretisiert. Die symbolische Ausgestaltung hat aufgrund ihrer Beziehung zum Imaginären eine gewisse Beliebigkeit. So kann man sagen, dass – falls dies im symbolischen Kontext erforderlich ist – Paternität auch der Tatsache zugeschrieben werden könne, dass die Frau einem Geist an einer Quelle begegnet sei. Lacan geht davon aus, dass 50 Vgl. Freud, Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides), in: GW VIII, S. 239–320. 51 Lacan, On a question preliminary to any possible treatment of psychosis, in: Écrits: A Selection (Sheridan), S. 183 (187).

100

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

„die Zeugung dem Vater nur als Effekt eines reinen Signifikanten zugeschrieben werden kann, nicht einem realen Vater, sondern dem, was uns die Religion gelehrt hat, den Namen-des-Vaters zu nennen. (. . .) Freud hatte das Auftreten des Signifikanten des Vaters als den Autor des Gesetzes mit dem Tod in Zusammenhang gebracht, sogar mit dem Mord an dem Vater und folglich gezeigt, dass wenn dieser Mord der fruchtbare Moment der Schuld ist, durch den sich das Subjekt auf Lebenszeit an das Gesetz bindet, der symbolische Vater, sofern er das Gesetz bezeichnet, der tote Vater ist.“52

Bleibt das Verbot aus, welches als ursprünglicher Name-des-Vaters den Eintritt in die Zeichenwelt – einschließlich der Sprache und des Rechts – eröffnet, fehlt also die „Gesetzeskraft“, nimmt der Vater eine undefinierbare und damit bedrohliche Funktion ein; er funktioniert als Angstfaktor im Symbolischen und wird damit zu einem Freudschen Urvater, der bedrohlichen Gestalt, die uneingeschränkte Gewalt ausüben kann. Dieser Angst wird eine ödipale Referenz zugeordnet, nämlich Freuds Kastrationsangst.53 Lacan beschreibt die Auflösung der ödipalen Spannung als symbolische Kastration, mit der auch das Inzestverbot ausgesprochen wird. Schrebers Zustand war durch den Weg- oder Ausfall des Namens-desVaters ausgelöst worden. Der symbolische Vater war im juristischen Sinn des Begriffes verwirkt, ohne dass diese Leerstelle durch etwas anderes ausgefüllt worden wäre, denn die Verwirkung bezeichnet den Verfall eines Rechts: Zwar existiert der Vater in Fleisch und Blut. Aber die väterliche Autorität kann nichtsdestotrotz in vielfältiger Weise verloren werden, so dass der Vater sein symbolisches Recht verwirkt.54 Der Signifikant wird nicht bloß verdrängt, wie Lacan herausstreicht, sondern er hat seine metaphorische Wirkung eingebüßt: „Es ist der Mangel des Namens-des-Vaters (im Anderen), welcher, durch das Loch, welches er in dem Signifikat hinterlässt, eine Kaskade der Neugestaltungen des Signifikanten in Gang bringt, von denen aus das zunehmende Desaster des Imaginären fortschreitet, bis zu dem Punkt, an dem Signifikant und Signifikat in der wahnhaften Metapher stabilisiert sind.“55

Die Halluzinationen der mysteriösen Stimmen Schrebers deutet Lacan als eine Spur die anzeigt, dass „der Signifikant, der im Subjekt stumm geblieben war, aus seiner Dunkelheit einen Schimmer auf die Oberfläche des Realen projiziert, dann das Reale mit einem Blitz erhellt, projiziert aus seinem Keller des Nichts.“56 52 Lacan, On a Question Prior To Any Possible Treatment of Psychosis, in: Écrits: A Selection (Sheridan), S. 199. 53 Freud, Der kleine Hans: Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben, in: Zwei Kinderneurosen, StA VIII. 54 Clement, The Lives and Legends of Jacques Lacan, S. 171. 55 Lacan, On a Question Prior To Any Possible Treatment of Psychosis, in: Écrits: A Selection (Sheridan), S. 217.

B. Das Gesetz in der Strukturierung der subjektiven Erfahrung

101

Der Defekt in der symbolischen Metapher öffnete einen Spalt im Feld des Imaginären, der nur mittels der Entmannung aufgelöst werden konnte; eine Aussicht, die Schreber zunächst schrecklich, dann akzeptabel und schließlich notwendig erschien, um die Menschheit zu retten. Es geht hier nicht um eine bloße Unzulänglichkeit des Vaters, sondern um ein strukturelles Verständnis der Psychose als Defekt im Gesetz des Signifikanten. Der Statthalter des Gesetzes ist abwesend. Die Analyse Schrebers zeigt, dass auch in Anwesenheit eines realen Vaters, der sich in dem historischen Fall sogar durch einen besonders ausgeprägten (Gesundheits-)Dogmatismus als wahrhafter „Vater des Gesetzes“ geriert hatte (ohne es tatsächlich zu sein), den Namen-des-Vaters von seiner Positionierung im Signifikanten ausschließen kann. Der Psychotiker verliert nicht die Verbindung zur Realität, sondern das soziale Band zum Anderen. Dieser – in der Sprache manifestierte – Mangel des Ursprungs wird vom nicht-psychotischen Rechtssubjekt durch Mythen oder Glaubensformen aller Art ausgefüllt.57

B. Das Gesetz in der Strukturierung der subjektiven Erfahrung: R, S, I Zur Strukturierung von Subjektivität verwendet Lacan ein System, dessen Grundpfeiler die drei Ordnungen des Imaginären, des Symbolischen und des Realen sind. Jede dieser Ordnungen stellt eine spezifische (Re-)Interpretation subjektiver Erfahrung dar.58 Ihre Bedeutung für die Analyse des Rechts liegt darin, dass sie in ihrer strukturellen Verknüpfung den Rahmen der erotischen Anbindung des Subjekts an das Gesetz bilden, denn es handelt sich um die Grundstruktur der humanen Organisation des Genießens, die sowohl auf der individuellen als auch auf der sozialen Ebene und damit konkret in der Rechtsordnung stattfindet. Über das Verständnis der subjektiven Erfahrung und Organisation des Genießens erschließt sich eine psychoanalytische Phänomenologie des Rechts, in der nicht nur das Sprechen des Rechts und vom Recht als spezifische Organisation der Signifikanten und Signifikate zur Produktion von Bedeutung im Rechtszeichen analysiert wird, sondern auch das Phänomen der Gerechtigkeit einen strukturellen Platz als spezifische ObjektUrsache des subjektiven erotischen Begehrens zugewiesen bekommt. Die Darstellung der drei Register der subjektiven Erfahrung folgt der chronologischen Abfolge ihrer Entstehung in der Entwicklung des Subjekts. 56 Lacan, On a Question Prior To Any Possible Treatment of Psychosis, in: Écrits: A Selection (Sheridan), S. 203. 57 Apollon, Theory and Practise in the Psychoanalytic Treatment of Psychosis, in: Ragland-Sullivan/Bracher, Lacan and the Subject of Language, S. 119. 58 Lacan, Das Seminar XI: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 61 ff.

102

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

Jedes korrespondiert mit einer bestimmten Form der Objektbeziehung, und zwar Bedürfnis, Verlangen und Begehren. Die menschliche Entwicklung vom Bedürfnis über das Verlangen hin zum Begehren verläuft parallel zu der Bewegung aus dem Realen in das Imaginäre und Symbolische.59 Subjektivität entsteht erst durch den Eintritt in das Symbolische als Ordnung der Sprache und des Gesetzes. I. Das Reale und das Trauma der Ungerechtigkeit Das Reale lässt sich zunächst als die Welt der physischen und anatomischen Objekte beschreiben, in die das Kind hineingeboren wird, auch wenn diese Beschreibung in gewisser Hinsicht irreführend ist, weil kein direkter Zugang zu einer Form von externer Realität besteht. Es ist die Sphäre der biologischen und physischen Bedürfnisse. Wenn das Kind das Reale erstmalig erfährt, besteht noch kein Zugang zu den Ordnungen des Symbolischen und des Imaginären. Bewusstsein, Erkenntnis und Sprache sind nachrangig erworbene Fähigkeiten, die an den Eintritt in das symbolisch-imaginäre Gefüge geknüpft sind. Insbesondere besteht kein Bewusstsein der Trennung von der Umwelt. Das Kind erfährt sich und die Mutter in diesem Urstadium zunächst als Einheit. Das Reale setzt sich in der subjektiven Erfahrung fort als das Erlebnis des Traumatischen. Es handelt sich um eine bedrohliche Dimension, die als traumatische Zurückweisung und Liebesverlust in die Erfahrung des Subjekts zurückkehrt. Das Reale bezeichnet dann nur noch eine Leerstelle, die sich sowohl einer Symbolisierung als auch einer Imaginierung entzieht und damit gleichzeitig als absolute Grenze dieser Ordnungen fungiert. Das Register des Realen ist streng von der Realität zu unterscheiden, welche durch imaginäre und symbolische Repräsentationen erfahren wird, durch die das Subjekt eine Objektbeziehung herstellt.60 Das, was als „Realität“ erfahren wird, ist die durch Sprache strukturierte Ordnung des Symbolischen. In der Repräsentation der affektiven Störungen des Realen, dessen Begriffe etwa „Konflikt“, „Spannung“ oder „Unvereinbarkeit“ sind – das Unerträgliche, der Ort des „Nicht-Seins“ – funktioniert die symbolische Ordnung wie ein Schleier, der diesen Schrecken verdeckt.61 Symbolische Funktionen verschlüsseln das Reale der brachial empfundenen Erfahrungen der rohen Triebe. Teilweise klingen diese in Form eines imaginären tyrannischen Ur59

Grosz, Jacques Lacan: A Feminist Introduction, S. 25. Schroeder, The Vestal and the Fasces: Property and the Feminine in Law and Psychoanalysis, in: 16 Cardozo Law Review, S. 886. 61 Vgl. Ragland, Lacan and the Subject of Law: Sexuation and Discourse in the Mapping of Subject Positions That Give the Ur-Form of Law, in: 54 Wash./Lee Law Review, S. 1091. 60

B. Das Gesetz in der Strukturierung der subjektiven Erfahrung

103

vaters weiter, dessen mannigfaltige Facetten Emotionen wie Angst, Ärger, Hoffnung etc. hervorrufen. Lange bevor das Subjekt die sexuelle Differenz in der ödipalen Operation im Rahmen der väterlichen Intervention interpretiert, hat es begonnen, die Formen der Bedeutung in der Zeichenwelt in einer Logik der Schnitte zu strukturieren. Da es zuerst Formen und Bilder sind, die das Kind einnehmen, erfolgt der erste Schnitt zwischen dem Bild eines Objektes und der reißenden Erfahrung des Verlustes dieses Objekts. Diese Erfahrung ist der Schnitt, den das Kind zwischen dem Bild oder der Wahrnehmung erfährt, ein Ding zu besitzen, welches es durch eine scheinbare Einheit erfüllt, und den Bruch mit dieser imaginären Einheit, welcher Teilung und Konflikt in das Sein einführt. Freud hatte in Jenseits des Lustprinzips beschrieben, wie das Kind versucht, sich diesen Verlust durch die Symbolisierung der Anund Abwesenheit der Mutter durch Sprache und Spiele erträglich zu machen. Lacan erkennt hierin den ursprünglichen Symbolisierungsakt mit dem das Subjekt in die symbolische Ordnung eintritt, in der die symbolische Mutter die ursprüngliche Position des Anderen einnimmt.62 Das Reale setzt sich aus Spurenelementen von Identifikationen mit imaginären oder physischen Objekten – der Mutterbrust, einem Blick, einer Stimme oder einem Nichts – zusammen. Alle diese Objekte sind affektive Reminiszenzen der Erfahrung eines Verlustes. Sie treten als Enigma oder totes Ende in den Denkprozess ein und werden als Trennungsangst, Melancholie, Trauer oder Depression erfahren. Lacan verortet diese negative Begegnung mit dem Verlust in eine Leer- oder Fehlstelle im Sein, die in die Sprache als Sinn einer Bedeutung eintritt, und den Charakter einer „harten Tatsache“ hat. Der Konflikt ist somit eine Kategorie, innerhalb der das „Reale des Widerstreits“ als logische Operation innerhalb von Sprache auftritt.63 Für das psychologische Verständnis der subjektiven Erfahrung von „Ungerechtigkeit“ ist das Reale Lacans zentraler Begriff und damit von entscheidender Bedeutung für die Wirkungsweise rechtlicher Akte im Psychismus: Entweder wird das Reale durch den Rechtsakt als Erfahrung von Gerechtigkeit stabilisiert – und damit eine Distanz zu ihm hergestellt – oder es entfaltet sich als traumatische, nicht symbolisierbare Erfahrung von Ungerechtigkeit. Die erste Erfahrung des infantilen Subjekts mit dem Gesetz ist die Stabilisierung und Orientierung des Realen durch ein Symbol, das von dem großen Anderen (der symbolischen Ordnung) genommen wird. Das Kind symbolisiert das Gesetz des Vaters, indem es dieses für sich durch Zeichen formuliert, denn diese stellt der Andere als die Gesamtheit der verfügbaren 62

Lacan, Le Séminaire IV: La relation d’objet, S. 67–68. Vgl. Ragland, An Overview of the Real, with Examples from Seminar I, in: Feldstein, Reading Seminars I/II: Lacan’s Return to Freud, S. 192, 194. 63

104

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

Zeichen zur Verfügung. Damit wird die nicht symbolisierbare – reale – Angst vor dem Vater in ein Gefüge gebracht. Dieses Symbol ist für das Kind das „Ding an sich“, d.h. der unerreichbare phantasmatische Ort, der für die Einheit, den Zustand der Ungespaltenheit steht. Das Symbol, welches dem Kind eine Orientierung für das Reale liefert, ist das erste Gesetz, der Name-des-Vaters. Wie bei dem Totem in Freuds Mythos handelt es sich um das ursprüngliche Gesetz, welches aus der traumatischen Erfahrung (des Tyrannen in der Urhorde) herausführt. Wegen dieser Ursprünglichkeit funktioniert es auf der Ebene der Sprache als Herrschaftssignifikant (S1), der am Anfang einer Kette steht, welche Bedeutung schafft. Dieser Signifikant gibt den Positionen in der symbolischen Ordnung, die sowohl Dinge als auch Erfahrungen sein können, einen Namen. Durch diesen Prozess des kontinuierlichen Benennens wird die bare Angst des Realen verdeckt. So können auch die Auswirkungen von Begegnungen mit dem Realen des Verlustes – Erfahrungen des Traumas, der Melancholie, Trauer oder physische Verletzungen, aber auch Emotionen wie Eifersucht und Aggression, die mit imaginären Identifikationen verknüpft sind (das Reale des Affekts) – mit Namen versehen und so vom Realen distanziert und in das Symbolische integriert werden. Durch den Prozess der Namensgebung wird die Sprache damit zum Repräsentanten des Unsagbaren. Für die Analyse des Rechts bedeutet das, dass die Funktion des Gesetzes auf der Ebene des Psychischen darin liegt, das ansonsten bestehende Chaos des Realen (d.h. die Angst vor einem Krieg aller gegen alle, dem willkürlichen Recht des Stärkeren, Unterdrückung etc.) zu beseitigen. Das Gesetz hat damit eine fundamentale Funktion; denn erst durch die Setzung eines (legalen) Signifikanten kann Bedeutung geschaffen werden. So kommt man wieder zu Legendres Satz, dass „das Unbewusste ein Jurist“ ist. Denn für die Stabilisierung der traumatischen Verlusterfahrung ist die Rechtsordnung auf der Ebene des Sozialen entscheidend. Die gegenläufige Erfahrung – z. B. des ungerechten Rechts – als das Reale der Angst wird – wie der Fall Schrebers exemplarisch zeigt – durch den Verlust der imaginären Stabilisierungsfaktoren produziert, die innerhalb einer normalen Entwicklung durch den Namen-des-Vaters aufgestellt werden. Dem Subjekt wird die Konsistenz der Identifikationen genommen, welche dem Unbewussten Stabilität und Einheit vermitteln. Der Vater installiert sich so als obszönes Gesetz des unbeschränkten Genießens und wird so zu einer imaginären Figur der Tyrannei, die sowohl in den Objektbeziehungen des Kindes, als auch in der Beziehung des Rechtssubjekts zur Rechtsordnung als tatsächliche Beraubung bzw. als traumatisches Ende, das den Zugang zum sozialen Band versperrt, erfahren wird.64 64

Vgl. Lacan, Le Séminaire IV: La Relation d’Objet, S. 269.

B. Das Gesetz in der Strukturierung der subjektiven Erfahrung

105

II. Die imaginäre Ordnung und die höhere Gerechtigkeit Die Bedeutung der Ordnung des Imaginären liegt für die Analyse des Rechts darin, dass das Recht mit einer Reihe von Bildern oder Phantasmen arbeitet, die für die subjektive Anerkennung der Autorität des Gesetzes notwendig sind. Während das positive Recht als Teil der symbolischen Ordnung der Signifikanten operiert, liegen z. B. idealistische Vorstellungen von einer „höheren“ Gerechtigkeit oder einer Metaphysik des Rechts im Imaginären verankert. Die Zuordnung zum Imaginären bedeutet hier allerdings nicht, dass es sich bei diesem für die Funktionsweise des Rechts zentralen Phänomenen um etwas handelt, das außerhalb der Realität steht. Im Gegenteil: Weil die „Realität“ gerade das Produkt der sich aus den drei Ordnungen zusammensetzenden Erfahrungen ist, muss man bei der Zuordnung von Denkprozessen und unbewussten Vorgängen zum Imaginären innerhalb der Terminologie Lacans unterstreichen, dass hierin keine Aussage bzgl. der „Wahrheit“ von Gerechtigkeit oder Metaphysik getroffen wird. Das Symbolische oder das Reale sind nicht näher an der Realität, als das Imaginäre. Auf einer höheren Ebene beschreibt die imaginäre Erfahrung das Erlebnis von Sinn, der oberhalb eines rechtlich getriebenen Kausalablaufes liegt. Die möglicherweise provozierende Schlussfolgerung aus der Lacanschen Analyse der imaginären Erfahrung ist allerdings, dass sich idealistische Vorstellungen prinzipiell aus einer narzisstischen Projektion des Egos ableiten, worunter letztlich auch Legendres Konstruktion von dem mythischen Ursprung des Rechts fällt. Die Entstehung des Imaginären beschreibt Lacan anhand des bereits im Zusammenhang mit Legendre erwähnten Spiegelstadiums, das gleichzeitig den zentralen Unterschied zwischen dem narzisstischen Ich und dem Subjekt deutlich macht.65 Während Lacan das Spiegelstadium anfänglich als eine spezifische Phase in der infantilen Entwicklung der Psyche zwischen dem sechsten und 18. Lebensmonat beschrieben hatte, weitet er das Konzept im Fortschreiten seiner Seminare zu einer Repräsentation einer permanenten Struktur innerhalb von Subjektivität, dem „Paradigma des Imaginären“, aus. Im Spiegelstadium ist das Subjekt fortwährend in und durch sein eigenes Bild gefangen: „[Das Spiegelstadium ist] ein Phänomen, dem ich einen zweifachen Wert zuschreibe. Zum einen hat es einen historischen Wert, da es einen entscheidenden Wendepunkt in der mentalen Entwicklung des Kindes markiert. Zum anderen verkörpert es eine grundlegende libidinöse Beziehung mit dem Bild vom eigenen Körper.“66 65

Lacan, The Freudian Thing, in: Écrits, A Selection (Fink), S. 121 (Rn. 417). Lacan, Some Reflections on the Ego, in: The International Journal of Psychoanalysis 34(1), S. 14. 66

106

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

Die Entstehung des Ich findet in einen Identifikationsprozess in der Phase der ersten infantilen Selbstwahrnehmung im Spiegel statt.67 Das Kind wird sich seines eigenen Körpers und dessen der Mutter als etwas anderem bewusst. Dies ist die ursprüngliche Erfahrung des Selbstbewusstseins und der Außenwelt. Durch die Wahrnehmung der Alterität der Mutter erkennt das Kind, dass es nicht nur Bedürfnisse hat, sondern auch, dass es mangelt. Es verlangt nach der Mutter als Repräsentation des Anderen:68 „Verlangen nimmt die Form einer Aussage an, wie z. B. „Ich will . . .“ oder der Befehl „Gib mir . . .“. In Lacans Verständnis ist das Verlangen immer transitiv, denn es richtet sich immer an einen Anderen (gewöhnlich die Mutter). Indem es sich in Sprache artikuliert, die immer von dem Anderen kommt und erlernt wurde, bezieht sich das Verlangen immer auf eine Alterität.69 Lacan geht davon aus, dass sich das Kleinkind mit einer in das Spiegelbild projizierten Einheit identifiziert, damit es die Erfahrung seines tatsächlich noch fragmentarischen Körpers aus einem narzisstischen Impuls heraus widerlegen kann. Dieser Prozess steht ebenfalls im Zusammenhang mit dem Spiegelbild, zu dem anfänglich ein aggressives Rivalitätsverhältnis entwickelt wird. Das Spiegelbild wird zunächst als bedrohlich empfunden, weil es vollständig erscheint und dem Kind damit seinen noch fragmentarischen Körper erkennen lässt. Um sich aus dieser aggressiven Spannung zu lösen, identifiziert sich das Subjekt mit dem Spiegelbild. Innerhalb dieser Identifikation imaginiert das Kind ein Gefühl von Herrschaft und Kontrolle, die es der Erfahrung seines fragmentarischen Körpers entgegen setzen kann. So ist es in der Lage, aus der Identifikation mit dem Gegenüber ein Ich zu entwickeln. Lacan erklärt damit gleichzeitig den bei Freud noch offen gebliebenen Ursprung der narzisstischen Ich-Determinierung. Das Subjekt wiederholt quasi die im griechischen Mythos beschriebene Geschichte des Narziss, der sich in sein Spiegelbild verliebt. Im Spiegelstadium zeigt sich so, dass das narzisstische Ich das Produkt eines Missverständnisses ist, welches an dem Punkt entsteht, an welchem sich das Subjekt von sich selbst entfremdet. Das Imaginäre beschreibt folglich die Ordnung der Bilder, der Phantasmen, Täuschungen und Illusionen, aber auch der Komplementarität. Es entfaltet eine das Subjekt einnehmende Kraft, die aus der nahezu hypnotischen Wirkung des Spiegelbilds folgt. Das Imaginäre beschreibt gleichzeitig die Beziehung des Subjekts zu seinem Körper oder vielmehr zu einem Bild sei67

Lacan, Die Familie, in: Schriften III, S. 57 ff. (59). Die Mutter ist nicht notwendig die biologische Mutter, sondern grundsätzlich diejenige Person, welche von dem Kind ursprünglich als „Anderer“ erkannt wird. In der englischen Lacan-Literatur wird deswegen häufig die Bezeichnung „ (m)other“ verwendet. 69 Grosz, Jacques Lacan: A Feminist Introduction, S. 61. 68

B. Das Gesetz in der Strukturierung der subjektiven Erfahrung

107

nes Körpers. Die einnehmende Kraft des Bildes hat sowohl eine narzisstisch-verführerische, als auch eine lähmende Wirkung: Das Subjekt ist in den nahezu statischen Fixierungen der imaginären Bilder eines idealen Egos (idéal du moi) gefangen. Diese beziehen sich, ausgehend von der Erfahrung des fragmentarischen Körpers im Spiegelstadium, auf das Versprechen einer zukünftigen Synthese und Illusion von Einheit. Das Ideal-Ego begleitet das Ego als ein fortwährendes Streben, die ursprüngliche Einheit der prä-ödipalen dualen Beziehung mit der Mutter wieder zu erlangen. Alle nachrangigen Identifikationen, die das Subjekt im Verlauf des Lebens vornimmt, basieren auf dem Ideal-Ego. Mit dem Begriff der dualen Beziehung zwischen Ego und Spiegelbild beschreibt Lacan ein zentrales Charakteristikum des Imaginären, das sich durch Illusionen von Similarität, Symmetrie und Reziprozität auszeichnet. Lacan unterstreicht die Alterität, welche diese Erfahrung prägt. Das Spiegelbild wird als anderer erfahrenen, dem Lacan – in Abgrenzung zu dem großen Anderen, den Lacan mit (A) bezeichnet – das Symbol (a) zuweist. Das (a) steht damit für den „kleinen anderen“, der als Projektion des Egos im Imaginären zu verstehen ist. Aus dieser ersten Identifikation mit einem Ideal entwickelt das Subjekt Schritt für Schritt eine imaginäre Ordnung, die für die Erfahrung des Erhabenen, des Ideellen steht und damit auch der Ort aller Vorstellungen von Metaphysik oder Gerechtigkeit ist, welche so als Fortführung der Projektion des Egos als ein Gegenüber und ein Spiegelbild zu verstehen sind. Imaginäre Prozesse sind damit für das Rechtssubjekt konstitutiv, denn sie ermöglichen ihm und zwingen es, ein überpositives Jenseits zu denken, welches als Grundlage einer – sonst nur als Willkür erfahrbaren – Rechtsordnung notwendig ist. III. Das Rechtszeichen in der symbolischen Ordnung Freuds Interpretation des Ödipusmythos und seine phylogenetisch formulierte These von der Entstehung des Gesetzes unterstreicht neben der Funktion der Identifikation einen weiteren zentralen Mechanismus in der Subjektskonstituierung: Die Symbolisierung. Diese hat wie die Identifikation sowohl eine intrasubjektive als auch eine intersubjektive Dimension. Die Urhorde identifiziert sich mit dem toten Vater und symbolisiert sein Gesetz in dem Totem. Die Symbolisierung ist ein Prozess, welcher mit der Identifikation in der Geschichte des Subjekts im Spiegelstadium einhergeht. Die Identifikation mit dem Spiegelbild ist gleichzeitig die erste Symbolisierung einer imaginären Vollständigkeit. Die symbolische Ordnung ist das Register der intersubjektiven Beziehungen, in der Sprache, Sexualität und Signifikation, einschließlich der legal-

108

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

linguistischen Struktur des positiven Rechts, enthalten sind.70 Sie umfasst die Gesamtheit der grammatikalischen, soziokulturellen und sexuellen Regeln, welche es dem Subjekt ermöglichen, kognitive Differenzbeziehungen zu entwerfen, auf deren Grundlage es sich aus seinem ursprünglich erfahrenen Chaos lösen kann.71 Ihr muss daher das primäre Interesse einer psychoanalytischen Reflexion über das Recht gelten. Die subjektive Erfahrung des Rechts und des Gesetzes folgt damit ihrer spezifischen Funktionsweise. Es ist das Gesetz selbst, durch welches das Subjekt in den Prozess der nie endenden Symbolisierungen eingeführt wird. Die Symbolisierung findet auf der Ebene der Sprache statt, so dass sich die symbolische Ordnung als partikuläre Struktur aus Signifikanten darstellt, die in ihrer Beziehung zu einander Bedeutung produzieren. Jede Rechtsordnung und jeder Rechtssatz basieren auf einer spezifischen Verkettung dieser Signifikanten. Lacans entscheidender Beitrag zum Verständnis des Rechts als symbolische Struktur der Signifikantenketten liegt unter anderem darin, dass er ihr einen konkreten Ausgangspunkt gibt, nämlich den phallischen Signifikanten.72 Die symbolische Funktion, auf der dieser Signifikant operiert, beschreibt Lacan mit dem Namen-des-Vaters. Damit erklärt er zum einen, wie es zu dem Phänomen der Vorstellung des „Vaterrechts“ gekommen ist, zum anderen aber auch, wie sich das Recht aus der Mikrostruktur der Familie heraus auf die Makrostruktur der sozialen Rechtsordnung projiziert bzw. sich aus der Perspektive des Subjekts in ihr fortsetzt. Indem nicht die Urhorde, sondern die Familie als „Tatort“ identifiziert wird, lässt sich vertreten, dass Lacan damit die Problematik der mangelnden empirischen Belegbarkeit, welche sich im Zusammenhang mit Freuds Theorie der archaischen Erbschaft unweigerlich stellt, in gewisser Weise auflöst. Das Konzept des Symbolischen orientiert sich an den anthropologischen Arbeiten von Lévi-Strauss, der den Begriff der „symbolischen Funktion“ geprägt hatte.73 Insbesondere greift Lacan den Gedanken auf, dass es ein konstitutives Merkmal von sozialen Gemeinschaften ist, dass sie durch Gesetze strukturiert sind, welche die Verwandtschaftsbeziehungen und den Austausch von Geschenken regeln. Lévi-Strauss hatte gezeigt, wie entsprechende symbolische Strukturen im Unbewussten die Funktionsweise einer 70 Schroeder, The Four Discourses of Law: A Lacanian Analysis of Legal Practice and Scholarship, in: 79 Texas Law Review, S. 26. 71 Wright, Lacan and Postfeminism, S. 74. 72 Dieser Ansatz ist auch der Grund dafür, dass Lacan von Kritikern gerne als „phallozentrischer“ oder „phalloexzentrischer Obskurantist“ bezeichnet worden ist. (Vgl. Schneider-Harpprecht, Mit Symptomen leben: Eine andere Perspektive der Psychoanalyse Jacques Lacans mit Blick auf Theologie und Kirche, S. 108, m. w. N.) 73 Vgl. Lévi-Strauss, Structural Anthropology, S. 203.

B. Das Gesetz in der Strukturierung der subjektiven Erfahrung

109

Gesellschaft und gleichermaßen die Denkweise des Individuums organisieren und darüber hinaus regieren. Die Schenkung und der Kreislauf des Austauschs von Gütern spielen demnach eine zentrale Rolle in Lacans Entwurf des Symbolischen.74 Die psychische Determinierung des Subjekts durch das Gesetz der symbolischen Ordnung basiert auf der im Unbewussten verankerten Gesetzmäßigkeit, welche ihren Spiegel in der sozialen Organisation von Ehebund und Verwandtschaftsbeziehungen als moderne Version der unmittelbar aus dem Vatermord abgeleiteten Dogmen des Inzestverbots und der Exogamie hat. Diese sind wiederum als sozial notwendige Reaktionen auf die ödipale Motivation des Subjekts zu lesen und können damit als Ursprung des Rechtssystems interpretiert werden.75 1. Die symbolische und die imaginäre Dimension der Signifikanten in der Sprache Da sozialer Austausch auf Kommunikation basiert, dem Austausch von Worten als dem „Geschenk der Rede“,76 versteht Lacan das Recht fundamental als linguistische Einheit: Das Symbolische ist eine Sprachordnung, in der die diskursiven Formen des Rechts als Subsystem funktionieren. Der Rechtsdiskurs folgt dem Gesetz des Signifikanten, der ursprünglich das Inzestverbot und die Exogamie77 bezeichnet: „Der Ursprung aller Gesetze liegt in dem Gesetz, welches, indem es den ehelichen Bund regelt, den kulturellen Reigen über den natürlichen Reigen setzt (. . .). Das Inzestverbot ist lediglich der subjektive Angelpunkt dieses Gesetzes, offen gelegt durch die moderne Tendenz, die Objekte, die dem Subjekt zu der Mutter und den Schwestern zu wählen verboten sind, zu reduzieren (. . .). Dieses Gesetz enthüllt sich unmissverständlich als identisch mit einer Sprachordnung. Denn ohne eine Nominierung von Verwandtschaftsbeziehungen ist es keiner Macht möglich, eine Ordnung von Präferenzen und Tabus, welche die Generationen durch das Band der Abstammung verknüpft, zu institutionalisieren.“78 74

Lacan, Le Séminaire IV: La relation d’objet, S. 153–154. Vgl. Lacan, The Freudian Thing, in: Écrits: A Selection (Fink), S. 133 ff. (Rn. 432). 76 Lacan, Le Séminaire IV: La Relation d’Objet, S. 189. 77 Eine Gegenthese entwickelt Bischof in „Das Rätsel Ödipus“: Inzuchthemmung und Exogamie sind nicht auf Menschen beschränkt, sondern auch bei fast allen Tierarten aufzufinden. Inzestscheu ist danach in erster Linie nicht gesellschaftlichen, sondern biologischen Ursprungs. Zwar unterscheide sich menschliches Sozialleben offenkundig von tierischem, denn kulturelle Normen seien etwas grundsätzlich anderes als instinktive Antriebe und Hemmungen. Gleichwohl liege dem Strukturwandel im Tier-Mensch-Übergangsfeld ein phylogenetisches Prozesskontinuum zugrunde. 78 Lacan, The Function and Field of Speech and Language in Psychoanalysis, in: Écrits: A Selection (Fink), S. 66 (Rn. 277). 75

110

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

Auf Sprachebene ist die imaginäre Ordnung der Ort der Bedeutung, sprich des Signifikats. Die Sprache hat dementsprechend eine imaginäre und – auf der Seite des Signifikanten – eine symbolische Dimension. Die symbolische Dimension der Sprache ist die des Signifikanten; ihre Elemente besitzen keine positive Existenz, sondern definieren sich ausschließlich kraft ihrer Differenz. Das charakteristische Merkmal der symbolischen Ordnung ist die Ebene der Bedeutung, die Lacan als Funktionen innerhalb der Sprache beschreibt. Es ist im Regelfall die Mutter, welche das Subjekt in die Sprache einführt, weil sie die noch unartikulierten Schreie retroaktiv als eine spezifische Botschaft des Kindes interpretiert; denn das Subjekt erwirbt seine Sprache nicht direkt aus der grammatikalischen Struktur, wie sie pädagogisch vermittelt wird. Vielmehr ist Spracherwerb nach Lacan ein dynamischer Prozess, innerhalb dessen die sozio-konventionelle Sprache in der Erfahrung der Identifikation mit anderen Subjekten bzw. dem Anderen transformiert wird. Es handelt sich hier um imaginäre Identifikationen, die durch Worte und Namen strukturiert werden, welche das Kind von seiner Umwelt empfängt. Die symbolische Seite dieser Identifikationen liegt darin, dass die Klangbilder der Worte und Namen als Signifikanten erfahren werden, die das Individuum Schritt für Schritt in das symbolische Universum der linguistischen Repräsentationen einführen. Die symbolische Ordnung strukturiert damit die Beziehung des Subjekts zu seinem Signifikanten. Erst der (symbolische) Signifikant bringt durch seinen Verweis auf ein (imaginäres) Signifikat Bedeutung in das statische System der an sich bedeutungslosen Anordnung von Elementen, indem er das Klangbild mit einem spezifischen Konzept in Verbindung bringt.79 2. Der Herrschaftssignifikant und seine Beziehung zum Signifikat Weil die Ebene der Bedeutung im Symbolischen einen Ort in der Sprache besetzt, trägt Lacans Theorie wesentliche Züge einer Sprachtheorie, nach der Bedeutung aus der grammatikalischen Beziehung eines Herrschaftssignifikanten (S1) zu einer Ordnung der Signifikantenverkettungen des Wissens (S2) entsteht. Der Herrschaftssignifikant bestimmt die Bedeutung für die ihm nachfolgende Signifikantenverkettung. Um diese Funktion erfüllen zu können, darf (S1) selbst aus einer strukturellen Notwendigkeit heraus keine Bedeutung enthalten; denn damit die Signifikantenketten eine Bedeutung produzieren können, muss es einen Signifikanten geben, der für „nichts“ steht, ein Signifikant, dessen Präsenz allein den Sinn hat, Abwesenheit (von 79

Wright, Lacan and Postfeminism, S. 73.

B. Das Gesetz in der Strukturierung der subjektiven Erfahrung

111

Bedeutung) anzuzeigen.80 Aufgrund dieser inhärenten Spannung enthält jede Sprache ein paradoxes Element, welches für das steht, was sich ihm entzieht: Der Herrschaftssignifikant ist in jeder Signifikantenkette derjenige Signifikant, dessen Funktion in der Signifikation der Abwesenheit des Signifikanten besteht. Seine Notwendigkeit besteht darin, das zerstreute Feld, in dem sich die unzähligen Ketten von Gründen (welche als das „Wissen“ erscheinen) bewegen, durch einen abgründigen, unfundierten, grundlegenden Akt der Gewalt in Form der Setzung eines Zeichens der vorgängigen Bedeutungslosigkeit zu verbinden.81 Die Signifikantenkette endet damit immer in einer Sackgasse. Den einzigen Weg aus diesem Dilemma der Auflösung von Bedeutung sieht Žižek darin, die Reihe der Äquivalenzen umzukehren und einem Signifikanten die Funktion der Repräsentation des Subjekts für alle anderen (die damit als Totalität zusammengefasst werden) zuzuschreiben (den Ort der Einschreibung) und so den richtigen Herrschaftssignifikanten zu produzieren.82 In Abwandlung der Sprachtheorie Saussures bezeichnet Lacan Bedeutung als Signifikant ÈS1 ê Signifikat ÈS2 ê

Der Signifikant steht über dem Signifikat bzw. der Signifikant steht für das Signifikat.83 Ein Herrschaftssignifikant (S1) oder reiner Signifikant erlangt seine Bedeutung retroaktiv unter Bezugnahme auf einen zweiten Signifikanten, der notwendig dasselbe Substrat wie der erste Signifikant hat. Der zweite Signifikant ist notwendig, um ein Wissensspektrum zu errichten (S2).84 Seine Beziehung zu (S1) ist bei Lacan nicht von untergeordneter Natur. Damit proklamiert er eine Verschiebung oder Umkehrung der von Saussure vorgeschlagenen Formel „Zeichen ist gleich Signifikat über Signifikant“. Saussure geht von einer unauflöslichen Zwitternatur des Zeichens aus, so wie ein Papier als solches zwei Seiten haben muss. Das Zeichen verweist, um Zeichen zu sein, auf etwas, welches wiederum, um als Bezeichnetes fungieren zu können, eben dieser Verweisung bedarf.85 Die Beziehung zwischen den beiden Zeichen ist schon bei Saussure weder natürlich noch konventionell, sondern arbiträr. Der Grund für diese Ar80

Žižek/Schelling, The Abyss of Freedom/Ages of the World, S. 39. Žižek, Enjoy Your Symptom! Jacques Lacan in Hollywood and Out, S. 102-3. 82 Žižek, For They Know Not What They Do: Enjoyment As A Political Factor, S. 23. 83 Lacan, The Instance of the Letter in the Unconscious, in: Écrits: A Selection (Fink), S. 141. 84 Lacan, Le Séminaire XX: Encore, S. 26. 85 Saussure, Grundlagen der allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 78/135–137. 81

112

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

bitrarität liegt in einer beiden Zeichen vorgängigen Differentialität. Tholen unterstreicht, dass die Frage nach der Differenzialität des Signifikanten die Sprachwissenschaft nach Lacan und Derrida dazu brachte, sich von ihrer metaphysischen Einklammerung zu lösen; denn das Irritierende des Signifikanten als Gegenstand seiner eigenen Theoretisierung liege eben darin, dass er im strikt ontologischen Sinne nicht „ist“, sondern als Nicht-Sein dem Sein widersteht. Seine Identität mit sich selbst ist immer versetzt oder sie bleibt aus. Der Signifikant erscheint deswegen als etwas Paradoxes, weil er sich dem Abwesenden oder Undarstellbaren entzieht. Dieser Entzug aus dem Reich des Undarstellbaren wird im Bild eines Ursprungs oder eines nicht anwesenden Gottes vollzogen.86 Die imaginäre Gestalt einer ursprünglichen Kraft ist nicht nur theologisch besetzbar, sondern sie ist auch im Rahmen einer metaphysisch fundierten Rechtslehre unumgänglich. Ebenso kann sie aus der strukturalistischen Position als ursprüngliche Motivation für die metaphysischen Vorstellungen vom Grund des Rechts ausgemacht werden. Das Signifikat bezeichnet bei Lacan nicht etwas „Tatsächliches“ außerhalb der Sprache, sondern es ist selbst wieder ein Signifikant eines weiteren Signifikats, ad infinitum. Mit anderen Worten: Bedeutung ist eine Kette, die ins Endlose geht. Das positive Gesetz kann damit nur im Kontext des Rechtssystems verstanden werden, das sich aus vorausgehenden Interpretationsketten zusammensetzt.87 Der Trennstrich, den Lacan zwischen dem Signifikanten und dem Signifikat zieht, zeigt an, dass beide in einer indirekten Beziehung zueinander stehen. Der Trennstrich hat also nicht die mathematische Bedeutung der Teilbarkeit oder vollständigen Kontinuität des Zählers im Nenner, sondern bezeichnet das genaue Gegenteil: Lacan gebraucht den Trennstrich, um Eigenständigkeit zu signalisieren. Es gibt keine direkte, „eins-zu-eins“-Beziehung zwischen einem Signifikanten und einem Signifikat, sondern das Verhältnis ist immer ein mittelbares, akzidentielles und zeitliches. Bedeutung verhält sich in einem kontinuierlichen Stadium der Verflüchtigung, denn die Signifikanten gleiten oberhalb der Linie (verschiedenen Begriffe werden zur Bezeichnung desselben Konzepts in verschiedenen Zusammenhängen gebraucht). Ebensowenig lassen sich die Signifikate unterhalb der Linie fixieren (derselbe Begriff steht für verschiedene Konzepte in verschiedenen Kontexten). Lacan beschreibt Bedeutung deswegen auch als Stadium der Unsicherheit. Signifikanten sind sprichwörtlich „bedeutungsvoll“.88 Bedeutung hat bei Lacan allerdings immer eine libidinöse 86 Tholen, Der Ort des Abwesenden. Konturen des Differenz-Denkens bei Derrida, Lacan und Levinas, in: Schuller/Strowick, Singularitäten. Literatur-Wissenschaft-Verantwortung, S. 169 ff. 87 Schroeder, The Four Discourses of Law: A Lacanian Analysis of Legal Practice and Scholarship, in: 79 Texas Law Review, S. 27.

B. Das Gesetz in der Strukturierung der subjektiven Erfahrung

113

Implikation. So unterstreicht er, dass sobald man versucht, Bedeutung direkt aus der Sprache zu erlangen, ihr wohl bedeutendster Inhalt, nämlich ihr auf das Genießen ausgerichteter „Sinn“ (jouis-sense), verloren geht, wodurch sich Bedeutung zu Schein verkehrt.89 Dieser Gedanke ist weniger obskur, als er vielleicht zunächst scheinen mag, denn wenn man von „Sinn“ spricht, wird – ob bewusst oder unbewusst – immer eine Brücke zum Genießen geschlagen. Dieses Genießen ist in der psychoanalytischen Interpretation in seiner letzten Konsequenz zwar immer libidinös (was letztlich aus der Verknüpfung der Signifikanten mit dem Begehren innerhalb der Sexuierung zusammen hängt), kann aber auf der kognitiven Ebene z. B. als schlichte Reduzierung von Komplexität erfahren werden. In der konsequenten Fortführung dieses Gedankens muss man damit festhalten, dass sich die Erfahrung sinnvollen Rechts nur dort einstellt, wo der Rechtsakt dem Rechtssubjekt eine Form des Genießens gewährt. 3. Metapher, Metonymie und Gesetzesauslegung „Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen, in Betracht kommen.“ Friedrich Nietzsche90

Zur Beschreibung der Arbeitsweise der Signifikanten gebraucht Lacan die rhetorischen Konzepte der Metapher und der Metonymie, innerhalb der das Subjekt des Unbewussten und der Andere operieren. Metonymie – die Substitution eines Begriffes durch die Bezeichnung eines Attributes des Gemeinten oder in Lacans Formulierung: „das Teil als Äquivalent des Ganzen“ – dient dazu, den Grund des Begehrens zu artikulieren, während die Metapher Substitutionen gebraucht, um Bedeutung zu schaffen. Die Metapher bezeichnet die temporäre Identifikation eines spezifischen Signifikanten oberhalb des Trennstriches mit einem spezifischen Signifikat unterhalb. Die Metapher betont die Gemeinsamkeit zwischen zwei Konzepten oder Formen und drängt die Unterschiede in den Hintergrund. Diese strukturelle 88 Lacan, The Instance of the Letter in the Unconscious, in: Écrits: A Selection (Fink), S. 140 ff., insbes. Rn. 497. 89 Lacan, Le Séminaire XX: Encore, S. 26. 90 Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, Sentenz 1, 1873, aus dem Nachlaß.

114

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

Gesetzmäßigkeit der Metapher spiegelt sich auch in der Struktur von Mythen wider. Die Metonymie verweist dagegen auf den Zustand der ständigen Bewegung der Signifikate unterhalb der Trennlinie und betont damit, dass der Signifikant niemals vollständig in der Lage ist, das Konzept des Signifikats in seiner Totalität zu erfassen. Vielmehr besteht die Metonymie darauf, dass der Trennstrich nicht überschritten werden kann. Dementsprechend versucht der Signifikant innerhalb der Metonymie nicht, die essentielle Natur des Signifikats zu erfassen, sondern suggeriert sie lediglich. Lacan ordnet die Metapher der Verdichtung, die Metonymie der Verschiebung zu.91 Deswegen soll kurz auf deren spezifische Bedeutung bei Freud eingegangen werden: Die Begriffe der Verdichtung und Verschiebung entwickelt Freud maßgeblich in der Traumdeutung, welche insofern einen Schlüssel zu dem Gesetz des Begehrens bietet: Der Traum korrespondiert unmittelbar mit dem Begehren und artikuliert sich dabei als Ergebnis der Traumarbeit mittels einer eigenen symbolischen Ordnung. Die Traumsymbolik folgt eigenen Regeln, die nicht einfach auf die bis hier erörterte Ordnung des Anderen übertragbar sind, sich aber in Form einer Symbolisierung des Symbols aus ihr ableiten. Verdichtung meint, dass verschiedene Vorstellungen und Bilder in einem einzelnen Bild bezeichnet werden. Verschiebung bewirkt hingegen, dass eine potentiell störende Vorstellung oder ein Bild mit etwas Ähnlichem, doch weniger Störendem in Verbindung gebracht wird. Daneben spielen Aspekte der Darstellbarkeit eine Rolle, die den Traum verständlich machen sollen (sog. „sekundäre Bearbeitung“). Die primäre Funktion von Träumen liegt darin, verdrängte Wünsche zu erfüllen. Es kann passieren, dass das Unbewusste durch das Auftreten eines traumatischen Erlebnisses gezwungen wird, dieses zu verarbeiten. Das Trauma tritt dann an die Stelle bzw. modifiziert das Begehren, so dass das Unbewusste von dem Prozess der Traumaverarbeitung dominiert wird. Der Traum als Wunscherfüllung tut so, als ob das Begehren so zu befriedigen wäre wie etwa die Bedürfnisse des Hungers, die sich im Feld der Bitte und des Anspruchs an den Anderen artikulieren. Allmachts- wie Kastrationsträume handeln ebenso wie die lückenhaften Einfälle im und zum Traum (in der nachträglichen Deutung) von der konfliktreichen Spannung des Begehrens; sie erzählen davon, dass das Subjekt von den Kränkungen der Angewiesenheit auf den Nebenmenschen spricht. Freuds zentraler Satz zur Traumarbeit: „Man würde offenbar in die Irre geführt, wenn man diese Zeichen nach ihrem Bilderwert anstatt nach ihrer Zeichenbeziehung lesen wollte.“92

Die Operation von Metapher und Metonymie findet nicht nur im Unbewussten und im Traum statt, sie ist auch in der (bewussten) Gesetzesaus91 92

Lacan, Das Seminar III: Die Psychosen, S. 260. Freud, Die Traumdeutung, StA II, S. 282 ff.

B. Das Gesetz in der Strukturierung der subjektiven Erfahrung

115

legung präsent. Allerdings hat auch diese eine unbewusste Komponente, in der das Begehren ebenso am Werk ist, wie in jedem anderen Denkprozess des Subjekts. Beispielhaft soll hier auf die Interpretation des fundamentalen Satzes aus Art. 1 GG – „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – eingegangen werden: Beleuchtet man die Verknüpfung von Menschenwürde als (Herrschafts-)Signifikant oberhalb der Trennlinie und dem Folterverbot als Signifikat unterhalb in ihrer metaphorischen Beziehung, zeigt sich die Bedeutung der Menschenwürde (z. B.) in der Betonung der Gemeinsamkeit dieses Begriffs mit dem des Folterverbots. Menschenw¨urde ÈS1 ê Folterverbot ÈS2 ê

Zwar sind Menschenwürde und Folterverbot nicht identisch, denn die Trennlinie kann nicht überschritten werden. Das Folterverbot verdichtet sich aber mit einer Reihe anderer Begriffe und Begriffsketten (z. B. dem Verbot der Todesstrafe) zu einem Bild dessen, was Menschenwürde insgesamt nach dem Grundgesetz bedeutet. Richtet man nun den Blick auf die metonymische Beziehung von (S1) und (S2), wird folgender Aspekt deutlich: Die Menschenwürde kann durch spezifische Begriffe unterhalb der Trennlinie niemals in ihrer Totalität erfasst werden. Sie ist Teil eines nie endenden Interpretationsprozesses durch das Bundesverfassungsgericht, der mit jeder neuen Entscheidung, in der die Menschenwürde als entscheidungserheblich angesehen wird, fortgeführt wird. Dies zeigt sich etwa in der durch ein gesellschaftliches Umdenken in der 1960er Jahren motivierten Neuinterpretation der Menschenwürde hin zu dem Gebot der gewaltfreien Kindererziehung93 (S2) als weiteres Signifikat unter dem Herrschaftssignifikanten der Menschenwürde: Menschenw¨urde ÈS1 ê Folterverbot ÈS2 ê þ Gewaltfreie Erziehung ÈS2 ê

Die Theoretisierung der Gesetzesinterpretation im Rahmen der (universellen) metonymisch-metaphorischen Beziehung von Signifikant und Signifikat beleuchtet aber auch, dass Gesetzesinterpretation wegen ihrer Eigenschaft als Sprachfunktion insbesondere aus einer humanistischen Perspektive immer Untiefen birgt. So kann die metonymische Instabilität der Signifikate auch dazu führen, dass es unterhalb der Trennlinie zu unerwünschten Entwicklungen kommt. Denkt man eine hypothetische Entwicklung hin zu einer Ausweitung der Terrorhysterie, ist nicht auszuschließen, dass das Bun93

BVerfGE 24, S. 119 (144 ff.) vom 29. Juli 1968.

116

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

desverfassungsgericht in der Zukunft das Folterverbot zum Zweck der effektiven Terrorbekämpfung aus der gegenwärtigen Beziehung zur Menschenwürde herausnimmt: Menschenw¨urde ÈS1 ê Folterverbot ÈS2 ê þ Gewaltfreie Erziehung ÈS2 ê

Der psychoanalytische Erkenntnisgewinn in Bezug auf die Gesetzesinterpretation besteht hier letztlich darin, dass die Verknüpfung von zwei Begriffen aus einer sprachlich-strukturellen Notwendigkeit heraus instabil ist. Selbst wenn man es wollte, könnte man deswegen wohl keine einmal gefundene Bedeutung eines Rechtssatzes für die Ewigkeit festschreiben. So muss man auch die „Ewigkeitsgarantie“ des Art. 79 Abs. 3 GG als wohlgemeinten, aber letztlich untauglichen Versuch der Fixierung einer Bedeutung betrachten, denn der Umstand, dass die Menschenwürde nicht aus der Verfassung gestrichen werden kann, garantiert nur das Fortbestehen eines Herrschaftssignifikanten, der aus seiner inhärenten Sprachlogik heraus leer ist. Dies ist jedenfalls die Essenz des eben zitierten Satzes von Nietzsche: Die Wahrheit – und damit auch die Wahrheit des Rechts – ist ein bewegliches Heer von Metaphern und Metonymien. Dabei geht es ihm sicher nicht darum, einen allgemeinen Relativismus zu propagieren, sondern die sprachlichen Grenzen aufzuzeigen, an denen auch die Bedeutung oder Auslegung des Rechtssatzes halt machen muss. Ein praktisches Beispiel für die Instabilität der Beziehung von Signifikant und Signifikat selbst im Rahmen der Verfassung und der Menschenrechte ist der Fall des ehemaligen Frankfurter Vize-Polizeipräsidenten Wolfgang Daschner, der in einem juristischen Drahtseilakt und einem „Bauernopfer“ endete. Daschner hatte angeordnet, einem inhaftierten Kindesentführer Folter anzudrohen, um diesen zur Preisgabe des Verstecks zu bewegen, damit das Kind gerettet werden könnte. Dies half nichts, da das Kind zum Zeitpunkt der Folterdrohung bereits tot war. Das darauf eingeleitete Verfahren hatte zwar nachteilige Folgen für Daschners Karriere, blieb aber in seiner konkreten Ausgestaltung recht weit hinter den gesetzlichen Sanktionsmöglichkeiten zurück. Obwohl die Rechtswidrigkeit von Daschners Vorgehen vielerseits unterstrichen wurde, sah man die (relativ milde) Bestrafung weitgehend als notwendiges Übel an. Man kann wohl davon ausgehen, dass der eigentliche Grund für die Bestrafung Daschners für viele nicht darin lag, dass man ihm tatsächlich ein normatives Fehlverhalten vorwarf, sondern dass es wesentlich darum ging, den Glauben an die Stabilität der Beziehung zwischen der signifikanten Verknüpfung von Staat, Menschenwürde und Folterverbot als Essenz des großen Anderen des Rechts und damit das soziale Band aufrecht erhalten zu können.

