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German Pages XI, 247 [251] Year 2020
Roland Borgards / Burghard Dedner (Hg.)
Georg Büchner und die Romantik A B H A N D L U N G E N Z U R L I T E R AT U R W I S S E N S C H A F T
Abhandlungen zur Literaturwissenschaft
In dieser Reihe erscheinen Monographien und Sammelbände zur Literaturwissenschaft einschließlich aller Nationalphilologien. Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/15814
Roland Borgards · Burghard Dedner (Hrsg.)
Georg Büchner und die Romantik
Hrsg. Roland Borgards Universität Frankfurt Frankfurt a. M., Deutschland
Burghard Dedner Universität Marburg Marburg, Deutschland
ISSN 2520-8381 ISSN 2520-839X (electronic) Abhandlungen zur Literaturwissenschaft ISBN 978-3-476-05099-1 ISBN 978-3-476-05100-4 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-476-05100-4 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Ute Hechtfischer J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
Vorwort
Fünf Jahre nach Georg Büchners Tod veröffentlichte Karl Gutzkow in einer Sammlung seiner „Vermischten Schriften“ auch zwei Texte Büchners, das Prosafragment Lenz und die Komödie Leonce und Lena. Der Rezensent Hermann Marggraff merkte dazu an, dass sich der Leser, konfrontiert mit „so vielen Gutzkow’schen Verstandeswitzen, in diesen romantischen Zwischenpartien gern erholt“.1 Lenz und Leonce und Lena als „romantische Zwischenpartien“? Büchner als Romantiker? Büchners Zeitgenossen lag eine solche Einschätzung nicht fern, mussten sie doch schon bei dem Titel Leonce und Lena an Clemens Brentanos Ponce de Leon denken, und die Lenz-Erzählung nannten sie, als sei sie von E. T. A. Hoffmann und Büchner ein Vertreter der Schwarzen Romantik, ein „düstres Nachtgemälde“.2 Auch konstatierte der einflussreiche Kritiker Julian Schmidt 1853 in Büchners Werk insgesamt „jenes zitternde Behagen an dem absoluten Nichts, das sich träumerisch in die Nachtseiten der Natur vertiefte“.3 Wenn Schmidt Büchner auf diese Weise mit der Romantik in Verbindung bringt, dann ist das zunächst als abwertende Kritik gemeint. Die Einordnung Büchners „in das einheitliche Bild der Gesamt-Romantik“4 wird dann von der Germanistik des frühen 20. Jahrhunderts einerseits – wenngleich ohne die abwertenden Implikationen – bestätigt. Andererseits wird nun auch verstärkt der „Unterschied der Büchnerschen Grundstruktur zu jener romantischen“5 herausgearbeitet. Bestätigung findet die These von Büchners Distanz zur Romantik in der germanistischen Literaturgeschichtsschreibung des mittleren 20. Jahrhunderts, in der die
1Hermann Marggraff: Rezension von: Vermischte Schriften. Von Karl Gutzkow. 3 Bde. Leipzig, Weber 1842. In: Blätter für literarische Unterhaltung, Nr. 290–293, 17.–20. Oktober 1843, S. 1173. 2So u. a. Wilhelm Schulz über: Nachgelassene Schriften von G. Büchner (1851). In: Deutsche Monatsschrift für Politik, Wissenschaft, Kunst und Leben. Hrsg. von Adolph Kolatschek, Heft 2, Februar 1851, S. 210–233, hier S. 218. 3Julian Schmidt: Geschichte der deutschen Nationalliteratur im neunzehnten Jahrhundert. Zweiter Band. Leipzig 1853, S. 215. Erstdruck in: Die Grenzboten (1851). 4Friedrich Gundolf: Georg Büchner. In: Ders.: Romantiker. O. O. 1930, S. 375–395 (das Zitat stammt aus dem unpaginierten Vorwort). 5Heinz Lipmann: Georg Büchner und die Romantik. O. O. 1923, S. 4.
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Vorwort
politisch konservativen Elemente der Romantik betont werden: Wenn die Romantik rechts ist, dann kann sie Büchners Sache nicht sein; sie ist allenfalls das, wovon er sich abgewendet hat: „Büchner, der im stärkstem Maße Einflüssen der Romantik gefolgt ist, hat im Grunde nichts mit ihr gemein.“6 Erst die neuere Büchner-Forschung bestätigt wieder Schmidts Eindruck einer – wenngleich ambivalenten – Romantiknähe.7 Als Philosoph orientierte Büchner sich wie vor ihm der romantische Naturphilosoph Schelling an Spinoza, als vergleichender Anatom an Vorgaben des romantischen Naturwissenschaftlers und Malers Carl Gustav Carus. Zum Doktorvater hatte er Lorenz Oken, den Doyen der romantischen Naturphilosophie. Und so auch der Dichter: Neben Goethe und Shakespeare, den Büchner im romantischen Gewand der Schlegel-Tieck-Ausgabe las, haben vor allem Ludwig Tieck, Clemens Brentano und Jean Paul, aber auch Novalis und Eichendorff ihre Spuren in seinem Werk hinterlassen. Und selbst im Hessischen Landboten finden sich neben den Anleihen an die frühsozialistische Tradition Frankreichs noch Elemente der deutschen politischen Romantik, der Büchner als Gymnasiast nahestand. Diesen Hinweisen der neueren Büchner-Forschung entspricht auch die Entwicklung der Romantikforschung der letzten 20 Jahre, die die Romantik nicht mehr pauschal als Abwehr gegen, sondern als Effekt von und Antwort auf die beginnende Moderne begreift. Der vorliegende Band analysiert Büchners Modernität im Kontext dieses revidierten Romantikbildes. Denn aus dieser Perspektive lässt sich eine Antwort auf die Frage formulieren, wie jemand, der so viel Romantik rezipiert, zugleich zum Paradigma der Moderne avancieren kann. Grundsätzlich sind hier zwei Verfahren am Werk. Zum einen greift Büchner spezifisch romantische Elemente auf und transformiert sie in eine neue, nunmehr dezidiert moderne Gestalt. Ein berühmtes Beispiel hierfür ist das düstere Märchen, das die Großmutter im Woyzeck erzählt. Der Rückgriff auf die romantische Märchentradition ist hier genauso deutlich zu fassen wie die moderne Neugestaltung dieser Tradition. In diesem Sinne erscheint Büchner als ein Modernisierer der Romantik. Zum anderen nutzt Büchner mit besonderer Intensität solche Elemente, die in der Romantik selbst schon radikal modern sind. Dies zeigt sich etwa in seinem Gespür für die selbstreflexive Instabilität der Sprache, die für Leonce und Lena genauso prägend ist wie für die frühromantischen Sprachreflexionen im Umfeld des Athenäum, oder in seinem Interesse für die Nachtseiten der menschlichen Natur, das er mit Romantikern wie Tieck und Hoffmann teilt. In diesem Sinne erscheint Büchner als ein sehr genauer Beobachter der modernen Romantik. Der vorliegende Band dokumentiert die Ergebnisse einer Tagung aus dem April 2018, einer Kooperation des Instituts für Deutsche Literatur und ihre Didaktik
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Renker: Georg Büchner und das Lustspiel der Romantik. Eine Studie über Leonce und Lena. Berlin 1967, S. 76. 7Vgl. zum Folgenden mit Hinweisen auf die entsprechende Forschungsliteratur den einführenden Beitrag von Roland Borgards in diesem Band.
Vorwort
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(Universität Frankfurt), der Forschungsstelle Georg Büchner (Universität Marburg) und des Freien Deutschen Hochstifts (Frankfurt). Unser Dank gilt dem Freien Deutschen Hochstift als Gastgeber und Mitorganisator der Tagung (insbesondere Anne Bohnenkamp-Renken, Konrad Heumann und Kristina Faber), der VolkswagenStiftung und den Freunden und Förderern der Goethe Universität, die die Tagung großzügig finanziert haben, sowie Lena Wiesenfarth und Samuel Kramer, denen der letzte redaktionelle Schliff des Bandes zu verdanken ist. Roland Borgards Burghard Dedner
Inhaltsverzeichnis
„Nous ferons un peu de romantique, pour nous tenir à la hauteur du siècle“. Zur Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Roland Borgards „Romantik“ und „Vormärz“: Ein Streitfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Norbert Otto Eke Büchner – ein Romantiker? Zuschreibungen in der Rezeptionsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Ariane Martin Lektürespuren in Büchners literarischen Werken: Eine Bestandaufnahme mit besonderer Berücksichtigung Ludwig Tiecks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Burghard Dedner Kryptomnemonische Anregungen: Anmerkungen zu Büchners Tieck-Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Arnd Beise Romantische Passion? Konfessionspoetik und Medienpolitik in Georg Büchners Danton’s Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Andrea Polaschegg Mit Händen und Füßen: Büchner und die romantische Komiktheorie (von Stephan Schütze) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Johannes F. Lehmann Die Persiflage und ihre Transformationen: Das vorrevolutionäre Paris, die Frühromantik und die Dramen Georg Büchners . . . . . . . . . . . . 137 Günter Oesterle Über Empfindlichkeiten: Carl Blechen und Georg Büchner . . . . . . . . . . . 155 Mareike Hennig Ästhetische Eigenzeiten und romantische Inszenierungsräume: Dynamiken der Beschleunigung und Entschleunigung in Büchners Woyzeck und Leonce und Lena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Claudia Lillge IX
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Inhaltsverzeichnis
Vorbeiziehende Wolken: Georg Büchner, Melancholie und Romantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Martina Wernli Von der metaphysischen zur sozialen Krankheit: Dämonomanie in Büchners Lenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Maximilian Bergengruen Georg Büchners Teleologiekritik im Kontext der romantischen Naturphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Georg Toepfer Georg Büchners Semiotik des Lebens und die romantische Transzendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Hubert Thüring
Autorenverzeichnis
Prof. Dr. Arnd Beise Departement für Germanistik, Universität Fribourg, Freiburg, Schweiz Prof. Dr. Maximilian Bergengruen Institut für Germanistik, Universität Karlsruhe, Karlsruhe, Deutschland Prof. Dr. Roland Borgards Institut für Deutsche Literatur und ihre Didaktik, Universität Frankfurt, Frankfurt a. M., Deutschland Prof. Dr. Burghard Dedner Forschungsstelle Georg Büchner, Universität Marburg, Marburg, Deutschland Prof. Dr. Norbert Otto Eke Institut für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft, Universität Paderborn, Paderborn, Deutschland Dr. Mareike Hennig Freies Deutsches Hochstift, Frankfurt a. M., Deutschland Prof. Dr. Johannes F. Lehmann Institut für Germanistik, Vergleichende Literaturund Kulturwissenschaft, Universität Bonn, Bonn, Deutschland PD Dr. Claudia Lillge Institut für Deutsche Literatur und ihre Didaktik, Universität Frankfurt, Frankfurt a. M., Deutschland Prof. Dr. Ariane Martin Deutsches Institut, Universität Mainz, Mainz, Deutschland Prof. Dr. Günter Oesterle Institut für Germanistik, Universität Gießen, Gießen, Deutschland Prof. Dr. Andrea Polaschegg Germanistisches Seminar, Universität Siegen, Siegen, Deutschland Prof. Dr. Hubert Thüring Deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft, Universität Basel, Basel, Schweiz Prof. Dr. Georg Toepfer Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Berlin, Deutschland Dr. Martina Wernli Institut für Deutsche Literatur und ihre Didaktik, Universität Frankfurt, Frankfurt a. M., Deutschland
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„Nous ferons un peu de romantique, pour nous tenir à la hauteur du siècle“. Zur Einführung Roland Borgards
Im März 1834 kündigt Georg Büchner seiner Verlobten Wilhelmine Jaeglé seinen baldigen Besuch in Straßburg an, erst auf Deutsch, dann unversehens ins Französische wechselnd: Nous ferons un peu de romantique, pour nous tenir à la hauteur du siècle; et puis me faudra-t-il du fer à cheval pour faire de l’impression à un coeur de femme? Aujourd’hui on a le système nerveux un peu robuste. (MBA 10.1, S. 36)1
Um zu erläutern, was mit „un peu de romantique“ alles auf dem Spiel steht, werde ich im Folgenden zunächst einen Einblick in die Forschung zu Büchners Romantik-Bezug geben, sodann einige Grundzüge der Romantik-Forschung in Erinnerung rufen und schließlich andeuten, wie sich der Brief selbst zu wichtigen Fragefeldern der Romantik in Beziehung setzen lässt.
1Textstellen
von Büchner werden hier und im Folgenden zit. nach der Marburger Büchner Ausgabe (Darmstadt 2000–2013) unter der Sigle MBA. Die Nachweise erscheinen direkt im Text. Eine Übersetzung der französischen Passage gibt MBA 10.2, S. 207: „Wir machen ein bißchen auf Romantik, um auf der Höhe der Zeit zu bleiben; und brauche ich dann noch Schulterpolster, um auf ein Frauenherz Eindruck zu machen? Heute hat man ein gar robustes Nervensystem.“
R. Borgards (*) Institut für Deutsche Literatur und ihre Didaktik, Universität Frankfurt, Frankfurt a. M., Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 R. Borgards und B. Dedner (Hrsg.), Georg Büchner und die Romantik, Abhandlungen zur Literaturwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05100-4_1
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1 Büchner-Forschung Ein Romantik-Bezug ist von der Büchner-Forschung2 auf vier Ebenen festgestellt worden. Erstens benutzt Büchner das Wort „Romantik“ bzw. „romantisch“. Die hier einschlägigen, in der Forschung häufig genannten Belege lassen sich an einer Hand abzählen. Da ist zunächst die schon zitierte Briefstelle: „Nous ferons un peu de romantique, pour nous tenir à la hauteur du siècle.“ (MBA 10.1, S. 36) Es findet sich sodann in Danton’s Tod die einschlägige Replik von Camille: „Welche klassischen Republicaner! Nimm einmal unsere Guillotinenromantik dagegen!“ (MBA 3.2, S. 5) Und schließlich ist in Leonce und Lena gleich dreimal von Romantik die Rede, hier zunächst in einer adjektivischen Variante bei Valerio: Ich werde mich indessen in das Gras legen und meine Nase oben zwischen den Halmen herausblühen lassen und romantische Empfindungen beziehen, wenn die Bienen und Schmetterlinge sich darauf wiegen, wie auf einer Rose. (MBA 6, S. 101)
Dann als Teil eines Kompositums bei Leonce: „Pack dich mit deiner Alexandersund Napoleonsromantik!“ (MBA 6, S. 109). Und schließlich in einer ähnlichen Wendung noch einmal bei Valerio: Ist denn Eure Hoheit noch nicht über die Lieutenantsromantik hinaus, das Glas zum Fenster hinaus zu werfen, womit man die Gesundheit seiner Geliebten getrunken? (MBA 6, S. 116 f.)
An diesen fünf Textstellen ruft Büchner die Romantik ganz unmittelbar herbei; gleichzeitig tut er dies in einem bisweilen spöttischen, immer aber distanzierenden Ton. Diese doppelte Geste des Identifizierens und Distanzierens, so zeigen auch die Beiträge zu dem hier vorliegenden Sammelband, bestimmt Büchners Verhältnis zur Romantik ganz grundsätzlich. Die zweite Ebene von Büchners Romantik-Bezug liegt im direkten und indirekten Zitat romantischer Texte. Büchner war ein Leser. Nachweisbar
2Die erste monographische und bis heute sehr lesenswerte Auseinandersetzung mit dem Verhältnis Büchners zur Romantik findet sich bei Heinz Lipmann: Georg Büchner und die Romantik. O. O. 1923 (vgl. zu Lipmann auch den Beitrag von Ariane Martin in diesem Band); vgl. des Weiteren Heinz Wetzel: „Guillotinenromantik“. Zu Verständnis und Wirkung der Romantik bei Georg Büchner. In: Michael S. Batts, Anthony W. Riley (Hrsg.): Echoes and Influences of German Romanticism. Essays in Honour of Hans Eichner. New York, Bern, Frankfurt a. M. 1987, S. 97–103; Günter Oesterle: Klassizismus, Romantik, Vormärz. In: Vf., Harald Neumeyer (Hrsg.): Büchner Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2009, S. 299–305; Arnd Beise: Georg Büchner und die Romantik. In: Ariane Martin (Hrsg.): Georg Büchner und das 19. Jahrhundert. Bielefeld 2012, S. 215–229, hier S. 219; Arnd Beise: „Ein Revolutionär und ein Romantiker zugleich“. In: Ralf Beil, Burghard Dedner (Hrsg.): Georg Büchner. Revolutionär mit Feder und Skalpell. Katalog zur Ausstellung des Instituts Mathildenhöhe Darmstadt, 13. Oktober 2013 bis 16. Februar 2014. Ostfildern 2013, S. 367–377.
Zur Einführung
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b eeinflusst ist er durch einen weiten Kreis romantischer Autoren,3 insbesondere durch Ludwig Tieck4 und Jean Paul,5 aber z. B. auch durch E. T. A. Hoffmann,6 Musset,7 Brentano8 und Eichendorff.9 Diese direkten und indirekten Übernahmen haben oft eine ähnliche Anmutung wie Büchners Verwendung des Wortes „Romantik“: Sie zitieren etwas herbei, machen dies aber auf eine Weise, die gleichzeitig eine gewisse Distanzierung vom Herbeizitierten spürbar werden lässt. Neben dem Rückgriff auf einzelne romantische Autoren nutzt Büchner – und dies wäre die dritte Ebene seines Romantik-Bezugs – in sehr dichter Weise poetische Verfahren, die in der romantischen Ästhetik entwickelt wurden. Günter Oesterle hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass Büchner mit
3Zu einer vollständigen Liste aller Autoren und Werke, aus denen Büchner direkt oder indirekt zitiert oder von denen er möglicherweise Anregungen aufgenommen hat, vgl. den Beitrag von Burghard Dedner in diesem Band. 4Vgl. den Beitrag von Arnd Beise und auch nochmals den Beitrag von Burghard Dedner in diesem Band; vgl. auch Axel Kühnlenz: „Wie den Leuten die Natur so nahtrat…“. Ludwig Tiecks ‚Der Runenberg‘ als Quelle für Büchners ‚Lenz‘. In: Georg Büchner Jahrbuch (1988/1989), S. 297–310; Burghard Dedner: Verführungsdialog und Tyrannentragödie. Tieckspuren in ‚Dantons Tod‘. In: Burghard Dedner, Ulla Hofstaetter (Hrsg.): Romantik im Vormärz. Marburg 1992, S. 31–89; Raleigh Whitinger: Echoes of Novalis and Tieck in Büchners ‚Lenz‘. In: Seminar (1989), S. 324–338. 5Vgl. Friederike Brion: Geistige Verwandtschaft. Jean Paul und Georg Büchner. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 10 (2013), S. 101–114; Paul Requadt: Zu Büchners Kunstanschauung. Das „Niederländische“ und das Groteske, Jean Paul und Victor Hugo. In: Ders.: Bildlichkeit der Dichtung. Aufsätze zur deutschen Literatur vom 18. bis 20. Jahrhundert. München 1974, S. 106–138; Bernhard Böschenstein: Umrisse zu drei Kapiteln einer Wirkungsgeschichte Jean Pauls. Büchner – George – Celan. In: Jean Paul Jahrbuch 10 (1975), S. 187–204; In: Bernhard Böschenstein: Büchners Jean Paul-Rezeption. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A, 2. Heft (1976); John William Smeed: Jean Paul und Georg Büchner. In: Hesperus 22 (1961), S. 29–37. 6Vgl. hierzu z. B. die Hinweise bei Georg Reuchlein: Das Problem der Zurechnungsfähigkeit bei E. T. A. Hoffmann und Georg Büchner. Zum Verhältnis von Literatur, Psychiatrie und Justiz im frühen 19. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1985. 7Zu Musset als Quelle für Leonce und Lena vgl. MBA 6, S. 356–360; vgl. auch Hans H. Hiebel: Allusion und Elision in Georg Büchners ‚Leonce und Lena‘. Die intertextuellen Beziehungen zwischen Büchners Lustspiel und Stücken von Shakespeare, Musset und Brentano. In: Burghard Dedner (Hrsg.): Referate. Internationales Georg-Büchner-Symposium (2, 1987). Frankfurt a. M. 1990, S. 353–378. 8Zu Brentano als Quelle für Leonce und Lena vgl. MBA6, S. 380 f.; vgl. auch Hiebel: Allusion und Elision in Georg Büchners ‚Leonce und Lena‘ (wie Anm. 7); vgl. zu Büchner und Brentano auch Berndt Tilp: Schnitter Tod. Das Regensburger Volkslied ‚Es ist ein Schnitter, der heißt Tod‘ und seine Rezeption bei Clemens Brentano, Georg Büchner, Joseph von Eichendorff und Alfred Döblin. In: Literatur in Bayern (1997), S. 12–29. 9Vgl. Rüdiger Görner: Hedonismen. Joseph von Eichendorffs „Taugenichts“ in Georg Büchners Reich Popo nebst einem Exkurs über politische Sinnlichkeit in „Danton’s Tod“. In: Ders. (Hrsg.): Die Salzburger Vorlesungen. Das parfümierte Wort. Freiburg 2014, S. 95–109; vgl. zu dieser Konstellation auch Brigitte Hauger: Kontroverse Zeitgenossen. Georg Büchner: Lenz; Joseph von Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts. Stuttgart 1987.
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vier konkurrierenden „ästhetischen Weltentwürfen“ konfrontiert ist: dem spätaufklärerisch-vormärzlichen Argumentieren, dem „Radikalklassizismus“ einer intensivierten Autonomieästhetik, der „Romantik in Deutschland mit ihrer Doppelausrichtung auf simulierte Naivität und potenzierte Ironie“, und schließlich der „französischen Romantik mit ihrer Öffnung zum Grotesken und Häßlichen“.10 Büchner geht mit diesem vierfachen Angebot auf eine zeittypische, aber zugleich besonders virtuose Weise um: Er „nutzt die Möglichkeiten der verschiedenen Verfahrenstechniken im Einzelnen und in wechselseitiger Potenzierung.“11 Und genau aufgrund dieses kombinatorischen und intensivierenden Verfahrens lassen sich „nicht nur ‚Spuren‘ romantischer Poesie in Büchners Werk […] erkennen, sondern auch deren spezifische Transformation und Verdichtung“.12 Wieder also geht es um eine doppelte Geste: Büchner holt Elemente der romantischen Ästhetik herbei, und er entfernt sich zugleich vom ihnen.13 So bedient sich Büchner z. B. intensiv einer romantisch anmutenden Ironie,14 konterkariert die ironische Distanzierung aber zugleich immer wieder durch eine Wendung zur erbärmlichen Wirklichkeit.15 Büchner fasst diese doppelte Geste in seinem Brief an Wilhelmine Jaeglé sehr präzise, indem er einerseits die Romantik zum Programm erhebt („Nous ferons un peu de romantique“), dies aber zugleich ironisch begrenzt: „Nous ferons un peu de romantique“. Viertens schließlich bewegen sich Büchner und die Romantiker in einem gemeinsamen Themen- und Frageraum, den insbesondere die kulturwissenschaftliche Forschung der letzten dreißig Jahre als das erste Reflexivwerden einer noch jungen Moderne konturiert hat. Jung ist diese Moderne um 1830, insofern sie, folgt man den großen historischen Erzählungen von Michel Foucault, Reinhart Koselleck, Niclas Luhmann oder Bruno Latour, in ihren philosophischen und praktischen Grundzügen erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts Gestalt angenommen hat. Reflexiv wird diese Moderne im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, insofern sie sich selbst konstitutiv als ein historisch offenes Phänomen
10Oesterle: 11Ebd.,
Klassizismus, Romantik, Vormärz (wie Anm. 2), S. 299. S. 300.
12Ebd. 13Vgl.
mit Blick auf eine Komiktheorie den Beitrag von Johannes Lehmann in diesem Band; vgl. mit Blick auf Büchners Komödie Armin Renker: Georg Büchner und das Lustspiel der Romantik. Eine Studie über Leonce und Lena. Berlin 1967. 14Vgl. Rudorf Drux: Die Selbstreflexion des Theaters auf der Bühne. Zur romantischen Ironie in „modernen“ Komödien von L. Tieck, Ch. D. Grabbe und G. Büchner. In: Edith Düsing (Hrsg.): Geist und Literatur. Modelle in der Weltliteratur von Shakespeare bis Celan. Würzburg 2008, S. 137–154. 15Vgl. z. B. mit Blick auf Leonce und Lena Hans-Georg Werner: „Meine Herren, meine Herren, wißt ihr auch, was Ciligual und Nero waren? Ich weiß es.“ Die Funktionsveränderung romantischer Thematik und Motivik in Büchners Leonce und Lena. In: Dedner, Hofstaetter (Hrsg.): Romantik im Vormärz (wie Anm. 4), S. 91–106, hier S. 103: „Büchners Lustspiel birgt diese Wirkungsmöglichkeit in sich, weil es zwar für romantische Thematik und Motivik fast unbeschränkt offen ist, aber jeden Versuch zur romantischen Ausflucht aus der ‚verkehrten Welt‘ blockiert.“
Zur Einführung
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zu begreifen beginnt. Büchner und die Romantiker treffen sich damit sowohl in ihren Lieblingsthemen – Religion,16 Wahnsinn,17 Melancholie,18 Müßiggang,19 Märchen,20 Schwärmerei,21 Nihilismus,22 Marionette,23 die Idee der Republik,24 die Kritik an philisterhafter Bürgerlichkeit,25 Natur, Liebe, Schmerz, Verbrechen, Glaube, Sehnsucht, Zeitlichkeit, Körper, Sexualität, etc. – als auch in der Art und Weise, wie diese Themen reflektiert, durchgearbeitet und literarisch zur Darstellung gebracht werden. Ausgehend von Büchners akademischer Sozialisation im Feld der Zoologie bzw. der vergleichenden Anatomie ergibt sich dabei ein besonders dichter Zusammenhang im Feld der Naturwissenschaft und Naturphilosophie.26 So eindringlich aber kultur- und insbesondere wissensgeschichtlich orientierte Studien diesen gemeinsamen Frageraum beschrieben haben,27 so klar wurde aber
16Vgl.
hierzu den Beitrag von Andrea Pollaschegg in diesem Band. hierzu nochmal Reuchlein: Das Problem der Zurechnungsfähigkeit bei E. T. A. Hoffmann und Georg Büchner (wie Anm. 6); vgl. auch Kathrin Geltinger: Der Mensch, das Vieh – Büchners Woyzcek. In: Dies.: Der Sinn im Wahn. „Ver-rücktheit“ in Romantik und Naturalismus. Marburg 2008, S. 71–86. 18Vgl. hierzu den Beitrag von Martina Wernli in diesem Band. 19Vgl. hierzu den Beitrag von Claudia Lillge in diesem Band. 20Vgl. Ruth Neubauer-Petzoldt: Desillusionierte Sehnsucht und soziale Utopie. Der Umgang mit Dämonen, Märchen und Mythen bei Heinrich Heine, Georg Büchner und Bettina von Arnim. In: Internationales Jahrbuch der Bettina-von-Arnim-Gesellschaft. Berlin 2007, S. 57–81. 21Vgl. Maria Leonarda Castello: Schwärmertum und Gewalt in Goethes „Werther“, Tiecks „William Lovell“ und Büchners „Lenz“. Würzburg 1993. 22Vgl. Zofia Moros: Nihilistische Gedankenexperimente in der deutschen Literatur von Jean Paul bis Georg Büchner. Frankfurt a. M. 2007; Christoph Zeller: „Die Welt als Sekundärliteratur“. Atheismus und Collage bei Eich, Büchner, Jean Paul. In: Dieter Sevin (Hrsg.): Georg Büchner. Neue Perspektiven zur internationalen Rezeption. Berlin 2007, S. 83–102; Joseph A. Kruse: Romantische Weltuntergänge – auch bei Büchner und Heine. In: Dedner, Hofstaetter (Hrsg.): Romantik im Vormärz (wie Anm. 4), S. 13–29; Walter Hinderer: „Dieses Schwanzstück der Schöpfung“. Büchners Dantons Tod und die Nachtwachen des Bonaventura. In: Georg Büchner Jahrbuch 2 (1982) S. 316–342. 23Vgl. Rudolf Drux: Marionette Mensch. Ein Metaphernkomplex und sein Kontext von Hoffmann bis Büchner. München 1986. 24Vgl. Ariane Martin: Republikanische Romantik. Heine und Büchner. In: Simon, Michael (Hrsg.): Episteme der Romantik. Volkskundliche Erkundigungen. München 2014, S. 53–80. 25Vgl. z. B. Hans-Georg Werner: Zur Verarbeitung romantischer Vorstellungen in Dantons Tod von Georg Büchner. In: János Szabó, Ferenc Szász (Hrsg.): Theorien, Epochen, Kontakte. Bd. 1. Budapest 1989, S. 31–90, hier S. 86: „Was von Novalis und in Büchners Revolutionsstück gleichermaßen abgelehnt wird, ist der von der bürgerlichen Gesellschaft aufgezwungene Lebensrhythmus.“ 26Vgl. hierzu den Beitrag von Georg Toepfer in diesem Band. 27Beispielhaft ließe sich das an den Aufsätzen nachvollziehen, die Harald Neumeyer zu Wahnsinn und Verbrechen sowohl bei E. T. A. Hoffmann als auch bei Büchner vorgelegt hat und die zusammengefügt ein sehr kohärentes Buch bilden würden; vgl. Harald Neumeyer: „Hat er schon 17Vgl.