B. Das Gesetz in der Strukturierung der subjektiven Erfahrung

117

Der Fall zeigt, dass die Menschenwürde als Herrschaftssignifikanten auf der Position des (S1) und das Folterverbot auf (S2) in ihrer metaphorischen Beziehung bedroht sind und die metonymische Seite des Folterverbots zu einer Neuinterpretation der Menschenwürde führen kann. Durch die Integration von Begriffen wie „öffentliche Sicherheit“ oder das „Leben Dritter“ in die Bedeutungskette unterhalb der Linie als (S2), wurde ein Diskurs geführt, der geeignet war, die als unverbrüchlich gedachte Beziehung zwischen (S1) und dem ursprünglichen (S2) aufzulösen. Dass diese Auflösung im vorliegenden Fall nur auf diskursiver Ebene stattfand und nicht bis in das Gerichtsurteil oder sogar in eine Gesetzesreform hineingetragen wurde, kann in Anbetracht der Intensität, mit der die Debatte geführt wurde, vielleicht schon als Glücksfall betrachtet werden. So passt das Daschner-Urteil nach Auffassung der Internationalen Liga für Menschenrechte in eine Zeit, in der im Zuge eines verschärften „Antiterror“-Kampfes ein kräftiges Abrücken vom absoluten Folterverbot der internationalen Menschenrechtskonventionen zu verzeichnen ist. Kritische Stimmen gehen davon aus, dass das Urteil die fatale Debatte um die Zulässigkeit von Foltermaßnahmen nicht verstummen lassen wird. 4. Die Alterität des Symbolischen und der große Andere des Rechts (A) Wer ist Lacans grand Autre? Der Begriff enthält eine von Lacan beabsichtigte Mehrdeutigkeit. Der Andere bezeichnet sowohl ein „anderes Subjekt“ in seiner Alterität und unassimilierbaren Individualität als auch die symbolische Ordnung insgesamt, welche die Beziehung zu dem anderen Subjekt vermittelt. Das Verhältnis zum Anderen bestimmt die Erfahrung des Symbolischen, er ist in die symbolische Ordnung eingeschrieben und nimmt dort die Funktion eines Signifikanten ein, der dem Subjekt Bedeutung vermittelt. Als Teil dieser Ordnung steht er auch für die Erfahrung des Gesetzes und der Gesamtheit der Rechtszeichen allgemein, so dass sich im Rahmen der psychoanalytischen Untersuchung des Rechtssubjekts auch vom „Anderen des Rechts“ oder dem „legalen Anderen“ sprechen lässt. Der Andere bezeichnet auf der Ebene des Juristischen vor allem zwei Dinge: Erstens kann er für das „andere Subjekt“ stehen, zu dem eine irgendwie geartete rechtliche Beziehung besteht, wie z. B. ein Vertragspartner, die andere Partei eines Rechtsstreits, aber auch die Repräsentanten der drei staatlichen Gewalten. Zweitens kann man über die Struktur des Anderen die Erfahrung der Rechtsordnung insgesamt beschreiben. Entscheidend ist, dass sich in der Erfahrung des Anderen eine radikale Alterität widerspiegelt, welche nicht durch Identifikation assimiliert werden kann. Lacan setzt diese Alterität mit Sprache und Gesetz gleich, so dass der Andere mit der symbolischen

118

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

Ordnung insofern identisch ist, als das Symbolische eine individuell-partikuläre Erfahrung des Subjekts darstellt, in der sich auch die subjektive Beziehung zum Recht als kontinuierliche Erfahrung einer Andersheit darstellt. Das Konzept des Anderen geht auf Freuds frühe Formulierung des „uneinholbaren Nebenmenschen“ zurück. Sein möglicher Entzug, seine Oszillation zwischen Anwesenheit und Abwesenheit ist jener Verlust, der auf die Wiederholung einer als verloren geglaubten Wahrnehmung des Befriedigungserlebnisses zielt: „Nehmen wir an, das Objekt, welches die Wahrnehmung liefert, sei dem Subjekt ähnlich, ein Nebenmensch. Das theoretische Interesse erklärt sich dann auch dadurch, dass ein solches Objekt gleichzeitig das erste Befriedigungsobjekt, im ferneren das erste feindliche Objekt ist, wie die einzig helfende Macht. [. . .] Die Sekundärfunktion der Verständigung und die anfängliche Hilflosigkeit des Menschen ist die Urquelle aller moralischen Motive.“94

In der Chronologie des Subjekts ist es deswegen zuerst die Mutter, die für das Kind die Position des Anderen besetzt, denn sie versorgt das Kind mit den Objekten, die das Befriedigungserlebnis hervorrufen. Ihre Funktion in der Strukturierung des Subjekts liegt demnach primär im Symbolischen. Die Objekte, die sie dem infantilen Subjekt gibt, werden von diesem mit dem Symbolwert von Geschenken als Zeichen ihrer Liebe besetzt und lassen die tatsächliche Funktion dieser Objekte, zumindest solange sie in ihrer tatsächlichen Wirkung das Liebesversprechen stützen, vollständig in den Hintergrund treten. Letztlich ist es die Anwesenheit der Mutter, welche als Symbol der Liebe erfahren wird, ohne dass ein Objekt hinzugefügt werden muss. Die phantasmatische Vorstellung von und Beziehung zu dem großen Anderen ist für die Entstehung des ödipalen Begehrens als Prozess von Imaginierung und Symbolisierung entscheidend. Das ursprüngliche Begehren des Subjekts ist auf ein inneres Bild von der pränatalen Einheit (der Mutterimago) gerichtet und wird in der symbolischen Textur des Diskurses zu einem unbewussten Verlangen nach Liebe, und zwar in Form der Anerkennung der eigenen Identität durch den Anderen.95 Der Andere funktioniert als imaginäre Repräsentation und Symbol einer Vollständigkeit, die dem Mangel entgegengesetzt ist. Das Begehren, aus dem sich alle Wünsche des Subjekts ableiten, lässt sich damit im Kern als das Begehren des Anderen beschreiben.96 94 Freud, Entwurf einer Psychologie, in: Aus den Anfängen der Psychoanalyse, 1887–1902, S. 336 und 325 (Hervorhebungen im Original). 95 Lacan, The Seminar XI: The Four Fundamental Concepts of Psychoanalysis, S. 38; The Subversion of the Subject and the Dialectic of Desire in the Freudian Unconscious, in: Écrits, A Selection, S. 300.

B. Das Gesetz in der Strukturierung der subjektiven Erfahrung

119

Die Bedeutung als „anderes Subjekt“ ist gegenüber der Bedeutung als die symbolische Ordnung nachrangig: Der Andere muss vor allem als der Ort betrachtet werden, von dem sowohl das Gesetz, die Sprache als auch der Sprechakt herrühren. Die Repräsentation des anderen Subjekts, welches sich ursprünglich in Form des gebenden, entziehenden und versagenden Elternteils manifestiert, wird zur nachrangigen Funktion; sie ist aber insofern von Bedeutung, als das andere Subjekt den Anderen für das Subjekt verkörpert.97 Das Subjekt tritt aufgrund der Vermutung in den Diskurs ein, dass es durch das Wissen des Anderen in seinem Sein bestätigt oder garantiert wird. Indem Lacan argumentiert, dass die Sprache ihren Ursprung nicht im Ich, nicht einmal im Subjekt, sondern im Anderen hat, unterstreicht er, dass Sprache und Sprechakt jenseits der bewussten Kontrolle liegen. Sie kommen von einem anderen Ort außerhalb des Bewusstseins, weshalb Lacan das Unbewusste als den „Diskurs des Anderen“ beschreibt und damit auf das Jenseits deutet, in dem die Anerkennung des Begehrens sich mit dem Begehren nach Anerkennung verbindet.98 Schroeder weist in diesem Zusammenhang auf eine Verbindung zu Hegels Rechtsphilosophie und insbesondere seine These hin, dass rechtliche Subjektivität nur durch die Anerkennung anderer Subjekte erreicht werden kann. Jeder begehrt leidenschaftlich den anderen, um von ihm begehrt zu werden. Zu diesem Zweck besteht das Rechtssubjekt auf seinem Eigentum, der Einhaltung seiner Verträge oder streitet vor Gericht, denn hierin liegt das vielleicht effektivste Mittel, diese Anerkennung durch den großen Anderen des Rechts zu erreichen.99 Die institutionelle Rechtsordnung stellt über ein System von Anspruchsgrundlagen, die Garantie von Eigentum oder prozessualen Rechtsbehelfen Mittel bereit, dem Subjekt innerhalb seiner partikulären Erfahrung des Anderen diese Anerkennung zu vermitteln und organisiert damit die Ökonomie seines Begehrens. Wenn man Sprache, Recht, Gesellschaft und auch Sexualität im Reich des Anderen erkennt, fragt sich, wie mit Lacans berüchtigter Aussage, dass der Andere „nicht existiert“, umzugehen ist. Man sollte hieraus sicherlich nicht schließen, dass Lacan das Rechtssystem, die Sprache oder Gesellschaft an sich als bloßes Phantasma begreift. Phantasmatisch ist nichtsdestotrotz die Beziehung des Subjekts hierzu, so dass der Andere als „Hüter“ der symbolischen Ordnung zwar – außerhalb des subjektiven Phantasmas – 96

Lacan, Das Seminar XI: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 122. Lacan, Le Séminaire VIII: Le Transfert, S. 202. 98 Lacan, Das Drängen des Buchstabens im Unbewussten, in: Schriften II, S. 51. 99 Schroeder, The Four Discourses of Law: A Lacanian Analysis of Legal Practice and Scholarship, in: 79 Texas Law Review, S. 15 (74). 97

120

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

nicht existiert, aber doch einen „Körper“ (die Sprache, das Gesetz etc.) besitzt.100 Miller vergleicht den großen Anderen deswegen mit einer leeren Bombendrohung: Während „die Bombe nicht existierte, hatten wir den Beweis, dass sie – ohne zu existieren – Wirkungen entfalten konnte.“101

Die „Inexistenz“ des Anderen meint, dass es sich nicht um eine vorgegebene Struktur, sondern um eine höchst persönliche phantasmatische Beziehung zu den Objekten und ihrer symbolischen Erscheinung handelt. Die Psychoanalyse sieht in der Rechtsordnung damit in erster Linie ein phantasmatisch strukturiertes System subjektiver Erfahrung, welches sich auf die äußeren oder manifesten Entitäten des Rechts, wie den Gerichtssaal oder das geschriebene Gesetz, beziehen. Entscheidend für diese Beziehung ist, dass der große Andere, obwohl er eine Schöpfung des Subjekts ist, als aufgezwungen erfahren wird und damit „wirkt“. Hierin spiegelt sich deutlich die Erfahrung der Rechtsordnung, zu der das Subjekt eine höchst partikuläre Beziehung unterhält, so dass die Gesetze – obwohl vom Subjekt nicht geschaffen – weniger etwas Objektives, etwa im Sinne einer „harten Tatsache“ darstellen, sondern vielmehr erst als Teil einer phantasmatischen Beziehung zum Konstrukt des Anderen in die Erfahrung des Subjekts eintreten. Dieses Gefühl des „Aufgezwungenseins“ ist insbesondere für die negativen Erfahrungen mit dem Gesetz bezeichnend. 5. Der Signifikant des Mangels im Anderen S (A) und das Unbehagen in der Rechtsordnung S (§) Der große Andere wird vom Subjekt als mangelhaft erfahren. Dies geschieht in dem Moment, in welchem der Signifikant dieses Mangels S (A) auftaucht. Das Subjekt erkennt dann, dass das Spannungsverhältnis zwischen Sein und Mangel im großen Anderen angelegt ist. Hierin setzt sich = ) auf der Ebene der Erfahrung von Alterität die Spaltung des Subjekts (S fort. Innerhalb der Sprache manifestiert sich diese in der gespaltenen Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat. S (A) steht damit für die sich kontinuierlich verändernde, offene Natur der symbolischen Ordnung in Bezug auf die Produktion von Bedeutung, die an einem bestimmten Punkt immer wieder zu entgleiten scheint.102 100

Lacan, Le Séminaire XVII: L’Envers de la Psychanalyse, S. 74: „Was hat einen Körper, ohne zu existieren? – Antwort: der große Andere.“ 101 Miller, Extimité, in: Bracher/Alcorn/Corthell/Massardier-Kenney, Lacanian Theory of Discourse: Subject, Structure and Society, S. 81. 102 Schroeder, The Four Discourses of Law: A Lacanian Analysis of Legal Practise and Scholarship, in: 79 Texas Law Review, S. 34.

C. Das Recht als Funktion in der Topologie des Subjekts

121

Innerhalb der Rechtsordnung tritt S (A) beispielsweise dann auf, wenn das Rechtssubjekt Inkonsistenzen in der Definition von Rechtsbegriffen erkennt, was eine Reihe von Ursachen haben kann. Da es sich um eine subjektive Erfahrung handelt, geschieht dies schon dann, wenn ein Rechtsstreit nicht mit dem gewünschten Ergebnis endet. Besonders deutlich tritt der Mangel im großen Anderen des Rechts in der – trotz der ausgeprägten historischen, philosophischen und rechtlichen Fundierungen – nie enden wollenden Diskussion um einen positiven Gehalt von Menschenrechten als den fundamentalsten Rechtsätzen auf, aber letztlich auch in jeder anderen legislativen Reformdebatte. Selbst wenn im Hinblick auf die Menschenrechte zumindest auf einer breiten Ebene Einigkeit zu bestehen scheint, treten – in sog. Extremsituationen – immer wieder Forderungen nach einer Präzisierung, d.h. meistens: nach einem Regel-Ausnahmeverhältnis auf, wodurch letztlich aber der Kern der Menschenrechte angegriffen oder aufgeweicht wird. Unabhängig von der individuellen Triebfeder der Diskussionsteilnehmer (Angst vor Terrorismus etc.) findet die Diskussion, welche zumindest im Lichte der gegenwärtigen Verfassung eigentlich nicht stattfinden dürfte, wie der Fall Daschner gezeigt hat, doch statt. Der Grund liegt mit Lacan in der faktischen Unmöglichkeit, die Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat dauerhaft zu fixieren. Dieses Phänomen, das man aus psychoanalytischer Perspektive als universelle Beschreibung der Funktion von Sprache ansehen muss, wird aus rechtstheoretischer Sicht zum zentralen Problem: Kein ethischer Wert kann dauerhaft in das Rechtssystem eingeschrieben werden, weil die vom pluralisierten Begehren der Diskursteilnehmer durchsetze Sprache gegenüber solchen Fixierungen – aufgrund der metaphorisch-metonymischen Beziehung von Signifikant und Signifikat – resistent ist. Sollte dies geschehen, werden die Rechtsinstitutionen herausgefordert sein, Wege zu finden, den erschütterten Glauben an das Gesetz des Anderen zu stärken, d.h. seinen Mangel zu verdecken. Gängige Argumentationsmuster verlaufen hier über Begriffe wie „Wertewandel“ oder „Gesetzeslücke“.

C. Das Recht als Funktion in der Topologie des Subjekts Die subjektive Erfahrung des Rechts auf der Ebene des Unbewussten wird in der Terminologie Lacans zu einer „Funktion in der Topologie des Subjekts“. Ziel der folgenden Einbeziehung von Lacans topologischen Ansätzen ist es, zu einer Strukturierung der subjektiven Erfahrung des Rechts zu gelangen, und zwar in Bezug auf die möglichen Positionen, welche das Subjekt gegenüber dem Gesetz und im Rechtsdiskurs einnehmen kann. Gleichzeitig sind die topologischen Beziehungen hilfreich für das Verständnis der sich anschließenden Diskursanalyse.

122

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

Lacan hatte schon in den 1950er und 1960er Jahren mehrere topologische Konzepte, wie z. B. das unten ausführlich behandelte Möbiusband, entworfen.103 Während er sich zunächst mit der Topologie von Oberflächen beschäftige, kam er in den 1970er Jahren zu einer Topologie der Knoten, was insbesondere zur Entwicklung des borromeanischen Knotens und des Sinthômes führte. Diese Entwicklung topologischer Formen und ihrer Funktionsweise ist untrennbar mit Lacans Theorie über das System der jouissance als das System der „libidinösen Bedeutung“ verknüpft, welche Sprache in den Kontext von Begehren, Phantasma und Trieben setzt. „Topologie“ ist bei Lacan nicht einfach als eine metaphorische Beschreibung psychischer Strukturen zu verstehen. Es geht ihm vielmehr um die unmittelbare und präzise Beschreibung der Entstehung und Erscheinung des Subjekts.104 Die hierzu verwendeten räumlichen Darstellungen sollen die Verstrickungen beschreiben, welche durch (augenscheinlich widersprüchliche) Funktionsweisen in der Psyche bedingt werden. Die Beziehung des Subjekts zum Diskurs ist ein Beispiel hierfür. Ein zentraler Aspekt in dieser Topologie ist der strukturale Zusammenhang zwischen dem Symbolischen, Imaginären und Realen. Hierzu schlägt Lacan folgendes Schema vor:105 Imaginär Signifikant des Mangels im großen Anderen

Symbolisch

Φ

S (A)

le sinthome

Jouissance

objet a

Real

Die symbolische Ordnung erschöpft sich nicht in Sprache, sondern bezieht sich konstant auf die imaginäre und auf die reale Dimension, welche auch die Beziehung des Subjekts zum dem jeweils bestehenden Rechtssystem steuern. Auch das Rechtssystem ist auf der Ebene der psychischen Erfahrung des Subjekts nicht einfach Teil des Anderen, sondern es enthält z. B. metaphysische Rechtsvorstellungen als Indikator des Imaginären und auch reale Komponenten, die z. B. in der Erfahrung von Konflikten oder in dem Erlebnis von Subordinationsverhältnissen ihre Wirkung im Psychismus entfalten. 103

Vgl. Kapitel 3 E. I. 3. (Die Verknüpfung und Bewegung der Diskurse auf dem Möbiusband). 104 Ragland/Milovanovic, Lacan: Topologically Speaking, S. xx (Introduction). 105 Lacan, Le Séminare XX: Encore, S. 24.

C. Das Recht als Funktion in der Topologie des Subjekts

123

Da diese Erfahrungen in der Regel nicht isolierbar sind, wird jeder Begriff durch seine (topologische) Beziehung zu den anderen Begriffen definiert. I. Die Symbolisierung des Imaginären als Kohärenzerfahrung Der Signifikant des mangelhaften Anderen ist auf der Pfeillinie zwischen dem Imaginären und dem Symbolischen angesetzt, deren Beziehung im Sinne einer Symbolisierung des Imaginären zu verstehen ist. Damit ist gleichzeitig die Entstehungsformel der symbolischen Ordnung bezeichnet. In dem Prozess der Symbolisierung des Imaginären dominiert der Signifikant des mangelhaften Anderen [S (A)], d.h. hier befindet sich das symbolische Objekt, das, soweit es nicht auf die imaginäre Spiegelbeziehung reduziert werden kann, die Unmöglichkeit der Erfüllung des Begehrens nach Rückkehr zur Einheit darstellt, um die herum die symbolische Ordnung strukturiert ist.106 Diese „Impotenz“ des Anderen wird mit (A) dargestellt. Sie hat auf der Ebene der subjektiven Beziehung zum Rechtssystem zur Folge, dass es keiner Rechtsordnung gelingen kann, den ihr unterworfenen Rechtssubjekten ein vollständiges Kohärenzerlebnis zu vermitteln. Es verbleibt immer ein Gefühl des Mangels im Anderen des Rechts, welches jede Gesellschaft auf der Ebene des Legislativen antreibt, ihr Recht fortwährend zu erneuern (Gesetzesnovelle) und auf der Ebene der Judikative umzudeuten (Rechtsprechungswandel). Da ein Rechtssystem trotz seiner stetigen Erneuerung nur funktionieren kann, wenn es gleichzeitig Rechtskontinuität und Rechtssicherheit vermittelt, ist ein Zeichen erforderlich. Dieses Zeichen einer Rechtstradition muss gegenwärtig sein, institutionell vermittelt werden und auf der Ebene des Unbewussten den Glauben an die Richtigkeit des Rechts fundieren. Lacan nennt dieses Zeichen der Kohärenz den „Signifikanten des (vollständigen) Anderen“ und benutzt hierzu das Mathem des nicht-ausgestrichenen „S“ (S). Dieser Signifikant hat die Funktion, als Träger der Bedeutung und damit auch als „Garant des Guten Glaubens“ aufzutreten.107 Der Signifikant des Anderen des Rechts tritt in der subjektiven Erfahrung als Einheit des materiellen Rechts mit der individuellen Beziehung des Subjekts zu seinem (persönlichen) Signifikanten des Rechts auf. Die subjektive Erfahrung dieses Signifikanten kann z. B. als „Gerechtigkeitssinn“ oder „moralische Überzeugung“ bezeichnet werden. Hierbei handelt es sich dem Wesen nach 106 Žižek, Alfred Hitchcock oder Die Form und ihre geschichtliche Vermittlung, in: Žižek/Dolar/Zupancˇicˇ /Pelko/Božicˇ /Salecl, Was Sie schon immer über Lacan wissen wollten und Hitchcock nie zu fragen wagten, S. 21. 107 Lacan, Das Drängen des Buchstabens im Unbewussten oder die Vernunft seit Freud, in: Schriften II, S. 52; Das Seminar XI: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, S. 197.

124

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

um ein äußerst fragiles Konstrukt, welches leicht in sich zusammen brechen kann und dann zu einschneidenden Prozessen im Rechtsgefühl des Subjekts führt: Rührt man „nur leicht an der Verbindung, die der Mensch zu seinem Signifikanten unterhält, ändert man den Lauf seiner Geschichte, modifiziert man die Vertäuung seines Seins.“108

So kann man sagen, dass die verschiedenen Auslegungsvarianten von Rechtsbegriffen auf den spezifischen Beziehungen der Subjekte zu dem (oder den) Signifikanten des Rechts basieren. Dabei hat das Subjekt die Möglichkeit, sich entweder auf den Mangel im Anderen oder auf die in Form von Bedeutung vermittelte Kohärenz des Signifikanten zu beziehen, welche allerdings nur den Mangel verdeckt. Der Signifikant ist Teil der symbolischen Ordnung. Sowohl Moral als auch das positive Recht stellen sich damit als Spiegelung des unerfüllten Begehrens dar, das konsequent als die ursprüngliche Rechtsquelle ausgemacht werden kann. Die Frage, warum das Rechtssubjekt durch die Geschichte hindurch mit seiner Moral und seinem Recht hadert, kann so als Folge der „Unfähigkeit“ des Anderen beantwortet werden, das imaginäre Rechtsideal zu erfüllen. Geistesgeschichtlich markiert die Anerkenntnis des Begehrens als Quelle aller moralischen Beweggründe gleichzeitig den Endpunkt und das Scheitern der „naturalistischen Befreiung“ des Begehrens. Es ist nicht gelungen, das schon in der Antike ausdifferenzierte, auf das Gemeinwohl bezogene moralische Gesetz aus seinem imperativen und konfliktgeladenen Charakter zu lösen. So konstatiert Lacan, dass die moralische Erfahrung wesentlich pathologisch geblieben ist.109 Von dem klassisch-aristotelischen Standpunkt, dass das Recht die Funktion habe, das Begehren zu beschränken,110 wäre der Signifikant grundsätzlich als „rechtssystemextern“ einzustufen, da er sich aus dem Begehren ableitet bzw. ein Produkt desselben ist. Im Lichte der im Wesen wohl weitestgehend anti-idealistischen Psychoanalyse, die den Signifikanten als Bedingung des Rechts beschreibt, muss deshalb die Möglichkeit einer Positionierung des Rechts außerhalb des Begehrens, wie es die Formel vom Recht als einer „Weisheit ohne Begehren“ impliziert, kategorisch verneint werden. „Weisheit“ als Möglichkeit, legale Konfliktlösung von dem individuell-partikulären – ödipalen – Begehren befreit betreiben zu können, ist ein (vielleicht notwendiges) phantasmatisches Konstrukt und damit im Imaginären anzusiedeln. Aus psychoanalytischer Perspektive ist „Weisheit“ als Logos des Rechts das Produkt einer „Umformung der Energie des Begeh108

Lacan, Das Drängen des Buchstabens im Unbewussten oder die Vernunft seit Freud, in: Schriften II, S. 53. 109 Lacan, Das Seminar VII: Die Ethik der Psychoanalyse, S. 10. 110 Dieser Lesart von Aristoteles folgt Goodrich, Oedipus lex, S. X (Preface).

C. Das Recht als Funktion in der Topologie des Subjekts

125

rens“, welche – wie Lacan betont – „die Genese der Unterdrückung derselben erlaubt“. Dieser Mechanismus ist für die Entstehung eines Rechtssystems fundamental, denn er setzt die „höhere Komplexität“ in Gang, „der die Kultur ihre Ausbreitung verdankt“.111 Äußerlich lässt sich der materielle Rechtsbegriff in seiner Zielsetzung als imperative Neutralisierung von zwei widerstrebenden Konfliktpunkten in einem sozialen System beschreiben, dessen spezifische Terminologie er sich zueigen macht und regelmäßig durch neue Begrifflichkeiten fortentwickelt. Seinen eigentlichen Kern, der die Richtung zugunsten des einen (und damit zulasten des anderen) Konfliktpunktes bestimmt, kann er allerdings nicht aus einer dem Regelungsgegenstand originär-inhärenten Systemlogik schöpfen. Die materielle Entscheidung ergibt sich vielmehr ausschließlich aus der im Unbewussten verankerten Beziehung zu dem Signifikanten, weil eine andere (externe) Quelle der Bedeutung nie mehr als das Imaginäre sein kann. Deswegen führt die psychoanalytische Rechtstheorie zu der Erkenntnis, dass es eine Systemlogik, die die Funktion eines Apriori ausfüllen könnte, außerhalb des in der symbolischen Ordnung verschlüsselten Begehrens nicht gibt. Hierin liegt der Grund dafür, dass im Mittelpunkt des Lacanschen Triangels die jouissance steht. Als Fixpunkt des Begehrens bildet sie das energetische Zentrum des psychischen Apparates. Jouissance ist dem Mangel entgegengesetzt, welcher aus dem ursprünglichen Verlust der Einheit im Mutterleib resultiert und ist deswegen Auslöser der Wunschphantasie, diese verlorene Einheit wiederherzustellen: „Das Streben des Subjekts nach Wiederherstellung der verlorenen Einheit seiner selbst nimmt von Anbeginn an die zentrale Stellung im Bewusstsein ein. Es ist die Energiequelle seines mentalen Fortschritts.“112

II. Das Reale im Symbolischen: Objet petit’a (II) In der topologischen Beziehung zwischen dem Symbolischen und dem Realen taucht wiederum das objet petit’a auf.113 Hier soll es nur kurz erwähnt werden, um die strukturellen Beziehungen innerhalb des Triangels vollständig zu beschreiben: Objet petit’a liegt zwischen dem Realen und dem Symbolischen, weil das Subjekt versucht, dem realen Trauma Sinn durch Symbolisierung zuzuweisen. Es handelt sich um ein Loch im Zentrum der symbolischen Ordnung, um den reinen Schein des Mysteriösen, 111

Lacan, Das Seminar VII: Die Ethik der Psychoanalyse, S. 12. Lacan, Die Familie, in: Schriften III, S. 59. 113 Vgl. Kapitel 3 A. III. (Der Objektbezug des Begehrens und des Triebes: Objet petit’a). Eine tiefergehende Analyse der Funktion des objet petit’a in Bezug auf juristische Phänomene folgt in Kapitel 3 D. II. und III. 112

126

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

ein zu interpretierendes Geheimnis, das ausschließlich die Funktion hat, die symbolische Bewegung der Interpretation in Gang zu setzen.114 III. Die imaginäre Vergegenständlichung des Realen (F) und die Symbole des Staates Das Phi (F) auf der Linie zwischen dem Realen und dem Imaginären steht für die teilnahmslosen, imaginären (oder imaginär besetzten) Vergegenständlichungen des Realen. Konkret handelt es sich dabei um Bilder, die das unmögliche Genießen (jouissance) verkörpern. Žižek beschreibt diese z. B. auch als „gigantische Statuen, die das mütterliche Über-Ich materialisieren und so das Bild trüben, es nicht-transparent“ machen.115 Diese Verbildlichungen können auch mit den Symbolen des Rechts oder Staates in Zusammenhang gebracht werden. Während diese Zeichen in liberalen Demokratien weitaus weniger gebräuchlich sind als in den von Personenkult geprägten totalitären Systemen, dienen sie dazu, das Scheitern der ideologischen Dialektik in Bezug auf das Begehren (das Reale fungiert hier als Störfaktor gegenüber dem Kohärenz beanspruchenden System) zu kaschieren, indem sie den Blick des Subjekts vollständig absorbieren. Der Blick auf eine Stalin-Statue (oder den Bundesadler) ermöglicht es dem Subjekt, die traumatischen Erfahrungen des Systems (Verurteilung, Arbeitslosigkeit etc.) zu verdrängen. Es geht hier nicht um die Erfahrung einer höheren Gerechtigkeit oder um die Stützung von Glauben, sondern Phi funktioniert – positiv formuliert – als Abwehr gegenüber der Erfahrung des Abgründigen. Wird Phi (F) ideologisch instrumentalisiert, wird aus einer positiven Schutzfunktion im Psychismus (die allerdings die Wiederkehr des Verdrängten nicht verhindern kann) ein manipulativer Mechanismus, der die traumatische Erfahrung letztlich nur aussetzt, aber nicht aufhebt, obwohl er dies zu versprechen scheint. IV. Sexuiertes Wissen und die Position des Subjekts gegenüber dem Anderen des Rechts Die Beziehung des Subjekts zum Anderen des Rechts wird entscheidend von der subjektiven Erfahrung des Wissens bestimmt. „Wissen“ ist in 114 Žižek, Alfred Hitchcock oder Die Form und ihre geschichtliche in: Žižek/Dolar/Zupancˇicˇ /Pelko/Božicˇ /Salecl, Was Sie schon immer wissen wollten und Hitchcock nie zu fragen wagten, S. 21. 115 Žižek, Alfred Hitchcock oder Die Form und ihre geschichtliche in: Žižek/Dolar/Zupancˇicˇ /Pelko/Božicˇ /Salecl, Was Sie schon immer wissen wollten und Hitchcock nie zu fragen wagten, S. 22.

Vermittlung, über Lacan Vermittlung, über Lacan

C. Das Recht als Funktion in der Topologie des Subjekts

127

diesem Zusammenhang nicht als Summe von memorierten Daten aus der symbolischen Ordnung, sondern als psychische Konditionierung zu verstehen, welche eine bestimmte Position in Bezug auf den Anderen ermöglicht. Entscheidend ist hierbei, dass dieses Wissen nach Lacan sexuiert, d.h. auf maskuline oder feminine epistemologische Positionen bezogen ist. Die Bedeutung der Sexuierung für die psychoanalytische Annäherung an das Recht liegt darin, dass diese Theorie das notwendige Instrumentarium für das Verständnis des Problems liefert, warum die vom partikulären Begehren befreite Artikulation des Rechts, wie sie z. B. Kant in der aufwendigen Herleitung der Pflicht und des kategorischen Imperativs oder Kelsen in der Entwicklung eines „reinen Rechts“ versucht, für das Subjekt auf der gefühlten Ebene des Unbewussten unzugänglich bleibt. Der Grund hierfür liegt letztlich darin, dass das Subjekt auf der unbewussten phantasmatischen Ebene in den Schaltkreisen seiner eigenen Interpretation dessen gefangen ist, „was es für den Anderen ist“. Eine progressive Fundierung des Rechts muss in diesem Sinne darauf gerichtet sein, alternative Strukturen des „Seins“ des Subjekts in Bezug auf den Anderen des Rechts zu entwickeln. Hier wird es darauf ankommen, eine Befreiung von der phallischen Funktion, d.h. eine Ablösung des phallischen Signifikanten und des damit verknüpften Phantasmas zu ermöglichen. Ein erster Schritt mag die Dekonstruktion der fortbestehenden Mythisierung des Rechts sein. Der Logos des „reinen Rechts“ hat seine Stellung als feste Systemgröße im Rechtsdiskurs behauptet. In dem Dreiecksgefüge der unbewussten Ordnungen nimmt er die Schnittstellenposition des „symbolisierten Imaginären“ ein. Daraus folgt der möglicherweise paradox erscheinende Schluss, dass die Idee der Gerechtigkeit außerhalb des Begehrens als dem Kern der narzisstischen Idee eines „reinen Rechts“ gerade wegen des Begehrens nicht möglich ist und deshalb imaginiert und aufgrund ihrer Unmöglichkeit symbolisiert wird. Der positivistische Rechtsbegriff adressiert den Anderen als den unbewussten Signifikanten und entwickelt aus ihm heraus den Logos, der nachträglich in das zu regulierende System integriert wird. Die Symbolisierung des Imaginären im Rahmen der symbolischen Ordnung ist für das Recht konstitutiv, weil sie die für die Bedeutung des Rechtszeichens existentielle – weil Sinn stiftende – Beziehung des Subjekts zu seinem Rechtssignifikanten ermöglicht. Hier liegt schließlich auch das allgemeine theoretische Problem der „Vernunft, die nicht über sich selbst Rechenschaft abzulegen vermag“. Die imaginäre Lösung ist das von Habermas vorgeschlagene „pragmatische Apriori der kommunikativen Normativität“, das unweit von Kant das Chaos, das der intersubjektive Austausch zunächst verursacht, unter ein Regulativ zu

128

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

bringen versucht.116 Der prinzipielle Widerstreit der Selbst-Idealisierung des Subjekts und der „psychoanalytischen Selbsterkenntnis“, zugespitzt auf die divergierenden Vorstellungen vom Subjekt als prinzipiell „der göttlichen Inspiration und Vernunft fähig“ einerseits und Freuds berühmt-berüchtigter Beschreibung des unkultivierten, triebhaften Subjekts als „polymorph-pervers“ andererseits,117 wird in der Diskursethik allerdings insoweit aufgefangen, als die Idee der Intersubjektivität als Prozedur der Rechtsfindung den Verdacht des primär narzisstischen, dem Lustprinzip folgenden Antriebs des Individuums in sich trägt und diesen dadurch zu überwinden sucht, dass eben diese vielleicht egozentrische Tendenz – zugunsten einer sozialeren Ausrichtung – durch die regulierte „ideale Sprechsituation“ eingedämmt werden kann. V. Die Partikularität der subjektiven Erfahrung des Gesetzes: Das Sinthôme Lacans Theorie über das Unbewusste basiert grundlegend auf der Dynamik der Sexuierung. Es handelt sich hierbei um psychische Konditionierung, welche in der Sprache operiert. Mit ihr zeigt Lacan, dass „Wissen“ eine Dimension hat, die über das gängige Verständnis dieses Begriffs hinausgeht: Auch Sprache ist danach nicht auf ihr allgemein anerkanntes Feld der Kommunikation beschränkt, wenn man akzeptiert, dass die Antwort des Subjekts auf den phallischen Signifikanten (S1, S2) in seiner Beziehung = ) und Genießen (a) das soziale Band schafft, das Lacan zum Begehren (S als den Diskurs (des Anderen) bezeichnet. Die Strukturierung der drei Ordnungen der Subjektivität in Form des Realen, Symbolischen und Imaginären beschreibt Lacan in seinem Spätwerk als den borromeanischen Knoten oder die borromeanische Einheit und fügt diesem die vierte Ordnung des Sinthôme hinzu, welche diese zu einer Kette von Sinn und Erinnerung verknüpft, und die sich aus unzähligen solcher Verbindungen zusammensetzt.118 Die borromeanische Einheit ist das reale, symbolische und imaginäre Material, welches durch das Sinthôme in Aufrechterhaltung der Antworten, die jede Ordnung auf das ödipale Gesetz gibt, verknüpft wird, und welches das Subjekt als Subjekt des Begehrens, nicht der Vernunft, konstituiert. Der Begriff des Sinthôme stellt eine ältere Schreibweise dessen dar, was heute als „Symptom“ bezeichnet wird. Gemeint ist aber nicht lediglich die 116

Vgl. Žižek, Die gnadenlose Liebe, S. 124. Vgl. Lacan, Das Seminar VII: Die Ethik der Psychoanalyse, S. 11. 118 Lacan, Le sinthome, Séminaire du 18 Novembre 1975, in: Joyce avec Lacan, S. 36, 37–48. 117

C. Das Recht als Funktion in der Topologie des Subjekts

129

Begleiterscheinung einer Erkrankung oder ein Zeichen, das auf eine (psychische oder physische) Verletzung hinweist. In seiner Entwicklung des Sinthôme unterstreicht Lacan vielmehr die Individualität der signifikanten Assoziationen, die von dem Anderen entlehnt werden. Der Knoten ist hier als eine metaphorisch strukturierte Dimension innerhalb der Sprache zu verstehen. Sein metaphorischer Charakter liegt darin, dass die vier Strukturierungen des Begehrens – normativ, neurotisch, pervers und psychotisch – als Signifikate operieren, die sich auf die Konstruktion des Namens-des-Vaters als Signifikanten der Grunderfahrungen beziehen. Diese Signifikanten stellen das „Gesetz“ auf, welches dem Subjekt die Möglichkeit gibt, Kohärenz mittels Glauben oder Ideologie zu erleben, eine Funktion, die Freud dem Über-Ich zuordnet. Der phallische Signifikant ist damit nicht bloß die Grundlage des Rechts bzw. der subjektiven Rechtsbindung; er schafft die Basis für dialektisches Denken insgesamt (und damit z. B. auch für diskriminierende Urteile), dessen Partikularität von dem Sinthôme herrührt. Das Sinthôme hat die metonymische Struktur des verdrängten ödipalen Begehrens des Subjekts.119 Lacan spricht deswegen auch von der „Metonymie des Begehrens“, weil das Bestreben nach Fülle auf ein Partialobjekt übertragen wird, das aber letztlich eine Leerstelle bezeichnet.120 Der Referenzpunkt, auf den das Subjekt – geteilt in die drei Schnittstellen des borromeanischen Knotens, der die Ordnungen des Symbolischen, Imaginären und Realen verknüpft – sein Genießen (jouissance) bezieht, ist folglich der Mangel-im-Sein. Das Subjekt lässt sich damit als die paradoxe Antwort auf den Mangel bezeichnen: S (A). Lacan bezieht den positivierten Phallus auf einen Mangel in der Identifikation, die das sexuierte Subjekt als maskuline oder feminine Position im Wissen konstituiert. Lacans Analyse der Begegnung des Subjekts mit dem Gesetz im Symbolischen erlaubt zudem eine differenzierte Betrachtung des Geschlechterverhältnisses in Bezug auf die Erfahrung des Gesetzes. So lassen sich – aufbauend auf Freuds Analyse des Kastrationskomplexes – spezifisch maskuline und feminine Positionen im Recht ausmachen, auf deren Grundlage eine weitergehende Ausdifferenzierung der Wirkungsweise des Rechts möglich ist. In Lacans Verständnis der Sexuierung nimmt das Gesetz vorrangig die Seite des Maskulinen ein, welche er in den Borromeanischen Überlagerungen an zwei symbolischen Kastrationen oder Schnittpunkten in der subjektiven Erfahrung festmacht: Erstens die positivierte, welche zwischen dem 119 Ragland, Lacan and the Subject of Law: Sexuation and Discourse in the Mapping of Subject Positions That give the Ur-Form of Law, in: 54 Wash./Lee Law Review, S. 1093. 120 Žižek, Parallaxe, S. 61.

130

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten Das Reale

Das Imaginäre

Das Symbolische

Symbolischen und dem symbolresistenten, traumatischen Realen als Erfahrung der Unmöglichkeit des Begehrens stattfindet, und zweitens die negativierte, welche zwischen dem Symbolischen und dem Imaginären (F) – der Symbolisierung des Mangels – stattfindet, dem Ort wo Sinn als Wahrheitsfunktion operiert. Das weibliche Element des Wissens bezieht sich demgegenüber darauf, dass das Symbolische selbst mangelhaft ist. Lacan zeigt dies mit dem ausgestrichenen Anderen (A). Epistemologisch betrifft das Maskuline Differenzierungen und Mechanismen des Symbolischen, während das Feminine sich auf das Begehren, die Maskerade, den Verlust und ein „Jenseits“ im Wissen bezieht, das die Tür zum Realen öffnet. Nichtsdestotrotz stehen Frauen zumindest mit einem Bein auf dem Boden des symbolischen Gesetzes und seiner Bedeutung vermittelnden Differenzierungen, während Männer sich auf der femininen Seite epistemologisch einschreiben können.121 Indem er den Phallus in positivierter Form bezeichnet (F), deutet Lacan an, dass die Wirkung der sexuellen Differenz als Signifikant im Signifikat vier mögliche Strukturen des Begehrens sind. Darauf aufbauend entwickelt er seine Theorie, dass die charakteristischen Unterschiede zwischen dem Maskulinen und dem Femininen strukturbildend auf die Epistemologie wirken. Die Unterscheidungen sind die Folge der spezifischen Art und Weise, wie jedes Subjekt innerhalb der Sexuierung als einer Beziehung zum Gesetz der Differenz, sein „Sein“ bezeichnet. Die hierzu entworfene Logik der Sexuierung verknüpft die biologische Geschlechterdifferenz mit maskulinen oder femininen psychischen Positionen. Die weitgehend anerkannte These, dass die sexuelle Identität nicht notwendig auf das biologische Geschlecht bezogen ist, ist ein Zeichen dafür, dass es keine inhärente Beziehung zwischen Geschlecht und sexueller Identität gibt. Jedes Subjekt – das nicht psychotisch ist – identifiziert sich jedoch unbewusst entweder als maskulin oder feminin. Hierzu muss das Sub121 Lacan, A Love Letter, in: Mitchell/Rose, Feminine Sexuality: Jacques Lacan and the École Freudienne, S. 150.

C. Das Recht als Funktion in der Topologie des Subjekts

131

jekt zwischen einer der beiden Strukturen des Wissens wählen, die auf der maskulinen Seite „alles“, und auf der femininen Seite „nicht alles“ im Gesetz des Symbolischen erkennt. Die maskuline oder feminine Position im Wissen hat keinen biologischen oder anatomischen Grund. Vielmehr erfährt das Kind die Begegnung mit dem Sozialen als Trauma, in dem es zwischen maskulinen oder femininen Identifikationen wählen muss, um zu einer sozialen Identität zu gelangen. Diese Anforderung führt zu einem Bruch mit der Illusion der Einheit aus dem Spiegelstadium. Das Symbolische und das Reale der Sexuierung leitet sich aus den Schnittstellen von Wörtern oder Klängen in Bezug auf den phallischen Signifikanten ab. Das Subjekt identifiziert sich mit dem phallischen Signifikanten sowohl in Form eines Realitätsprinzips (F) als auch aus dem Begehren, welches die Phantasmen innerhalb diskursiver Sprache versteckt, deren Bezugspunkt die Identifikation mit der Objekt-Ursache des Begehrens (objet petit’a) ist, sowie schließlich aus der Erfahrung der Fehlstelle im Anderen her S (A). Sowohl die feminine als auch die maskuline Epistemologie gründet sich auf die Abwesenheit der „Frau-an-sich“, die innerhalb der Wissensdimension als reine Kastration erfahren wird (S2). Nach Lacans Freudinterpretation führt jede Konstruktion sexueller Differenz zu einem Mangel-imSein, der aus der Verdrängung, Leugnung, Aufkündigung oder Verwerfung eben dieser Differenz resultiert. Eine normative Lösung der traumatischen Begegnung mit der sexuellen Differenz verdrängt sie zunächst, um sie später zu maskieren. Die neurotische Antwort liegt in der Leugnung, der Perverse erkennt sie als Faktum an, verwirft sie aber, wohingegen die psychotische Antwort, wie im Fall Schrebers, in einer Aufkündigung der Differenz liegt. Lacans Theorie der Sexuierung stellt die logischen Schlussfolgerungen des Verständnisses des Wissens als sexuiert dar und gibt so eine Begründung dafür, warum das Wissen doppelzüngig, instabil und nicht fixierbar ist.122 Nach Lacan ist Identität nur als sexuiert begreifbar. Die Psychose ist kein Teil seines Diagramms, weil sie die Differenz der Sexuierung auslässt. Allerdings dienen die Psychosen als empirischer Referent: Die Psychose ist die Ausnahme, welche die Regel bestätigt. Der Grund für das Phänomen der „Doppelzüngigkeit der Sprache“ liegt darin, dass die Erfahrungen der Trennung und Entfremdung das Subjekt in seinem Sein konstituieren. Die Trennung bezieht sich auf die paradoxe Dialektik des Verlustes der mütterlichen Ur-Objekte, welche das Begehren aktivieren, und des Zurückgewinnens der Spuren der verlorenen Objekte, welche in einer subjektiven UrVerkleidung des Realen mit Objekten, die anfänglich von dem Anderen introjiziert wurden, zusammenlaufen. Diese dialektische Bewegung begründet 122

Lacan, Le Séminare XX: Encore, S. 24.

132

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

den ersten Schnitt – die erste Kastration. Diese beinhaltet den Verlust der ersten Objekt-Ursachen des Begehrens, deren ursprüngliche Form phantasmatische Beschreibungen der Körperteile/Objekte der Brust, der Stimme, des Blickes und der Exkremente sowie des imaginären Phallus und des Nichts sind.123 Die ursprünglichen Objekte dienen von nun an als Referent des Begehrens in dem Trachten, den Mangel-im-Sein, der durch den Verlust eben dieser Objekte entstanden war, zu beruhigen. Diese anfängliche Erfahrung der Welt überdeterminiert jeden nachfolgenden Prozess der Bedeutungsschaffung auf einer Achse eines Bestrebens, den Verlust zu ersticken. Der zweite Schnitt, welcher das Zeichen setzt, bringt zugleich die doppelbödige Struktur hervor, in der das Symbol eine Seins-Funktion einnimmt. Dieser Schnitt positioniert das Ding – von sich selbst entfremdet – in die sekundäre, abgeleitete Ordnung, in der es als Zeichen und damit nicht mehr als das ursprüngliche Ding, sondern als Repräsentation von etwas anderem funktioniert. In Lacans Logik der Symbolisierung tritt die Erfahrung der Entfremdung, welche die Identifikation mit den Bildern und der Sprache der Gesellschaft einschließt, zur gleichen Zeit wie die Trennung auf und macht die Verschiebung und das Doppelspiel zu Attributen der Sprache selbst. Trennung und Entfremdung als die beiden ursprünglichen Erfahrungen in der Entwicklung des Subjekts setzen die psychischen Abwehrmechanismen der Verdrängung und Verwerfung in den Mittelpunkt der Sprache. 1. Die Logik der Wahrheit und die sexuierten Positionen zum Anderen des Rechts Im Folgenden wird Lacans Diagramm der Sexuierung im Hinblick auf seine Implikationen für die geschlechterspezifischen Besonderheiten in der legalen Erfahrung untersucht. ∃x ∀x

Φx Φx S

∃x ∀x

Φx Φx

S (A) a

La

Φ

123 Lacan, Version of the Subject and the Dialectic of Desire in the Freudian Unconscious, in: Écrits: A Selection (Sheridan), S. 292, 315.

C. Das Recht als Funktion in der Topologie des Subjekts

133

Die erste Formel oben links in dem Diagramm (9 x  F x) ist wie folgt zu lesen: Es gibt ein x, für das die phallische Funktion nicht gilt, oder: – es gibt einen nicht-kastrierten Anderen. Dieser Ort wird von dem Freudschen Vater der Urhorde besetzt, dem Vater der unbeschränkten jouissance. Die zweite Formel (8 x  F x) bezeichnet, dass für alle x die phallische Funktion gilt, d.h. alle männlichen Subjekte sind von der Kastration bedroht. Das Freudsche Bild hierzu ist der Brüderclan, der dem willkürlichen „Anti-Gesetz“ des Urvaters unterworfen ist. Es geht Lacan allerdings weniger um die Beschreibung eines imaginären Konstrukts, wie man dies in Bezug auf Freud heute annehmen kann, als vielmehr um eine Formalisierung des „partikulär Negativen der Existenz“ und Bekräftigung einer universellen Wahrheit: Weil es einen Anderen gibt, der außerhalb der phallischen Funktion, sprich der außerhalb der Kastrationserfahrung steht, sind ihr alle anderen Subjekte unterworfen. Hieraus ergibt sich eine grundlegende Aussage für die diskursive Struktur von Wahrheit als einer subjektiven Erfahrung innerhalb von Sprache: Wenn Lacan behauptet, dass die Tatsache, dass gesprochen wird, vergessen bleibt hinter dem, was in dem Gehörten gesagt wird, unterstreicht er, dass die Struktur von Wahrheit auf einem „grammatikalischen Kunstgriff“ beruht, der diese erst ermöglicht und stützt: Universell affirmative Aussagen sind bedingt (oder werden nur als solche erfahren) durch die Kundgabe des Standpunkts dessen, der sie verkündet.124 Für das Entstehen von Wahrheit ist damit deren Ausdruck als Wahrheit, d. i. das Sprechen vom Ort der Wahrheit, eine conditio sine qua non. Es gibt keine Behauptung universellen Charakters, welche nicht an die Existenz eines entsprechenden Ortes ihrer Kundgabe geknüpft wäre, welche aber genau diese Universalität negiert; denn der Ort der Kundgabe ist, wenn man sich den phantasmatischen Charakter der Kastrationserfahrung vergegenwärtigt, zweifellos das, was die Universalität aller Aussagen Lügen straft. Die Leugnung dieses Standpunktes ist damit eine Operation, die dem „Herrschaftsdiskurs ein Alibi verschafft“.125 Hierin spiegelt sich auch die Wirkungsweise juristischer Wahrheit wider: Ein Rechtssatz von universeller Gültigkeit ist nicht aus sich heraus erkennbar, sondern erschließt sich in seinem Gültigkeitsanspruch erst durch die Bezeichnung des Ortes seiner Kundgabe. Bekanntlich lautet die letztlich entscheidende Frage zur Lösung eines Falls regelmäßig nicht, was richtig wäre, sondern welche Position das im einschlägigen Instanzenzug höchste Gericht hierzu (oder einer vergleichbaren Konstellation) verkündet hat. Das Phantasma der Wahrheit des Anderen des Rechts ist damit für das Rechtssystem unabdingbar, denn ginge es nicht um die Wahrheit des Anderen, 124 125

Lacan, L’étourdit, in: Silicet 4, S. 7. Lacan, L’étourdit, in: Silicet 4, S. 7.

134

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

könnte das Rechtssystem keine Verbindlichkeit produzieren, denn der Andere ist der Ort im Unbewussten des Subjekts, an dem die Erfahrung von Legitimität entsteht. Es stützt den gerichtlichen Instanzenzug ebenso, wie das Prüfungsverfahren im juristischen Staatsexamen. Zur Verdeutlichung dieses Phänomens bietet sich ein kurzer Verweis auf Hegels Konzeption des Staates als „selbstbewusste sittliche Instanz“ an.126 Der Staat ist danach kein abstrakter Mechanismus zur Regulierung der Gesellschaft, sondern er beinhaltet immer auch eine Reihe von Praktiken, wie Paraden und öffentlichen Feiern, den Staatsakten, in welchen sich die Zugehörigkeit des Subjekts zum Staat manifestiert. Der Staat als das „Selbstbewusstsein einer Gemeinschaft“ hat aber nichts Geistiges an sich, wenn man darunter den eigenen, d.h. den Geist des Subjekts versteht. Vielmehr formt sich das Selbstbewusstsein in reflexiven Praktiken, für die es nicht darauf ankommt, dass das Subjekt sich mit dem jeweiligen Akt oder dem Staat insgesamt identifiziert, ihn ablehnt oder auch nur reflektiert, was es gerade tut.127 Das subjektive Element der individuellen Bewusstheit beschränkt sich auf eine grundsätzliche Zustimmung zum Staat an sich. Damit ist ziemlich präzise das Problem des Ortes der Kundgabe beschrieben, denn das Phantasma ist in beiden Fällen gleich strukturiert: Es geht um einen autoritären, aber auch schützenden „Vater“, den man nicht weiter hinterfragt, etwa dahingehend, ob die Urteile seines obersten Gerichts gerecht sind, sondern zu dem man nur sagt „Ich will!“. Damit bleibt die subjektive Wahrnehmung des Rechtssubjekts, was im Einzelfall gerecht wäre, schon strukturell – nicht erst als Folge eines Diskurses – hinter dem Satz des obersten Gerichts, dessen Autorität allein auf seinem strukturellen Ort beruht, zurück. Der universelle Rechtssatz entsteht dadurch, dass er den Anschein erweckt, als sei der Ort seiner Kundgabe nicht existent, oder genauer, dass er nicht von einer Position des Begehrens aus gesprochen wird, denn es gibt ja (angeblich) ein Subjekt, das nicht mangelt, da es uneingeschränkt genießt. Wahrheit erfordert damit die Leugnung dessen, was ihre „Ex-istenz“ (d.h. ihre Bezüglichkeit auf das Außen stehende) bedingt, nämlich einen Ort ihrer Kundgabe, und zwar, weil dieser seinem Wesen nach willkürlich ist, denn die Willkürlichkeit des Ausdrucks unterminiert die Erfahrung der Wahrheit. Andererseits kann es ohne die imaginierte Existenz des Ortes der Kundgabe (oder des nicht-kastrierten Anderen) keine Wahrheit geben. Nach der Lacanschen Konstruktion ist es eben diese verleugnete Ex-istenz, die der Wahrheit Glaubhaftigkeit verleiht. Wahrheit muss danach unbewusst li126 Hegel, System der Philosophie III: Philosophie des Geistes, in: Werke in 20 Bänden, Bd. X, S. 330. 127 Bencivenga, Hegel’s Dialectical Logic, S. 64.

C. Das Recht als Funktion in der Topologie des Subjekts

135

bidinös motiviert werden, um eine Substanz zu gewinnen, d.h. um im Reich des „Anderen der Liebe“128 als der allgemeinsten Bezeichnung des Anderen entstehen zu können.129 Um Legitimität, welche auf abstrakter Neutralität basiert, zu erlangen, kommt der Rechtssatz immer im Namen eines (des) Anderen und kann (nur) so glaubhaft verleugnen, dass er auf einer politischen Auswahl von bestimmten Werten beruht, welche durch die Justiz durchgesetzt werden. Die progressive Fragestellung einer psychoanalytischen Rechtstheorie nach Lacan ist es deswegen, wie eine Rechtssystem organisiert sein kann, dass ohne den Anderen der Liebe auskommt und das Subjekt damit aus der unbewusst-phantasmatischen erotischen Spannung entlässt. Die Identifikation mit dem Maskulinen bringt den Glauben an die allumfassende Einheit hervor, was epistemologisch eine Totalisierung des Wissens einschließt. Die Identifikation mit dem Femininen bezieht hingegen eine Akzeptanz der Kastration mit ein, die das Wissen als ein Teilwissen strukturiert, als ein Wissen des Nicht-Allumfassenden. Die maskuline Identifikation des Wissens richtet sich auf den einen Vater, den Wissenden, der der Gemeinschaft sein Gesetz gibt. Das Phantasma des nicht-kastrierten Über-Vaters, der alles hat, birgt die maskuline Lösung der paradoxen gesellschaftlichen Koexistenz. Obwohl jedes Individuum im Wissen zu seiner persönlichen Ganzheit gelangt, ist die maskuline Antwort der Vollständigkeit, welche die erste Kastration – die sexuelle Differenz – akzeptiert, eine Verfügung der Unterwerfung unter das Gesetz der Gemeinschaft, mit anderen Worten: Die phallische Struktur. Der Ausgangspunkt dieser Logik liegt in der ersten Unterwerfung des Jungen unter die symbolische Kastration – seine Akzeptanz des Vaters als demjenigen, der die Einheit mit der Mutter verbietet. Diese beinhaltet das Anerkenntnis des realen Vaters der jouissance, dem das Gesetz die Einheit mit der Mutter gestattet. Das imaginierte Inzestverbot führt den Jungen zu dem – wenigstens unbewussten – Glauben, dass es den Über-Vater gibt, der außerhalb des Gesetzes steht.130 Obwohl dieses ödipale Dilemma verdrängt wird, stellt es das unbewusste strukturelle Gebäude dar, innerhalb dessen er sich in eine Beziehung zum Gesetz setzen kann.

128 Die Terminologie in Bezug auf den Anderen ist austauschbar: Der Andere der Liebe ist letztlich auch der Andere des Rechts, denn letzterer provoziert den Glauben an das Gesetz durch ein – im Ursprung auf die Mutter bezogenes – „Liebesversprechen“. 129 Voruz, The Topology of the Subject of Law: The Nullibiquity of the Fictional Fifth, in: Ragland/Milovanovic, Lacan: Topologically Speaking, S. 302. 130 Lacan, Le Séminaire IV: La Relation d’Objet, S. 269.

136

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

2. Die Logik der Sprache Die erste Formel oben rechts in dem Diagramm (9 x  F x) bezeichnet, dass es kein x gibt, welches sich der Operation der phallischen Funktion entzieht, während die zweite Formel (8 x  F x) indiziert, dass nicht alle x dem Gesetz der phallischen Funktion unterworfen sind und damit auch außerhalb des Gesetzes der Kastration stehen können. Diese Formeln sind auf den Diskurs bezogen: So suggeriert die zweite Formel, dass es einen Modus des subjektiven Ausdrucks gibt, der sich folgendermaßen charakterisieren lässt: „Ich spreche, deshalb genießt es“. Damit ist die feminine Formel der Sexuierung als universeller Satz in Form einer doppelten Negation zu lesen: Es gibt nichts, das nicht von der phallischen Funktion gesagt werden kann.131 Hieraus folgt, dass die Frau nicht vollständig im Signifikanten aufgeht: Wenn alles gesagt werden kann, dann ist nicht alles, was gesagt wird, auch wahr. Die Formel widerlegt nicht die Notwendigkeit der Ausnahme, sondern zeigt, dass ein alternatives Verhältnis zu ihr möglich ist: Sprache ist eine Funktion der Ausnahme, welche die Frau für den Anderen ist. Die Logik des „nicht-alles-sein“ innerhalb der Sexuierung bezieht sich auf die Abwesenheit von Wahrheit im Anderen. S (A) bezeichnet deswegen, dass alle Ansprüche auf „universelle Wahrheit“ strukturell von einem spezifischen Ausschluss abhängig sind: Dem der Besonderheit und Einzigartigkeit des Subjekts des Ausdrucks. Die feminine Anbindung an das Gesetz weist damit einige strukturelle Unterschiede zur maskulinen auf. Lacan geht davon aus, dass sich die Frau auf der maskulinen Seite einschreiben kann. Die hier bedeutsame Aussage, dass es „die Frau“ als absoluten, in sich vollständigen Referenzpunkt nicht gibt, bezieht sich darauf, dass sich das Feminine durch einen grundlegenden Mangel definiert. Auf der femininen Seite indiziert der Signifikant des Mangels im Anderen die Position des „Seins-des-Phallus“ in den Augen des Anderen, mit anderen Worten: Die Frau spricht von der Position des „Seins“ von dem, was im Anderen fehlt. Gleichzeitig ist sie „nicht alles“, denn sie ist nicht dem Glauben an die Wahrheit des Anderen unterworfen, denn sie ist die Wahrheit des Anderen. Weil es bei Lacan also keine vorgegebene, substantielle Frau gibt, bezieht er das feminine Wissen nicht auf ein positives Objekt, sondern auf eine Fehlstelle im Anderen; der Andere erscheint hier, im Gegensatz zu der maskulinen Sexuierung der imaginären Einheitlichkeit und Ganzheit, als unvollständig. Mit der provokanten Formulierung der „In-Existenz der Frau-an-sich“ (in der die männliche, phallische Kondition als „Grundsituation“ vorausgesetzt wird) verweist Lacan auf die Fehlstelle, die durch den inhärenten Mangel bestimmt wird. Identifi131

Lacan, L’étourdit, in: Silicet 4, S. 22.

C. Das Recht als Funktion in der Topologie des Subjekts

137

kationen mit dem Phallischen bzw. Symbolischen gleichen diesen Mangel aus. Die maskuline Sexuierung ist auf einen Mangel-im-Sein insofern bezogen, als sie sich auf das Feminine als objet petit’a bezieht. Geht man davon aus, dass das Maskuline eine Identifikation mit dem – abstrakten – Namen-desVaters enthält, erstaunt es kaum, dass die feminine Sexuierung asymmetrisch zu der maskulinen arbeitet. Die symbolische Kastration, die das Inzestverbot im Namen-des-Vaters aufstellt, wird von beiden Geschlechtern akzeptiert. Auf der femininen Seite besteht jedoch nicht die Notwendigkeit, sich der Unterwerfung unter den gleichgeschlechtlichen Elternteil bewusst zu werden. Da der Vater immer den gegengeschlechtlichen Elternteil repräsentiert, besteht ein inhärenter Widerspruch in seinem Gesetz. Seine implizite Aussage: „Du wirst die Mutter nicht bekommen, sie gehört mir!“ stellt die erste Kastration dar. Die zweite Kastration bezieht sich auf eine Identifikation in Form eines Doubles. Indem sich das Mädchen mit seiner Mutter als dem Objekt des väterlichen Begehrens identifiziert, glaubt es, dass es auch Teil dieses Begehrens ist. Hierin spiegelt sich die Grundstruktur des Identifikationsmusters der ödipalen Formel. Lacan bezeichnet dies mit S (A): „Die Frau bezieht sich auf S (A), was bedeutet, dass sie bereits dupliziert, aber nicht vollständig ist, da sie sich ebenfalls auf F beziehen kann.“132

Auf der weiblichen Seite gibt es keine Ausnahme von der Kastration. Trotzdem stehen nicht alle Frauen unter der phallischen Funktion; sie sind nicht alle den Einschränkungen des väterlichen Gesetzes unterworfen. Es besteht keine notwendige Identifikation mit einer symbolischen Verfügung zur sexuellen Differenz, sprich den patriarchalen Restriktionen. Diese Nähe zum Realen führt dazu, dass die Kastration der Frau nicht vollständig ist. Jede verfügt hinsichtlich der symbolischen Beschränkungen und Konventionen über einen Freiraum, was häufig zu einer Charakterisierung des Weiblichen als „mystisch“, „eingeweiht“, „gefühlsmäßig überlegen“, aber auch „misstrauisch“, „eifersüchtig“, „missgünstig“ etc. führt. 3. Die Logik der Sexuierung In den beiden Spalten des oberen Teils sind jeweils zwei Modalitäten der Funktion der Ausnahme dargestellt, welche beide durch dasselbe Element, das die Position des Subjekts für den Anderen definiert, organisiert werden: Der Signifikant der Sexuierung. Es bestehen zwei verschiedene Interpretationsmöglichkeiten dieses Signifikanten und der Kastration des Anderen, welche mit den beiden vorbesprochenen Modalitäten korrespondieren: 132

Lacan, Le Séminaire XX: Encore, S. 27.

138

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

(1) Der Andere der Wahrheit ist unvollständig, denn ihm fehlt etwas, das das Subjekt besitzt; und (2) der Andere der Sprache ist inkonsistent, denn ihm fehlt etwas, das das Subjekt ist. Im unteren Teil des Diagramms antwortet Lacan auf die Frage, welche sich im Zusammenhang mit seiner präzisen Formalisierung der Ausnahmelogik stellt: Wie kann es zwei sexuierte Positionen im Anderen geben, die durch einen einzigen Signifikanten der Sexuierung repräsentiert werden können?133 Die Antwort ist, dass beide Positionen einen ergänzenden Gebrauch von dem Mangel im Anderen machen müssen, was wiederum eine andere Beziehung zu Sprache, Wahrheit und Gesetz impliziert und folglich die regulierte Andersheit des anderen Geschlechts im Anderen für eine nicht vorbestimmte Alterität des Anderen ersetzt. Auf der femininen Seite indiziert der Signifikant des ausgestrichenen Anderen die Position des „Seins-des-Phallus“. Die Frau spricht von der Position des „Seins des Signifikanten“ von dem, was dem Anderen fehlt. Sie ist „nicht alles“ (symbolisiert in dem ausgestrichenen weiblichen Artikel „La“), denn sie ist nicht einem Glauben an die Wahrheit des Anderen unterworfen, weil sie die Wahrheit des Anderen ist. Ihr Anderer mangelt im Signifikanten, so dass sie der Phallus sein kann, folglich also selbst keinen Mangel in ihrer jouissance aufweist und damit auch nicht das Objekt des Genießens des Anderen sein kann. Trotzdem ist sie – um in den Besitzt von Wahrheit kommen zu können – abhängig von einer imaginären Identifikation mit einem anderen, der den Phallus besitzt.134 Auf der maskulinen Seite wird die Kastration des Anderen auf der Seite des Signifikanten verleugnet, aber auf der Seite der jouissance bekräftigt. Diese sich widersprechenden Positionen eröffnen die Möglichkeit, sich entweder mit der Position des „Habens des Phallus“ oder des „Habens der jouissance des Anderen“ (welche diesem mangelt) zu identifizieren. Wenn der Mann demzufolge die fiktive „Nullibiquität des Ausdrucks“, d. i. der Zustand des Seins im Nirgendwo, bekräftigt, tut er dies nur deswegen, weil der Signifikant es ihm „erlaubt“ sich vorzuspiegeln, das zu haben, was dem Anderen mangelt. Das Ergebnis der maskulinen Identifikation mit dem Anschein der jouissance ist die Zurückweisung des Begehrens, denn man(n) kann nicht ermangeln, womit man sich als „habend“ identifiziert hat. Dies lässt dem männlichen Subjekt keine andere Alternative als die Einsamkeit, welche aus dieser Verleugnung resultiert, durch eine phantasmatische Bezie133 Voruz, The Topology of the Subject of Law: The Nullibiquity of the Fictional Fifth, in: Ragland/Milovanovic, Lacan: Topologically Speaking, S. 300. 134 Voruz, The Topology of the Subject of Law: The Nullibiquity of the Fictional Fifth, in: Ragland/Milovanovic, Lacan: Topologically Speaking, S. 304.

C. Das Recht als Funktion in der Topologie des Subjekts

139

hung zum Anderen – und das heißt bei Lacan in diesem Zusammenhang insbesondere: zum anderen Geschlecht – zu lindern. Ein zentrales Charakteristikum der Sexuierung des Subjekts ist, dass beide Seiten auf eine simultane Verleugnung und Bekräftigung der Kastration gestützt sind, welche beide Geschlechter in ein gleichermaßen solitäres Verhältnis zum Phallus stellt. Diese „Einsamkeit“ wird durch die wechselbezügliche Abhängigkeit hierauf manifestiert, welche beiderseits als Mangel im Anderen erfahren wird. Der Schluss aus Lacans Darstellung der fiktiven Organisation des Seins als „Körper innerhalb der Sprache“ bedingt durch den „phallischen Semblant“, die phantasmatische Bezüglichkeit auf dasjenige, was er mit dem Phallus bezeichnet, liegt darin, dass beide sexuierten Positionen in einer unbedingten Abhängigkeit zum Anderen bestehen. Dieser Andere ist in Lacans metaphorischer Darstellung gleichzeitig kastriert und nicht-kastriert. Das Oszillieren zwischen diesen Punkten bekräftigt kontinuierlich die Spaltung des Subjekts und gleichzeitig die Fragilität von Identität, die das Subjekt wiederum verleitet, durch die Identifikation mit einem beliebigen Bild oder Signifikanten Stabilität zu gewinnen.135 Diese Suche nach Stabilität bezieht sich zwar primär auf die Unsicherheit bezüglich der Frage, was es bedeutet, ein Mann oder eine Frau zu sein, hat aber auf der sekundären Ebene konkrete Auswirkungen auf die ideologische Orientierung des Subjekts, welche letztlich bis in die Feinheiten des Rechtsdiskurses hineinführt, den das Subjekt individuell führt. Welchen Weg die konkrete Identifikation nimmt, entscheidet sich nach dem gewählten Ideal im Imaginären oder Symbolischen und wird letztlich auch über die Position beispielsweise im Diskurs über den positiven Gehalt der Menschenwürde in Artikel 1 des Grundgesetzes entscheiden. Der Vorteil der femininen Sexuierung in Bezug auf das Gesetz besteht darin, dass sie keinen absoluten Glauben an den Anderen des Rechts bedingt, sondern immer auf einen Widerspruch in ihm gefasst ist. Während die männliche Kritik am Anderen des Rechts ihrer Natur nach die revolutionäre Tendenz aufweist, ihn wie in Freuds Brüderclan vollständig durch einen anderen Anderen ersetzen zu wollen (welcher statt seiner als vollständig und kohärent imaginiert wird), ermöglicht die weibliche Sexuierung eher eine systeminhärente Kritik, denn es gibt keinen vollständigen Anderen. Dass systemexterne wie -interne Rechtskritik von Männern und Frauen geäußert wird, unterstreicht allerdings, dass die an Lacan orientierte sexuierte Beschreibung der Positionen im Rechtsdiskurs letztlich nicht als absolut im Sinne einer festen Determinierung zu verstehen ist, sondern selbst135 Voruz, The Topology of the Subject of Law: The Nullibiquity of the Fictional Fifth, in: Ragland/Milovanovic, Lacan: Topologically Speaking, S. 305.

140

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

verständlich immer auch Wahlmöglichkeiten einschließt. Sie zeigt schließlich auch Gründe für die konstante Polyphonie in den Rechtsdiskursen auf, welche tiefer liegen, als die auf konkrete Situationen bezogenen legalen Ableitungen.

D. Recht als Erfahrung zwischen Signifikant und Objektbeziehung Obwohl die subjektive Erfahrung des Rechts nach Lacan primär als Angelegenheit des Signifikanten zu verstehen ist, bezieht sie sich strukturell und funktionell ebenso auf eine Reihe von realen Objekten. Die Beziehung von Objekt und Signifikant liegt darin, dass der Signifikant seine konkrete Form – die das emotionale Erlebnis des Signifikanten bestimmt – durch das Objekt oder besser: durch die spezifische Objektbeziehung erlangt. Ein Signifikant wie z. B. die Religionsfreiheit kann dem Subjekt Wohl- oder Unbehagen vermitteln, je nachdem ob es sein spezifisches Phantasma so strukturiert hat, dass es durch die freie Religionsausübung von sich selbst oder anderen seinem Begehren näher kommt oder von ihm abgeschnitten wird. Das Objekt ist keine konkrete Manifestierung der wahrnehmbaren Symbole des Rechts, sondern das genaue Gegenteil: Ein reales Objekt ist selbst rein phantasmatisch und nicht symbolisierbar. Vielmehr tritt es in die subjektive Wahrnehmung nur als metaphorische oder metonymische Repräsentation einer Spannung oder eines Antagonismus ein. Der Bundesadler kann das Partialobjekt sein, an dem sich das Begehren metonymisch aufhängt; er ist aber nicht das Objekt selbst, sondern nur dessen – austauschbare – Repräsentation. Die Objekte werden demnach, da sie letztlich auf die prä-ödipale Einheit bezogen sind, unmittelbar von dem Begehren des Subjekts angesteuert, ohne natürlich erreichbar zu sein. Mit Lacan wird Recht über seine phänotypischen Erscheinungen als Signifikant bzw. als Signifikantenverkettung erfahren. Das Subjekt ist mit einer Reihe von Signifikanten konfrontiert, die im Idealfall als „Sinn“ erfahren werden. Für dieses Sinnerlebnis ist das Objekt verantwortlich. Dieser Prozess soll hier als die „legale Funktion“ bezeichnet werden. Die institutionellen Formen von Recht und Gesetz suchen die legale Funktion der Signifikanten des Rechts für das Rechtssubjekt in die symbolische Ordnung einzubetten. Charakteristisch mag für diese Symbolisierung sein, dass sie sich oft an einem „höheren Ort“ oder einem „unzugänglichen Jenseits“ orientiert. Allerdings muss auch hier unterstrichen werden, dass die jeweilige Beziehung des Subjekts zu seinem Signifikanten hoch individuell ist. Das bedeutet, dass sich das Rechtssubjekt – motiviert durch seine individuelle Geschichte, Sozialisation, Elternbeziehung etc. – diesen Ort im Imaginären

D. Recht als Erfahrung zwischen Signifikant und Objektbeziehung

141

selbst ausgestaltet.136 Gängige Vorstellungen beziehen sich auf ein metaphysisches oder göttliches Element der Gerechtigkeit, welches das moralische Gesetz und im Idealfall auch das positive Recht fundiert. Ebenso möglich ist aber auch die rationalisierte Vorstellung eines Systems von höheren Werten, welche ohne eine metaphysische Grundlegung auskommen. Die Rechtsphilosophie bietet hier vielfältige Möglichkeiten, diesen Ort zu beschreiben. Für das Verständnis Lacans ist allein entscheidend, dass es sich um eine strukturell notwendige Beziehung im Symbolischen handelt, die unabhängig von ihrer imaginären Ausgestaltung besteht. Lacan unterstreicht nun, dass diese Funktion der Einbettung des Signifikanten nicht ohne ein reales Objekt, das außerhalb der symbolischen Ordnung besteht, vonstatten gehen kann. Im Folgenden sollen deswegen die Objekte des Rechts untersucht werden, die als eine Art „Überbleibsel“ oder Nebenprodukte der Symbolisierung bestehen. Es geht hierbei konkret um ihre spezifische Wirkung auf die symbolische Konstitution und Subjektsbeziehung zum Recht. Der schwer greifbare Begriff des Rechts ist dabei als eine spezifische Position im Symbolischen zu verstehen, die in mannigfaltiger Weise – z. B. in der Konfrontation mit dem positiven Gesetz oder in Situationen, die ein moralisches Urteil erfordern – auftreten kann. In jeder dieser Situationen wird das Subjekt aus einer strukturellen Notwendigkeit des Unbewussten heraus mit einem realen Objekt konfrontiert. So wie wir alle Subjekte des Rechts sind, hat das Recht seine eigenen spezifischen Objekte, für die sich das Rechtssubjekt interessiert, und die so den unbewussten Modus konfigurieren, in dem sich das Subjekt zum Recht in Beziehung setzt. Könnte das Recht vollständig in den Signifikanten des Namens-des-Vaters eingeschrieben werden und einen vollständigen, nicht mangelnden Anderen garantieren, wären diese Objekte bedeutungslos und gleichermaßen von dem Feld des Rechts ausgeschlossen. Eine solche Einschreibung, nach welcher die Beziehung zum Anderen des Rechts auf die symbolische Erfahrung beschränkt bliebe, ist aber unmöglich, schon weil die bedeutungsschaffende Ordnung von dem Realen als dem Nicht-symbolisierbaren durchdrungen wird. Die Unvollständigkeit und Inkonsistenz des Anderen produziert das Objekt als Überbleibsel der Symbolisierung und setzt das Rechtssubjekt so in Beziehung zu einer Reihe von verschiedenen Objekten des Rechts. Das Objekt des Rechts erscheint als das fundamentale Objekt, das aus der symbolischen Operation des Rechts (seiner Signifikantenketten, wie z. B. Eigentum – Schaden – Anspruch) heraus fällt. Es wird vom Rechtssubjekt begehrt und hält sein Begehren offen. So werden die Objekte des Rechts zu einer grundlegenden Komponente im Verhältnis des Subjekts zum Anderen des Rechts, denn der Signifikant ist nicht in der Lage das soziale Band 136

Vgl. Kapitel 3 B. II. (Die imaginäre Ordnung und die höhere Gerechtigkeit).

142

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

– die Alterität des Anderen137 – als Primärfunktion des Rechts vollständig zu garantieren. Die entscheidende Frage ist, bis zu welchem Grad die Objekte des Rechts für die Alterität des Anderen als Voraussetzung des Phantasmas seiner Liebe (d. i. auch der Wunsch nach Einheit und Rückkehr in die Ungespaltenheit), auf die das Begehren in letzter Konsequenz gerichtet ist, einstehen und das soziale Band schmieden können. Die Tatsache, dass Rechtsprozesse immer eine Referenz zu etwas „Heiligem“, „Ethischem“ oder „Gerechtem“, dem Menschenrecht, Willen oder Widerstreit einschließen, belegt, dass der Signifikant (der „Buchstabe des Gesetzes“) zu einem gewissen Grad immer unfähig ist, das Feld der Legalität vollständig abzudecken. Auf einer weiter gefassten Ebene zeigt sich dies auch in den Diskursen des Rechts, welche sich nicht ausschließlich auf die symbolische Ordnung des positiven Rechts, sondern gleichermaßen auf Phänomene wie Abstammung und Geschichte, auf Begriffe wie „ausgleichende“ oder „absolute Gerechtigkeit“ und „Freiheit“ beziehen. Das soziale Band des Rechts und die Alterität des Anderen als Funktionen des Rechts bedürfen damit einer Objektbeziehung des Subjekts. In der Essenz kann man hier sagen, dass das Objekt in der Struktur des Unbewussten eine Lücke füllt, welche zwischen den Signifikanten besteht. Es geht im Grunde um das bekannte Phänomen, dass das „Gesetz nie das Gesetz“ ist, dass es immer eine Variable gibt und auch einer Referenz zu etwas anderem bedarf, um das Recht oder den Rechtssatz in einem Lebenssachverhalt entfalten zu können. I. Die Paradoxien des moralischen Gesetzes (I): Annäherung an das Ding Eine von Lacans Konzeptualisierungen der realen Objekte ist das Ding. Die Annäherung an das Ding beschreibt einen Prozess, der zum Verständnis der Beziehung von Subjekt und Gesetz beiträgt, und zwar insbesondere zu dem Gesetz, welches das Subjekt als Grundlage für sein moralisches Handeln entwirft. Lacan knüpft auch in Bezug auf das Ding an die philosophische Tradition dieses Begriffes an. Deswegen soll eingangs kurz auf das Konzept des „Ding an sich“, welches insbesondere von Kant und Hegel geprägt wurde, eingegangen werden. Im Anschluss daran wird die paradoxe Struktur des Gestzes in seiner Beziehung zum ödipalen Begehren erläutert.

137 Vgl. Kapitel 3 B. III. 4. (Die Alterität des Symbolischen und der große Andere des Rechts [A]).

D. Recht als Erfahrung zwischen Signifikant und Objektbeziehung

143

1. Das metaphysische Ding bei Kant und Hegel Kant geht es in erster Linie darum, eine Grenze der subjektiven Erkenntnis zu beschreiben, welche auf Raum und Zeit bezogen ist und die auch als Kritik an der metaphysischen Beschreibung des Transzendenten zu verstehen ist; denn in der Metaphysik würden die Erkenntnisformen des Subjekts unzulässigerweise auf das Objekt übertragen. Nach Kant sind uns Dinge als außer uns befindliche Gegenstände unserer Sinne gegeben, von denen wir nur ihre Erscheinungen kennen. Die Erkenntnis beziehe sich nur auf die Vorstellungen, die von der Wirkung der Dinge ausgelöst wird, und auf den „Einfluss auf unsere Sinnlichkeit“.138 Hegel kritisiert die Unzugänglichkeit des Dings bei Kant als eine Absage an den Wahrheitsanspruch der Philosophie und spricht sich gegen die unüberwindbare Differenz zwischen dem Denkbaren und dem „Ding an sich“ aus, das „jenseits des Denkens“ liegen soll.139 Vielmehr sei die Konstruktion des „an sich Seienden“ selbst ein Teil der subjektiven Erfahrung und deswegen nichts, das darüber hinaus eine eigene Existenz beanspruchen könne. Damit sei im Erkennen der Erscheinung schon die Wahrheit beider Momente von Subjektivität und Objektivität enthalten. Das „Erkannte ist nur die Erscheinung, Erkennen fällt wieder ins Subjekt.“140

Žižek weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es in der Kantischen Dialektik des Erhabenen kein positives Jenseits gibt, dessen phänomenale Repräsentation scheitert (oder scheitern könnte). Das „Jenseits“ ist lediglich die Leere der Unmöglichkeit bzw. des Scheiterns seiner eigenen Repräsentation.141 Mit Hegel: „Das Bewusstsein findet hinter dem Vorhang der Phänomene nur, was es selbst dort hinterlegt hat.“142

Hegel vollzieht einen Wechsel vom „Ding an sich“ zum „Ding für sich“ und unterstreicht damit, dass es keinen externen Antagonismus zwischen Subjekt und Objekt gibt, sondern nur einen inhärenten Antagonismus gegenüber der multiplen (gescheiterten) Reflexion des transzendenten, d.h. „unmöglichen“ Dings. So kommt Hegel zu dem Schluss, dass 138 Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, § 13 Anmerkung II, S. 62 ff. 139 Vgl. Hegel, Wissenschaft der Logik, S. 37/38: „In diesem Verzichttun der Vernunft auf sich selbst geht der Begriff der Wahrheit verloren; sie ist darauf eingeschränkt, nur subjektive Wahrheit, nur die Erscheinung zu erkennen, nur etwas, dem die Natur der Sache selbst entspreche; das Wissen ist zur Meinung zurückgefallen.“ 140 Hegel, Vorlesungen über die Philisophie der Geschichte III, S. 350 ff. 141 Žižek, Parallaxe, S. 34. 142 Hegel, Phänomenologie des Geistes, zitiert aus: Žižek, Parallaxe, S. 34 (Fn. 15).

144

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

„der Gegenstand, auf welchen sich (das Ding) positiv bezieht, daher ein Selbstbewusstsein“ ist.143

Das Problem, welches sich mehr bei Kant, aber auch noch bei Hegel findet, ist, dass das Subjekt als universell-abstraktes Phänomen begriffen wird. Diese Sichtweise ist nicht erst mit dem Aufkommen der Postmoderne als unbefriedigend erfahren worden. So kann man Heideggers Bedenken in Bezug auf die Erkenntnistheorie paraphrasieren, denn diese „schleift ständig das Messer, ohne je zum Schneiden zu kommen.“144

Dabei unterstreicht Heidegger, dass es das reine, ganz in der interessenlosen theoretischen Erkenntnis seines Gegenstandes aufgehende Subjekt nicht gibt. Der Erkennende ist danach ein interessengebundenes menschliches Wesen an einem bestimmten Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt. 2. Vom metaphysischen Ding zum Ding des Unbewussten Von hier kommt man ohne großen Umweg zu der für Lacan zentralen Phänomenologie des Begehrens. Wollte man Lacan in die Reihe der Epistemologen stellen, könnte man behaupten, dass er den von Heidegger vermissten Schnitt, den die Klassiker der Erkenntnistheorie (möglicherweise) nicht vollzogen haben, mit Schwung ausführt, indem er die abstrakten epistemologischen Positionen in Bezug auf die Objektsbeziehung mit konkreten psychischen Spannungen besetzt. Der Ort des „Dinges an sich“ liegt letztlich im Unbewussten und ist damit für Kant unzugänglich. Über die phantasmatische Annäherung an das Ding findet das Subjekt aber tatsächlich nur dasjenige, was es selbst – wie Hegel unterstreicht – dort „hinterlegt“ hat, auch wenn es ihm fern und unzugänglich scheint, weil es seine eigene Verschlüsselung des Dings nicht vollständig entziffern kann, was wiederum daran liegt, dass das Ding als Teil des Lacanschen Realen nicht symbolisiert werden kann. Auch bei Lacan geht es um ein Ding an bzw. für sich. Dieses Ding hat zwar (beliebige) „Dinge“ als äußere Manifestationen, ist in seinem Kern aber phantasmatisch strukturiert und auf jene Spannung bezogen, die aus Mangel und Begehren resultiert. Begreift man die Psychoanalyse nach Lacan an dieser Stelle als Kritik der Philosophie, lässt sich sagen, dass die Objektbeziehung, welche von der Kausalität von Mangel und Begehren geprägt ist, in der Philosophie unterdrückt und zum Problem der Erkenntnis gemacht wird. Die Nähe zu Hegel besteht aber zumindest schon insoweit, als es in der subjektiven Beziehung zum Ding immer auch um eine Form 143 144

Hegel, Phänomenologie des Geistes, Kapitel V, Abschnitt B. Heidegger, Grundprobleme der Phänomenologie, S. 4.

D. Recht als Erfahrung zwischen Signifikant und Objektbeziehung

145

des Selbstbewusstseins geht. Die besondere Bedeutung des Dings liegt für Lacan darin, dass es nicht nur die grundlegende Eigenschaft der realen Objekte, die sich der symbolischen Repräsentation entziehen, als ursprünglich verloren herausstreicht, sondern auch die fundamentale Beziehung zwischen Gesetz und Objekt akzentuiert. Das Konzept des realen Objekts als das Ding entwickelt Lacan unter Bezugnahme auf Freuds frühe Idee vom Nebenmenschen. Ziel ist hier das Verständnis der Beziehung zwischen unbewusstem Begehren und Ethik. Freud deutet darauf hin, dass in dem Zeitraum der Urverdrängung die Introjektion eines Objekts stattfindet, welche als Antwort auf die Begegnung mit dem Nebenmenschen vollzogen wird. Diese Introjektion schien den Sinn des „Unheimlichen“ und gleichzeitig die Wiederkehr des Verdrängten zu erklären, welche um einen dunklen, positivierten Punkt der Anziehung zirkuliert. Eine traumatische, ödipale Begegnung produziert ein Objekt des Begehrens. Dieses positivierte, unheimliche, reale Objekt wird von Lacan als das Ding theoretisiert und mit dem Gesetz, dem Begehren, dem Trieb und der Ethik in Verbindung gebracht.

3. Die ödipale Struktur des Dings als das verbotene Objekt und seine Beziehung zum Gesetz Im Verweis auf Freuds Vatermetapher (der métaphore paternelle, in der das Begehren der Mutter durch den Namen-des-Vaters ersetzt wird) schlägt Lacan vor, das fundamentale Objekt des Genießens, welches durch das ursprüngliche Gesetz des Vaters verboten ist, als das Ding zu verstehen. Auf der grundlegenden Ebene der ödipalen Spannung ist es folglich die Mutter, die als ungeteiltes Objekt des Genießens für das infantile Subjekt fungiert. Auf der komplexeren Ebene der Beziehung zum Anderen ist das Ding ein introjeziertes Objekt, welches als Konsequenz der Begegnung mit der unbeschränkten jouissance des Anderen auftritt. Die métaphore paternelle dient dazu, die qualvolle jouissance der ödipalen Spannung aus der Ordnung der Signifikation auszuschließen, indem sie den Namen-des-Vaters an die Stelle des verbotenen Begehrens setzt und so die Anziehung des Dings aus der subjektiven Erfahrung extrahiert. Die Beziehung zwischen dem Gesetz und dem Ding ist indessen weit komplexer, denn das Verbot der jouissance, durch das sich das Gesetz selbst propagiert, basiert auf der logischen Notwendigkeit, dass es tatsächlich etwas zu verbieten gibt. In Bezug auf Paulus kommentiert Lacan: „Ist das Gesetz das Ding? Sicher nicht. Immerhin, ich hatte Kenntnis vom Ding nur durch das Gesetz. In der Tat, hätte ich nicht den Gedanken gehabt, begierig auf es zu sein, hätte das Gesetz nicht gesagt – Du sollst es nicht begehren. Doch

146

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

weckt das Ding, wenn es nur Gelegenheit findet, in mir allerhand Begehrlichkeiten dank des Gebotes, denn ohne Gesetz ist das Ding tot.“145

Dieser Einblick stellt einige zentrale Themen hinsichtlich der Beziehung des Gesetzes zu den Objekten des Begehrens vor, unterstreicht aber auch gleichzeitig die paradoxe Beziehung zwischen dem Gesetz und dem Ding. Die konzeptuelle Schwierigkeit liegt darin, dass das Gesetz hier als ein Einschnitt des Realen in das Symbolische zu verstehen ist, aufgrund dessen das „sich der Symbolisierung eigentlich Entziehende“ in die symbolische Ordnung quasi „hinein tropft“. Ob es ein fundamentales Befriedigungsobjekt im Realen geben kann, steht außerhalb der subjektiven Wahrnehmung und damit außer Frage, denn das Subjekt könnte davon nur über das Symbolische wissen. Vielmehr ist es das Symbolische, welches das Subjekt durch sein Gesetz davon in Kenntnis setzt, dass das Ding als Garant eines vollständigen Befriedigungserlebnisses für immer verboten und verloren ist. In diesem Sinn ist das Ding ein Produkt und gleichzeitig das Fundament des Gesetzes, denn ohne das Ding läuft die prohibitorische Funktion leer. Das Ding ist folglich nicht nur das Objekt des Subjekts, sondern auch das fundamentale Objekt des Rechts, auch wenn dieses Objekt durch keinen Namen repräsentiert werden kann, außer als etwas Unsymbolisierbares, Verlorenes: Das Reale dringt „unerlaubt“ in das Symbolische ein, in dessen Mitte sich das Ding auf dem Grund des Gesetzes befindet. Im Hinblick auf die erotisch geprägte Beziehung des Subjekts zu einem Objekt ist es eben dieses Paradoxon der Produktion des Gesetzes mittels eines verbotenen Objekts, welches für die Entstehung des Begehrens im Subjekt verantwortlich ist. Durch das Verbot des Dings erkennt das Subjekt seinen fundamentalen Mangel in seinem Sein, weshalb sich das Begehren auf eine unendliche Reihe von Substitutionsobjekten richtet, welche ihm das Befriedigungserlebnis versprechen, welches es auf einer imaginären Ebene mit dem Ding erfahren hat. Folglich ist die vermutete Begegnung mit dem Ding, obgleich mit einem Trauma besetzt, ein grundlegender Faktor in der Entwicklung und Orientierung des Begehrens. Lacan unterstreicht, dass sich die gesamte Fortentwicklung des Subjekts um das Ding als etwas Fremdem und gelegentlich sogar Feindlichem oder zumindest als etwas, dass eine ursprüngliche Außenwelt markiert, orientiert. Über das Ding versucht das Subjekt eine Referenzbeziehung zu der Welt des Begehrens herzustellen. Indem das Ding die Vorstellung vermittelt, dass „etwas da ist“, widerlegt es die Unnahbarkeit der Objekte des Begehrens und kann 145 Lacan, Das Seminar VII: Die Ethik der Psychoanalyse, S.104. Vgl. Römerbrief 7,7: „Ist das Gesetz Sünde? Das sei ferne! Aber die Sünde erkannte ich nicht ausser durchs Gesetz. Denn ich wusste nichts von der Begierde, wenn das Gesetz nicht gesagt hätte: ‚Du sollst nicht begehren‘!“

D. Recht als Erfahrung zwischen Signifikant und Objektbeziehung

147

so als (phantasmatische) Referenz zu etwas Tatsächlichem in der Welt der Wünsche und Erwartungen fungieren.146 Das Ding bezeichnet damit den Raum, den das Begehren eröffnet. So ist das Ding der Bezugspunkt aller späteren Objekte des Begehrens – Lacans objets petit’a – die genau deshalb das Begehren fixieren, weil sie durch die Referenz zum Ding durch das Gesetz des Namens-des-Vaters verboten sind. 4. Die mythische Funktion des Dings als Bild der Einheit des Rechts Eine der Schlüsseleigenschaften des Dings ist, dass es nicht bloß als Mangel in der Ordnung des Begehrens funktioniert, sondern dass es sich um einen positivierten Verlust auf dem Grund des Unbewussten und der symbolischen Ordnung befindet. Es schleicht sich gleichermaßen in die Signifikationsketten der symbolischen Ordnung ein und kann dort katastrophale Folgen hervorrufen: Selbst wenn der psychische Apparat sich vollständig selbst überlassen ist, wird er nicht zu der Balance gelangen, nach der das Lustprinzip strebt, sondern fortfahren, um einen traumatischen Kern zu kreisen, der ihm innewohnt. Es handelt sich hierbei um die Grenze des Lustprinzips, die in ihm selbst angelegt ist.147 Der Name-des-Vaters ist der Schnitt in der Kontinuitätslinie der in der ungestörten Mutterbeziehung erfahrenen übermächtigen Sinnfülle des absoluten Genießens. Der Schnitt selbst ist das Ding als ursprünglicher, objektloser Verlust, als Entzug oder Loch im Realen, der erst den Bezug zu ihm erlaubt. Dieses in keinem Bild oder Namen identifizierbare – sich der Symbolisierung entziehende – Ding ist gleichermaßen das „Un-Ding“ der symbolischen Kastration. Das ethische Gesetz der Psychoanalyse ist die Ent-Täuschung der illusionären Übertragung des verlorenen Objektes in eines der Erlösung, dem das Begehren nachzugeben schuldig werden kann. Juranville hebt hervor, dass das Ding damit zugleich ein Mythos und alles andere als ein Mythos ist. Es leitet sich zum einen daraus ab, dass der Signifikant die Idee einer absoluten Fülle hervorruft (ohne die vom Begehren gar nicht zu sprechen wäre), und zum anderen daraus, dass er in seinem eigenen Hervortreten die Prüfung des Mangels dieser Fülle auferlegt.148 Im Ding manifestiert sich damit auch die Vorstellung vom mythischen Ursprung des Rechts, welcher sich über das Begehren auf das urtümliche Bild der Einheit bezieht. Der Unterschied zwischen dem psychoanalytischen Gesetz des Begehrens, welches als Name-des-Vaters in der symbolischen Ordnung funktioniert, und dem positiven Gesetz ist, dass das psychoanalytische Gesetz unvordenklich 146 147 148

Lacan, Das Seminar VII: Die Ethik der Psychoanalyse, S. 67. Žižek, The Sublime Object of Ideology, S. 48. Juranville, Lacan und die Philosophie, S. 274.

148

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

und „an-archivalisch“ ist.149 So ist es jedoch in der Lage, einen distanzierten Zugang zu positiven Gesetzen zu eröffnen, denn nur die Abwesenheit eines genealogischen Gründungsbilds im Gesetz des Symbolischen eröffnet die Möglichkeit, die prinzipielle Differenz von Gesetz, Recht und Gerechtigkeit zu denken, eben weil die ultimative Referenz als Garant einer singulären Wahrheit im Recht fehlt. So geht auch Derrida davon aus, dass das „Gesetz des Gesetzes“, die reine Moral, geschichtslos ist.150 Der prohibitorische Name-des-Vaters unterbricht jede imaginäre Position, die „im Namen des Vaters“ einen geltungssüchtigen Bestand als Gesetz beansprucht: Das „Nein“ des Vaters als das Gesetz des Symbolischen ist ein Verbot, das ein haltloses Gesetz vor dem Gesetz ist. Das jede Erfüllung oder Übereinstimmung mit sich selbst verbietende Gesetz des Symbolischen bleibt als solches – als höchstes Gut – verboten und unzugänglich. Damit ist gleichzeitig der ureigentliche Charakter des Rechts hinter dem positiven Gesetz beschrieben, den Derrida in Bezug auf Kants Formulierung des „Schönen als Symbol des moralischen Gesetzes“ beschreibt: Es ist der Grund, der immer verborgen bleibt.151 Freud erklärt diese Unzugänglichkeit mit dem traumatischen Ursprung des moralischen Gesetzes, indem er in den Mythen des Vatermordes die paradoxe Vaterfunktion als das Gesetz einer sich endlos fortschreibenden Verschuldung der Söhne gegenüber dem Vater beschreibt, welches nachträglich erst die Verschuldung und seine eigene Verursachung setzt, um so das festigende und zugleich haltlose soziale Band der Identifizierungen mit dem toten Vater zu instituieren. Das Gesetz des Symbolischen in seiner Bezüglichkeit auf das Imaginäre und das Reale hat danach eine Schutzfunktion gegenüber dem realen, traumatischen Kern des moralischen Gesetzes. Es operiert als Modus, der all dem entkommt, was wir von einer Deduktion der „Tatsachen“ im Realen ableiten können.152 5. Die Fatalität der Annäherung an das Ding Aufgrund dieses Paradoxons, das in dem ödipalen Schnitt des Gesetzes verankert ist, mangelt der Andere in dem Sinne, dass das Subjekt des Unbewussten Botschaften aus dem Realen empfängt, die es nicht adäquat symbolisieren kann. Obwohl es begrifflich nur als Mangel erscheint, tritt das Ding auf dem Feld des Signifikanten des Mangels im Anderen – [S (A)] – als ein positivierter Mangel auf, der im Unbewussten und in der symboli149

Vgl. Derrida, For the Love of Lacan, in: 16 Cardozo Law Review, S. 704. Derrida, Before the Law, in: Acts of Literature, S. 191. 151 Derrida, Before the Law, in: Acts of Literature, S. 190. 152 Tholen, Vom Gesetz des Symbolischen, in: Adam/Stingelin, Übertragung und Gesetz, S. 250. 150

D. Recht als Erfahrung zwischen Signifikant und Objektbeziehung

149

schen Ordnung existiert. In der Urverdrängung wird nicht nur der Signifikant des Namens-des-Vaters verdrängt, sondern auch die Existenz eines dunklen Punktes, der eine traumatische Anziehungskraft ausübt. Obwohl das Begehren durch die unbewussten Signifikationsketten läuft, immer auf der Suche nach Substitutionsobjekten, an die es anknüpfen kann, bewegen sich die Triebe rückschrittlich auf der Suche nach dem schnellsten, archaischen Weg zu einer Abfuhr, welche sich auf das Ding bezieht. Das Lustprinzip des „legalisierten Begehrens“ muss deswegen scheitern, denn das fundamentale Objekt des Gesetzes besteht als dunkler Anziehungspunkt, welcher sich auf das bezieht, was vor dem Gesetz kommt und was jenseits von ihm liegt. In Bezug auf die Ethik der Psychoanalyse beschreibt das Ding das Objekt, auf das sich das radikale Begehren bezieht. Radikalität meint hier, dass das Begehren durch das Ding mit dem Todestrieb153 in Beziehung gesetzt wird. Lacans Begriff vom Todestrieb ist nicht mit einem allgemeinen suizidären oder aggressiven Impuls gleichzusetzen. Er steht in einer Beziehung zum Moralgesetz, das sich gegen die Lust ausspricht. Dabei rekurriert Lacan auf den Gegensatz zwischen Realitätsprinzip und Lustprinzip bei Freud: „Jenseits des Lustprinzips erscheint vor uns diese undurchdringliche Seite – so dunkel, dass sie bestimmten Leuten als Antinomie jeden Denkens erscheinen konnte, nicht nur des biologischen, sondern des wissenschaftlichen schlechthin, – die Todestrieb heißt.ist der Todestrieb? Was ist diese Art Gesetz jenseits allen Gesetzes, das sich allein wie von einer letzten Struktur, von einem Fluchtpunkt aller Realität aus, die zu erreichen möglich ist, setzen kann? In der Koppelung von Lustprinzip und Realitätsprinzip könnte das Realitätsprinzip als Verlängerung, als Applikation des Lustprinzips erscheinen. Jedoch im Gegensatz dazu scheint solche abhängige und abgeleitete Setzung jenseits etwas wiederauferstehen zu lassen, das im weitesten Sinne das Insgesamt unseres Verhältnisses zur Welt regiert.“154

Das Ding bezieht sich gleichzeitig auf einen Punkt, der außerhalb der gesetzlichen Ordnung liegt, welche dieses Objekt geschaffen hat. Indem er eine radikale Ethik mit der Schöpfung verbindet, unterstreicht Lacan, dass der Ruf immer von außerhalb der symbolischen Ordnung des Rechts kommt: 153 Der von Freud aus dem destruktiven Aggressionstrieb abgeleitete Todestrieb ist nicht unumstritten: Immer mehr Forscher sehen einen multikausalen Grund für Aggressionen. Mit guten Gründen werden Aggressionen auch nicht ausschließlich als negativ bewertet, da ein gewisses Maß für das Überleben notwendig ist. Von anderen wird der Aggressionstrieb abgelehnt und die Aggressions-Frustrations-Theorie, favorisiert (Dollard u. a., Frustration and Aggression). Eine andere Theorie sieht Aggressionen als erlernt an. Heute geht man vielfach von multikausalen Gründen für Aggression aus. Es gibt Aggressionen gegenüber anderen Personen oder Autoaggression gegen sich selbst (vgl. Plack, Der Mythos vom Aggressionstrieb). 154 Lacan, Das Seminar VII: Die Ethik der Psychoanalyse, S. 29.

150

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

„Und der Begriff der Schöpfung ex nihilo ist der genauen Lage des Dings als solchem koextensiv. In der Tat ist genau so im Lauf der Zeiten, namentlich der Zeiten, die uns am nächsten liegen, die uns geformt haben, die Artikulation, die Schwebe des Moralproblems situiert.“155

Mit Bezug auf die Radikalität des menschlichen Handelns, welches danach strebt, sich dem Ding direkt anzunähern, kommentiert Lacan: „Es gibt kein gutes und böses Objekt, es gibt Gutes und Böses, und dann gibt es das Ding.“156

Bewegt man sich folglich jenseits der Ordnung des symbolischen Gesetzes, indem man sich weder auf das Gute noch das Böse bezieht, stellt das fundamentale Objekt des Gesetzes ein anhaltendes Problem sowohl für die Grundlagen als auch die fortwährende Existenz des Rechts dar. Douzinas beschreibt das Problem in seiner Analyse der Ethik, welche in Sophokles’ Antigone vorgestellt wird: „Wir können unser Begehren des Anderen nur durch unser Phantasma von der Gerechtigkeit verhandeln; die radikale Asymmetrie, der Abgrund des Begehrens des Anderen wird immer ein Überbleibsel hinterlassen, welchem weder das Phantasma noch das Recht vollständig Rechnung tragen kann. In ihrer exzessiven Liebe für ihren Bruder und ihrem Tod mag Antigone das ewige Überbleibsel eines Abgrundes sein, der alles Recht einschließt und durchsetzt.“157

Der Name-des-Vaters ist selbst eine ex nihilo Sublimierung, so dass sich ein beträchtlicher Grad von Pathos in der Beziehung des Gesetzes zu seinem fundamentalen Objekt ausmachen lässt. Das Ding entsteht als etwas Verbotenes, welches der einzigen Bestimmung folgt, die Ordnung des Gesetzes mit ihrem eigenen traumatischen Kern zu konfrontieren. So sieht Žižek hinter den gegensätzlichen Polen des Gesetzes und dem letalen Ding, hinter dem Begriff des Gesetzes als dem Verbot, welches es uns erlaubt, eine angemessene Distanz zum Ding zu halten, eine monströse Dimension, nicht des Dings selbst jenseits des Gesetzes, sondern des Gesetzes als Ding, ein fatales Gesetz, welches selbst in die Dimension eingeschrieben ist, welche es versucht, außer Reichweite zu halten.158 In Sophokles Erzählungen von Ödipus und Antigone zeigt sich, dass das Ding die Rechtsordnung zu Fall bringen kann, wenn sich ein oder zwei Rechtssubjekte auf ihrem Lebensweg auf einen vorbestimmten Pfad begeben, mit dem Ziel, so weit wie möglich zu dem Ding zurück zu kehren, also so nah wie möglich bei ihrem Ding zu sein. Das Recht kann sich nie vollständig gegen die Wirkungen 155

Lacan, Das Seminar VII: Die Ethik der Psychoanalyse, S. 151–2. Lacan, Das Seminar VII: Die Ethik der Psychoanalyse, S. 80. 157 Douzinas, Law’s Birth and Antigone’s Death, in: 16 Cardozo Law Review, S. 1362. 158 Žižek, The Plague of Fantasies, S. 237. 156

D. Recht als Erfahrung zwischen Signifikant und Objektbeziehung

151

des Dings innerhalb der symbolischen Ordnung verschließen. Diese Wirkung liegt primär in der Erkenntnis, dass es ein fundamentales Moralgesetz, eine stabile Unterscheidung von Gut und Böse als Grundlage des Rechts nicht geben kann. Das höchste Gut, die ewige Gerechtigkeit als Ding des Rechts, ist im Psychismus die Einheit, welche nach der Geschichte des Subjekts unausweichlich auf die Mutter verweist, so dass sich das Ding dem Subjekt durch den auf das Inzestverbot verweisenden Namen-des-Vaters immer als verboten zeigt. Ein anderes Gut gibt es nicht.159 Das Ding ist ein komplexes Konzept des Objekts, nicht nur in seiner Beziehung zum Gesetz und dessen Verankerung in den fundamentalen Kategorien von Gut und Böse, sondern auch in sich selbst, da letztlich alles, was darüber in der symbolischen Ordnung gesagt werden kann, paradox erscheinen muss. II. Gerechtigkeit, Bürgerrechte, Menschenrechte: Objet petit’a als legale Funktion Lacan entwickelt darüber hinaus ein weiteres Register des realen Objekts: Objet petit’a ist bereits als Begriff oder Mathem der Objekt-Ursache des Begehrens vorgestellt worden.160 Es enthält beträchtliche Implikationen für das Verständnis des Rechts. Obwohl es nicht wie das Ding als dessen fundamentales Objekt angesehen werden kann, handelt es sich um das zentrale Objekt, durch welches das Recht versucht, den Mangel im Symbolischen zu verschleiern. Darüber hinaus spielt es eine bedeutende Rolle für die Frage der Alterität des Anderen, welche sich im Zusammenhang mit dem Gesetz auf die Instanz des Über-Ichs bezieht. Objet petit’a ist das Überbleibsel des Dings, welches im symbolischen Anderen fortbesteht. Es handelt sich um Teilobjekte, welche in der frühkindlichen Entwicklung als Blick, Stimme, Brust oder Exkrement auftreten.161 Sie haben dennoch keine reale Existenz, sondern sie „ex-istieren“, sie liegen jenseits von dem, was gesehen, gehört oder gegeben wird. Sieht man jemandem in die Augen, sieht man dennoch nicht den Blick, er wirkt aber in der einen oder anderen Weise, wenn er da ist. Žižek erkennt hier die präzise Definition des realen Objekts: „Ein materieller Grund, der selbst nicht existiert, der sich nur in einer Reihe von Effekten äußert, jedesmal jedoch in einer verzerrten, verschobenen Weise.“162 159

Lacan, Das Seminar VII: Die Ethik der Psychoanalyse, S. 88. Vgl. Kapitel 3 A. III. (Der Objektbezug des Begehrens und des Triebes: Objet petit’a) und C. II. (Das Reale im Symbolischen: Objet petit’a). 161 Lacan, The Subversion of the Subject and the Dialectik of Desire, in: Écrits: A Selection, S. 295. 162 Žižek, The Sublime Object of Ideology, S. 163. 160

152

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

Weil das Begehren Substitutionsobjekte für das Ding verlangt, sucht das Subjekt nach dem objet petit’a, welches außerhalb der für das Subjekt erreichbaren Objekte liegt und so als Objekt-Ursache des Begehrens funktioniert. Das Paradoxon dieses Begehrens ist, dass es retrospektiv seinen eigenen Grund bestimmt. Objet petit’a ist das Objekt, welches nur in einem Blick wahrgenommen werden kann, der durch das Begehren verzerrt ist; es hat keine objektiv wahrnehmbare Existenz. Deswegen kann es sich um einen gewöhnlichen Alltagsgegenstand handeln, der für den einen unschätzbar wertvoll, für den anderen bedeutungslos ist. Dass die Objekt-Ursache des Begehrens reiner Schein ist, hält sie allerdings nicht davon ab, eine ganze Kette von Konsequenzen in Gang zu setzen, welche unser „materielles“, „affektives“ Leben und Handeln reguliert.163 Der Grund für diese spezifische Funktionsweise liegt in dem, was Lacan in der Formel des elementaren Phantasmas bezeichnet hat, in der sich die Struktur der phantasmatischen Regulierung des Begehrens spiegelt. So wie das Unbewusste der Diskurs des Anderen ist, steht auch das Begehren in einer dialektischen Beziehung zu ihm: Das Begehren ist das Begehren des Anderen. In dieser Dialektik des Begehrens wird das Subjekt über sein Bestreben theoretisiert, das Begehren des Anderen zu identifizieren, mit dem Ziel, die bittere Abhängigkeit durch eine Garantie der Liebe verschleiern zu können. Da immer ein Mangel im Anderen besteht, sowohl als Ordnung der Signifikation als auch als Fixpunkt des Begehrens des mangelnden Subjekts, welches sich auf die Vorstellung eines liebenden Anderen bezieht, kann das Begehren des Anderen nicht vollständig signifiziert werden und muss von dem Subjekt interpretiert werden. Anders formuliert: Durch das Auftreten der métaphore paternelle erfährt sich das Subjekt als entfremdet, da es sich mit einem Signifikanten identifiziert, der ihm keinen vollständigen Seins-Grund vermittelt, da er das Begehren des Anderen nicht adäquat symbolisiert. Um das Begehren des Anderen interpretieren zu können und so zu einer Identifikation zu gelangen, welche die Erfahrung von Sinn in das Sein einführt, wendet sich schon das infantile Subjekt gegenüber der Mutter als erstem Anderen Dingen zu, die eine zusätzliche Signifikation in der Dialektik des Begehrens vermitteln können. Diese sind das ursprüngliche objet petit’a, reale Aspekte der Teilobjekte, die in der nährenden Beziehung des Kindes zur Mutter erotisch aufgeladen sind (z. B. die Brust, die Stimme, der Blick). Das Subjekt isoliert ein objet petit’a und formt mit ihm eine phantasmatische Beziehung, die sich durch eine Identifikation äußert, welche die Angst verschleiern und ein Genießen gewähren kann. In diesem fundmentalen Phantasma distanziert sich das Subjekt von der Entfremdung, welche es durch den Signifikanten erfährt und schafft sich eine Struktur, welche sein 163 Žižek, Looking Awry: An Introduction to Jacques Lacan through Popular Culture, S. 82.

D. Recht als Erfahrung zwischen Signifikant und Objektbeziehung

153

Begehren reguliert und damit die Modalitäten seines Genießens bestimmt. = ^ aê beschreibt die Beziehung des Lacans Mathem dieses Phantasmas ÈS Subjekts zum objet petit’a als repetitives Schema der Trennung und Entfremdung, in der aber gleichzeitig ein Mehr-Genießen (plus-de-jouir) enthalten ist, das sich – konzeptionell und terminologisch an den Marxschen „Mehrwert“ anlehnend – auf die phantasmatische Beziehung zum Objekt stützt. Dieses „Mehr“ bezieht sich nicht darauf, dass mehr im Sinne von etwas Zusätzlichem genossen wird, sondern das Subjekt genießt (nur) dieses „Mehr“, mit dem das phantasmatische Supplement eines beliebigen Objektes gemeint ist. Die Beziehung des objet petit’a zur Rechtsordnung der Signifikanten mag zunächst problematisch erscheinen, denn als reales, nicht symbolisierbares Objekt fällt es grundsätzlich aus der Signifikationskette heraus. Nichtsdestotrotz taucht es innerhalb der symbolischen Signifikation auf, was seinen Grund in der notwendigen Existenz des Phantasmas innerhalb von Subjektivität hat, welche auf den Mangel im Anderen zurück zu führen ist. Miller beschreibt dies wie folgt: „Es gibt einen Teil in der Libido, der nicht als Signifikant übersetzt werden und so in das Reich des Anderen überführt werden kann. Hierin liegt genau das, was Lacan als objet petit’a bezeichnet, das Mehr-Genießen als Differenz zwischen Sprache und Libido.“164

Die Rechtsordnung ist nicht in der Lage, das objet petit’a auszuschließen. Es findet sich in der Beziehung des Subjekts zu den Rechtsinstitutionen, deren phantasmatischer Charakter schon im Zusammenhang mit Legendre angesprochen worden ist. Angesichts des Mangels im Anderen, der aufgrund seines universellen Charakters integraler Bestandteil der Rechtsordnung ist, kann das Recht nur durch eine phantasmatische Stütze zu einer Form gelangen, die Kohärenz und Glauben auf der Seite der Rechtssubjekte vermittelt. Dies ist jedoch ein zweischneidiges Schwert: Weil das Subjekt in seiner phantasmatischen Beziehung zum objet petit’a ein Mehr-Genießen erlangt, stellt sich eine Gegenbewegung zu der ursprünglichen Funktionsweise des Rechts als Begrenzung des Genießens ein, die zu einem Störfaktor in der subjektiven Rechtsbindung werden kann. Dieses „Mehr an jouissance“ folgt der Funktion des objet petit’a, die mangelnde Ordnung der Rechtssignifikanten zu animieren und zu interpretieren. Das Mehr-Genießen zirkuliert damit im Reich des Anderen, es wirkt als phantasmatische Stütze des Symbolischen durch die Vermittlung von Glauben und der Erfahrung von Kohärenz. Die Bedeutung des objet petit’a für die Funktionsweise der Rechtsordnung liegt in diesem Sinne also darin, dass es dasjenige, was von 164 Miller, To Interpret the Cause: From Freud to Lacan, in: Newsletter of the Freudian Field 3 (1–2), S. 49.

154

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

dem Subjekt in den Rechtszeichen als mangelhaft erfahren wird, vermitteln kann. Hierin lässt sich präzise die Funktion von Gerechtigkeit beschreiben: Die Dichotomie zwischen den Begriffen „Recht“ und „Gerechtigkeit“ setzt sich in den verschiedenen Registern fort, aus denen sie sich ableiten: Das Gesetz folgt dem Signifikanten, die Gerechtigkeit folgt dem objet petit’a. Gerechtigkeit ergänzt das Gesetz immer dann, wenn sich eine Aporie im Recht auftut. Diese Aporie lässt sich in der symbolischen Rechtsordnung als Mangel im Anderen theoretisieren: Der Signifikant ist nicht in der Lage, adäquat auf die Besonderheiten des Falls zu antworten. Gerechtigkeit kann insofern als Versuch verstanden werden, den Mangel im Anderen des Rechts zu interpretieren. Dass Gerechtigkeit in Bezug auf die Umstände, den spezifischen Sachverhalt, immer als einzigartiger und partikulärer Akt des Richtens erscheint, reflektiert die einzigartige und unheimliche Natur des objet petit’a selbst. Gleichzeitig zeigt sich, wie etwa das Konzept der Freiheit in einem funktionellen Zusammenhang mit ihm steht: „Die Trennung erfordert den Willen des Subjekts, sich von den Signifikantenketten zu lösen. Lacan geht davon aus, dass sich das Subjekt immer mehr im Anderen realisiert und dass hierin der Grund dafür liegt, dass es gleichzeitig bestrebt ist, einen Ausweg zu finden. In diesem Streben nach einem Ausweg stellt das Subjekt am Ende fest, dass der Andere ebenso bestrebt ist, es zu befreien. Ich möchte hier das Wort ‚Befreien‘ und die Bedeutung der Freiheit unterstreichen. Trennung erfordert einen Willen des Hinaustretens, einen Willen zu wissen, was jenseits dessen liegt, was der Andere sagen kann, jenseits dessen, was in die symbolische Ordnung eingeschrieben ist.“165

Folgt man der Interpretation des objet petit’a als phantasmatische Objektrepräsentation von Gerechtigkeit, lässt sich weiter argumentieren, dass „Rechte“ als Vehikel der Gerechtigkeit ebenfalls in das Feld des objet petit’a gehören. Rechte in Beziehung zur institutionalisierten Autorität des Rechts – dem Staat – lassen sich psychoanalytisch auf der Grundlage eines „Tauschhandels“ theoretisieren, welcher wiederum auf der Grundlage der fundamentalen Funktion des Rechts besteht. Die Struktur des Namens-desVaters formalisiert Erzählungen wie etwa die von der mörderischen Urhorde oder dem Gesellschaftsvertrag, um die Struktur des Gesellschaftlichen an sich als notwendige Unterwerfung des subjektiven Genießens unter die Repräsentation der Autorität des Gesetzes zu installieren. Was Lacan im Phantasma verdeutlicht, ist, dass dieses Opfer von jouissance gegenüber dem Gesetz nicht ohne einen Tauschhandel vonstatten geht, ein Arrangement bei dem ein Teil der jouissance beim Subjekt verbleibt, welches von der Rechtsordnung unterstützt und garantiert wird. So wie im Entzug von 165 Soler, The Subject and the Other, in: Feldstein/Fink/Jaanus, Reading Seminar XI, S. 49.