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auch immer wieder auf das jeweils Spezifische verwiesen:28 Büchner teilt mit den Romantikern die Problemlage, er greift bei der Bearbeitung dieser Problemlage auch auf einige romantische Argumentationsfiguren und Darstellungsverfahren zurück, aber er macht damit dann doch etwas Eigenes: Büchners Texte tragen – argumentativ und darstellerisch – eine sehr deutliche, sich auch gegen die Romantik profilierende Autorensignatur. So findet sich auch auf dieser vierten Ebene des Romantik-Bezugs, auf der Ebene der gemeinsamen historischen Situation, die schon auf den anderen drei Ebenen beobachtete Doppelgeste von Identifikation und Differenzierung.29
2 Romantikforschung Dass es für ein Verständnis Büchners hilfreich ist, über die Romantik nachzudenken, ist angesichts dieses vierfachen Bezugs offensichtlich. Noch nicht geklärt ist damit indes, was genau unter ‚Romantik‘ zu verstehen ist. In der Romantikforschung gibt es zu dieser Frage ein ganzes Feld an möglichen Antworten. Zunächst einmal macht es einen Unterschied, ob die Romantik als ein deutsches oder als ein europäisches Phänomen anvisiert wird – und damit verbunden auch, ob sie aus der Perspektive einer internationalen oder einer deutschen Literaturwissenschaft in den Blick genommen wird. Paul Hamiltons Oxford Handbook of European Romanticism etwa spannt den historischen Bogen von Haman bis Dostojewski; Goethe, Leopardi und Kierkegaard sind mit an Bord.30 In solchen weiten Fassungen der Epoche ist auch Büchner ein Romantiker.31 Dem entgegen steht die Beschreibung der Deutschen Romantik als einer spezifischen, konturierten Programmatik, wie sie etwa Ludwig Stockinger auf den Begriff einer
seine Erbsen gegessen?“ Georg Büchners Woyzeck und die Ernährungsexperimente im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. In: DVjs Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 83 (2009), S. 218–245; Ders.: Vom melancholischen Reden über eine Kunst des Lebens. Georg Büchners „Lenz“ und das medizinisch-psychiatrische Wissen um Seelenstörungen. In: Frank Gustav, Podewski Madleen (Hrsg.): Wissenskulturen des Vormärz. Bielefeld 2012, S. 315–340; Ders.: Verbrechen/Verbrecher. In: Christine Lubkoll, Harald Neumeyer (Hrsg.): E. T. A. Hoffmann Handbuch. Epoche – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 2015, S. 316–320; Ders.: Serielles Töten in E. T. A. Hoffmanns „Das Fräulein von Scuderi“. In: Agnes Bidmon, Claudia Emmert (Hrsg.): Töten. Ein Diskurs. Heidelberg 2012, S. 244–252. 28Auch
dies zeigt sich beispielhaft in den genannten Forschungsbeiträgen von Neumeyer. zur Distanzierung auch Wolfgang Lukas: Abschied von der Romantik. Inszenierungen des Epochenwandels bei Tieck, Eichendorff und Büchner. In: Recherches germanistiques 31 (2001), S. 49–83. 30Vgl. Paul Hamilton: Introduction. In: Ders.: The Oxford Handbook of European Romanticism. Oxford 2015. 31Vgl. zu einer solchen Zuordnung wirkmächtig Friedrich Gundolf: Georg Büchner. In: Ders.: Romantiker. O. O. 1930, S. 375–395; vgl. zu Gundolfs Büchner-Interpretation nochmals den Beitrag von Ariane Martin in diesem Band. 29Vgl.
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„ partiellen Romantik“ gebracht hat32 – einer Romantik, der weder Goethe noch Büchner einfach zuzurechnen sind, die aber durchaus weit in die Literatur des Vormärzes hinzuwirken vermag.33 Verwandt mit der Alternative zwischen deutscher und europäischer Perspektive ist die Frage, ob die Romantik möglichst eng und spezifisch oder möglichst weit und umfassend definiert wird, ob man sie also z. B. auf eine „Formel“ reduziert, wie dies Stefan Matuschek mit seinem „Modell Romantik“34 versucht, oder ob man ihre offene Heterogenität betont, wie z. B. Helmuth Hühn mit seinem Hinweis auf die „irreduzible Vielfalt“35 der Romantik oder Christoph Bode, der „die Vielgestaltigkeit und Widersprüchlichkeit der europäischen Romantiken“ als „die Antwort“ auf „die sich dauernd beschleunigende Modernisierung der europäischen Gesellschaften“36 versteht. Für eine Analyse des Verhältnisses zwischen Büchner und der Romantik haben beide Verfahren ihre Grenzen. Wenn man – wie Matuschek – zunächst einmal abstrakt definiert, was Romantik ist, und dann überprüft, ob Büchners Texte dieser Definition entsprechen, dann kann man fast nur das entdecken, was man zuvor definitorisch festgelegt hat. Wenn man allerdings – wie Hühn oder Bode – die Romantik über ihre Vielfalt und Widersprüchlichkeit beschreibt, dann kann sich Büchner noch so sehr von Novalis oder Eichendorff unterscheiden, ohne dass er damit schon aufhören würde, Romantiker zu sein. In dieser weiten Definition wird Romantik zur Signatur der Zeit. Die Gefahr eines solchen Verfahrens liegt darin, dass mit ihm der Romantik- und der Moderne-Begriff konvergieren – und damit der Romantik-Begriff seine analytische Erklärungskraft verliert. Will man dieser Alternative zwischen Tautologie (was Büchner mit der Romantik zu tun hat, hängt davon ab, wie wir Romantik definieren) und Trivialität (alles, was in der europäischen Kultur um 1830 geschieht, ist sowieso Romantik)
32Vgl.
Ludwig Stockinger: Die ganze Romantik oder partielle Romantiken? In: Bernd Auerochs, Dirk von Petersdorff (Hrsg.): Einheit der Romantik? Zur Transformation frühromantischer Konzepte im 19. Jahrhundert. Paderborn u. a. 2009, S. 21–41. 33Vgl. Burghard Dedner, Ulla Hofstaetter: Vorwort. In: Dies. (Hrsg.): Romantik im Vormärz. (wie Anm. 4), S. 7–12; vgl. in diesem Zusammenhang auch Henri Poschmann: Probleme einer literarischhistorischen Ortsbestimmung Georg Büchners. In: Georg Büchner Jahrbuch 2 (1982), S. 133–143. 34Stefan Matuschek, Sandra Kerschbaumer: Romantik als Modell. In: Daniel Fulda, Sandra Kerschbaumer, Stefan Matuschek (Hrsg.): Aufklärung und Romantik. Epochenschnittstellen, Paderborn 2015, S. 141–155. 35Helmut Hühn: Deutungskonflikt ‚Romantik‘. Problemgeschichtliche Überlegungen. In: Helmut Hühn, Joachim Schiedermair (Hrsg.): Europäische Romantik. Interdisziplinäre Perspektiven der Forschung. Berlin, Boston 2015, S. 17–34, hier S. 17; vgl. auch Helmut Hühn, Joachim Schiedermair: Romantik und Romantikforschung heute. In: Helmut Hühn, Joachim Schiedermair (Hrsg.): Europäische Romantik. Interdisziplinäre Perspektiven der Forschung. Berlin, Boston 2015, S. 3–15. 36Christoph Bode: Romantik – Europäische Antwort auf die Herausforderung der Moderne? Versuch einer Rekonzeptualisierung. In: Anja Ernst, Paul Geyer (Hrsg.): Die Romantik: Ein Gründungsmythos der europäischen Moderne. Göttingen 2010, S. 85–96, hier S. 90; ähnlich argumentiert auch Hühn: Deutungskonflikt ‚Romantik‘ (wie Anm. 35).
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e ntgehen, dann bietet sich ein dritter Weg an: eine Bestimmung der Romantik aus ihrem Verhältnis zu Aufklärung und Moderne einerseits und ihrem Verhältnis zu Klassizismus und Vormärz andererseits. Diese doppelt relationale Bestimmung der Romantik, wie sie etwa von Günter Oesterle und Christine Lubkoll,37 Gerhard Neumann, David Wellbery, Renate Lachmann, Eva Geulen und Johannes Lehmann38 vorgeschlagen worden ist, versteht die Romantik – ganz im Sinne der weiten Definitionen (europäisch, heterogen) – in einem ersten Schritt als Phänomen der frühen Moderne und Effekt der späten Aufklärung: In der Romantik transformiert sich die Aufklärung zur Moderne. Der Allgemeinheit einer solchen Bestimmung wird dann in einem zweiten Schritt die relativierende Einschränkung hinzugefügt, dass neben der Romantik auch noch andere „Bewältigungsformen der beginnenden Moderne“39 zu finden sind, insbesondere der Klassizismus: In der Romantik transformiert sich die Aufklärung auf eine spezifische, von anderen Verfahren zu unterscheidende Art zur Moderne. Für eine Analyse des Verhältnisses zwischen Büchner und der Romantik bietet diese Perspektive Vorzüge. Sie ermöglicht es, sowohl die allgemeine Bestimmung der Romantik als historischen Transformationsprozess von der Aufklärung in die Moderne als auch ihre spezifizierende Bestimmung als ein charakteristisches Verfahren innerhalb dieses Transformationsprozesses in den Blick zu nehmen und so Büchners Position gegenüber dem allgemeinen historischen Prozess und zugleich gegenüber den spezifischen, insbesondere ästhetischen Programmatiken zu bestimmen. Diese doppelt relationale Bestimmung der Romantik zwischen Aufklärung/Moderne einerseits und Klassizismus/Vormärz andererseits macht klar, warum Büchner keinesfalls ein Romantiker ist und zugleich so viel mit der Romantik zu tun hat.40 In seinem Brief an Wilhelmine Jaeglé charakterisiert Büchner seinen Bezug zur Romantik mit einem bemerkenswerten Verb: „Nous ferons un peu de romantique“. Romantik ist in dieser Formulierung etwas, das man macht; sie ist eine Praxis. Auch hierin steckt wieder die ambivalente Geste von Annäherung und Distanzierung. Distanzierend wirkt das Verb, insofern Büchner in ihm einen spielerischen Umgang mit der Romantik annonciert. Wer Romantik als etwas zu Machendes begreift, der ist immer schon dabei, die Romantik als etwas Gemachtes
37Vgl.
Christine Lubkoll, Günter Oesterle, Stephanie Waldow: Einleitung. In: Christine Lubkoll, Günter Oesterle (Hrsg.): Gewagte Experimente und kühne Konstellationen. Kleists Werk zwischen Klassizismus und Romantik. Würzburg 2001, S. 7–20, hier S. 10 f. 38Vgl. hierzu z. B. die Beiträge von Neumann, Wellbery, Lachmann, Geulen und Lehmann in Gerhard von Graevenitz, Walter Hinderer, Gerhard Neumann, Günter Oesterle, Dagmar von Wietersheim (Hrsg.): Romantik kontrovers. Würzburg 2015. 39Lubkoll, Oesterle, Waldow: Einleitung (wie Anm. 37), S. 10. 40Vgl. hierzu aus epochentheoretischer Perspektive den Beitrag von Norbert Otto Eke in diesem Band; vgl. zu dieser Konstellation auch Michael Feldt: Ästhetik und Artistik am Ende der Kunstperiode. Textanalytische, kunstphilosophische und zivilisationsgeschichtliche Untersuchungen zur Prosa von Goethe, E. T. A. Hoffmann, Heine und Büchner. Heidelberg 1982; Gernot Wimmer (Hrsg.): Georg Büchner und die Aufklärung. Wien, Köln, Weimar 2015.
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vorzuführen. Die Botschaft ist klar: Hier haben wir es mit einem jungen, belesenen Autor zu tun, der über romantische Sprachverfahren verfügt, ihnen aber keineswegs ausgeliefert ist. Und das heißt: Auch wenn Büchner mit den Romantikern die Problemlage zwischen Aufklärung und Moderne teilen mag und ganz wie die Romantiker nach „Antworten“ auf „die sich dauernd beschleunigende Modernisierung der europäischen Gesellschaften“41 sucht, so ist er gegenüber den möglichen Antworten freier als diejenigen, die Romantiker sind (und nicht Romantik machen): Wer Romantik als Praxis begreift, der hat sich damit der Romantik gegenüber zugleich einen (auch ganz wörtlichen) Spielraum herausgearbeitet.42 Doch zugleich sorgt das „ferons“ auch für eine maximale Nähe zur Romantik. Das liegt zum einen schlicht daran, dass Büchner wirklich viel Romantik macht – allein vom Mond ist in Büchners schmalem Werk 34 Mal die Rede, es gibt 44 Blumen, 44 mal findet sich das Wort „Liebe“, 21 Mal der „Traum“, 88 Mal der Schein. Das liegt aber zum anderen auch daran, dass die Zuschaustellung der Romantik als einer Praxis, als etwas Gemachtes und Inszeniertes ein selbst eminent romantisches Verfahren ist. Ob ich ein Aufklärer bin, oder ob ich spiele, ein Aufklärer zu sein, das ist ein Unterschied ums Ganze. Ob ich aber ein Romantiker bin, oder ob ich spiele, ein Romantiker zu sein, das ist fast das Gleiche. Romantik ist in sich schon performativ; wenn Büchner also seinerseits Romantik performt, dann bleibt selbst dies immer auch eine romantische Geste, womit Büchner wiederum ein Programm für ein ganzes Jahrhundert formuliert: „Nous ferons un peu de romantique, pour nous tenir à la hauteur du siècle“. Zeitgenossenschaft definiert sich hier durch eine dreifache Aufforderung: Lasst uns Romantik machen! Aber nur etwas! Doch lasst es uns machen!
3 Adieu Mit dem „faire un peu de romantique“ wartet Büchner nicht, bis er in Straßburg ankommt. Der Brief macht selbst schon genau das, was er als Kommendes ankündigt: etwas Romantik. Überliefert ist von diesem Brief lediglich die Schlusspassage, und dies zudem nur in einer von Ludwig Büchner besorgten Auswahl einer Abschrift durch Wilhelmine Jaeglé:43 Ich schreibe dir jedoch vorher noch einmal, sonst ertrag’ ich’s nicht vor Ungeduld; dieser Brief ist ohnedies so langweilig, wie ein Anmelden in einem vornehmen Hause: Herr Studiosus Büchner. Das ist Alles! Wie ich hier zusammenschrumpfe, ich erliege fast unter
41Bode:
Romantik (wie Anm. 36), S. 90. zu diesem Spielraum mit Blick auf Satire und Komik den Beitrag von Günter Oesterle in diesem Band. 43Vgl. hierzu MBA 10.1 und 10.2, insbesondere den Kommentar zum Brief in MBA 10.2, S. 206 f. 42Vgl.
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R. Borgards diesem B e w u ß t s e i n; ja sonst wäre es ziemlich gleichgiltig; wie man nur einen Betäubten oder Blödsinnigen beklagen mag! Aber du, was sagst du zu dem Invaliden? Ich wenigstens kann die Leute auf halbem Sold nicht ausstehen. Nous ferons un peu de romantique, pour nous tenir à la hauteur du siècle; et puis me faudra-t-il du fer à cheval pour faire de l’impression à un coeur de femme? Aujourd’hui on a le système nerveux un peu robuste. Adieu. (MBA 10.1, S. 36)
Die überlieferte Passage des Briefes beginnt mit einer romantisch anmutenden Geste der Selbstreflexion: Ein Ich schreibt, dass es schreibt. Die markante Formulierung „Ich schreibe“ findet sich z. B. in Tiecks Briefroman William Lovell 24 Mal, in Brentanos Godwi 10 Mal, in Goethes Werther bezeichnender Weise kein einziges Mal.44 Mit dieser selbstreflexiven Geste setzt das Ich das Schreiben zugleich zwischen Ich und Du und thematisiert damit die kommunikationstheoretische Trias von Sender, Medium und Empfänger: Das Medium ist die Message. Weil aber das Medium die Botschaft ist, impliziert die Botschaft zugleich einen zeitlichen Aufschub. Das Schreiben ist „vorher“, es geht dem Körper, der erst später nachkommen wird, voraus. Dies wiederum ist keine Ausnahme, sondern geschieht „noch einmal“, ist also Teil einer iterativen Struktur: Die Schrift steht wiederholt – und als Wiederholung – an der Stelle der Präsenz, des Körpers, des Kontakts. Auch dies ist eine typisch romantische Theoriefigur, wie man sie z. B. in Friedrich Schlegels Lucinde findet. Deshalb mag das Schreiben zwar an eine Empfängerin gerichtet sein, entfaltet seine Wirkung aber zunächst einmal selbstreflexiv am Schreibenden: „sonst ertrag’ ich’s nicht vor Ungeduld“. Ganz ähnlich formuliert Tiecks William Lovell: „Ich habe doch hier, bei aller meiner Philosophie manche ungeduldige Stunde, und ich glaube, ich habe so gut wie jeder andre Verliebte ein Recht dazu.“45 Thematisch werden damit die Befindlichkeiten und vor allem Empfindlichkeiten des schreibenden Ich, eine hypersensible Gespanntheit, die nach innen, nicht nach außen gerichtet ist. Die Abwesenheit des Anderen, dessen körperliche Abwesenheit, führt zu einer Selbstvergegenwärtigung der eigenen aufgerauten Körperlichkeit. Der Thematisierung des Schreibens („Ich schreibe dir jedoch vorher noch einmal“) und des Schreibenden („sonst ertrag’ ich’s nicht vor Ungeduld“) folgt der – erneut selbstreflexive – Hinweis auf das Geschriebene: „dieser Brief ist ohnedies so langweilig, wie ein Anmelden in einem vornehmen Hause: Herr Studiosus Büchner“. Auch solche Wendungen finden sich bei Tieck: „Soeben lese ich meinen Brief noch einmal durch und bemerke mit Schrecken, daß ich Dir einen Bündel Stroh schicke, in welchem Du, mit Shakespeare zu reden, auch nicht ein einziges Korn finden wirst.“46 Auf diese Weise diffamiert Büchner den Brief als reine Formsache, die sich in der Performanz des Anmeldens erschöpft: „Das ist Alles!“
44Vgl.
Ludwig Tieck: William Lovell, hrsg. von Walter Münz. Stuttgart 1986; Clemens Brentano: Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter (1800/1802). In: Ders.: Werke. Zweiter Band. München 1963, S. 7–459. 45Tieck: William Lovell (wie Anm. 44), S. 430. 46Ebd., S. 14.
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Mehr ist es nicht. Doch sollte man dieser Selbstdiffamierung wohl nicht allzu viel Glauben schenken. Denn ihr Effekt ist ja durchaus romantisch: Sie sorgt für eine ironische Reflexion sowohl des intellektualistisch-medientheoretischen Anspruchs des ersten Satzteils (ich schreibe, also bin ich) als auch des sensibel-körperlichen Einsatzes des zweiten Satzteils (ich ertrage, also bin ich). Zudem sind beide Positionen, der intellektualistisch-medientheoretische Anspruch und der sensibel-körperliche Einsatz, ihrerseits wiederum charakteristisch für romantische Texte, und zwar gerade in ihrem wechselseitigen konstituierenden Bezug aufeinander.47 Doch solche Ironie birgt auch eine Gefahr: „Wie ich hier zusammenschrumpfe, ich erliege fast unter diesem Bewußtsein.“ Romantik zu machen ist offenbar eine riskante Angelegenheit. Das wissen die Romantiker, und das weiß auch Büchner. Denn all die Reflexionsschleifen tragen in sich das Risiko einer radikalen Reduktion des reflektierenden Subjekts, das gerade dadurch, dass es sich beständig auf sich selbst zurückbezieht, immer weniger wird. Entsprechend sind romantische Geschichten voll von schrumpfenden Ichs, etwa Tiecks Titelfigur aus Der blonde Eckbert (1797), E. T. A. Hoffmanns Nathanael aus Der Sandmann (1816), oder, noch einmal mit Bezug auf das Schreiben, Andrea aus Tiecks William Lovell: Und wer bin ich denn? – Wer ist das Wesen, das hier so ernsthaft die Feder hält, und nicht müde werden kann, Worte niederzuschreiben? […] Wer ist das seltsame Ich, das sich so mit mir selber herumzankt? – Oh, ich will die Feder niederlegen, und bei Gelegenheit sterben.48
Die potenzierte Ironie braucht, soll sie nicht tödlich enden, einen Ausgleich. Darauf zielt Büchner, wenn er den intellektualistisch-medientheoretischen Anspruch mit einem sensibel-körperlichen Einspruch konfrontiert: Wer „Bewußtsein“ hat, der ist weder betäubt noch blödsinnig, also weder gefühls- noch gedankenlos, bezieht sich doch „Bewußtsein“ um 1830 immer auf den Geist und auf den Körper.49 Darin liegt – zeitgenössisch – auch die Verwandtschaft von Ironie und Schmerz: Beides sind Formen gesteigerten Bewusstseins, einmal in der Form gesteigerter Reflexion, einmal in der Form gesteigerter Wahrnehmung. Diese vielerorts zu beobachtende physiologische Wende in eine hypersensible Wahrnehmung50 hat Ingrid Oesterle am Beispiel der „Ästhetik des Schauers“ dargelegt,
47Vgl.
hierzu aus sprachtheoretischer Perspektive den Beitrag von Hubert Thüring in diesem Band. 48Tieck: William Lovell (wie Anm. 44), S. 638 f. 49Vgl. hierzu Manfred Frank: Selbstgefühl. Eine historisch-systematische Erkundung. Frankfurt a. M. 2002; vgl. auch Vf.: Poetik des Schmerzes. Physiologie und Literatur von Brockes bis Büchner. München 2007, insbesondere S. 426–450 zu Büchners Lenz (vgl. MBA 5, S. 33: „der Schmerz fing an, ihm das Bewußtsein wiederzugeben“). 50Vgl. zu einer vergleichbaren Konstellation in der Landschaftsmalerei von Carl Blechen den Beitrag von Mareike Hennig in diesem Band.
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die als eine „physiologische Ästhetik“ mit spezifischen Strategien einer „Entliterarisierung des literarischen Schauers“ arbeitet.51 Das gefährlich Hyperreflektierte und Hypersensible meint bei Büchner immer – und auch darin bewegt Büchner sich wieder nah an romantischen Gepflogenheiten – dreierlei zugleich: erstens die Signatur einer Zeit, zweitens den Charakter eines Individuums und drittens einen pathologischen Ausnahmezustand52 – ein Invalider, der auf halbem Sold lebt, also Krankengeld bekommt. Büchner hatte seiner Verlobten in den vorausgehenden Briefen ausführlich von diesem invaliden, individuellen und zeittypischen Zustand berichtet, dabei durchgehend die Balance zwischen intellektueller Reflexion und sinnlicher Wahrnehmung haltend, beides in reflexiven Schleifen steigernd und zurücknehmend. Erst mit dem seine Ankunft ankündigenden Brief bringt Büchner dieses Verfahren auf den Begriff der Romantik: „Nous ferons un peu de romantique“. Dieses Romantik-Machen setzt Büchner dann explizit von modischem Schnickschnack, dem „fer à cheval“, den Schulterpolstern53 ab: Wer auf ein Frauenherz Eindruck machen will (faire de l’impression à un coeur de femme), der muss Romantik machen („ferons un peu de romantique“). Ansatzpunkt bleibt dabei weiter das „système nerveux“, das wie das „Bewußtsein“ das Intellektualistisch-Medientheoretische mit dem Sensibel-Körperlichen verbindet: „Aujourd’hui on a le système nerveux un peu robuste.“ So finden sich in diesem Brief-Fragment alle vier einschlägigen Ebenen von Büchners Romantik-Bezug: der Wortgebrauch („un peu de romantique“), das direkte oder indirekte Zitat („Ich schreibe Dir“, „Dieser Brief“), ästhetische Verfahren (insbesondere die potenzierte Ironie) und schließlich gemeinsame Frageräume (insbesondere das Verhältnis von Hypersensibilität und Körperlichkeit). Und trotz dieses vierfachen Romantik-Bezugs ist es eben doch nicht nur ein romantischer Brief. Vielleicht schien es Büchner gleich langweilig, ein Romantiker zu sein und kein Romantiker zu sein – weshalb er sich entschlossen haben mag, beides miteinander zu verbinden.54
51Vgl.
Ingrid Oesterle: Verbale Präsenz und poetische Rücknahme des literarischen Schauers. Nachweise zur ästhetischen Vermitteltheit des Fatalismusproblems in Georg Büchners „Woyzeck“. In: Georg Büchner Jahrbuch 3 (1983), S. 168–199, hier S. 197. 52Vgl. hierzu am Beispiel des Verfolgungswahns den Beitrag von Maximilian Bergengruen in diesem Band. 53Vgl. MBA 10.2, S. 207. 54Vgl. Friedrich Schlegel: Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe. Bd. 2: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801). Hrsg. von Hans Eichner. Paderborn 1967, S. 173: „Es ist gleich tödlich für den Geist, ein System zu haben, und keins zu haben. Er wird sich also wohl entschließen müssen, beides zu verbinden.“
„Romantik“ und „Vormärz“ Ein Streitfall Norbert Otto Eke
1 „Wir dürsten nach Realität“ – Romantik, Vormärz, das ‚Junge‘ und ‚Neue‘ 1835 gibt Karl Gutzkow Friedrich Schleiermachers Vertraute Briefe über die Lucinde mit einer Vorrede heraus, die sich deutlich um Abgrenzung bemüht: Romantik ist des Buches Unglück. Warum müssen diese genialen Menschen Maler sein? Warum muß Julius seine Geliebte fragen, ob ihr Kind, wenn es ein Mädchen ist, mehr für das Porträt oder die Landschaft gebildet werden soll? Diese ganze Staffage macht die Sache, um die es sich handelt, unreell: und wir dürsten nach Realität und der Abschaffung jenes Unrechts, das die Poesie nur an Dichter und Maler vertheilt und zu ihrem Schaden sich somit selbst als Grille stempelt. Die Romantik ist eine Liebe ohne Gegenstand, und Julius sagt zur rechten Inkonsequenz seiner selbst, daß so auch seine Liebe sey. Man kann als Ganzes von der Lucinde kein soziales Resultat erwarten.1
Kategorisch setzt Gutzkow mit der Unterstellung, die Romantik konstruiere einen der Realität enthobenen Sonderbereich der Kunst („Poesie nur an Dichter und Maler vertheilt“), eine für die Differenzstrategien des Jungen Deutschland cha rakteristische Demarkationslinie gegenüber den Vertretern und Anhängern der sogenannten Kunstperiode. Dabei hat Gutzkow Schlegels Lucinde als „meisterhafte[s] Buch“, welches „das Fleisch mit dem Geiste in der Liebe“ habe versöhnen
1Karl Gutzkow: Vorrede. In: Schleiermachers Vertraute Briefe über die Lucinde. Mit einer Vorrede von Karl Gutzkow. Hamburg 1835, S. V–XXXVIII, S. XXIII f.
N. O. Eke (*) Institut für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft, Universität Paderborn, Paderborn, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 R. Borgards und B. Dedner (Hrsg.), Georg Büchner und die Romantik, Abhandlungen zur Literaturwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05100-4_2
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wollen,2 durchaus zu schätzen gewusst. Allerdings verweise der Roman, gerade weil er „der einzige positive Versuch der Brüder“ August Wilhelm und Friedrich Schlegel gewesen sei, „das Leben selbst in die künstlerische Bewegung hineinzuziehen“,3 umso nachdrücklicher auf das seiner Ansicht nach grundlegende Defizit der romantischen Literatur: den Mangel an ‚Realität‘ („wir dürsten nach Realität“). Dieser sei ursächlich dafür, dass das Werk in „Vergessenheit“ geraten sei: „Es würde nicht geschehen seyn, hätte Schlegel eine soziale Revolution im Auge gehabt.“4 In Gutzkows Vorrede findet die für die ästhetischen und politischen Debat ten im Vormärz grundlegende Bedeutung von ‚Romantik‘ als Distinktionsbegriff Ausdruck. Mit noch einmal schärferer Polemik und über einen längeren Zeitraum, als dies bei den vormärzlichen Auseinandersetzungen um die Klassik der Fall gewesen ist,5 wird in den 1830er und 1840er Jahren ein Streit geführt um die bis weit ins 19. Jahrhundert hinein vitalen romantischen Denk- und Aus drucksformen der Romantik. Die Vehemenz dieses Streits resultiert sowohl aus der folgenschweren ästhetischen Nachfolgesituation (Friedrich Schlegel, Hegel, Goethe, Schleiermacher und Wilhelm von Humboldt sterben zwischen 1829 und 1835; eine jüngere Generation, darunter Ludwig Börne, Heinrich Heine, Ferdi nand Freiligrath, Karl Gutzkow, Georg Büchner und Georg Herwegh, drängt in die Öffentlichkeit) als auch aus einer spezifischen Form von Konkurrenz, die sich bis in die beginnende Literaturgeschichtsschreibung hinein verfolgen lässt. Etwa wenn Georg Gottfried Gervinus in seiner einflussreichen Geschichte der poeti schen National-Literatur der Deutschen (1835–1842) den der „Romantische[n] Dichtung“ gewidmeten Schlussabschnitt seiner Darstellung mit einem Bild des Niedergangs einstimmt, in dem bei aller abwägenden Beurteilung Gutzkows Vorwurf einer Trennung der romantischen Literatur vom ‚Leben‘ wiederbegegnet. Gervinus unterstellt der Romantik hier eine gewisse „Sektentendenz“, die sie das Leben habe verfehlen lassen: Ihre Sektentendenz ging Anfangs auf eine größere Ausdehnung der Poesie, auf eine gesteigerte Wirksamkeit derselben, auf eine allgemeinere Participation an ihren Segnun gen aus, sie griff nach Influenzen auf das öffentliche, und auf alle Zweige des Privat lebens, aber sie überflog sich in diesen Aussichten, die Leistungen der Dichter standen mit ihren Absichten in keinem Verhältnisse, die Welt verließ sie, und in dem nämlichen Augenblicke, da der Bund der Dichtung mit der Wirklichkeit und dem Leben am eng sten geschlossen werden sollte, siehe da, ward das allgemeine Charakterzeichen der neuen Poesie grade ihre völlige Entfernung von dem Wirklichen und Lebendigen. Ihr Zweck, das Reale zu idealisieren, verflüchtigte sich in nihilistische Luftgespinnste, man wollte der Zeit, deren prosaische Außenseite mit ihrem poetischen Aufschwung noch im Widerspruch
2Ebd.,
S. XXII. S. XXVI. 4Ebd., S. XXVIII. 5Vgl. dazu Vf.: Klassik im Vormärz. In: Walter Pauly, Klaus Ries (Hrsg.): Politisch-soziale Ordnungsvorstellungen in der Deutschen Klassik. Baden-Baden 2018, S. 225–244. 3Ebd.,
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war, die Muster einer andern Zeit vorhalten, wo das Leben selbst einen poetischen Strich hatte; man führte die romantischen Dichtungen des Mittelalters und der Fremden ein, aber man vergaß, daß das, womit man neues Leben schaffen wollte, größtenteils für uns todt war […].6
Auch Robert Prutz – ein zweites Beispiel – grenzt in seinen Vorlesungen über die deutsche Literatur der Gegenwart (1847) die seiner Ansicht nach abgeschlossene, d. h. der Vergangenheit angehörende Epoche von ‚Klassik‘ und ‚Romantik‘ kategorisch von der zeitgenössischen – unbedingt modernen – Literatur der Gegenwart ab: Was heißt nun eigentlich Literatur der Gegenwart? wo beginnt sie? wo ist die Grenze, welches sind die Kennzeichen, daß wir uns nicht mehr in der sogenannten klassischen, daß wir uns in einer neuen, modernen Epoche befinden? Jahreszahlen allein können hier nicht entscheiden; es kommt auf innere Merkmale an, es muß eine geistige Nothwendig keit, ein Umschwung der gesammten Entwicklung sein, woran wir die neue, moderne Zeit von der alten, klassischen, die gährende, ringende, von der vollendeten, abgeschlossenen unterscheiden.7
In der Entgegensetzung ‚vollendet-modern‘ spricht sich die große Selbsterzählung des Vormärz als Zeit des Bruchs mit dem ‚Alten‘ und des Neuansetzens auf allen Ebenen (politisch, sozial, technologisch, literarisch, ästhetisch) aus. Dabei sattelt die Selbsterzählung des Vormärz als Bewegung einer umfassenden Modernisierung, die ‚jetzig‘ und ‚jung‘, d. h. nah an der Zeit-Wirklichkeit mit ihren Widersprüchen und Konflikten, zu sein für sich in Anspruch nahm, unausgesprochen ausgerechnet auf Distinktionsstrategien und Exzeptionsrhetoriken der verworfenen Romantik auf, die ihrerseits in den 1790er Jahren ihre Stimme mit dem Anspruch erhoben hatte, das, was an der Zeit ist, zur Sprache bringen zu wollen und damit in ganz entscheidender Weise der „Zukunft anzugehören“.8 Die Erfahrung der Französischen Revolution im Rücken und – zumindest anfangs noch – geleitet von der Vorstellung einer notwendigen politischen Verjüngung als Durchgangsstadium zur Schaffung eines zukünftigen ‚goldenen‘ Zeitalters, hatte der um die Zeitschrift Athenäum versammelte Kreis von Dichtern und Philosophen (Ludwig Tieck, Novalis, Wilhelm Heinrich Wackenroder, Friedrich und August Wilhelm Schlegel, Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Schleiermacher, Friedrich Wilhelm Schelling) in der Poesie Orientierung gesucht in den unübersichtlichen politischen und kulturellen Transformationsprozessen, mit denen sie sich am Ausgang des Jahrhunderts der Aufklärung auf allen Ebenen konfrontiert sahen. Auch Romantiker zu sein, hatte vor deren Hintergrund bedeutet, ‚jung‘, damit ‚modern‘ zu sein und zugleich Position zu beziehen in einem (kultur-)revolutionären Prozess, den es zu befördern
6Georg Gottfried Gervinus: Neuere Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen. Zweither Theil: Von Göthes Jugend bis zur Zeit der Befreiungskriege. Leipzig 1842, S. 588. 7Robert E. Prutz: Vorlesungen über die deutsche Literatur der Gegenwart. Leipzig 1847, S. 33. 8Ernst Behler: Frühromantik. Berlin, New York 1992, S. 118.
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galt, wobei ‚romantisch‘ selbst zwei Bedeutungskomponenten aufwies: eine his torische und damit auf die Tradition der europäischen Literatur bezogene (die ‚nicht-klassische‘ Literatur) auf der einen Seite und eine normative, ‚romantisch‘ im Sinne eines Elementes der Poesie zu verstehende auf der anderen Seite.9
2 Politik und Ästhetik, die Kunst und das ‚Leben‘: Eine Gemengelage Deutlicher noch, als dies bei den Abgrenzungsbemühungen gegenüber der Klas sik der Fall gewesen ist, zeigt sich beim vormärzlichen Streit um die Romantik die Einfaltung politischer in ästhetische Fragen.10 Gedanklicher Fluchtpunkt vormärzlicher Romantikkritik ist zum einen dabei die (unterstellte) konservative Kehre vieler Romantiker, ihr Ultramontanismus und ihre Orientierung an einer mehr (griechische Antike) oder weniger (deutsches Mittelalter) entfernten Vergangenheit. Hier haben Friedrich Schlegels Stellungnahme zu verfassungsrechtlichen Fragen nach 1800, seine Wiener Vorlesungen Ueber die neuere Geschichte (1810/1811) und sein Aufsatz „Signaturen des Zeitalters“ (1820/1823) eine zent rale Rolle bei der Konstruktion einer im Gegensatz zur ‚Moderne‘ stehenden Epo che ‚Romantik‘ gespielt. Der Streit um die Romantik im Vormärz entzündet sich zum anderen zumal aber auch an den weitreichenden Überlegungen zur ästheti schen Autonomie, denen Dichtung und Kunsttheorie von Klassik und Romantik im ausgehenden 18. Jahrhundert in gegenläufiger Bewegung zur für die Aufklärung noch maßgeblichen Anbindung der ästhetischen Sphäre an die Diskurse von Erziehung, Moral, Religion, Politik etc. zum Durchbruch verholfen hatten. Geflissentlich übersehen wird dabei, dass die Autonomie der Kunst derjenigen des Subjekts gleichsam utopisch vorgreift, dass sie ein Merkzeichen ist in die allgemein erst noch zu schaffende Zukunft, der sie gleichzeitig den Weg bahnt. Im Übrigen erfolgt auch in den ästhetischen und philosophischen Konzep ten der Kunstautonomie keine prinzipielle Entkopplung des Politischen und des
9Ebd.,
S. 133. Ruge hat in seinen Erinnerungen denn auch den politischen Charakter zumindest der junghegelianischen Romantikkritik unumwunden eingeräumt: „Die Aufsätze gegen die Romantik wurden in einer wesentlich politischen Absicht geschrieben. Es kam darauf an, das Abendroth des philosophischen Preußens zu benutzen und mit ihm das romantische oder reactionäre Sys tem, noch ehe es förmlich die Zügel des ersten deutschen Staats ergriffen, zu beleuchten, um einer noch unbefangenen Zeit das Princip ihrer officiellen Zukunft (Schelling und Tieck sind jetzt in Berlin) klar zu machen. Direct politische Kritik war noch verfänglicher, als direct reli giöse, mußte daher Anfangs vermieden werden, auch zeigte sich die schriftstellerische Welt noch nicht dazu aufgelegt und gerüstet. Indessen gelang es, in einem Aufsatze über das ‚Preußenthum‘ das Princip der Regierung, wenn auch wieder nur verhüllt, auszusprechen. Wir nannten Preu ßen ‚katholisch‘, das freie Princip dagegen, von dem es abfiele, den ‚Protestantismus‘.“ (Arnold Ruge: Gesammelte Schriften. Bd. 6: Studien und Erinnerungen aus den Jahren 1843 bis 45. Zweiter Theil. Mannheim 1847, S. 78 f.).
10Arnold
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Ästhetischen; während die Wirkungskonzeptionen der Aufklärung aber noch direkt Einfluss zu nehmen sich zum Ziel gesetzt hatten, nimmt die für ‚autonom‘ erklärte Kunst nunmehr gleichsam einen Umweg. Gleichwohl wurden die Kon zepte der Selbstbefreiung der Kunst aus funktionalen Zusammenhängen ab dem zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts zunehmend mit sozialer Folgenlosigkeit identifiziert.11 Erinnert sei, was das angeht, hier neben der Camille Desmoulins in Danton’s Tod in den Mund gelegten Kritik an der blutleeren und lebensfremden Figurengestaltung im klassizistischen Drama12 insbesondere an das Kunstgespräch in Lenz, wo es heißt: Über Tisch war Lenz wieder in guter Stimmung, man sprach von Literatur, er war auf seinem Gebiete; die idealistische Periode fing damals an, Kaufmann war ein Anhänger davon, Lenz widersprach heftig. Er sagte: Die Dichter, von denen man sage, sie geben die Wirklichkeit, hätten auch keine Ahnung davon, doch seyen sie immer noch erträglicher, als die, welche die Wirklichkeit verklären wollten. […] Da wolle man idealisti sche Gestalten, aber Alles, was ich davon gesehen, sind Holzpuppen. Dieser Idealismus ist die schmählichste Verachtung der menschlichen Natur. Man versuche es einmal und senke sich in das Leben des Geringsten und gebe es wieder, in den Zuckungen, den Andeutungen, dem ganzen feinen, kaum bemerkten Mienenspiel […]. (MBA 5, S. 37 f.)
An die Familie wiederum schreibt Büchner am 28. Juli 1835: Was noch die sogenannten Idealdichter anbetrifft, so finde ich, daß sie fast nichts als Marionetten mit himmelblauen Nasen und affectirtem Pathos, aber nicht Menschen von Fleisch und Blut gegeben haben, deren Leid und Freude mich mitempfinden macht, und deren Thun und Handeln mir Abscheu oder Bewunderung einflößt. Mit einem Wort, ich halte viel auf Goethe [gemeint ist hier ganz offensichtlich der Goethe der Sturm und Drang-Zeit, N. O. E.] und Shakspeare, aber sehr wenig auf Schiller. (MBA 10.1, S. 67)
Lediglich in besonders prononcierter Weise bringt Büchner mit der Absage an die Idealdichtung zugunsten einer Darstellung des „Leben[s] einer Zeit“ (MBA 10.1, S. 66) hier das Zentraltheorem der jungdeutschen Programmatik („Leben“) auf den Begriff, auch wenn die Jungdeutschen sich für ihre literarischen Subversionsstrategien anderer Formen bedienten als Büchner. Begleitet von ästhetischen und medialen Formerweiterungen stellten Vormärzautoren dem strikten Autonomieprinzip nicht allein die Forderung nach einem „Operativwerden“13 der Literatur
11Zum
prekären Charakter dieser Autonomie vgl. bereits Michael Müller, Horst Bredekamp, Berthold Hinz, Franz-Joachim Verspohl, Jürgen Fredel, Ursula Apitzsch: Autonomie der Kunst. Zur Genese und Kritik einer bürgerlichen Kategorie. Frankfurt a. M. 1972. 12Büchners Texte werden hier und im Folgenden zit. nach der Marburger Büchner Ausgabe (Darmstadt 2000–2013) unter der Sigle MBA; zur entsprechenden Passage in Dantons’s Tod vgl. MBA 3.2, S. 36. 13Zur Problematik der mit diesem Begriff verbundenen Konzepte vgl. Peter Stein: „Kunstperiode“ und „Vormärz“. Zum veränderten Verhältnis von Ästhetizität und Operativität am Beispiel Heinrich Heines. In: Lothar Ehrlich, Hartmut Steinecke, Michael Vogt (Hrsg.): Vormärz und Klassik. Bielefeld 1999, S. 49–62, hier S. 49–51.
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entgegen; sie suchten dieser Forderung auch durch die Zusammenführung von getrennt verlaufenden Diskursen (Wissenschaft, Philosophie, Politik, Literatur) in einem integrativen Diskursmodell14 und der Hybridisierung von Gattungen und Genres nachzukommen – wobei auch hier wiederum unausgesprochen Vorstellungen der Romantik, in diesem Fall frühromantische Panästhetisierungsversuche (Verschmelzung von Poesie, Philosophie und Naturwissenschaft in der Gesamtkunst einer Universalpoesie), ein Nachleben finden. Allerdings stellen die Vormärzautoren die Strategie frühromantischer Entdifferenzierung in der Engführung von Gegensätzen, des Disparaten und scheinbar Regellosen, nun gleichsam vom Kopf auf die Füße, indem sie die Angleichung der Sphären von Kunst und Leben nicht mehr, wie die Frühromantiker dies propagierten, von der Seite der Kunst (die zum Funktionsmodus von Gesellschaft zu machen die Frühromantik zum Programm erhob) erstrebten, sondern vielmehr von der Seite des Lebens.15 Heinrich Heine hat mit seinen vielzitierten Bemerkungen über die „End schaft der ‚goetheschen Kunstperiode‘“,16 geschrieben 1831 und dabei Klas sik und Romantik umfassend, hier ansetzend den Leitgedanken der neuen antiromantischen Epoche der Literatur auf den Begriff gebracht, die einen gemeinsamen Nenner in der Hinwendung zu einer ‚Poesie des Lebens‘ genannten politischen und eben lebensbezogenen Kunst finden sollte. Was Heine mit dem von ihm verkündeten Ende der sogenannten „Kunstperiode“ (der Begriff selbst ist
14Börne hat dies in der Ankündigung seiner Zeitschrift Die Wage. Eine Zeitschrift für Bürgerleben, Wissenschaft und Kunst mit der Engführung von (bürgerlichem) Leben, Wissenschaft und Kunst bereits vorweggenommen: „Die Wage […] wird besprechen: das bürgerliche Leben, die Wissenschaft und die Kunst, vorzüglich aber die heilige Einheit jener drei. Denn nicht die Kraft und Bewegung des ersten, nicht die Fruchtbarkeit der andern, nicht die Blüte der dritten vermag für sich allein die Menschheit zu beseligen; nur ihre Verbindung kann es. Und das ist‘s was das gegenwärtige Geschlecht an Glück und Bedeutung über das vergangene erhebt, daß es Arbeit und Arbeit, Lust und Lust nicht mehr so feindlich teilt und die Toga des Bürgers zugleich das Feierkleid des fröhlichen Menschen und das Hausgewand des ruhenden Vaters sein darf.“ (Ludwig Börne: Ankündigung der Wage (1818). In: Ludwig Börne. Sämtliche Schriften. Neu bearbeitet und herausgegeben von Inge und Peter Rippmann. Bd. 1. Dreieich 1977, S. 667–684, hier S. 671). 15Das ist bereits verschiedentlich beobachtet worden. Ich verweise hier auf entsprechende Überlegungen von Wolfgang Bunzel, Peter Stein, Florian Vaßen: ‚Romantik‘ und ‚Vormärz‘ als rivalisierende Diskursformationen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Dies. (Hrsg.): Romantik und Vormärz. Zur Archäologie literarischer Kommunikation in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Bielefeld 2003, S. 9–46; Wolfgang Bunzel, Vf., Florian Vaßen: Geschichtsprojektionen. Rekurse auf das 18. Jahrhundert und die Konstruktion von ‚Aufklärung‘ im deut schen Vormärz. In: Dies. (Hrsg.): Der nahe Spiegel. Vormärz und Aufklärung. Bielefeld 2008, S. 9–27; sowie Vf.: „Man muß die Deutschen mit der Novelle fangen“. Theodor Mundt, die Poe sie des Lebens und die „Emancipation der Prosa“ im Vormärz. In: Ebd., S. 295–312. 16Heinrich Heine: Die romantische Schule. In: Ders.: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Bd. 8/1: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. Die romantische Schule. Text, bearbeitet von Manfred Windfuhr. Hamburg 1979, S. 121–249, hier S. 125.
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wohl eine Erfindung Friedrich Schlegels, zumindest verwendet er ihn lange vor Heine17) meinte, erschließt sich aus seinem Briefwechsel mit Karl August Varnha gen von Ense und dessen Frau Rahel. Heine beschreibt Goethe hier in einem Brief vom 28. Februar 1830 als großes „Zeitablehnungsgenie[ ]“, das sich allein „letz ter Zweck“ sein wolle. Die Zeit der von ihm verkörperten weltenfernen „Kunst behaglichkeit“ sei nun unwiderruflich an ihr Ende gekommen: „Es ist noch immer meine fixe Idee, daß mit der Endschaft der Kunstperiode auch das Goethenthum zu Ende geht“ (wobei mit „Goethenthum“ im Übrigen weniger Goethe selbst als vielmehr seine Epigonen gemeint waren18); „nur unsre ästhetisirende, philosophi rende Kunstsinnzeit war dem Aufkommen Goethes günstig; eine Zeit der Begeis trung und der That kann ihn nicht brauchen.“19 Heines Epochendifferenz richtete sich anfänglich primär gegen die Klassik; nach Goethes Tod aber hat er wie andere Vormärz-Autoren auch seine Kritik an der „Kunstsinnzeit“ entschieden ausgeweitet. Für den Heine der Romantischen Schule ist Romantik so „eine Doktrin, nicht die romantische Poesie überhaupt, die nach Hegel die gesamte auf die klassisch-antike Kunst folgende Poesie umfaßt.“20 Heine zieht hier eine Linie von der Aufklärung bis zum Jungen Deutschland sei ner Gegenwart, die er gegen die von ihm als restaurativ und quietistisch gebrandmarkte Romantik stellt oder – wie die Dichtung Fouqués – als der Gegenwart verlustig gegangene ‚retrograde‘ Kunst beiseite schiebt. Zwar sei Fouqués „Lor beer […] von ächter Art. Er ist ein wahrer Dichter und die Weihe der Poesie ruht auf seinem Haupte“; jetzt aber finde der einst hochgeschätzte Dichter „seine Leser nur noch unter dem Publikum der Leihbibliotheken.“ Die Gründe dafür lie fert Heine gleich mit. „Unsere Zeit aber“, so Heine, stoße „alle solche Luft- und Wassergebilde“ wie die Fouquésche Undine von sich und verlange stattdessen „wirkliche Gestalten des Lebens“.21 Verrat an den Freiheits- und Fortschrittsidealen und das Andienen an die re staurative Macht – das ist es, was Heine der Romantik unterstellt: Konformismus
17Vgl.
Peter Stein: „Kunstperiode“ und „Vormärz“. Zum veränderten Verhältnis von Ästhetizität und Operativität am Beispiel Heinrich Heines. In: Lothar Ehrlich, Hartmut Steinecke, Michael Vogt (Hrsg.): Vormärz und Klassik. Bielefeld 1999, S. 49–62, hier S. 54. 18Siehe dazu Heinrich Heine: Die deutsche Literatur von Wolfgang Menzel, 1828. In: Ders: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Bd. 10: Shakespeares Mädchen und Frauen und Kleinere literaturkritische Schriften. Bearbeitet von Jan-Christoph Hauschild. Hamburg 1993, S. 238–248, hier S. 248. 19Heinrich Heine: Säkularausgabe. Werke, Briefwechsel, Lebenszeugnisse. Hrsg. von den Natio nalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar und dem Centre National de la Recherche Scientifique in Paris. Bd. 20. Briefe 1815–1831, bearbeitet von Fritz H. Eisner. Berlin, Paris 1970, S. 389 f. (Brief Heines an Karl August Varnhagen von Ense vom 28.02.1830). 20Francke, Renate: Die Verabschiedung der Romantik in Heines „Romantischer Schule“. In: Walter Jaeschke (Hrsg.): Philosophie und Literatur im Vormärz. Der Streit um die Romantik (1820– 1854). Hamburg 1995, S. 101–119, hier S. 104. 21Heine: Die romantische Schule (wie Anm. 16), S. 225 f.
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und Opportunismus. Die in dieser Hinsicht leitende These formuliert er gleich zu Beginn seiner Abhandlung, wo er die deutsche Romantik über ihren Mittelalterbezug als aus der Zeit gefallene Strömung bestimmt: Was war aber die romantische Schule in Deutschland? Sie war nichts anders als die Wiedererweckung der Poesie des Mittelalters, wie sie sich in dessen Liedern, Bild- und Bauwerken, in Kunst und Leben, manifestirt hatte. Diese Poesie aber war aus dem Christenthume hervorgegangen, sie war eine Passionsblume, die dem Blute Christi entsprossen. Ich weiß nicht, ob die melancholische Blume, die wir in Deutschland Passionsblume benamsen, auch in Frankreich diese Benennung führt, und ob ihr von der Volkssage ebenfalls jener mystische Ursprung zugeschrieben wird. Es ist jene sonderbar mißfarbige Blume, in deren Kelch man die Marterwerkzeuge, die bey der Kreuzigung Christi gebraucht worden, nemlich Hammer, Zange, Nägel, u. s. w. abkonterfeyt sieht, eine Blume die durchaus nicht häßlich, sondern nur gespenstisch ist, ja, deren Anblick sogar ein grauenhaftes Vergnügen in unserer Seele erregt, gleich den krampfhaft süßen Empfindungen, die aus dem Schmerze selbst hervorgehen. In solcher Hinsicht wäre diese Blume das geeignetste Symbol für das Christenthum selbst, dessen schauerlichster Reitz eben in der Wollust des Schmerzes besteht.22
Der Absage an die Autonomiekonzepte der „Kunstsinnzeit“ stellt Heine von hier aus ein Kunstprogramm an die Seite, das mit dem Brückenschlag zwischen Kunst und Leben auf die Durchlässigkeit von Gattungs- und Diskursgrenzen, auf Unmittel barkeit, Beweglichkeit, Kürze und Aktualität setzte, was neben ihm selbst Autoren wie u. a. Karl Immermann oder Charles Sealsfield ausschrieben und Büchner auf ganz eigene und eigenwillige Weise als Programm einer realistischen LebensKunst in den Bereich der Politik versetzte. Die Schriftsteller des „heutigen jungen Deutschlands“, so Heine, wollten „keinen Unterschied machen […] zwischen Leben und Schreiben“, sie wollten „die Politik“ nicht mehr „trennen von Wissenschaft, Kunst und Religion“; „zu gleicher Zeit“ wollten die jungen Autoren „Künstler, Tribune [= Politiker] und Apostel [= Theologen]“ sein, sich also einmischen in alle gesellschaftlichen Bereiche und so ihre ‚Zeitgenossenschaft‘ unter Beweis stellen.23 Fluchtpunkt der besonderen Zeitgenossenschaft, die Heine und anderen Autoren des Vormärz vor Augen stand, ist die Zukunft, Ansatzpunkte aber sind und bleiben, wie Heine (wohl) im August/September 1833 in dem kurzen Textfragment „Verschiedenartige Geschichtsauffassung“ (der Titel des Fragments geht auf Adolf Strodtmann zurück) schreibt, die Interessen der Gegenwart. Er setzt damit die neue Literatur ab zum einen von den „Weltweisen der historischen Schule“ (d. i. Friedrich Karl von Savigny und Karl Friedrich Eichhorn in der Rechtsgeschichte, Barthold Georg Niebuhr und Leopold von Ranke in der Geschichtsschreibung) und den „Poeten aus der Wolfgang-Goetheschen Kunstperiode“ (u. a. Clemens von Brentano, Joseph von Eichendorff, Friedrich Schlegel, Ludwig
22Ebd., 23Ebd.,
S. 126. S. 218.
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21
Tieck, Ludwig Uhland), denen er, eben weil sie in der Geschichte nichts als einen „trostlosen Kreislauf“ zu sehen vermögen, einen „sentimentalen Indifferentismus gegen alle politischen Angelegenheiten des Vaterlandes“ zum Vorwurf macht.24 Heine setzt sich damit ab zum anderen von der „Humanitätsschule“ (d. i. im weiteren Sinn Johann Gottfried Herder, Friedrich Schiller, Johann Wolfgang Goethe, Jean Paul, Immanuel Kant, Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Wilhelm Schelling, Christoph Martin Wieland), welche die Geschichte unaufhaltsam auf dem Vormarsch zum Guten sehe und damit den Fatalitätsgedanken der ersten Gruppe durch eine Art säkularisierten Vorsehungsglauben ersetze.25 „Beide Ansichten“, das Kreislauf- und das Fortschrittsmodell also, so Heine wollen nicht recht mit unseren lebendigsten Lebensgefühlen übereinklingen; wir wollen auf der einen Seite nicht umsonst begeistert seyn und das Höchste setzen an das unnütz Vergängliche; auf der anderen Seite wollen wir auch, daß die Gegenwarth ihren Werth behalte, und daß sie nicht bloß als Mittel gelte, und die Zukunft ihr Zweck sey. […] Das Leben ist weder Zweck noch Mittel; das Leben ist ein Recht. Das Leben will dieses Recht geltend machen gegen den erstarrenden Tod, gegen die Vergangenheit, und dieses Geltendmachen ist die Revoluzion. Der elegische Indifferentismus der Historiker und Poeten soll unsere Energie nicht lähmen bey diesem Geschäfte; und die Schwärmerey der Zukunftbeglücker soll uns nicht verleiten, die Interessen der Gegenwart und das zunächst zu verfechtende Menschenrecht, das Recht zu leben, aufs Spiel zu setzen.26
Wenn Gutzkow in der Rollenprosa seiner 1832 erschienenen Briefe eines Narren an eine Närrin gleich in seiner ersten Buchveröffentlichung die „Nothwendigkeit der Politisirung unserer Literatur“27 behauptet, dann ist damit im Kern bereits die in Heines Schlagwort vom „Ende der Kunstperiode“ vorgedachte Absage an die „aristokratische Zeit der Literatur“28 weitergeführt, welche die Autoren zunächst einmal des Jungen Deutschland bei aller Heterogenität mit der Einkleidung ihrer emanzipatorischen Botschaft in eine adressatenorientierte Sprache nun auf ihre Weise in ästhetische Praxis zu übersetzen suchten (und damit überhaupt erst wesentliche Voraussetzungen für die Popularisierung ihrer Literatur schufen). Auf die politisch begründete Revolutions-Erfahrung, gleichermaßen an der Schwelle zur Moderne zu stehen, antworteten sie so in den 1830er Jahren zunächst in erster Linie mit einer „literarischen Revolution“: mit einem neuen Stilund Sprachgestus, der die Trennung zwischen ‚hoch‘ und ‚niedrig‘, Dichtung und Tagesliteratur, Poesie und Journalistik weitgehend hinter sich ließ. Entsprechend bestimmt Ludolf Wienbarg in seinen dem „jungen Deutschland gewidmet[en]“ Aesthetischen Feldzügen den Bruch zwischen Alt und Neu, zwischen 24Heinrich
Heine: Verschiedenartige Geschichtsauffassung, 1833. In: Ders.: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Bd. 10, S. 301 f., hier S. 301. 25Gerhard Höhn: „Blutrosen“ der Freiheit. Heinrich Heines Geschichtsdenken. In: Ders. (Hrsg.): Heinrich Heine. Ästhetisch-politische Profile. Frankfurt a. M. 1991, S. 176–194, hier S. 181. 26Heine: Verschiedenartige Geschichtsauffassung (wie Anm. 24), S. 302. 27Karl Gutzkow: Briefe eines Narren an eine Närrin. Hamburg 1832, S. 215. 28Heine: Die romantische Schule (wie Anm. 16), S. 125.
22
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‚Altem Deutschland‘ und ‚Jungem Deutschland‘ im Hinblick auf das von beiden Richtungen poetisch austarierte Verhältnis von Kunst und Leben: die Schriftstellerei ist kein Spiel schöner Geister, kein unschuldiges Ergötzen, keine leichte Beschäftigung der Phantasie mehr, sondern der Geist der Zeit, der unsichtbar über allen Köpfen waltet, ergreift des Schriftstellers Hand und schreibt im Buch des Lebens mit dem ehernen Griffel der Geschichte, die Dichter und ästhetischen Prosaisten stehen nicht mehr, wie vormals, allein im Dienst der Musen, sondern auch im Dienst des Vaterlandes, und allen mächtigen Zeitbestrebungen sind sie Verbündete. Ja, sie finden sich nicht selten im Streit mit jenem schönen Dienst, dem ihre Vorgänger huldigten, sie können die Natur nicht über die Kunst vergessen machen, sie können nicht immer so zart und ätherisch dahinschweben, die Wahrheit und Wirklichkeit hat sich ihnen zu gewaltig aufgedrungen, und mit dieser, das ist ihre Schicksalsaufgabe, mit dieser muß ihre Kraft so lange ringen, bis das Wirkliche nicht mehr das Gemeine, das dem Ideellen feindliche Entgegengesetzte ist. […] Die neue Prosa ist von der einen Seite vulgairer geworden, sie verräth ihren Ursprung aus, ihre Gemeinschaft mit dem Leben, von der andern Seite aber kühner, schärfer, neuer an Wendungen, sie verrät ihren kriegerischen Charakter, ihren Kampf mit der Wirklichkeit, besonders auch ihren Umgang mit der französischen Schwester, welcher sie außerordentlich viel zu verdanken hat.29
„Vulgairer“, das heißt: näher am Leben, als dies den Jungdeutschen der ‚reinen‘ Kunst möglich schien – und das zielt ab auf die Synthese von geistig-ästhetischer und politischer Emanzipation („Dienst der Musen“ – „Dienst des Vaterlandes“) als Ausdruck der ‚modernen‘ Kunst. Ludolf Wienbarg erklärte von hier aus die Zeit der „Behaglichkeit“ für beendet, in der die „früheren Großen unserer Literatur“ in einer „von der Welt abgeschiedenen Sphäre“ gelebt hätten, „weich und warm gebettet in einer verzauberten idealen Welt, und sterblichen Göttern ähnlich auf die Leiden und Freuden der wirklichen Welt hinabschauend und sich vom Opferduft der Gefühle und Wünsche des Publikums ernährend.“30 Die mit der Julirevolution eröffnete neue Phase der Geschichte habe dem Schriftsteller und dem Kritiker in einem zeitaktuellen Prozess der Annäherung des „Wirkliche[n]“ an das Ideelle31 nun wieder einen Platz mitten im Leben zubemessen.
3 Von Heines Romantikkritik zu den Junghegelianern Bei aller Polemik: Der von Heine gegen die Romantik ins Feld geführte Vorwurf ist der des Verfehlens der Zeit (im emphatischen Sinn). Die Romantiker, so Heine, hatten die ‚Zeit‘ nicht; im Gegenteil: sie hätten sich eingemauert in einer Ver-
29L[udolf] Wienbarg: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg 1834, S. 298–300. 30Ebd., S. 298. 31Ebd., S. 299.
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gangenheit, aus der kein Weg in die Zukunft weise. Der von ihnen eingeschlagene Weg zurück habe nichts von der anamnetischen Kraft der Erinnerung gehabt, sondern sei historisch impotent gewesen, blind vor allem für die Zeichen der Zeit (der Moderne, des Neuen). Friedrich Schlegel, so Heine zu Beginn des zweiten Abschnitts der Romantischen Schule, „erkannte alle Herrlichkeiten der Vergangenheit und er fühlte alle Schmerzen der Gegenwart. Aber er begriff nicht die Heiligkeit dieser Schmerzen und ihre Nothwendigkeit für das künftige Heil der Welt. Er sah die Sonne untergehn und blickte wehmüthig nach der Stelle dieses Untergangs und klagte über das nächtliche Dunkel, das er heranziehen sah; und er merkte nicht, daß schon ein neues Morgenroth an der entgegengesetzten Seite leuchtete. Fr. Schlegel nannte einst den Geschichtsforscher ‚einen umgekehrten Propheten‘. Dieses Wort ist die beste Bezeichnung für ihn selbst. Die Gegenwart war ihm verhaßt, die Zukunft erschreckte ihn, und nur in die Vergangenheit, die er liebte, drangen seine offenbarenden Seherblicke.“32 Das so ganz ähnlich auch gegen Friedrichs Bruder August Wilhelm Schlegel vorgebrachte Argument, die Vergangenheit der Gegenwart vorzuziehen – genauer: die Kunst der Vergangenheit derjenigen der Gegenwart –, hat eine grundsätzliche Bedeutung. Abgesprochen mit dem Zeitbewusstsein wird insbesondere Friedrich Schlegel von Heine zugleich auch das Bewusstsein der Zeitenwende; annulliert wird das Schlegels frühromantische Phase kennzeichnende prophetische, in mythologischen Bezügen gedachte Pathos der ‚krísis‘ (als entscheidendem geschichtlichen Wendepunkt);33 unterschlagen wird von Heine vor allem auch, dass Schlegel in dem zitierten 80. Athenäumsfragment über den Geschichtsforscher als rückwärts gekehrtem Propheten (wie es richtig heißt) die Vergangenheit entscheidend verzeitlicht und auf ein Zukünftiges hin orientiert hat.34 Die Blick richtung des frühen Schlegel ist so eine doppelte, vor- und rückwärts zugleich; im Schnittpunkt beider Blickrichtungen aber konstituiert sich Gegenwart als praktischer Handlungsraum. Entsprechend heißt es 1795 in Schlegels für die kulturrevolutionären Vorstellungen der Frühromantik zentralem Aufsatz Über
32Heine:
Die romantische Schule (wie Anm. 16), S. 165. die geradezu eschatologische Ankündigung einer bevorstehenden ästhetischen Revolution in Ludovicos „Rede über die Mythologie“ in dem nur schwach fiktionalisierten „Gespräch über Poesie“: „Der Idealismus, in praktischer Ansicht nichts anders als der Geist jener Revolution, die großen Maximen derselben, die wir aus eigner Kraft und Freiheit ausüben und ausbreiten sollen, ist in theoretischer Ansicht, so groß er sich auch hier zeigt, doch nur ein Teil, ein Zweig, eine Äußerungsart von dem Phänomene aller Phänomene, daß die Menschheit aus allen Kräften ringt, ihr Zentrum zu finden. Sie muß wie die Sachen stehn, untergehn oder sich verjüngen. Was ist wahrscheinlicher, und was läßt sich nicht von einem solchen Zeitalter der Verjüngung hoffen? – Das graue Altertum wird wieder lebendig werden, und die fernste Zukunft der Bildung sich schon in Vorbedeutungen melden.“ (Friedrich Schlegel: Kritische Friedrich Schlegel-Ausgabe. Hrsg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean Jacques Anstett und Hans Eichner. Bd. 2: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801). Hrsg. und eingeleitet von Hans Eichner. München, Paderborn, Wien, Zürich 1967, S. 314). 34Vgl. zu diesem gesamten Komplex Karl Heinz Bohrer: Die Kritik der Romantik. Der Verdacht der Philosophie gegen die literarische Moderne. Frankfurt a. M. 1989, S. 111 f. 33Vgl.