D. Recht als Erfahrung zwischen Signifikant und Objektbeziehung

155

jouissance vom Körper einige Spuren des Mehr-Genießens in den erogenen Zonen verbleiben und mittels Phantasmen reguliert werden, wird durch die Einsetzung einer gesellschaftlichen Rechtsautorität ein Teil des subjektiven Genießens vom Staat entzogen, aber gleichzeitig ein Genießen, etwa in Form von Freiheitsrechten in der Beziehung des Subjekts gegenüber dem Staat, aufrechterhalten und garantiert. Diese Freiheitsrechte lassen sich als Beispiel für eine gesetzliche Repräsentation der Phänomenologie des objet petit’a verstehen, welches so die Grundlage des Konzeptes und Diskurses der Bürgerrechte darstellt. Salcel formuliert dies explizit: „Die Einführung von Rechten ist nichts anderes als ein Substitut für das fundamentale Verbot. Als solches nehmen Rechte dieselbe Funktion ein wie das objet petit’a. Objet petit’a ist das Substitut, welches das Subjekt erhält, wenn es der Kastration unterworfen wird, die sich beim Eintritt in das Reich der symbolischen Mediation einstellt.“166

Obwohl die Konzeptualisierung der Bürgerrechte innerhalb der Begrifflichkeiten dessen, was dem Subjekt nach der forcierten Zustimmung zu dem „Tauschhandel des Gesellschaftlichen“ verbleibt, formuliert werden kann, ist es vor allem die Analyse der Menschenrechte als objet petit’a, welche die hierbei angesprochenen Aspekte klar verdeutlicht. Menschenrechte sind in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse, weil sich an ihnen die phantasmatische Grundlage von Rechten als eine leere Struktur offenbart. Es handelt sich um eine offen auf das Begehren bezogene Mediation der kastrierenden Gewalt des Gesetzes und des Mangels im Anderen. Salcel beschreibt das Konzept der Menschenrechte folglich als ein Konstrukt, eine „leere Universalität“, die „an sich“ inexistent ist: „Sie bestehen nur als Substitut für etwas Grundlegenderes, etwas, das das Subjekt verloren hat und gehören somit der Ordnung des Realen an. Sie entziehen sich gleichermaßen einer vollständigen sprachlichen Fixierung, denn es wird immer eine Differenz zwischen dem positiven, geschriebenen Recht und der universellen Idee der Menschenrechte verbleiben.“167

Menschenrechte stellen demzufolge ein effizientes symbolisches Werkzeug für das Subjekt dar, seine phantasmatischen Strukturen zur Artikulation seines Begehrens zu stützen. Daneben spielen sie auf dem Feld des Politischen insofern eine zentrale Rolle, als dass sie einen Diskurs bereitstellen, der mit einer gewissen Effizienz zwischen individuellem Begehren, Gerechtigkeit und Gesetz vermitteln kann, was oft im Angesicht der traumatischen Erfahrung des Mangels im Anderen des Rechts geschieht, der sich in autoritären Versuchen äußert, diesen Mangel auf Kosten des indivi166 Salcel, The Spoils of Freedom: Psychoanalysis and Feminism After the Fall of Socialism, S. 126. 167 Salcel, Rights in Psychoanalytical and Feminist Perspectives, in: 16 Cardozo Law Review, S. 1134.

156

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

duellen Begehrens zu schließen. In diesem symbolischen, nicht auflösbaren Antagonismus entfaltet sich die Kraft der Menschenrechte als reale Objekte des Rechts. Ihr Beitrag zur Demokratie liegt in der Tatsache, dass sich Menschenrechte nie vollständig definieren lassen, dass ihr Charakter nie abschließend bestimmt werden kann, so dass eine endgültige Auflistung vollbracht werden könnte. Obwohl die Menschenrechte als Fundament jeder demokratischen Rechtsordnung gedacht werden und damit ihrem Wesen nach universell und konstant sein müssen, sind die demokratischen Gesellschaften deswegen immer noch damit beschäftigt, ihnen einen abschließenden Inhalt zu geben.168 III. Das bürgerliche Recht als Seinsgarant: Objet petit’a (III) Ein letzter Aspekt, der im Zusammenhang mit dem Auftreten des objet petit’a im Feld der symbolischen Ordnung des Rechts beleuchtet werden soll ist, dass private Rechte gegenüber dem Nachbarn oder Vertragspartner als Rechte im Sinne einer subjektivierten Form des objet petit’a verstanden werden können. Dies folgt daraus, dass das Phantasma von absoluter Bedeutung für das Sein des Subjekts als Modus des Begehrens und Genießens ist. Es handelt sich deswegen auch um einen sehr fragilen Bereich in der Seinskonstitution des Subjekts. Miller bezieht sich auf das objet petit’a innerhalb des Phantasmas mit dem Begriff der „extimité“ – dasjenige was nach Lacan im Subjekt „mehr ist als sein Selbst“.169 Dieser Ansatz passt zu der Beziehung von objet petit’a und Gerechtigkeit, weil diese eine imaginär-symbolische (narzisstische) Ergänzung des Subjekts darstellt, die über den partikulären Eigenschaften des Subjekts steht und insofern „mehr als sein Selbst“ ist. Die Zerstörung dieses Supplements führt zu einer extremen Gefährdung des Begehrens und versetzt das Subjekt in eine fundamentale Seinskrise. Weit entfernt von dem Druck, welchen die staatliche Autorität und die Gesetzeskraft auf das Subjekt ausüben und damit seine extimité begrenzen und gefährden, ist die Zivilisation selbst durch eine inhärente exzessive Aggressivität geprägt, die auf der privaten Ebene subjektiver Interaktion stattfindet. Es handelt sich hierbei um einen Aspekt, dem schon Freud in Das Unbehagen in der Kultur zentrale Bedeutung beigemessen hat. Dort analysiert er eine fundamentale Aggressivität innerhalb der (westlichen) Zivilisation, die er zunächst auf das Privateigentum zurückführt, gleichzeitig aber 168 Salcel, Rights in Psychoanalytical and Feminist Perspectives, in: 16 Cardozo Law Review, S. 1123. 169 Miller, Extimité, in: Bracher/Alcorn/Corthell/Massardier-Kenney, Lacanian Theory of Discourse: Subject, Structure, Society, S. 74 ff.

D. Recht als Erfahrung zwischen Signifikant und Objektbeziehung

157

deutlich macht, dass diese selbst bei dessen Aufhebung fortbestehen und sich in anderen kulturellen Phänomenen fortsetzen würde: „Es wird den Menschen offenbar nicht leicht, auf die Befriedigung dieser ihrer Aggressionsneigung zu verzichten; sie fühlen sich nicht wohl dabei.“170

Der Nachbar wird nicht nur als potentieller Helfer oder Sexualobjekt angesehen, sondern auch als jemand, der dazu verleitet, die eigene Aggressionsneigung abzuführen, unabhängig davon, ob diese – wie von Freud – als originäre Triebkausalität, oder – an modernere Theorien angelehnt – auf ein multikausales Geflecht aus Frustrationen mit oft frühkindlichem Ursprung zurückgeführt wird. Durch diese, zumindest empirisch allgemein wohl wenig bestrittene, kulturinhärente Spannung ist die Zivilgesellschaft permanent von einer Zersetzung bedroht. Die Aufrechterhaltung des sozialen Bandes durch die Rechtsordnung erfordert es folglich, dass das individuelle objet petit’a des Subjekts gegen diese Aggression des Nächsten geschützt wird. Welche konkreten Objekte unter den Schutz des Gesetzes zur Stabilisierung des sozialen Bandes fallen müssen, hängt von dem konkreten Phantasma ab, welches den Anderen des Rechts konstituiert. Allerdings ist die Beziehung zum Nächsten immer Gegenstand des Privatrechts. Beispielhaft lohnt sich eine Betrachtung von § 903 BGB (Befugnisse des Eigentümers): „Der Eigentümer einer Sache kann, soweit nicht das Gesetz oder Rechte Dritter entgegenstehen, mit der Sache nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen.“

Das „Belieben“, von dem die Norm spricht, enthält eine relativ unverschlüsselte Referenz zu einem Genießen, das sich aus psychoanalytischer Sicht nicht auf einen praktischen Nutzwert – wie z. B. mit einem Auto von A nach B zu kommen – reduzieren lässt. Es geht vielmehr darum, die symbolische Funktion der Sache als Gegenstand eines höchst persönlichen Genießens zu unterstreichen, d.h. selbst wenn ich das Auto gar nicht brauche, um eine Distanz zu überwinden – etwa weil mir noch drei andere Autos gehören oder weil ich gar keinen Führerschein besitze – kann ich meinen Anspruch auf das Auto dank § 903 BGB gegenüber allen anderen behaupten. Hierin besteht der Mehrwert des Eigentums, den Lacan mit dem an das objet petit’a geknüpfte Mehr-Genießen beschreibt. Liegt hier der psychologische Fehler des kommunistischen Rechtsverständnisses, welches offenbar genau diese Funktion des Mehr-Genießens im Eigentum unterminiert, indem es seine Zurodnung kollektiviert statt individualisiert? Fest steht jedenfalls, dass dieses von Praktikabilitätsaspekten isolierte „Belieben“, das das bürgeliche Recht garantiert, dem Subjekt eine Form von Anerkennung aus der Sphäre des Anderen garantiert, die es zu seiner psychischen Stabili170 Freud, Das Unbehagen in der Kultur, in: Fragen der Gesellschaft/Ursprünge der Religion, StA IX, S. 242.

158

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

sierung braucht. Der Kommunismus liegt allerdings aus psychoanalytischer Perspektive richtig, wenn er das Genießen des Eigentums im Kern als pathologisch erkennt. Schließlich ist auch das an das Eigentum geknüpfte Phantasma auf eine Leerstelle gerichtet, nämlich auf das letztlich unerfüllbare Begehren, einen strukturell bedingten Mangel aufzulösen. Die bürgerliche Rechtsordnung steht damit in einer engen Beziehung zu der phantasmatischen Grundlage, die das Subjekt in seinem Sein festigt. Lacans Name dieser legalen Funktion ist das objet petit’a, das im Rechtsdiskurs oft als Gerechtigkeit auftritt, welche aus dieser Perspektive allein den Sinn hat, die extimité des Rechtssubjekts zu schützen. Objet petit’a ist der phantasmatische Vermittler des Mangels im Anderen des Rechts. In der Interpretation des Begehrens ließe sich der Sinn des Rechts so in der Identifikation und Anerkennung der vorherrschenden sozialen Phantasmen der Rechtssubjekte formulieren. Der Andere fungiert damit als Lockvogel in Gestalt des objet petit’a, welches dem Subjekt durch den Schutz seines Phantasmas die Desillusionierung einer Illusion erspart.171 Da der symbolische Andere an sich mangelhaft ist und die täglichen strukturellen Fragen, welche das existentielle Trauma des gespaltenen Subjekts aufwirft, nicht adäquat beantworten kann, könnte das Recht – so die Konsequenz des vorangegangenen Arguments – keinen Glauben an die symbolische Autorität, welcher das soziale Band aufrecht erhält, produzieren. Das phantasmatische objet petit’a als Objekt des Rechts weist in Richtung einer Einheit und Vollständigkeit, die das Subjekt begehrt. Sucht man ein weiteres Symptom der phantasmatischen Struktur der legalen Funktion, bietet sich das verfassungsrechtliche Phänomen des Persönlichkeitsrechts post mortem an: Hierin zeigt sich noch deutlicher als in Bezug auf das Eigentum, dass das Recht bemüht ist, ungeachtet seiner Inkonsistenzen Glauben zu produzieren, indem es die Idee einer Gerechtigkeit propagiert, die über den Tod hinaus geht. Während das Eigentum auf externe Dinge bezogen ist, zielt das Persönlichkeitsrecht auf das Innerste des Subjekts (das was mehr in ihm ist, als sein selbst), weil es unseren narzisstischen Kern auf der sozialen Ebene des Rechts anerkennt. So zeigt sich, dass das bürgerliche Recht auch als der Ort von normativ fixierten Stabilisierungsmechanismen für ein Phantasma gelesen werden kann, das ständig durch die Invasion des Nachbarn im Rechtsstaat bedroht ist. Warum erscheint uns die christliche Ethik, welche propagiert, den Nächsten so zu lieben wie sich selbst (also alles mit ihm zu teilen etc.), so fern, wenn wir sie auf praktische Situationen des Alltagslebens anwenden sollen? Vielleicht weil das gesellschaftlich dominante Phantasma uns zwingt, unseren 171 Lacan, Introduction to the Seminar on the Names of the Father, in: Television: A Challenge for the Psychoanalytical Establishment, S. 87.

D. Recht als Erfahrung zwischen Signifikant und Objektbeziehung

159

innersten Seinskern auf das Eigentum oder einen sozialen Status etc. zu projizieren und wir uns mit seinem Untergang selbst untergehen sehen. Hierin liegt allerdings keine Kritik am bürgerlichen Recht, sondern das genaue Gegenteil: Weil es die Garantie des Genießens des Eigentums, des Persönlichkeitsrechts etc. gibt, ist das soziale Band stabil. IV. Die Paradoxien des moralischen Gesetzes (II): Kant mit Sade Lacan identifiziert zwei Schriften aus der Zeit der Aufklärung als Wendepunkt in der modernen Beziehung zum Moralgesetz: Kants Kritik der praktischen Vernunft und Sades La Philosophie dans le Boudoir. Ihre Bedeutung liegt für Lacan zunächst darin, dass sie eine Abkehr der Moral vom Lustprinzip repräsentieren, die auf dem rigorosen Ausschluss aller pathologischen Betrachtungen in der Evaluation des Moralgesetzes beruht. Dies überrascht zunächst, weil Sades Texte gemeinhin nicht mit der Bestimmung von Moral in Verbindung gebracht werden. Ihre Bedeutung liegt nach Lacan aber nicht lediglich darin, dass sie einen Antipol – etwa zu Kant – markieren, sondern dass sie offen legen, was bei Kants Moralbestimmung unausgesprochen oder verdrängt geblieben ist. Dieser Ansatz ist deutlich komplexer, als dies zunächst scheinen mag: Es geht nicht um die psychoanalytische Beschreibung des in der klassischen Rechtstheorie oft formulierten Grundsatzes, dass das Verbot der Triebbefriedigung und die damit einhergehende Minimierung von jouissance eine zentrale Funktionen des positiven Rechts sind, für die das Rechtssubjekt im Gegenzug (aufgrund eines Gesellschaftsvertrages) Sicherheit und einen gewissen Handlungsspielraum erhält, der regelmäßig durch die Freiheit des anderen begrenzt ist. Zwar stützt die Psychoanalyse nach Freud und Lacan diese These zunächst, indem sie das Inzestverbot als Ausgangspunkt in der Struktur des Vaterrechts beschreibt, welches durch die Operation des Signifikanten des Namens-desVaters aufrechterhalten wird und die symbolische Rechtsstruktur durch das Verbot einer vollen Befriedigung an den Objekten des Rechts prägt (das Begehren ist gerade nicht über die Garantie des Eigentums erfüllbar, weil subjektive Rechte nur eine Objekt-Ursache, aber nie das Objekt selbst sein können); der psychoanalytische Mehrwert liegt aber ganz woanders: Freuds Ausarbeitung des Über-Ichs (z. B. in Das Unbehagen in der Kultur) und Lacans Analyse des moralischen Gesetzes, in der er das Über-Ich mit den Imperativen Kants und Sades als einheitliche Formel liest, zeigen, dass die Beziehung zwischen Recht und Begehren oder Trieb durch vielfältige psycho-kausale Wechselbeziehungen geprägt ist. Im Folgenden sollen die Implikationen dieses Verständnisses nicht nur im Hinblick auf Ethik und Moral, sondern auch auf das institutionelle Recht herausgearbeitet werden.

160

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

1. Das Trauma des unerfüllbaren moralischen Gebots des Über-Ichs Ein Kernelement der Freudschen Theorie des Über-Ichs ist, dass das „Gesetz“, welches von ihm ausgeht, selbst ein Vehikel für die Befriedigung sadistischer Triebe und damit nach Lacan ein partikuläres Register von jouissance sein kann. Freuds grundlegende Idee ist, dass das Über-Ich ein Gesetz in das Subjekt einschreibt, sprich Autorität internalisiert, und dort als moralische Instanz agiert, welche auf die Beschränkung von Triebregungen gerichtet ist.172 Bei näherem Hinsehen offenbaren sich aber einige paradoxe Aspekte dieser internen moralischen Instanz: Es fragt sich, warum das Über-Ich gerade bei besonders moralischen Menschen am stärksten ausgeprägt ist und wohin die zensierten und abgelehnten Triebenergien gehen. Das Über-Ich scheint seine Kraft von den Trieben zu beziehen und damit eine spezifische Form der jouissance für das Subjekt zu gewinnen. Dies führt Lacan dazu, das Über-Ich anhand einer parallelen Lesart des kategorischen Imperativs Kants und dem Willen des Sadeschen Perversen zu untersuchen. Charakteristisch für das Über-Ich ist danach ein „Wille zur jouissance“, der eine spezifische Beziehung zu der traumatischen Struktur des Realen hat. Einführend soll zunächst eine Abgrenzung des „orthodoxen“ Verständnisses des Über-Ichs nach Freud zu Lacans „Korrektur“ dieser Auffassung erfolgen: Freud konzentrierte sich in der Beschreibung des Gewissenskonflikts vor allem auf das Es als Verkörperung des Unbewussten, das vom Lustprinzip regiert wird, sowie das Ich, das im Dienst des Realitätsprinzips steht und das Lustprinzip unter dieser Zielsetzung in seine Grenzen zu weisen sucht. Das Über-Ich als dritte innere Instanz wurde von Freud im Vergleich dazu eher vernachlässigt. Es entstand in seiner Vorstellung auch erst relativ spät, nämlich im Zusammenhang mit dem Untergang des Ödipuskomplexes, also im Alter von etwa vier bis fünf Jahren.173 Während bis dahin das Verhalten des Kindes durch Kastrationsangst und die Angst vor Liebesverlust gesteuert wurde, übernehmen nun Schuldgefühle und Gewissensbisse diese Funktion. Das Freudsche Über-Ich produziert Dinge wie „das Verbot“, „die Pflicht“ und „die Schuld“, sprich eine Reihe von Signifikanten, die ihren Platz in der symbolischen Ordnung haben. Lacan begreift das Über-Ich unserer Zivilisation demgegenüber als eine Instanz, die einen völlig anderen Imperativ propagiert: „Jouis!“ (Genieße!). Zwischen der Ethik des Begehrens und 172 Freud, Das Unbehagen in der Kultur, in: Fragen der Gesellschaft/Ursprünge der Religion, StA IX, S. 250 ff. 173 Freud, Das Ich und das Es, in: GW Bd. 13, S. 262.

D. Recht als Erfahrung zwischen Signifikant und Objektbeziehung

161

dem Über-Ich sieht Lacan somit eine radikale Ausschlussbeziehung. Mit anderen Worten: Lacan nimmt Freuds „ökonomisches Paradoxon“, sprich den Teufelskreis, den das Über-Ich charakterisiert, ernst: Je mehr wir uns den Imperativen des Über-Ichs unterwerfen, desto größer wird der moralische Druck, der von ihm ausgeht, desto schuldiger fühlen wir uns. Wurmser sieht im Über-Ich sogar eine Schicksalsmacht, die oft zu einem Botschafter des Verhängnisses wird. Aus dem Botschafter wird dann ein Richter, aus dem Richter ein Henker, und aus dem angeklagten Ich im Wege der Projektion schließlich der verurteilte und zu zerstörende Andere.174 Lacans radikale These ist, dass dieses Schuldgefühl keine Selbsttäuschung darstellt, die im Rahmen der psychoanalytischen Behandlung zurechtgerückt werden sollte, sondern dass wir tatsächlich schuldig sind. Das Über-Ich bezieht seine Energie, mit der es das Subjekt unter Druck setzt, nicht aus der Tatsache, dass das Subjekt seinem Begehren gefolgt ist, sondern aus dem genauen Gegenteil: dass es ihm untreu war. Unser Opfer, das wir dem Über-Ich darbieten, den Tribut, den wir gleichsam zahlen, erhöht nur unsere Schuld. Diese Schuld ist damit unbezahlbar: Je mehr wir sie zu begleichen suchen, desto mehr schulden wir. Žižek vergleicht das Über-Ich deswegen ähnlich wie Wurmser mit einem Henker, der uns langsam ausbluten lässt: Je mehr es bekommt, desto stärker hält es uns gefangen.175 Damit liegt das Gebot des Über-Ichs genauso in dem genauen Gegenteil von dem, was es von uns fordert: In der Transgression. Die unerträgliche Folge ist, dass die Schuld – wie Kafka in seiner berühmt-berüchtigten Erzählung In der Strafkolonie schreibt – „immer zweifellos“ ist.176 Diese Analyse des Über-Ichs hat weitreichende Implikationen sowohl für das Recht, als auch für den Rechtsdiskurs. Žižek entwickelt hieraus ein Konzept der inhärenten und unvermeidlichen Spaltung in der Funktion des Rechts, in welcher Gehorsam und Transgression verschmelzen. Hierauf wird im folgenden Kapitel ausführlicher eingegangen. Bis zu diesem Punkt kann man festhalten, dass sich das moralische Gesetz als Funktion des Unbewussten und des sozialen Bandes weder vollständig auf das symbolische Gesetz des toten Vaters bzw. die Kantische Pflicht (wofür der tote Vater letztlich steht) reduzieren, noch vollständig auf das sadistische Mandat der Stimme des Über-Ichs beschränken lässt. Die Funktion des Rechts muss deshalb im Hinblick auf beide Phänomene analysiert werden. 174

Wurmser, Flucht vor dem Gewissen. Analyse von Über-Ich und Abwehr bei schweren Neurosen, S. 14. 175 Žižek, Superego by Default, in: 16 Cardozo Law Review, S. 932 ff. 176 Kafkas Folterapparat erscheint darin wie eine metaphorische Darstellung des dreistufigen Psychismus aus Über-Ich, Ich und Es: Was käme dem Über-Ich näher als der „Zeichner“, welcher dem Verurteilten den Schuldspruch ins Fleisch ritzt?

162

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

2. Die Verschmelzung der Maximen Kants und Sades im Über-Ich Lacans These ist, dass sich das Über-Ich auf symbolische Imperative bezieht, denen ein sinnloser und blinder Charakter innewohnt. Dieser folgt aus der Unfähigkeit des Über-Ichs, die wahre Natur des Rechts adäquat zu erfassen. Bei Kant war dies der kategorische Imperativ: Die eigene universalisierbare Maxime ist das einzige gültige Kriterium. Bei Sade findet Lacan ebenfalls eine Maxime, die er wie folgt formuliert: „Ich habe das Recht, deinen Körper zu genießen, kann ein jeder mir sagen, und ich werde von diesem Recht Gebrauch machen, ohne dass irgendeine Schranke mich daran hindern könnte, diesen Lustsoll nach Belieben zu erpressen.“177

Der zentrale Punkt ist die Kantische Unterscheidung zwischen dem „Gesetz des Wohlseins“, das in Übereinstimmung mit dem Lustprinzip besteht, und dem „Gesetz des Guten“. Lacan verweist deswegen auf Kants Einwand gegen das „Gesetz des Wohlseins“, dass sich kein Phänomen auf eine dauerhafte Beziehung zur Lust gründen kann: „Kein Gesetz eines so verstandenen Wohls ließe sich so formulieren, dass das Subjekt, das dieses Gesetz in sein Handeln aufnähme, als Wille bestimmt würde. So wäre denn die Suche nach dem als Wohl verstandenen Guten eine Sackgasse, lebte das Gute nicht wieder auf, und zwar als Gegenstand des moralischen Gesetzes.“178

Das moralische Gesetz als Richtschnur unter den phantasmatisch-pathologischen Objekten geht folglich fehl, wird aber von Kant proklamiert als Wille jenseits des Lustprinzips, der sich auf das „reine Gute“ richtet. In der Kombination dieser antagonistischen Konzepte, oder genauer: in der Ergänzung des Kantischen Prinzips um die Sadesche Formel, erkennt Lacan eine Grundlage für eine weiterführende Konzeptualisierung des Freudschen Über-Ichs. So argumentiert Lacan, dass die „Stimme des Gewissens“ bei Kant „auto-affektiv“ ist, sprich von dem Subjekt selbst herrührt und damit erfahren wird, als käme sie aus dem „Nichts“, denn das Subjekt empfindet sich nicht als ihr Urheber.179 Dieser Aspekt fehlt oder wird in Sades „korrumpiertem“ kategorischen Imperativ des Genießens korrigiert: In dem angemaßten Recht über den Körper des anderen wird deutlich, dass die Stimme der Pflicht keinen auto-affektiven Charakter hat, sondern durch einen anderen auferlegt wird („kann ein jeder mir sagen“), und das heißt für Lacan: von dem großen Anderen. Das Subjekt in der Konfrontation mit 177

Lacan, Kant mit Sade, in: Schriften II, S. 138. Lacan, Kant mit Sade, in: Schriften II, S. 136. 179 Miller, A Discussion of Lacan’s ‚Kant avec Sade‘, in: Feldstein, Reading Seminars I/II, S. 222. 178

D. Recht als Erfahrung zwischen Signifikant und Objektbeziehung

163

dem Moralgesetz ist nicht das autonome „Subjekt der reinen Vernunft“, sondern tatsächlich gespalten (und deswegen auch tatsächlich schuldig). Diese Distanz oder Kluft zwischen den beiden Imperativen erscheint jedoch nur oberflächlich, denn der moralische Imperativ basiert auf exakt dem selben Prinzip, da auch sein Gebot vom Anderen herrührt. Sades Maxime ist lediglich „aufrichtiger“, da sie diesen Aspekt klar formuliert und es dementsprechend vermeidet, an eine Stimme im Inneren zu appellieren. Die Notwendigkeit der Sadeschen Ergänzung liegt folglich darin, dass sie die bei Kant unterschlagene Spaltung des Subjekts demaskiert.180 Die entscheidende Frage ist nun, ob diese Kluft zwischen Gesetz und Begehren überwindbar ist, sprich ob die „inhärente Transgression“, welche moralisches Handeln strukturell einschließt, überwindbar ist. Folgen wir dem moralischen Imperativ, fühlen wir uns schuldig, denn er vermittelt uns, dass unser Begehren in die entgegengesetze Richtung weist. Kant versucht deswegen, das Subjekt zu einer „reinen jouissance des Gesetzes“ zu führen, einem unbeschränkten Genießen der Maxime, die wir aus unserer Vernunft selbst entwickelt haben. Sades Ansatz ist auch auf die Überwindung der inhärenten Transgression gerichtet, indem er uns das „Gesetz der jouissance“ vorführt. Beide Ziele sind aber mindestens so utopisch, wie die „klassenlose Gesellschaft“ bei Marx: Die menschliche Natur kann ihren „Hang zum Bösen“ nicht einfach überwinden und damit die schmerzhafte Demütigung unseres natürlichen Egoismus (bei Kant) oder unseres ideal-moralischen Selbstverständnisses (bei Sade) ausschließen, welche moralische Imperative erzeugen. Der kategorische Imperativ hat seine Notwendigkeit damit aber nicht verloren, im Gegenteil: Als symbolische Norm ist er zwar unmöglich, aber doch strukturell – wie Žižek unterstreicht – notwendig. Eine Gesellschaft funktioniert gerade deshalb, weil sie einen Raum eröffnet, der zwischen der „völligen Unkenntnis moralischer Regeln und dem Fehlen von Verstößen gegen sie“ liegt.181 3. Die Spaltung des Subjekts als Grund der Zwiespältigkeit im moralischen Imperativ Die Spaltung des Subjekts bezieht sich auf die oben angesprochene Differenz zwischen dem Subjekt des Aussagens und dem Subjekt der Aussage, wie sie sich jedesmal vollzieht, wenn sich der Signifikant einschaltet.182 Sade verdeutlicht, dass Kants Subjekt des moralischen Gesetzes das Subjekt der Aussage ist, das sich durch die phantasmatische Vorstellung seiner rei180 181 182

Lacan, Kant mit Sade, in: Schriften II, S. 140 ff. Vgl. Žižek, Parallaxe, S. 82. Vgl. Kapitel 3 A. V. (Die Spaltung des Subjekts als Effekt des Signifikanten).

164

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

nen Vernunft definiert. Verschleiert wird damit, dass das moralische Gesetz als Aussage der Stimme eines (des) Anderen erscheint, die das Subjekt des unbewussten Begehrens spaltet. Das zentrale Problem der praktischen Vernunft als Bedingung des kategorischen Imperativs ist damit, dass sie das Subjekt als imaginäres Konstrukt auf das Subjekt der Aussage reduziert, sprich von einem Subjekt ausgeht, dass nicht von seinem eigenen Wissen in der Dichotomie des Bewussten und des Unbewussten abgeschnitten ist. Diese Spaltung spiegelt sich in der Bipolarität oder Zwiespältigkeit des moralischen Gesetzes, die sich bei Sade in dem direkten Verweis auf den anderen/Anderen findet. Die erkenntnistheoretische Essenz der kombinatorischen Betrachtung von Sadismus und Kantismus liegt so darin, dass die Beziehung des Subjekts zum moralischen Gesetz auf einer Teilung basiert, nach der das Gesetz einerseits als Ich-Ideal, eine symbolische Ordnung die das gesellschaftliche Leben reguliert und den Frieden aufrecht erhält, und gleichzeitig als obszönes Gebot der Transgression vom Über-Ich als dessen dunkle Innenseite erfahren wird. Im Übrigen funktioniert der Mechanismus der subjektiven Anerkennung der Autorität der Rechtsinstitutionen und des positiven Rechts parallel zum moralischen Gesetz, was dazu führt, dass – wie Žižek bemerkt – die periodische Übertretung des positiven Rechts sowohl ein integraler Bestandteil der gesellschaftlichen Ordnung ist, als auch als deren Stabilitätsgarant fungiert. Was soziale Gemeinschaften danach im Kern zusammenhält, ist weniger die Identifikation mit dem Gesetz, welches das Alltagsleben reguliert, als die Identifikation mit einer spezifischen Übertretung des Gesetzes, sprich der Aussetzung des Rechts, was innerhalb der psychoanalytischen Terminologie eine Form des Genießens beschreibt.183 Sadismus ist damit die dunkle, obszöne Kehrseite institutioneller Macht, die innerhalb des Systems keine offene Anerkennung finden darf, sondern als verdrängte subversive Kraft – und hierin zeigt sich erneut die paradoxe Ökonomie des ÜberIchs – im Dunkeln stattfinden muss. 4. Die Unsicherheiten gegenüber dem Objekt der moralischen Pflicht Eine weitere Vervollständigung des Kantischen Prinzips durch Sade sieht Lacan in Bezug auf das Objekt des moralischen Gesetzes. Im Gegensatz zu Kants (von Lacan unterstellter) elementarer Unsicherheit in dieser Frage gebraucht Sade das Bild vom Perversen, der sich vollständig darüber im Klaren ist, was das Objekt seiner Pflicht ist. Die moralische Erfahrung verfügt nicht über 183

Žižek, Superego by Default, in: 16 Cardozo Law Review, S. 926.

D. Recht als Erfahrung zwischen Signifikant und Objektbeziehung

165

„das Objekt, das Kant, um es in der Erfüllung des Gesetzes dem Willen zu unterwerfen, auf das Undenkbare des Dings an sich beziehen muss. Dieses Objekt, haben wir es nicht direkt vor uns in der Sadeschen Erfahrung, herabgestiegen aus seinem unzugänglichen Bezirk, enthüllt als Dasein, als das Agens der Qual?“184

Lacan analysiert das Moralgesetz in einer Beziehung zum Ding, welche Kant anerkennt und die gleichermaßen im Sadeschen Phantasma repräsentiert wird. Der Folterknecht ist darin gerade nicht das Subjekt der Pflicht, welche ja darin besteht, zu genießen. Diese liegt vielmehr beim Opfer. Der Folterknecht ist lediglich das Instrument, die Stimme der imperativen Befehle, die für das qualvolle Genießen der jouissance garantiert. In diesem Phantasma wird Kants Objekt, das sich kontinuierlich entzieht, präsent als das objet petit’a, zu dem sich der Sadesche Libertine versteinert. Was Sade – wie bereits angedeutet – nach Lacans Lesart von Kant offen legt, ist folglich, dass die Stimme des Imperativs nicht aus dem Nichts herrührt, sondern dass es sich um die Stimme der Triebe, sprich des sadistischen Über-Ichs handelt.185 Jenseits des gängigen Verständnisses als „Stimme des Gewissens“ konzeptualisiert Lacan das Über-Ich als die Stimme des Objekts des Anderen, die sich mit der Gewalt des kategorischen Imperativs an das gespaltene Subjekt des Unbewussten richtet und so das „Subjekt des Moralgesetzes“ produziert. Dies erstaunt auch in Bezug auf das klassische psychoanalytische Verständnis des Über-Ichs als den Trieben des Es entgegengesetzt. 5. Die Lösung des Rätsels vom göttlichen Genießen und der doppelte Vater im Subjekt Wer ist der Andere und was will er? Lacan geht davon aus, dass diese Frage für Kant nicht ohne Bedeutung war, sieht aber auch hier Sades Antwort näher am Kern: „Das Höchste Wesen in der Ordnung des Bösen“, was in letzter Konsequenz nur ein im Lacanschen Sinne realer Gott sein kann. Kant konnte diese Schlussfolgerung vermeiden, weil, wie Lacan bemerkt, das Christentum die Menschen dazu erzogen hatte, wenig darauf zu achten, wie es mit der Lust auf Seiten Gottes steht und womit er „die stoische Erfahrung an Ataraxie noch überbietet“.186 Kant ignoriert das göttliche Genießen, wohingegen Sade sich zum Instrument der jouissance eines dunklen 184

Lacan, Kant mit Sade, in: Schriften II, S. 142. Miller, A Discussion of Lacan’s ‚Kant avec Sade‘, in: Feldstein, Reading Seminars I/II, S. 222. 186 Lacan, Kant mit Sade, in: Schriften II, S. 143. Die Ataraxie (altgriechisch ataraxía „÷tarazûa“, von a-tárachos: „unerschütterlich“) war die Bezeichnung der Epikureer und Pyrrhoneer für das Ideal der Seelenruhe als Affektlosigkeit und emotionale Gelassenheit gegenüber Schicksalsschlägen und ähnlichen Außeneinwirkungen, die das Glück des Weisen (Eudaimonie) gefährden. 185

166

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

Gottes macht, von welchem die Stimme des Über-Ichs herrührt. Auf der Grundlage von Freuds Theorie von der Entstehung des Monotheismus schließt Lacan, dass die Stimme des Über-Ichs letztlich die Stimme des Urvaters ist, der in der parallelen Lesart von Kant und Sade die Form des Über-Ichs angenommen hat. Die symbolische Funktion des toten Vaters der Urhorde ist der Namedes-Vaters. Das Entscheidende ist allerdings, dass die Struktur der legalen Funktion damit nicht abschließend beschrieben ist, denn ein Phänomen im Subjekt des Unbewussten ist, dass sowohl der gewalttätige, unangefochten genießende Urvater, als auch der symbolische tote Vater nebeneinander existieren. Für die Frage nach der subjektiven Beziehung zum moralischen wie positiven Gesetz ist nun entscheidend, wie sich der Urvater in die symbolische Ordnung einschreibt. Ein zentraler Aspekt für das Verständnis des Über-Ichs ist, dass Lacan seine Entstehung mit dem Urvater in Beziehung setzt. Der Urvater ist das „Überbleibsel“ der Integration des toten Vaters in das symbolische Universum über den Namen-des-Vaters. Dieses Überbleibsel kehrt in Form einer obszönen, rachsüchtigen Figur eines Vaters zurück, der für ein uneingeschränktes Genießen jenseits des Gesetzes steht.187 Hierin besteht die reale Dimension Gottes, eines Vaters der nicht weiß, dass er tot ist und dessen Genießen genau deswegen grenzenlos ist.188 Auf dem Grund des moralischen Gesetzes, dem Ort des Guten, liegt folglich das paradoxe Phantasma einer Person, die weder existent, noch dem Gesetz unterworfen ist, und die als Objekt-Ursache – als objet petit’a – in Beziehung zum Begehren steht. Sie tritt als Stimme des Über-Ichs in die subjektive Erfahrung mit dem kompromisslosen Gebot des Genießens ein. Das ÜberIch steht damit in einem harten Spannungsverhältnis zum symbolischen Gesetz, welches sich auf den toten Vater bezieht. Es kennt selbst keine Pflicht, denn der Urvater steht über allen Pflichten.189 Was ist der Wille dieses Anderen, der das Subjekt mit dem moralischen Gesetz konfrontiert? Lacans radikal auf Sade bezogene Antwort ist, dass das moralische Gesetz das Gebot: „Jouis!“ („Genieße!“ oder „Komm!“) zu ent187 Žižek, Looking Awry: An Introduction to Jacques Lacan through Popular Culture, S. 78. 188 Diese Position muss als metaphorisches Psychogramm nicht theologisiert werden. Tut man es trotzdem, setzt man sich zwar möglcherweise dem Vorwurf der Blasphemie aus, findet aber gleichzeitig eine Antwort auf die Frage nach dem Grund für eine Reihe von narzisstischen oder grausamen Verhaltensweisen des alttestamentlichen Gottes. Liest man die Thora wiederum unter der Prämisse, dass der Gott den Menschen nach seinem Bilde schuf, wird das Alte Testament zu einem präzisen Spiegel der dualen Struktur des Vaters, auf die es Freud und Lacan ankommt. 189 Miller, A Discussion of Lacan’s ‚Kant avec Sade‘, in: Feldstein, Reading Seminars I/II, S. 223.

D. Recht als Erfahrung zwischen Signifikant und Objektbeziehung

167

halten scheint. Dem kann das Subjekt nur mit „J’ouïs!“ („Ich höre!“) antworten, und in dieser Antwort ist das vollständige Anerkenntnis des Gebots der jouissance enthalten.190 Das Über-Ich, verbunden mit der Stimme der Triebe, strebt nach jouissance. Dies zeigt sich deutlich bei Sade, wo der Folterknecht – als personifizierte Stimme des perversen Über-Ichs – endloses Genießen sucht und dabei zu immer extremeren Mitteln greift.191 So zeigt sich, dass der Wille, welcher Kants Imperativ prägt, nicht der unabhängige Wille des vernünftigen Subjekts ist, sondern (auch) der Wille des Genießens des Sadeschen „Höchsten Wesens in der Ordnung des Bösen“ oder Freuds Urvaters. Für Sade ist dieser Wille nicht lediglich auf eine Befriedigung der Triebe gerichtet, sondern auf die Zerstörung des Subjekts. Dieser Zerstörungswille bezieht sich nicht nur auf den lebenden Körper als Spiegel des Naturgesetzes, welches sich in kontinuierlicher Generation und Degeneration äußert. Vielmehr bezieht er sich auf die radikale Eliminierung nicht nur der Natur, sondern auch ihrer Symbolisierung und muss so als Reaktion auf das Leiden des Subjekts am Symbolischen verstanden werden, in dem das Subjekt nicht anders als gespalten und entfremdet existiert. Hieraus folgt, dass der im Über-Ich zum Ausdruck kommende Wille das exakte Äquivalent des Freudschen Todestriebs darstellt. So weist Žižek darauf hin, dass das ÜberIch als Stimme der Triebe und insbesondere des Todestriebes nichts anderes als die präzise Konzeptualisierung des Sadeschen Begriffes vom „zweiten Tod“ ist, der Möglichkeit einer vollständigen Auslöschung jeder historischen Tradition, welche durch den Prozess der Symbolisierung und Historifizierung als dessen radikale, selbstzerstörerische Begrenzung eröffnet wird.192 So stellt Lacan eine Übereinstimmung zwischen Kant und Sade hinsichtlich der Grenze der moralischen Erfahrung fest, die auch die Grenze des ÜberIchs darstellt: Ein unerträgliches Genießen. 6. Zwischenergebnis zur Natur des moralischen Gesetzes aus „Kant mit Sade“ Nach dem klassischen Verständnis der Über-Ich-Instanz liegt die Forderung an das Subjekt darin, sich von Gedanken und Handlungen fernzuhal190 Lacan, The Subversion of the Subject and the Dialectic of Desire, in: Écrits: A Selection (Fink), S. 306 (Rn. 821). 191 Wenn man die Ebene der allgemeinen Beschreibung der Über-Ich Problematik verlässt, zeigt sich eine Parallele zu dem Fall des gescheiterten Untergangs des Ödipuskomplexes, in der das Gesetz des Verzichts, d.h. auch: die Unmöglichkeit des ungetrübten Genießens außerhalb des Phantasmas, nicht vom Subjekt anerkannt wird und deswegen oft Symptome einer Sucht-Struktur zur Folge hat und letztlich zur Zerstörung des eigenen Körpers führt. 192 Žižek, The Sublime Object of Ideology, S. 135 ff.

168

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

ten, die auf eine Erfüllung von Wünschen gerichtet sind. Lacan behauptet nun aber, dass es den unbedingten Genuss fordert. Dieses Paradoxon löst sich in der Analyse dessen auf, was in dem „Exerzieren des Moralgesetzes“ genossen wird und was mit der jouissance, die das Subjekt dem Gebot des Über-Ichs darbietet, passiert. Die jouissance, welche durch das Gebot gefordert wird, ist in erster Linie nicht diejenige des Subjekts, sondern die des Anderen, und das heißt hier: des Urvaters. Wie kommt das Über-Ich dazu, diese jouissance zu genießen? Es tut dies, weil es sich durch die zurückgehaltene jouissance als Entsagung der libidinösen Wünsche des Subjekts nährt. Diese jouissance verschwindet nicht einfach, sondern sie geht über auf den realen Anderen, wie er durch das Über-Ich repräsentiert wird. Miller merkt hierzu an: „Das Über-Ich fordert nicht nur die Entsagung gegenüber der Forderung der Triebe nach Befriedigung, sondern es nährt sich heimlich von der entsagten Befriedigung.“193

Die Forderung des Über-Ichs, welches sich auf den Urvater gründet, hat damit nichts mit dem moralischen Gesetz nach seinem klassischen Verständnis zu tun. Schlimmer noch: Es genießt selbst was es verbietet, indem es einen sadistischen Willen gegenüber dem Subjekt durchsetzt, um sich fortwährend steigernde libidinöse Opfer zu erzwingen. Dabei sammelt es diese entsagte jouissance als Kraft seines brutalen Willens. So erklärt sich Freuds Beobachtung, dass diejenigen, welche eine hohe moralische Motivation zeigen, am stärksten unter dem Über-Ich leiden. Die Sadesche Ergänzung des kategorischen Imperativs zeigt, dass die Struktur der jouissance, welche innerhalb des Moralgesetzes des Über-Ichs operiert, exakt derjenigen der Perversion entspricht. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass sich das Subjekt zum Instrument der jouissance des Anderen macht, mit dem Ziel, eben diese zu garantieren. Lacan unterstreicht, dass der Andere frei ist und dass der Diskurs vom „Recht auf Lusterfüllung“ diese Freiheit zum Subjekt seines Aussagens macht. Dieser Diskurs wirkt jedoch nicht weniger bestimmend für das Subjekt der Aussage, „indem er es bei jedem Anruf aus seinem äquivoken Inhalt heraustreibt.“194 Der Perverse arbeitet in der Vorstellung, dass diese Lust des Anderen existiert und dass er durch sein Tun im Dienste dieses Anderen an dessen jouissance teilhaben kann, indem er mit ihm die Plätze tauscht. Das eigentliche Problem mit diesem Phantasma besteht darin, dass sich die Existenz dieses Anderen – der nicht mit dem der symbolischen Ordnung übereinstimmt – in 193 Miller, A Reading of Some Details in Television in Dialogue with the Audience, in: 4 Newsletter of the Freudian Field (1–2), S. 14. 194 Lacan, Kant mit Sade, in: Schriften II, S. 141.

D. Recht als Erfahrung zwischen Signifikant und Objektbeziehung

169

der subjektiven Erfahrung nicht bestätigt. Wie sehr sich der Perverse auch in seinen Dienst stellen mag, sein Treiben bleibt „umsonst“. Die jouissance des Über-Ichs als Erfahrung des moralischen Gesetzes hat damit die Struktur des Opferns von Lust auf Seiten des Subjekts mit dem Zweck, die Lust des Anderen – der hier mit einer metaphysisch strukturierten Autorität zusammen fällt – zu garantieren, in die das Subjekt natürlich einbezogen ist. Hierin besteht die andere Seite des Moralgesetzes, die Perversion der Pflicht, aus welcher sich die Libido nährt, welche dem toten Vater, repräsentiert durch Gott, den Monarchen oder staatlichen Souverän geopfert wird.195 Das moralische Subjekt, welches sich dem Über-Ich unterwirft, tut dies aus einem Grund: Es entsagt seinem Genießen und dieses Opfer signifiziert, dass wir in den Objekten unseres Begehrens Beweise für die Präsenz dieses Anderen suchen, den Lacan hier den „dunklen Gott“ nennt.196 Hierin liegt das Paradoxon des Genießens des Über-Ichs verborgen, nämlich in dem Opfer von jouissance, einem widersprüchlichen MehrGenießen, das sich aus dem Versuch ableitet, die Lust des inexistenten Anderen zu beweisen und ihr zu dienen. Das Genießen des Über-Ichs ist somit – wie jede Form der jouissance – ein Genießen im Leiden, aber es ist ein grenzenloses Leiden, das nur durch die Ohnmacht des Subjekts zu einem Ende gelangen kann, denn das ÜberIch kennt selbst keine Grenze. In ihm verschmelzen Triebe und Pflicht und lassen das in der symbolischen Ordnung unmögliche, verbotene Genießen zu einer tatsächlichen Möglichkeit werden, die für das Subjekt im Dienste des inexistenten Urvaters zu einer qualvollen Notwendigkeit wird. Es handelt sich folglich um ein Genießen aus der Unterwerfung unter das Moralgesetz, welches das Verbot des symbolischen Gesetzes zu stürzen versucht. Die Konsequenz für das psychoanalytische Verständnis des Rechts ist, dass seine unbewusste Struktur auf einer Dualität beruht, die sich präzise in dem Zusammenwirken der Imperative Kants und Sades widerspiegelt: In ihnen zeigt sich eine Teilung des Gesetzes in ein Ich-Ideal – die symbolische Ordnung, welche das gesellschaftliche Leben reguliert und den sozialen Frieden aufrecht erhält – und dessen obszöne Kehrseite des ÜberIchs.197

195 Miller, A Discussion of Lacan’s ‚Kant avec Sade‘, in: Feldstein, Reading Seminars I/II, S. 224. 196 Lacan, The Seminar XI: The Four Fundamental Concepts of Psychoanalysis, S. 275. 197 Žižek, The Metastases of Enjoyment, S. 55.

170

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

V. Die Spaltung in der Funktion des Rechts Aus Lacans zahlreichen Anmerkungen und Betrachtungen zum Recht und zum Gesetz, vor allem aber aus Kant mit Sade hat Žižek eine Analyse der inhärenten Spannungen vorgestellt, welche sich durch das institutionelle Recht ziehen und es mit einem transgressiven, subversiven Genießen überschatten, dessen Ursprung auf das Über-Ich zurückzuführen ist. Ausgangspunkt dieser Untersuchung ist die duale Funktion des Rechts, in der auf der einen Seite das Gesetz der métaphore paternelle steht, welches als Verbot des Genießens fungiert. Sein Agent ist der symbolische Vater; der Signifikant dieses Gesetzes ist der Herrschaftssignifikant. Dem steht das Gesetz des Urvaters gegenüber, dem Vater des unbeschränkten Genießens, der sich über das sadistische Über-Ich und seinen kategorischen Imperativ in die Erfahrung des Subjekts einschreibt. Auf der Grundlage dieser beiden zusammentreffenden, aber gleichzeitig konkurrierenden Lacanschen „Rechtskonzepte“ entwickelt Žižek eine eigene Theorie des institutionellen Rechts. Anders als Legendre geht es ihm nicht darum, eine Fundierung des institutionellen Rechts und des Rechtsdiskurses mit einem spezifischen Signifikanten des Namens-des-Vaters (wie z. B. Werte, Demokratie, Liberalität, Marxismus etc.) darzustellen. Žižek unterstreicht demgegenüber, dass die modernen Rechtssysteme beide Funktionen der Lacanschen Gesetzeskonzeptualisierung beherbergen, die in einer dialektischen Beziehung zueinander stehen. Das Problem besteht nicht darin, das Recht des symbolischen Vaters vor dem Genießen des Urvaters zu schützen, sondern vielmehr darin, dass „das Recht der Gesellschaft als eine Art Ansammlung neutraler Regelungen, das die ästhetische Selbstschöpfung ausgrenzt und uns einen großen Teil unseres Genießens im Namen der Solidarität abverlangt, selbst schon von dem obszönen, pathologischen Mehr-Genießen durchdrungen ist.“198

Das perverse Gesetz des Über-Ichs und das gesellschaftskonstituierende, institutionelle Recht sind danach strukturell vermengt, d.h. es gibt nicht den symbolischen Vater ohne den obszönen, genießenden Urvater in der Rechtsordnung. Die Rechtsfunktion in der in ihrem phantasmatischen Bezug auf den autoritären Vater gestützten legalistischen Rechtsordnung ist damit gespalten, wobei das Gesetz des Über-Ichs die ultimative Stütze des institutionellen Rechts darstellt. So wie Freud und Lacan die Funktion des Gesetzes von dem Mord am Urvater ableiten, der sich dann als Autorität des toten Vaters fortsetzt, verortet auch Žižek den Grund des institutionellen Rechts in einen trauma198 Žižek, Looking Awry: An Introduction to Jacques Lacan through Popular Culture, S. 159.

D. Recht als Erfahrung zwischen Signifikant und Objektbeziehung

171

tischen Gewaltakt, der sich nicht aus dem Feld des Rechts ausschließen lässt. Auf dem Grund unserer Rechtsordnung liegt die Figur des Urvaters, und nur durch den gewalttätigen Akt des Brüderclans konnte das symbolische Gesetz installiert werden; dies hält den Rechtsstaat aber nicht davon ab, die Realität der rohen Gewalt weiterhin als systembildenden Faktor aufrechtzuerhalten. Als solches ist jeder Rechtsstaat auch auf diesen Gewaltakt gegründet, den er aber verbergen muss, um an der Oberfläche das Bild einer neutralen Autorität aufrechterhalten zu können. Der traumatische Kern wird deswegen regelmäßig verleugnet. Der illegitime Gewaltakt, durch den sich das Recht aufrechterhält, muss um jeden Preis verschleiert werden, denn eben diese Verschleierung ist die positive Bedingung einer funktionierenden Rechtsordnung. Sie basiert insofern auf einer Täuschung der Rechtssubjekte, als diese die Gesetzeskraft als „authentisch“ und „ewig“ erleben, denen aber die Wahrheit der Usurpation verborgen bleibt.199 Der Versuch des Rechtsstaates, sich durch diese Verschleierung Legitimität zu verschaffen, geht fehl, denn die Teilung der „legalen Funktion“ kehrt immer in Form des obszönen Über-Ichs zurück. Hinter dem Herrschaftssignifikanten (S1), dem Gesetz in seiner neutralen, befriedenden, überlegten und erhabenen Form steht immer die Stimme, welche am Begehren rührt und vom Subjekt das bedingungslose Genießen verlangt.200 Die Spaltung ist für das Recht konstitutiv, der gesetzlichen Ordnung des Rechtsstaates haftet immer der Mangel im Anderen, die obszöne Seite des Über-Ichs an, welche Gewalt und Niedertracht verkündet. Žižek argumentiert, dass diese dunkle Seite des Rechts in totalitären Rechtssystemen die Oberhand gewonnen hat. Das Gesetz ist nicht „tot“, sondern es propagiert offen das perverse Genießen des Urvaters. Ein Beispiel aus der jüngeren Geschichte sind etwa die Nürnberger Rassegesetze, welche das Sadesche Prinzip auf die Ebene des positiven Rechts erhoben hatten, indem die Juden zum Gegenstand des Genießens der „Arier“ erklärt wurden. Das Problem der obszönen Kehrseite des Rechts ist allerdings, dass auch der Rechtsstaat sich seiner nicht vollständig entledigen kann. Wenn es ihm nicht gelingt, den traumatischen Kern auf der Ebene der sozialen oder politischen Auseinandersetzung und des Rechtsdiskurses zu verhüllen, muss das Recht etwas anderes produzieren, um das soziale Band zu vermitteln: „Woher kommt die Spaltung des Rechts in das geschriebene positive Recht und seine Kehrseite, den ungeschriebenen, obszönen Geheimcode? Von dem unvollständigen, nicht allumfassenden Charakter des positiven Rechts: Positive Regelun199 Žižek, The Limits of the Semiotic Approach to Psychoanalysis, in: Feldstein/ Sussman, Psychoanalysis and . . ., S. 95. 200 Žižek, The Limits of the Semiotic Approach to Psychoanalysis, in: Feldstein/ Sussman, Psychoanalysis and . . ., S. 97.

172

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

gen sind ungenügend, deswegen müssen sie durch einen heimlichen, ungeschriebenen Code untermauert werden, der sich an diejenigen richtet, welche – obwohl sie kein positives Gesetz brechen – eine innere Distanz aufrecht erhalten und sich nicht vollständig mit dem Geist der Gemeinschaft identifizieren.“201

Nicht das positive Gesetz liefert somit die Fundierung des Rechts, sondern seine vom Über-Ich ausgehende dunkle Kehrseite. Hierin liegt die radikalste Dimension des Rechts, nämlich in dem Gebot des Genießens, welchem es unmöglich ist zu folgen.202 In der Konsequenz dieses Gedankens liegt eine radikale Betrachtung des Rechts als „Schein“ und „nicht-allumfassend“. Das soziale Band hat danach selbst einen traumatischen, perversen Kern. Žižek greift Lacans fundamentale These auf, dass das Gesetz „tot“ sei und der Name-des-Vaters als eine Art „Hochstapler“ fungiere, der notwendig sei, um der symbolischen Ordnung ein (unmögliches) Fundament zu liefern. Diesen Gedanken ergänzt er um die Hypothese, dass nur das objet petit’a als Objekt-Ursache des dunklen Begehrens des Über-Ichs in der Lage ist, diese Unmöglichkeit zu verschleiern. Das Über-Ich kann diese Funktion deswegen einnehmen, weil es auf dem Grund der symbolischen Ordnung = )] nicht allumfassend, son(die wegen der Existenz des Signifikanten [S(A dern mangelhaft ist) einen sinnlosen, traumatischen Imperativ einschreibt, welcher auf der Ebene des Unbewussten das soziale Register der Rechtszeichen als etwas erscheinen lässt, dem es zu folgen und an das es zu glauben gilt. So kommt Žižek zu einem Phänomen, das er als den ideologischen Moment bezeichnet, in welchem die Erfahrung der „Unvollständigkeit des Sozialen“ durch die „Produktion von Bedeutung“ kaschiert wird. Diesen Moment bringt die Stimme des Über-Ichs hervor, welche die Inkonsistenzen in der Erfahrung des Rechts zu einer Form von Bedeutung verknüpft. Im Hinblick auf diese Stimme auf dem Grund der Aussagen des positiven Rechts unterstreicht Žižek, dass dieses „Überbleibsel“ – welches weit davon entfernt ist, die vollständige Unterwerfung des Subjekts unter das ideologische Gebot zu verhindern – seine eigene Bedingung ist: Es ist genau dieser unintegrierbare Überschuss eines sinnlosen Traumatismus, welcher dem Gesetz seine bedingungslose Autorität verleiht.203 Ungeachtet der Tatsache, dass die Funktion des Gesetzes dieser fundamentalen Spaltung unterliegt, besteht eine vom Moralgesetz des ÜberIchs ausgehende Verknüpfung der beiden Register, welche über das Begehren des unbegrenzten Genießens den Rechtsstaat als eine „ideologische Realität“ zusammenhält. Mit Verweis auf Alain Juranville schreibt Žižek, 201 202 203

Žižek, The Metastases of Enjoyment, S. 53-4. Žižek, Enjoy your Symptom!, S. 182. Žižek, The Sublime Object of Ideology, S. 43.

D. Recht als Erfahrung zwischen Signifikant und Objektbeziehung

173

dass das Über-Ich als obszönes Gesetz, welches das Genießen fordert, dem „wahren“ symbolischen Gesetz gegenübersteht, dem wir uns durch den Ruf des authentischen Anderen jenseits narzisstischer Verzerrungen öffnen: „Aus unserer Perspektive ist allerdings diese Gegenüberstellung von dem „richtigen“ symbolischen Gesetz und seiner „pathologischen“ Kehrseite der Über-IchVerzerrungen die eigentliche ideologische Operation (oder „idealistische Verfälschung“), die es zu vermeiden gilt: Die fundamentale Erkenntnis der Psychoanalyse liegt genau darin, dass es kein Recht ohne das Über-Ich gibt – das Über-Ich ist der strukturell unvermeidbare Fleck, die schattenhafte Ergänzung des „reinen“ symbolischen Rechts, die diesem die notwendige phantasmatische Unterstützung liefert.“204

Für Žižek ist damit die Tautologie, dass das „Gesetz das Gesetz“ ist, notwendig auf die „sinnlose“ Aussage des Über-Ichs von seiner imperativen Natur gegründet.205 Weil das Gesetz des Über-Ichs somit ein integraler Bestandteil des symbolischen Rechts ist, gründet sich auch das soziale Band nicht vorrangig auf den Herrschaftssignifikanten des institutionellen, positiven Rechts, sondern auf das pervers-transgressive Genießen, welches den Imperativen des Über-Ichs folgt. Auch für den Neurotiker (Lortie, Schreber), der sich mit dem Namen-des-Vaters identifiziert, ist der vorherrschende Charakter des Gesellschaftlichen als Band eines transgressiven Genießen notwendig: Das Über-Ich nährt sich aus unserer Schuld, d.h. dem Preis für die Schuld, welche wir aufnehmen, indem wir unser eigenes Begehren im Namen der Aufrechterhaltung des Guten betrügen. Mit anderen Worten: Das Über-Ich ist die notwendige Kehrseite des Ich-Ideals, der ethischen Normen, welche sich auf das Wohlergehen der Gemeinschaft stützen.206 Auf dem Grund der Rechtsordnung liegt eine Spaltung in eine neurotische Seite des symbolischen Vaters und des Herrschaftssignifikanten, auf welche der Rechtsstaat gegründet ist, und in eine Seite, auf der der Urvater steht, der das transgressive Genießen in die gemeinsame gesellschaftliche Erfahrung einführt. Verkennt Kant also die Psyche, wenn er über die Einsetzung des kategorischen Imperativs eine Idealgesellschaft entwirft, in der die Menschen ihren natürlichen „Hang zum Bösen“ überwinden und in der Moral und triebhafte Natur nicht mehr als schmerzhafte Demütigung und Erfahrung des Realen erlebt würden? Nach der hier dargestellten Theorie muss man diese Frage sicherlich bejahen, wobei man nicht vergessen sollte, dass auch für Kant das radikal Böse niemals vollständig zu beseitigen ist. Trotzdem: Jede „real existierende“ moderne Gesellschaft ist ein Kompromiß zwischen zwei 204 205 206

Žižek, The Pleague of Fantasies, S. 241. Žižek, The Pleague of Fantasies, S. 37. Žižek, The Metastases of Enjoyment, S. 69.

174

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

Extremen. Diese liegen – wie Žižek aktuell unterstreicht – in der völligen Unkenntnis moralischer Regeln einerseits und dem Fehlen von Verstößen gegen sie andereseits.207 Es kommt darauf an, dass dieser Kompromiß aktiv, d.h. in Anerkenntnis der doppelten Vaterschaft geschlossen wird. Das bedeutet wiederum nicht, dass es einen rechtlichen Freiraum als „Reich des Urvaters“ geben darf, wie dies etwa durch die schon erwähnten Nürnberger Rassegesetze geschehen war. Kants Ethik ist ein notwendiger Teil der symbolischen Ordnung, denn symbolische Normen sind zwar unmöglich (ganz) zu befolgen, aber dennoch notwendig. Der Kompromiß geht folglich dahin, den Drang zur Transgression als Teil der Natur des Rechtssubjekts anzuerkennen. Hierin liegt auch das entscheidende Argument für den liberalen Rechtsstaat und gegen den moralischen wie politischen Totalitarismus. Kants überragende Bedeutung für die Fortentwicklung der Ethik liegt auch für Lacan letztlich darin, dass er die Dialektik zwischen Gesetz und Begehren, die Paulus mit dem Satz „Ich hätte die Sünde nicht erkannt, außer durch das Gesetz“ beschreibt, zu durchbrechen sucht, indem er den Raum der inhärenten Transgression im moralischen Handeln – im Rahmen einer idealistischen Theorie – ausblendet. VI. Das Objekt im sozialen Band und im Rechtsdiskurs Ausgangspunkt für das Verständnis der Objekte des Rechts innerhalb ihrer Position im sozialen Band ist wieder Lacans Beobachtung des Mangels in der symbolischen Ordnung, ihrer inhärenten Fehlfunktion, welche das Verhältnis des Signifikanten des Namens-des-Vaters zu den folgenden, von ihm ausgehenden Signifikationsketten bestimmt. Der Mangel im „symbolischen Anderen des Rechts“ führt dazu, dass das Subjekt des Unbewussten gehalten ist, diese Lücke durch ein reales, nicht symbolisches Objekt zu schließen. Aus der bisherigen Erörterung der Objekte lassen sich drei Hypothesen ableiten, in denen das spezifische Verhältnis des Subjekts zum Objekt jeweils mit einer partikulären Struktur der symbolischen (Rechts-)Ordnung verknüpft ist: (1) Erscheint das Ding – innerhalb des sozialen Bandes um den Mangel auszufüllen, führt dies zu Aggressivität, einem Zusammenbruch des symbolischen Universums. Es handelt sich hierbei um die subjektive Erfahrung der Unerfüllbarkeit des Begehrens innerhalb des Symbolischen. Das Recht erscheint ungerecht und inadäquat, die Erwartungen des Subjekts zu erfüllen. 207

Žižek, Parallaxe, S. 82.

E. Die psychoanalytische Seite des Rechts in Lacans Diskurstheorie

175

(2) Füllt objet petit’a die Lücke, ist die Wirkung eine stabilisierende, welche geeignet ist, eine demokratische Ordnung zu stützen. Der Grund hierfür liegt darin, dass die Erfahrung der Rechtsordnung durch das Phantasma eines erfüllbaren Begehrens geprägt ist. Objet petit’a steht vor dem traumatischen Ding und schirmt das Rechtssubjekt vor dessen abgründiger Leere ab. (3) Im Falle des Auftretens des Über-Ichs bringt dies eine Tendenz zum Totalitarismus mit sich. Dies folgt aus dem Druck, den das Rechtssubjekt in der Erfahrung des Über-Ichs erlebt und dem es durch radikale Maßnahmen, die auf der Ebene des Rechts in einer verschärften Gesetzgebung (wie z. B. in sog. Notstandsgesetzen) stattfinden, zu entkommen sucht. Der latente Sadismus, der sich in dieser Operation widerspiegelt, kann als empirischer Beleg für Lacans Verknüpfung von Sades und Kants Maximen im Über-Ich dienen. Eine definitive Aussage lässt sich allerdings ungeachtet der Variationsmöglichkeiten bezüglich der Artikulation der symbolischen Funktion des Rechts und seinen Objekten treffen: Das soziale Band und die Rechtsordnung sind direkt auf das Genießen des Objekts und die Struktur der Signifikanten im Symbolischen bezogen. Vorausgesetzt, dass der Andere mangelhaft ist und dass der postmoderne Zeitgeist einen Verfall der Glaubensstrukturen – Legendres „Hypermodernität des Rechts“ – mit sich gebracht hat, erscheint das Recht nun als eine direkt auf das Genießen des Subjekts bezogene Angelegenheit. Die Notwendigkeit des Schmiedens eines sozialen Bandes ist damit zur Folge einer „Krise im Realen“ geworden, denn die Objekte des Genießens entziehen sich grundsätzlich der Symbolisierung. Auch der Rechtsdiskurs – der sich auf den Signifikanten des Namens-desVaters als symbolische Garantie stützt – arbeitet deswegen mit den Objekten des Rechts.

E. Die psychoanalytische Seite des Rechts in Lacans Diskurstheorie Indem er darauf verweist, dass eine soziale Struktur erst durch diskursive Interaktion entstehen kann, bezieht sich Lacan auf die Essenz oder Grundstruktur des Gesellschaftlichen an sich. Der Gedanke, dass der (oder einer der) Diskurs(e) als Primärebene der sozialen Phänotypen des Rechts fungiert, hat eine Parallele bei Jürgen Habermas, der der Diskursanalyse ebenfalls einen zentralen Platz im Verständnis sozialer Strukturen einräumt. Dabei entwickelt Habermas eine „Diskursethik“, die er als eine „deonto-

176

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

logische, kognitivistische, formalistische und universalistische Ethik“ beschreibt.208 Im Gegensatz zu Habermas, der Regeln eines hypothetisch-imaginären Diskurses als Instrument der Produktion von positivierbarer Legitimität vorschlägt, liegt das Interesse Lacans dagegen im Wesentlichen in der Analyse der Interaktion bewusster und unbewusster Determinanten, ohne dass dabei Wege aufgezeigt werden sollen, die dazu führen können, das Gesellschaftliche insgesamt – etwa innerhalb einer Rechtsordnung – „zurecht zu rücken“. Vielmehr soll Lacans Ethik dem individuellen Subjekt in der Gesellschaft die Möglichkeit geben, einen Weg durch die Invasion der Signifikanten der Symbolischen Ordnung des Anderen zu finden und sich von dem Über-Ich Dogma des (neurotischen) Genießens zu befreien. Der Habermassche Diskurs ist dagegen Teil dessen, was Lacan dem Imaginären und dem Symbolischen zuordnet. Sein Ziel ist die Produktion von neuen Signifikanten. In der Diskursanalyse sind die Rechtsdiskurse Teil eines sozialen Gesamtdiskurses, ein Subsystem. Bei Lacan liegt der Fokus auf den psychischen, auf den Umgang mit dem Begehren des Rechtssubjekts bezogenen Kriterien. „Recht“ ist aber mehr als nur Teil eines Systems, es ist Generator einer Metastruktur des Gesamtsystems, wonach die diskursive Strukturierung des Real-Faktischen die „psychoanalytische Seite des Rechts“ beschreibt: „[Wir wollen] die Frage nach der anderen Seite der Psychoanalyse stellen und ihr vielleicht genau den Status geben, der mit dem Begriff des Juridischen bezeichnet wird. Dies hat sicherlich schon immer die Struktur des Diskurses bis in ihre kleinsten Details betroffen. Wenn das nicht das Recht ist, nämlich die Berührung der diskursiven Strukturierung der realen Welt, wo kann es liegen?“209

Rechtsdiskurs findet grundsätzlich in institutionalisierter Form statt. Diese organisiert das Subjekt nach den auch in Freuds Ursprungsmythos verknüpften fundamentalen Erfahrungen der Liebe, des Begehrens und des Inzesttabus. In einem konkreten gesellschaftlichen Kontext sind diese Begrifflichkeiten zwar auf einen spezifischen Inhalt bezogen; ihre grundlegende Funktion besteht jedoch darin, die Strukturen des Seins näher auszuführen und weiterzuentwickeln.

208 Habermas, Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik zu?, in: Erläuterungen zur Diskursethik, S. 11. 209 Lacan, Le séminaire XVII: L’envers de la psychanalyse, S. 16–17. Das Seminar wurde an der Rechtsfakultät der Universität Paris-Vincennes gehalten.

E. Die psychoanalytische Seite des Rechts in Lacans Diskurstheorie

177

I. Vier Möglichkeiten, das soziale Band im Rechtsdiskurs zu knüpfen „Qu’on dise reste oublié derrière ce qui se dit dans ce qui s’entend.“ Jacques Lacan210

Lacan beschreibt das Phänomen der Intersubjektivität als Diskurs, den er in die vier grundlegenden Strukturen der Herrschaft, der Universität,211 des Hysterikers und des Analytikers gliedert.212 Diese Diskursformen sind aber nur Grundstrukturen, die unbestimmt viele Varianten aufweisen können. Diese Varianten in einer konkreten oder stereotypen Situation zu identifizieren, ist eine Sache des Gespürs und der konkreten Analyse der Geschichte der Subjekte, deren Realität das unaufhörliche Mischen und Ineinandergehen aller Diskursformen in allen ihren Varianten ist. Dadurch wird die innere und äußere Realität „lesbar“.213 Außerhalb des Diskurses kann kein Recht gesprochen werden, so dass seine Existenz nur im Diskurs wahrnehmbar ist. Methodisch knüpft Lacan an eine teilweise auf Hegel bezogene, spekulative philosophische Tradition an.214 Er gibt weder vor, einen voraussehbaren, empirischen Prozess darzustellen, innerhalb dessen individuelles Wissen als Diskursziel erzeugt wird, noch beschreibt er den historischen Mechanismus, innerhalb dessen sich der Diskurs in der westlichen Zivilisation entwickelt hat. Seine Theorie zielt vielmehr auf eine retroaktive, spekulative Analyse einer kulturellen und subjektiven, d.h. auf die psycho-logische Chronologie des Subjekts bezogene Logik ab, nach der sich rechtlich organisierte Gesellschaften formen und perpetuieren.215 Im Anschluss an Schroeder korrespondieren die vier Diskurse jeweils mit spezifischen Formen des Rechtsdiskurses: Der Herrschaftsdiskurs entspricht 210 Le Séminaire XX: Encore, S. 24. („Was man sagt, bleibt vergessen hinter dem Gesagten, wie es gehört wird.“) 211 Der Diskurs der Universität wird im Folgenden synonym mit dem „akademischen Diskurs“ bezeichnet. 212 Vgl. Lacan, Le Séminaire XX: Encore/Le séminaire XVII: L’envers de la psychanalyse. Lacan hat die Möglichkeit des Bestehens weiterer Diskurse ausdrücklich offen gelassen, ging aber davon aus, dass diese vier eine exponierte Stellung in der modernen Gesellschaft einnehmen (vgl. Fink, The Lacanian Subject: Between Language and jouissance, S. 198). 213 Lipowatz, Die Verleugnung des Politischen. Die Ethik des Symbolischen bei Jacques Lacan, S. 27. 214 Schroeder, The Vestal and the Fasces: Hegel, Lacan, Property and the Feminine, S. 13–14, 31–32, 52–54, 311–312; Huson, Truth and Contradiction: Reading Hegel with Lacan, in: Žižek, Lacan – The Silent Partners, S. 56 ff. 215 Schroeder, The Four Discourses of Law: A Lacanian Analysis of Legal Practice and Scholarship, in: 79 Texas Law Review, S. 26.

178

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

danach beispielsweise dem des Gesetzgebers, der akademische Diskurs in einer Wechselbeziehung zum Herrschaftsdiskurs dem der Gesetzesauslegung. Der Rechtsanwalt spricht außerhalb von Streitverfahren regelmäßig im analytischen Diskurs – etwa bei der Vertragsgestaltung oder der Gründung von Kapital- oder Personengesellschaften – wohingegen er sich im prozessualen Streitverfahren gegenüber dem Gericht innerhalb des Diskurses des Hysterikers artikuliert.216 Aus dieser Zuordnung folgt nicht, dass sich die Vertreter des jeweiligen Diskurses nur innerhalb einer Diskursstruktur äußern. Juristen nehmen verschiedene Positionen ein und können auch in Bezug auf ein und denselben Sachverhalt innerhalb verschiedener Diskurse sprechen. Ebensowenig soll dies zu der Annahme verleiten, dass die Wahl des betreffenden Diskurses willkürlich ist. Vielmehr kann es, wie Schroeder unterstreicht, aufgrund der spezifischen Bedingungen, Regeln und Grenzen als Teil der Berufsethik des Juristen betrachtet werden, den jeweils angemessenen Diskurs auszumachen und anzuwenden.217 1. Die Ökonomie des Begehrens als unbewusste Funktion diskursiven Sprechens Aufbauend auf der Darstellung einiger Grundlinien aus Lacans Diskursund Sprachtheorie wird im Folgenden die These entwickelt werden, dass sich rechtlicher Diskurs innerhalb dieses Rahmens analysieren lässt und dass Rechtsdiskurs auf einer spezifischen Organisation der Ökonomie des Begehrens des Subjekts, welches im Diskurs spricht, beruht. Dieses Begehren operiert auf der Ebene des Unbewussten, auf der es die Signifikantenketten in Form einer metonymischen Verschiebung, Verdrängung und Wiederkehr des Verdrängten und einer metaphorischen Substitution durchläuft. Im Rechtsdiskurs wird der große Andere innerhalb der Ordnung des Begehrens mittels einer zwangsneurotischen Strategie vermieden, welche das Subjekt in Bezug auf das Begehren verfolgt. Die unbewusste Ökonomie des Begehrens ist notwendig eine Ökonomie der Bedeutung. Diese liegt regelmäßig jenseits des vorgeblichen Inhalts, welcher durch die Äußerungen im Rechtsdiskurs kommuniziert wird. „Bedeutung“ steht in einer elementaren Beziehung zu den metonymischen und metaphorischen Operationen, welche innerhalb des Sprechaktes auftreten. Innerhalb dieser Operationen wird Bedeutung mittels eines unbewussten Prozesses von Begehren und Verdrängung geschaffen. Auf der Grundlage, 216 Schroeder, The Four Practice and Scholarship, in: 217 Schroeder, The Four Practice and Scholarship, in:

Discourses of Law: A Lacanian Analysis of Legal 79 Texas Law Review, S. 21. Discourses of Law: A Lacanian Analysis of Legal 79 Texas Law Review, S. 22.

E. Die psychoanalytische Seite des Rechts in Lacans Diskurstheorie

179

dass eine spezifische Ökonomie des Begehrens und der Verdrängung in den Äußerungen des Subjekts des Rechtsdiskurses operiert, lässt sich schließen, dass es eben diese Ökonomie ist, welche bestimmt, worin die Bedeutung einer rechtlichen Äußerung liegt oder auch nicht liegt. In Anlehnung an den Ursprungsmythos kann man Rechtsdiskurs auch als die „Interpretation des Verbots des toten Vaters“ beschreiben, in welcher das Begehren des Anderen und das Begehren des Subjekts nicht auftreten dürfen. Rechtsdiskurs als Herrschaftsdiskurs schließt deswegen auch die Einbeziehung der Objekt-Ursache des Begehrens (objet petit’a), sprich das „Mehr-Genießen“ (welches trotz der métaphore paternelle als Überbleibsel des Realen in der Sprache verhaftet bleibt und damit auf die jouissance des Subjekts einwirkt) aus. Der Herrschaftsdiskurs ist damit einer der Schlüsseldiskurse zur Produktion des Signifikanten des vollständigen Anderen, in welchem dieses Überbleibsel der Objekt-Ursache des Begehrens durch „Wissen“ verschleiert wird, um es zu subjektivieren, sprich dem Subjekt zugänglich zu machen und es damit von dem qualvollen Gebot des Mehr-Genießens, welches vom ÜberIch ausgeht, zu befreien. Der Rechtsdiskurs als Herrschaftsdiskurs verankert das Subjekt so in der fremden Ordnung der Normen, indem er zwischen = )] seinem Begehren und dem Signifikanten des Mangels im Anderen [S(A vermittelt. Dies geschieht durch die phantasmatische Produktion des Signifikanten des vollständigen Anderen, der nicht mangelt [S(A)], welche auf der unbewussten Verankerung der métaphore paternelle beruht. Sie dient dazu, den Signifikanten des mangelnden Anderen zu ersetzen und damit eine auf ein konsistentes Bild einer Autorität gestützte und als stabil erfahrene Beziehung zwischen den Worten und Dingen für das Subjekt zu gewährleisten. Die primäre Funktion des Rechtsdiskurses liegt also darin, das Subjekt vor der Konfrontation mit dem Signifikanten des mangelnden Anderen, der entfremdenden symbolischen Ordnung, zu bewahren und dem Subjekt so das Gefühl der Kohärenz innerhalb der Rechtsordnung zu vermitteln, d.h. seinen „Grund“ zu symbolisieren und so die Ökonomie seines Begehrens innerhalb der symbolischen Ordnung aufzufangen. Hieraus folgt, dass es ohne den Diskurs keinen Glauben an die Legitimität der signifikanten Rechtsordnung – den Anderen des Rechts – geben kann, denn diese basiert auf der Vorstellung einer stabilen Beziehung zwischen dem Buchstaben des Gesetzes und den Objekten des Rechts. 2. Die vier Diskurspositionen Lacans fundamentale Beschreibung der Funktion des Diskurses liegt darin, über die Sprache ein soziales Band zu knüpfen.218 Dies geschieht genau 218

Lacan, Le Séminaire XX: Encore, S. 26.

180

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

dann, wenn Sprache dazu gebraucht wird, den Mangel-im-Sein des Subjekts zu verhandeln. Lacans Diskurs ist damit nicht gleichbedeutend mit Konversation, Kommunikation oder Sprachaustausch. Der Diskurs knüpft ein soziales Band, wenn der Sprecher den anderen von der Position des Mangels aus adressiert.219 Mit der Einführung der Diskurstheorie beschreibt Lacan den Namen-desVaters, das Substitut, welches das Begehren der Mutter in der Operation der métaphore paternelle ersetzt, nicht mehr als eindimensionale Struktur, sondern als pluralisiert und unterminiert. Das soziale Band entsteht als Effekt von vier aufeinander bezogenen aber eigenständigen Registern, in denen der Name-des-Vaters als unbewusster diskursiver Faktor operiert. Die vier Sprachelemente, die das Subjekt benötigt, um in eine soziale Beziehung einzutreten, sind: (1) der Herrschaftssignifikant (S1), der mit der unbewussten Bildung eines Ideal-Ichs gleichgesetzt werden kann; (2) ein zweiter Signifikanten (S2), der die jouissance in das Wissen einführt; (3) die Objekt-Ursache des Begehrens (objet petit’a), an dem Punkt, wo die jouissance auf einen Mehrwert in der Sprache verweist;220 und = ), welches seinen Mangel in die be(4) das Subjekt des Unbewussten (S wusste Sprache einführt. Jeder Sprechakt, der den Empfänger als (kleinen) anderen adressiert, benutzt diese vier Elemente innerhalb der vier möglichen Diskursformen. Sobald das Unbewusste in der Sprache eine funktionale Präsenz entfaltet, muss sich die diskursive Praxis der Möglichkeit gewahr werden, dass Sprache weder mittels eines linguistischen kategorischen Imperativs funktioniert, noch dass das sprechende Subjekt in sich geeint ist, noch dass es jemals eine Einheit im Sinne eines „Wir“ (außerhalb von epiphanischen Momenten der Identifikation mit einem Ideal) geben kann. Lacan lässt erkennen, dass das Diskursverständnis maßgeblich auf der Erkenntnis beruht, dass sowohl eine Struktur als auch eine inhärente Grenzen bestehen. Während die Schriftsprache lediglich eine formale Struktur darstellt, ist die gesprochene Sprache ein Akt, der sowohl „Bedeutung“ als auch „Identi219 Ragland, Lacan and the Subject of Law: Sexuation and Discourse in the Mapping of Subject Positions That Give the Ur-Form of Law, in: 54 Wash./Lee Law Review, S. 1092. 220 In der Diskurstheorie bleibt die Unterscheidung zwischen dem „großen Anderen“ als Gesamtheit der symbolischen Ordnung der Signifikanten und dem „kleinen anderen“ zentral. Der kleine andere ist weiterhin die Objekt-Ursache des Begehrens, erhält aber auch die Bedeutung des Gegenübers im diskursiven Sprechakt.

E. Die psychoanalytische Seite des Rechts in Lacans Diskurstheorie

181

tät“ vermittelt. Der Sprechakt verbindet das Gesprochene mit Blick, Stimme und Phonetik und anderen Objekt-Ursachen des Begehrens und führt damit etwas von dem nicht symbolisierbaren Realen in die Sprache ein: Dieses ist die „Wahrheit“ des Sexuellen, des Traumas und der Angst – die unbewussten Gründe des Subjekts – welche nur innerhalb des Sprechaktes offenbart werden. In der geschriebenen Sprache bleiben sie hingegen verborgen. Erst wenn das andere Subjekt diese realen Elemente im Sprechakt erkennt, „gelingt“ der Sprechakt, d.h. ein Witz regt zum Lachen an, ein Argument oder Motiv erzeugen Überzeugung oder Verständnis, weil eine Beziehung zum Begehren hergestellt wurde. Der Diskurs vermag so – trotz der von ihm erregten Illusion des erfüllbaren Begehrens – einen Begriff vom Unbewussten zu bilden, auch wenn dieser immer spekulativ bleibt. Dazu muss er sein Gesagtes nicht nur als Wissen und Genießen darstellen, sondern auch die Empfindung dieses Genießens implizieren.221 Im Herrschaftsdiskurs, der sich durch die Forderung nach Bestätigung seines autoritären Gebots (S1) auszeichnet, wird der andere als der „Wissende“ adressiert, er ist dann das vermutete Subjekt des Wissens (S2). Im akademischen Diskurs adressiert der Lehrer den Grund des Begehrens des Schülers (objet petit’a) mit dem Ziel, Wissen zu vermitteln, indem er Interesse weckt. Der Hysteriker adressiert den anderen weniger in Bezug auf eine Garantie seines Wissens als auf eine Verkörperung von Gesetz oder Autorität (S1). Im analytischen Diskurs adressiert der Analytiker schließlich den Mangel im Wissen des Analysanden hinsichtlich seines eigenen Begeh= ), so wie sie durch einige Herrschaftsrens in Bezug auf seine Identität (S signifikanten (S1) symbolisiert wird.222 Die vier Schlüsseldiskurse Lacans bestehen aus jeweils vier Positionen, auf denen jeweils eines der vier Elemente operiert: Agent ! anderer Wahrheit Ergebnis

Sobald Sprache als Diskurs funktioniert, werden oberhalb der Trennlinie zwei bewusste und unterhalb zwei unbewusste Elemente aktiviert: Die topologischen Positionierungen dieser vier Begriffe – (S1), (S2), objet petit’a und =S – sind der Agent oder Vertreter des Diskurses, der andere (der die Botschaft empfängt), die Wahrheit und die Produktion von Bedeutung als Ergebnis.223 Die Position oben links wird in jedem der Diskurse von dem Agenten, oben rechts von dem (kleinen) anderen als Adressat des diskur221 222 223

Juranville, Lacan und die Philosophie, S. 436. Lacan, Le Séminaire XX: Encore, S. 21. Lacan, Le Séminarie XX: Encore, S. 26.

182

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

siven Sprechaktes eingenommen. Die Position unten rechts beschreibt das Ergebnis oder Produkt des jeweiligen Diskurses zwischen dem Agenten und dem anderen. Die Position unten links nimmt schließlich die Wahrheit ein, und zwar sowohl in der Funktion als verdrängte Wahrheit des Agenten als auch des Diskurses insgesamt. Jeder der vier Diskurse hat eine andere Wahrheit. Im Herrschaftsdiskurs füllt diesen Ort beispielsweise der (verdrängte) Mangel-im-Sein. Die Trennlinie zwischen den Mathemen bezeichnet sowohl eine metaphorische Substitution als auch eine Verdrängung. Die beiden Operanden oberhalb der Linie repräsentieren folglich die manifesten Begriffe jeden Diskurses, wohingegen die Operanden unterhalb der Linie auf der unbewussten Ebene des Agenten und des anderen funktionieren. Der andere ist sich regelmäßig nicht des Ergebnisses des Diskurses bewusst, ebenso wie der Agent die Wahrheit seiner Position und des Diskurses insgesamt verdrängt. Die unbewusste Ebene determiniert den Diskurs, denn sie ist der Ort, an dem die Erfahrungen des Begehrens und der Bedeutung geformt werden. Oberhalb der Linie wird eine spezifische Überzeugung in Beziehung zum Sein und Handeln repräsentiert, welche innerhalb der bewussten Sphäre des Ichs besteht. Für das Diskursverständnis im Hinblick auf das Unbewusste sind die Operanden unterhalb der Linie entscheidend. Hierbei ist zu beachten, dass es nach Lacan kein Wissen vom Unbewussten gibt; das Unbewusste ist das Wissen, das – per definitionem – nichts von sich weiss. Allein der Diskurs vermag das Unbewusste auszusagen und es so als ungewusstes Wissen zu bestimmen, welches das Subjekt – und das ist der auch im Rechtsdiskurs entscheidende Aspekt, den man aus der Psychoanalyse gewinnen kann – genießt.224 Ein charakteristisches Merkmal der Beziehung der Operanden oberhalb der Linie in den Diskursmathemen ist ihre „Unmöglichkeit“. Dies bedeutet, dass intersubjektive Kommunikation auf der bewussten Ebene des gegenseitigen Verstehens eher die Ausnahme als die Regel ist: Kommunikation ist damit ein „erfolgreiches Missverständnis“. Das Begehren operiert als inhärenter Teil des Sprechaktes auf der unbewussten Ebene des Diskurses in Form des Mangels. Das unmögliche Ziel des Sprechaktes ist es, den Mangel auszufüllen. Die Beziehung der Operanden unterhalb der Linie zeichnet sich dementsprechend durch ein „Unvermögen“ aus, welches wiederum aus der inhärenten Unmöglichkeit der Beziehung der Operanden oberhalb der Linie resultiert. Der Grund für die Unmöglichkeit und das Unvermögen ist die Kastrationserfahrung, welche für jedes sprechende Subjekt gilt, und die als Funktion innerhalb des Diskurses operiert: Das 224

Vgl. Juranville, Lacan und die Philosophie, S. 436.

E. Die psychoanalytische Seite des Rechts in Lacans Diskurstheorie

183

omnipräsente Mangelerlebnis des Subjekts als psychische Grunddeterminierung, welche das Begehren schürt, erscheint im Diskurs als Unmöglichkeit, die in Anlehnung an Freuds Mythos auf dem imaginierten Verbot des uneingeschränkten Genießens durch den toten Vater im Symbolischen basiert. Die Kastrationserfahrung (welche man wiederum auf den martialischen Urvater beziehen kann) und der daraus resultierende Mangel im Anderen [S(A)] sorgen mithin dafür, dass Diskurs und soziales Band immer als „totes Ende“ erscheinen. So basiert der Diskurs immer auf zwei Illusionen: Erstens auf der symbolischen Kastration (welche ja nie stattgefunden hat oder angedroht wurde) und zweitens auf der Möglichkeit, dieses Erlebnis durch symbolische Verknüpfungen in Form von Sprechakten beseitigen zu können. Zwischen den Diskursmathemen ist schließlich auch eine diagonale Beziehung möglich, welche sich als die der „imaginären Verlockungen“ beschreiben lässt. Der Agent mag versucht sein, die Wahrheit des Diskurses zu verkennen, indem er sie stattdessen als das Ergebnis des Diskurses deklariert. Der andere mag hingegen versucht sein, das Ergebnis des Diskurses mit der Wahrheit des Agenten zu verwechseln. Diese Verlockungen basieren auf den Unsicherheiten im Antrieb des Begehrens, sich zu erfüllen bzw. ein Kohärenzerlebnis aus der Invasion der Signifikanten herauszufiltern. Letztlich lässt sich so erkennen, dass der Diskurs nach Lacans Verständnis – das sich radikal auf das Begehren bezieht – immer sein eigentliches Ziel verfehlt, wobei es natürlich trotzdem Erfolgserlebnisse gibt. Diese stellen sich regelmäßig dann ein, wenn innerhalb der symbolischen Verschlüsselungen fühlbar darüber gesprochen wird, dass es das Begehren, die Angst oder das Genießen überhaupt gibt.

3. Die Verknüpfung und Bewegung der Diskurse auf dem Möbiusband Die vier Diskurse sind insofern miteinander verknüpft als die vier Elemente des Herrschaftssignifikanten, des Signifikanten des Wissens, das Subjekt und das objet petit’a im Uhrzeigersinn zirkulieren. Der Diskurs der Universität ist demnach eine einstufige Verschiebung des Herrschaftsdiskurses, wohingegen der Diskurs des Analytikers die genaue Umkehrung des Herrschaftsdiskurses beschreibt. Die Anordnung der Diskursdiagramme vom Herrschaftsdiskurs über den Diskurs der Universität und des Hysterikers zu dem des Analytikers bezeichnet damit eine interdiskursive Verknüpfung. Innerhalb dieser Beziehungen liegt eine logische Rückwärtsbewegung vom Diskurs des Analytikers hin zum Herrschaftsdiskurs, die auf die Erscheinung von Wahrheit zuläuft:

184

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten Herrschaftsdiskurs S1 ! S2 =S a $

$

Diskurs der Universität S2 ! a =S S1

Diskurs des Hysterikers =S ! S1 S2 a

$

$ Diskurs des Analytikers a ! =S S1 S2

Der Ausgangspunkt zum unmittelbaren Verständnis des Herrschaftsdiskurses liegt in einer Rückwärtsbewegung vom Universitätsdiskurs. Dieser setzt eine Wissensstruktur (S2) in die Position des Sprachagenten und richtet seine Botschaft an den anderen als vollkommenes Subjekt der Rhetorik, das sich eher durch Strategien als durch Wahrheit verführen lässt. Es handelt sich damit mehr um einen „Akt der Verführung durch Wissen“, als um das bloße Auffüllen eines studentischen Wissenscontainers. Der Übergang erhellt, dass dem akademischen Diskurs ein Wahrheitsstreben zugrunde liegt, das dem Herrschaftsdiskurs fremd ist. Das Unvermögen (die „Impotenz“) des Diskurses der Universität liegt in seinem pädagogischen „Wir“, mit dem er das von = ) herrührende Begehren des Studenten (zu der Gespaltenheit des Subjekts (S lernen) ignoriert. Ferner ignoriert (oder verschleiert) er, dass das Wissen des Anderen (S1) in der symbolischen Ordnung bereits bis ins letzte Detail strukturiert und ausdifferenziert ist, und zwar in konkreten Signifikanten-Komplexen, die sich am Begehren, dem Phantasma und den Trieben orientieren. Die Regression im Diskurs des Hysterikers beleuchtet schließlich den Herrschaftsdiskurs, wenn der Mangel-im-Sein – der mit dem Subjekt des unbewussten Begehrens einhergeht – als Agent des Diskurses auftritt. Der Agent des Diskurses des Hysterikers adressiert den Herrschaftssignifikanten des anderen mit dem Ziel, seinen Mangel-im-Sein im Gesetz des anderen zu verankern. Lacan bezeichnet das hierin zum Ausdruck kommende Unvermögen mit einem Pfeil, der auf das Wissen des Hysterikers von dem objet petit’a auf der Wahrheitsposition verweist. Der Diskurs des Hysterikers ist von dem Paradoxon bestimmt, dass er versucht, seinen Mangel-im-Sein durch die Gewissheit des Anderen – als Heimat der Herrschaftssignifikanten (S1) – zu parieren, während er weiß, dass Bedeutung vom Grund des Begehrens beherrscht wird.

E. Die psychoanalytische Seite des Rechts in Lacans Diskurstheorie Diskurs des Herren

185

Diskus der Universität

Unmöglichkeit S1 =S

S2 a

S2 S1

a =S Unvermögen

– erhellt sich durch Regression des:

– erhellt sich aus seinem „Progreß“ in den:

Diskurs des Hysterischen

Diskus des Analytikers Unmöglichkeit

=S a

=S S1

a S2

S1 S2 Unvermögen Die Plätze sind:

der Agent die Wahrheit

Die Terme sind:

der andere die Produktion

S1 , der Herren-Signifikant S2 , das Wissen =S , das Subjekt a, das Mehr-an-Genießen

Lacans Schema225

Diese Implikationen, welche sich aus der hier nur angedeuteten interaktiven Verknüpfung der Diskurse ergeben, beschreibt Lacan mittels der topologischen Oberfläche eines Möbiusbands. Das Möbiusband ist eine dreidimensionale Form, die sich durch ein langes rechteckiges Stück Papier darstellen lässt, das, bevor man seine Enden verbindet, einmal gedreht wird. Das Ergebnis ist eine Form, die die gängige – Euklidische – Darstellung von Raum unterminiert, indem sie den Anschein erweckt, zwei Seiten zu haben, tatsächlich aber nur eine hat. Zwar kann an jedem Punkt des Möbiusbandes eine Doppelseitigkeit festgestellt werden; wenn man aber das ganze Band durchläuft wird deutlich, dass diese Seiten eine einheitliche Kontinuität darstellen. Beide Seiten lassen sich nur durch Einführung der Zeitdimension unterscheiden, nämlich der Zeit die es braucht, um das ganze Band durchzugehen. Das Möbiusband illustriert die Art und Weise, mit der die Psychoanalyse verschiedene binäre Beziehungen wie Liebe/Hass, Wahrheit/Schein oder Signifikant/Signifikat problematisiert. Im Gegensatz zu der gebräuchlichen antagonistischen Darstellung dieser Begriffspaare zieht Lacan es oft vor, deren Verhältnis mit Hilfe der Topologie des Möbiusbandes zu beschreiben. 225 Juranville, Lacan und die Philosophie, S. 441 (Original: Lacan, Le Séminaire XX: Encore, S. 26).

186

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

0,5 1

0,0 – 0,5

0

–1 0 –1 1

So unterstreicht Lacan die Kontinuität gegenüber der Gegensätzlichkeit. Diese Kontinuität beschreibt auch die Beziehung zwischen den vier Diskursen.226 Das Möbiusband soll hier veranschaulichen, dass sich die Diskurse innerhalb einer Sprechsituation ineinander verstricken können und die Übergänge fließend sind. Kein Sprecher ist an eine feste Position gebunden. Dies gilt auch für die Rechtsdiskurse: Ein Anwalt, der sich in einem Prozess hauptsächlich des hysterischen Diskurses bedient, kann während einer Zeugenbefragung durchaus in den Diskurs des Analytikers treten, um in seinem Schlussplädoyer Rechtsauffassungen im Herrschafts- oder Universitätsdiskurs zu artikulieren. Ein Erkenntnisziel der Diskursanalyse, welchem man sich über das Möbiusband annähern kann ist, dass die Subjekte an jenem Ort, von dem aus sie ihren Mangel im Symbolischen von „innen“ her nach „außen“ über die Sprache verhandeln, entdecken, dass jenes „außen“ wieder nach „innen“ verweist, aber durch Verschiebungen und Verdichtungen. Dabei ist dieses Innen-Außen-Verhältnis gleichzeitig mit dem Vergangenen und dem Zukünftigen verschränkt, was auf die „Zeitlosigkeit“ des Unbewusten verweist. Thanos Lipowatz folgert hieraus, dass die Verwendung der psychoanalytischen Terminologie mehr als eine Metaphorisierung, aber weniger als eine Systemtheorie impliziert: „Die handelnden Subjekte interessieren sich nicht für Systeme, sondern nur für die verschiedenen, immer mangelorientierten, d.h. durch Lust-Unlust regulierten Möglichkeiten, sich in jenen Systemen ‚einzurichten‘, zwischen ihnen eine Wahl zu treffen oder eine neue Variante zu erfinden. Die Handlungszusammenhänge, in denen die Subjekte mit dem Anderen vermittels ihres Begehrens verstrickt werden, sind die Diskurse.“227 226

Evans, An Introductory Dictionary of Lacanian Psychoanalysis, S. 116. Lipowatz, Die Verleugnung des Politischen. Die Ethik des Symbolischen bei Jacques Lacan, S. 25. 227

E. Die psychoanalytische Seite des Rechts in Lacans Diskurstheorie

187

4. Das Zeichen der Liebe: Diskurswechsel als Funktion im Rechtsstaat „Die Aufgabe des Juristen liegt in der Kunst, beruhigende Worte zu erfinden, um das Objekt der Liebe zu bestimmen, wo die Politik das Prestige hingesetzt hat, und um die existentiellen Bedrohungen zu manipulieren.“ Pierre Legendre228

Das topologische Modell des Möbiusbandes indiziert, dass die Diskurse ein Kontinuum bilden, innerhalb dessen sich die Subjekte von einem Diskursregister zum anderen bewegen. Der Herrschaftsdiskurs ist das Standardregister des normativ sprechenden Subjekts, weshalb man ihm eine Primärfunktion zuschreiben kann. Kein Subjekt ist auf einen Diskurs festgelegt, auch wenn eine institutionelle Position oft mit einen bestimmten Diskurs assoziiert werden kann (Richter/Herrschaftsdiskurs, Lehrer/Universitätsdiskurs etc.) Ein Subjekt mit einer hysterischen Struktur ist auch nicht an den Diskurs des Hysterikers gebunden, sondern kann problemlos innerhalb des Diskurses der Universität sprechen, ebenso wie der Psychoanalytiker wohl beeindruckende Ausführungen innerhalb des Herrschaftsdiskurses machen kann. Der Diskurs des Analytikers tritt in jedem Übergang von einem Diskurs zum nächsten auf und zwar als „Zeichen der Liebe“, welches den Wechsel von einem Diskurs zum nächsten erkennbar macht.229 Immer wenn ein Übergang von einem Register zum nächsten stattfindet, erkennt Lacan einen Moment bzw. eine Übertragung von Liebe. In diesem Moment der Liebe wechselt das sprechende Subjekt, welches die Position des Agenten einnimmt, motiviert durch sein spezifisches Begehren, das Diskursregister. Der Begriff der Liebe ist innerhalb der Diskurstheorie nicht notwendig als starke affektiv-emotionale Bindung im Sinne romantischer, freundschaftlicher oder familiärer Verbundenheit zu verstehen. Vielmehr beschreibt Liebe das Sprachzeichen, mit dem die Anerkennung des Gegenübers als Person kommuniziert wird. Liebe ist das Zeichen, welches den Unterschied zwischen dem Gebrauch von Sprache als Diskurs mit dem Ziel des sozialen Austauschs und ihrer Anwendung als bloßem Träger von Information markiert. Durch ihr Auftreten im intersubjektiven Austausch ermöglicht die Liebe damit das Phänomen des Gesellschaftlichen, denn sie erfüllt das Bindungsbedürfnis der Subjekte und wird auf dem Feld der Sprache an dem Punkt des Übergangs von einem Diskurs zum anderen erkennbar. Durch das Zeichen der Liebe wechselt der Sprecher den Diskurs.230 228

L’Amour du Censeur: Essai sur l’Ordre Dogmatique, S. 25. Ragland, Lacan and the Subject of Law: Sexuation and Discourse in the Mapping of Subject Positions That Give the Ur-Form of Law, in: 54 Wash./Lee Law Review, S. 1108. 230 Lacan, Le Séminaire XX: Encore, S. 25. 229

188

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

Liebe ist auch das Zeichen einer Grenze, welche die Differenz zwischen einem Diskurs und seinem vorausgehenden markiert. Ein Beispiel (nach Ragland): Am Gemüsestand raunzt der Händler eine Kundin an: „Finger weg von den Tomaten!“ Im Herrschaftsdiskurs wird der Empfänger des Sprechaktes aus der Position des moralischen, tyrannischen Über-Ichs adressiert, gegebenenfalls grausam, mit dem Ziel, Scham oder Schuldgefühle in ihm hervorzurufen. Fügt der Gemüsehändler aber hinzu, dass es schwierig ist, schöne Tomaten zu züchten, welche die Leute kaufen wollen, besonders viel Sorgfalt erforderlich ist etc., hat er vom Gebrauch der Sprache im Herrschaftsdiskurs hin zum Diskurs der Universität gewechselt. Hierin tritt das Zeichen der Liebe auf, und zwar in dem Sinne, dass der Gemüsehändler der Kundin signalisiert, dass er sie als Individuum anerkennt. Zwar ist die Position des Sprechers in beiden Diskursen eine überlegene – sobald jedoch der Herrschaftsdiskurs verlassen wird, tritt notwendig das Zeichen der Liebe auf. Fragt der Gemüsehändler die Kundin, ob sie selbst schon mal einen Gemüsegarten angelegt hat, wird die Anerkennung des anderen durch diesen Gebrauch der Sprache intensiviert. Hierin liegt die Struktur des Hysterikers, in welcher der Mangel-im-Sein – hier in der Frage manifestiert – als Agent der Sprache funktioniert. Lädt der Gemüsehändler die Kundin ein, frei über ein beliebiges Thema zu assoziieren, hat er seine Position als Gemüsehändler vollständig aufgegeben und ist in den Diskurs des Analytikers eingetreten.231 Das Begehren ist das Begehren des Anderen, und – an dieser Stelle zu unterstreichen – nach der Liebe des Anderen. Greift man Legendres Gedanken der Funktion der Rechtsinstitutionen als Mittler des Glaubens an die Autorität des Gesetzes auf, kommt man in diesem Zusammenhang zu dem Schluss, dass die Repräsentanten des Rechts das Subjekt nur über die Liebe an sich binden können. Dies kann nicht einfach darüber geschehen, dass ein bestimmter Diskurs gewählt wird, sondern dass ein kontinuierliches Stadium der Diskursübergänge innerhalb der institutionellen Organisation des Rechtsstaates garantiert und aufrechterhalten wird. Ein Blick in das Zivilprozessverfahren zeigt deutlich, wie der Übergang von einem zum anderen Diskurs institutionell organisiert ist, sprich wie Lacans Konzept vom Zeichen der Liebe als systemnotwendig erkannt und in der Prozessordnung verankert wurde. Ausgangspunkt soll beispielhaft der Tenor einer erstinstanzlichen Entscheidung sein: „Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 5.000,00 Euro zu zahlen.“

231

Vgl. Ragland, Lacan and the Subject of Law: Sexuation and Discourse in the Mapping of Subject Positions That Give the Ur-Form of Law, in: 54 Wash./Lee Law Review, S. 1113.

E. Die psychoanalytische Seite des Rechts in Lacans Diskurstheorie

189

Dem Satz liegt eindeutig die Struktur des Herrschaftsdiskurses zugrunde. Der Agent spricht von der Position der Macht, das Gericht identifiziert sich mit dem Herrschaftssignifikanten und adressiert den anderen auf der Position des Wissens. In den auf den Tenor folgenden Urteilsgründen – „Der Kläger hat einen Anspruch aus § 824 Abs. 1 BGB auf Ersatz seines Schadens, weil der Beklagte öffentlich behauptet hat, dass der Kläger kurz vor der Zahlungsunfähigkeit stehe, obwohl . . .“ –

findet sich der Diskurs der Universität, indem der andere – die Streitparteien – von der Position des Wissens aus adressiert wird. Die Rechtsinstitution, hier das Amtsgericht, setzt das Zeichen der Liebe zwischen die vollständig autoritäre Verkündung des Tenors und dessen anschließende Begründung, in der das Gebot in einen Zusammenhang mit Wissen gestellt und erläutert wird. Diesem Übergang liegt eine konkrete Vorschrift zugrunde, nämlich § 313 ZPO (Form und Inhalt des Urteils). Das Urteil enthält danach u. a. „4. die Urteilsformel; 6. die Entscheidungsgründe.“

§§ 511, 520 ZPO (Statthaftigkeit der Berufung, Berufungsbegründung) eröffnen dem Rechtssubjekt nun die Möglichkeit, in den Diskurs des Hysterikers einzutreten: „Es wird beantragt, das Urteil des Amtsgerichts . . . aufzuheben und die Klage abzuweisen. Der Kläger hatte bereits selbst mehrfach das bevorstehende Insolvenzverfahren in der Öffentlichkeit erwähnt, so dass es schon an der Kausalität fehlt. Es kann nicht zu Lasten des Beklagten gehen, dass der Kläger . . .“

Hier wird deutlich, dass der Agent des Diskurses das gespaltene Subjekt = ) ist, welches den anderen als Herrschaftssignifikanten (S1) von seinem (S Mangel aus adressiert. Indem die Berufung unmittelbar an die Entscheidungsgründe aus dem Diskurs der Universität anknüpft, wird auch hier wieder ein institutionell (legislativ) verankerter Diskurswechsel im Zeichen der Liebe offenbar. Selbst der Diskurs des Analytikers hat ein institutionelles Forum, nämlich § 114 ZPO: „Eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen kann, erhält auf Antrag Prozesskostenhilfe.“

Der Rechtsstaat garantiert dem Subjekt die Möglichkeit, gegenüber dem Rechtsanwalt frei zu assoziieren, wie es die gesamten Umstände des Falls ungeachtet ihrer rechtlichen Relevanz sieht, wobei der Rechtsanwalt, indem er gerichtlichen Erfolg in Aussicht stellt, das Subjekt von der Position des Begehrens aus adressiert, d.h. sich mit dem Begehren des Rechtssuchenden identifiziert.

190

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

II. Das totale Gesetz im Herrschaftsdiskurs Der Herrschaftsdiskurs kann als die Krux innerhalb der Anordnung der vier Diskurse bezeichnet werden. Seine These besagt, dass sich alles dem Gesetz unterwerfen muss, dass es – wie Juranville hervorhebt – eine „exklusive Totalität in der durch das Gesetz geordneten Welt“ gibt.232 Damit basiert er auf derselben Fiktion wie ein Rechtssystem, das über die Ausdifferenzierung der Lebenssachverhalte in normativen Kategorien mit einem Absolutheitsanspruch an die Rechtssubjekte herantritt. Der Herrschaftsdiskurs trägt diese der Legislatur (oder auch dem Politischen) immanente Idee in sich. Lacan räumt ihm eine Vorrangstellung ein, die sich sowohl darauf stützt, dass er die elementare Struktur von Sprache beschreibt, als auch darauf, dass Sprache nach Lacan auf dem Herrschaftsdiskurs basiert.233 Der Herrschaftsdiskurs beschreibt die Struktur, durch welche das Subjekt gezwungen wird zu sprechen. Gleichzeitig ist es der Diskurs, welcher die Grundlage der Signifikation insgesamt darstellt. Im Herrschaftsdiskurs hat das Diskursverständnis auf der Ebene des Unbewussten die Struktur des Phantasmas. Lacans Begriff des Phantasmas ist nicht als bloßer Gegensatz zum Konzept der Realität zu verstehen, da Realität – wie schon in der Gegenüberstellung zum Realen ausgeführt – keine unproblematische Gegebenheit darstellt, die durch eine singulär-objektive Wahrnehmung korrekt beschrieben werden könnte. Realität ist vielmehr das Ergebnis eines diskursiven Konstrukts, da sich etwa die Erinnerung durch kontinuierliche diskursive und imaginäre Neu- und Umformungen zusammensetzt, welche sich auf das unbewusste Begehren beziehen. Die Realität als Ergebnis dieser Prozesse setzt sich damit weniger aus objektiven Tatsachen als aus einer komplexen Dialektik zusammen, in der das Phantasma eine vitale Rolle spielt. Das Phantasma fungiert hierbei in Anlehnung an Freuds mythischmetaphorischen Ansatz als „Inszenierung“ des unbewussten Begehrens, in der das Subjekt immer eine Rolle spielt, ohne dass dies offensichtlich sein muss. Lacan unterstreicht auch die Schutzfunktion des Phantasmas, indem er die phantasmatische Inszenierung mit einem eingefrorenen Bild in einem Film vergleicht. So wie die Unterbrechung von Gewaltszenen in einem Film dazu dient, die Darstellung eines traumatischen Erlebnisses zu vermeiden, ist das Phantasma eine Inszenierung, welche dazu dient, die Kastrationserfahrung und den Mangel im Anderen zu verschleiern.234 Jede klinische Struktur hat hierfür einen spezifischen Modus. Das neurotische Phantasma beschreibt Lacan als die Antwort des Subjekts auf das enigmatische Begehren des Anderen, die sich unablässig in der Frage danach manifestiert, was 232 233 234

Juranville, Lacan und die Philosophie, S. 441. Grigg, Lacans’s Four Discourses, S. 34. Lacan, Le Séminaire IV: La relation d’objet, S. 119 ff.

E. Die psychoanalytische Seite des Rechts in Lacans Diskurstheorie

191

= ^ a) dieses Phantasder Andere von mir will (Che vuoi?). Das Mathem ÈS mas ist demnach als das gespaltene Subjekt in seiner Beziehung zum Objekt zu lesen.235 Die Akzeptanz der Fiktion der Totalität des Gesetzes im Herrschaftsdiskurs bedeutet, im Zustand des Phantasmas zu verharren. Dieses Phantasma ist aber kein Zustand, der leicht zu überwinden wäre, denn das unbewusste = ) und das objet petit’a artikuPhantasma, in dem das gespaltene Subjekt (S liert werden, ist gleichzeitig die Kehrseite und die Stütze der geordneten Welt, in der sich zeigt, dass es im Herrschaftsdiskurs das Mehr-an-Genießen ist, welches das „Subjekt nur darin befriedigt, die alleinige Realität des Phantasmas zu unterhalten“.236 Ohne dieses phantasmatische Mehr-Genießen als verdrängtes Ergebnis des Diskurses kann es damit auch keine Akzeptanz einer Legislatur geben. Das Paradoxe des „unmöglichen“ Herrschaftsdiskurses ist schließlich, dass er etwas gibt, was er nicht hat: den eindeutigen Signifikaten eines allumfassenden Gesetzes. Hierfür wird das Subjekt durch das Genießen einer phantasmatischen Realität entschädigt. 1. Struktur und Bedeutung des Herrschaftssignifikanten (S1) Im Herrschaftsdiskurs wird die Position des Agenten durch den Herrschaftssignifikanten (S1) besetzt. Hinsichtlich der Elementarstruktur von Sprache kann dieser chronologisch als der erste Signifikant verstanden werden, durch den das in der Entstehung begriffene Subjekt gezeichnet wird. Dieser erste Signifikant ist der Name-des-Vaters als „einziger Zug“. Mit diesem von Freud entlehnten Begriff beschreibt Lacan die fundamentale Charakteristik des Subjekts, welche die Grundlage der symbolischen Identifikation darstellt. Gleichzeitig beschreibt der einzige Zug die Eigenschaft des Namens-des-Vaters als singulärem Signifikanten, der innerhalb des Subjekts die Register der symbolischen, der imaginären und der realen Erfahrung des Objektverlustes verknüpft.237 So nimmt (S1) in Lacans Lehre eine universelle Funktion ein, die sich nicht auf die vier Diskurse beschränkt. Als einziger Zug enthält der Herrschaftssignifikant nicht nur eine Referenz zu der symbolischen Ordnung der Sprache und deren vorgeblicher Garantie von Sinn und Bedeutung, welche dem Aussagegehalt der Matheme des Namens-des-Vaters – [S (A)] und [S (A)] – angenähert ist,238 sondern be235 Lacan, The Subversion of the Subject and the Dialectic of Desire, in: Écrits, A Selection (Fink), S. 300 ff. (insbes. Rn. 815). 236 Vgl. Juranville, Lacan und die Philosophie, S. 442, mit Verweis auf Lacan, Le Séminare XVII: L’envers de la psychanalyse. 237 Juranville, Lacan und die Philosophie, S. 253. Vgl. Kapitel 3 B. III. (Das Rechtszeichen in der symbolischen Ordnung). 238 Ragland, Essays on the Pleasures of Death: From Freud to Lacan, S. 210.