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das Studium der griechischen Poesie bezogen auf die prima vista disparate moderne Poesie: „Wir müssen also nach einer doppelten Richtung nach ihrer Einheit forschen; rückwärts nach dem ersten Ursprunge ihrer Entstehung und Entwicklung; vorwärts nach dem letzten Ziele ihrer Fortschreitung.“35 Politische Formveränderung und ästhetische Revolution sind in dieser Schrift noch ganz unmittelbar zusammengedacht:36 die erste als Voraussetzung und „glückliche[r] Anstoß“37 der zweiten, für die Schlegel die Zeit „reif“ sieht.38 Während Schiller als Konsequenz aus dem Verlauf der Französischen Revolution das Sukzessionsmodell eines notwendigen Nacheinanders von (erst) ästhetischer und (dann) politischer Bildung entwickelte, weist Schlegels kulturrevolutionäres Konzept auf die Freiheit als bedingendes Moment von Schönheit. Geradezu kategorisch resümiert Schlegel gegen Ende des Aufsatzes so: „Die notwendigen Bedingungen aller menschlichen Bildung sind: Kraft, Gesetzmäßigkeit, Freiheit und Gemeinschaft. Erst wenn die Gesetzmäßigkeit der ästhetischen Kraft durch eine objektive Grundlage und Richtung gesichert sein wird, kann die ästhetische Bildung durch Freiheit der Kunst und Gemeinschaft des Geschmacks durchgängig durchgreifend und öffentlich werden.“39 Das zu ignorieren oder gleich wie Heine mit der Sehnsucht zur Rückkehr in einen imaginären Ursprung verwechselt zu haben, begründet das vormärzliche Missverstehen der Romantik als rückwärtsgewandte Bewegung, das (zumindest der Früh-)Romantik die grundlegende „Ausrichtung aufs Zukünftige“40 abspricht. Die Ironie der Geschichte will es, dass ausgerechnet diejenigen, die sich gegenüber der ihrerseits mit dem Anspruch des Modernen angetretenen Romantik ‚modern‘ und ‚jung‘ fühlten, sehr bald selbst ‚alt‘ wirkten und selbst als ‚Romantiker‘ in die Kritik gerieten. Warf Heine (nach einer Formulierung Karl Heinz Bohrers) „den eigenen, spätromantischen Schatten auf die Frühromantik“,41 um ihr die Maske der Modernität vom Gesicht zu reißen, so sucht die junghegelianische Romantikkritik der späten 1830er und der 1840er Jahre, wie sie neben Arnold Ruges Neue Vorschule der Ästhetik (1837) und Robert Prutz’ bereits zitierten Vorlesungen über die deutsche Literatur der Gegenwart (1847) vor allem in
35Friedrich
Schlegel: Über das Studium der Griechischen Poesie. In: Ders.: Kritische Friedrich Schlegel-Ausgabe. Hrsg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean Jacques Anstett und Hans Eichner. Bd. 1: Studien des klassischen Altertums. Hrsg. und eingeleitet von Ernst Behler. Paderborn, München, Wien, Zürich 1979, S. 217–367, hier S. 229. 36Ingrid Oesterle: Der „glückliche Anstoß“ ästhetischer Revolution und die Anstößigkeit politi scher Revolution. Ein Denk- und Belegversuch zum Zusammenhang von politischer Formveränderung und kultureller Revolution im Studium-Aufsatz Friedrich Schlegels. In: Dieter Bänsch (Hrsg.): Literaturwissenschaft und Sozialwissenschaften 8: Zur Modernität der Romantik. Stuttgart 1977, S. 167–216, hier S. 176. 37Schlegel: Über das Studium der Griechischen Poesie (wie Anm. 35), S. 362. 38Ebd., S. 269 f. 39Ebd., S. 360. 40Manfred Frank: Zeitbewußtsein. Pfullingen 1990, S. 99. 41Bohrer: Die Kritik der Romantik (wie Anm. 34), S. 104.
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Arnold Ruges und Theodor Echtermeyers Artikelfolge Der Protestantismus und die Romantik in Reaktion auf teils massive Angriffe von konservativer Seite42 formuliert ist, den Nachweis dafür zu erbringen, dass die über der Romantik als Bewegung lastende Entwicklung von experimentell-progressiven Anfängen zu ultrakonservativen Positionen bereits in der frühromantischen Phase angelegt war. Mit Protestantismus und Romantik sind bereits im Titel des zwischen Oktober 1839 und März 1840 in vier Folgen in den Hallischen Jahrbüchern für deutsche Wissenschaft und Kunst erschienenen „Manifests“ Der Protestantismus und die Romantik. Zur Verständigung über die Zeit und ihre Gegensätze die beiden widerstreitenden Zeit- oder besser: Geschichtstendenzen bezeichnet, welche die Junghegelianer gegeneinander führen: ‚Romantik‘ als Codewort für eine der emphatisch besetzten Gegenwart feindliche, politisch gefährliche und damit zu bekämpfende antirationalistische und gegenaufklärerische Bewegung; ‚Protestantismus‘ als Strahlwort eines antiromantischen Geschichtsverständnisses, das im „Proceß der Selbstbefreiung“43 zu sich kommt. Arnold Ruge schreibt 1847 in seinen Erinnerungen zum „Manifest“: Die Basis der damaligen Opposition war das protestantische Princip, aus welchem die freie Wissenschaft folge. Wir zeigten, daß Preußen dieses Princip, wodurch es groß geworden sei, verließe, wir blieben nicht dabei stehn, den Pietismus als den neuen Jesuitismus zu charakterisiren; wir beschlossen überhaupt, „den Protestantismus von der Romantik“ zu reinigen und ein förmliches „Manifest“ gegen den Abfall von seinem Prin cip zu erlassen. Dies geschah, und „der Begriff der freien Wissenschaft und Kunst“ wurde der „Romantik“ entgegengesetzt.44
Die – mit der Realität des Protestantismus nicht unbedingt deckungsgleiche – progressive Ladung, die das ‚Prinzip des Protestantismus‘ in den auf die Revolution zulaufenden Jahren erfährt, macht in besonderer Weise evident, wie sich im Vormärz neben politischen und ästhetischen auch politische und theologische Fragen oft bis zur Unkenntlichkeit verschränkten. Nicht nur nahm eine Vielzahl von Philosophen und Schriftstellern die theologisch (etwa bei Wilhelm Traugott Krug, Karl Gottlieb Bretschneider oder Johann Friedrich Röhr) postulierte Deutung des Protestantismus als Fortschritts- und Bewegungsprinzip auf. Diese erfährt auch eine entscheidende politische Schärfung in der „Umbildung der Dogmen des Christentums in humanitär-religiöse Ideen“.45 Insbesondere den Linkshegelianern (u. a.
42Vgl.
dazu Wolfgang Bunzel: „Der Geschichte in die Hände arbeiten“. Zur Romantikrezeption der Junghegelianer. In: Bunzel, Stein, Vaßen (Hrsg.): Romantik und Vormärz (wie Anm. 15), S. 313–338, hier S. 316 f. 43Theodor Echtermeyer, Arnold Ruge: Der Protestantismus und die Romantik. Zur Verständigung über die Zeit und ihre Gegensätze. Ein Manifest. In: Hallische Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst 246 (14.10.1839), Sp. 1961. 44Ruge: Studien und Erinnerungen (wie Anm. 10), S. 149 f. 45Kurt Nowak: Geschichte des Christentums in Deutschland. Religion, Politik und Gesellschaft vom Ende der Aufklärung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. München 1995, S. 110.
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David Friedrich Strauß, Arnold Ruge, Ludwig Feuerbach) ging es dabei um die Entmythologisierung der Religion im Horizont der Aufklärung, was in der Konsequenz auf eine enttheologisierende theologische Kritik hinauslief, die wie bei Bruno Bauer mit dem Bekenntnis zum emanzipatorischen Handeln grundsätzliche Züge annahm: „Nein! auf diesem Blatt, auf welchem wir die Religion löschen, auf diesem doppelt beschriebenen Blatte, auf diesem Palimpsest tritt, wenn die Religion gelöst ist, die Urschrift wieder hervor, die von classischem Werthe ist. Mönche haben die Urschrift durch ihr Gekritzel verdorben, wir stellen sie wieder her und der Mensch steht auf dem Blatte, welches wir zur Weltgeschichte herbeibringen.“46 Im „Manifest“ bestimmen Echtermeyer und Ruge die eigene Zeit als die „letzte Phase der Reformation“, d. h. derjenigen einer „freie[n] Bildung unserer geistigen Wirklichkeit“.47 Aus dieser Perspektive erscheint die Romantik als Teil der „Widersetzlichkeit gedrückter, von dunkler Gemüthsbewegung beklommener Geister“48 gegen die neue Zeit. In der Fluchtlinie von Hegels Kritik der romantischen Ironie als substanzlosem Subjektivismus verstehen sie den „geschichtliche[n] Verlauf der Romantik“ dabei als „die Ausbreitung dieser Willkür in die ganze objective Welt“,49 mit der die Wirklichkeit verloren gehe. Die Romantik, so die Autoren, komme in der Sehnsucht nach dem Vergangenen überein. Ihr Prinzip sei die „reflectirte Rückkehr zur Unmittelbarkeit, d. h. das freche Zurückbringen der Natur in die Cultur, des Geistwidrigen in den Geist, des Unvernünftigen in die Vernunft, des Negativen ins Positive, der negirten Vorzeit in die ponirende Gegenwart.“50 Kurzerhand erklären Echtermeyer und Ruge von hier aus die gesamte Geistesgeschichte seit der Aufklärung zu einer romantischen Makroperiode. Untergliedert wird sie in mehrere, etwa gleich lange Abschnitte: eine Vorläuferphase („Progonen der Romantik“) von etwa 1770 bis 1790, eine Kernphase der „eigentlichen“ Romantik von 1790 bis 1810, eine Phase der Epigonen von 1810 bis 1830 und schließlich eine hier anschließende Phase des Neueinsetzens romantischer Bestrebungen. Zweck dieses gewagten Konstrukts ist es, die ‚Romantik‘ zum – gemessen am Gesamtverlauf der Geschichte – bedeutungslosen Durchgangsstadium zu stempeln. Den Wesenskern der romantischen Bewegung wiederum orten Echtermeyer und Ruge in einem (reaktionären) Prinzip des „Aparte[n]“, des „ganz Besondere[n]“,
46Bruno Bauer: Die gute Sache der Freiheit und meine eigene Angelegenheit. Zürich, Winterthur 1842, S. 202. 47Theodor Echtermeyer, Arnold Ruge: Der Protestantismus und die Romantik. In: Hallische Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst 245 (12.10.1839), Sp. 1953. 48Ebd. 49Theodor Echtermeyer, Arnold Ruge: Der Protestantismus und die Romantik. In: Hallische Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst 301 (17.12.1839), Sp. 2401. 50Theodor Echtermeyer, Arnold Ruge: Der Protestantismus und die Romantik. In: Hallische Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst 306 (23.12.1839), Sp. 2441.
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„Exklusive[n]“ und Abseitigen.51 Zu diesem Interesse am Abseitigen zählen sie die literarischen Entdeckungen von u. a. Görres, Tieck und Jean Paul, die Orientierung romantischer Pädagogik am Märchenhaften (und eben nicht Aufklärerisch-Intellektuellen), die spätromantische bürgerliche Alltagskultur mit ihrem Hang zum Rückzug aus der Welt des Politischen, nicht zuletzt auch das dandyisti sche Selbstverständnis eines Friedrich Gentz, an dessen Beispiel sie die Inkarnation des Schlegelschen ironischen Subjekts der Lächerlichkeit preiszugeben suchen. Nicht ganz überraschend angesichts der allgemein üblichen Ächtung aller der Strömungen und Denkrichtungen, die nicht mit den linkshegelianischen Prinzipien übereinstimmten, verfällt der vernichtenden Polemik Echtermeyers und Ruges mit der Romantik als Ausdruck einer rückwärtsorientierten Gegenbewegung der Unvernunft gleich auch noch die als „neuste[r] Ansatz der Romantik seit 1830“52 gewogene und für zu leicht, weil politisch unreif befundene Bewegung des Jungen Deutschland, die Heine in der Romantischen Schule immerhin noch als Exempel einer zeitgemäßen, vom wissenschaftlichen Fortschrittsglauben beflügelten Kunst und damit als Gegenstück zu der vermeintlich rückwärtsgewandten Romantik aufzurufen bemüht war. Auch das Junge Deutschland, das der „ästhetelnden Schön thuerei“53 ‚romantischer‘ Autoren das Projekt einer Kritik entgegenzuhalten den Anspruch erhoben hatte, nach den weltanschaulichen oder politischen Ideen und damit der ‚Zeitgemäßheit‘ eines Werkes zu fragen und solcherart die politischen Tendenzen und Ideen der Kunst auf den kritischen Prüfstand zu stellen, hatte, aller gegenteiligen Rhetorik zum Trotz, Echtermeyer und Ruge zufolge die ‚Zeit‘ nicht. Lediglich eine Vermittlerrolle den Jungdeutschen zuzugestehen, sind die Junghegelianer bereit. Robert Prutz schreibt in seinen 1847 erschienenen Vorlesungen entsprechend: So vor Goethe geht Lessing, so vor den revolutionären Poeten der Sturm- und Drangepoche die revolutionäre Kritik Gerstenbergs, der Frankfurter Anzeigen etc. einher; so wird die productive Romantik eingeleitet durch die kritische, die Tieck, Brentano, Arnim durch die Schlegel; so der Poesie der Gegenwart geht die Kritik des jungen Deutschland voraus. Es ist das Schicksal dieser vermittelnden Generationen und nur dadurch gelingt es ihnen selbst, Vermittler zu werden, daß sie nur halb erst in der neuen, halb noch in der alten Epoche stecken: zwiespältige Wesen, schwankend zwischen zwei Zeitaltern – und daher sehr gewöhnlich aufgegeben und verläugnet von beiden. – Die Schlegel steckten noch halb in der klassischen Epoche Goethe’s und Schillers, von der sie aus gegangen – und das war ihre Stärke; das junge Deutschland steckte noch halb in der Romantik – und das war seine Schwäche.54
51Theodor Echtermeyer, Arnold Ruge: Der Protestantismus und die Romantik. In: Hallische Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst 54 (03.03.1840), Sp. 428. 52Theodor Echtermeyer, Arnold Ruge: Der Protestantismus und die Romantik. In: Hallische Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst 64 (14.03.1840), Sp. 512. 53[Karl Gutzkow:] Vom Berliner Journalismus. In: Forum der Journal-Literatur. Eine antikritische Quartalsschrift 1/2 (1831), S. 151–204, hier S. 180. 54Prutz: Vorlesungen über die deutsche Literatur der Gegenwart (wie Anm. 7), S. 283 f.
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Diese Schwäche besteht für Prutz darin, die angestrebte Vermittlung von Kunst und Leben gerade nicht erreicht zu haben. Das Urteil fällt von hier aus ernüchternd aus: Kinder einer romantischen Zeit, aufgewachsen unter ihrem Einfluß, angesteckt von ihrem Siechthum, entbehren sie der Kraft, die richtig verstandene Aufgabe auch richtig durchzuführen. Es fehlt ihnen die Begeisterung, der Glaube, die sittliche Haltung; sie sind persönlich kleiner als ihr Princip – darum wird das Princip in ihnen selbst ein kleines und verwerfliches. Die Freiheit wird zur Willkür, die philosophische Schule, die politische Partei zur literarischen Coterie, zur journalistischen Clique. Es sind die Louis Philippe’s unserer literarischen Revolution: unter dem Titel des Bürgerkönigs, des Volksfreundes, ist es nur die eigene Persönlichkeit, das eigene vergängliche Ich, welchem sie schmeicheln.55
Woran das Junge Deutschland gescheitert sei, so Prutz, sei der Versuch gewesen, die Strenge der Hegelschen Philosophie mit der Frivolität und dem Weltschmerz Heines zusammenzubringen. Ermangelt habe es den Autoren des Jungen Deutschland letztlich auch an literarischer Potenz über die kleine Form des Feuilletons, der Kritik und des Essays hinaus: Das junge Deutschland ist der letzte Ausläufer der Genieperiode. Wie ehemals die Stürmer und Dränger, wie zu Ende des Jahrhunderts die romantische Genossenschaft des Athenäums etc., so traten auch sie gewaltsam, lärmend ein in die Literatur, so begannen auch sie damit, die Vergangenheit über Bord zu werfen und die Forderung einer neuen Literatur, einer neuen Dichtung aufzustellen. – Bei der außerordentlichen Erschlaffung, in welche unsere Literatur im Verlauf der zwanziger Jahre gerathen war, bei der Zahmheit, der Phrasendreherei, der hohlen Ableierung des altromantischen Kunstkatechismus, zu welcher die Kritik herabgesunken, war auch in dieser Turbulenz, mit welcher das junge Deutschland auftrat, dieser Rücksichtslosigkeit seiner Kritik, dieser Impietät, diesem Terrorismus, mit dem es der ganzen früheren Literatur das Leben absprach, dieser studentischen Keckheit, mit der es sich selbst als das wahre A und O in den Mittelpunkt der Bewegung stellte – es war, sage ich, auch hierin ein Fortschritt, es diente auch dies zu einem Heilmittel, einem Zugpflaster gleichsam, welches der Schwäche der Zeit aufgelegt ward. – Aber über diese Anregung hinaus sind sie auch nicht gekommen; die Frucht, deren Süßigkeit man die herbe Knospe verzeiht, ist ausgeblieben. Sie haben nur den Beweis geführt, daß eine Erneuerung der Literatur nöthig; sie selbst, als dieselbe wirklich hereinbrach, waren sie bereits alt und müde und wandten ihr mißmuthig den Rücken.56
Diese Kritik war im Übrigen weder neu noch kam sie überraschend. Vorbereitet ist sie im Kern so bereits in Büchners Missbilligung der Beschränkung des jungdeutschen Literaturprogramms auf den „Ideenkampf“ in seinem vielzitierten Brief an Karl Gutzkow vom Juni 1836:
55Ebd., 56Ebd.,
S. 285. S. 287 f.
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Uebrigens; um aufrichtig zu sein, Sie und Ihre Freunde scheinen mir nicht grade den klügsten Weg gegangen zu sein. Die Gesellschaft mittelst der Idee, von der gebildeten Klasse aus reformiren? Unmöglich! Unsere Zeit ist rein materiell, wären Sie je directer politisch zu Werke gegangen, so wären Sie bald auf den Punkt gekommen, wo die Reform von selbst aufgehört hätte. Sie werden nie über den Riß zwischen der gebildeten und ungebildeten Gesellschaft hinauskommen. Ich habe mich überzeugt, die gebildete und wohlhabende Minorität, so viel Concessionen sie auch von der Gewalt für sich begehrt, wird nie ihr spitzes Verhältniß zur großen Klasse aufgeben wollen. Und die große Klasse selbst? Für die gibt es nur zwei Hebel, materielles Elend und religiöser Fanatismus. Jede Parthei, welche dieße Hebel anzusetzen versteht, wird siegen. Unsre Zeit braucht Eisen und Brod – und dann ein Kreuz oder sonst so was. Ich glaube, man muß in socialen Dingen von einem absoluten Rechtsgrundsatz ausgehen, die Bildung eines neuen geistigen Lebens im Volk suchen und die abgelebte moderne Gesellschaft zum Teufel gehen lassen. Zu was soll ein Ding, wie dieße, zwischen Himmel und Erde herumlaufen? Das ganze Leben desselben besteht nur in Versuchen, sich die entsetzlichste Langeweile zu vertreiben. Sie mag aussterben, das ist das einzig Neue, was sie noch erleben kann. (MBA 10.1, S. 93)
4 Schlussüberlegungen Jenseits jeweils nachvollziehbarer Einwände gegenüber anders gelagerten ästhetischen und politischen Vorstellungen lässt sich der rhetorische Furor der Jungdeutschen gegenüber der Romantik einerseits, der Junghegelianer gegenüber der Romantik und dem Jungen Deutschland andererseits lesen als Ausdruck tiefgreifender Positionierungs- und Definitionskämpfe in einer Zeit des Nebeneinanders „rivalisierende[r] Diskursformationen“.57 Sie werden vor dem Hintergrund eines als krisenhaft empfundenen raschen Wechsels technischer, ökonomischer, politischer, sozialer, wissenschaftlicher und kultureller Transformationen mit teils harten Bandagen als Streit um Meinungsführerschaft und Aufmerksamkeit zwischen einzelnen Autoren (auch Autorengruppen) und auch zwischen Autoren und Institutionen ausgetragen.58 Für differenzierende, diplomatisch-abwägende und umsichtig abmessende Darlegungen war in diesem Streit nicht immer Zeit und Platz – ganz gemäß dem von Arnold Ruge skizzierten Programm einer eingreifend-streitbaren Literatur, es sei heute „nöthig wie Voltaire und Rousseau zu schreiben […]. Die Kerle schreiben Schwerter und Dolche, sie
57Bunzel,
Stein, Vaßen: ‚Romantik‘ und ‚Vormärz‘ als rivalisierende Diskursformationen (wie Anm. 15). 58Siehe zu diesen Positionskämpfen auch ebd., S. 22 f. Symptomatisch für diese Positionskämpfe ist die Fehde der Jungdeutschen mit dem überaus einflussreichen Redakteur (bis 1835) des „Berliner Conversationsblattes“ Willibald Alexis. Vgl. dazu Vf.: Der Kritiker in der Kritik. Willibald Alexis, das Junge Deutschland und Alexis‘ autobiographische Fragmente Erinnerungen aus meinem Leben. In: Wolfgang Beutin, Peter Stein (Hrsg.): Willibald Alexis (1798–1871). Ein Autor des Vor- und Nachmärz. Bielefeld 2000, S. 55–80.
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sind mächtiger als Kanonen und Bajonette“.59 Unverkennbar ist dies, wenn Robert Prutz in den zitierten Vorlesungen über die deutsche Literatur der Gegenwart keinen geringeren als ausgerechnet Goethe zum Ahnherrn der Romantik erklärt und damit in die Kritik an der Romantik einschließt, die das „Goethe’sche Princip des schönen Quietismus und der abgeschlossenen künstlerischen Persönlichkeit“60 für mustergültig erachtetet und kopiert gehabt hätte. Vor dem Hintergrund der argumentativ nicht allein an den Rändern ausfransenden vormärzlichen Klassik- und Romantik-Kritik mag es Sinn machen, an dieser Stelle noch einmal an Heines Vergleich des Dichters mit einem Mathematiker zu erinnern, mit dem er in seinem Shakespeare-Buch Shakespeares Mädchen und Frauen (1838) das Verhältnis von Realismus bzw. Mimesis (hier verstanden als Abspiegelung der Natur) und Poetizität bzw. Kreativität, Phantasie und künstlerischer Freiheit, die im Vormärz die Diskussion um Kunst und Leben grundiert, in den Blick genommen hat: Und wie der Mathematiker, wenn man ihm nur das kleinste Fragment eines Kreises giebt, unverzüglich den ganzen Kreis und den Mittelpunkt desselben angeben kann“, heißt es hier, „so auch der Dichter, wenn seiner Anschauung nur das kleinste Bruchstück der Erscheinungswelt von außen geboten wird, offenbart sich ihm gleich der ganze universelle Zusammenhang dieses Bruchstücks; er kennt gleichsam Cirkulatur und Centrum aller Dinge; er begreift die Dinge in ihrem weitesten Umfang und tiefsten Mittelpunkt.61
In Heines Ausführungen fungiert Shakespeare als Spiegel nicht allein der eigenen antimimetischen Ästhetik, sondern geradezu auch als Kronzeuge einer in Heines Augen zeitgemäßen Kunst in Abgrenzung gegenüber Klassik und Romantik. Im Horizont der Auseinandersetzung mit Shakespeare entwirft Heine in grundsätzlicher, über das eigene Werk hinausgreifender Weise hier so die Voraussetzungen einer neuen, weder klassischen noch romantischen Ästhetik, zu der er selbst mit seinen ästhetischen Entdifferenzierungsstrategien beizutragen versucht hat. Zugleich kommt in der Einleitung seines Shakespeare-Buches auch eine Vorahnung über die kommende puritanische Kunstfeindlichkeit als Gegenstück der vormärzlichen Klassik- und Romantikkritik zum Ausdruck, die der Kunst in Heines Augen genauso wenig zuträglich ist wie ihre einseitige Autonomisierung. Heine selbst hat seinen Platz in den vormärzlichen Auseinandersetzungen um Klassik und Romantik denn auch in beispielgebender, die von ihm selbst befeuerte Diskussion wieder vom Kopf auf die Füße stellender Weise als einen des ‚Inbetween‘, des Zwischen, bestimmt, insoweit er einerseits schreibend in die Zeitverhältnisse hatte eingreifen wollen, in seiner künstlerischen Produktion über den
59Arnold
Ruge: Arnold Ruges Briefwechsel und Tagebuchblätter aus den Jahren 1825–1880. Hrsg. von Paul Nerrlich. Bd. 1. Berlin 1886, S. 259 f. 60Prutz: Vorlesungen über die deutsche Literatur der Gegenwart (wie Anm. 7), S. 59. 61Heine: Shakespeares Mädchen und Frauen. In: Ders.: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Bd. 10 (wie Anm. 18), S. 7–191, hier S. 16.
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Bruch mit der Kunstperiode hinaus aber andererseits auch weiterhin den Grundsatz des Ästhetischen hochhielt. In seinen Geständnissen schreibt er: Trotz meiner exterminatorischen Feldzüge gegen die Romantik, blieb ich doch selbst immer ein Romantiker, und ich war es in einem höheren Grade, als ich selbst ahnte. Nachdem ich dem Sinne für romantische Poesie in Deutschland die tödtlichsten Schläge beygebracht, beschlich mich selbst wieder eine unendliche Sehnsucht nach der blauen Blume im Traumlande der Romantik, und ich ergriff die alte bezauberte Laute und sang ein Lied, worin ich mich allen holdseligen Uebertreibungen, aller Mondscheintrunkenheit, allem blühenden Nachtigallen-Wahnsinn der einst so geliebten Weise hingab. Ich weiß, es war „das letzte freye Waldlied der Romantik,“ und ich bin ihr letzter Dichter: mit mir ist die alte lyrische Schule der Deutschen geschlossen, während zugleich die neue Schule, die moderne deutsche Lyrik, von mir eröffnet ward.62
62Heinrich
Heine: Geständnisse. In: Ders.: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hrsg. von Manfred Windfuhr. Bd. 15. Geständnisse, Memoiren und Kleinere autobiographische Schriften. Bearbeitet von Gerd Heinemann. Hamburg 1982, S. 9–57, hier S. 13.
Büchner – ein Romantiker? Zuschreibungen in der Rezeptionsgeschichte Ariane Martin
Der vorliegende Beitrag gibt einen repräsentativ und exemplarisch angelegten Überblick darüber, wann, von wem und mit welcher Begründung Georg Büchner in seiner Rezeptionsgeschichte mit der Romantik in Verbindung gebracht wurde. Um dieses breite Untersuchungsfeld einzugrenzen, gilt es, sich zu beschränken, die Zeitspanne von den Anfängen der Büchner-Rezeption bis zur Moderne nur zu skizzieren und den Schwerpunkt im frühen 20. Jahrhundert zu bilden (unter besonderer Berücksichtigung von Heinz Lipmann und Friedrich Gundolf). Die Ausführungen konzentrieren sich auf Zuschreibungen, die den Autor entweder zum Romantiker erklären oder ihn ausdrücklich in eine große Nähe zur Romantik rücken. 1 Das ist zunächst eine schwach ausgeprägte Rezeptionslinie von vereinzelten Äußerungen, die aber noch im Vormärz ganz allmählich beginnt. Dazu die drei frühesten Beispiele, in denen der Autor selbst zwar noch nicht dezidiert als Romantiker bezeichnet ist, Texte von ihm aber romantisch anmuteten. 1838 veröffentlichte Karl Gutzkow Leonce und Lena, wobei ihn bekanntlich in diesem Lustspiel der „zarte Elfenmährchenton“ und das „Mondscheinflimmern“1 nicht sonderlich begeisterten. Hier bezieht sich das mit den Versatzstücken ‚Märchen‘
1Vf. (Hrsg.): Georg Büchner 1835 bis 1845. Dokumente zur frühen Wirkungsgeschichte. Bielefeld 2014 (= Vormärz-Studien 34), S. 148. So Gutzkow in der Vorbemerkung zu seiner Edition von Leonce und Lena im Mai 1838 im Telegraph für Deutschland.