192

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

schreibt auch einen symbolisch vermittelten Prozess der Verbindung des Symbolischen und Imaginären in Identifikationen, welche das Ich-Ideal des Subjekts formen. Der einzige Zug enthält schließlich eine Referenz zu den Spuren des libidinösen Einsatzes in das Objekt, welches durch den Schnitt des Herrschaftssignifikanten verloren ging. 2. Die Entstehung von Bedeutung in der Beziehung von (S1) zu (S2) Ein entscheidender Punkt hinsichtlich der elementaren Struktur von Sprache ist, dass (S1) nicht in der Lage ist, das Subjekt vollständig zu repräsentieren. Nach Lacans Standardmaxime, dass ein Signifikant ein Subjekt für einen anderen Signifikanten repräsentiert, enthält (S1) selbst keinen Sinn. Damit das Subjekt in der Sprache entstehen kann, muss (S1) zu einem beliebigen anderen Signifikanten (S2) in Beziehung gesetzt werden.239 S1 ! S2 =S a

Das Subjekt ist gespalten und so durch die imaginierte Erfahrung oder Androhung der Kastration und durch den Signifikanten gezeichnet. Der subjektive Zugang zur Sprache und die Wirkungsweise der Kastrationserfahrung stehen in einem spezifischen Zusammenhang, nach dem Subjektivität (weil sie sich nach Lacan über den Mangel bestimmt) erst dann entsteht, wenn das Subjekt von der Mutter als seinem ursprünglichen Befriedigungsobjekt getrennt und damit angetrieben wird, seine Position als entfremdeter Signifikant innerhalb der symbolischen Ordnung einzunehmen. Als solches erscheint das Subjekt nur innerhalb von Signifikation, und zwar als Lücke zwischen zwei Signifikanten.240 (S2) bezeichnet sowohl einen beliebigen Signifikanten in der metonymischen Bewegung der Signifikationskette, innerhalb der (S1) mittels einer retroaktiven Fixierung Bedeutung erlangt, als auch die Unmenge aller anderen Signifikanten, welches das Subjekt als verankert in (S1) und als Signifikant des Namens-des-Vaters repräsentiert:241

S1

239 240 241

! ! !

=S =S =S

! ! ! ! !

S2 S2 S2 S2 S2

Juranville, Lacan und die Philosophie, S. 64. Vgl. Kapitel 3 A. V. (Die Spaltung des Subjekts als Effekt des Signifikanten). Fink, The Lacanian Subject: Between Language and Jouissance, S. 75.

E. Die psychoanalytische Seite des Rechts in Lacans Diskurstheorie

193

3. Der Platzhalter eines unbewussten Phantasmas: Objet petit’a (IV) Innerhalb dieser elementaren Spracheinheit, welche das Subjekt als Lücke zwischen (S1) und (S2) einsetzt, tritt ein weiterer Faktor zutage, der den Prozess der Subjektivität in Gang setzt. Dieses „Überbleibsel“, welches aus den endlosen Verknüpfungen der Signifikationsketten in der Sprache herausfällt, ist das objet petit’a. Das Verbot des ursprünglichen Objekts der jouissance in der métaphore paternelle und der Zugang zur Sprache bewirkten keinen kategorischen Entzug der jouissance; vielmehr bewahrt sich das Subjekt auf der Ebene des Unbewussten einen Objektbezug, welcher die Mutter-Kind-Symbiose repräsentiert. Objet petit’a fällt sozusagen als Platzhalter eines unbewussten Phantasmas dieser Einheit aus der elementaren Struktur der Sprache heraus: S1 ! S2 =S #

ã)

S1 ! S2 =S ^ a

a

Das Fortbestehen des Phantasmas in der Funktion des objet petit’a verhindert, dass sich das Subjekt vollständig dem phallischen Signifikanten unterwerfen kann. Objet petit’a bezeichnet damit eine essentielle Wirkung des Diskurses, die Lacan in Anlehnung an Marx Mehrwert-Theorie als MehrGenießen bezeichnet.242 Weil Objet petit’a das vom Mangel-im-Sein ausgehende Streben nach jouissance in Gang setzt, vergleicht Lacan es mit einer Rübe, die dem Esel vor die Nase gehängt wird und führt weiter aus, dass sich der Herrschaftsdiskurs in der Beziehung zu seinem Adressaten eher durch das Vorsetzen dieser Rübe, als durch ein tatsächliches Befriedigungserlebnis auszeichnet. Das Mehr-Genießen ist die letale Innenseite des diskursiven Sprechaktes, welche die im Diskurs produzierte Bedeutung als eine fetische Anbindung an ein Jenseits offenlegt. Gleichermaßen tritt der Punkt zutage, an dem das Subjekt als seiner inhärenten Begrenzung unterworfen erscheint. Lacan beschreibt dies mit „Wiederholung“, „Begehren“ und „Phantasma“. Objet petit’a, welches topologisch im Zentrum der borromeanischen Verknüpfung der Register der subjektiven Erfahrung (R, S, I) steht, ist sowohl der Schlüssel zum Verständnis der jouissance, als auch zum Auftreten des Signifikanten in der Bestimmung des sprechenden Subjekts.243 Obwohl ob242

Vgl. Kapitel 3 D. II. (Gerechtigkeit, Bürgerrechte, Menschenrechte). Lacan, The Seminar XI: The Four Fundamental Concepts of Psychoanalysis, S. 191. 243

194

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

jet petit’a in jedem Diskurs eine andere Funktion einnimmt, operiert es wie im Prozess der Trennung (von der Mutter) als ein Füllelement, welches die fundamentale Unsicherheit des Subjekts gegenüber dem Begehren des Anderen [S (A)] auf der Ebene eines unbewussten Phantasmas schließt und welches dazu dient, dem Subjekt in seinem libidinösen Einsatz die Konsistenz im Anderen zu versichern. Im Rahmen der vier Diskurse nimmt es vorrangig die Funktion der Repräsentation des Mehr-Genießens ein und stellt damit einen Exzess aus dem Prozess der Signifikation und der Spal= ) dar.244 Die Vorrangstellung des Herrschaftsdiskurses, tung des Subjekts (S in dem das objet petit’a die Position des Diskursergebnisses als Mehr-Genießen einnimmt, gründet sich dementsprechend auch darauf, dass dieser eine grundlegende Beziehung der jouissance zum Diskurs aufstellt oder beschreibt.245 Die Präsenz des objet petit’a innerhalb der Struktur der vier Diskurse zeigt schließlich, dass der gesellschaftliche Diskurs und damit die Knüpfung eines sozialen Bandes nicht allein auf grammatikalischen Komponenten beruht, sondern in der Quintessenz eine Angelegenheit der Organisation libidinösen Genießens ist. 4. Die Herrschaft des Herrschaftssignifikanten in der Sprache Der Grund, weshalb alle anderen Diskurse auf der Struktur des Herrschaftsdiskurses beruhen, liegt in Lacans fundamentaler These, dass die Grundlegung und die vorgebliche Seins-Garantie sowohl der Sprache als auch der gesellschaftlichen Ordnung auf der métaphore paternelle beruhen, denn im Herrschaftsdiskurs steht (S1) als Register des Namens-des-Vaters auf der Position des Agenten. (S1) als Name-des-Vaters ist für die Spaltung des Subjekts verantwortlich, welche als verdrängte Wahrheit des Agenten rangiert: S1 =S

Der Herrschaftsdiskurs zeichnet sich durch die inhärente Dominanz des Herrschaftssignifikanten (S1) aus. Der Adressat eines solchen Diskurses ist gezwungen, um die Botschaft verstehen zu können, dem Herrschaftssignifikanten, mit welchem er konfrontiert wird, einen vollständigen Erklärungsgehalt oder eine absolute moralische Autorität beizumessen und alle weiteren Signifikanten auf diese zurück zu führen.246 Die – „sinnlose“ – Domi244 Miller, To Interpret the Cause: From Freud to Lacan, in: 3 Newsletter of the Freudian Field (1–2), S. 30 ff. 245 Žižek, The Sublime Object of Ideology, Kapitel 1.

E. Die psychoanalytische Seite des Rechts in Lacans Diskurstheorie

195

nanz von (S1) ist der Schlüssel zur Struktur und Ökonomie des Herrschaftsdiskurses. Sie birgt sowohl weitereichende Implikationen für das sprechende Subjekt auf der Position des Agenten als auch für den Adressaten des Diskurses. Auf der Seite des im Herrschaftsdiskurs sprechenden Subjekts findet eine fundamentale Identifikation mit dem oder den Herrschaftssignifikanten des Diskurses als identifikatorische Charakterzüge statt. (S1) entfaltet sich als einziger Zug, der selbst nicht interpretierbar ist, sondern nur in der Beziehung zu (S2) Bedeutung erlangt. Er verweist auf Identifikationen mit Idealen, welche innerhalb einer Rechtsordnung als Gesellschaftsideal operieren.247 Der souveräne Agent des Herrschaftsdiskurses, welcher sich vollständig mit (S1) identifiziert, befiehlt dem anderen die Bestätigung und Umsetzung des in (S1) enthaltenen Ideals. Es handelt sich hierbei um einen Gedanken, der schon in Hegels „Herrschafts- und Knechtschafts-Dialektik“ enthalten ist: Der Herr braucht einen dienenden anderen, welcher sein Gebot akzeptiert und damit erst die Voraussetzung für den Herrn schafft, die identifikatorische und operative Position als Herrschender einzunehmen.248 Der Souverän hat kein originäres Bedürfnis, das Wissen, welches der Dienende angesammelt hat (S2), zu verstehen, denn sein einziges Anliegen besteht grundsätzlich darin, dass sein Gebot umgesetzt wird, so dass sich mit Grigg sagen lässt: „Der wahre Herrscher rührt keinen Finger.“249

Paradoxerweise ist auch das Produkt des Herrschaftsdiskurses – objet petit’a als Designator des Mehr-Genießens – für seinen Agenten von untergeordneter Bedeutung. Der Vergleich des Mehr-Genießens mit dem von Marx theoretisierten Mehrwert trägt hier maßgeblich zum Verständnis bei, weil der Mehrwert dasjenige bezeichnet, was der Kapitalist aus der Arbeit seiner Arbeiter gewinnt.250 Er repräsentiert ein Mehr-Genießen, zu welchem kein direkter Zugang auf der Ebene des Bewusstseins steht, sondern das auf ein unbewusstes Phantasma deutet, welches nicht mit der an sich bedeutungslosen Wertschaffung oder dem materiellen Güterzuwachs zusammenfällt. Objet petit’a als Diskursprodukt steht dementsprechend in keiner direkten Beziehung zu der Position des Agenten, sondern wird über eine imaginäre Diagonale anvisiert, die in das Unbewusste deutet. Hieraus folgt, dass der Agent des Herrschaftsdiskurses regelmäßig verkennt, dass das wahre Anliegen seines 246 Bracher, On the Psychological and Social Functions of Language, in: Bracher/Alcorn/Corthell/Massardier-Kenney, Lacanian Theory of Discourse: Subject, Structure and Society, S. 113. 247 Vgl. Ragland, The Discourse of the Master, in: Apollon/Feldstein, Lacan, Politic, Aesthetics, S. 133. 248 Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 141 ff. (146). 249 Grigg, Lacan’s Four Discourses, S. 37. 250 Vgl. Žižek, The Sublime Object of Ideology, S. 11–55.

196

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

Sprechaktes in der Maskierung der Kastrationserfahrung liegt, indem er indirekt die unbewusste Repräsentation der prä-ödipalen Einheit anvisiert. Das Mehr-Genießen wird grundsätzlich nicht vom Agenten des Herrschaftsdiskurses genossen. Die überschüssige jouissance liegt auf der Seite des anderen. Obwohl sie – der Dialektik von Marx und Hegel folgend – auf der Seite des Knechts/Arbeiters als dem anderen produziert wird, geht sie nicht notwendig auf den Herrn über, was sich in der Funktion der Trennlinie als Unmöglichkeit oder Impotenz widerspiegelt. Der Grund hierfür liegt darin, dass die verdrängte Wahrheit des Agenten, seine raison d’être, das durch die Kastrationserfahrung gespaltene Subjekt und seine Determinierung durch ein unbewusstes Phantasma ist. Der Herrschaftsdiskurs versucht so das Unmögliche, indem er dem Adressaten seines Sprechaktes seinen Herrschaftssignifikanten aufbürden möchte. Der Agent verwechselt sein Wissen mit der Produktion von Wahrheit; tatsächlich befindet er sich aber in einem Sprachmodus der Macht, welcher nichts mit der Produktion von Wahrheit, welche nur in der Anerkennung des Begehrens des anderen auftreten kann, zu tun hat. Allerdings geht Lacan auch davon aus, dass sich eine Spur des Diskurses des Analytikers als dem originären Diskurs der Wahrheit in jedem Übergang von einem Diskursmodus zum nächsten findet. Der Adressat des Sprechaktes ist immer bemüht, die verborgene Wahrheit hinter dem Gesagten zu erkennen. Die Wiederholungen der Identifikationen im Herrschaftsdiskurs (S1) liegen „jenseits des Lustprinzips“ und setzen einen Grenzpunkt in das Sein und die Sprache, der den individuellen und gesellschaftlichen Austausch blockiert und den Herrschaftssignifikanten zu einem starren Designator narzisstischen Genießens macht. Durch die Entdeckung, dass psychotisches Sprechen ein mentaler Zustand des Seins innerhalb von Sprache, aber außerhalb des Tabugesetzes ist, kommt Lacan zu dem Schluss, dass sich die Funktion der Sprache von der des Diskurses unterscheidet. Der Psychotiker operiert in der Sprache, aber außerhalb des Gesetzes des phallischen Signifikanten. Das psychotische Subjekt orientiert sich folglich auf die Sprache in einem Metonymiegefälle als auf der Bahn der substituierenden Metapher.251 Recht artikuliert sich im Herrschaftsdiskurs, wenn es etwa in Form eines Gerichtsurteils oder eines Verwaltungsaktes erscheint. Die Wahrheit wird dabei in Bezug auf die Sprachkonventionen eines historischen Moments vorgestellt. Für den Herrschaftsdiskurs agiert der Wahrheitswert auf der Basis = ^ a). eines Phantasmas, auf das sich jeder Gebrauch von Sprache stützt ÈS Im allgemeinen Sprachgebrauch kann diese phantasmatische Grundlage mit dem Begriff der Subjektivität assoziiert werden. Der Herrschaftsdiskurs 251

Lacan, Das Seminar III: Die Psychosen, S. 253, 263.

E. Die psychoanalytische Seite des Rechts in Lacans Diskurstheorie

197

leugnet den Mangel-im-Sein und das Substrat des Begehrens in der Sprache. Schließlich leugnet er, dass es Sinnverknüpfungen zu Worten gibt, die außerhalb ihrer grammatikalischen, syntaktischen und semantischen Bedeutung liegen. Sowohl in seinem institutionellen Gebrauch als auch in der Alltagssprache oder Literaturkritik leugnet er, dass es das Begehren oder den Mehrwert in der Sprache überhaupt gibt. Lacan bezeichnet deshalb die Kommunikation zwischen dem Agenten des Herrschaftsdiskurses und dem anderen als unmöglich. Der Herrschaftsdiskurs identifiziert sich mit der Sprache der gesellschaftlichen Konvention des positivierten Phallus ÈS1 ! S2 =Fê. Diese Position des Maskulinen liegt in Lacans Diagramm der Sexuierung dort, wo die Sprache ein universelles Gesetz von dem, was legitim gesagt werden kann, hervorbringt. Der Agent des Herrschaftsdiskurses begreift seine Sprache als Realität. Deswegen schreibt Lacan „unmöglich“ über die Verbindung zwischen (S1) und (S2) in der Diskursstruktur.252 Wenn der Herrschaftsdiskurs als Sprache des Anderen dient, um seinem Adressaten die notwendige Maskerade zu vermitteln, liegt die Wahrheit fern. Nach dem psychoanalytischen Wahrheitsbegriff, welcher sich auf das Begehren des Subjekts bezieht, ist der Herrschaftsdiskurs auf Lüge und Doppelzüngigkeit gegründet, wohingegen es der Diskurs des Analytikers erlaubt, die Wahrheit zu sprechen und damit die Liebe einschließt. Kein Zeichen der Liebe ist das Genießen bzw. die jouissance des Anderen. Auch sexuell initiierte jouissance ist kein Zeichen der Liebe, sondern der Wechsel von einem Diskurs zum nächsten. Der Agent eines Diskurses sendet eine Botschaft an sein Gegenüber. Dies schafft eine Bedeutung im Hinblick auf seine Anerkennung des anderen, die man als Wahrheit begreifen kann. Während sich der Herrschaftsdiskurs demnach durch Doppelzüngigkeit und Verdrängung auszeichnet mit der unbewussten Absicht, die Wahrheit zu kaschieren, dass Begehren, Phantasma oder Emotion eine bedeutungsvolle Funktion in der Sprache einnehmen, ist diese implizite Negation in dieser Verleugnung selbst die funktionale Wahrheit.253 Lacans Subjekt ist das Subjekt des unbewussten Begehrens, dessen Sprache die des Phantasmas ist, welches Sprache dazu bringt, nach etwas anderem zu streben als sie vorgibt. Hierin spiegelt sich die fundamentale Unsicherheit gegenüber dem Begehren des Anderen wider, welche das Subjekt unaufhörlich mit der unlösbaren Frage nach dem Inhalt dieses Begehrens konfrontiert [Che vuoi? bzw. S (A)]. Der Mangel-im-Sein regiert die Sprache an dem Punkt, wo das Genießen in repetitive Unlust umschlägt. Auf der Primärebene äußert sich 252

Lacan, Le Séminaire XX: Encore, S. 26. Vgl. Hyppolite, A Spoken Commentary on Freud’s Verneinung, in: The Seminar of Jacques Lacan Book I: Freud’s Paper’s on Technique, S. 289-97. 253

198

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

dies in erkennbaren Grenzen, die innerhalb der grammatikalischen Sprachstruktur bestehen. Auf der Sekundärebene sind es exakt die Begrifflichkeiten des Diskurses, die sein Agent benutzt. Obwohl Lacans Herrschaftsdiskurs auf die Verdrängung und Verleugnung jeder Wahrheitsfunktion in der Sprache gestützt ist, die abseits der Identifizierung von Worten zur Beschreibung positiver Fakten oder empirischer Realitäten liegt, erkennt der Agent dieses Diskurses seinen Adressaten als Subjekt an und muss damit als Teil des Gesellschaftlichen begriffen werden. Indem ein Signifikant bezeichnet wird, der dem Adressaten Wissen bedeuten soll, liegt im Herrschaftsdiskurs, selbst wenn er in einem imperativen Modus vorgetragen wird, ein Potential des Zweifels. Allein die Tatsache, dass der andere adressiert wird, bürgt dafür, dass der Sprecher seine Andersheit anerkannt und gezeigt hat, dass das Subjekt gespalten ist. In der vollkommenen Abwesenheit jeder Unsicherheit besteht kein Grund mehr, überhaupt zu dem anderen zu sprechen. Wenn Psychotiker zu einem anderen als Anderer sprechen, geht es nicht um die Vermittlung eines bestimmten Wissens, das auf der paradoxen Koexistenz von Gewissheit (S1) und = ) beruht, der ihr entgegengesetzt ist. Hierin liegt die Mangel-im-Sein (S grundsätzliche Unsicherheit, auf die Subjektivität gegründet ist. Der Agent des Herrschaftsdiskurses spricht, um sicherzustellen, dass der andere das Phantasma seiner Identität verifiziert und bestätigt. So entsteht eine implizite Dualität in seiner Sprache. Der Agent des Herrschaftsdiskurses glaubt schließlich, dass seine Aussage wahr ist. Seine Intention ist es, eine Botschaft als Wissen zu vermitteln, welche faktisch das Genießen und den Affekt vom Feld der Bedeutung ausschließt, abgesehen von dem narzisstischen Genießen, den eigenen Willen durchgesetzt zu haben, denn der Herrschaftsdiskurs leugnet die unbewusste Dimension, die der bewussten Sprache entgegengesetzt ist. Folglich ist die Struktur des Phantasmas – =S ^ a – im Herrschaftsdiskurs ausgeschlossen. 5. Das Gesetz ist das Gesetz: Legislatur als Herrschaftsdiskurs In legislativen Akten tritt die Struktur des Herrschaftsdiskurses besonders deutlich hervor, denn hier agiert der Souverän, der im Zentrum der staatlichen Macht steht. Der Diskurs des Gesetzgebers basiert allerdings auf einer notwendigen Täuschung seiner Adressaten und zwar konkret über den Mangel im großen Anderen, der hier für die Gesamtheit der Rechtsordnung steht: Die vorgebliche Konsistenz in der Zeichenordnung des Rechts gehört zu den Essentialia des rechtlichen Herrschaftsdiskurses. (S1) operiert als Name-des-Vaters als einziger Zug, d.h. als geschlossene und konsistente

E. Die psychoanalytische Seite des Rechts in Lacans Diskurstheorie

199

symbolische Ordnung und gerade nicht als Signifikant des Mangels im An= )]. Diese Täuschung ist allerdings notwendig, weil (S1) tatsächderen [S(A lich zumindest insofern auf den Signifikanten des Mangels im Anderen verweist, als immer die Gefahr besteht, dass sich das Subjekt des Mangels, sprich der Leere (Bedeutungslosigkeit) von (S1) bewusst wird. Der Herrschaftsdiskurs des Rechts kann insgesamt nur effizient operieren, wenn die Rechtssubjekte an eine stabile Beziehung der Rechtssignifikanten zueinander glauben, mittels derer Bedeutung fixiert werden kann, anstatt – wie tatsächlich – im Metapher- und Metonymiegefälle immer wieder zu entgleiten. Dies geschieht entweder mittels imaginärer und symbolischer Identifikationen oder mittels eines verdrängten Phantasmas, in welchem objet petit’a als Barriere des Mangels im Anderen fungiert und so dem Sein und Diskurs des Herren Konsistenz vermittelt. Das Ergebnis dieser Operation ist ein Glaube an die (ungespaltene) Einheit.254 Auf der Ebene des Rechtsdiskurses funktioniert dieser Glaube als Garantie der Herrschaft über die Anerkennung der bedingungslosen Autorität des Namensdes-Vaters, die als Ursprung jeden Gesetzes fungiert. Hieraus folgt, dass jeder Rechtsdiskurs eine grundsätzliche Affinität zum Herrschaftsdiskurs hat, denn er adressiert immer aus der einen oder anderen Richtung den in das Unbewusste des Subjekts eingeschriebenen Namen-des-Vaters. Die diskursive Herrschaft des Rechts beruht damit auf einem „Trick“, durch den der = )] ausgeblendet wird. So wird eine jedem Diskurs inhärente Mangel [S(A umfassende Seins-Garantie des Subjekts und der Konsistenz und Kohärenz der gesellschaftlichen Ordnung geschaffen. Obgleich der Signifikant des vollständigen, mangellosen Anderen [S(A)] auf einer phantasmatischen Grundlage operiert, wirkt dieses Phantasma durch den fest im Unbewussten des – nicht psychotischen – Subjekts verankerten Namen-des-Vaters innerhalb der métaphore paternelle.255 Der Name-des-Vaters in seiner beständigen Präsenz als imaginärer Signifikant der Einheit legt das Fundament für die Überzeugung in der Rechtspraxis, dass der Andere nicht mangelhaft ist, weil das Gesetz die Vollständigkeit und Konsistenz des sozialen Bandes und der symbolischen Ordnung garantiert. Die Bedeutung der Verknüpfung des Namens-des-Vaters und dem Rechtsdiskurs liegt somit darin, dass das positive Recht die Autorität für die Bestimmung einer Verknüpfung eines Wortes zu einem Ding beansprucht und so – in letzter Konsequenz – der menschlichen Bestimmung von Leben und Sterben Bedeutung gibt. Der Diskurs der Primärquellen des Rechts funktioniert damit unter der Prämisse, dass (S1) einen Sonderstatus erhält: Dieser liegt erstens darin, 254

Ragland, Essays on the Pleasure of Death, S. 198. Lacan, On a Question Preliminary to Any Possible Treatment of Psychosis, in: Écrits: A Selection (Fink), S. 190 (Rn. 557) mit Bezug auf Schreber. 255

200

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

dass das positive Recht im Rechtsdiskurs dieselbe Funktion einnimmt, wie das Gesetz des ödipalen symbolischen Vaters. Zweitens sind es die Herrschaftssignifikanten des Gesetzes, welche sich über die métaphore paternelle im Unbewussten des Subjekts einschreiben und es damit an das positive Recht binden: Diese Bindung entsteht dadurch, dass die phantasmatische mütterliche Einheit durch die metaphorische Substitution mit dem Namen-des-Vaters und jeder auf ihn folgenden Ableitung in der Signifikationskette, d.h. mit jeder positiven Norm (sofern die Substitution funktioniert) besetzt. Die Dimension des Rechtsdiskurses, welche in der Struktur des Herrschaftsdiskurses operiert, basiert mithin auf der „sinnlosen“ Autorität der imperativen Verkündungen der Herrschaftssignifikanten des Rechts (S1), aber in dem spezifischen Sinn, dass diese Imperative, nach denen „das Gesetz das Gesetz“ ist, das Subjekt des Unbewussten mit der gesellschaftlichen Ordnung und dem positiven Recht verbinden. In dieser Tautologie liegt gleichzeitig eine dem Gesetz anhaftenden Kritik, die Žižek so formuliert: „Das erste Gesetz (‚Das Gesetz ist . . .‘) bezeichnet insofern das allgemeine Gesetz, als es auf einer abstrakten Ebene dem Verbrechen gegenüber gestellt wird, wohingegen das zweite Gesetz (‚. . . das Gesetz‘) die versteckte Wahrheit des ersten offen legt: die obszöne Gewalt, das absolute, universalisierte Verbrechen als seine versteckte Kehrseite. Wir können diese versteckte Dimension in der gewöhnlichen, ‚spontanen‘ Lesart spüren. Wird dieser Satz nicht genau dann vorgebracht, wenn wir mit einem ‚unfairen‘, ‚unverständlichen‘ Ge- oder Verbot durch das Gesetz konfrontiert sind?“256

Mit anderen Worten: Der eigentliche Sinn dieser Tautologie besteht darin, dass das Gesetz in seiner fundamentalsten Dimension ein radikales Gewaltelement enthält, welches den Anspruch nach Befolgung von der persönlichen Akzeptanz vollkommen loslöst. Die Position des Gesetzes als Herrschaftssignifikant ist die einer vollständigen Leere. In seinem Kern beansprucht ein Rechtssystem keinen spezifischen positiven Gehalt und rechtfertigt sich nicht durch Vernunfterwägungen. Das Rechtssystem kümmert sich nur darum, dass es funktioniert.257 Dieser Ansatz scheint zu implizieren, dass die Differenz zwischen Recht und Gesetz aufgehoben ist und folgt damit im Grunde dem radikalen rechtspositivistischen Ansatz. Der Unterschied liegt allerdings darin, dass der Rechtspositivismus eher eine Forderung dahin formuliert, dass keine metaphysische Vorstellung von einem gerechten Recht als Korrektiv oder Bewertungsgrundlage des positiven Gesetzes herangezogen werden darf oder genauer: „kann“ (weil mit Kant das 256

Žižek, For They Know Not What They Do: Enjoyment As A Political Factor,

S. 48. 257 Schroeder, The Four Discourses of Law: A Lacanian Analysis of Legal Practice and Scholarship, in: 79 Texas Law Review, S. 49.

E. Die psychoanalytische Seite des Rechts in Lacans Diskurstheorie

201

„Ding an sich“ als dem außerhalb der Sinneswahrnehmung stehenden „Denkinhalt“ im Gegensatz zum „Gedachten“, unzugänglich ist), während der psychoanalytische Ansatz eher unterstreicht, dass die Vorstellung von Recht immer nur über den Herrschaftssignifikanten vermittelt werden kann, so dass auch das „gerechte Recht“ als Kritik des positiven Gesetzes wiederum („nur“) darauf gerichtet ist, einen (anderen) Herrschaftssignifikanten zu produzieren. Diese Kritik ist aber nicht Teil des Herrschaftsdiskurses. Das zentrale Problem, welches die Vernunft als Grundlage des Rechts hat, ist, dass sie auf der phantasmatischen Vorstellung eines eindimensionalen Begehrens beruht, welches aber nur in einer vollständig homogenen Gruppe bestehen könnte, die es in den modernen Gesellschaften nicht gibt und wohl auch nie gegeben hat. Es handelt sich dabei um ein Phänomen, welches Marx in seiner Analyse der „Klassengesellschaft“ als absolutem Antagonismus genau beschrieben hat und welches in der bürgerlichen Gesellschaft trotz starker Nivellierungen nicht aufgelöst werden konnte und gerade im globalen Kontext nach wie vor fortbesteht. Die hier vorgeschlagene Diskurstheorie unterstreicht, dass das Begehren durch die verschiedenen Diskurse hindurch geht und auf legislativer Ebene im Herrschaftsdiskurs mündet. Während das Rechtszeichen in dem hysterischen, analytischen und teilweise auch im akademischen Diskurs auftritt, ist das Gesetz an sich ein Zeichen, das dem Herrschaftsdiskurs zuzuordnen ist.

III. Das autonome Ich im Diskurs der Universität Der zweite Diskurs der Macht ist der Diskurs der Universität. Lacan entwickelte ihn maßgeblich im Kontext der 1968er Bewegung, in deren Zuge er seine Lehrerlaubnis an der École Normale Supérieur verlor, weil sein Seminar als eine der „Brutstätten“ der revolutionären Ideen ausgemacht worden war. Diese Einschätzung schien sich zu bestätigen, als seine Entlassung von massiven Studentenprotesten begleitet wurde. Im Nachhinein stellt sich allerdings die Frage, inwieweit Lacan die treue Gefolgschaft der an radikalen Systemkorrekturen interessierten Studenten tatsächlich verdiente. Zwar sah er in ihnen einerseits die Opfer, die durch die Struktur und Pädagogik der Universität gespalten und (intellektuell) „ausgebeutet“ wurden. Andererseits erkannte er in ihrer neomarxistischen Rhetorik denselben Machtdiskurs, den der bekämpfte Lehrkörper pflegte, was sich insbesondere im Gebrauch von Herrschaftssignifikanten wie „Imperialismus“, „Unterdrückung“ und „Freiheit“ manifestierte. Der Protest gegen die traditionellen Universitäten war für Lacan deshalb eine Travestie des aufrichtigen intellektuellen Fortschritts. Seine Ideologiekritik gipfelt vielleicht darin, dass er das Sow-

202

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

jetsystem, welches sich als „Herrschaft der Experten“ verstand, als Inbegriff des Universitätsdiskurses bezeichnet.258 In Lacans Schematisierung stellt der Diskurs der Universität eine 90º Verschiebung des Herrschaftsdiskurses gegen den Uhrzeigersinn dar: S2 ! a =S S1

Der Agent des Diskurses identifiziert sich mit dem Wissen selbst. Von der Position des Befehls oder Gebots, welche ursprünglich durch den Souverän eingenommen wurde, agiert nun ein „Subjekt des neutralen Wissens“. Anders als der Souverän, das Subjekt der „reinen“ Autorität, das allein auf seinen Status gestützt die Befolgung und Unterwerfung unter seinen Willen verlangt, beansprucht die Universität ihre Autorität aufgrund von Wissen, Vernunft oder Expertise. Die Universität richtet sich an das objet petit’a als ihren anderen, welches im vorausgehenden Diskurs durch seinen Ausschluss produziert wurde. Es ist das Überbleibsel des Realen, welches – im Zuge der pädagogischen Wissensvermittlung – das „rohe, unkultivierte Kind“ ist, das zu einem Subjekt gemacht werden soll.259 Gleichzeitig ist es dasjenige, was vom Adressaten des Herrschaftsdiskurses begehrt wird, weil es ihm – obwohl produziert – gleichermaßen vorenthalten wurde. Die Universität spricht genau diesen Mangel an: Das Objekt des Begehrens wird, indem man es studiert, erklärt und schließlich rationalisiert.260 Eines von Lacans Beispielen hierfür ist die Universität, welche den marxschen Mehrwert, der durch Arbeit geschaffen, aber durch das Kapital enteignet wird, wissenschaftlich untersucht, aber anschließend den kapitalistischen Status Quo rechtfertigt. Im Diskurs der Universität sind die unbewussten Begriffe die Signifikanten des Mangels-im-Sein des Adressaten und der Herrschaftssignifikant des Sprechers. Die verdrängte Wahrheit der Universität ist, dass sie sich auf eine formale, „leere“ Signifikation der Macht stützt. Die konstituierende „Lüge“ dieses Diskurses besteht mithin darin, dass sie die performative Dimension verleugnet, in der sich zeigt, was effektiv zu einer auf Macht gestützten politischen Entscheidung gehört.261 Lacan geht davon aus, dass je258

Lacan, Le Séminare XVII: L’Envers de la Psychanalyse, S. 237-8. Žižek, Four Discourses, Four Subjects, in: Žižek, Sic 2: Cogito and the Unconscious, S. 75 ff. 260 Bracher, On the Psychological and Social Functions of Language: Lacans Theory of the Four Discourses, in: Bracher/Alcorn/Corthell/Massardier-Kenney, Lacanian Theory of Discourse: Subject, Structure and Society, S. 115 ff. 261 Fink, The Lacanian Subject: Between Language and Jouissance, S. 130. 259

E. Die psychoanalytische Seite des Rechts in Lacans Diskurstheorie

203

der Diskurs, der die Fehlstellen einer Gesellschaft zu erklären und in Vernunftkategorien zu integrieren versucht, am Ende immer die bestehende Ordnung rechtfertigt. In seiner Analyse des Herrschaftssignifikanten sieht er dessen fundamentalen Grund in einem Ich, das sich radikal auf sich selbst bezieht und gleichzeitig eine transzendente Dimension enthält. Jeder Agent der wissenschaftlichen Forschung nimmt automatisch die Position eines Subjekts ein, das vollständig in seinem Wissen aufgeht. Hierin liegt eine Identifikation, die auf der Annahme eines radikal auf sich selbst bezognen Ichs beruht, einem Herrschaftssignifikanten, der für die ultimative Wahrheit steht, sich damit aber notwendig dem Herrschaftsdiskurs unterwirft:262 „Die Philosophie, sagt Lacan, hat immer dem Herren gedient und sich in den Dienst der Rationalisierung und der Stützung des Herrschaftsdiskurses als fatalste Form der Wissenschaft gestellt.“263

Der Diskurs der Universität ist damit wie der Herrschaftsdiskurs ein Machtdiskurs, deren historische Beziehung zueinander darin besteht, dass die Universität seither den Herrschaftswillen durch Verschleierung seines rohen Machtanspruchs legitimiert hat. So hat der akademische Diskurs im modernen demokratischen Staat eine zentrale Funktion eingenommen, die im wesentlichen darin besteht, die Vorstellung von einem autonomen, selbst-bezüglichen Ich in der Gesellschaft zu installieren und aufrecht zu erhalten, damit der Herrschaftsdiskurs unangefochten bleibt: Dem Jurastudenten wird oft vermittelt, dass das Ergebnis seiner Subsumtion weniger entscheidend, als deren argumentative Ausarbeitung ist. Letztlich kann er sich jedoch der Erkenntnis nicht verschließen, dass er sich in der Regel, um erfolgreich in einem juristischen Beruf bestehen zu können, den bestehenden Herrschaftsdiskursen der obersten Gerichte oder des Gesetzgebers im Rahmen von Gesetzesbegründungen anschließen muss. Dass der akademische Diskurs einen Bezug zum Herrschaftsdiskurs hat, ist – mit weitereichenden Differenzierungen – auch von anderen herausgearbeitet worden: So geht Pierre Bourdieu in seiner Analyse des „homo academicus“ davon aus, dass wissenschaftliche Reflexivität die „Objektivierung des objektivierenden Subjekts“ als die umfassende Infragestellung der im Alltag nur ansatzweise hinterfragten Bedingungen und Folgen des eigenen Deutens und Handelns erfordere. Eine reflexive Wissenschaftspraxis ist danach nicht allein eine Frage subjektiven Wollens, sondern vor allem objektiver Bedingungen, die Deutungs- und Handlungsspielräume ermöglichen 262 Bracher, On the Psychological and Social Functions of Language: Lacans Theory of the Four Discourses, in: Bracher/Alcorn/Corthell/Massardier-Kenney, Lacanian Theory of Discourse: Subject, Structure and Society, S. 116-7. 263 Fink, The Lacanian Subject: Between Language and Jouissance, S. 132.

204

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

und begrenzen. Diese finden sich in den klassen-, geschlechter- und generationenspezifischen Habitusformationen der wissenschaftlichen Akteure und den ökonomischen, sozialen und kulturellen Axiomen der Forschenden, die als symbolisches Kapital Anerkennung finden und schaffen so die geschriebenen und ungeschriebenen Regeln des akademischen Feldes. Die Möglichkeit oder Unmöglichkeit wissenschaftlicher Reflexivität wird nach Bourdieu wesentlich durch verinnerlichte und äußerliche Strukturen bestimmt, in die gesellschaftliche Machtverhältnisse eingeschrieben sind.264 Man könnte danach folgern, dass sich die „Herrschaftshörigkeit“ des akademischen Diskurses danach bestimmt, in wie weit die jeweiligen Machtverhältnisse von dem Forschenden, Lehrenden oder Studierenden verinnerlicht worden sind. Die radikale These, dass der akademische Diskurs den Machtanspruch des Herrschaftsdiskurses lediglich verschleiern will, kann damit zwar als Tendenz, nicht aber als abschließende oder ausschließliche Beschreibung des akademischen Diskurses aufrechterhalten werden. Das Produkt des Diskurses der Universität, welches gleichsam aus dem Diskurs heraus fällt, ist nach Lacan das entfremdete, gespaltene Subjekt selbst, welches von dem allumfassenden System von Wissen und Glauben (S2), das auf der Position des Agenten steht, dominiert und in diesem Zuge erst „subjektiviert“ wird. In seiner ursprünglichen Form in der Chronologie des Subjekts wird die Position des Agenten regelmäßig von den Eltern besetzt, welche durch ihre Handlungen und Sprache dem Kind eine Position innerhalb des bedeutungsvermittelnden Wissenssystems zuweisen. Wenn wir beginnen die Sprache zu verstehen, müssen wir zu einer Identität gelangt sein, welche sich durch den Zugang zu den Signifikanten des Wissens von der Position des (S2) formt.265 Žižek merkt hierzu an: „Zu vermeiden ist hier das Foucaultsche Missverständnis: Das so produzierte Subjekt ist nicht einfach die Subjektivität welche als Ergebnis der disziplinierenden Anwendung von Herrschaftswissen auftritt, sondern sein Überbleibsel, das sich dem Griff der Wissensmacht entzieht, der Überschuss, der seiner Integration in das diskursive Netzwerk widersteht.“266

Der akademische Diskurs, der das Begehren des Subjekts in einen wissenschaftlichen Kontext setzt und erklärt, hat selbst keinen Raum für das Subjekt und die Erfahrung seines Leidens an seinem „Entfremdet-Sein“ 264

Langthaler, Geschichte(n) über Geschichte(n). Historisch-anthropologische Feldforschung als reflexiver Prozess, in: Historical Social Research, Vol. 30, No. 1, S. 201. 265 Bracher, On the Psychological and Social Functions of Language: Lacans Theory of the Four Discourses, in: Bracher/Alcorn/Corthell/Massardier-Kenney, Lacanian Theory of Discourse: Subject, Structure and Society, S. 115. 266 Žižek, Four Discourses, Four Subjects, in: Žižek, Sic 2: Cogito and the Unconscious, S. 78.

E. Die psychoanalytische Seite des Rechts in Lacans Diskurstheorie

205

unter der Herrschaft der Signifikanten. Indem er das Subjekt des Begehrens zu einem „Subjekt des Studiums“ macht, spaltet er das Subjekt von seinem eigenen Begehren ab. Hierin liegt die Gewalt dieses Machtdiskurses. Lacan macht damit den Studenten als das Subjekt der Universität zum Paradigma des entfremdeten Subjekts.267 1. Rechtsauslegung als Wirkungseinheit von Herrschafts- und Universitätsdiskurs Nur ein Bruchteil der tatsächlich stattfindenden Rechtsdiskurse ist vollständig in die Struktur des Herrschaftsdiskurses eingeschrieben, denn der Bestimmung dessen, was das Recht ist, geht regelmäßig ein Prozess der Rechtsauslegung voraus. Insofern beschränkt sich der reine Herrschaftsdiskurs auf den Akt der Gesetzes- und der Urteilsverkündung, wobei auch hier ein – allerdings verdrängtes – Vorstadium der Interpretation des vorbestehenden Rechts durchlaufen wird, auf welches sich der Autoritätsanspruch des Gesetzgebers und des Gerichts in liberalen Demokratien stützt. Eine Möglichkeit der Interpretation des Rechtsdiskurses liegt in seiner Analyse im Rahmen des Herrschaftsdiskurses und des Diskurses der Universität. Das spezifische Erkenntnisziel ist hier auf das Verständnis gerichtet, wie der Rechtsdiskurs nicht nur mit dem Namen-des-Vaters (S1), sondern auch mit dem Subjekt des Unbewussten und dem Mehr-Genießen umgeht. Diese Analyse bildet die Grundlage für ein weiterführendes Verständnis des Rechtsdiskurses als partikuläre Ordnung und Ökonomie des Begehrens, der Identifikation und der Bedeutung. Auf dieser Ebene sollen die Auswirkungen von Lacans Diskurstheorie für eine umfassendere Gesellschaftstheorie herausgearbeitet werden, welche darauf basiert, dass „jede Gruppe oder Institution nicht nur die Frage stellen muss, worin die jouissance hinter ihrem Narzissmus liegt, sondern auch, welche jouissance sie sich im gesellschaftlichen Diskurs zuschreibt. Es muss nicht nur die Frage nach dem eigenen Begehren, sondern auch die nach dem des Professors, Doktors, Juristen, Ministers, etc. gestellt werden.“268

Jeder Rechtsdiskurs enthält eine Reihe von Schlüsselelementen, die ihn als solchen identifizieren: Von herausragender Bedeutung ist hierbei die Bezugnahme auf die Quellen des Rechts, sprich die Rechtssetzungsakte der staatlichen Gesetzgebungsorgane, der Legislatur, der Verfassung etc. und die Auslegungen dieser Quellen. Darüber hinaus ist zwischen den Rechts267 Schroeder, The Four Discourses of Law: A Lacanian Analysis of Legal Practise and Scholarship, in: 79 Texas Law Review, S. 56. 268 Ragland, Discourse of the Master, in: Apollon/Feldstein, Lacan, Politics, Aesthetics, S. 145.

206

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

diskursen, welche auf der unteren Ebene des positiven Rechts, sprich der Gesetze, Verordnungen etc., operieren und solchen, die auf eine progressive Fortentwicklung des Rechts unter Berufung auf Verfassungsgrundsätze oder grundlegende Prinzipien des römischen Rechts gerichtet sind, zu unterscheiden. Der Diskurs, welcher sich auf die Primärquellen des Rechts bezieht, hat die Struktur des Herrschaftsdiskurses: S1 ! S2 =S a

(S1) ist das Wort des Gesetzes oder des Gesetzgebers auf der Position des Agenten. (S2) repräsentiert die Rechtsgemeinschaft auf der Position des anderen als primärer Adressat und Ort der Akkumulation von Rechtswissen und rechtlichem savoir-faire. Der Rechtsdiskurs, in welchem die Herrschaftssignifikanten der Primärquellen des Rechts interpretiert und angewendet werden, hat die Struktur des Diskurses der Universität: S2 ! a =S S1

(S2) bezeichnet hier das formalisierte und rationalisierte Wissen des Rechts in der Position des Agenten. Objet petit’a repräsentiert den Grund des Rechtssuchenden – sei es als Student oder Streitpartei – vor das Gesetz zu treten. Betrachtet man den Rechtsdiskurs folglich als Kombination des Herrschaftsdiskurses und des Diskurses der Universität, lässt sich als Ergebnis des Übergangs von einem zum anderen Diskurs auf eine Subjektivierung der Motivation des Sprechaktes schließen: Agent S1 =S

anderer !

S2 a

ã) Agent S2 S1

anderer !

a =S

Die Beziehung zwischen diesen beiden Ökonomien des Rechtsdiskurses erfährt eine entscheidende Änderung, wenn das Recht unterhalb der Verfassung und den allgemeinen Prinzipien als Primärquelle gewählt wird. In diesem Fall liegt die Struktur des Diskurses der Universität der Primärquelle des Rechts zugrunde. Der Prozess, in welchem legislative Rechtssetzung auf der Grundlage einer vorausgegangenen Rechtsprechung oder eines akademischen Diskurses erfolgt, birgt folglich das Paradoxon, dass das Gesetz als Herrschaftssignifikant (S1) aus einer Systemoperation vorausgehender Interpretation von Herrschaftssignifikanten entstehen kann.

E. Die psychoanalytische Seite des Rechts in Lacans Diskurstheorie

207

Ein Beispiel ist die gesetzliche Fixierung der culpa in contrahendo als einem aus der Rechtsprechung stammendem Rechtsinstitut. (S1) bezeichnet das positive Gesetz, welches als verdrängte Wahrheit des Diskurses operiert, wohingegen (S2) als Wissenssystem erinnerter oder niedergelegter Präzedenzfälle operiert. Die Funktion des souveränen Gesetzgebers wird zugunsten des narzisstischen Begehrens des Gesetzesauslegers maskiert. Herrschaftssignifikanten (S1) sind allerdings nur Bruchstücke einer Bedeutung, es handelt sich eigentlich um „sinnlose“, eindimensionale Signifikanten, welche erst in das System des Wissens (S2) integriert werden müssen, um innerhalb des Diskurses eine dialogische Bedeutung zu erlangen. Es liegt deswegen nicht fern, den Diskurs der Universität als den fundamentalen Diskurs der Rechtsauslegung zu bezeichnen. Die Analyse dieser beiden Stadien des Rechtsdiskurses, der die Rechtsquellen, sprich das positive Recht und das Urteil, hervorbringt, führt so zu der unbewussten Diskursstruktur der Gesetzgebung und darauf aufbauend der unbewussten Struktur rechtlichen Folgerns und Schließens. Der Diskurs der Rechtsauslegung kann damit adäquat nur unter dem Aspekt des Zusammenwirkens von Herrschaftsdiskurs und Diskurs der Universität beschrieben werden. Das Grundmodell der Entwicklung des modernen Rechtsdiskurses folgt dem historischen Prozess vom souveränen Monarchen und seiner von der Aufklärung ausgehenden Ablösung durch die repräsentative Legislatur. Diese historische Entwicklung spiegelt sich auch in Freuds Mythos vom Vatermord in Totem und Tabu wider: Das Paradoxon der modernen demokratischen Gesetzgebung liegt nach Freudscher Terminologie darin, dass es auf dem Mord an dem absoluten, keinen Beschränkungen unterworfenen Urvater als dem phantasmatischen Repräsentanten des Gesetzgebers und seiner Ersetzung durch einen – ihn repräsentierenden – Rechtskörper in der Funktion des toten symbolischen Vaters beruht, welcher im Namen der formell gleichgestellten und in diesem Sinne „leeren“ Subjekte des modernen Liberalismus agiert. Es scheint deswegen gut vertretbar, dass eben diese Leere zu der postmodernen Infragestellung der Grundlegungen einer universellen Ethik in der liberalen Demokratie von Kant bis Habermas geführt hat. So ist es praktisch wohl kaum noch möglich, ein Naturrecht aufzustellen, welches eine über-geschichtliche Stellung einnimmt.269 An dem Punkt, an dem ein Gesetz innerhalb des Herrschaftsdiskurses erlassen wird, tritt eine Spaltung auf, die Lacan als die Spaltung zwischen dem Urvater und dem toten Vater theoretisiert.270 Der souveräne Gesetz269 Vgl. Žižeks Kapitel „Formal Democracy and Its Discontents“, in: Looking Awry: An Introduction to Jacques Lacan through Popular Culture, S. 154–169 (157). 270 Lacan, Le Séminaire XX: Encore, S. 26.

208

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

geber in vor-demokratischen Rechtsordnungen sieht die Legitimation seines Herrschaftsdiskurses durch seinen Glauben an seine Königlichkeit, sprich tatsächlich ein König zu sein, vermittelt (und nicht lediglich der Platzhalter einer symbolischen Systemfunktion). Analog zum Urvater ist er nicht Gegenstand der Kastrationsandrohung und folglich auch ungerührt von der verdrängten Wahrheit des Herrschaftsdiskurses, dass er selbst mangelhaft = ). Die Produktion von Herrschaftssignifikanten in demokratischen Sysist (S temen steht hingegen im Zeichen des symbolischen Vaters: Der Erlass von Gesetzen ist nicht durch die verdrängte Wahrheit der Kastrationserfahrung gezeichnet, sondern durch die ermächtigende Gewissheit, dass der Urvater tot ist. Hieraus folgt eine Modifikation in Lacans Algorithmus des Herrschaftsdiskurses, wonach das gespaltene Subjekt als verdrängte Wahrheit des Agenten durch den Konsistenz vermittelnden Namen-des-Vaters (NdV) zu ersetzen ist: S1 ! NdV

S2 a

In demokratischen Rechtsordnungen ist der legislative Prozess die Inszenierung des Totems, sprich der symbolischen Repräsentation des toten Vaters. Das Subjekt entwickelt analog zum Brüderclan einen unbewussten Glauben an den Namen-des-Vaters, welcher mit dem Diskurs des positiven Gesetzes verwoben ist. Gleichzeitig wird in diesem Prozess der Glaube an die Autorität des Rechts im Unbewussten verankert. In ihrer Produktion von Herrschaftssignifikanten übergeht die Legislatur in demokratischen Systemen folglich die verdrängte Inkonsistenz des Souveräns im Herrschaftsdiskurs, indem sie die Funktion des symbolischen Vaters innerhalb einer phantasmatischen Operation in das Unbewusste des Subjekts einschreibt. Die Autorität des Gesetzgebers ist folglich von der Struktur des Unbewussten der Gesetzesadressaten und insbesondere der Rechtspraxis, sprich den Interpretatoren des Gesetzes abhängig, welche ihm diesen Status gewähren. Bevor die Rolle der Interpretatoren des Rechts im Rechtsdiskurs in der Bewegung vom Herrschaftsdiskurs zum Diskurs der Universität analysiert wird, ist es notwendig, den Blick nochmals auf das Stadium des legalen Ableitens und Schließens zu richten: Hierin spielt die Identifikation des Subjekts mit dem Gesetz eine tragende Rolle. Bevor die Rechtspraxis in ihrer Diskursposition als (S2) mit der Auslegung der Herrschaftssignifikanten (S1) beginnen kann, muss ein Prozess stattfinden, in dem diese Signifikanten aufgestellt werden. Hierzu muss die Rechtspraxis – vergleichbar mit dem legalen Konstrukt der „juristischen Sekunde“ – zumindest für einen logischen Moment die Position des Souveräns einnehmen. Die Rechtspraxis

E. Die psychoanalytische Seite des Rechts in Lacans Diskurstheorie

209

ist damit demselben Problem wie die Legislative ausgesetzt, ihre eigene gespaltene Seinsposition verdrängen zu müssen, die sich aus der Unterwerfung unter den phallischen Signifikanten ergibt. Dies geschieht über die Identifikation mit den gesellschaftlichen Idealen, die durch die spezifischen legislatorischen Akte des Gesetzgebers repräsentiert werden. Die erste Stufe der Gesetzesauslegung ist damit eine profunde Identifikation mit dem toten Vater. Diese wird allerdings umgehend verdrängt und das Subjekt kehrt auf seine originäre Position als Interpret des souveränen legislativen Sprechaktes, d.h. als anderer des Herrschaftsdiskurses zurück. In dem Moment, in dem das Subjekt das Recht des Agenten des jeweiligen Herrschaftsdiskurses (an-)erkennt, identifiziert es sich mit dem Souverän. Dabei findet ein Übergang vom Herrschaftsdiskurs hin zum Diskurs der Universität statt, der – wie Lacan fortwährend unterstreicht – ein Effekt der Übertragung von Liebe ist. Der Moment der Rechtserkenntnis bezeichnet damit in Anlehnung an Hegels Terminologie die Übertragung von Liebe vom Herrn zum Knecht. Mit anderen Worten: Die Akzeptanz von Legislatur trägt auch ein vermutetes Wissen um die Liebe des Herrn in sich, welches vom Subjekt als Wahrheit erfahren wird. So kann man folgern, dass die Annahme dieser Übertragung und dem damit verbundenen Wechsel hin zum Diskurs der Universität letzteren als den eigentlichen Diskurs der Rechtsauslegung entlarvt. Im Diskurs der Rechtsvollstreckung findet hingegen kein Übergang vom Herrschafts- zum Universitätsdiskurs statt, denn in ihr bleibt die Identifikation mit dem Souverän aus. Der Diskurs des Rechtsvollstreckers ist vielmehr ein Diskurs des Über-Ichs, d.h. ein Diskurs für das Objekt der jouissance des Anderen. Entscheidend ist hier sowohl die Rolle des objet petit’a als auch das Mehr-Genießen, welches das Produkt des Herrschaftsdiskurses darstellt und die Unterwerfung unter den Herren anstelle einer Identifikation mit ihm enthält. So lässt sich argumentieren, dass die staatliche Exekutive der „Knecht des Herren“ ist, wohingegen es der das Recht auslegende Jurist regelmäßig vermeidet, im Moment der Identifikation mit dem Herren die Position des Über-Ich Objekts des Diskurses einzunehmen. Der jeweilige Rechtsvollstrecker – sei es die Polizei oder ein Gerichtsvollzieher – nimmt im Herrschaftsdiskurs als Antwort auf den Herrschaftssignifikanten der Legislatur (S1) die Position des Knechtes ein. Dies spiegelt den obsessionellen Charakter des Diskurses der Universität wider, in dem die Identifikation mit dem Produkt des Herrschaftsdiskurses, dem savoir-faire des Gesetzgebers (S2), dessen universelles Wissen vermutet wird, stattfindet. Dieses Wissen wird zur Objekt-Ursache des Begehrens im akademischen Diskurs, seinem spezifischen objet petit’a als der verdrängten Wahrheit des Herrschaftswissens.

210

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

Im Moment der Identifikation des Rechtsauslegenden mit dem Gesetz als dem Wissen des Agenten des Herrschaftsdiskurses (S2) findet damit ein Diskurswechsel statt: Objekt (Gesetz) S2 a

!

Übertragung (Gesetzgeber) S1 =S

!

Agent (Interpret) S2 S1

Der Exekutivagent im Dienste der Ausführung oder Befriedigung des Herrschaftswillens entscheidet sich für die Identifikation mit dem objet petit’a anstelle von (S1) und verbleibt so in der Position des Knechtes. Dieses spezifische objet petit’a, welches das Begehren des Rechtsvollstreckers einfängt, lässt sich im Anschluss an die Erörterung von Lacans Kant mit Sade als Identifikation mit dem sadistischen Über-Ich ausmachen: S1 =S

! ^

S2 a

(S2) steht deswegen für das Wissen um die Bedeutung des Willens des Gesetzgebers, dessen verdrängte Wahrheit die Identifikation mit dem Phantasma des unbeschränkten Genießens des Urvaters ist. 2. Identifikation und Wechselbeziehung Im Moment der Identifikation mit der Autorität des Gesetzes wechselt der Diskurs der Rechtsauslegung seine Struktur vom Herrschaftsdiskurs zum akademischen Diskurs. Regelmäßig erfordert dies einen Wechsel von der Position der einfachen Unterwerfung unter den Willen des Herren hin zu einer Interpretation des Herrschaftsdiskurses, deren Ziel es ist, Rationalisierungen hervorzubringen. So lässt sich formulieren, dass die Liebe zur Wahrheit im Diskurs der Universität das Register der Bewegung des Diskursübergangs ist. Der Diskurs der Rechtsauslegung erscheint so als Interpretation des Herrschaftsdiskurses durch die Universität. Hierzu muss sich der Agent des Diskurses auf die Position des „Herrschaftswissen“ (S2) begeben. Die Aufgabe im Rahmen der Auslegung des Gesetzes oder von Präzedenzentscheidungen besteht darin, (S1) innerhalb des „Wissenskörpers“ des Rechts zu assimilieren und so die Bedeutung des Gesetzes zu garantieren. Die Herrschaftssignifikanten des Gesetzgebers fungieren hier als die verdrängte Wahrheit im Prozess der Rechtsauslegung, in der Juristen die Bedeutung des Gesetzes erklären, rationalisieren und rechtfertigen. Die Einnahme dieser Diskursposition schließt die gespaltene Natur des Subjekts

E. Die psychoanalytische Seite des Rechts in Lacans Diskurstheorie

211

aus, wodurch es der Rechtsauslegung ermöglicht wird, als rationaler und konsistenter Prozess zu erscheinen, ebenso wie sich die Legislatur ihrer Ratio versichert, indem sie das gespaltene Subjekt ausschließt und arbeitet, als ob das Subjekt des Unbewussten nicht existierte, sprich immun gegenüber der Erfahrung der Kastration, des Mangels und der Entfremdung in der Sprachordnung der Signifikanten wäre. Gleichermaßen wird die Anerkenntnis des Mangels im Anderen, der Inkonsistenzen der symbolischen Ordnung innerhalb der Rechtsauslegung, notwendig vermieden, denn Wissen in der Funktion von (S2) muss als vollständig, unwidersprüchlich und rational aufgefasst werden, damit der Diskurs Bedeutung vermitteln kann. Der Agent des Diskurses der Rechtsauslegung versichert sich selbst der Vernunft, Rationalität und Konsistenz des Wissens und des logischen Folgerns und Schließens, auf der die Interpretation des Gesetzes fußt. Der andere ist im Diskurs der Rechtsauslegung das objet petit’a, das Mehr-Genießen, welches der Diskurs produziert. Ziel ist es, das interpretierte Wissen als die für das Recht relevante Bedeutung auf den anderen als Objekt anzuwenden. Der Grund dieses Rechtsdiskurses ist hier die Prozesspartei oder auch das Ding im Beschuldigten, welches nach der richterlichen Erkenntnis für die Gesetzesübertretung verantwortlich ist. Das Überbleibsel des Herrschaftsdiskurses, sein Produkt, wird damit im Diskurs der Rechtsauslegung subjektiviert. Das Aufflackern sozialer Streitigkeiten und das Genießen jenseits des sozialen Bandes, insbesondere der strafrechtlichen Verhaltensgebote, müssen so als Ausdruck eines Mehr-Genießens verstanden werden, welches der Herrschaftsdiskurs generiert. In diesem Sinne übernimmt die Universität die Funktion, dieses Mehr-Genießen aus dem Studenten zu extrahieren, ebenso wie der Diskurs der Rechtsauslegung dies mittels der Streitpartei oder des Kriminellen tut. So lässt sich verstehen warum das Rechtssubjekt, wenn es „vor dem Gesetz“ steht, die Erfahrung von Angst und Stress macht: Es wird im psychoanalytischen Sinne vom Gesetz „subjektiviert“, sprich zu einem gespaltenen, „kastrierten“ Subjekt = ) gemacht. Hierin liegt natürlich eine allgemeine, niemals vermeidbare (S Erfahrung des Subjekts innerhalb der symbolischen Ordnung, deren Teil der Rechtsdiskurs letztlich ist. Allerdings zeigt sich dieser Effekt besonders deutlich, wenn das Subjekt als Streitpartei oder Beschuldigter die Objektposition des anderen im Diskurs einnimmt. Die Struktur des Rechtsdiskurses und die darin enthaltene Beziehung zu dem anderen erlaubt damit eine Konzeptualisierung des Rechts als Diskurs, der auf gesellschaftlicher Ebene Subjektivität produziert. Ein zentraler Aspekt in der Analyse des Diskurses der Rechtsauslegung ist weiterhin, dass die Wahrheit des Diskurses der Universität der Herrschaftssignifikant ist, welcher die Akademiker ungeachtet ihrer Rhetorik

212

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

dazu bestimmt, nicht mehr als das „Anhängsel“ der Autorität des Herrschaftsdiskurses zu sein. Im Rechtsdiskurs manifestiert sowohl die Identifikation mit dem Recht als auch mit dem Gesetz einen Moment der Unterwürfigkeit gegenüber der Autorität, welcher im Diskurs der Universität regelmäßig gut verschleiert wird. Dieser Moment tritt auf, wenn der Agent seine Stellung als Knecht gegenüber dem Herrn akzeptiert, indem er dessen Status anerkennt. Dieses Anerkenntnis bezieht sich unmittelbar auf den Satz „Das Gesetz ist das Gesetz“, wodurch die gesetzliche Funktion im Unbewussten mit den symbolischen und imaginären Konstruktionen innerhalb des Rechtsdiskurses verknüpft wird. 3. Totes Begehren und zwangsneurotische Züge in der Rechtsauslegung Im Diskurs der Rechtsauslegung sind die autoritären Signifikanten (S1) auf die Herrschaft des symbolischen – toten – Vaters bezogen, und es besteht, im Gegensatz zu der Interpretation der meisten anderen Herrschaftsdiskurse, zunächst einmal kein interpretatorischer Grund, die Verkettung der (S1) in irgend einem anderen Sinne als wörtlich zu verstehen. Der Grund hierfür liegt darin, dass das Verständnis des Algorithmus auf der unteren Seite der Trennlinie des Herrschaftsdiskurses, die phantasmatische Beziehung des gespaltenen Subjekts zur Objekt-Ursache seines Begehrens = ^ a), im Fall der Herrschaftssignifikanten des Gesetzgebers nicht exis(S tiert, denn dieser „Herr“ ist der symbolische tote Vater, der nicht durch den Signifikanten gespalten ist und der deswegen auch selbst nicht begehrt. Die bedeutende Konsequenz für die Interpretation des Rechts und für den Rechtsdiskurs im Allgemeinen ist, dass – ungeachtet der Tatsache, dass derjenige, welcher einen Herrschaftsdiskurs interpretiert, das Begehren des Herren regelmäßig besser als dieser selbst kennt – hier ein solches Begehren gar nicht besteht, und die Strukturierung des Rechtsdiskurses folglich darauf hinauslaufen muss, dass das Begehren aus dem Diskurs insgesamt ausgeschlossen wird. Der Diskurs der Rechtsauslegung erfordert damit von seinen Agenten die Charakterzüge des Zwangsneurotikers: „Der Zwangsneurotiker nimmt sich dem Verbot (des Gesetzes) an indem er vorgibt, Herr über die Gesetze der Sprache zu sein. (. . .) Indem er die Botschaft des „Ich bin es nicht“ aus dem Unbewussten zurückweist, welche ihn zum Subjekt eines Wissens, das ohne Herren arbeitet, machen würde, bekräftigt er für sich die Seinsposition des Denkenden, Kalkulierenden und Richtenden.“271 271

Arenas, The Other in Hysteria and Obsession, in: Bracher/Alcorn/Corthell/ Massardier-Kenney, Lacanian Theory of Discourse: Subject, Structure, Society, S. 149.

E. Die psychoanalytische Seite des Rechts in Lacans Diskurstheorie

213

Indem die Position des (S2), dessen Wahrheit (S1) ist, eingenommen wird, gerät der Jurist als das sprechende Subjekt des Rechtsdiskurses zwangsläufig nicht nur in die Struktur des Universitätsdiskurses, sondern auch in die subjektive Ökonomie der Bedeutung und des Begehrens. Hierin operiert das Subjekt ebenso wie es der Zwangsneurotiker grundsätzlich tut, nämlich wie ein „Anderer, der nicht mangelhaft ist, der befiehlt und Gesetze erlässt, kalkuliert und nach dem Vorgehen der Vernunft kalkuliert wird. (. . .) Der Andere fordert, darf aber nicht begehren. Es ist eine Angelegenheit der Unterwerfung unter den Herren und des Abschirmens vor der Frage des Begehrens.“272

Die verdrängte – zwangsneurotische – Wahrheit ist damit die Leugnung der Kastration, sprich die Annahme eines Herrschaftssignifikanten, der vollständig, also ungespalten und damit in Besitz des verlorenen Objekts (des Phallus) ist. Die logische Folge ist die – „falsche“ – Behauptung, dass die symbolische Ordnung eine konsistente Verknüpfung der Signifikanten des Rechts gewährleisten kann und sich gerade nicht in einem kontinuierlichen Stadium des Entgleitens von Bedeutung, verursacht durch die instabile Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat, auszeichnet.273 4. Diskursive Besonderheiten im Richter- und Gewohnheitsrecht Aufgrund der unterschiedlichen Natur der Rechtsquellen sind einige zusätzliche Bemerkungen zur Struktur des Diskurses der Gesetzesauslegung erforderlich: Während die grundsätzliche Struktur des Diskurses der Gesetzesinterpretation als interaktive Wechselbeziehung zwischen dem Herrschaftsdiskurs und dem Diskurs der Universität beschrieben wurde, ist die Bedeutung oder Dominanz des Herren in einem Rechtsdiskurs, der sich auf eine Form von Gewohnheits- oder Richterrecht stützt, reduziert. Hier findet sich die Struktur des Diskurses der Universität unmittelbar wieder: S2 ! a =S S1

(S2) repräsentiert weiterhin den Wissenskörper des Rechts, aber das einschlägige Recht oder die relevanten Prinzipien werden als integraler Teil der vorausgegangenen Urteile oder Prinzipien aufgefasst. Der Rechtsdiskurs 272 Arenas, The Other in Hysteria and Obsession, in: Bracher/Alcorn/Corthell/ Massardier-Kenney, Lacanian Theory of Discourse: Subject, Structure, Society, S. 149. 273 Schroeder, The Four Discourses of Law: A Lacanian Analysis of Legal Practise and Scholarship, in: 79 Texas Law Review, S. 58.

214

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

muss demnach einen Herrschaftssignifikanten (S1) identifizieren, der aus dem Vorausgegangenen, d.h. der Ratio von Präzedenzfällen oder rechtlich relevanten Gewohnheiten erinnert wird, wodurch sich zwangsläufig die Mechanismen der Verdrängung, oder allgemeiner des Vergessens in die Konstruktion von (S2) einmischen und so den Herrschaftssignifikanten als die verdrängte Wahrheit des Wissens auf der Position des Agenten einsetzen. Der Diskurs des Richter- und des Gewohnheitsrechts basiert damit auf einer speziellen Beziehung zum Herrschaftssignifikanten des Rechts, in der – im Gegensatz zum Diskurs dessen (S1) als direkte Aussage des Herren (der Legislative) produziert und von den Rechtssubjekten auf der Position des anderen als (S2) empfangen wird – nach der (S1) ohne ausdrücklichen legislatorischen Erlass entwickelt werden muss. Im Hinblick auf die oben entwickelte Analyse der strukturellen Verknüpfung des juristischen (S1) zum unbewussten Signifikanten des Namens-desVaters wird deutlich, dass die Differenz zwischen dem Rechtsdiskurs des Richter- und des Gewohnheitsrechts und dem durch das positive Gesetz geprägten Diskurs in der Funktion des symbolischen Vaters liegt: Im ersten Fall ist der Herrschaftssignifikant direkt auf den Namen-des-Vaters bezogen, wohingegen dieser Signifikant im zweiten Fall durch das imaginäre Ich-Ideal als „einziger Zug“ der identifikatorischen Operation den Namendes-Vaters vermittelt. Aus dieser Analyse folgt kein radikaler struktureller Unterschied zwischen den beiden Rechtsdiskursen im Hinblick auf eine spezifische Ökonomie von Begehren und Bedeutung; sie zeigt allerdings, dass es eine bemerkenswerte Wendung in der jeweiligen Diskursökonomie gibt. Zunächst wird der Aspekt des Glaubens an eine mythische Referenz, wie sie sich beispielsweise in Begriffen wie „die Väter des Grundgesetzes“ manifestiert und die als Identifikationspunkt und Ich-Ideal fungiert, im Gewohnheitsund Richterrecht nur mühsam vermittelt. Die Funktion der Identifikation mit einem Ich-Ideal ist weitaus schwächer im Symbolischen verankert als dies beim direkten Bezug zum symbolischen Vater der Fall ist. Der zweite Punkt ist, dass durch die Abwesenheit eines der Interpretation vorausgehenden Stadiums der Vermittlung eines Identifikations- oder Referenzpunktes mit einem „väterlichen“ Autoritätsbild im Gewohnheits- und Richterrecht den Einfluss einer durch das Über-Ich induzierten Pflicht ausgeschlossen ist. Hier ist nochmals auf die Differenz zwischen dem Diskurs der Gesetzesauslegung und der Gesetzesvollstreckung in Bezug auf den Herrschaftsdiskurs zurückzukommen. Die Position der Exekutive als anderer des Herrschaftsdiskurses S2 a

E. Die psychoanalytische Seite des Rechts in Lacans Diskurstheorie

215

eröffnet die Möglichkeit einer unbewussten Identifikation mit dem Objekt des Pflichtgebots des Über-Ichs, den Willen des Anderen zu erfüllen. Die Ökonomie des Fallrechts hinsichtlich der Produktion von (S1) vermeidet vollständig die libidinöse Dimension in der Interpretation der Herrschaftssignifikanten des Rechts, indem sie in den legislativen Herrschaftsdiskurs übergeht. Schließlich tritt kein Moment der unbewussten diskursiven und libidinösen Identifikation des Subjekts mit dem Herren innerhalb des Auslegungsprozesses auf. Die Ökonomie des Diskurses des Fall- und Gewohnheitsrechts ist damit nicht durch ein explizites Bild der Herrschaft geprägt. Dem das Recht Auslegenden fehlt es an der Identifikationsmöglichkeit mit dem Ideal-Ich des symbolischen Vaters. Das Fall- und auch das Gewohnheitsrecht stellen damit eine einigermaßen paradoxe Struktur des Diskurses der Universität dar, in dem grundsätzlich der Agent die Position des Wissens (S2) einnimmt und versucht, die verdrängte Wahrheit der Abhängigkeit des Wissens von dem „sinnlosen“ Herrschaftssignifikanten zu verschleiern, wohingegen diese Position im fallbezogenen Richterrecht eingenommen wird, um zu erinnern, was vergessen und verdrängt wurde. In der Freudschen Terminologie liegt die Differenz genau darin, dass in der Auslegung des positiven Rechts die Funktion des symbolischen Vaters in dem Erinnern des Mordes an dem Urvater besteht, um damit die Verschuldung gegenüber dem Zeichen fest zu verankern, während das Gewohnheits- und Fallrecht eher davon auszugehen scheinen, dass der Urvater schon solange verschollen ist, dass man ihn nun für tot erklären kann. Empirisch lässt sich dies wohl soweit stützen, dass das Verhältnis des Subjekts zum Rechtssystem regelmäßig ein deutlich entspannteres ist, wenn es sich aus der Gewohnheit einer (überschaubaren) Gruppe geformt hat als wenn es aus einem abstrakten Text herausgedeutet wird. Zwar ist die Bezüglichkeit zum Herrschaftssignifikanten nie ganz aufgehoben, er erscheint im Gewohnheitsrecht aber weniger bedrohlich, weil das Subjekt das Gefühl hat, Teil eines fließenden Prozesses zu sein, der unabhängig vom toten Vater verläuft. Selbst wenn es ihn einmal gegeben haben muss, ist man an seinem Tod unschuldig. IV. Die schöpferische Autonomie im Diskurs des Hysterikers Das hysterische Subjekt ist das Subjekt, dessen Existenz durch einen radikalen Zweifel geprägt ist, das ständig in Frage stellt. Sein ganzes Sein wird durch die Unsicherheit bezüglich dessen, was es für den Anderen darstellt, getragen.274 Der Diskurs des Hysterikers ist deswegen der Diskurs 274 Žižek, Four Discourses, Four Subjects, in: Žižek, Sic 2: Cogito and the Unconscious, S. 81.

216

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

des gespaltenen Subjekts, das als Mitglied einer sozialen Ordnung spricht und dem Gesetz unterworfen ist, d.h. es ist der Diskurs der Regierten, nicht des Regierenden. Es ist deshalb auch der Diskurs des Mandanten, der Streitpartei. Auch der Rechtsanwalt, der Verträge aushandelt und vor Gericht auftritt, spricht zu einem wesentlichen Teil von der Position des Hysterikers, ohne dass er dadurch freilich dessen pathologische Symptome zeigen muss. Wenn der Diskurs des Analytikers ein Diskurs über die anderen Diskurse ist, ist der Diskurs des Hysterikers die Herausforderung oder Kritik der anderen Diskurse, oder allgemein: der Diskurs der Kritik und auch der Anschuldigung. Der Diskurs des Hysterikers wird von dem Rechtssuchenden gegenüber dem Rechtsanwalt benutzt, um sein eigenes Begehren zu identifizieren. Der Rechtsanwalt identifiziert innerhalb eines Beratungsgesprächs das Rechtsproblem (das „legale Symptom“) innerhalb des Diskurses des Analytikers und „hysterisiert“ den Mandanten damit. Der Hysteriker, welcher so sein Begehren und Symptom versteht, ist nun in der Lage, nicht nur sein Symptom, sondern auch den Herrschaftssignifikanten – den Machtanspruch des Rechts – herauszufordern.275 Der hysterische Diskurs schließt damit den Kreis des Begehrens, indem er es dem Subjekt ermöglicht, den Anspruch des Rechts als Recht aufzutreten, in Frage zu stellen. Um einen hysterischen Mandanten in Verhandlungen oder vor Gericht zu vertreten, muss der Rechtsanwalt selbst die Position des Hysterikers einnehmen. Obwohl er in der Beratung und Identifikation des rechtlichen Begehrens die Position des Analytikers einnehmen sollte, ist er gehalten, während der Repräsentation im Diskurs des Hysterikers zu sprechen. 1. Grundlagen der Hysterie: Das hysterische Rechtssubjekt Der Rechtsanwalt, der im Diskurs des Hysterikers vor Gericht plädiert, wäre sicher nicht unbedingt von großem Nutzen, wenn er die psychische Struktur des Hysterikers hätte oder vollständig in der Rolle des Hysterikers aufgehen würde. Einer der wichtigsten Gründe dafür, dass der Mandant regelmäßig unfähig ist, sich selbst zu vertreten, ist seine Unfähigkeit, zu seinem Symptom auf Distanz zu gehen. Hierin liegt das bekannte Problem, dass der Rechtsanwalt, der sich zu weit mit der Sache seiner Mandanten identifiziert, Gefahr läuft, tatsächlich zum Hysteriker im klinischen Sinn zu werden. Grundsätzlich handelt es sich bei der Hysterie um eine alltägliche 275 Lacan, Le Séminaire XVII: L’Envers de la Psychanalyse, S. 48: „Auf der Ebene des Diskurses des Hysterikers sehen wir diese Dominante in Form des Symptoms auftreten. Der Diskurs des Hysterikers umkreist und organisiert sich durch das Symptom.“

E. Die psychoanalytische Seite des Rechts in Lacans Diskurstheorie

217

Neurose, die bei jedem normalen erwachsenen Subjekt auftritt, was nicht zuletzt mit Lacans oft wiederholter Formulierung gemeint ist, dass das Begehren des Subjekts im Wesen das Begehren des Anderen ist.276 Diese Formulierung hat Lacan insbesondere auf das hysterische Subjekt bezogen, so dass sich mit Žižek sogar sagen lässt, dass das Wesen des Subjekts an sich im Grunde hysterisch ist.277 Der Diskurs des Hysterikers eignet sich genau deswegen als Kritik des status quo, weil die Hysterie die Inexistenz, sprich den phantasmatischen Charakter der subjektiven Erfahrung des Anderen erkennt: „Der Diskurs des Hysterikers enthüllt die Beziehung des Herren zur jouissance, in der das Wissen zum Ort des Genießens kommt. Das Subjekt selbst, der Hysteriker, ist von dem Herrschaftssignifikanten entfremdet als derjenige, dessen Signifikant spaltet.“278

Hat der Hysteriker einmal verstanden, dass der große Andere in seiner gegenwärtigen subjektiven Form nicht unvermeidlich ist, versteht er auch seine Rolle als Schöpfer und Gestalter dieses Anderen. Er ist dann in der Lage, ihn herauszufordern und zu verändern. Die Funktion des Herren wird „demaskiert“, indem der Hysteriker hervorhebt, dass der Herr selbst Teil des Anderen ist und damit den Regeln der „phantasmatischen Kreativität“ des Subjekts unterworfen ist (die aber den Beschränkungen der Sprache innerhalb der metaphorisch und metonymisch strukturierten Zeichenwelt unterliegt). Die Folge ist, dass sich das Subjekt seines Anderen niemals vollständig entledigen kann und so auch die Beziehung zu dem Herren niemals vollständig auflösen kann. So lässt sich auch im Hinblick auf Lacans Kritik an der 1968er Revolte erkennen, dass alle Versuche, sich der Autorität des Herren zu entledigen, nur darin münden konnten, ihn gegen einen anderen auszutauschen. Den Anderen abzuschaffen ist dem psychotischen Subjekt vorbehalten, da es außerhalb des Symbolischen steht.279 Obwohl der Hysteriker den Anderen (hier in der Position des Herren) demaskiert, bleibt er deswegen mit ihm verbunden. Dies ist der Grund, weshalb Lacan den Diskurs des Hysterikers als niemals wahrhaft revolutionär bezeichnet. Der wahrhaft revolutionäre oder zumindest progressive Diskurs ist – so Lacan – vielmehr der des Analytikers, denn nur in ihm kann das Subjekt seine Entfremdung und sein Begehren erkennen und sich so von den bestehenden Herrschaftssignifikanten lösen. Erst dann ist es möglich, zu einer neuen 276 Lacan, The Function and Field of Speech and Language in Psychoanalysis, in: Écrits: A Selection (Sheridan), S. 31. 277 Žižek, The Invisible Remainder: An Essay on Schelling and Related Matters, S. 167. 278 Lacan, Le Séminaire XVII: L’Envers de la Psychanalyse, S. 107. 279 Žižek, For They Know Not What They Do: Enjoyment As a Political Factor, S. 101.

218

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

Identität und neuen Werten zu gelangen, auch wenn sich dies über die Schöpfung neuer Herrschaftssignifikanten vollzieht. Der Hysteriker bleibt dagegen im Glauben an die bestehenden, nicht von ihm geschaffenen Herrschaftssignifikanten verhaftet.280 Der Diskurs des Analytikers ist jedenfalls ein notwendiger Schritt im Vorfeld nicht nur von großen Revolutionen, sondern auch von grundlegenden Reformen innerhalb eines bestehenden Rechtssystems, wobei aber der hysterische Diskurs notwendig folgen muss, um zum Ziel zu gelangen. Betrachtet man beispielsweise die fundamentalen Reformen des Sexualstrafrechts oder Familienrechts, in denen mit konservativen Vorstellungen im StGB und BGB über die Rolle von homosexuellen Männern oder von Frauen in der Gesellschaft aufgeräumt wurde, zeigt sich, dass die analytischen Diskussionsbeiträge – nicht zuletzt von Seiten der Psychoanalyse, aber auch die Analyse von Macht und Sexualität etwa bei Foucault, immer von einem hysterischen Diskurs (der Frauen- oder Homosexuellenbewegung) begleitet worden sind. Der Diskurs des Analytikers ist schon aus seinem grundsätzlichen Anliegen heraus, dem Analysanden sein wahres Begehren verständlich zu machen, um ihm die Möglichkeit zu geben, sich selbst zu ändern, zumindest von einer externen – nicht legislativen – Perspektive aus ungeeignet, dem Recht progressive Impulse zu geben. Ein Beispiel für das Zusammenwirken der beiden Diskurse als Grundlage eines vollständigen Systemumsturzes ist die Marxsche Analyse des Kapitalismus und ihre überwiegend hysterische Fortführung bei Lenin. Schon angesichts der historischen Erkenntnis, dass Marx’ analytische Ergebnisse in ihrer hysterischen Umsetzung viele positive Impulse eingebüßt haben, kann man die ideale Rechts- oder Wirtschaftsordnung wohl daran erkennen, dass sie den hysterischen Diskurs weitaus weniger provoziert als den analytischen. Innerhalb der systeminternen Rechtsdiskurse kann der Diskurs des Hysterikers vor allem in der Beziehung des Rechtsanwalts zum Gericht ausgemacht werden. Der Anwaltsberuf ist in seiner Grundtendenz hysterisch. Allerdings hat dieser Diskurs ein „mögliches“ Ziel, denn anders als die anderen Diskurse basiert er nicht auf einer „unmöglichen“ Annahme, die im Herrschaftsdiskurs in seinem Anspruch auf reine Macht, bei der Universität auf reinem Wissen und beim Analytiker auf reinem Begehren beruht. Der Hysteriker vermeidet diese unmögliche Position einer vorgeblichen Reinheit und spricht von der Position, die das Wesen des Subjekts ausmacht: die der Gespaltenheit.

280

Bracher, On the Psychological and Social Functions of Language: Lacan’s Theory of the Four Discourses, in: Bracher/Alcorn/Corthell/Massardier-Kenney, Lacanian Theory of Discourse: Subject, Structure and Society, S. 123.

E. Die psychoanalytische Seite des Rechts in Lacans Diskurstheorie

219

2. Struktur des hysterischen Diskurses Das Mathem des hysterischen Diskurses folgt aus einer Rotation des Diskurses des Analytikers: =S ! S1 a S2

Auf der Position des Agenten steht das gespaltene Subjekt, welches durch seine „Objektivierung“ durch den Anderen und die Rolle, die es dadurch als Gegenstand seines Begehrens einnimmt, traumatisiert ist.281 Es adressiert den anderen in der Hoffnung auf einen Herrschaftssignifikanten in Form einer vollständigen und versichernden Bedeutung, mit der sich seine Angst überwinden und ihn zu einer stabilen und bedeutungsvollen Identität gelangen lässt.282 Auf der Ebene des Symbolischen artikuliert sich hierin die hysterische Frage nach dem Begehren des Anderen und der darin enthaltenen Erfahrung, dass dieser überhaupt begehrt. Die verdrängte Wahrheit des gespaltenen Subjekts ist das auf das objet petit’a fixierte Begehren. Hierin ist die doppelte Aussage enthalten, dass das Subjekt nach Vollständigkeit sucht und die Wahrheit, dass der Andere selbst mangelt.283 Objet petit’a als die Objekt-Ursache des Begehrens und verdrängte Wahrheit des Hysterikers ist genau das Objekt, welches aus dem Herrschaftsdiskurs ausgeschlossen ist. Der Algorithmus auf der linken Seite repräsentiert damit die Doktrin, dass das Begehren des Hysterikers das Begehren des Anderen ist. Der Diskurs des Hysterikers verdrängt, dass das Wissen die Objekt-Ursache des Begehrens umkreist. Er steht auf der Seite der Frage, während die Antwort auf der Seite des Herrschaftsdiskurses liegt. Das Produkt des hysterischen Diskurses ist (S2), die Signifikationskette. Der Diskurs führt damit – wie Lacan unterstreicht – zum Wissen.284 (S2) repräsentiert das eigene Wissen des gespaltenen Subjekts, welches sich nun zum ersten Mal bewusst wird und unter die Kontrolle des Agenten gerät. Das Subjekt kann so die Frage nach dem Begehren des Anderen beantworten und sich damit besser in die symbolische Ordnung integrieren, obwohl dies natürlich nie vollständig im Sinne einer Überwindung der Spal281 Žižek, Four Discourses, Four Subjects, in: Žižek, Sic 2: Cogito and the Unconscious, S. 79. 282 Bracher, On the Psychological and Social Functions of Language: Lacan’s Theory of the Four Discourses, in: Bracher/Alcorn/Corthell/Massardier-Kenney, Lacanian Theory of Discourse: Subject, Structure and Society, S. 123. 283 Schroeder, The Four Discourses of Law: A Lacanian Analysis of Legal Practise and Scholarship, in: 79 Texas Law Review, S. 84. 284 Lacan, Le Séminaire XVII: L’Envers de la Psychanalyse, S. 23.

220

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

tung geschehen kann. Schließlich kann das Subjekt jedoch zu der höchsten Stufe des Wissens gelangen, nämlich dass der Andere nicht als vorgegebene Struktur besteht, sondern eine eigene Schöpfung des Subjekts ist. So kann es bis zu einem gewissen Grad das Gefühl der Entfremdung überwinden und selbst Antworten auf die Frage nach seinem eigenen Begehren finden. Im hysterischen Diskurs besteht keine direkte Beziehung zwischen dem Begehren als Wahrheit und dem Wissen als Produkt des Diskurses. Dies liegt daran, dass das erlangte Wissen essentiell darin besteht, dass der Andere die Wahrheit des Begehrens nicht beherbergt, weil er mangelhaft ist. Die Erfahrung dieses Mangels – etwa als Gewalt oder Ungerechtigkeit – ist regelmäßig ein traumatisches Erlebnis, das zu einer Depression führen kann. Der Ausweg kann darin bestehen, die eigenen schöpferischen Möglichkeiten zu erkennen und sich das „bescheidenere“ Ziel zu setzen, sich den Anderen zwar nicht perfekt, aber doch besser oder erträglicher zu machen. 3. Rechtsanwalt und Mandant: Die Vertretung des Begehrens der Gerechtigkeit Wie bereits angedeutet, ist der angemessene Diskurs im Verhältnis des Rechtsanwalts zu seinem Mandanten der des Hysterikers, in den der Rechtsanwalt sowohl bei der Vertretung vor Gericht, als auch bei Verhandlungen mit Dritten eintritt. Der eigentliche Hysteriker bleibt allerdings der Mandant, zumindest insofern, als sich der Anwalt nur zeitweise mit dessen (rechtlichem) Begehren identifiziert, um als sein alter Ego effizient für ihn auftreten zu können. Hierzu muss er jedoch im Diskursschema die Position des Agenten, des gespaltenen Subjekts des Begehrens, einnehmen und den anderen auf der Position des Herrschaftssignifikanten adressieren, um von diesem ein Zeichen der Bedeutung zu bekommen, mit welchem der Mandant eine spezifische Lücke im symbolischen Netz seiner Signifikanten schließen kann. Lacans Diskurstheorie trägt zu der Erkenntnis bei, dass das Ziel des gerichtlichen Verfahrens nicht etwa in einem externen Grund im Sinne einer objektiven Gerechtigkeit liegt, wie sie etwa in Sätzen wie „Es geht mir um das Prinzip!“ formuliert wird, was wiederum auf der falschen Annahme beruht, dass der Andere „existiert“. Der Grund liegt vielmehr in dem Begehren des gespaltenen Subjekts und der Bestätigung, dass auch der Andere selbst mangelt. Hierin liegt das wahre Produkt des Diskurses, das Wissen um diesen „Doppelmangel“, welches die unbewusste Seite des Herrschaftssignifikanten darstellt. Die Mangelhaftigkeit des Anderen des Rechts manifestiert sich für den Hysteriker insbesondere in der Erfahrung der Differenz zwischen Recht und

E. Die psychoanalytische Seite des Rechts in Lacans Diskurstheorie

221

Moral bzw. Gerechtigkeit. In diesem Zusammenhang zeigt sich ein neuer Weg wie das klassische Problem des Verhältnisses und der Differenz zwischen Moral und positivem Recht beschrieben werden kann. Folgt man etwa dem Ansatz von Hart, kann Moral dazu dienen, das positive Recht von einer systemexternen Position aus zu kritisieren. Danach kann eine moralisch geführte Kritik am positiven Recht zu dem Ergebnis führen, dass eine Rechtsnorm sittlich so verwerflich ist, dass daraus ihre allgemeine Unverbindlichkeit und ein Widerstandsrecht folge, dass das Gesetz zwar „Recht sein möge, aber zu verwerfliches Recht, um Gehorsam zu verdienen.“285

Hart vereinigt beide Prinzipien schließlich in einer Art Naturrecht, nach der sich grundlegende Folgesätze aus der Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt ableiten lassen. Insbesondere in dem Grundsatz, Gleiches gleich zu behandeln, bestehe ein fundamentales Strukturmerkmal der ethischen Idee der Gerechtigkeit, welche auf diese Weise als überpositivierter Grundsatz praktischer Vernunft in die positive Rechtsordnung Eingang findet.286 Dieses Konstrukt hat eine psychoanalytische Seite, in der sich die re-entry der Moral direkt auf das Begehren bezieht. Das Begehren des hysterischen Rechtssubjekts wird nicht durch das positive, undurchsichtige Gesetz fixiert, sondern durch die phantasmatische Vorstellung von etwas „Höherem“, einem nicht erreichbarem Gut, dem sich nur angenähert werden kann, was aber ein absolutes Ideal darstellt: der Gerechtigkeit als objet petit’a. Indem Moral von der symbolischen Ordnung des positiven Rechts ausgeschlossen ist, kann sie in die Rechtsordnung als objet petit’a zurückgeführt werden. Moral und Gerechtigkeit fungieren als Objekt-Ursache des Begehrens des Rechts, als sein verschleiertes Ziel.287 Man muss hier allerdings genau differenzieren, um die Funktion der Gerechtigkeit als objet petit’a nicht falsch zu verstehen: Das Subjekt tritt nicht in den Rechtsdiskurs ein, weil es Gerechtigkeit begehrt, sondern nur weil es an sich begehrt. Der Charakter der Gerechtigkeit als objet petit’a macht deutlich, dass auch diese – wie jede Objekt-Ursache des Begehrens – reiner Schein und im Grunde austauschbar ist. Der Rechtsdiskurs des Hysterikers kann in zwei Unterformen gegliedert werden, die sich durch die beiden möglichen Positionen, die das Subjekt gegenüber dem Anderen einnehmen kann, unterscheiden.288 Die erste Position liegt in der Frage, die sich auf den eigenen Mangel des Subjekts bezieht, nämlich: „Worin besteht mein Mangel?“ und „Was willst Du von 285

Hart, Recht und Moral. 3 Aufsätze, S. 45. Hart, Der Begriff des Rechts, S. 14 ff., 275 ff. 287 Vgl. das Kapitel „Die Objekte des Rechts“. 288 Schroeder, The Four Discourses of Law: A Lacanian Analysis of Legal Practice and Scholarship, in: 79 Texas Law Review, S. 86. 286

222

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

mir?“ Sie lässt sich der anwaltlichen Vertragsverhandlung zuordnen. Die zweite Position gegenüber dem Anderen: „Du begehrst!“ charakterisiert den Rechtsstreit. Rechtspraxis ist ein breites Spektrum der Diskursmodulierungen, so dass die meisten Fälle irgendwo zwischen diesen Eckpunkten angesiedelt sind.289 4. Die Liebe der Hysteriker: Anwaltliche Vertragsverhandlung und Streitvertretung Die Vertragsverhandlungen basieren auf der Grundvorstellung, dass die Parteien ein gemeinsames Interesse teilen. Auch wenn (oder gerade weil) es hierbei zuweilen hitzig werden kann, ist das Ziel des gegenseitigen Nachgebens die Liebe des Anderen, repräsentiert durch die andere Partei. Aufgrund dieser Beobachtung bezeichnet Schroeder den Vertrag in seiner Natur als die „rudimentärste und primitivste Form einer Liebesbeziehung“ und damit als „hysterisch-erotisch“.290 Liebe ist nach Lacan ein Zeichen, das im Diskurswechsel auftritt, aber selbstverständlich nicht hierauf beschränkt ist. Eines der Charakteristika der Liebe ist das auch beim Vertrag erforderliche Gegenseitigkeitsverhältnis, das sich in den übereinstimmenden Willenserklärungen manifestiert, so dass die einseitigen Willenserklärungen niemals als Liebe, sondern allenfalls als potentielle Liebe agieren.291 Das gespaltene Subjekt auf der Position des Agenten folgt seinem Begehren nach der Liebe des Anderen mittels der vertraglichen Anerkennung seines Willens in der Übereinstimmung mit dem Willen des anderen Subjekts als Vertragspartner, dessen Anerkennung genau deswegen so wertvoll ist, weil er auf der Position des Herrschaftssignifikanten – der vermuteten Bedeutung – steht. Der konkrete Vertragspartner dient so dazu, die Beziehung des Rechtssubjekts zum großen Anderen zu erklären, welches glaubt, sein Ziel durch den anderen (Vertragspartner) erreichen zu können und gleichzeitig, dass dieser andere dasselbe glaubt. In der gegenseitigen Anerkennung als Rechtssubjekte wird so getan, als ob die andere Seite vollständig, sprich nicht von der Kastrationserfahrung gezeichnet ist, bei gleichzeitigem Eingeständnis des eigenen Mangels, dessen Wahrheit das Begehren ist. Im Herrschaftsdiskurs bleibt hingegen die gegenseitige Anerkennung, sprich das Zeichen von Liebe, aus. Während der Adressat des Herrschaftsdiskurses zwar die uneingeschränkte Macht des Agenten anerkennt, ist diese Anerkennung jedoch für den Herrn wertlos, weil er den Adressaten als Knecht, und damit nicht 289

Schroeder, The Four Discourses of Law: A Lacanian Analysis of Legal Practice and Scholarship, in: 79 Texas Law Review, S. 86 ff. 290 Schroeder, The Triumph of Venus: The Erotics of the Market, S. 13. 291 Schroeder, The Triumph of Venus: The Erotics of the Market, S. 50.

E. Die psychoanalytische Seite des Rechts in Lacans Diskurstheorie

223

als Subjekt anerkennt, so dass der Herrschaftsdiskurs ein „unmöglicher“ Diskurs ist.292 Erkennt man das Begehren als die Wahrheit des hysterischen Rechtssubjekts, zeigt sich, dass der konkrete Vertragsgegenstand, sei es ein Apfel oder ein vertracktes Joint Venture-Verhältnis, nur ein Vehikel für die gegenseitige Anerkennung in dem Streben nach der Liebe des Anderen ist. Lacans Konzept vom objet petit’a zeigt, dass das Begehren notwendig objektbezogen ist. Der konkrete Vertragsgegenstand dient damit als Objekt-Ursache des Begehrens der Vertragsparteien nach Liebe des Anderen, welche über die Anerkennung der anderen Partei als Rechtssubjekt manifestiert wird. Im Verlauf der Vertragsverhandlungen formulieren die Parteien ihre Ziele und Vorstellungen, um schließlich zu einem gemeinsamen Objekt des Begehrens zu gelangen. Treten aggressive Momente auf oder zeichnet sich ein Scheitern der Verhandlungen ab, liegt dies daran, dass der hysterische Diskurs nicht nur die Frage nach dem Begehren, sondern auch die offensive Feststellung des Begehrens des Anderen („Du begehrst!“) enthält. Der Rechtsanwalt muss innerhalb der Verhandlungen den Wert der angebotenen Gegenleistung und die Forderung der anderen Seite in Frage stellen, um das beste Ergebnis für seinen Mandanten erzielen zu können. Insbesondere der letzte Aspekt, die Angst vor dem Begehren des Anderen hat, eine zentrale Rolle in Vertragsverhandlungen eingenommen. In der gegenwärtigen Praxis der extensiven Unternehmensprüfung (der „Due Diligence“) im Vorfeld von und während Vertragsverhandlungen über einen Unternehmenskauf zeigt sich ein gewaltiges Misstrauen gegenüber dem Wert der Gegenleistung. Darin spiegelt sich eine zunehmende Skepsis gegenüber der ObjektUrsache des eigenen Begehrens, eine unbewusste Ahnung, dass es sich bei dem anvisierten Objekt nur um einen reinen Schein handelt. Die Rolle des Wirtschaftsanwalts besteht so im Kern darin zu beweisen, dass der Andere selbst mangelhaft ist und begehrt. Ähnlich, aber in einigen Punkten abweichend, stellt sich die Struktur des hysterischen Diskurses hinsichtlich der anwaltlichen Vertretung im Rechtsstreit oder Strafverfahren dar. Die Forderung und Behauptung ist im Wesentlichen, dass der Mandant, das Opfer oder die Rechtsgemeinschaft insgesamt gespalten, verletzt und von ihrem Objekt des Begehrens getrennt wurde. Hierbei verwechselt der Hysteriker regelmäßig Objekt und ObjektUrsache, denn sonst würde offenbar, dass es sich nur um einen Schein handelt, dessen Funktion nicht die Befriedigung des Begehrens, sondern im Gegenteil, dessen ewige Fortdauer ist. Dieselbe Struktur findet sich im Übri292

Schroeder, The Four Discourses of Law: A Lacanian Analysis of Legal Practice and Scholarship, in: 79 Texas Law Review, S. 15 (Fn. 289 mit Verweis auf Hegel).

224

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

gen im Fall der staatsanwaltlichen oder administrativen Vertretung, wo die Position des Mandanten durch das öffentliche Interesse abstrahiert wird. Die Gegenseite, d. i. zunächst der Beklagte, steht auf der Position des Herrschaftssignifikanten, was hier so zu verstehen ist, dass deren Handlung das eigene Problem erklärt und damit das Verhältnis zum Anderen bestimmt. Ein Positionswechsel von Kläger und Beklagtem im Diskursschema findet statt, sobald die Beklagtenseite Gegenargumente vorbringt oder eine Verurteilung anficht. Der Andere wird regelmäßig von der Seite imaginiert, die den Status Quo aufrechterhalten möchte; die Forderung des Klägers (oder Staatsanwalts) ist deswegen Teil der Konstatierung des Begehrens des Anderen: „Du begehrst!“ Das Produkt des hysterischen Diskurses ist Wissen um den Mangel im Anderen, im Falle des Rechtsstreits dasjenige, welches der Entscheidung des Verfahrens zugrunde gelegt wird. Der Mangel des Anderen liegt im Rechtsstreit regelmäßig in dem Produkt, das der Herrschaftsdiskurs ausgeworfen hat, nämlich die außerrechtlichen Kategorien von Moral und Gerechtigkeit. Gelingt es dem Hysteriker, seine spezifische Lücke im Anderen auszufüllen, schließt er den Kreis der Kritik am Herrschaftsdiskurs, indem er Moral und Gerechtigkeit, welche zuvor ausgeschlossen wurden, wieder in den großen Anderen integriert.293 V. Das Ende des Taumels und die Wahrheit im Diskurs des Analytikers Der letzte der vier Diskurse ist der des Analytikers. Lacan räumt ihm eine Vorrangstellung ein. Zwar gehört er nicht zu den gesellschaftlichen Machtdiskursen, aber er trägt zum Verständnis der anderen Diskurse bei.294 Für die Analyse des Rechts soll er unter dem Aspekt der Rechtsberatung untersucht werden. Ein wichtiges Charakteristikum des analytischen Diskurses besteht darin, dass er dem Taumel der anderen drei Diskurse Einhalt gebietet.295 Dieser Taumel ist das Ergebnis der Beziehung zwischen den Diskursen, in welcher der eine zu dem nächsten führt. Diese führt dazu, dass „wir uns im Kreis drehen – der Signifikant, der Andere, Wissen, Signifikant, der Andere, Wissen, etc.“296 293 Schroeder, The Four Discourses of Law: A Lacanian Analysis of Legal Practice and Scholarship, in: 79 Texas Law Review, S. 89. 294 Fink, The Lacanian Subject: Between Language and Jouissance, S. 129. 295 Lacan, Le Séminaire XVII: L’Envers de la Psychanalyse, S. 61. 296 Lacan, Le Séminaire XVII: L’Envers de la Psychanalyse, S. 14.

E. Die psychoanalytische Seite des Rechts in Lacans Diskurstheorie

225

1. Grundstruktur: Die Auflösung des Symptoms Der Diskurs des Analytikers mit seiner Betonung des Begehrens und der jouissance erlaubt es, zumindest zeitweise aus diesem Kreis herauszutreten und sich von dem Taumel der Rotation zu erholen, denn es handelt um einen Diskurs über die anderen Diskurse. Das Mathem des Diskurses stellt eine Rechtsdrehung vom Diskurs des Hysterikers dar: a ! =S S2 S1

In dem Diskurs des Analytikers bestimmt das zurückgehaltene Begehren des Analysanden die Position des Agenten als objet petit’a. Die unbewussten Begriffe, die ihn stützen, sind der Herrschaftssignifikant des Analysanden (die phallische Identifikation mit dem Namen-des-Vaters) und das Wissen des Analytikers um die Art und Weise wie er Sprache als Analysetechnik gebraucht. Der ursprüngliche Herrschaftssignifikant des Analysanden ist sein „Symptom“, das eine Blockade des Genießens anzeigt. Es handelt sich um ein Trauma, das dem Realen angehört, weil es (noch) nicht symbolisiert wurde. Die Integration dieses Traumas in die symbolische Ordnung ist das Ziel der Analyse. Der Analytiker ist der stumme Zeuge der dumpfen Wiederholungen, welche den Subjektszustand des Leidens konstituieren. Das Symptom tritt auf, wenn der Schaltkreis der symbolischen Ordnung unterbrochen wurde, d.h. wenn die Zeichenordnung durch einen traumatischen Einschlag ihr Kohärenzversprechen nicht mehr einlösen kann. Sobald es benannt und bezeichnet wurde – und damit seinen Re-entry aus dem Abgrund des Realen in die Symbolwelt gefunden hat, verschwindet es. Das Ziel der Analyse ist es deswegen, das beschädigte Netzwerk der Kommunikation wieder aufzurichten, indem dem Analysanden die Möglichkeit gegeben wird, die Bedeutung seines Symptoms auszusprechen: Denn durch die Deutung des Symptoms wird es wie das Enigma automatisch aufgelöst. Indem das Symptom Bedeutung zugewiesen bekommt, entsteht ein neuer Herrschaftssignifikant.297 Lacan untersucht den Weg für das Subjekt zu der Wahrheit, dass dieses Leiden behoben werden kann. Das Reale des Leidens verlangt, dass das Subjekt den Konflikt zwischen seinem auf das Sein gerichteten Begehren und den Signifikanten, die das Subjekt bereits in seinem Sein fixiert haben, löst. Es leidet an Sprache und Identifikationen, die wie ein Stachel im Fleisch funktionieren. Im individuellen wie im gesellschaftlichen Austausch 297 Žižek, Four Discourses, Four Subjects, in: Žižek, Sic 2: Cogito and the Unconscious, S. 80.

226

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

kann dieser Stachel – zumindest zeitweise – gezogen werden, weil die Bilder, Worte und affektiven Antworten das Individuum als Subjekt des Anderen konstituieren. Der Verstand oder das Nachdenken sind nicht nur Sprache, es handelt sich vielmehr um einen Prozess, der die assoziativen Beziehungen der Borromeanischen Einheit der drei Ordnungen der Subjektiven Erfahrung (R, S, I) organisiert. 2. Der Analytiker des gespaltenen Rechtssubjekts und das Rechtssymptom Eine Affinität zwischen Psychoanalytikern und Rechtsanwälten besteht sicherlich darin, dass beide konsultiert werden, um eine innere Spannung aufzulösen. Der Rechtsanwalt versucht dies über die Argumente, welche er im Gesetz oder in Verträgen findet, der Analytiker bezieht sich auf Gesetzmäßigkeiten im Unbewussten. Die Symbolisierung desselben Traumas kann sowohl über psychoanalytische als auch über rechtlichen Kategorien stattfinden. Man mag es zur Berufsethik des Rechtsanwalts zählen, dass er in außergerichtlichen Begegnungen mit seinem Mandanten, sprich vor allem in Beratungsgesprächen, den Diskurs des Analytikers gebraucht. Dem Mandanten ist oft wenig geholfen, wenn der Rechtsanwalt die Rechtslage in einem der Machtdiskurse darstellt oder erklärt, auch wenn dies bei der später möglichen Vertretung vor Gericht oder vor allem gegenüber der anderen Partei geboten sein kann. Der beratende Rechtsanwalt sitzt wie der Analytiker gegenüber seinem Analysanden in der Position des Begehrens seines Mandanten und befragt diesen als leidendes, gespaltenes Subjekt, das ein konkretes Problem mit dem großen Anderen hat. Für den Mandanten muss dieses Problem, zumindest hinsichtlich seiner rechtlichen Einordnung, nicht unbedingt klar definiert sein, sowie auch der Analysand oft nur eine vage Idee hat, worin die Wurzel seines Leidens liegt. Das Subjekt ist in beiden Fällen von seinem Wissen abgeschnitten. Dieses Wissen bezieht sich im Wesen auf das Symptom, so dass im Fall des rechtsuchenden Subjekts von dem „legalen Symptom“ gesprochen werden kann: Das Subjekt hat ein Problem, dem es kein Symbol, d.h. kein adäquates Rechtszeichen zuordnen kann. Der Rechtsanwalt muss dann aus der Fülle von Informationen das rechtliche Problem formulieren und kann so das Symptom des Mandanten auflösen. Es handelt sich hierbei um eine strukturelle Wiederholung der Auflösung der Kastrationsangst aus dem Realen und deren Stabilisierung durch den Namen-des-Vaters. Rechtsanwalt wie Analytiker müssen davon ausgehen, dass das relevante Wissen im Subjekt vorhanden ist. Auf der anderen Seite muss der Rechtsanwalt/Analytiker das Wissen über das spezifische Begehren des Mandanten/Analysanden haben. Er muss wissen, was der andere wirklich will. Aus

E. Die psychoanalytische Seite des Rechts in Lacans Diskurstheorie

227

diesem Grund adressiert der Rechtsanwalt den Mandanten von der Position seines Begehrens und erkennt ihn dabei als gespaltenes Subjekt an. Deswegen zeichnet sich dieser Diskurs im Gegensatz zu allen anderen Diskursen dadurch aus, dass der Agent vor allem zuhört, anstatt selbst zu sprechen. Sowohl in der psychoanalytischen, als auch in der Rechtspraxis kommt der Analysand oder Mandant oft mit einer vorgefertigten Stellungnahme, etwa in Form von: „Ich fühle mich schlecht weil ich meinem Vater, kurz bevor er starb, feindliche Gefühle entgegengebracht hatte . . .“ oder „Ich möchte von dem G Schadensersatz für das Verwenden meiner Ideen in seinem erfolgreichen Videospiel, das er neulich gegen ein Honorar von . . .“, aus der der Agent des Diskurses das wahre Begehren herausfiltern muss. Auch wenn der Mandant eine sehr konkrete Vorstellung von seinem rechtlichen Begehren haben mag, etwa weil es sich um ein Unternehmen handelt, das selbst eine Rechtsabteilung besitzt, konsultiert er den Rechtsanwalt immer als jemanden, von dem er vermutet, dass er sein wahres Begehren versteht und deswegen einen Wissensvorsprung hat, egal wie konkret das rechtliche Begehren des Mandanten vorformuliert ist. Warum wird ein Rechtsanwalt konsultiert, selbst wenn bereits eine ausführliche Rechtsberatung von Seiten einer Rechtsabteilung stattgefunden hat und durch die zusätzliche Konsultation nicht unerhebliche Extrakosten verursacht werden? Der Grund liegt darin, dass der Mandant den externen Rechtsanwalt in einer Position sieht, die nicht allein auf rationalen Erwägungen beruht (etwa der besseren Strategie in der Verfolgung der Angelegenheit), sondern er repräsentiert das Begehren bzw. er fungiert als dessen Objekt-Ursache, so dass der Mandant eine phantasmatische, auf das objet petit’a gerichtete Beziehung in dem Verhältnis zum Rechtsanwalt aufbaut.298 Es geht weniger darum, dass der Mandant konkrete Zweifel hinsichtlich seiner eigenen Einschätzung hat, sondern dass er gegenüber dem Rechtsanwalt ein spezifisches Phantasma in seiner Beziehung zum Anderen ausleben kann, was sich darauf stützt, dass der Rechtsanwalt selbst die Position des Begehrens einnimmt. Indem der Mandant auf der hysterischen Position die Frage nach dem Begehren des Anderen stellt, glaubt er die Antwort im Diskurs des Analytikers von der Position seines eigenen Begehrens zu bekommen. Die Wahrheit, welche unterhalb der Trennlinie der Position des Rechtsanwalts als Repräsentant des Begehrens liegt, ist (S2), die Signifikationskette des Wissens und der Bedeutung. Diese bezeichnet allerdings nicht das Wissen vom Recht, den theoretischen Wissensvorsprung, den der Rechtsanwalt gegenüber seinem Mandanten hat, sondern hierin liegt das eigene 298 Schroeder, The Four Discourses of Law: A Lacanian Analysis of Legal Practice and Scholarship, in: 79 Texas Law Review, S. 69.

228

Kap. 3: Lacan und das Gesetz des Signifikanten

Wissen des Mandanten, zu dem dieser, genau wie der Analysand, keinen direkten Zugang hat. Das gespaltene Subjekt in seiner Position als Mandant oder Analysand tritt also in den Diskurs unter der Vermutung ein, dass der Agent Zugang zu dem Wissens hat, das es zwar selbst in sich trägt, von dem es aber abgeschnitten ist: „Das hier fragliche Wissen ist das unbewusste Wissen, welches sich irgendwo in den Signifikationsketten verfangen hat und das dem Subjekt zugänglich gemacht werden muss.“299

Mandant und Analysand finden sich also in dem Wissen des Rechtsanwalts und Analytikers selbst wieder, in dessen Spiegel sie zu dem Wissen über ihr eigenes Begehren gelangen können. Das Produkt des Diskurses, welches unter dem Mandanten als gespaltenes Subjekt liegt, ist ein Herrschaftssignifikant (S1), welcher der Signifikationskette Bedeutung vermittelt. Anders als im Herrschaftsdiskurs handelt es sich allerdings nicht um ein Zeichen von Gewalt, die dem Subjekt aufgezwungen wird, sondern vielmehr um das eigene Symptom des Subjekts.300 Im Gegensatz zu der Beziehung der Diskurspositionen oberhalb der Trennlinie besteht auf der unteren Seite zwischen Wahrheit und Produkt des Diskurses eine „Nicht-Beziehung“. Hierin liegt der Grund dafür, dass das Subjekt überhaupt auf den Analytiker bzw. den Rechtsanwalt angewiesen ist. Es ist von seinem eigenen Wissen, und nicht so sehr von dem Fachwissen der jeweiligen Profession abgeschnitten. Die Tür zu diesem Wissen kann nur über das versteckte Symptom geöffnet werden, welches nur der Analytiker/Rechtsanwalt interpretieren kann und so in die partikuläre symbolische (Rechts-)Ordnung überführen kann. Das Symptom kann manchmal – wie in der Diskussion des hysterischen Diskurses angedeutet – das Gesetz selbst, aber auch jeder andere Sachverhalt in seiner partikulären psychischen Form sein. Das Gesetz als Symptom tritt auf, wenn der Mandant im Beratungsgespräch eine rechtswidrige Strategie (Bau eines Kernkraftwerks im Naturschutzgebiet) darlegt und verfolgen möchte. Die einschlägigen Normen, aufgrund derer die Anlagengenehmigung verweigert wird, stellen das spezifische gesetzliche Symptom dar. Der Rechtsanwalt hilft dem Mandanten, sein „wahres Begehren“ zu verstehen und nach rechtlich möglichen Alternativen zu suchen, d.h. das Begehren innerhalb der symbolischen Signifikantenverkettungen des Gesetzes zu integrieren. Sollte dies unmöglich sein, lag das wahre Begehren nicht in der Integration in die Rechtsordnung, sondern in ihrer Konfrontation, was aber in der Beziehung zum Rechtsanwalt 299

Fink, The Lacanian Subject: Between Language and Jouissance, S. 136. Schroeder, The Four Discourses of Law: A Lacanian Analysis of Legal Practice and Scholarship, in: 79 Texas Law Review, S. 70. 300

E. Die psychoanalytische Seite des Rechts in Lacans Diskurstheorie

229

nicht artikuliert werden kann, so dass das Verhältnis scheitert. Das bedeutet aber nicht, dass das Gesetz selbst nie das Symptom sein kann. Im Gegenteil gewinnt das Gesetz zunehmend Symptomcharakter, was Lacan selbst hervorhebt: „Das ist es, was wir heute tatsächlich erleben – das Gesetz in Frage gestellt als Symptom.“301

Diese Blockade des Begehrens kann durch die Anfechtung der Norm oder, falls dies wenig verspricht, über einen politischen Diskurs erreicht werden, der sich in einen Rechtsdiskurs wandeln kann.