A. Martin (*) Deutsches Institut, Universität Mainz, Mainz, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 R. Borgards und B. Dedner (Hrsg.), Georg Büchner und die Romantik, Abhandlungen zur Literaturwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05100-4_3
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sowie ‚Mond‘ = ‚Nacht‘ dingfest zu machende romantische Bezugsnetz noch ausschließlich auf dieses Stück, das dann in der Rezeptionsgeschichte zum Paradebeispiel avanciert, um Büchner einen Romantiker zu nennen. 1843 wird die Zuschreibung des Romantischen auf das Prosafragment Lenz hin erweitert. Hermann Marggraff rezensierte am 20. Oktober 1843 in den Blättern für literarische Unterhaltung Gutzkows Mosaik und bemerkte über die darin abgedruckten Büchner-Texte Lenz und Leonce und Lena, „daß sich der Leser […] in diesen romantischen Zwischenpartien gern erholt.“2 Er wird Büchner dann am 3. Januar 1845 in der Allgemeinen Zeitung dem Autorentyp zuordnen, für den das „Element der Nacht“ und „Zerrissenheit“3 charakteristisch sei und ihn in eine Reihe mit unbestrittenen Romantikern wie Friedrich Schlegel oder E. T. A. Hoffmann stellen. Er betrieb damit eine Annäherung Büchners an die Romantik, die er im Nachmärz fortsetzte.4 Ebenfalls 1843 zählte Karl Friedrich Rinne den Verfasser von Danton’s Tod und den Übersetzer Victor Hugos in seiner Inneren Geschichte der Entwickelung der deutschen National-Litteratur zu den „historischromantischen Dichtern“, bei denen das „politische Moment hineinspielt“,5 führt das aber nicht weiter aus. Das Romantische steht in der Charakterisierung ‚historischromantisch‘ jedenfalls nicht allein, sondern ist durch das Historische erweitert und durch das ‚politische Moment‘ relativiert. Das Politische, also das Republikanische und das Revolutionäre bei Büchner – das ist in der Rezeptionsgeschichte eine grundlegende Opposition zum Romantischen, jenem Etikett für das Autorprofil, das zunächst eher schwach zum Vorschein kommt, dann aber an Kontur gewinnt. Nach und nach werden in literarhistorischen Darstellungen des 19. Jahrhunderts mit ihren systematisierenden Bemühungen um eine Struktur der Literaturgeschichte in Epochen und Autortypen einerseits die Traditionszuschreibung der Romantik als Nachfolge des Sturm und Drang entworfen, andererseits Autorenreihen gebildet. In diesen Autorenreihen werden J. M. R. Lenz, der Repräsentant des Sturm und Drang, und Büchner, der über diesen Dichter, der sich Goethe zufolge „in Wahnsinn verlor“,6 sein Prosafragment geschrieben hat, unter den Vorzeichen des Pathologischen zusammengestellt. Pauschal war Büchner damit dem Romantischen zugeschlagen, denn Goethes berühmtem Verdikt in den Gesprächen mit Eckermann zufolge war „das Romantische das Kranke.“7
2Ebd.,
S. 231. S. 259. 41851 in seiner Rezension der Nachgelassenen Schriften. 5Vf. (Hrsg.): Georg Büchner 1835 bis 1845 (wie Anm. 1), S. 222. 6Johann Wolfgang Goethe: Dichtung und Wahrheit. Hrsg. von Walter Hettche. Stuttgart 1998, S. 645. 7So Goethe gegenüber Eckermann am 2. April 1829. Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe. In den letzten Jahren seines Lebens. Hrsg. von Fritz Bergemann. 3. Aufl. Frankfurt a. M. 1987, S. 310. 3Ebd.,
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2 Die Rezeptionslinie schwillt im wilhelminischen Kaiserreich deutlich an, vor allem, seit die von Paul Landau herausgegebenen Gesammelten Schriften auf dem Markt sind. Der Herausgeber hatte den Autor 1909 romantisch konturiert. So hob er bei den Briefen an Wilhelmine Jaeglé den „Ausdruck des Schmerzes“ hervor, „den die in der Romantik zuerst zu beobachtende Frühlingsschwermut in ihm [Büchner] auslöst.“8 Er sah in Leonce und Lena „die tiefsinnig wunderliche, poetische Theorie der Romantik“ ebenso „auf die Spitze getrieben“9 wie einen Motivkomplex, „wie ihn die Romantik so oft hatte ertönen lassen“,10 und bemerkte: „Noch heute weiß man nur von dem kraftvollen Realisten Büchner, den feinen romantischen Stilisten hat man darüber vergessen, wenn man überhaupt je etwas von ihm gewußt.“11 Der Realismus, der Wirklichkeitsbezug in den literarischen Texten, bildet in der Rezeptionsgeschichte die zweite grundlegende Opposition zur Romantik. Um und nach Büchners 100. Geburtstag im Jahr 1913 ist die Rezeptionslinie klar erkennbar. So hat ihn zum Beispiel Richard Moritz Meyer am 12. Oktober 1913 im Berliner Tageblatt gewürdigt. Büchner sei „viel moderner als die Jungdeutschen […]; moderner in seiner Kunstauffassung, weil er dem Salonaristokratismus der Geistreichen, diesem Erbstück von der Romantik, widerstrebt […]. [D]ennoch war er Romantiker, nicht nur weil er die schönste romantische Komödie gedichtet hat, ‚Leonce und Lena‘, […] sondern auch, weil ihn das romantische Gefühl der Naturverbundenheit so innig beherrscht.“12 Es verwundert nicht, dass bei dem Stichwort ‚Romantik‘ von Büchners Lustspiel die Rede ist. Darüber hinaus aber ist Büchner explizit als Romantiker bezeichnet. Der Hinweis auf die Affinität zur Natur zielt über das Lustspiel hinaus auf den gesamten Autor. Gleichwohl ist der Gestus des ‚dennoch‘ charakteristisch, um Büchner zum Romantiker zu erklären, der zugleich nämlich von der Romantik oder ihrer Nachwirkung abzugrenzen sei. Wenn es um die Frage geht: ‚Büchner – ein Romantiker?‘ ist Paradoxie Programm, die Argumentation stets paradox strukturiert. Das erklärt sich aus den beiden genannten Oppositionen, die das für Büchner entworfene Autorbild immer dann konstituieren, wenn es auf Integration der Romantik hin angelegt ist.
8Paul
Landau: Georg Büchners Leben und Werke. In: Georg Büchner: Gesammelte Schriften. In zwei Bänden. Hrsg. von Paul Landau. Bd. 1. Berlin 1909, S. 7–169, hier S. 114. Lan daus Einleitung wurde nachgedruckt. Vgl. Burghard Dedner (Hrsg.): Der widerständige Klassiker. Einleitungen zu Büchner vom Nachmärz bis zur Weimarer Republik. Frankfurt a. M. 1990 (= Büchner-Studien 5), S. 235–351. 9Landau: Georg Büchners Leben und Werke (wie Anm. 8), S. 126. 10Ebd., S. 145. 11Ebd., S. 147. 12Richard M. Meyer: Georg Büchner. 1813 – 17. Oktober – 1913. In: Berliner Tageblatt, Nr. 519, 12.10.1913, Morgen-Ausgabe, 1. Beilage, S. 1–2, hier S. 2. Der Germanist Richard Moritz Meyer (1860–1914) war als Literarhistoriker ein Schüler Wilhelm Scherers und schrieb oft für Feuilletons.
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Das zeigen auch die Stellungnahmen zur Feier des 100. Geburtstags in Berlin, die Doppelinszenierung von Woyzeck und Leonce und Lena im Lessing-Theater, die unter der Regie von Viktor Barnowsky am 17. Dezember 1913 Premiere hatte. Das Lustspiel wird als widersprüchlich wahrgenommen, ein Eindruck, der auf das Autorbild übertragen wird. Während der Vorwärts in Leonce und Lena ungebrochen eine „romantische Komödie“ sah – hier lasse „Büchner der phantastischen Laune frei die Zügel schießen“, der „Prinz“ trage „ganz die Züge eines romantisch sich bespiegelnden, unausstehlich eitlen Ästheten“ und „die Prinzessin“ sei „ebenso romantisch“13 –, betonte die Berliner Volks-Zeitung, dass Leonce und Lena sich lediglich „ein ‚romantisches Lustspiel‘ nennt“, das als solches veraltet sei, und konstatierte: „Was nie veralten wird, ist die Persiflage auf den Geist der Romantik. Und Barnowsky tat gut, das Spiel an dieser Seite zu fassen.“14 Die Berliner Börsen-Zeitung sah das Stück ähnlich ambivalent. Man habe im Lessing-Theater „Gelegenheit“ gehabt, „die blaue Blume der Romantik zu pflücken. Bald war sie wirklich echt und wohlduftend, bald merkte man, daß es ein künstlich gezogenes Gewächs war, bald auch war zu erkennen, daß sie die Farbe nur geborgt hatte und daß sich der Gärtner selbst über sie lustig machte.“15 Ambivalenz sah auch der Hamburgische Correspondent: „Ein Hauch von […] Biedermeier-Romantik liegt über dem Spiel […]. In teils lieblicher, teils boshafter Stilisierung […] tat sich vor unseren Augen das Königreich Popo auf, wo, ferne von dem komischen Hof des gekrönten Kretins, auch Märchenwiesen im Mondschein schimmern. Ironie durchdringt als echtes Kind der Romantik die sanfte Lyrik. […] Büchner, selbst Romantiker und Spötter der Romantik […], hat in ein kindliches Spiel leuchtende Gedanken gesetzt.“16 Das mit Blick auf die Romantik ambivalente Autorbild ist hier auf den Punkt gebracht: Büchner sei Romantiker und zugleich die Romantik verspottend ihr Kritiker. Und Herbert Ihering stellte in seiner Besprechung die tradierte Opposition von Romantik und Realismus in Abrede: „Büchners Romantik und Büchners Realismus bedingen sich gegenseitig.“17 Mit der Romantik meinte er offenbar Leonce und Lena, mit dem Realismus Woyzeck. Interessant ist, dass eine Verbindung von Leonce und Lena mit dem gleichzeitig in der Doppelinszenierung aufgeführten Woyzeck erst im Rückblick zur Sprache kam. So erinnerte Max Schach am 16. Dezember 1916 in der Berliner
13Dt.:
Lessing-Theater: Georg B üchner-Abend. In: Vorwärts, Nr. 334, 19.12.1913, 1. Beilage, S. 1. 14M. Sch. [d. i. Max Schach]: Lessingtheater. Ein Georg Büchner-Abend. In: Berliner Volks-Zeitung, Nr. 591, 18.12.1913, Morgen-Ausgabe, S. 6–7. Max Schach (1886–1957) war eigentlich Theater- und Filmkritiker für das Berliner Tageblatt, schrieb aber auch für die Berliner VolksZeitung. 15Kp.: Der Büchner-Abend des Lessing-Theaters. In: Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 591, 18.12.1913, Morgen-Ausgabe, S. 6–7. 16Georg Büchner-Feier. In: Hamburgischer Correspondent, Nr. 654, 19.12.1913, Abend-Ausgabe, Beilage, S. 2. 17Herbert Ihering: Büchner Abend. In: Die Schaubühne, Nr. 52, 25.12.1913, S. 1279–1280, hier S. 1279.
Büchner – ein Romantiker?
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Volks-Zeitung in seiner Besprechung von Max Reinhardts Inszenierung von Danton’s Tod am Deutschen Theater an Barnowskys Doppelinszenierung und schrieb über Büchner: „Satirischer Romantiker und eine Art romantischer Naturalist: so haben wir den dreiundzwanzigjährigen im Lessing-Theater kennengelernt.“18 Die Zuschreibung, Büchner sei ein Romantiker, hat hier im Grunde keine Bindung mehr an das durch romantische Komödien inspirierte Lustspiel. Sie ist vom Ansatz her auf den ganzen Autor bezogen. Die vorsichtig tastende Formulierung zeigt allerdings, wie fragil die Überzeugungskraft dieser Zuschreibung sich darstellte. 3 Davon konnte bald keine Rede mehr sein. In der Zwischenkriegszeit schreibt sich die Tendenz weiter fort, die Zuschreibung vom Verfasser von Leonce und Lena abzulösen und generalisierend auf den ganzen Autor zu beziehen. Dabei fällt auf, dass diese Zuschreibungspraxis ungeachtet der tradierten und ja durchaus begründeten Oppositionen – das Politische, Republikanische, Revolutionäre einerseits, der sogenannte Realismus andererseits – nun kaum mehr relativiert, sondern wie selbstverständlich operiert. Das war zum Beispiel im Eröffnungsvortrag zur Romantischen Woche der Fall, die vom 7. bis 22. September 1923 in Augsburg stattfand.19 Diesen Vortrag hielt unter dem Titel Romantik und Gegenwart der seinerzeit bekannte Literaturkritiker Bernhard Diebold, „ein geistiger Reaktionär“,20 wie der Feuilletonredakteur der Frankfurter Zeitung einmal mit guten Gründen charakterisiert wurde. Diebold postulierte für die Romantik: „Jung ist sie als […] Sturm und Drang“ und „in Büchner, […] im jungen Deutschland und im Naturalismus brauste immer wieder ein neuer Jugendstrom aus dem deutschen Herzen. […] Vielleicht erkennt eine spätere Literaturhistorie die hundertfünfzig Jahre vom Sturm und Drang bis zur expressionistischen Anarchie als ein einziges groß-romantisches Stromgebiet.“ In diesem „Strom“ sei einer der „Katarakte“21 Büchner gewesen, den er ohne weitere
18Max
Schach: „Dantons Tod.“ Georg Büchners Drama im Deutschen Theater. In: Berliner Volks-Zeitung, Nr. 644, 16.12.1916, Abend-Ausgabe, S. 2. 19Geschäftsstelle war im Rathaus, alle kulturellen Vereinigungen der Stadt waren beteiligt. Finanziell war die Romantische Woche für Augsburg ein Fiasko. Das alles, auch das Programm, geht aus diversen Pressemeldungen hervor. Vgl. z. B.: Romantische Woche Augsburg. In: Berliner Tageblatt, Nr. 261, 06.06.1923, S. 3; Romantische Woche, Augsburg 1923. In: Berliner BörsenZeitung, Nr. 380, 18.08.1923, Morgenausgabe, S. 3; Eine romantische Woche und ein sehr reales Defizit. In: Berliner Volks-Zeitung, Nr. 458, 29.09.1923, Abend-Ausgabe, S. 2. 20So Heinrich Mann an Félix Bertaux, 30. Mai 1927. Heinrich Mann, Félix Bertaux: Briefwechsel 1922–1948. Mit einer Einleitung von Pierre Bertaux. Auf der Grundlage der Vorarbeiten von Sigrid Anger, Pierre Bertaux und Rosemarie Heise bearbeitet von Wolfgang Klein. Frankfurt a. M. 2002, S. 161. 21Bernhard Diebold: Romantik und Gegenwart. In: Berliner Tageblatt, Nr. 457, 29.09.1923, Morgen-Ausgabe, S. 2–3. Bernhard Diebold (1886–1945) war seit 1917 Feuilletonredakteur der Frankfurter Zeitung, veröffentlichte aber auch in anderen Blättern.
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Begründung nennt. Der Autor als Wasserfall oder Stromschnelle? Die dynamisch konturierte Wassermetaphorik, das Bild des reißenden Stroms, behauptet Romantik und in ihr anzusiedelnde Autorschaft als Naturphänomen. Kulturelle Kontexte sind insofern ausgeklammert. „Romantik ist nach ihm kein Stil der Kunst oder ein System des Denkens, sondern eine bestimmte menschliche Disposition“, erläuterte das Berliner Tageblatt, das den Vortrag im Auszug veröffentlichte, das Romantikverständnis des Redners, und fügte hinzu, es gehe um eine Flucht aus der Gegenwart in eine „Ferne – bis ins Unendliche.“22 „Romantisch ist unser deutsches Werden“, meinte Diebold, „romantisch ist unsere Seele. Und hörten wir auf, romantisch zu sein – wir hörten zugleich auf: deutsch zu sein.“23 Zweifellos sind hier Gemeinplätze aus deutschtümelndem Phrasenrepertoire aufbereitet und der Name Büchners nur mehr oder weniger wahllos allgemein aufgerufen. Das Beispiel war zu vergegenwärtigen, um diskursive Kontexte zu veranschaulichen, die in der Weimarer Republik präsent waren, wenn es um die Romantik und Büchner ging. In den frühen 1920er Jahren begann zudem, wie Hans Mayer feststellte, „eine neue Beschäftigung mit Romantikforschung in der deutschen Germanistik.“24 4 In der Weimarer Republik waren es zwei recht unterschiedliche Autoren, die wesentlichen Anteil daran hatten, die Zuschreibung, Büchner sei ein Romantiker, zu etablierten: Heinz Lipmann, der eine Dissertation mit dem Titel Georg Büchner und die Romantik vorgelegt hat, und Friedrich Gundolf, dessen Romantiker betiteltes Buch ein Kapitel zu Georg Büchner enthält. Zeitgenössische Stimmen zu diesen beiden Publikationen sorgten nicht nur dafür, diese Zuschreibung zu popularisieren oder die Rede von Büchner als Romantiker im öffentlichen Diskurs zu verankern, sondern schärften in der Resonanz auch die Spezifik der beiden Büchner-Bilder. Berühmt ist Friedrich Gundolf, einer der „Dichtergermanisten der Moderne“,25 geboren am 20. Juni 1880 in Darmstadt, Studium in München, in Berlin 1903
22Ebd.,
S. 2, redaktionelle Vorbemerkung. Romantik und Gegenwart (wie Anm. 21), S. 3. 24Hans Mayer: Fragen der Romantikforschung. In: Ders.: Zur deutschen Klassik und Romantik. Pfullingen 1963, S. 263–305, hier S. 283. Das ist der „Erstdruck eines Vortrags, der am 2. Juli 1962 als Eröffnungsreferat einer wissenschaftlichen Tagung über Fragen der Romantik-Forschung gehalten wurde“ (ebd., S. 365). Die Tagung wurde vom Institut für deutsche Literaturgeschichte an der Leipziger Universität veranstaltet. 25Vgl. Philipp Redl: Dichtergermanisten der Moderne. Ernst Stadler, Friedrich Gundolf und Phi lipp Witkop zwischen Poesie und Wissenschaft. Köln, Weimar, Wien 2016, S. 145–261, 401–430. 23Diebold:
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promoviert und in Heidelberg 1911 habilitiert, seit 1920 dort Professor für Literaturgeschichte. Bekannt ist seine Nähe zum George-Kreis, seine Verehrung für Stefan George. Dieser hatte ihm auch den nordisch klingenden „Dichternamen ‚Gundolf‘ gegeben“26 (dem Nachnamen Gundelfinger hörte man wohl die jüdische Herkunft zu deutlich an). Gundolf hatte George nach seinem Umzug nach Heidelberg beteuert: „Die ihm sich eröffnende akademische Karriere […] diene […] in erster Linie dazu, die Botschaft Georges zu verbreiten.“27 Gundolf jedenfalls, der lebensphilosophisch geprägte Ordinarius in Heidelberg, war einer der prominentesten Gelehrten der Weimarer Republik. Sein Karl Wolfskehl gewidmetes Buch Romantiker mit dem Kapitel über Büchner erschien 1930 im Verlag Heinrich Keller in Berlin.28 Das Kapitel geht auf einen Vortrag zurück, den Gundolf in mehreren Städten gehalten hat.29 Er erschien zuerst 1929 unter dem Titel Georg Büchner. Ein Vortrag in der Zeitschrift für Deutschkunde.30 1927 war Gundolf an Krebs erkrankt und starb am 12. Juli 1931 im Alter von 51 Jahren in Heidelberg. Gundolf ist gut erforscht. Das trifft für den 17 Jahre jüngeren Heinz Lipmann nicht zu, dessen Name heute allenfalls noch aufgrund seiner Dissertation der engeren Büchner-Forschung bekannt ist. Der Dramaturg, Redakteur und Schriftsteller, am 15. Februar 1897 als „Sohn eines jüdischen Justizrates“31 in Königsberg geboren, hatte in München bei Fritz Strich promoviert, der ebenfalls aus Königsberg stammte. Die Dissertation Georg Büchner und die Romantik erschien 1923 in München im Verlag der Hochschulbuchhandlung Max Huebner mit einer Widmung für Fritz Strich: „Seiner Verkündigung und Lehre verdankt diese Arbeit ihr Leben.“32 Heinz Lipmann ging – „24 Jahre alt“ und „eben promovierter Dr. summa cum laude“33
26Ebd.,
S. 145. „Erst 1927 ersetzt der Dichtername Gundolf den Bürgernamen Gundelfinger amtlich.“ Ebd. 27Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma. Biographie. München 2007, S. 449. Die Mitteilung geht auf einen Brief Gundolfs an George etwa vom 10.11.1910 zurück. 28Vgl. Friedrich Gundolf: Romantiker. Berlin-Wilmersdorf 1930. Das mit „Georg Büchner“ überschriebene letzte Kapitel in diesem Buch findet sich ebd., S. 375–395. 29Vgl. Redl: Dichtergermanisten der Moderne (wie Anm. 25), S. 428. 30Vgl. Friedrich Gundolf: Georg Büchner. Ein Vortrag. In: Zeitschrift für Deutschkunde 43 (1929), S. 1–12. 31Matthias Heilmann: Leopold Jessner – Intendant der Republik. Der Weg eines deutschjüdischen Regisseurs aus Ostpreußen. Tübingen 2005 (= Theatron. Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen Künste 47), S. 102. 32Heinz Lipmann: Georg Büchner und die Romantik. München 1923. Die Widmung steht auf einem nicht paginierten Vorsatzblatt. 33Eckart von Naso: [Gedenkrede. „Gesprochen in einer Versammlung von Mitgliedern der Staatl. Schauspielhäuser am 18.02.1932“]. In: Die Scene. Blätter für Bühnenkunst, Heft 2, Februar 1932, S. 28.
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– nach Berlin, folgte dem berühmten Intendanten Leopold Jessner,34 mit dem er befreundet war und der gleichfalls aus Königsberg stammte. Er wurde Dramaturg am Staatstheater Berlin. „Lipmann prägte den Beruf des Dramaturgen für künftige Generationen. Im uneingeschränkten Einverständnis mit Jessner verachtete er die billige leichte Unterhaltungsware und sah in der Durchsetzung geistiger Ziele die Aufgabe des modernen Theaters“ – besonders sichtbar war dies an „seiner bahnbrechenden Oedipus-Bearbeitung“,35 die am 4. Januar 1929 mit Musik von Kurt Weill und Bühnenbild von Hans Poelzig am Staatlichen Schauspielhaus in Berlin Premiere hatte. Außerdem war er seit 1926 Schriftleiter der von der Vereinigung künstlerischer Bühnenverbände herausgegebenen Monatsschrift Die Scene. Blätter für Bühnenkunst, die „unter der Schriftleitung von Dr. Heinz Lipmann erheblich erweitert und modernisiert“ und seitdem „eine lebendige Tribüne des Theaters geworden ist“.36 Dort veröffentlichte er 1927 eine Würdigung Georg Büchner zu seinem 90-jährigen Todestag, in der er aber auf das Stichwort ‚Romantik‘ verzichtet hat.37 Neben modernen Bearbeitungen antiker Dramen für die Bühne und den Rundfunk schrieb er selbst Stücke, ein Versdrama Don Juan und Werther (1926 in Darmstadt uraufgeführt) sowie ein Schauspiel Masaniello (1928 von der Berliner Volksbühne angenommen). Heinz Lipmann starb am 10. Februar 1932 in Berlin im Alter von 35 Jahren an den Folgen einer Embolie nach einer Blinddarmoperation. In einigen der Nachrufe ist die Dissertation erwähnt. Dass Lipmann „über Georg Büchner und die Romantik gearbeitet hatte“,38 war etwa am 11. Februar 1932 in der Vossischen Zeitung zu lesen. Oder Julius Bab schrieb in der Berliner Volks-Zeitung: „Dann hat Heinz Lipmann eine Doktorarbeit über Georg Büchner gebaut und kam von München als fertiger Germanist nach Berlin, wo Jeßner nun Intendant war.“39 Jessner selbst sagte in der Grabrede: „Mein Freund […] überraschte nach wenigen Jahren mit einer Arbeit über den Dramatiker Georg Büchner, die zu dem Besten gehört, was über diesen Dichter geschrieben wurde.“40 Im Vordergrund der Würdigungen stand allerdings der spätere Werdegang Lipmanns,
34„Ich band mich an ihn, mit dem Versprechen und mit der Bitte, daß er nach einigen Lehrjahren an der Universität zu mir zurückkehren sollte, wo ich mich auch befinden würde, zu gemeinsamer Arbeit!“ Leopold Jessner: Am Grabe Heinz Lipmanns. In: Die Scene. Blätter für Bühnenkunst, Heft 2, Februar 1932, S. 25. 35Heilmann: Leopold Jessner – Intendant der Republik (wie Anm. 31), S. 103. 36Berliner Tageblatt, Nr. 101, 01.03.1927, Abend-Ausgabe, S. 4. Vgl. Berliner Börsen-Zeitung, Nr. 45, 28.01.1926, Morgenausgabe, S. 9. 37Vgl. Heinz Lipmann: Georg Büchner zu seinem 90-jährigen Todestag. In: Die Scene. Blätter für Bühnenkunst, Heft 3, März 1927, S. 87 f. 38Heinz Lipmann †. In: Vossische Zeitung, Nr. 71, 11.02.1932, Abend-Ausgabe, Unter haltungsblatt, Nr. 42, S. 3. 39Julius Bab [aus der Berliner Volks-Zeitung]. In: Die Scene. Blätter für Bühnenkunst, Heft 2, Februar 1932, S. 29. 40Jessner: Am Grabe Heinz Lipmanns (wie Anm. 34), S. 25.
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nicht seine Studie, deren Titel den Autor so ausdrücklich mit der Romantik in Verbindung bringt. Um es gleich zu sagen: Heinz Lipmann hat Georg Büchner in seiner Dissertation nicht zum Romantiker erklärt. Gleich im Vorwort betont er, seine Absicht sei es gewesen, Büchner „aus seiner historischen Situation zu deuten, seine Intentionen aus den Strömungen der Zeit heraus zu erklären, in die seine Erscheinung fiel.“ Er könne „nicht eindeutig behandelt werden“, denn er stehe „zwischen romantischer Schule und Jungem Deutschland“ mit einer „Zwiespältigkeit bis zum Zerspringen.“ Die Aufgabe seiner Studie sei es, den „Grenzfall“ Büchner „zu durchforschen, und zwar vorläufig als Erhellung der Beziehungen zur Romantik. […] Über die Beziehung zur Romantik hinaus aber versucht die Ausführung durch […] Hinweis auf die anderen wirksamen Kräfte, besonders das Junge Deutschland, das Gesamtbild abzurunden.“41 Die Studie enthält nach der Einleitung vier Kapitel: 1) „Die neue Genuß-Religion“, 2) „Natur und Volksmythos“, 3) „Komödie und Tragödie“, 4) „Die Form“ – dort heißt es übrigens, dass diese „im Gegensatz steht zur romantischen Form“.42 Lipmann rückt Büchner lediglich in die Nähe zur Romantik, die er in der Einleitung in eine „ griechisch-dionysische“ und eine „christlich-transzendente“43 Richtung unterteilt – heute würde man von Frühromantik und Spätromantik sprechen. Für Lipmann „wiederholen sich bei Büchner die Intentionen der dionysischen Romantik.“44 Büchner – ein Frühromantiker? Lipmann rückt Büchner, bei dem er das „dionysische Element“ stark ausgeprägt sieht, jedenfalls ausschließlich in die Nähe der zuerst genannten Richtung: „Wie jene erhebt auch Büchner ein neues Epikuräertum […] und propagiert die republikanische Politik, um den Staat in eine dionysische Gemeinschaft umzuwandeln.“45 Die erste der in der Rezeptionsgeschichte tradierten Oppositionen zur Romantik – das Politische, das Republikanische bei Büchner – hat Lipmann damit aufgehoben. Das gilt jedoch auch für die zweite, für den Realismus, für das an der Wirklichkeit orientierte Schreiben. Dies haben die Rezensenten des Buches bemerkt, die es allesamt sehr lobten und alle an das seinerzeit gegenwärtige Interesse an Büchner anknüpften. In einer der ersten Besprechungen, am 11. April 1923 in der Prager Presse, heißt es: „Eine vortrefflich gearbeitete Studie, in vielem definitive Arbeit über den Dichter […], an dem sich die heutige dramatische Jugend gern aufregt. Lipmann hat die […] Erscheinung Büchners […] beziehungsvoll nicht nur zur Romantik, sondern auch zum Jungen Deutschland dargestellt, mit Kenntnis, Verständnis und gutem Geschmack.“46 Beobachten lässt sich hier die Verweigerung einer einseitigen
41Lipmann:
Georg Büchner und die Romantik (wie Anm. 32), S. VII f. S. 136. 43Ebd., S. 1. 44Ebd., S. 8. 45Ebd., S. 5. 46Georg Büchner und die Romantik. In: Prager Presse, Nr. 98, 11.04.1923, Morgen-Ausgabe, S. 4. Die Besprechung schließt: „Nicht nur eine literaturhistorische Arbeit, sondern auch eine grundsuchende ästhetische Leistung.“ 42Ebd.,
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Zuordnung zur Romantik oder zum Jungen Deutschland. Lutz Weltmann hat das in seiner Besprechung, am 20. Januar 1924 im Berliner Tageblatt, deutlich zugespitzter herausgestellt: Dem Dichter Büchner eignet eine Art Ruhm, deren er nicht bedarf. Es ist das Verdienst Heinz Lipmanns, ihn der Sphäre der aktuellen Parallelenjägerei und snobistischen Schwärmerei entrissen zu haben. Sein wertvolles Buch ‚Georg Büchner und die Romantik‘ setzt gewissermaßen das Werk seines großen Lehrers Fritz Strich […] fort. Ordnete Strich die ‚dionysischen Romantiker‘ Kleist und Hölderlin […] als Wanderer zwischen den beiden Welten ein, so sieht Lipmann in Büchner […] die typische Übergangserscheinung jener Epoche. In der das romantische […] Lebensgefühl nicht mehr stark genug war und das Erwachen zur Politik begann. Lipmann zeichnet nach, was Büchner mit der Romantik verbindet.47
Schließlich nennt Weltmann es „rühmenswert, dass Lipmann […] andeutungsweise ausführt, wie Büchners Sozialismus und Naturalismus die gleiche Wurzel haben.“ Die beiden tradierten Oppositionen zur Romantik heißen hier Sozialismus und Naturalismus, wobei sie aber keinen oppositionellen Status mehr haben. Die paradoxe Argumentationsstruktur erscheint zugleich auf die Spitze getrieben und aufgelöst. Eine dritte Besprechung, am 7. März 1928 in den Altonaer Nachrichten, betont einen weiteren Aspekt. Dort ist zunächst die Rede von der „sehr instruktiven, geistvollen Schrift, die Heinz Lipmann […] hat erscheinen lassen“ und auf die „alle Verehrer des jungverstorbenen genialen Georg Büchner mit Nachdruck“ hingewiesen werden. Dann zeigt die Besprechung sich begeistert für die historische Perspektive, welche das Buch einnimmt: Über Büchner wird zwar […] viel geredet und geschrieben, doch meistens unter dem Gesichtswinkel seiner Bedeutung für die moderne Dichtung […] oder gar vom Standpunkt eines politischen Parteiprogramms aus. Beide Arten der Betrachtung sind gerade bei Büchner durchaus berechtigt, fassen sein Wesen als Künstler aber allzu einseitig, indem sie ihn aus […] seiner Zeit mehr oder weniger bewußt herausheben und isolieren. Lipmann sucht den Dichter hingegen als Zeiterscheinung zu werten, deckt die Beziehungen auf, die ihn mit den Gedanken und Gefühlsauffassungen verbinden, wie sie im ersten Drittel des vorigen Jahrhunderts […] maßgebend waren. So erst, in seinem Verhältnis zur romantischen Schule […] und zum Jungen Deutschland kann man dem Phänomen Georg Büchner […] gerecht werden.48
Ein Romantiker ist Büchner jedenfalls auch in der Rezeption von Lipmanns Schrift nicht.