301

Lacan, Le Séminaire XVII: L’Envers de la Psychanalyse, S. 48.

Schluss: Impulse einer psychoanalytischen Rechtstheorie Abschließend soll noch einmal die Frage aufgeworfen werden, welche Impulse die Psychoanalyse in Bezug auf das Verständnis des Rechts geben kann. Dabei spielt der Umgang mit den Mythen eine entscheidende Rolle, denn hier zeigt sich besonders deutlich, wie unbewusste Phantasmen die subjektive Beziehung zum Recht steuern. Anders als Legendre es proklamiert, führt die hier vertretene, unmittelbar an Lacan und Freud orientierte Analyse zu einer kritischen Betrachtung der Mythen und damit auch der libidinösen Besetzung der rechtlichen Beziehungen. Das liegt insbesondere daran, dass die Objektbeziehung – konkret zum objet petit’a und dem Ding – bei Legendre keine nennenswerte Rolle spielt. Gerade an der Objektbeziehung manifestiert sich aber das phantasmatische Supplement der Rechtsdiskurse, welches ihnen oft einen pathologischen Charakter verleiht. Die unbewusste Objektfixierung steht im engen Zusammenhang mit den mythischen Fiktionen, durch welche der pathologische Einschlag des objet petit’a initiiert oder zumindest gestützt wird. Aus ethischer Sicht muss es gerade darum gehen, den „unheimlichen Exzess des Genießens“, der nach Žižek durch den Todestrieb bezeichnet wird und den das Subjekt (auch) über das Recht als Objekt-Ursache des Begehrens veranstaltet, zu durchbrechen. Und zwar durch die gegenseitige Anerkennung als Mangelwesen. An dieser Stelle bietet sich ein weiterer Verweis auf Nietzsche an, der sich wie kaum ein zweiter um ein aufgeklärtes Verständnis gegenüber der Vaterreligion, welche auch das für das Recht dominierende mythische Phantasma enthält, bemüht hat. Nietzsche ging es um eine Entmythisierung insgesamt, also auch in Bezug auf Vernunft und Moral. Als „posthumer Philosoph“ beschreibt er die „Tötung Gottes“ als das für den – aus seiner Perspektive kommenden – Zeitgeist zentrale Ereignis.1 Indem er die unbedingte Verknüpfung von Grammatik und Gottesglauben mit der einhergehenden Dekonstruktion des idealistischen (affektbefreiten) Vernunftbegriffes proklamiert, wird schon das angedeutet, was Lacan später mit der Position des Namens-des-Vaters – dem Pendant des toten Vaters in der diskursiven Kommunikation – beschreibt. Unbewusste Phantasmen und libidinöses Begehren sind – um noch einmal die psychoanalytische Perspektive 1 Vgl. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Drittes Buch, Sentenz 125 (Der tolle Mensch).

Schluss: Impulse einer psychoanalytischen Rechtstheorie

231

von der philosophischen abzugrenzen – aus der Operation der Vernunft nicht extrahierbar. Was bei Lacan eher als Bestandsaufnahme und Analyse des status quo erscheint, ist bei Nietzsche bereits Gegenstand einer fundamentalen Kritik: Sowohl die Beschwörung des „toten Gottes“, als auch seine Sprachkritik, welche er in einem untrennbaren Zusammenhang sieht, kann als Ausgangspunkt der Forderung betrachtet werden, sich von dem Anderen der Liebe bzw. von dem ödipalen Signifikanten zu lösen. So wird das Verständnis von „Gott“ als grammatikalisch strukturierte Sprachfunktion nirgendwo deutlicher als in der Götzen-Dämmerung: „Die „Vernunft“ in der Sprache: oh was für eine alte betrügerische Weibsperson! Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben.“2

Das Dilemma, das Nietzsche in der Religion als System des Vaterdogmas sieht, wird auch bei Legendre – nämlich als die „erotische Anbindung“ des Subjekts an die Rechtsinstitutionen – beschrieben, wobei Legendre diese Faszination im Gegensatz zu Nietzsche unkritisch sieht. Nietzsches neue „Morgenröte“ kann man als Hoffnung auf eine Zeit verstehen, die das „Vertrauen zur Moral“ als das ultimative Symptom der phantasmatischen Vaterbeziehung erkennt,3 deren peinigenden Charakter die sublimierte Schuld für das verdrängte Urverbrechen aus Freuds metaphorischen Mythen widerspiegelt, hinter sich lässt. Liest man Nietzsche mit Lacan, erfordert dies eine neue Form der Verknüpfung der Register von Subjektivität, in der das Sinthôme den Namen-des-Vaters ersetzen soll.4 Im Kern geht es Lacan darum, dieses Sinthôme, das die drei subjektiven Sphären des Realen, Imaginären und Symbolischen zusammenhält und es dem Subjekt damit erst zu leben ermöglicht, indem es die „Stütze seines Daseins bildet“, als nicht interpretierbaren Kern des Subjekts und seines Genießens anzuerkennen (d.h. gerade nicht über die Analyse zu versuchen, es „aufzulösen“) und die Identifikation mit ihm zu ermöglichen.5 Die hier eingeschlagene Richtung ist allerdings eine zwiespältige, denn es geht auch um die Dekonstruktion derjenigen Moral, welche sich an dem Namen-des-Vaters orientiert und damit auf fundamentalen psychischen Kausalitäten beruht. Silvia Ons unterstreicht, dass Nietzsches Nähe zu Lacan in seiner Beschreibung von Wahrheit innerhalb einer strukturellen Parallele zur Fiktion liegt. Wahrheit „erscheint“, und dieser Status der Erscheinung ist die Folge ihrer fiktionalen Struktur, dem grammatikalischen Bruch in 2 Nietzsche, Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt. Die „Vernunft“ in der Philosophie, Sentenz 5. 3 Vgl. Nietzsche, Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile, Vorrede, Sentenz 2. 4 Voruz, The Topology of the Subject of Law: The Nullibiquity of the Fictional Fifth, in: Ragland/Milovanovic, Lacan: Topologically Speaking, S. 296 ff. 5 Žižek, Liebe Dein Symptom wie Dich selbst, S. 26 ff.

232

Schluss: Impulse einer psychoanalytischen Rechtstheorie

der Sprache, in der neue Werte produziert werden. So entsteht ein Pragmatismus, der nicht zuletzt auch aus der Demontage oder Entmythisierung der Metaphysik und der Konzeptionierung von jouissance als nicht gleichbedeutend mit Lust oder Wohlergehen folgt.6 Das Subjekt steuert zwanghaft und fortwährend auf die jouissance zu, weil es der Grammatik nicht entfliehen kann, die es fest an das Phantasma des ambivalenten Vaters bindet. Dieser Vater steht hinter der universellen Fassade des Anderen, der als Anderer des Rechts sowohl im Bild oder in den Symbolen des säkularen und werteorientierten Vaters Staat als auch des alttestamentlichen Gottes auftritt. Wahrheit wird immer dort vermutet, wo sie als jouissance verwertet werden kann. Wie qualvoll diese pragmatische Wahrheit ist, zeigt sich in den biblischen Leiden des Volkes Israel an den Gesetzen des Herrn im Exodus und Leviticus genauso wie in dem täglichen Kampf um das Recht bzw. des Ringens um Signifikanz im demokratischen Rechtsstaat. Was bei Nietzsche als plakativer Kampf mit dem Christentum erscheint, den er – wenn auch weniger oft zitiert – auch gegen das Vernunftideal Kants und schließlich die Grammatik selbst geführt hat, ist bei Lacan die radikale Analyse und implizite Kritik an dem der jouissance unterworfenen Subjekt. Ein mögliches Fazit aus den psychoanalytischen Rechtsbetrachtungen ist damit schon bei Nietzsche angelegt. Dieses liegt in der rechtsethischen Forderung nach einer Lösung von der phantasmatischen, „erotischen“ Beziehung zum Anderen der Liebe und des Rechts. Ob es sich dabei um eine utopische oder realisierbare Vorstellung handelt, kann hier nicht entschieden werden. Psychoanalytische Parameter ermöglichen es aber, und das könnte als erster Schritt in Richtung einer „Befreiung des Begehrens“ betrachtet werden, manche der unbewussten Phantasmen innerhalb unserer Rechtsordnung zu reflektieren und damit auf ihre Dekonstruktion hinzuwirken. Man sollte aber nicht vergessen, dass in den Phantasmen der jouissance eine – wenn auch schmerzliche – aber drängende Form des Genießens liegt, die den Abschied hiervon deutlich erschwert. Dass man das Zentrum dieses Phantasmas als ödipalen Signifikanten bezeichnet, ist sicherlich nicht zwangsläufig, lässt sich aber mit Lacan begründen. So kann man auf dieser Grundlage vertreten, dass der Wunsch nach einem „toten Gott“ bei Nietzsche eben dem Leiden an eben diesem „väterlichen Signifikanten“ entspringt. Der progressive Impuls der hier dargestellten psychoanalytischen Rechtstheorie kann damit schließlich im Sinne einer Neuorientierung auf das Lacanschen Sinthôme formuliert werden. Konkret heißt dies, der jouissance, welche der phantasmatischen Identifikation mit dem – um noch einmal die Freudsche Metapher zu gebrauchen – am guten oder bösen Vater leidenden 6

Ons, Nietzsche, Freud, Lacan, in: Žižek, Lacan – The Silent Partners, S. 80.

Schluss: Impulse einer psychoanalytischen Rechtstheorie

233

Brüderclan entspringt, zu entsagen. In diesem Sinne muss das Recht einen Weg finden, dem Subjekt das von libidinösen Implikationen befreite Gefühl zu vermitteln, in seinem ureigensten Kern Anerkennung durch den Anderen zu finden, ohne ihn dabei aber zu einem Genießen auf Kosten seines Nächsten oder zu einem Genießen aus einem Schuldkomplex heraus zu verleiten. Dabei geht es insbesondere um die Vermittlung eines Rechtsverständnisses, das sich von dem pathologischen Genießen der jouissance nicht nur löst, sondern bewusst distanziert. Der Rechtsdiskurs ist oft von der hysterischen Vermutung durchsetzt, dass ein anderes Subjekt an einem MehrGenießen teilhat. Zu diesem möchte man sich entweder selbst – über das Recht – Zugang verschaffen oder zumindest dem anderen Subjekt den Zugang unterbinden. Dieses ominöse Mehr-Genießen wird bei Lacan an Objekt-Ursachen (objet petit’a) festgemacht, wobei – aufgrund der trügerischen Natur dieser Objekte – regelmäßig verkannt wird, dass dieses ein bloßer Schein, eine transzendente Leerstelle ist. Die psychoanalytische Betrachtung der Entstehung und der diskursiven Erscheinungsformen des Rechts zeigt, dass das Recht von einem Leiden geprägt ist, welches in der Struktur des ödipalen Signifikanten begründet liegt. Recht dient dem Subjekt dazu, seinen Mangel zu verhandeln und ihm (partielle) Befriedigungserlebnisse zu verschaffen. Zentral ist dabei die omnipräsente Fixierung auf die Objekte des Begehrens, welche in Wahrheit aber regelmäßig – wie Lacan betont – nur Objekt-Ursachen und damit ein bloßer Schein, Teil eines Phantasmas sind. Bedeutung, Wahrheit und Vernunft treten auf, wenn das Subjekt sich dem Objekt bzw. dem Ding anzunähern glaubt. Diese Annäherung wird im Recht diskursiv vermittelt. Ein Rechtsakt wird als gerecht erfahren, wenn er dem Subjekt ein (phantasmatisches) Näheverhältnis zum Objekt seines Begehrens vermittelt. Die hier vorgeschlagene psychoanalytische Rechtstheorie stellt ein System und Vokabular vor, mit dem dieses Begehren innerhalb der einzelnen Rechtsakte identifiziert und der spezifische Objektbezug offengelegt werden kann. Wird so ein Ausweg aus dieser Spirale eröffnet? Kann ein neues, progressives Rechtsverständnis über die Psychoanalyse vermittelt werden? Ein solches Unternehmen steht vor dem Problem, dass es sich um unbewusste – und damit kaum zugängliche, verschlüsselte – Prozesse handelt, die ihren Ursprung in der frühkindlichen Entwicklung des Subjekts haben. Das primäre Ziel einer „psychoanalytischen Aufklärung“ liegt also darin, den pathologischen Charakter dieser Objektfixierung in das Bewusstsein der Rechtssubjekte zu übertragen und ihnen damit den Grund für ihr Leiden am Recht verständlich zu machen. Dieses Leiden ist essentiell ein Leiden an der Sprache, deren Struktur uns dazu zwingt (oder zu zwingen scheint), uns auf den Mangel zu konzentrieren und die Welt aus der Perspektive der Gespaltenheit heraus zu erfahren. Wir vermuten den Grund für den Mangel im Anderen.

234

Schluss: Impulse einer psychoanalytischen Rechtstheorie

Das symbolische Universum mit seiner Fülle an Rechtszeichen lässt uns den Mangel konkret erfahren, und wir versuchen über den Rechtsdiskurs, diesen Mangel im Anderen „zurecht“ zu rücken. Die Mythen bieten eine Form, innerhalb der sich das Subjekt auf phantasmatischer Ebene in den Zustand der Ungespaltenheit versetzen kann und sie werden glaubwürdiger, wenn sie sich innerhalb einer bestimmten Tradition historisch verfestigt haben. Deshalb sollte man – ungeachtet des Vorgesagten – den Mythos auch nicht vorschnell abtun, denn es besteht eine begründbare Notwendigkeit für die glaubensstärkende institutionelle Vermittlung eines Referenzpunktes: Solange es ein universelles Phantasma gibt, idealerweise gestützt durch eine anerkannte Dogmatik, ist das System zumindest nicht instabil und bietet weitgehende Identifikationsmöglichkeiten, die für die Existenz eines Rechtsstaates wohl conditio sine qua non sind. Sobald eine Beziehung zum Ursprung hergestellt werden kann, wird der Mangel ausgeblendet, denn der Ursprung ist der Zustand der Ungespaltenheit, da er sich auf der Ebene des Unbewussten auf die pränatale Einheit – die Zeit vor dem Einschnitt der symbolischen Kastration – bezieht, welcher durch den ödipalen Signifikanten des Namens-des-Vaters verursacht wird. Diese Bindung darf aber nicht in eine Abhängigkeit führen, die dem Subjekt geistige Freiräume verschließt, die es ebenso nötig hat. Die Geschichte belegt diesen Drang, sich von den jeweils dominierenden Manifestationen der Mythen (sei es eine Religion oder ein politisches System) zu lösen, vielfältig, zeigt aber auch, dass die Prozesse von Distanzierung und Annäherung zyklisch verlaufen. Offen bleibt damit, wie ein Rechtssystem konkret strukturiert sein muss, um die dem Begehren entspringende libidinöse Investition der Teilnehmer der Rechtsdiskurse zu vermeiden oder zumindest zu reduzieren. Ob dies praktisch überhaupt möglich ist oder ob es dazu vielleicht Nietzsches „Über-Menschen“ bedarf, muss an anderer Stelle beantwortet werden. Die Erkenntnis des Unbewussten allein kann aber schon einen Autonomiegewinn bringen, der die Möglichkeit eines von pathologischen Symptomen befreiten Rechtsverständnisses eröffnet.

Verzeichnis einiger Grundbegriffe der Psychoanalyse nach Lacan Der große Andere (A) bezeichnet die Erfahrung der psycho-sozialen Substanz des Sujekts als eine radikale Alterität, die nicht durch Identifikation assimiliert werden kann. Diese bezieht sich auf Sprache und damit auch auf das (positive) Gesetz und die Rechtsordnung insgesamt. Der große Andere ist deswegen in die symbolische Ordnung eingeschrieben und wird als Synonym für dieses Register benutzt, weil das Symbolische eine partikuläre Ordnung für jedes Subjekt darstellt. Der große Andere des Rechts ist damit die Sinnerfahrung des Subjekts in seiner Konfrontation mit legalen Mechanismen. Daneben bezeichnet der große Andere auch das andere Subjekt in dessen radikaler Alterität und unassimilierbarer Einzigartigkeit. In der Chronologie des Subjekts ist es die Mutter, welche zuerst die Position des Anderen besetzt. Der kleine andere (a) ist nicht wirklich ein anderer, sondern eine Reflektion und Projektion des Ichs. Er ist gleichzeitig das Gegenüber und das Spiegelbild und damit vollständig in die imaginäre Ordnung eingeschrieben. Das Begehren ist streng von Wünschen und Bedürfnissen zu trennen. Es liegt auf dem Grund der menschlichen Existenz, ist immer unbewusst und damit grundsätzlich sexueller Natur. Das ursprüngliche Begehren des Subjekts ist auf ein inneres Bild von der pränatalen Einheit (der Mutterimago) gerichtet und wird in der symbolischen Textur des Diskurses zu einem unbewussten Verlangen nach Liebe, und zwar in Form der Anerkennung der eigenen Identität durch den Anderen. Der Diskurs ist die symbolische Form, in der das Unbewusste sich in den sozialen Beziehungen manifestiert; er kann nicht beliebig und bewusst eingeführt oder abgeschafft werden. Man kann die sozialen Verhältnisse nicht verstehen, ohne nach dem Begehren der implizierten Subjekte zu fragen. Man kann aber ebenso wenig diese Verhältnisse erklären, wenn man auf der imaginären Ebene der individuellen oder kollektiven manifesten Wünsche stehen bleibt. Jeder Diskurs setzt ein Sprechen voraus, aber nicht jedes Sprechen organisiert sich zum Diskurs. Es gibt ein wildes, freies oder zensiertes Sprechen, dessen Aufgabe es ist, „unabhängig“ zu sein. Die Grenzen des Diskurses werden durch den Tod, die Gewalt, den Wahnsinn, den sexuellen Akt, das Lusterleben angegeben. Der Diskurs ist von vornherein

236

Verzeichnis einiger Grundbegriffe der Psychoanalyse nach Lacan

eine soziale Beziehung. Es gibt keine Gemeinschaft zwischen den Menschen, die sich nicht in der Sprache gründet. Der Diskurs ist das, was in der Sprache die soziale Beziehung unter den sprechenden Subjekten stiften kann. Ein Diskurs kann ausgehend von drei Termen definiert werden: Signifikant, Subjekt und Objekt. Aber der Signifikant existiert nur als Differenz; der Schrei weist selbst auf das Schweigen hin, es gibt kein singulär daseiendes Phänomen für die sprechenden Subjekte, es gibt mindestens eine Verschiebung zwischen zwei Termen. Der Diskurs benötigt deswegen vier Terme, die auf vier Positionen einen Platz bekommen, nämlich Herrschaftssignifikant (S1), Wissen (S2), das gespaltene Subjekt = ) und das Mehr-Genießen (a). Diese Struktur hat eine dominante Position, von (S wo aus der Sinn, die Richtung des Begehrens ausgeht. Ein empirisches Subjekt kann gleichzeitig in mehreren bzw. in allen Positionen Platz nehmen, denn das Unbewusste kennt keinen Widerspruch. Die imaginäre Ordnung bezeichnet eines der drei Register des Psychischen. Das Imaginäre ist bildhaft und dual organisiert und wird insbesondere im Spiegelstadium ausgebildet. Es ist der Ort der Selbstidentifikation, des Selbstbildes, aber auch des Verkennens und der Täuschung. Zum Imaginären gehört auch der Bereich des Begehrens (siehe objet petit’a) sowie der Phantasmen. Jouissance (dt. Genießen) steht – im Gegensatz zur Lust und zum Begehren – für eine unmittelbare Befriedigung insbesondere sexueller Bedürfnisse. Es gehört, als „idiotische“, stumpfsinnige, sich dem Sinn entziehende Form der Befriedigung, dem Bereich des Realen an. Das Lustprinzip agiert als eine Art Einschränkung des Genusses; es ist ein Gesetz, das dem Subjekt befiehlt, „so wenig wie möglich zu genießen“. An die Stelle des ungehemmten Genießens hat stattdessen die Lust zu treten, das regulierte Begehren des anderen. Insbesondere das Inzesttabu und die Kastrationsdrohung im Ödipuskomplex sind Beispiele für solche Verbote. So ist der Eintritt in die symbolische Ordnung überhaupt eine Form des Verbotes des Genießens, im übertragenen Sinn eine Form der „symbolischen Kastration“. Das Genießen dagegen setzt sich über dieses symbolische Verbot hinweg. Es hält seine Befriedigung nicht zurück, sondern verschafft sie sich unmittelbar. Žižek betont deshalb den „obszönen“ Charakter des Genießens. Das Genießen ist außerdem paradox. Denn das Hinwegsetzen über das Verbot verschafft ab einem gewissen Punkt keine Lust mehr, sondern verursacht Schmerz, da das Subjekt nur ein gewisses Maß an Lust ertragen kann. Diese schmerzhafte, neurotische Lust ist das Genießen: „Genießen ist Leiden“. Die symbolische Kastration, der sich das infantile maskuline Subjekt in Form von Kastrationsangst ausgesetzt fühlt, wird von Lacan als das „Nein-des-Vaters“ bezeichnet. Dieses „Nein“ kann vom Vater selbst oder von anderen Personen „im Namen des Vaters“ (meist implizit) ausgesprochen werden. Da der Name-des-Vaters auch die Gesetze der Gesellschaft repräsentiert (z. B. das Inzesttabu), gehört der Kastrationskomplex der

Verzeichnis einiger Grundbegriffe der Psychoanalyse nach Lacan

237

symbolischen Ordnung an. Durch das „Nein“ des Vaters wird das Kind in die symbolische Ordnung der Gesellschaft und der Gesetze eingeführt. Lacan bezeichnet die Kastration, die ja stets nur angedroht bleibt, und die mit dieser Drohung einhergehende Hinwendung zum Symbolischen, deshalb auch als „symbolische Kastration“. Mit dem Eintritt ins Symbolische geht die Kastrationsangst (die Furcht den Phallus zu verlieren) teilweise auf das durch den Vater repräsentierte Symbolische selbst, den großen Anderen über, d. i. nicht zu wollen, dass der Andere kastriert ist. In der femininen Variante wird eine bereits vollzogene Kastration imaginiert. Die Konsequenzen in Bezug auf die Hinwendung zum Symbolischen sind ähnlich, aber nicht identisch. Die métaphore paternelle (dt. Vatermetapher) bezeichnet die Substitution der Identifikation des Subjekts mit dem Begehren der Mutter durch die Identifikation mit dem Namen-des-Vaters. Hierin liegt der metaphorische Charakter des Ödipuskomplexes, der fundamentalen Metapher, auf der jede phallische Signifikation beruht und die der Signifikation ihren phallischen Charakter verleiht. Der Name-des-Vaters ist ein Signifikant, der die Konsistenz der Gesetze der symbolischen Ordnung garantiert. Jedes Gesetz spricht immer schon „im Namen des Vaters“ und verdankt diesem seine Autorität. Im Frühwerk Lacans bezeichnet er die verbietende Rolle des Vaters, der im Ödipuskomplex das Inzesttabu verhängt und durch die Kastrationsdrohung durchsetzt. Später präzisiert Lacan den Ausdruck im Sinne eines „Herrensignifikanten“. Der Name-des-Vaters wird nun der „fundamentale Signifikant“, der dem Subjekt Identität verleiht, und der es ihm ermöglicht, einen festen Platz in der symbolischen Ordnung einzunehmen. Die „Verwerfung“ dieses Signifikanten aus der symbolischen Ordnung des Subjekts führt zur Psychose. Der „Name-des-Vaters“ ist als Terminus nicht wörtlich zu verstehen. Der Träger des ödipalen „Neins“ und des Gesetzes muss nicht zwangsläufig der reale Vater sein, sondern ist vielmehr der symbolische Vater, dessen struktureller Platz auch von anderen Personen (Mutter, Geschwister, Erzieher) oder Institutionen eingenommen wird (Lehrer, Richter, Polizisten, Priester, politische und religiöse Führer, dem Psychoanalytiker, die Figur Gottes, aber auch allgemeiner: soziale Normen, der große Andere). Lacan spricht deshalb auch oft von den Namen-des-Vaters im Plural. Der Vater hat keinen Eigennamen. Er ist keine Figur, sondern eine Funktion. Der Vater hat ebenso viele Namen, wie sie [d.h. die Funktion] Träger hat (Jacques-Alain Miller). Auch ist die Kastrationsdrohung, die im Namen des Vaters ausgesprochen wird, nicht wörtlich zu verstehen als ausgesprochene Drohung eines Vaters, sein Kind zu kastrieren. Das Kind selbst ist es, das diese Phantasie entwickelt, um sich das Nichtvorhandensein des weiblichen Penis zu erklären. Ebenso muss das Inzesttabu nicht explizit ausgesprochen werden, sondern geht indirekt aus der Abweisung des Begehrens des Kindes durch die begehrte Person hervor.

238

Verzeichnis einiger Grundbegriffe der Psychoanalyse nach Lacan

Objet petit’a bezeichnet die Objekt-Ursache des Begehrens. Sein Ursprung liegt in einer Erinnerungsspur die auf die verlorene Einheit mit der Mutter als höchstes und unerreichbares Gut verweist. Vorliegend wird es im Zusammenhang mit Gerechtigkeit konzeptualisiert, welche damit die Objekt-Ursache des Begehrens des Rechtssubjekts ist. Daneben stellt es einen der vier Diskursfaktoren dar. Die Freudsche Darstellung des Ödipuskomplexes erfährt bei Lacan eine bedeutende Rekonstruktion. Der Ödipuskomplex ist eine sprachliche Fiktion, ein Mythos. Das entscheidende Geschehen findet nicht in der Realität statt, sondern auf der Ebene des Symbolischen. Der Vater ist nicht notwendig eine reale Person, sondern eine Funktion. Diese Funktion kann von verschiedenen Repräsentanten ausgefüllt werden oder sich auch nur indirekt aus der Zurückweisung des Inzestwunsches durch die Mutter ergeben. Entscheidend ist bei Lacan lediglich die Fiktion einer das Gesetz (das Inzestverbot) repräsentierenden Instanz, den großen Anderen, wobei der Andere durch verschiedene Autoritätsfiguren wie Lehrer, Polizisten, Richter, Geistliche etc. repräsentiert werden kann. Der große Andere ist also nicht zwangsläufig der Vater, aber er spricht „im Namen-des-Vaters“. Indem sich das Kind dieser Instanz unterwirft und das Gesetz anerkennt, wird es zugleich in die Ordnung des Symbolischen eingeführt und aufgenommen. Der günstige Ausgang des Ödipuskomplexes bedeutet für Lacan vor allem die Möglichkeit des Subjekts, sich aus der kindlich-narzisstischen Objektbeziehung lösen zu können. Erst indem es sein ursprüngliches Objekt, die Mutter, aufgibt und gegen andere Objekte einzutauschen beginnt, wird es erwachsen. Der phallische Signifikant ist ein dialektisches Zeichen des Körpers. Die Dialektik liegt hier in der Einheit des „Erhabenen“ (der Zeugung) und dem „Niederen“ (dem Urinieren). Der „Phallus“ bezeichnet nicht das Organ, sondern steht als Zeichen für den Ausgleich des Mangels, den das Subjekt im Symbolischen erfährt. Das Reale bezeichnet neben dem Symbolischen und Imaginären das dritte Register des Psychischen. Es ist weder imaginär noch symbolisierbar, sondern besitzt eine eigene, massive, nichtreduzierbare und singuläre Existenz und Präsenz – etwa ein Traum, unter dem man leidet und der (noch) nicht in eine Geschichte verwandelbar ist. Das Reale ist immer etwas Unfassbares, Unsagbares, nicht Kontrollierbares, eine Art von Horror oder Trauma. Es tritt auch in den Sphären der Sexualität, des Todes und der Gewalt in Erscheinung. Es ist auf keinen Fall mit dem Begriff der Realität gleichzusetzen, der eher der symbolisch strukturierten Ordnung der Sprache und des Diskurses angehört. Das Reale lässt sich nicht vorstellen oder repräsentieren, sondern ist dasjenige, was sich dem Sprechen entzieht und verweigert. Dennoch liegt das Reale nicht gänzlich außerhalb der symbolischen Ordnung, sondern ist gerade der ihr immanente Un-Grund des Signifikanten. Darin besteht das eigentliche Paradoxon dieses (Un-)Begriffs.

Verzeichnis einiger Grundbegriffe der Psychoanalyse nach Lacan

239

Das Subjekt ist der Träger eines irreduziblen Mangels-im-Sein, der die Ursache des Begehrens darstellt. Dieser Mangel beginnt mit der Geburt, die das Kind aus der Vollkommenheit seines embryonalen Daseins herauswirft und verstärkt sich durch seine zweite große Trennung, die Trennung der Symbiose mit der Mutter(brust). Auch von seinem Spiegelbild, dem es sich im Spiegelstadium gegenüber sieht, ist es getrennt und entfremdet. Das Subjekt ist seitdem unvollständig, weshalb es stets Vollständigkeit begehrt, um seinen Mangel (die Lücke im Subjekt) durch Objekte aufzufüllen. Ein solches Objekt (objet petit’a), fungiert als Antrieb und Auslöser der Handlungen des Subjekts und ist damit Objekt-Ursache des Begehrens. Aber der Mangel ist letztlich nicht aufhebbar, das Objekt bleibt unerreichbar und ist ein „immer schon verlorengegangenes“ Objekt, hinter dem das unerreichbare Ding steht. Neurotische oder psychotische Persönlichkeitsstrukturen sind spezifische Weisen, mit dem fundamentalen Mangel-im-Sein und dem Begehren umzugehen. Eine Form, den Mangel imaginär aufzufüllen, ist das Phantasma; es ist der Rahmen, das Szenario, in dem die Objets petit’a in Erscheinung treten. Die symbolische Ordnung ist die psychische Ordnung der Sprache, des Diskurses, des Sozialen und seiner Normen oder auch die Ebene der geistig-sozialen Substanz. Sie ist wie eine Sprache organisiert und bildet eine Ordnung von Signifikanten und Signifikaten, die wohlorganisiert und geordnet zueinander stehen. Der große Andere bzw. der Name-des-Vaters ist die Instanz, welche die Ordnung des Symbolischen garantiert. Die symbolische Ordnung ist deshalb eine dreistellige Struktur (Signifikant-Signifikat-Referenz), während das Imaginäre eine duale Struktur besitzt.

Literaturverzeichnis Adam, Armin/Stingelin, Martin (Hrsg.): Übertragung und Gesetz, Berlin 1995. Apollon, Willy/Feldstein, Richard (Hrsg.): Lacan, Politics, Aesthetics, New York 1996. Assmann, Jan: Religion und kulturelles Gedächtnis, München 2000. Bencivenga, Ermanno: Hegel’s Dialectical Logic, Oxford 2000. Benjamin, Jessica: Der Schatten des Anderen. Intersubjektivität, Gender, Psychoanalyse, Stroemfeld, 2002. Bischof, Norbert: Das Rätsel Ödipus, München 1985. Bracher, Mark/Alcorn, Marshall/Corthell, Ronald/Massardier-Kenney, Françoise (Hrsg.): Lacanian Theory of Discourse: Subject, Structure and Society, London/ New York 1994. Brunner, José: Psyche und Macht: Freud politisch lesen, Stuttgart 2001. Bung, Jochen/Valerius, Brian/Ziemann, Sascha (Hrsg.): Normativität und Rechtskritik Tagungen des Jungen Forums Rechtsphilosophie (JFR) in der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) im September 2006 in Würzburg und im März 2007 in Frankfurt am Main (ARSP Beiheft 114), Stuttgart 2007. Butler, Rex: Žižek zur Einführung, Hamburg 2006. Chaumon, Franck: Lacan – La loi, le sujet et la jouissance, Paris 2004. Clement, Catherine: The Lives and Legends of Jacques Lacan, New York 1983. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Anti-Ödipus – Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt am Main 1974. Derrida, Jacques: Acts of Literature, London/New York 1992. – For the Love of Lacan, in: 16 Cardozo Law Review (1995), S. 699 ff. Devereux, Georges: Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften, München 1973. Dollard J./Doob, L. W./Miller, N. E./Mowrer, O. H./Sears, R. R.: Frustration and Aggression, New Haven, 1939. Douzinas, Costas: Law’s Birth and Antigone’s Death: On Ontological and Psychoanalytical Ethics, in 16 Cardozo Law Review (1995), S. 1325 ff. – Psychoanalysis Becomes the Law: Notes on an Encounter Foretold, in: XX Public Forum 3 (1997) S. 323 ff.

Literaturverzeichnis

241

Douzinas, Costas/Goodrich, Peter (Hrsg.): Politics, Postmodernity and Critical Legal Studies, London 1994. Ehrenzweig, Albert A.: Psychoanalytical Jurisprudence: A Common Language For Babylon, in: Columbia Law Review 65 (1965), S. 1331 ff. Engel, Antke: Szenarien des Begehrens, in: Juridikum 2006, S. 210 ff. Engelmann, Peter (Hrsg.): Postmoderne und Dekonstruktion: Texte französischer Philosophen der Gegenwart, Ditzingen 2004. Evans, Dylan: An Introductory Dictionary of Lacanian Psychoanalysis, London/New York 1996. Feldstein, Richard (Hrsg.): Reading Seminars I/II: Lacan’s Return to Freud, New York 1996. Feldstein, Richard/Fink, Bruce/Jaanus, Marie (Hrsg.): Reading Seminar XI: Lacan’s Four Fundamental Concepts of Psychoanalysis, New York 1995. Feldstein, Richard/Sussman, Henry (Hrsg.): Psychoanalysis and . . ., New York 1990. Fink, Bruce: The Lacanian Subject: Between Language and Jouissance, Princeton 1995. Freud, Sigmund: Abriß der Psychoanalyse/Das Unbehagen in der Kultur, Frankfurt am Main 1972. – Das Ich und das Es, Gesammelte Werke Band XIII, Frankfurt am Main 1975. – Die Traumdeutung, Studienausgabe Band II, Frankfurt am Main 1972. – Fragen der Gesellschaft, Ursprünge der Religion, Studienausgabe Band IX, Frankfurt am Main 1974. – Werke aus den Jahren 1909–1913, Studienausgabe Band VIII, Frankfurt am Main 1974. – Zwei Kinderneurosen, Studienausgabe Band VIII, Frankfurt am Main 1974. Goodrich, Peter: Languages of Law: From Logics of Memory to Nomadic Masks, London 1990. – Law and the Unconscious: A Legendre Reader, London 1997. – Law in the Courts of Love, Literature and other minor Jurisprudences, London 1996. – Maladies of the Legal Soul: Psychoanalytical Interpretation in Law, in: 54 Washington/Lee Law Review (1997), S. 1035 ff. – Œdipus Lex – Psychoanalysis, History, Law, Berkeley, Los Angeles/London 1995. – The Unconscious is a Jurist: Psychoanalysis and Law in the Work of Pierre Legendre, in: 20 Legal Studies Forum (1996), S. 195 ff. – Translating Legendre or, The Poetical Sermon of a Contemporary Jurist, in: 16 Cardozo Law Review (1995), S. 963 ff.

242

Literaturverzeichnis

Graf, Wilfried/Ottomeyer, Klaus (Hrsg.): Szenen der Gewalt in Alltagsleben, Kulturindustrie und Politik, Wien 1989. Grigg, Russell: Lacans Four Discourses, in: 4 Analysis (1993), S. 33 ff. Grosz, Elizabeth: Jacques Lacan: A Feminist Introduction, London 1990. Habermas, Jürgen: Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt am Main 1991. Hachamovitch, Yifat: One Law in the Other, in: International Journal for the Semiotics of Law III (8) (1990), S. 187 ff. Hahn, Alois/Kapp, Volker (Hrsg.): Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis, Frankfurt am Main 1987. Hart, Herbert Lionel Adolphus: Der Begriff des Rechts, Frankfurt am Main 1973. – Recht und Moral. 3 Aufsätze, Göttingen 1971. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes, herausgegeben von Johannes Hoffmeister, Hamburg 1952. – System der Philosophie III: Philosophie des Geistes, Werke in 20 Bänden, Band X, Frankfurt am Main 1969–1971. – Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte III, Werke in 20 Bänden, Band XX, Frankfurt am Main 1986. – Wissenschaft der Logik I. Erster Teil. Die objektive Logik. Die Lehre vom Sein. Theorie Werke in 20 Bänden, Band V, Frankfurt am Main 1969–1971. Horkheimer, Max: Autorität und Familie, in: Gesammelte Schriften Band 3: Schriften 1931–1936, Frankfurt am Main 1988. Jackson, Bernard S.: Wisdom-Laws – A Study of the Mishpatim of Exodus 21:1–22:16, New York 2006. Juranville, Alain: Lacan und die Philosophie, München 1990. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft 1, Werkausgabe Band III, herausgegeben von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1968. – Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, Riga, 1783. Kelsen, Hans: Reine Rechtslehre, 2. Auflage, Wien 1960. Kittsteiner, Heinz: Die Entstehung des modernen Gewissens, Frankfurt am Main 1995. Kraß, Andreas/Tischel, Alexandra (Hrsg.): Bündnis und Begehren. Ein Symposium über die Liebe, Berlin 2002. Kury, Helmut/Obergfell-Fuchs, Joachim: Rechtspsychologie, Stuttgart 2005. Lacan, Jacques: Die Ethik der Psychoanalyse (Das Seminar Buch VII), Weinheim/ Berlin 1996. – Das Seminar Buch III: Die Psychosen, Weinheim/Berlin 1997. – Das Seminar Buch XI: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, 4. Auflage, Weinheim/Berlin 1996.

Literaturverzeichnis

243

– Écrits: A Selection, übersetzt von Alan Sheridan, New York 1977. – Écrits: A Selection, übersetzt von Bruce Fink, New York/London 2002. – Joyce avec Lacan, Paris 1987. – Le Séminaire Livre IV: La Relation d’Objet (1956–1957), Paris 1994. – Le Séminaire Livre VII: Le Transfert (1960–61), Paris 1991. – Le Séminaire Livre X: L’Angoisse (1962–1963), Paris 2004. – Le Séminaire Livre XVII: L’Envers de la Psychanalyse (1969–1970), Paris 1991. – Le Séminaire Livre XX: Encore (1972–1973), Paris 1975. – L’étourdit, in: Silicet 4 (1973), S. 5 ff. – Schriften II, Olten 1975. – Schriften III, Olten/Freiburg im Breisgau 1980. – Some Reflections on the Ego, in: The International Journal of Psychoanalysis 34(1) (1953), S. 11 ff. – Speech and Language in Psychoanalysis, Baltimore 1968. – Television: A Challenge for the Psychoanalytical Establishment, London 1990. – The Seminar of Jacques Lacan Book I: Freud’s Papers on Technique (1953–1954), New York 1988. – The Seminar of Jacques Lacan Book II: The Ego in Freud’s Theory and the Technique of Psychoanalysis (1954–55), Cambridge 1988. – The Seminar of Jacques Lacan, Book VII: The Ethics of Psychoanalysis, New York 1992. – The Seminar of Jacques Lacan, Book XI: The Four Fundamental Concepts of Psychoanalysis, New York 1981. Langthaler, Ernst: Geschichte(n) über Geschichte(n). Historisch-anthropologische Feldforschung als reflexiver Prozess, in: 1 Historical Social Research, Vol. 30 (2005), S. 200 ff. Legendre, Pierre: Dieu au mirroir. Étude sur l’institution des Images, Paris 1994. – The Lost Temporality of Law: An Interview with Pierre Legendre, in: 1 Law and Critique, 3 ff. – L’Amour du Censeur: Essai sur l’Ordre Dogmatique, Paris 1974. – Le Crime du Corporal Lortie: Traité sur le Père, Paris 1989. – L’inestimable Objet de la Transmission, Paris 1985. – The Other Dimension of Law, in: 16 Cardozo Law Review (1995), S. 943 ff. Lenzen, Dieter: Vaterschaft. Vom Patriarchat zur Alimentation, Reinbek bei Hamburg 1991. Lévi-Strauss, Claude: Structural Anthropology, New York 1963.

244

Literaturverzeichnis

Lipowatz, Thanos: „Fortschritt in der Geistigkeit“ und der „Tod Gottes“, Würzburg 2005. – Die Verleugnung des Politischen: Die Ethik des Symbolischen bei Jacques Lacan, Weinheim/Berlin 1986. Marcuse, Herbert: Eros und Kultur. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, Stuttgart 1957. Metzger, Hans-Geert: Zwischen Dyade und Triade, Tübingen 2000. Miller, Jacques Alain: A Reading of Some Details in Television in Dialogue with the Audience, in: 4 Newsletter of the Freudian Field (1–2), S. 4 ff. – To Interpret the Cause: From Freud to Lacan, in: 3 Newsletter of the Freudian Field (1–2), 30 ff. Mills, Linda: On the Other Side of Silence: Affective Lawyering and Intimate Abuse, in: 81 Cornell Law Review (1996), S. 1225 ff. Mitchell, Juliet/Rose, Jacqueline (Hrsg.): Feminine Sexuality: Jacques Lacan and the École Freudienne, 1982. Möll, Marc-Pierre: Kulturkritik von Herbert Marcuse – Totalitarismustheoretisches Denken von links, in: Aufklärung und Kritik 1/2004, S. 5 ff. Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft, Kritische Werk-/Briefausgabe von Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Berlin/New York 1967 ff./1980. – Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt. Die „Vernunft“ in der Philosophie, Kritische Werk-/Briefausgabe von Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Berlin/New York 1967 ff./1980. – Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, 1873, aus dem Nachlaß, Kritische Werk-/Briefausgabe von Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Berlin/New York 1967 ff./1980. – Nachgelassene Fragmente, Kritische Werk-/Briefausgabe von Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Berlin/New York 1967 ff./1980. – Zur Genealogie der Moral, Kritische Werk-/Briefausgabe von Giorgio Colli/ Mazzino Montinari, Berlin/New York 1967 ff./1980. Plack, Arno: Der Mythos vom Aggressionstrieb, München 1973. Pohlen, Manfred/Bautz-Holzherr, Margarethe: Eine andere Aufklärung: Das Freudsche Subjekt in der Analyse, Frankfurt am Main 2001. Pottage, Alain: Crime and Culture: The Relevance of the Psychoanalytical, in: 55 The Modern Law Review (1992), S. 421 ff. Ragland, Ellie: Lacan and the Subject of Law: Sexuation and Discourse in the Mapping of Subject Positions That Give the Ur-Form of Law, in: 54 Washington/Lee Law Review (1997), S. 1091 ff. – Essays on the Pleasures of Death: From Freud to Lacan, London 1995. Ragland, Ellie/Milovanovic, Dragan (Hrsg.): Lacan: Topologically Speaking, New York 2004.

Literaturverzeichnis

245

Ragland-Sullivan, Ellie/Bracher, Mark: Lacan and the Subject of Language, in: The French Review, Vol. 66, No. 4 (1993), S. 654 ff. Reschke, Renate (Hrsg.): Nietzsche, Radikalaufklärer oder radikaler Gegenaufklärer?, Berlin 2004. Salcel, Renata: Rights in Psychoanalytical and Feminist Perspectives, in: 16 Cardozo Law Review (1995), S. 1121 ff. – The Spoils of Freedom: Psychoanalysis and Feminism After the Fall of Socialism, London 1994. Saussure, Ferdinand de: Grundlagen der allgemeinen Sprachwissenschaft, 2. Auflage, Berlin 1967. Schneider-Harpprecht, Ulrike: Mit Symptomen leben: Eine andere Perspektive der Psychoanalyse Jacques Lacans mit Blick auf Theologie und Kirche, Münster, Hamburg, Berlin, Wien, London/Zürich 2000. Schroeder, Jeanne Lorraine: The Four Discourses of Law: A Lacanian Analysis of Legal Practice and Scholarship, in: 79 Texas Law Review (2000–2001), S. 15 ff. – The Triumph of Venus: The Erotics of the Market, Berkeley, Los Angeles/London 2004. – The Vestal and the Fasces: Hegel, Lacan, Property and the Feminine, Berkeley 1998. – The Vestal and the Fasces: Hegel, Lacan, Property and the Feminine in Law and Psychoanalysis, in: 16 Cardozo Law Review (1995), S. 805 ff. Schütz, Anton: Sons of Writ, Sons of Wrath: Pierre Legendre’s Critique of Rational Law-giving, in: 16 Cardozo Law Review (1995), S. 979 ff. Schuller, Marianne/Strowick, Elisabeth (Hrsg.): Singularitäten: Literatur-Wissenschaft-Verantwortung, Freiburg i. Br. 2001. Sfez, Lucien (Hrsg.): Dictionnaire Critique de la Communication, Paris 1993. Silvestre, Michel: Demain la psychanalyse, Paris 1988. Steller, Max/Volbert, Renate (Hrsg.): Psychologie im Strafverfahren, Bern 1997. Thomä, Helmut/Kächele, Horst: Psychoanalytische Therapie 3: Forschung, Berlin 2006. Vinnai, Gerhard: Jesus und Ödipus, Frankfurt am Main 1999. Wahl, François (Hrsg.): Einführung in den Strukturalismus, Frankfurt am Main 1973. Weimar, Robert: Psychologische Strukturen richterlicher Entscheidung, Bern 1996. Widmer, Peter: Descartes und Lacan: Wie cartesianisch ist die Psychoanalyse? Online Publikation unter: www.sciacchitano.it/Soggetto/Descartes%20und%20 Lacan.pdf (Januar 2009). Wilde, Oscar: The Picture of Dorian Gray, New York 1998. Wright, Elizabeth: Lacan and Postfeminism, Cambridge 2000.

246

Literaturverzeichnis

Wurmser, Léon: Flucht vor dem Gewissen. Analyse von Über-Ich und Abwehr bei schweren Neurosen, Berlin, Heidelberg/New York 1987. Yerushalmi, Yosef Hayim: Freuds Moses. Endliches und unendliches Judentum, Berlin 1992. Žižek, Slavoj: Das fragile Absolute, Berlin 2000. – Die gnadenlose Liebe, Frankfurt am Main 2001. – Enjoy your Symptom! Jacques Lacan in Hollywood and Out, London 1992. – For They Know Not What They Do: Enjoyment As A Political Factor, London 1991. – Liebe Dein Symptom wie Dich selbst! Jacques Lacan und die Medien, Berlin 1991. – Looking Awry: An Introduction to Jacques Lacan through Popular Culture, Cambridge/London 1992. – Parallaxe, Frankfurt am Main 2006. – Superego by Default, in: 16 Cardozo Law Review (1995), S. 925 ff. – The Invisible Remainder: An Essay on Schelling and Related Matters, London 1996. – The Metastases of Enjoyment, London 1994. – The Plague of Fantasies, London 1997. – The Sublime Object of Ideology, London 1989. – (Hrsg.): Sic 2: Cogito and the Unconscious, Durham/London 1998. – (Hrsg.): Lacan: The Silent Partners, London/New York 2006. Žižek, Slavoj/Dolar, Mladen/Zupancˇicˇ, Alenka/Pelko, Stojan/Božicˇ, Miran/Salecl, Renata: Was Sie schon immer über Lacan wissen wollten und Hitchcock nie zu fragen wagten, Frankfurt am Main 2002. Žižek, Slavoj/Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: The Abyss of Freedom/Ages of the World, Ann Arbor 1997.

Personen- und Sachwortverzeichnis Aggressionstrieb 149 Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften 98 Antigone 150 archaische Erbschaft 108 Arier 171 Assmann, Jan 38 Atkinson, James Jasper 27 atomares Band des Rechts 45 Aton 28 Aufklärung 207

der eindimensionale Mensch 52 der Mann Moses und die monotheistische Religion 26, 28 Derrida, Jacques 19–20, 37–38, 112, 148 deutscher Idealismus 67 Devereux, Georges 98 die Traumdeutung 57 Differance 20 Ding 132, 142, 144–147, 149, 152 Douzinas, Costas 77, 150

Barthes, Roland 20 Bautz-Holzherr, Margarethe 38 Berufsethik des Juristen 178 Bindungsbedürfnis 187 Bischof, Norbert 109 Borromeanischer Knoten 122, 128 Bourdieu, Pierre 203–204 Brunner, José 36 Bundesverfassungsgericht 115

Echnaton 28 Ehrenzweig, Albert A. 19 Elektrakomplex 85 Es 27, 89, 160 Exekutive 209 Exodus 232 Extimité 156, 158

Christentum 165, 232 christlich-jüdische Tradition 27 Corpus Iuris Civilis 62 Darwin, Charles 27 das Ich und das Es 160 das Unbehagen in der Kultur 156, 159 das Verbrechen des Gefreiten Lortie 44 Daschner, Wolfgang 116 Deleuze, Gilles 33 Demokratie 156, 208 Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken 97

Familie 92 feministische Gesellschaftstheorie 41 Fernsehen 46 Fink, Bruce 87 Folterverbot 115–117 forensische Psychologie 17 Foucault, Michel 19 foucaultsches Missverständnis 204 Frankfurter Schule 33 Französische Revolution 33 Frau-an-sich 131 Genealogie der Legalität 40 Gesellschaftsvertrag 36, 89 (Gesundheits-)Dogmatismus 101 Goodrich, Peter 23, 58, 62, 66–67, 76

248

Personen- und Sachwortverzeichnis

Gott 26, 32, 34, 74, 97, 99, 165, 169, 231–232 Grigg, Russell 195 Grundnorm 35 Guattari, Félix 33 Habermas, Jürgen 19, 89, 127, 175, 207 Hachamovitch, Yifat 68, 70 Hart, H. L. A. 221 Hegel, G. W. F. 22, 90, 119, 134, 143, 177, 195 Heidegger, Martin 144 Herrschafts und KnechtschaftsDialektik 195 Hobbes, Thomas 30, 36, 89 Hölderlin, Friedrich 19 Horkheimer, Max 33 Ich 39, 106, 119, 182 Ich-Ideal 164, 169, 173, 192, 214 Ideal-Ego 94, 107 Ideal-Ich 215 Imago 49 in der Strafkolonie 161 Inzesttabu 86, 176 Inzestverbot 28–29, 81, 83, 93, 100, 109, 135, 137, 151, 159 Jackson, Bernard S. 25 jenseits des Lustprinzips 103 Jouissance 85–86, 122, 125–126, 129, 133, 135, 138, 145, 153–154, 159–160, 165, 167–169, 179–180, 193, 196–197, 205, 209, 217, 225, 232 Judaismus 25 Juden 29, 171 Jung, Carl Gustav 21, 85 Juranville, Alain 147, 190 Justinianisches Recht 63 Justiz 17

Kafka, Franz 161 Kant, Immanuel 21, 67, 89, 127, 143–144, 148, 162, 164–165, 167, 174, 207, 232 Kant mit Sade 170, 210 Kapitalismus 33, 218 Kastrationsangst 84, 99–100 Kastrationserfahrung 85, 92, 133, 190, 192, 196, 208, 222 Kastrationskomplex 27, 57, 60, 79–80, 82, 84, 92 kategorischer Imperativ 164–165, 168 Kelsen, Hans 35–36, 40, 127 Kindheitsphantasmen 37 Kirchhoff, Bodo 14 klassenlose Gesellschaft 89 kollektives Schuldphantasma 30 korrumpierter kategorischer Imperativ 162 Koschorke, Albrecht 40 Kriminalprävention 17 Kritik der praktischen Vernunft 159 La Philosophie dans le Boudoir 159 Lamarck, Jean-Baptiste 28 Lamarckismus 36, 38 Legendre, Pierre 21, 43, 45, 51, 55, 61–64, 66–67, 70, 76–77, 170, 175 Lévesque, René 46 Lévi-Strauss, Claude 21, 108 Leviathan 36 Leviticus 232 liberal-bürgerliche Gesellschaft 35 Libido 90, 169 Liebe 14, 31–32, 36, 40–41, 47, 49, 55, 61, 71, 83, 118, 128, 135, 142, 150, 152, 176, 185, 187–189, 197, 209–210, 222–223, 231–232 Lipowatz, Thanos 23, 37, 186 Logozentrismus 20 Lortie, Denis 46–49, 59, 61, 173 Luhmann, Niklas 19

Personen- und Sachwortverzeichnis Lustprinzip 86, 147, 149, 159–160, 162 Lyotard, Jean-Francois 20 Marcuse, Herbert 52–53, 77 Marx, Karl 89, 193, 195, 201, 218 Mehrwert 195 Menschenrechte 155–156 Menschenwürde 115–116 Metapher 41, 44, 58, 60, 75, 91–92, 100–101, 113–114, 196, 199, 232 Métaphore paternelle 92, 145, 152, 170, 179–180, 193–194, 200 Metonymie 91, 96, 113–114 Miller, Jacques Alain 120, 153, 156, 168 Möbiusband 122, 185, 187 Monotheismus 29, 166 Moralgesetz 159, 163–165, 168–169 Moraltheologie 63 Moses 26, 28–29 Mutterimago 118 Name-des-Vaters 92, 100, 147–148, 151, 154, 159, 166, 175, 180, 191– 192, 194, 198, 208, 214, 231, 234 Nationalsozialismus 37 Naturrecht 221 Neomarxistische Rhetorik 201 Neurobiologie 98 Nietzsche, Friedrich 24, 67, 113, 231–232, 234 Notstandsgesetze 175 Nürnberger Rassegesetze 171, 174 Objet petita 80, 84, 96, 125, 131, 137, 147, 151–156, 158, 165, 184, 193, 199, 230, 233 Ödipus 57, 150 Ödipuskomplex 16, 26–27, 40, 57, 59–60, 79, 81, 86, 92, 98, 160 Ödipusmythos 26, 31, 40, 60 Ons, Silvia 231

249

Paternität 23, 61 Paternität des Rechts 27 Paulus 145, 174 Phallischer Signifikant 92–93, 96, 108, 131, 209 Phallus 93–94, 130, 132 Poe, Edgar Allen 21 Pohlen, Manfred 38 Polytheismus 28 Postmoderne 19 postmortales Persönlichkeitsrecht 158 praktische Vernunft 164, 221 Prozesskostenhilfe 189 Ragland, Ellie 23, 188 Realitätsprinzip 149, 160 Rechtspsychologie 17 Rechtsstaat 44, 188 Reine Rechtslehre 35, 40 reine Vernunft 163 Römerbrief 146 Römisches Recht 61 Rousseau, Jean-Jacques 30, 36, 89 Sade, Marquis de 21, 159, 162–165, 167 Sadismus 164 Salcel, Renata 155 Saussure, Ferdinand de 20–21, 99, 111 Scheidungsproblem 46 Schreber, Daniel Gottlob Moritz 97 Schreber, Daniel Paul 97, 101, 131, 173 Schrebergartenbewegung 98 Schroeder, Jeanne Lorraine 23, 90, 119, 177 Schwarze Pädagogik 98 Sergeant Chénier 46 Sexuelle Differenz 135 Sexuierung 80, 129–131, 136–137, 139 Sinthôme 122, 128–129, 231

250

Personen- und Sachwortverzeichnis

Sophokles 150 Sowjetsystem 202 Soziales Band 23, 31, 80, 87, 96, 101, 128, 141, 148, 157, 161, 171, 173–175, 180 spekulative Anthropologie 40 Spiegelstadium 54, 105, 107 Subjekt der Aussage 88–89, 163–164, 168 Symbolische Kastration 100 Terrorbekämpfung 116 Tholen, Georg Christoph 112 Thora 27 Todestrieb 84, 149, 167, 230 Totem und Tabu 24, 26, 29, 31, 37, 40, 44–45, 69, 92, 207 Totemismus 27 Traumatische Gewalt 38 Traumaverarbeitung 114

Trieb 27, 84, 145, 159 Triebstruktur und Gesellschaft 52 Über-Ich 27, 37, 39, 63, 126, 129, 159–162, 164–170, 172–173, 176, 179, 209–210, 214 Urverdrängung 60, 87, 91–92, 145 Väter des Grundgesetzes 214 Verdichtung 114 Verschiebung 114 Vinnai, Gerhard 33–34 Wahnsinn 61, 97 Wilde, Oscar 13 Wurmser, Léon 161 Zivilprozessverfahren 188 Žižek, Slavoj 16, 21–22, 77, 84, 111, 143, 150–151, 161, 164, 167, 170–174, 200, 204, 217