47Lutz
Weltmann: Büchner und die Romantik. In: Berliner Tageblatt, Nr. 34, 20.01.1924, 4. Beilage, „Literarische Rundschau“, S. 1. 48Georg Büchner und die Romantik. In: Altonaer Nachrichten, Nr. 57, 07.03.1928, 2. Beilage, „Literarisches Echo“, S. 1. Die Besprechung schließt: „Die aufschlußreiche und weite Perspektiven öffnende Schrift Heinz Lipmanns ist eine der wesentlichsten und gründlichsten Untersuchungen, die der künstlerischen Erscheinung Büchners, seinem Denken, Fühlen und Schaffen bisher gewidmet worden sind.“
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Ein Romantiker war er dagegen bei Friedrich Gundolf, wie bereits der bekanntere Publikationsort seiner Ausführungen nahelegt, das 1930 herausgekommene Buch Romantiker, das nach Kapiteln über Friedrich Schlegel, Schleiermacher, Clemens Brentano und Achim von Arnim ein fünftes Kapitel über Georg Büchner enthält. Die „fünf Aufsätze“, schrieb Gundolf im Vorwort und schließt damit jede Relativierung aus, „sind aus einem einheitlichen Gesicht der Gesamt-Romantik hervorgegangen und wollen aus dieser Einheit verstanden werden.“49 Bei Gundolf ist Büchner zunächst einmal ein Hybrid: „als Poet romantisch, als politischer Jüngling umstürzlerisch, als Naturforscher Freigeist“.50 Gundolf befasst sich erklärtermaßen „nur mit dem Dichter“ und ordnet ihn nebenbei „der Spätromantik“51 zu. Büchner – ein Spätromantiker? Gundolf erklärt, auf das Späte, das Hinfällige, das Absterbende zielend, über Büchner: Es „verfiel seine Phantasie dem schon leeren Farbenspiel der sterbenden Romantik“, sein Werk offenbare „die letzten Scheine der sinkenden Romantik“.52 Abschließend nennt Gundolf ihn ein Genie, das „Träger von geheimnisvollen Mächten“ sei: „Das Genie gibt uns einen neuen Schauer.“53 Produktionsästhetisch unerklärlich, rezeptionsästhetisch Empfindungswerte ansprechend – so deutet Gundolf Büchners Werk. Zu Danton’s Tod meinte er: „Auf Stimmung beruht das Werk“,54 und die Titelfigur sei „aus des Dichters Herzen empfangen“.55 Zum Lenz: „Stimmungsgesichte geben dem Werk sein dichterisches Gewicht“.56 Leonce und Lena sei „ein Rückfall in die bloße Literaturkomödie der Romantik“, lediglich „Nachahmung“57 und „ein literarischer Abweg in die verlassene Romantik.“58 Das Dramenfragment nennt er einen „Schicksalstraum aus unterer Sphäre. Die Gesellschaftsschicht ist im Woyzeck eine Stimmung, […] entledigt aller Zwecke, der Politik, der Moral, ja selbst der Vernunft. Hier wacht nur die Schicksalslandschaft mit ihren Seelenwesen.“59 Es liegt auf der Hand, dass die Oppositionen zur Romantik, realistische Erfassung sozialer Wirklichkeit und republikanisches Anliegen, in Gundolfs Büchner-Bild getilgt sind. Der Autor ist hier deutlich das Produkt seines Interpreten. Dazu kommt: Was bei Diebold die Wassermetaphorik ist, das ist bei Gundolf die Feuermetapher. Bei ihm ist Büchner bereits ein „feuriges […] Kind“; was den
49Gundolf:
Romantiker (wie Anm. 28), S. 7. S. 376. 51Ebd., S. 378. 52Ebd., S. 382. 53Ebd., S. 395. 54Ebd., S. 386. 55Ebd., S. 387. 56Ebd., S. 389. 57Ebd., S. 390. 58Ebd., S. 391. 59Ebd., S. 392. 50Ebd.,
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Autor angeht, so hebt er „seine Glut“60 hervor, beschreibt sein „Genie, das […] in dichterischen Augenblicken sich fieberhaft entlud“,61 sein Wesen, „das glüht im Woyzeck hinab in das vormenschliche Mächtereich.“62 Die Naturmetaphorik, ob Wasser, ob Feuer, zielt darauf, das Gesellschaftliche, das Politische, auszuklammern. Die zeitgenössische Wirkung des Vortrags, den Gundolf zwischen März 1924 und Oktober 1925 in Essen, Frankfurt an der Oder, Hamburg, Breslau und Krefeld gehalten hat,63 zeigt sich beispielhaft in Stimmen zur Lesung am 25. Oktober 1924, als Gundolf auf Einladung der Hamburger Kunstgesellschaft sprach. In den Hamburger Nachrichten heißt es: Prof. Friedrich Gundolf […] sprach am Sonnabend in der Universität über Georg Büchner. Romantischer Schwärmerei wie weltschmerzlichem Zynismus gleichermaßen offen, ungestüm, besessen […]. Sein Genie befeuert seine Leistungen, aber es verschmilzt sie nicht. […] Danton, ein enttäuschter Romantiker […]. Der Zwist zwischen Lebenskraft und Geistesekel ist sein Schicksal wie das Büchners. […] Ihm bleibt nur ein Dasein in der Stimmung. So sind die Büchnerschen Dramen […] Szenenreihen, die […] auf Stimmung beruhen. Den Abendschein der sinkenden Romantik durchzucken neue Schauer. […] ‚Wozzek‘ endlich, das tiefste und echteste Werk Büchners ist ein Schicksalstraum von visionärer Kraft und Sicherheit […]. Gundolf, Architekt in der Anlage und im Aufbau, in der Beleuchtung ein Zauberer, schuf eine Gestalt.64
Hier wird Gundolfs Büchner-Bild bewundert. Dagegen kommt der Inhalt des Vortrags im Hamburger Anzeiger kaum zur Sprache, stattdessen die Person des Redners: „Man kann wohl sagen, daß die zahlreiche Hörerschaft, die am Sonnabend den Hörsaal B der Universität bis zum letzten Platz füllte, nicht nur aus literarischem Interesse an Georg Büchner erschienen war, daß vielmehr eine gewisse erwartungsvolle Spannung herrschte, die dem Manne galt, der heute über Büchner sprechen wollte“65 – gezeigt habe sich „Gundolfs kongeniales Nacherleben eines Dichterschicksals“.66 1930, in den Besprechungen des Bandes Romantiker, ist so gut wie gar nicht von Büchner die Rede. Allenfalls heißt es einmal: „Gundolf bietet in diesen Essays […] eine Auswahl von Sinnbildern der Romantik […] bis zu Georg Büchner, mit dem sie […] in die politischen Aktualitäten des 19. Jahrhunderts
60Ebd.,
S. 375. S. 381. 62Ebd., S. 395. 63Vgl. Redl: Dichtergermanisten der Moderne (wie Anm. 25), S. 428. 64R. M.: Hamburger Kunstgesellschaft. In: Hamburger Nachrichten, Nr. 504, 27.10.1924, Abend-Ausgabe, S. 2. 65G. L.: Friedrich Gundolf in der Kunstgesellschaft. (Ueber Georg Büchner). In: Hamburger Anzeiger, Nr. 252, 27.10.1924, S. 2. 66G. L.: Friedrich Gundolf über Dante und George. In: Hamburger Anzeiger, Nr. 259, 4.11.1924, S. 2–3, hier S. 2. So nochmals über den eine Woche zurückliegenden Büchner-Vortrag. 61Ebd.,
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überging.“67 Oder Felix Scherret erklärte schlicht über das Buch (ohne das Kapitel über Büchner zu erwähnen): „Es macht den Eindruck des Zufälligen.“68 Kritisch kommentiert wurde Gundolfs Büchner-Bild erst später. So ist Georg Lukács 1937 in seinem Beitrag zum Büchner-Heft der Exilzeitschrift Das Wort hart mit Gundolf ins Gericht gegangen. Er kritisierte dort die „Methode der faschistischen Umfälschung“, der es darum gehe, dass „alles Revolutionäre […] weggedeutet werden“ soll, und bemerkte gleich zum Auftakt: „hier ist Friedrich Gundolf einer der wichtigsten Vorläufer der Faschisierung der deutschen Literaturgeschichte. Er macht […] aus Büchner ‚bloß‘ einen verspäteten Romantiker, einen Dichter der ‚Stimmung‘. In diese Stimmung löst Gundolf die ganze Gesellschaftskritik Büchners auf“.69 Und Hans Mayer erklärte am 2. Juli 1962 in seinem Vortrag Fragen der Romantikforschung: „Daß Friedrich Gundolf zu keinem wirklichen Verständnis romantischer Literatur gelangen konnte, hängt mit der engen Bindung an den George-Kreis zusammen.“ Das Buch, das er „unter dem Sammeltitel Romantiker herausgab“, beweise, „daß überhaupt keine Vorstellung mehr vom Spezifischen der romantischen Ästhetik und Literaturtheorie vorhanden war. Ganz unbekümmert“ wurde „hier Büchner […] neben wirkliche Romantiker […] gestellt. Alles schien ‚romantisch‘ zu sein, weshalb nichts mehr von romantischer Spezifik in Wirklichkeit dadurch erfaßt wurde.“70 Dem ist nichts hinzuzufügen. Bemerkt sei aber, dass Gundolfs Büchner-Text heute als Rezeptionszeugnis ein Begriff ist,71 während das bei dem Buch Heinz Lipmanns nicht der Fall ist, jenem Buch, das denselben Titel trägt wie der hier vorliegende Sammelband und die ihm vorausgehende Frankfurter Tagung im Jahr 2018: Georg Büchner und die Romantik.
67Literatur.
In: Prager Presse, Nr. 165, 17.06.1930, S. 6. Scherret: Von deutscher Romantik. Zu Friedrich Gundolfs neuem Buch „Romantiker“. In: Blick in die Bücherwelt. Beilage des Vorwärts, Nr. 9, 10.08.1930, S. 1. 69Georg Lukacs: Der faschisierte und der wirkliche Georg Büchner. Zu seinem hundertsten Todestag 19. Februar 1937. In: Das Wort. Literarische Monatsschrift, Heft 2, Februar 1937, S. 7–26, hier S. 7. Für die Zeitschrift (erschienen in Moskau) zeichneten Bertolt Brecht, Lion Feuchtwanger und Willi Bredel verantwortlich. Der Aufsatz von Lukács wurde unter dem geänderten Titel Der faschistisch verfälschte und der wirkliche Georg Büchner mehrfach nachgedruckt. 70Mayer: Fragen der Romantikforschung (wie Anm. 24), S. 283. 71Er wurde mehrfach nachgedruckt. Vgl. Wolfgang Martens (Hrsg.): Georg Büchner. Darmstadt 1965 (= Wege der Forschung 53), S. 82–97; Dietmar Goltschnigg (Hrsg.): Büchner im „Dritten Reich“. Mystifikation – Gleichschaltung – Exil. Eine Dokumentation. Bielefeld 1990, S. 64–73. Gundolf gilt als Autorität. So meinte etwa Heinz Wetzel: „Büchners Verhältnis zur Romantik war mehrdeutig. Sein Werk ist so sehr von romantischen Zügen geprägt, daß Friedrich Gundolf ihn unter die Romantiker zählte“. Horst Wetzel: „Guillotinenromantik“: Zu Verständnis und Wirkung der Romantik bei Georg Büchner. In: Michael S. Batts, Anthony W. Riley, Heinz Wetzel (Hrsg): Echoes and Influences of German Romanticism. Essays in Honour of Hans Eichner. New York, Bern, Frankfurt a. M., Paris 1987, S. 97–103, hier S. 97. 68Felix
Lektürespuren in Büchners literarischen Werken Eine Bestandaufnahme mit besonderer Berücksichtigung Ludwig Tiecks Burghard Dedner
Dieser Aufsatz dient zunächst der Bestandsaufnahme. Nach einem kurzen Blick auf die Äußerungen von Büchners Zeitgenossen über seine Lieblingslektüren und einem Seitenblick auf die Begegnung des Schülers Büchner mit der politischen Romantik (Kap. „„Nous ferons un peu de romantique, pour nous tenir à la hauteur du siècle“. Zur Einführung“) präsentiere ich in Listenform die Zahl der ‚Anregungen‘ von anderen Autoren und ihren Werken, die Büchner in seinen poetischen Texten verarbeitet hat (Kap. „„Romantik“ und „Vormärz““). Grundlage dieser statistischen Angaben sind die Recherche-Ergebnisse der Marburger Büchner Ausgabe. Und schließlich will ich am Beispiel Ludwig Tiecks die vielfältigen Spuren verfolgen, die dieser prominente Autor im Werk Büchners hinterlassen hat (Kap. „Büchner – ein Romantiker?“ und „Lektürespuren in Büchners literarischen Werken“). Deutlich werden sollen dabei der Interpretationsgewinn, der sich aus der Kenntnis dieser Anregungen ziehen lässt, aber auch die Irrwege, zu denen ihre Überbetonung führen kann.
B. Dedner (*) Forschungsstelle Georg Büchner, Universität Marburg, Marburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 R. Borgards und B. Dedner (Hrsg.), Georg Büchner und die Romantik, Abhandlungen zur Literaturwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05100-4_4
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B. Dedner
1 Büchners Lektürevorlieben nach den Äußerungen der Zeitgenossen und anderen Zeugnissen Zur Lieblingslektüre des Gymnasiasten Büchner haben sich seine drei Schulfreunde Georg und Friedrich Zimmermann sowie Ludwig Wilhelm Luck geäußert. Ihnen zufolge war Shakespeare der absolute Favorit.1 Hinzu kam Goethe mit Faust (so Friedrich Zimmermann) und Werther (so Georg Zimmermann). Diese übereinstimmend genannte Vorliebe für Shakespeare und Goethe wird natürlich bestätigt durch Büchners bekannte Worte im Brief an die Eltern vom 28. Juli 1835: „Mit einem Wort, ich halte viel auf Goethe und Shakspeare, aber sehr wenig auf Schiller.“ (MBA 10.1, S. 67)2 Sie wird weiterhin bestätigt durch die ‚Kritzelseiten‘ aus Büchners letzten Gymnasialtagen, die er offenbar nach Ausstellung seines letzten Zeugnisses niederschrieb und bei denen er sicher sein konnte, der Lehrer werde sie nie sehen. Diese Seiten sind gefüllt mit längeren Versfolgen aus Goethes Faust I und Shakespeares Dramen Der Sturm und Hamlet, die Büchner offenbar auswendig kannte (MBA 1.1, S. 567–475 mit Erläuterungen MBA 1.2, S. 494–500). Im Wesentlichen handelt es sich dabei um Verse erotischen Inhalts. Ungewöhnlich gute Goethe-Kenntnis beweist auch die Übernahme einer Stelle aus Goethes Rezension von Joseph von Sonnenfels’ Über die Liebe des Vaterlands (Wien 1771) in eine von Büchners selbständigen Schülerschriften (vgl. MBA I.2, S. 324). Die Rezension erschien erstmals in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen (1772), dann wieder in Goethes Vollständige Ausgabe letzter Hand (1822– 1830), und zwar in dem 1830 publizierten Bd. XXXIII (vgl. MBA 1.2, S. 324). An dritter Stelle der Lieblingsautoren stand Ludwig Tieck. Friedrich Zimmermann nennt ihn nicht, sondern erwähnt nur allgemein „Hauptromantiker“. Luck dagegen nennt genauer „die bedeutenderen u lebensfähigen Poeten der Gegenwart, namentlich Tieck“. Luise Büchner nennt Tiecks Phantasus sowie „Tieck und Brentano“,3 und bei Ludwig Büchner heißt es: „Shakspeare war sein Ideal“, aber „unter den deutschen Schriftstellern behauptete eine Zeitlang Tieck den ersten Platz“. Als Lektürebeispiel nennt er Tiecks Novelle Aufruhr in den Cevennen, die Georg im September 1834 gemeinsam mit Wilhelmine Jaeglé gelesen habe.4
1Die
Äußerungen Zimmermanns und Lucks finden sich in buechnerportal.de in der Abteilung „Dokumente“ unter den Nummern LZ 1200 und LZ 1220. Luck weist speziell auf „Kaufmann von Venedig, Othello, Romeo und Julia, Hamlet, Kg. Richard III“ hin und zitiert Stellen aus dem „Kaufmann von Venedig“. 2Textstellen von Büchner werden hier und im Folgenden zit. nach der Marburger Büchner Ausgabe (Darmstadt 2000–2013) unter der Sigle MBA. Die Nachweise erscheinen direkt im Text. 3In Luise Büchners Schlüsselroman „Ein Dichter. Novellen-Fragment“ (in: Luise Büchner: Nachgelassene belletristische und vermischte Schriften in zwei Bänden. Bd. 1: Dramatisches, Erzählendes und Lyrisches. [Hrsg. von Ludwig Büchner.] Frankfurt a. M. 1878, S. 179–262, heißt es nach Erwähnung Homers: „dann kamen die Dichter der romantischen Schule, welche damals in allen Köpfen spuckten, an die Reihe, und Gustchen ward immer roth und verlegen, wenn sie ihren Freundinnen gelegentlich erklären mußte, wer Tieck und Brentano waren […]“. 4Ludwig Büchner: Einleitung zu: Nachgelassene Schriften von Georg Büchner. Frankfurt a. M. 1850, S. 18.
Lektürespuren in Büchners literarischen Werken
49
Friedrich Zimmermann nennt als weitere Vorliebe des Schülerkreises „alle Volkspoesie, die wir auftreiben konnten“, vorzüglich „Herder’s Stimmen der Völker und des Knaben Wunderhorn“. Diese Vorliebe wird bestätigt durch die Fülle der Volkslieder in Danton’s Tod und Woyzeck sowie durch Lenz’ Satz über „das einzige Kriterium in Kunstsachen“, nämlich „das Gefühl, daß Was geschaffen sey, Leben habe“: „in Shakespeare finden wir es und in den Volksliedern tönt es einem ganz, in Göthe manchmal entgegen.“ (MBA 5, S. 60) Er nennt auch Homer, was durch Luise Büchner bestätigt wird, sowie außerdem Jean Paul, der unseren Beobachtungen zufolge besonders viele Spuren in Büchners Texten hinterlassen hat. Richtig ist sicher auch Zimmermanns Satz: „Bei der Verehrung Schiller’s hatte Büchner doch Vieles gegen das Rhetorische in seinem Dichten einzuwenden“. Nirgends erwähnt wird allerdings, dass Büchner ein ausgezeichneter Kenner der Bibel war. Vielleicht galt das seinerzeit als selbstverständlich. Einige der Nennungen ließen sich durch unsere Recherchen nicht verifizieren, so Hinweise auf Calderon, Aeschylos und Sophokles (Friedrich Zimmermann) sowie auf Lord Byron, über den Ludwig Büchner schreibt, er habe „die meisten verwandten Saiten in seinem Geiste“ angeschlagen.5 Die bisher genannten Zeugen kannte Büchner aus der Schulzeit sowie aus der Familienüberlieferung. Was der Student Büchner las und was von dem Gelesenen Spuren in seinem Werk hinterließ, war ihnen unbekannt. Es sei hier vorgreifend kurz genannt. Es handelt sich um Werke von: • Heinrich Heine, unter anderem mit unmittelbaren und deutlichen Auswirkungen auf den Anfang von Danton’s Tod; • Jacob Lenz, den Büchner vermutlich erst in Straßburg durch Diskussionen mit August Stoeber kennenlernte und aus dessen Gedicht „Die Liebe auf dem Lande“ er in einem Brief an seine Verlobte mehrere Strophen abschrieb (MBA 10.1, S. 35 f.), über den er eine Erzählung schrieb und dem er wesentliche Anregungen für die Dialog- und Szenenform in Woyzeck verdankte; • Alfred de Musset, den Büchner in einem Brief an Karl Gutzkow lobend hervorhebt und dessen Komödie Fantasio zu den Hauptquellen von Leonce und Lena zählt; • Victor Hugo, den Büchner nicht schätzte, von dem er aber zwei Dramen übersetzte. Man kann sich fragen, wie gut Büchner den aktuellen literarischen Markt überblickte. Karl Gutzkow fragte ihn am 7. April 1835: „Sind Sie überhaupt wegen unsrer laufenden liter. Verhältnisse au fait?“ und vermutete wohl, Büchner sei nicht „au fait“, wenn er hinzufügte: „Sie brauchen es nicht zu seyn: Sie scheinen ganz positiver Natur.“ (MBA 10.1, S. 57) Wenn er andererseits Büchner um journalistische Beiträge zur neuesten französischen Literatur bat, so nahm er wohl doch an, dass Büchner mehr sei als ein literarischer Naturbursche. Büchner schickte ihm auch tatsächlich zwar keinen Zeitungsbeitrag, aber doch „Äußerungen über neure Lit.“
5Ebd.
50
B. Dedner
(MBA 10.1, S. 60), in denen er anscheinend abfällig über die „romantische Confusion in Paris“ und besonders über Victor Hugo, jedoch maßvoll positiv über Alfred de Musset urteilte. Dass Büchner die literarischen Zeitgenossen zur Kenntnis nahm, lässt seine „Vorrede“ zu Leonce und Lena „e la fama? […] e la fame?“ vermuten (MBA 6, S. 129). Das Wortspiel hatte er vermutlich in einem Beitrag der George Sand in der Revue des deux mondes gefunden (vgl. MBA 6, S. 427). Dass Büchner auch den deutschen Markt überblickte, lässt sich aus einer ganzen Reihe von Indizien schließen. Zu ihnen gehört die Tatsache, dass er das Manuskript von Danton’s Tod zielsicher an Karl Gutzkow schickte, an wahrscheinlich den einzigen Redakteur in Deutschland, von dem er eine positive Reaktion erhoffen konnte. In Darmstadt war Büchner bekannt mit Heinrich Künzel, einem ehemaligen Mitschüler, der 1832 (zusammen mit dem Darmstädter Friederich Metz) einen Musenalmanach. Eine Neujahrsgabe für 1833 publizierte, an der – vermittelt durch Büchner – auch seine Straßburger Freunde August und Adolph Stöber als Beiträger mitwirkten. Büchners Satz, Künzel könne, nachdem er „schon alle mögliche poetischen Accouchir stühle probirt“ habe, „höchstens noch an eine kritische Nothtaufe in der Abendzeitung appelliren“, deutet auf eine gewisse Kenntnis der führenden deutschen Zeitschriften hin. Förderlich für diese Kenntnis war Büchners Bekanntschaft mit August Stoeber, dessen Vater Ehrenfried selbst publizierte und als Autor in Deutschland bekannt war. August Stoeber selbst publizierte ebenfalls und hatte Beziehungen zur Schwäbischen Dichterschule, vor allem zu Gustav Schwab. Büchners Beobachtung des literarischen Marktes – dies sei ein letztes Beispiel – zeigt sich schließlich in einer Reihe von Hei ne-Zitaten in der ersten Szene von Danton’s Tod. Büchner entnahm sie Anfang Februar 1835 Heines Publikation von Salon II, die gerade eben auf dem Markt erschienen war und die Büchner offenbar unmittelbar bei Erscheinen in der dafür einschlägigen Darmstädter Buchhandlung kaufte (vgl. MBA 3.2, S. 222 f.). Unter der Fragestellung „Büchner und die Romantik“ wird normaler- und verständlicherweise sein Verhältnis zu den kanonisierten Autoren dieser Epoche untersucht. Zu diesem Personenkreis gehörten nicht die sogenannten politischen Romantiker, also Autoren, die im weiteren Zusammenhang der antinapoleonischen Kriege und der daraus erwachsenden frühen Oppositionsbewegungen schrieben. Unter Büchners Lehrern standen einige diesen Bewegungen nahe, und auch der Schüler Büchner war von ihnen beeinflusst. Auf den schon erwähnten ‚Kritzelseiten‘ notierte Büchner neben Versen aus dem „Lauterbacher Strumpflied“, einem seit etwa 1825 kursierenden Schlager, auch Verse aus dem „Großen Lied“, einem umfangreichen lyrischen Gebilde, das der kollektiven Vorbereitung auf Fememorde an Fürsten dienen sollte. Dieses von Karl Follen, dem Anführer der Gießener (und Jenaer) Schwarzen gedichtete Lied ist uns zum ersten Mal greifbar in einer Publikation des Wit, gen. von Dörring (1799–1864) unter dem täuschenden Titel Mittheilungen aus den Memoiren des Satan.6 Wit von Dörring war vor 1820 Mitglied der Urburschenschaft, Freund von Karl Follen und dem Kotzebue-Mörder Ludwig Sand. Er war dann in verschiedenen
6Dritter
Theil. Stuttgart 1829.
Lektürespuren in Büchners literarischen Werken
51
Staaten agitatorisch tätig und inhaftiert und trat 1829 mit diesem Rückblick auf den radikalsten Flügel der Burschenschaftsbewegung erstmals an die Öffentlichkeit (vgl. MBA 2.1, S 82–86 sowie MBA 1.2, S. 494–497). „Das große Lied“ ist ein bedeutendes Dokument der terroristischen Tendenzen der politischen Romantik, und Büchner kannte Teile dieses Liedes offenbar auswendig. Wie er Zugang zu Wit von Dörrings Publikation gefunden hatte, wissen wir nicht. In seinen selbständigen Schülerschriften – also innerhalb des Gymnasialunterrichts – übernahm Büchner dagegen Stellen von Autoren derselben Richtung, die sich jedoch noch im Rahmen oder wenigstens am Rande der politischen Legalität bewegten. Stichwortgeber dieser Art für den Heldentod-Aufsatz sind: • Johann Gottlieb Fichte mit den Reden an die deutsche Nation;7 • Friedrich Theodor Kohlrausch (1780–1865) mit Die Teutsche Geschichte von 1817.8 Der in der Pädagogikgeschichte bedeutende Kohlrausch war bekannt mit Clemens Brentano, Arnim, Pestalozzi und Herbart und veröffentlichte 1814 „Reden über Deutschlands Zukunft“ in Anlehnung an Fichtes „Reden an die deutsche Nation“;9 • Heinrich Karl Hofmann (1795–1845) mit Teutsche Volks-Geschichten aus dem ersten Jahrhundert vor und nach Christi, unseres Heilands Geburt. Für die teutsche Jugend.10 Hofmann war Mitbegründer der politisch radikalen Gruppe der Darmstädter Schwarzen, der auch Büchners Freund Wilhelm Schulz angehörte, und als solcher mehrfach – zunächst in Darmstadt, dann in Preußen – inhaftiert. Für seine Cato-Rede orientierte sich Büchner bei Heinrich Luden: Allgemeine Geschichte der Völker und Staaten des Alterthumes.11 Luden, den Büchner des Öfteren zitiert und sogar einmal als Gewährsmann nennt, war Geschichtsprofessor in Jena, beeinflusst durch Jean Jacques Rousseau und Johann Gottlieb Fichte. Gemeinsam mit Büchners Doktorvater Lorenz Oken war er einer der wichtigsten Ideengeber der Jenaer Burschenschafter und des Wartburgfestes. Interessant in diesem Sinne ist weiterhin, was Büchner seinem Heldentod-Aufsatz als Motto voranstellte, nämlich Verse aus Gottfried August Bürgers Gedicht „Die Tode“ aus den frühen Revolutionsjahren, ein Gedicht, in dem der Tod für „Tugend, Menschenrecht und Menschenfreiheit“ als „höchst erhabner Mut“ als „Welt-Erlösertod“ an die Spitze aller übrigen Arten des heroischen Sterbens gesetzt wird (MBA 1.1., S. 5). 7Erstdruck
1808. Büchner benutzt vermutlich die „Neue wohlfeilere Auflage. Leipzig Friedrich Ludwig Herbig 1824“. Eine Spur aus Fichtes Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (Dargestellt […] in Vorlesungen, gehalten zu Berlin, im Jahre 1804/1805. Berlin 1806) ist ebenfalls bemerkbar. 8Für Schulen bearbeitet. Zweite Abtheilung. Elberfeld 1817. 9Vgl. Artikel „Kohlrausch, Friedrich“ von Heinrich Julius Kämmel. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Hrsg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 16 (1882), S. 450–452. 10Heidelberg: 1821. 11Jena: 1814 (= Allgemeine Geschichte der Völker und Staaten. Erster Theil).
52
B. Dedner
Von den entweder hurrapatriotischen oder deutschtümelnden Varianten der politischen Romantik hat Büchner sich später abgewandt, auch wenn einige Stellen im Hessischen Landboten noch immer von dieser Tradition zeugen. In Danton’s Tod geben Büchner Anspielungen auf oder Zitate aus den politischen Romantikern Anlass zum Spott. Beispiele hierfür ist ein Zitat aus Wilhelm Hauffs „Reiters Morgen-Lied“.12 Ein Bänkelsänger singt den Beginn der 4. Strophe des Liedes mit der Frage: „Was doch ist, was doch ist / Aller Männer Freud und Lüst?“ Ein Bürger spricht dazwischen, so dass der Zuhörer oder Leser erst einmal Gelegenheit hat, für sich selbst eine Antwort auf diese Frage zu finden. Der bei Hauff folgende Satz: „Unter Kummer, unter Sorgen / sich bemühen früh am Morgen, / bis der Tag vorüber ist“ (MBA 3.2., S. 111 f.), ist sicher nicht die Antwort, die man erwartet hätte. Eine gleiche Gelegenheit zum Spott nutzt Büchner, wenn er seinen ‚Souffleur‘ Simon, der mit anderen ausgezogen ist, um Danton zu verhaften, sagen lässt: „Der Freiheit eine Gasse! Sorgt für mein Weib! Eine Eichenkrone werd’ ich ihr hinterlassen.“ Der dem Schweizer mittelalterlichen Heroen Winkelried zugeschriebene Satz „Der Freiheit eine Gasse!“ begegnet mehrfach im Liedschatz der politischen Romantiker, so bei Max von Schenkendorf und Theodor Körner.13 Büchner wird sie Anlass für eine Zote in der Fortsetzung: „Eine Eichelkron? Es sollen ihr ohnehin jeden Tag Eicheln genug in den Schooß fallen.“ (MBA 3.2, S. 119) Seine Bitte, Gutzkow möge die Alsa-Bilder der Brüder Stoeber rezensieren, verband Büchner mit der Äußerung: „Die Sagen sind schön, aber ich bin kein Verehrer der Manier à la Schwab und Uhland und der Parthei, die immer rückwärts ins Mittelalter greift, weil sie in der Gegenwart keinen Platz ausfüllen kann.“ (MBA 10.1, S. 76) Sie zeigt ebenfalls seine Distanz zur biedermeierlichen Fortsetzung der Tradition der politischen Romantik.
2 Anregungen durch Werke anderer Autoren. Versuch einer Statistik Bei der Erarbeitung der Erläuterungen zu Büchners Werken haben wir in der Marburger Ausgabe zwischen „Anregungen durch“ und „weiteren Belegstellen“ unterschieden. Jene gehen einher mit der Vermutung, Büchner habe das ihn anregende Werk gekannt, und diese Kenntnis erkläre die – meist wörtliche – Übereinstimmung seines Textes mit einem andern. Die Beurteilung „auch belegt bei“ besagt dagegen, die festgestellte Übereinstimmung komme wahrscheinlich daher, dass die in Frage stehende Wendung literarisch oder umgangssprachlich verbreitet war und keinen bestimmbaren Ursprungsort hat. Leider ist die Grenze zwischen Anregung und Belegstelle nicht immer sicher bestimmbar. Daraus folgt, dass die
12Erstdruck
in Wilhelm Hauff: Kriegs- und Volkslieder. Stuttgart 1824. von Schenkendorf: Gedichte. Stuttgart, Tübingen 1815, S. 117 (vgl. MBA 3.4, S. 143); Theodor Körner in dem Gedicht: „Aufruf“ in dem von Burschenschaftern sehr geschätzten Bd. Leyer und Schwert. 5. Aufl., Berlin 1819, S. 37. 13Max
Lektürespuren in Büchners literarischen Werken
53
folgenden Angaben über „Anregungen durch“ nicht die Gewissheit haben können, die die bloße Nennung einer Zahl suggeriert. Andere Unwägbarkeiten kommen hinzu. Wenn Textstellen bei Tieck und Büchner übereinstimmen, so kann das daran liegen, dass beide dasselbe Shakespeare-Drama gelesen haben und dass Büchner seine Anregung von Shakespeare erhielt, wobei Tieck immerhin als Verstärker fungiert haben kann. Und natürlich spiegeln die Angaben in der Marburger Büchner Ausgabe den Kenntnisstand der Bandbearbeiter während der Arbeit, sind also vorläufige Feststellungen. Dennoch habe ich versucht, die in den Erläuterungen gegebenen Hinweise numerisch und in Tabellen zu fassen, und mir scheinen die mitgeteilten Zahlen im Allgemeinen aussagekräftig, zumindest bei Zahlen im höheren Bereich. Vor allem geben sie einen Eindruck von der relativen Bedeutung der verschiedenen Autoren für Büchner. Dies gilt umso mehr als diese relative Bedeutung sich in vielen Fällen mit dem deckt, was die Zeitgenossen zu Büchners Lesegewohnheiten überliefert haben. Bei der Beurteilung der Zahlen sollte der Leser bedenken, dass ich die Übereinstimmungen in den Fällen nicht mit eingerechnet habe, in denen wir dem Werk des anderen Autors Quellenstatus zugesprochen haben. Das gilt für Mussets Fantasio und Brentanos Ponce de Leon im Falle von Leonce und Lena sowie für die Jacob Lenz betreffenden Passagen in Büchners Lenz-Erzählung. Die Bedeutung dieser drei Autoren ist also noch etwas höher einzuschätzen, als die Zahlen vermuten lassen. Tabelle nach Autoren Gesamt
Danton Lenz MBA 3.4 MBA 5
LuL Wzeck MBA 6 MBA 7
Bibel
312
91
126
25
70
Shakespearea
203
147
1
24
31
Goetheb (außer Dichtg. U. Wahrh. zu Lenz) 173
80
54
21
18
Ludwig Tieck
42
37
24
9
110
Jean Paul
68
9
4
51
4
Heinrich Heine
69
15
2
47
5
J. M. R. Lenzc
65
8
29
8
20
Schiller
46
21
1
18
6
Musset (außer Fantasio in Leonce und Lena)
38
11
0
27
0
Brentano (außer Ponce de Leon in Leonce und Lena)
33
12
2
20
3
Eichendorff
27
4
1
19
3
E. T. A. Hoffmann
26
2
1
18
2
Moritz (Anton Reiser)
17
0
17
0
0
Wieland
15
0
0
14
1
Grimm (Kinder- und Hausmärchen)
14
1
0
0
13
54
B. Dedner
Tabelle nach Autoren Achim von Arnim (Kronenwächter, Halle und Jerusalem)
Gesamt
Danton Lenz MBA 3.4 MBA 5
7
1
LuL Wzeck MBA 6 MBA 7
3
3
Klinger (Das leidende Weib, Zwillinge)
5
0
0
1
4
Homer (Übersetzung Voss)
5
0
0
5
0
Th. Gautier (Mademoiselle de Maupin)
5
0
0
5
Zacharias Werner (Der 24. Februar)
4
0 4
Wilhelm Hauff
3
3
0
0
0
Herder (Stimmen der Völker in Liedern)
3
2
0
0
1
Karl Follen („Das große Lied“)
2
2
0
0
0
Ludwig Adolf Follen
1
1
0
0
0
Adalbert von Chamisso
1
0
0
1
0
Ludwig Uhland („Wanderlieder“)
1
1
0
0
0
Christian Daniel Schubart („Der ewige Jude“)
1
1
0
0
0
Johann Gaudenz von Saalis-Sewisd
1
0
0
0
1
aShakespeare
in der Übersetzung von August Wilhelm Schlegel, und zwar vermutlich deren „Neue Auflage“ (Berlin 1821–1823), aber auch die um „Macbeth“, „König Lear“ u. a. vermehrte Ausgabe von Ludwig Tieck (1825–1833) bBüchner nutzte bereits als Schüler Goethes Vollständige Ausgabe letzter Hand, die ihm wahrscheinlich im Elternhaus zugänglich war cBüchner benutzte mit hoher Wahrscheinlichkeit Tiecks dreibändige Lenz-Ausgabe dFreundlicher Hinweis von Arnd Beise
Wichtige Autoren mit Werken Gesamt
Danton MBA 3.4
Lenz MBA 5
LuL MBA 6
Wzeck MBA 7
1. Bibel
312
91
126
25
70
Altes Testament
159
47
65
11
30
Neues Testament
153
44
61
14
40
Gesamt
Danton
Lenz
LuL
Wzeck
2. Shakespeare
203
147
1
24
31
Hamlet
39
24
1
8
6
Macbeth
31
19
0
3
9
Richard II.
18
17
0
1
0
Richard III.
16
14
0
2
0
König Lear
15
9
0
2
4
Julius Cäsar
15
14
0
0
1
Lektürespuren in Büchners literarischen Werken Wichtige Autoren mit Werken
55
Gesamt
Danton MBA 3.4
Lenz MBA 5
LuL MBA 6
Wzeck MBA 7
Heinrich VI. (2. Teil)
12
12
0
0
0
Heinrich IV. (1. Teil)
10
9
0
1
0
Romeo und Julia
11
8
0
3
0
Kaufmann von Venedig
11
9
0
2
0
Othello
12
1
0
0
11
Wie es euch gefällt
7
5
0
2
0
Maaß für Maaß
6
6
0
0
0
Außerdem vereinzelte Anregungen aus Coriolan, Heinrich IV. (2. Teil), Heinrich VI. (3. Teil). Was ihr wollt, Viel Lärmen um nichts, Troilus und Cressida. Gesamt Danton 3. Goethe (außer Dichtg und Wahrheit zu Lenz) 173
Lenz
LuL
Wzeck
80
54
21
18
Faust I
43
12
11
8
12
Werther
48
15
25
8
0
Egmont
41
38
0
3
0
Götz von Berlichingen
20
12
0
2
6
Dichtung und Wahrheit
9
2
7
0
0
Wilhelm Meisters Lehrjahre
7
0
7
0
0
Wahlverwandtschaften
5
1
4
0
0
Hinzu kommen 16 weitere kleine Erwähnungen, z. B. von Goethes kommentierender Übersetzung von Diderots Versuch über die Mahlerey in Danton’s Tod I/1. Gesamt
Danton
Lenz
LuL
Wzeck
4. Tieck
110
42
37
24
9
William Lovell
23
12
5
6
0
Abdallah
19
13
5
1
0
Aufruhr in den Cevennen
18
13
5
0
1
Der gestiefelte Kater
20
0
8
11
1
Dichterleben
6
3
0
3
0
Der blonde Eckbert
8
0
6
1
1
Runenberg
9
0
8
1
0
Karl v. Berneck
2
1
0
1
0
56
B. Dedner
Außerdem vereinzelte mögliche Anregungen aus Liebesgeschichte der schönen Magelone, Das Ungeheuer und der verzauberte Wald, Fortunat, Zerbino, Peter Leberecht, Franz Sternbald’s Wanderungen, Die verkehrte Welt, Der Abschied u. a. Danton
Lenz
LuL
Wzeck
5. Jean Paul
68
9a
4
51
4
Titan
19
2
1
16
0
Hesperus
18
2
2
14
0
Siebenkäs
12
1
1
8
2
Kampaner Thal
6
4
0
2
0
Flegeljahre
7
0
0
5
2
Quintus Fixlein
6
0
0
6
0
aZwischen Danton’s Tod und Jean Pauls Werken bestehen weitere kleinere Übereinstimmungen, gelegentlich sogar verblüffender Art. Jedoch sind sie über Jean Pauls umfangreiches Werk auffällig verstreut und erlauben im Einzelfall keinen sicheren Schluss auf unmittelbare ‚Anregung‘
Sehr häufig genannt werden Stellen als „ähnlich“ oder „belegt bei“ aus: Titan, Hesperus, Siebenkäs, Flegeljahre, Kampaner Tal, Quintus Fixlein, Vorschule der Ästhetik; in geringerem Maße außerdem Dr. Katzenbergers Badereise, Die unsichtbare Loge, Schulmeisterlein Wuz, Der Komet. Gesamt
Danton
Lenz
LuL
Wzeck
6. Heine
69
15
2
47
5
Reise von München nach Genua
15
3
1
8
3
Ideen. Das Buch Le Grand
13
2
0
11
0
Bäder von Lukka
11
0
1
9
1
Harzreise
9
1
0
7
1
Buch der Lieder
8
6
0
2
0
Zur Geschichte der Religion und Philosophie
7
3
0
4
0
Geschichte der neueren schönen Literatur
6
0
0
6
0
Außerdem: De l’Allemagne depuis Luther (3), Memoiren des Herren von Schnabelewopski (3), Französische Maler (2), Briefe aus Berlin (2).
7. J. M. R. Lenz
Gesamt
Danton
Lenz
LuL
Wzeck
65
8
29
8
20
Die Soldaten
23
0
1
4
18
Anmerkungen übers Theater
10
1
9
0
0
Der Waldbruder
9
3
5
1
0
Der Hofmeister
7
3
1
1
2
Lektürespuren in Büchners literarischen Werken
Zerbin oder die neuere Philosophie
57
Gesamt
Danton
Lenz
LuL
Wzeck
5
1
2
2
0
Gedichte
3
0
3
0
0
Der neue Menoza
5
0
5
0
0
Pandaemonium germanicum
3
0
3
0
0
Außerdem: Der Landprediger, Der Engländer, Veränderung des Theaters im Shakespeare (je 2). Gesamt
Danton
Lenz
LuL
Wzeck
8. Schiller
46
21
1
18
6
Die Räuber
14
10
1
1
2
Maria Stuart
11
1
0
10
0
Wallenstein’s Tod
5
3
0
2
0
Wallenstein’s Lager
4
4
0
0
0
Kabale und Liebe
5
2
0
2
1
Fiesko
7
1
0
3
3
Gesamt
Danton
Lenz
LuL
Wzeck
9. Musset (außer Fantasio)
38
11
0
27
0
Lorenzaccio
18
11
0
7
0
On ne badine pas avec l’amour
5
0
0
5
0
La Nuit vénitienne
3
0
0
3
0
Les Caprices de Marianne
5
0
0
5
0
La Confession d’un enfant du siècle
3
0
0
3
0
Gamiani ou Une nuit d’excès
4
2
0
2
0
A quoi rêvent les jeunes filles
1
0
0
1
0
Schwer bestimmbar in ihrem Status sind die möglichen Anregungen aus Mussets Drama Lorenzaccio, das gemeinsam mit Les caprices de Marianne erstmals im ersten Band der Sammlung Un spectacle dans un fauteuil 1834 veröffentlicht wurde. Gesamt
Danton
Lenz
LuL
Wzeck
10. Brentano (außer Ponce in Leonce und Lena)
33
12
1
18
2
Godwi
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Märchen
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Des Knaben Wunderhorna
8
7
0
1
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aDes Knaben Wunderhorn. Es ist nicht immer entscheidbar, ob Büchner Lieder aus dieser Sammlung oder aus anderen, z. B. mündlichen, Quellen kannte
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B. Dedner
11. Eichendorff
Gesamt
Danton
Lenz
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Wzeck
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Ahnung und Gegenwart
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Krieg den Philistern
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Dichter und ihre Gesellen
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Aus dem Leben eines Taugenichts
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Gedichte
4
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0
3
Danton
Lenz
Gesamt
LuL
Wzeck
12. E. T. A. Hoffmann
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2
2
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Kater Murr
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Elixiere des Teufels
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Der Sandmann
4
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Meister Floh
3
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3
0
Im Wesentlichen – so ergeben diese Tabellen – stimmen die Äußerungen der Zeitgenossen über Büchners Lektüre mit unseren eigenen Recherchen zu literarischen Anregungen in Büchners Texten überein. Büchner kannte und nutzte die ‚Hauptromantiker‘, wobei der gelegentlich in der Büchner-Forschung genannte Novalis in unseren Recherchen keine Rolle spielt. Tieck ist unter diesen Romantikern im engeren Sinne der Favorit und dabei vertreten sowohl mit den heiteren als auch den düsteren Facetten seines Werkes. Mit deutlichem Abstand folgen Brentano, Hoffmann und Eichendorff. Zu der romantisch kanonisierten Literatur gehören selbstverständlich sowohl der von den Romantikern ‚eingedeutschte‘ Shakespeare als auch Goethe, vor allem der Goethe der vorklassischen Periode, daneben der Stürmer und Dränger Jacob Lenz, dem Büchner unter anderem für Woyzeck entscheidende dramentechnische Anregungen verdankt. Fast gleichrangig neben Tieck steht der in den 1820er Jahren noch sehr populäre Jean Paul. Büchner kannte und nutzte Schillers Werke – zum Teil übrigens in parodistischer Absicht. Aus der aufklärerischen Epoche ist allenfalls noch Wieland präsent. Unter den zeitgenössischen Schriftstellern hat vor allem Heine Spuren hinterlassen, daneben der französische Romantiker Musset, nicht aber Victor Hugo, den Büchner, um Geld zu verdienen, übersetzte, ohne ihn indes zu schätzen. Auffällig ist an diesen Listen, dass sie nur Namen enthalten, die zum literarischen Kanon gehören. Diese Beschränkung auf Kanonliteratur resultierte in früheren literaturwissenschaftlichen Untersuchungen einfach daraus, dass die Wissenschaftler nur Kanonliteratur kannten und deshalb bei ihren Recherchen auch nur Anleihen aus der Kanonliteratur finden konnten. Die Ergebnisse der Marburger Büchner Ausgabe beruhen dagegen bereits auf elektronischen Recherchen, für die dieser Tunnelblick nicht mehr gilt, und bei den Recherchen zu Büchners Schülerschriften
Lektürespuren in Büchners literarischen Werken
59
gerieten durchaus auch heute unbekannte Autoren ins Blickfeld. Anscheinend lernte der erwachsene Büchner demnach fast nur von erstrangigen Autoren und nutzte die zweitrangigen (lyrische Texte von Hauff, Schenkendorf, Salis-Seewis) allenfalls punktuell für parodistische Zwecke. Büchner wurde literarisch sozialisiert gegen Ende der romantischen Periode, er war außerordentlich belesen, und soweit er das Gelesene in seinen eigenen Werken verarbeitete, war es romantischen Ursprungs entweder im engeren (Tieck, Brentano, Eichendorff, Hoffmann, Heine, Musset) oder im weiteren Sinne (Schlegels Shakespeare, Goethe, Jean Paul, Lenz).
3 Tieckspuren in Danton’s Tod William Shakespeare – darüber waren sich alle Freunde aus der Schulzeit und der ansonsten kenntnisreichste Zeuge Ludwig Büchner einig – war Büchners Lieblingsdichter. Er hat zugleich die meisten Spuren in Büchners Werk hinterlassen, gefolgt von Goethe. Der dritte in der Reihe der Anreger war Ludwig Tieck, was auch – wie oben gezeigt wurde – von einigen Zeitgenossen schon bemerkt wurde. Es mag deshalb lohnen noch einmal zusammenzufassen, was wir über Büchners Beeinflussung durch Tieck wissen. Die Untersuchung umfasst mehrere Kapitel. Zunächst geht es in Danton’s Tod um die Indifferenzformel „Es läuft alles auf eins hinaus“, für die es in Büchners Werke viele Beispiele gibt (Abschn. 3.1.1.). Eines der Büchner dabei anregenden Werke ist sicher Tiecks früher Roman William Lovell (Erstdruck 1795/1796). Es folgen Anregungen aus Tiecks früher Erzählung Abdallah (Erstdruck 1795), die sich wiederum in Danton’s Tod konzentrieren (Abschn. 3.1.2.).14 Diese beiden Tieck-Entlehnungen sind auch insofern bemerkenswert, als sie uns zu dem in den 1930er bis 1950er Jahren dominierenden Bild des nihilistischen Büchner zurückführen (Abschn. 3.1.3.). Im nächsten Kapitel zu Lenz geht es zunächst um das Motiv „Verstörung in freier Natur“ (Abschn. 3.2.1.), dann um die Beruhigungsphase in der Erzählung (Abschn. 3.2.2.) und schließlich um verstörende religiöse Erfahrungen (Abschn. 3.2.3.), die Büchner deutlich in Anlehnung an Tiecks Erzählung Aufruhr in den Cevennen gestaltete. Der abschließende kurze Blick auf Tieckspuren in Woyzeck (Abschn. 3.3.) bestätigt im Wesentlichen die bereits bekannte gelegentliche Anlehnung Büchners an die Technik der romantischen Schauerliteratur.
3.1 Die Vieldeutigkeit der Indifferenzformel Das ist sehr langweilig immer das Hemd zuerst und dann die Hosen drüber zu ziehen und des Abends in’s Bett und Morgens wieder heraus zu kriechen und einen Fuß immer so vor den andern zu setzen, da ist gar kein Absehens wie es anders werden soll. Das ist sehr
14Vgl.
hierzu auch meinen Aufsatz „Verführungsdialog und Tyrannentragödie. Tieckspuren in Dantons Tod“. In: Vf., Ursula Hofstätter (Hrsg.): Romantik im Vormärz. Marburg 1991, S. 31–90.
60
B. Dedner traurig und daß Millionen es schon so gemacht haben und daß Millionen es wieder so machen werden und, daß wir noch obendrein aus zwei Hälften bestehen, die beyde das Nämliche thun, so daß Alles doppelt geschieht. Das ist sehr traurig. (MBA 3.2, S. 30)
Mit diesen Worten antwortet Büchners Danton gleich zu Beginn des 2. Aktes auf den drängenden Satz seines Freundes Camille: „Rasch Danton wir haben keine Zeit zu verlieren.“ Auf die Aufforderung, sich für die Opfer der terreur politisch zu einzusetzen, reagiert er gleich danach mit den zynischen Worten: Sie haben Unglück, kann man mehr verlangen um gerührt, edel, tugendhaft oder witzig zu seyn oder um überhaupt keine Langeweile zu haben? Ob sie nun an der Guillotine oder am Fieber oder am Alter sterben? (MBA 3.2, S. 32)
In seiner Essaysammlung Ästhetik des Augenblicks (1999) nannte Bruno Hillebrand Dantons Langeweile-Replik eine „Collage des Fundamentalnihilismus […] vierzig Jahre später“.15 Die Zeitangabe bezieht sich nicht etwa auf das Jahr 1794, das Todesjahr des Georges Danton, sondern auf 1795, das Jahr, in dem Ludwig Tieck Die Geschichte des Herrn William Lovell (Erstdruck 1795/1796) publizierte. Hillebrand nennt Lovell dieses „prophetische Buch“ und fasst dessen Bedeutung so zusammen: „Der Idealismus hatte seine Tragfähigkeit verloren, aus den Höhen der Selbstvergötterung als einem extremen Subjektivismus stürzte das Ich ins Nichts, in die Leere, in die Verzweiflung.“16 Eben diesen Sturz ins Nichts konstatiert Hillebrand auch bei Büchner – hier in Danton’s Tod und danach vor allem bei dem Prinzen Leonce aus Büchners Lustspiel. Tatsächlich fand Büchner in Lovell Stellen wie die folgende: Ich spiele viel […]. Ist nicht alles, was wir Genuß der Seele nennen, etwas das darauf hinausläuft. Ob ich mit Worten oder Karten, Definitionen, Würfeln oder Versen spiele, gilt das nicht alles gleich?17
15Bruno
Hillebrand: Ästhetik des Augenblicks. Der Dichter als Überwinder der Zeit – von Goethe bis heute. Göttingen 1999, S. 41. 16Ebd., S. 35. 17Ludwig Tieck: Schriften. 28 Bde. Berlin 1828–1854; zit. nach dem Reprint Berlin 1966; hier: Tieck: Schriften VII, S. 183. Nachweise im Folgenden im Text. – Wir können übrigens sicher sein, dass Büchner diesen insgesamt sehr düsteren Brief kannte, denn er enthält auch die Schilderung einer Seefahrt bei heftigstem Sturm mit einem eindringlichen Bild von Todesängsten, das Büchner dann nach Danton’s Tod übernahm. Mit Entsetzen denkt Lovell unter anderem an das „einsame Krankenbette, in das der Tod nach und nach mit hineinkriecht, sich mit uns unter einer Decke verbirgt und so vertraulich thut.“ (Tieck: Schriften VII, S. 185) Büchners Camille Desmoulins fühlt sich bei der „in allen Formalitäten“ immer näher rückenden Hinrichtung „wie bey der Hochzeit mit einem alten Weibe, wie die Pakten aufgesetzt, wie die Zeugen gerufen, wie das Amen gesagt und wie dann die Bettdecke gehoben wird und es langsam hereinkriecht mit seinen kalten Gliedern!“ (MBA 3.2, S. 63) Mit dem Gedanken an die erzwungene Hochzeit gewinnt Büchner dem Bild eine Pointe ab, die bei Tieck noch fehlt. Sie macht den Horror einerseits anschaulicher, und doch mindert der witzige Vergleich einiges von dem Schrecken. Dies, so scheint mir, gilt häufig für Büchners Gebrauch der gegen Ende der romantischen Periode schon allgemein bekannten Indifferenzformeln.
Lektürespuren in Büchners literarischen Werken
61
„Genuß der Seele“ ist das Ziel, das alle menschlichen Tätigkeiten bestimmt und von dem aus allein sie ihren Wert erhalten. Die Seele, so stellt sich dabei heraus, genießt alles Abwechslungsreiche, Überraschende, Unvorhersagbare und Zufällige, deshalb eben das Spiel, und in dieser Hinsicht ist das Kartenspiel anderen Spielen – genannt werden die Spiele der Philosophen oder der Poeten – gleichrangig oder überlegen. Dem „Genuß der Seele“ entgegen stehen Gleichgültigkeit und Langeweile als primäre Daseinsstimmungen. Alles Spiel und jede Art von Genuss sind notwendig zum Ausfüllen der leeren Zeit: Es ist alles nur um die Zeit auszufüllen […], eine Sucht, die bei der Geburt unserer Seele eingeimpft ist – denn sonst würde schon der Knabe die Augen zumachen, sich vom langweiligen Schauspiel entfernen und sterben. (4. Buch, 5. Brief; Tieck, Schriften VI, S. 221)
Auch reduziert Lovell alle Verhaltensweisen auf Theaterrollen: Die Menschen sind mir nichts als schlechte Komödianten, Tugendhelden oder witzige Köpfe, Liebhaber oder zärtliche Väter, nachdem es ihre Rolle mit sich bringt. (5. Buch, 1. Brief; Tieck, Schriften VI, S. 320)
Der locus classicus dessen, was ich hier Indifferenzformel nenne, findet sich in Werthers Satz im Brief vom 20. Julius. Die Mutter hat Werther gedrängt, eine Stelle bei einem Gesandten an einem Hof anzunehmen, denn sie will ihren Sohn „in Activität haben“. Werther reagiert so: Bin ich jetzt nicht auch activ? und ist’s im Grunde nicht einerlei, ob ich Erbsen zähle, oder Linsen? Alles in der Welt läuft doch auf eine Lumperey hinaus, und ein Mensch, der um anderer willen, ohne daß es seine eigene Leidenschaft, sein eigenes Bedürfnis ist, sich um Geld oder Ehre oder sonst was abarbeitet, ist immer ein Tor.18
Im Gesamtbild des Romans ist diese Indifferenzformel sicher Teil von Werthers „Krankheit zum Tode“. An der Stelle selbst aber wehrt sich Werther zunächst nur gegen die Zumutung, eine bestimmte Arbeit anzunehmen, obwohl er dies weder will noch muss und obwohl er attraktivere Formen von Aktivität gefunden hat. Was Werther von seiner Umwelt fordert, ist Toleranz für seinen Entwurf der Selbstverwirklichung. Zwanzig Jahre später in Tiecks William Lovell hat die Formel freilich alles Widerständige oder gar Verheißungsvolle verloren. Als typischer englischer Melancholiker kämpft Lovell gegen das Gespenst der leeren Zeit, und die Formel ist ein Ausdruck seiner Depressivität oder – wenn man so will – Ausdruck von Nihilismus. Auch Danton ist deprimiert, und zwar aus gutem Grund. Er hat den Tag zuvor mit dem vergeblichen Versuch verbracht, politische Verbündete im Kampf gegen Robespierre zu finden, und ist jetzt sicher, dass er den Kampf ver-
18Johann
Wolfgang Goethe: Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand. Tübingen 1827–1842; hier Bd. XVI, S. 56 f.
62
B. Dedner
loren hat. Für ihn wird niemand einen Finger krümmen. Camille zufolge bringt er seine Rede „in einem ganz kindlichen Ton“ vor; Danton zufolge ist es der Ton eines „Sterbenden“ (MBA 3.2, S. 30). Auch bei Lenz begegnet die Indifferenzformel als Ausdruck von Depressivität. Auf Pfarrer Oberlins Aufmunterungsversuche reagiert Lenz mit folgender Litanei: ja wenn ich so glücklich wäre, wie Sie, einen so behaglichen Zeitvertreib aufzufinden, ja man könnte sich die Zeit schon so ausfüllen. Alles aus Müssiggang. Denn die Meisten beten aus Langeweile; die Andern verlieben sich aus Langeweile, die Dritten sind tugendhaft, die Vierten lasterhaft und ich gar nichts. (MBA 5, S. 44)
An schwerer Depression leidende Menschen sind meines Wissens alles andere als witzig, und deshalb erscheint mir Büchners Verwendung der Formel an dieser Stelle wie ein Fremdkörper in einer sonst eindrucksvoll glaubwürdigen Darstellung und damit als Bekräftigung der These, dass es sich bei diesem Teil der Erzählung noch um einen ersten Entwurf handelt.19 Einen besseren Platz fand die Tirade im Lustspiel Leonce und Lena, das mit einer an Werther erinnernden Situation einsetzt. Prinz Leonce hat einen „Hofmeister“ neben sich, der ihn auf „[s]einen Beruf vorbereiten“ soll. Leonce hat daran kein Interesse, redet von den unsinnigen Aktivitäten, die ihn beschäftigt halten, schickt den ungebetenen Aufseher fort und ergeht sich in weiteren Tiraden über menschliche Beschäftigungen, die nur der Füllung der leeren Zeit dienen: Müßiggang ist aller Laster Anfang. Was die Leute nicht Alles aus Langeweile treiben! Sie studiren aus Langeweile, sie beten aus Langeweile, sie verlieben, verheirathen und vermehren sich aus Langeweile und sterben endlich aus Langeweile, und – und das ist der Humor davon – Alles mit den wichtigsten Gesichtern, ohne zu merken, warum, und meinen Gott weiß was dazu. Alle diese Helden, diese Genies, diese Dummköpfe, diese Heiligen, diese Sünder, diese Familienväter sind im Grunde nichts als raffinirte Müßiggänger. (MBA 6, S. 100)
Das den Monolog einleitende Sprichwort20 dient normalerweise der Begründung der Arbeitsethik; hier dient sie dem Zweck, jeglichen Sinn von Arbeit zu negieren – außer eben der Vertreibung von Langeweile. Zugrunde liegt – wie schon bei Tieck – die anthropologische Beobachtung, dass der Mensch leere Zeit und Langeweile nicht ertragen kann. An anderen Stellen zieht Büchner aus dieser Beobachtung witzige Pointen. Zu ihnen gehört in Danton’s Tod Paynes neuartige Erklärung für die Entstehung und Fortdauer des alttestamentlichen Schöpfermythos:
19Vgl.
dazu MBA 4, S. 145–161. dem in vielen Variationen verbreiteten Sprichwort (Deutsches Sprichwörterlexikon III, S. 791–794) gewinnt auch der ‚Wirth‘ in Tiecks Der gestiefelte Kater eine Pointe: er zieht es vor zu lügen, da er sonst sterben müßte und da ihm der Tod Freiheit von seiner harten Arbeit, also ‚Müßiggang‘ und damit ‚aller Laster Anfang' bringen würde (Tieck: Schriften V, wie Anm. 17, S. 256–258).“ So MBA 6, S. 434.
20„Aus
Lektürespuren in Büchners literarischen Werken
63
Ist’s nicht sehr menschlich, uns Gott nur als schaffend denken zu können? Weil wir uns immer regen und schütteln müssen um uns nur immer sagen zu können: wir sind! müssen wir Gott auch dieß elende Bedürfniß andichten? Müssen wir, wenn sich unser Geist in das Wesen einer harmonisch in sich ruhenden, ewigen Seeligkeit versenkt, gleich annehmen sie müsse die Finger ausstrecken und über Tisch Brodmännchen kneten? (MBA 3.2, S. 49)
Und in Leonce und Lena predigen der Hofprediger und der Narr Valerio gemeinsam so: Valerio. Es war vor Erschaffung der Welt – Hofprediger. Daß – Valerio. Gott lange Weile hatte – (MBA 6, S. 122)
Worauf alles „hinausläuft“, ist Lovell zufolge der „Genuß der Seele“. Nun ist die Reduktion aller Aktivitäten auf „Genuß“ letztlich ein epikureisches Argument. Bei Lovell ist es Ausdruck seiner Depressivität oder seines Nihilismus, aber das ist keineswegs notwendig. In der amerikanischen „Declaration of Independance“ gilt „the pursuit of happiness“ nach Leben und Freiheit als drittes menschliches Grundrecht, und Büchner bringt dieses Recht gleich zu Anfang von Danton’s Tod in Stellung gegen das römisch-stoisch geprägte Programm der Robespierre-Fraktion. Hérault setzt ein mit dem Satz: „Jeder muß in seiner Art genießen können“ und Camille Desmoulins folgt ihm mit dem Aufruf: Wir wollen nackte Götter, Bachantinnen, olympische Spiele und melodische Lippen: ach, die gliederlösende, böse Liebe! Wir wollen den Römern [d. h. den Jakobinern um Robespierre] nicht verwehren sich in die Ecke zu setzen und Rüben zu kochen aber sie sollen uns keine Gladiatorspiele mehr geben wollen. (MBA 3.2, S. 6)
Einige Szenen später greift die Prostituierte Marion das Thema auf mit: Es läuft auf eins hinaus, an was man seine Freude hat, an Leibern, Christusbildern, Blumen oder Kinderspielsachen, es ist das nemliche Gefühl, wer am Meisten genießt, betet am Meisten. (MBA 3.2, S. 19 f.)21
Während der „Genuß der Seele“ für Tiecks Lovell ein mit gravierenden Nebenwirkungen verbundenes Schmerzmittel gegen die Langeweile war, ist es jetzt ein zu erkämpfendes menschliches Grundrecht, wenn nicht Teil eines utopischen Programms, das Büchner zum Teil mit Anleihen an Heinrich Heines gleichzeitige
21Vgl.
auch die Variante der Indifferenzformel in Heines Pantheismus-Kritik: „Wenn alles Gott ist, so ist es ganz gleich womit man sich beschäftigt, ob mit Wolken oder mit antiken Gemmen, ob mit Volksliedern oder mit Affenknochen, ob mit Menschen oder mit Comödianten“ (Heine: Romantische Schule. Düsseldorfer Heine Ausgabe VIII, S. 154).
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B. Dedner
Kampagne für den „Sensualismus“ und gegen einen jüdisch-christlich-stoischjakobinischen „Spiritualismus“ formuliert. Erhalten geblieben ist die Indifferenzformel. Dass alles „auf eins hinausläuft“, gilt noch immer, aber im Angebot sind jetzt „Leiber, Christusbilder, Blumen oder Kinderspielsachen“, und die Gleichgültigkeit ergibt sich nicht mehr aus der Nichtigkeit der Gegenstände, sondern aus der Beobachtung, dass Geschmäcker verschieden sind und jeder „in seiner Art“ genießt. Von diesen Genießenden ist zu fordern, dass sie einander mit Toleranz begegnen. Solange Marion ihre „Freude an Leibern“ befriedigen kann, wird sie niemandem die „Freude an Christusbildern“ verderben. Für diese Einforderung von Toleranz hier noch ein letztes Beispiel: Danton – der historische ebenso wie Büchners Dramenfigur – gab in den letzten Stunden vor der Hinrichtung noch Kernsprüche zur politischen Lage zum Besten, die von Mitgefangenen später der Nachwelt überliefert wurden. Camille Desmoulins macht sich über diese fast schon postume Imagepflege, dieses ‚Grimassenschneiden‘ im Angesicht des Todes, lustig und sagt mit Blick auf Danton: Er zieht ein Gesicht, als solle es versteinern und von der Nachwelt als Antike ausgegraben werden. […] wir Alle sind Schurken und Engel, Dummköpfe und Genie’s und zwar das Alles in Einem […]. Schneidet nur keine so tugendhafte und so witzige und so heroische und so geniale Grimassen. (MBA 3.2, S. 75)
Hérault sekundiert ihm: Ja Camille, wir wollen uns beieinandersetzen und schreien, nichts dummer als die Lippen zusammenzupressen, wenn einem was weh thut. Griechen und Götter schrieen, Römer und Stoiker machten die heroische Fratze. (MBA 3.2, S. 76)
Aber der „Epicuräer“ Danton, der jetzt angesichts der Hinrichtung den Stoiker spielt, hat in diesem Streit doch das letzte Wort. Ob schreien, ob „heroische Fratzen“ schneiden – beides sind Strategien im Umgang mit der Todesangst. Die Einen waren so gut Epicuräer wie die Andern. Sie machten sich ein ganz behagliches Selbstgefühl zurecht. Es ist nicht so übel seine Toga zu drapieren und sich umzusehen ob man einen langen Schatten wirft. Was sollen wir uns zerren? Ob wir uns nun Lorbeerblätter, Rosenkränze oder Weinlaub vor die Schaam binden, oder das häßliche Ding offen tragen und es uns von den Hunden lecken lassen? (MBA 3.2, S. 76)
So hat die Reduktionsschraube des Epikureismus noch einmal das letzte Wort.
3.2 Ethische und religiöse Provokationen in Danton’s Tod Mehr noch als William Lovell hat Tiecks längere Erzählung Abdallah (Erstdruck 1795) Spuren in Büchners Revolutionsdrama hinterlassen, und auch sie wurden später genutzt, um Büchner zum Nihilisten zu machen. Ich unterscheide hier vier
Lektürespuren in Büchners literarischen Werken
65
Aspekte: das Leugnen der Tugend, das Dogma menschlicher Handlungsfreiheit, der Horror der Unsterblichkeit, die Welt als Sadismusmaschine.
3.2.1 Vom Leugnen der Tugend Hauptakteur in Tiecks Erzählung ist Omar, der einst in seiner Verzweiflung einen Teufelspakt abschloss, der ihm dann unendliche Qualen brachte. Von diesen kann er sich nur befreien, wenn er einen bis dahin untadeligen Jüngling – den jungen Abdallah – moralisch so weit korrumpiert, dass er seinen Vater ohne jeden Zwang einem mörderischen Tyrannen ausliefert. An die Spitze seiner korrumpierenden Argumentation stellt der Verführer das schon genannte ‚epikureische‘ Argument, Genießen sei die einzige naturgegebene Bestimmung des Menschen. Ein großer Schwung wälzt sich durch alle Theile der Natur; durch alle Wesen klingt ein Thon; eine Kraft drängt sie zu einem Mittelpunkt: Genuß! (Tieck, Schriften VIII, S. 7)
Die Unterscheidung von Gut und Böse, so der zweite Argumentationsschritt, hat keinen Grund in der Natur, sondern beruht auf zufälligen gesellschaftlichen Setzungen. Tugend […] nur ein Schatten? – Der Lasterhafte und der Edle ständen hier in einer Reihe? (ebd.)
fragt der junge Abdallah und der Verführer antwortet: Strafe, – Belohnung, – Tugend, – Laster. – Wenn ich dich fragte, wo du die Scheidewand zwischen Tugend und Laster gründetest, du würdest um eine Antwort verlegen sein. (Tieck, Schriften VIII, S. 9 f.)
Warum, so das dritte Argument, nimmt ein Mensch die Mühen auf sich, die mit einem tugendhaften Leben einhergehen? Weil er Vergnügen daran findet, sich „für besser als tausend andre“ zu halten: es ist dir genommen und du sinkst zu den übrigen Menschen hinab. Aus Eigennutz bist du unzufrieden und bildest dir ein, es geschehe der Tugend wegen. (Tieck, Schriften VIII, S. 22)
Mit diesen Argumenten ist Omar offenbar ein Mann, der die „Tugend läugnet“, eine Formulierung, die Tieck ebenfalls in Abdallah verwendet: „Der Lasterhafte, der die Tugend läugnet, wird nicht gehört“ (Tieck, Schriften VIII, S. 28).22 Die Ähnlichkeiten zu Danton’s Tod scheinen mir unübersehbar. Robespierres Frage „Du leugnest die Tugend?“ (MBA 3.2, S. 25) bejaht Danton mit der Antwort:
22Vgl.
auch Prinz Zerbino (Tieck: Schriften X, wie Anm. 17, S. 66): „Einen Mann, der die Tugend läugnet, sollte man vermeiden“.
66
B. Dedner
„Und das Laster“. Auf Robespierres Satz: „Das Laster muß bestraft werden, die Tugend muß durch den Schrecken herrschen“ antwortet Danton: „Ich verstehe das Wort Strafe nicht“. Und wie Tiecks Verführer Tugend auf die eigennützige Freude daran zurückführt, anderen überlegen zu sein, so sagt Danton: Ich würde mich schämen 30 Jahre lang mit der nämlichen Moralphysiognomie zwischen Himmel und Erde herumzulaufen bloß um des elenden Vergnügens willen Andre schlechter zu finden, als mich. (MBA 3.2, S. 24)
Schließlich reduziert Danton alle menschlichen Handlungen auf ein epikureisches Grundprinzip: Es giebt nur Epicuräer und zwar grobe und feine […]. Jeder handelt seiner Natur gemäß d. h. er thut was ihm wohl thut. – Nicht wahr Unbestechlicher, es ist grausam dir die Absätze so von den Schuhen zu treten. (MBA 3.2, S. 25)
All dies sind, wie schon der letzte Satz zeigt, Provokationen an die Adresse Robespierres. Jedoch sollen wir von diesen Provokationen annehmen, dass der Angegriffene sie nicht einfach abtun kann. „Mir die Absätze von den Schuhen treten!“ so wiederholt Robespierre – offenbar betroffen – in einem anschließenden Monolog einen Satz aus Dantons Attacke. Und doch bleibt die Geltung dieser antimoralischen Argumente unentschieden, denn sie sind geeignet, jede Schurkerei zu rechtfertigen. Am Ende der Erzählung begeht Abdallah, in der Hoffnung, seine Geliebte zur Frau zu bekommen, Verrat am eigenen greisen Vater und legitimiert sein horrendes Verbrechen mit dem Satz: „Er verliert hier nichts, er kann im Tode nur gewinnen“ (Tieck, Schriften VIII, S. 185). Genauso beruhigt sich in Danton’s Tod der mit epikureischen Argumenten daherkommende Schurke Laflotte über seine Denunziation eines Mithäftlings: „Er ist doch verloren. Was ist’s denn, wenn ich auf eine Leiche trete um aus dem Grab zu klettern?“ (Danton’s Tod III/5; MBA 3.2, S. 57)
3.2.2 Handlungsfreiheit Zu den nicht begründbaren und doch nicht ernsthaft in Frage gestellten Gewissheiten unseres Rechtssystems gehört die Annahme, der Mensch sei in seinen Handlungen frei. In Danton’s Tod erfahren Saint Just, Robespierre und Danton dagegen das Phänomen des Handeln-Müssens – allerdings auf je unterschiedliche Art. Saint Just lebt in dem stolzen Bewusstsein, Werkzeug des Weltgeistes zu sein: Der Weltgeist bedient sich in der geistigen Sphäre unserer Arme eben so, wie er in der physischen Vulcane oder Wasserfluthen gebraucht. (MBA 3.2, S. 46)
Robespierre kämpft für eine Idee, die Republik. Diese Idee verlangt Opfer, in diesem Falle Danton. Den Grund für diese Notwendigkeit muss sich Robespierre freilich erst mühsam ins Gedächtnis zurückrufen:
Lektürespuren in Büchners literarischen Werken
67
„Ist’s denn so nothwendig. Ja, ja! die Republik! Er muß weg.“ (MBA 3.2, S. 26)
In Tiecks Erzählung ist Abdallah in Pläne zum Tyrannensturz verwickelt. Dabei bedient er sich ebenfalls des von Robespierre vorgebrachten Arguments: wir sind die Retter unsers Vaterlandes, […] wir w o l l e n nicht die Krone von Ali’s Haupte reissen, wir m ü s s e n es, […] die Nothwendigkeit reicht uns den blutigen Dolch. (Tieck, Schriften VIII, S. 39)
Danton, der unter dem Trauma der Septembermorde leidet, muss sich die Notwendigkeit dieser verbrecherischen Handlungen von Julie sagen lassen. Auf ihre ermunternde Einhilfe „Du hast das Vaterland gerettet“ antwortet er: Ja das hab’ ich, das war Nothwehr, wir mußten. Der Mann am Kreuze hat sich’s bequem gemacht: es muß ja Aergerniß kommen, doch wehe dem, durch welchen Aergerniß kommt. Es muß, das war dieß Muß. Wer will der Hand fluchen, auf die der Fluch des Muß gefallen? Wer hat das Muß gesprochen, wer? […] Puppen sind wir von unbekannten Gewalten am Draht gezogen, nichts, nichts wir selbst! Die Schwerter, mit denen Geister kämpfen, man sieht nur die Hände nicht wie im Mährchen. (MBA 3.2, S. 41)23
Neben der Anspielung auf das Neue Testament ruft Danton die Vorstellung des blinden Fatums auf, das sich des Menschen als eines willenlosen Werkzeugs bedient. Die romantische Schicksalstragödie war beherrscht von dieser Vorstellung. Auch in Abdallah wird sie von Tieck ausführlicher ausgebreitet. Unser scheinbar mit sich selbst identisches Ich – so erläutert Omar seinem Zögling in einprägsamen Sätzen – ist eine zufällige und in ständigem Wechsel befindliche Anhäufung und Durchgangsstation fremder Materie und fremder Gedanken: Eigne Kraft ist uns versagt; was wir unsern Willen, unsern Vorsatz nennen, ist nur der Einfluß fremder Dinge, wir sind nur ein Stoff, an welchem fremde Kräfte sichtbar werden; ein großes Spiel von einer fremden Macht regiert. (Tieck, Schriften VIII, S. 13)
An späterer Stelle bezieht Abdallah diesen Gedanken auf seine eigene Situation: Ach und was vermag ich gegen das eiserne Schicksal? […] O dieser Gedanke selbst ist mir vor der Geburt schon vorgeschrieben, ich kann nichts als ihn nachdenken, – in den
23Allgemeiner
drückt Tieck diesen Gedanken vom Menschen als Marionette in William Lovell auch so aus: „Das Leben ist das allerlustigste und lächerlichste, was man sich denken kann; alle Menschen tummeln sich wie klappernde Marionetten durch einander, und werden an plumpen Dräthen regiert, und sprechen von ihrem freien Willen.“ (Tieck: Schriften VI, wie Anm. 17, S. 306).
68
B. Dedner ewigen Gesetzen liegt die Sünde, – die Hand mordet, die den Dolch ergreift, nicht das Werkzeug, das der größern Kraft wider Willen nachgeben muß. – O das ist ein Gedanke, der mich dem Wahnsinn entgegen führen könnte. […] ich muß, ich muß es vollbringen, und dann erst wird das Werkzeug aus den Händen gelegt. (Tieck, Schriften VIII, 188 f.)
Es gibt in diesem Fall keinen Sinnunterschied zwischen den Stellen in Abdallah und in Danton’s Tod. Tiecks Erzählung reflektiert hier möglicherweise bereits – ebenso wie vierzig Jahre später Büchners Drama – Ohnmachtserfahrungen, die mit der Französischen Revolution einhergingen.
3.2.3 Vom Horror der Unsterblichkeit Zu den kulturellen Gewissheiten gehörte weiterhin die Vorstellung, dass die Annahme einer unsterblichen Seele tröstlich sei. Sokrates diskutierte deshalb diese Annahme vor seiner Hinrichtung und dasselbe taten der Überlieferung zufolge die im Oktober 1793 hingerichteten girondistischen Abgeordneten. In Le dernier banquet des Girondins, einer Quelle für Danton’s Tod, hat Charles Nodier dargestellt, wie die Delinquenten in der Nacht vor der Hinrichtung im vollen Bewusstsein ihrer moralischen Integrität ihr Weiterleben nach dem Tode diskutierten. Den Dantonisten ist dieses stolze Bewusstsein abhandengekommen. Danton kämpft zwar einerseits um sein Leben; andererseits kann er die traumatisierende Erinnerung an die Revolutionsgreuel und seinen Anteil daran nicht auslöschen. Deshalb will er nicht nur sterben, sondern vernichtet werden, und schrecklich ist in dieser Perspektive nicht so sehr der Tod als vielmehr ein mögliches Weiterleben nach dem Tod. Büchner führt dieses Thema schon vor Dantons Verhaftung ein und motiviert damit, warum Danton die drohende Verhaftung dem Leben in einem sicheren Versteck, das man ihm angeboten hat, vorzieht. Danton erinnert sich an ein Gespräch über eine Krankheit, die einem das Gedächtniß verlieren mache. Der Tod soll etwas davon haben. Dann kommt mir manchmal die Hoffnung, daß er vielleicht noch kräftiger wirke und einem Alles verlieren mache. (MBA 3.2, S. 39)
So zieht er die wahrscheinliche Verhaftung und das „Grab“ gegenüber dem Versteck vor, denn mir giebt das Grab mehr Sicherheit, es schafft mir wenigstens Vergessen! Es tödtet mein Gedächtniß. Dort aber lebt mein Gedächtniß und tödtet mich.
Im III. Akt (7. Szene) greift Büchner das Thema wieder auf. Camille führt es ein mit dem Satz: „Oh nicht sterben können, nicht sterben können, wie es im Lied heißt“ (MBA 3.2, S. 64), also einem Zitat aus Christian Friedrich Daniel Schubarts „Der ewige Jude. Eine lyrische Rhapsodie“ (1783). Dort heißt es: S i e konnten sterben! – Aber ich, Verworfner, I c h kann nicht sterben! – Ach, das furchtbarste Gericht
Lektürespuren in Büchners literarischen Werken
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Hängt Schreckenbrüllend ewig über mir. – […] Ha! nicht sterben können! nicht sterben können!24
Danton gibt dem Thema dann zunächst eine andere Wendung, indem er den Unterschied zwischen Leben und Totsein negiert. Schon im Leben ist der Mensch eingesargt: Wir sind Alle lebendig begraben und wie Könige in drei oder vierfachen Särgen beygesezt, unter dem Himmel, in unsern Häusern, in unsern Röcken und Hemden. Wir kratzen 50 Jahre lang am Sargdeckel. (MBA 3.2, S. 64)
Das hat ein Vorbild sowohl in William Lovell wir irren in einem großen Gefängnisse umher, […] unsre Hand klopft an hundert eherne Thore, aber alle sind verschlossen und ein hohler Wiederhall antwortet uns (Tieck, Schriften VI, S. 148)
als auch in Abdallah: wir sind in einem ehernen Gewölbe eingeschlossen, wir sehen nichts, was wirklich ist […]. Wir tappen ängstlich umher – und finden nur die Wände, die uns eingeschlossen halten. (Tieck, Schriften VIII, S. 6)25
Bei Tieck stehen die Wände und Tore allerdings eher für die Schranken menschlicher Erkenntnis und weniger für die klaustrophobischen Ängste, von denen Danton spricht. Von ihnen geht Danton dann unmittelbar weiter zu der Angst, nicht sterben zu können. Zwar glaubt er als Atheist nicht an die Unsterblichkeit der Seele, wohl aber an die Unzerstörbarkeit der „Handvoll gemarterten Staubes“, aus dem er letztlich besteht, und er ist als Materialist gefangen in dem „verfluchten Satz“: „etwas kann nicht zu Nichts werden.“ Ja wer an Vernichtung glauben könnte! dem wäre geholfen. Da ist keine Hoffnung im Tod, er ist nur eine einfachere, das Leben eine verwickeltere, organisirtere Fäulniß, das ist der ganze Unterschied! (MBA 3.2, S. 64)
Dieser Albtraum ewiger Unvergänglichkeit gehört zu den Höhepunkten in Tiecks schauerromantischer Erzählung Abdallah. Omar, der Verführer, erzählt hier selbst, wie er einst einen satanischen Geist aufsuchte in der Hoffnung, mit dessen Hilfe die menschliche Natur abstreifen zu können, wie er dann aber lernen musste, dass ebendies dem Menschen verwehrt ist. Er reagierte so:
24Büchner
vermutlich bekannt durch die Wiedergabe in dem Schulbuch von Karl Heinrich Ludwig Pölitz: Das Gesammtgebiet der teutschen Sprache nach Prosa, Dichtkunst und Beredsamkeit. Bd. I: Philosophie der Sprache. Leipzig 1825, hier S. 344 und 346. 25In Woyzeck (H2,6) verschiebt Büchner diese Wahrnehmung ins Pathologische: „Wenn die Welt so finster wird, daß man mit den Händen an ihr herumtappen muß“.
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B. Dedner Nun dann, sprach ich mit knirschender Verzweiflung, so bleibt mir keine Hoffnung übrig, als meine Vernichtung! ‚Vernichtung?‘ antwortete der Furchtbare und zog den Mund zum Grinsen […]. ‚Was i s t, kann nicht vernichtet werden […]. O! wenn V e r n i c h t u n g möglich wäre, wenn wir uns selber angehörten und beherrschten – o dann wäre noch Glück in seiner Schöpfung!‘ (Tieck, Schriften VIII, S. 106)
3.2.4 Die Welt als Sadismusmaschine Ein probates Mittel, sich über das Unglück in der Schöpfung hinwegzutrösten, wird in Krugs Allgemeinem Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften, das Büchner wahrscheinlich kannte, so dargestellt: Vielmehr beruhigt sich der Religiose bei dem Gedanken, daß er Gottes Wege nicht verstehe, und erhebt sich vom Sinnlichen, wo allein das Uebel heimisch ist, zum Uebersinnlichen, wo das Uebel wie ein Nichts verschwindet. Es würde ja schon den leiblichen Augen die Erde mit all ihrem Jammer verschwinden, wenn wir uns auf einen andern Punct des Weltalls versetzen könnten.26 Philippeau, der einzige „Religiose“ in der Gruppe um Danton, bemüht dieses Argument, während er auf den Karren wartet, der ihn zur Guillotine schaffen soll: Meine Freunde, man braucht gerade nicht hoch über der Erde zu stehen um von all dem wirren Schwanken und Flimmern nichts mehr zu sehen und die Augen von einigen großen, göttlichen Linien erfüllt zu haben. Es giebt ein Ohr für welches, das Ineinanderschreien und der Zeter, die uns betäuben, ein Strom von Harmonien sind. (MBA 3.2, S. 76)
Die Empörung der Mitgefangenen entlädt sich in vier Repliken, in denen die Welt mit einem jeweils anderen Bild als Sadismusmaschine beschrieben wird: Die Qual der Menschen, ihr „Ineinanderschreien und Zeter“, wird zur Quelle des Vergnügens, zum „Strom von Harmonien“ für die Götter. Eines der Bilder, die Büchner verarbeitet, scheint er von Jean Paul genommen zu haben, zwei andere von Tieck: Ein Kirchenpatron gibt seinem „ausgedienten Koch“ den Beruf des Schulmeisters, „weil es in diesem eben so gut wie in seinem vorigen, Spanferkel todt zu peitschen gab.“ Fußnote: „Die bekanntlich besser schmecken, wenn man sie mit Ruthenstreichen tödtet.“a) a)
„Hérault. Sind wir wie Ferkel, die man für fürstliche Tafeln mit Ruthen todtpeitscht, damit ihr Fleisch schmackhaer werde?“ (MBA 3,2, S. 76)
Jean Paul: Sämmtliche Werke. 60 Bde. Berlin 1826–1828, hier: Bd. III, S. 143.
26Wilhelm
Traugott Krug (Hrsg.): Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften, nebst ihrer Literatur und Geschichte. Nach dem heutigen Standpuncte der Wissenschaft bearbeitet. Leipzig 1827–1829. Bd. IV, S. 102.
Lektürespuren in Büchners literarischen Werken
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Das zweite Beispiel stammt aus Tiecks Shakespeare-Novelle „Dichterleben“. Tieck vergleicht dort das relativ harmlose „Vergnügen“, einen Neuankömmling in Verlegenheit zu setzen, mit einer Tischdekoration im römischen Reich:
„Bei den schwelgenden Römern war es Si e, Goldfische neben sich zu stellen, und an der Tafel sich am Wechselspiel der Farben, wie sich diese im Absterben wunderlich veränderten, zu ergötzen.“a)
„Camille. Ist denn der Aether mit seinen Goldaugen eine Schüssel mit Goldkarpfen, die am Tisch der seeligen Gö er steht und die seeligen Gö er lachen ewig und die Fische sterben ewig und die Gö er erfreuen sich ewig am Farbenspiel des Todeskampfes?“ (MBA 3.2, S. 77)b)
a) Tieck: Dichterleben. In: Urania. Taschenbuch auf das Jahr 1826. Leipzig 1826, S. 50. b) Das Beispiel der sterbenden Fische verwendet Büchner auch in Leonce und Lena (I/3): „O, eine sterbende Liebe ist schöner, als eine werdende. Ich bin ein Römer; bei dem köstlichen Mahle spielen zum Dessert die goldnen Fische in ihren Todesfarben. // Wie ihr das Roth von den Wangen srbt, wie sll das Auge ausglüht, wie leis das Wogen ihrer Glieder steigt und fällt!“ (MBA 6, S. 105)
Im dritten Falle wendet sich Tiecks William Lovell gegen den mörderischen Strom der Geschäftigkeit, dem wir schon die Kinder opfern: „Die höchste einzige Weisheit des Menschen ist: nicht diesem elenden Götzen zu opfern, dem, wie dem Moloch, alle unsre Kinder in die glühenden Arme gelegt werden.“ (Tieck, Schrien VI, S. 329)
„Danton. Sind wir Kinder, die in den glühenden Molochsarmen dießer Welt gebraten und mit Lichtstrahlen gekitzelt werden, damit die Göer sich über ihr Lachen freuen?“ (MBA 3.2, S. 77)
Es sind Anekdoten aus der Kulturgeschichte oder – so bei Jean Paul – ein satirischer Angriff auf spätfeudale Praktiken, die Büchner aufgreift und zu einem kosmologischen Bild überhöht. Das sagt – so scheint mir – wenig aus über Büchners Weltbild, aber viel über sein poetisches Verfahren, also über seine Fähigkeit sich einerseits wie in Woyzeck „in das Leben des Geringsten“ zu „senken“, andererseits aber auch extreme und grelle Bilder zu entwerfen. In diesem Falle entstehen diese Bilder aus der Strategie des provokativen Widerspruchs. Philippeau verwendet ein Argument aus der Theodizeetradition und entfacht damit eine Tirade von Schimpfreden auf die conditio humana, eine Gattung, die in Danton’s Tod auch sonst auftaucht. Jedes Beispiel exponiert eine Maschinerie des Sadismus, die das Leiden anderer in ein Genussmittel verwandelt. Totgepeitschte Ferkel sind besonders schmackhaft; Molochstatuen waren Verkörperungen der Sonne, und Priester übertönten mit Klanginstrumenten die Schmerzensschreie der in die glühenden Arme der Statue gelegten Opfer; sterbende Goldfische schließlich sind bunter als lebende.
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B. Dedner
3.3 Büchner als Nihilist? „Wenn wir aus dem Gesichtspunkte der sittlichen Einheit, als einem notwendigen Weltgesetze, die Ursache erwägen, die diesem allein […] für uns verbindende Kraft geben kann, so muß es ein einiger oberster Wille sein, der alle diese Gesetze in sich befaßt“,27 so begründete Kant die Notwendigkeit, einen Weltenlenker als „absolut vollkommene[s] moralisches Wesen“28 anzunehmen. Ohne einen solchen Gott verlieren die sittlichen Gesetze ihre „verbindende Kraft“.29 Für das kulturelle System Europas war dieser Zusammenhang bis zum 19. Jahrhundert grundlegend. Indem Büchners Danton sich allem gegenüber indifferent zeigt, indem er die „Tugend leugnet“, indem er die Willensfreiheit in Frage stellt, indem er das „Nichts“ dem Jenseits vorzieht und indem er Gott des Sadismus bezichtigt, stellt er sich außerhalb dessen, was Konsens ist, und äußert Ansichten, die spätestens seit Nietzsche als „nihilistisch“ gelten. Was Büchners partiellen Stichwortgeber Ludwig Tieck angeht, so hatte schon Søren Kierkegaard in dessen Jugendschriften ein frühes Zeugnis des „Nihilismus“ gesehen.30 Etwa einhundert Jahre später, in den 1930er bis 1950er Jahren, stand auch ein wichtiger Teil der Büchner-Rezeption unter demselben Schlagwort. Zeugnis dessen sind zum Beispiel in dem Sammelband der Reihe „Wege der Forschung“31 die Beiträge von Karl Viëtor: „Die Tragödie des heldischen Pessimismus. Über Büchners Drama ‚Danton’s Tod‘“, von Robert Mülher: „Georg Büchner und die Mythologie des Nihilismus“ und von Wolfgang Martens: „Ideologie und Verzweiflung. Religiöse Motive in Büchners Revolutionsdrama“. Viëtor etwa, der in seiner Danton-Interpretation von 1934 viele der von mir eben auf Tieck-Einfluss zurückgeführten Zitate anführte, schrieb: „Der einzige Büchner hatte die ungebrochene Kraft, den Zusammenbruch der alten Kultur anzuerkennen, allem Idealismus von gestern schärfste Skepsis entgegenzusetzen und sich entschlossen in das Nichts zu stellen, das der einzige wirkliche Gehalt dieser Epoche zwischen den Zeiten war.“32 Georg Lukács nannte diesen Satz wenige Jahre später zu Recht „ganz Heideggerisch“.33 27So Kant in der Kritik der praktischen Vernunft, „Des Canons der reinen Vernunft“ II. Abschnitt: „Von dem Ideal des höchsten Guts“ (Immanuel Kant: Sämmtliche Werke in chronologischer Reihenfolge. Hrsg. von G. Hartenstein. Bd. 3. Leipzig 1867, S. 538). 28So Büchners Formulierung im Spinoza-Skript (MBA IX.2, S. 15), wo er Spinozas Beweis für diesen Gott verwirft. 29Ebd. 30Roger Paulin: Ludwig Tieck. Stuttgart 1987, S. 29. 31Wolfgang Martens (Hrsg.): Georg Büchner. Darmstadt 1965 (= Wege der Forschung Bd. LIII). 32Karl Viëtor: Die Tragödie des heldischen Pessimismus. Über Büchners Drama ‚Danton’s Tod‘. Zit. nach Wolfgang Martens (Hrsg.): Georg Büchner. Darmstadt 1965, S. 111. 33Georg Lukács: Der faschistisch verfälschte und der wirkliche Georg Büchner. Zuerst in: Das Wort, Moskau 1937); hier zit. nach Wolfgang Martens (Hrsg.): Georg Büchner. Darmstadt 1965, S. 198. Ich folge in dieser Zusammenstellung Dieter Arendt: Der Nihilismus – Ursprung und Geschichte im Spiegel der Forschungs-Literatur seit 1945. Ein Forschungsbericht. (Zweiter Teil). In: DVjs Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 43, 1969, S. 346–369. Vgl. zu dem Thema auch Dieter Arendt: Der poetische Nihilismus in der Romantik. Studien zum Verhältnis von Dichtung und Wirklichkeit in der Frühromantik. 2 Bde. Tübingen 1972 (zu William Lovell. Bd. 2, S. 317–384).
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Nun erledigen sich diese älteren Interpretationen, die in Büchner einen Nihilisten sahen, allein schon dadurch, dass es nicht erlaubt ist, einen Autor mit seinen Figuren – hier also Danton oder Leonce – gleichzusetzen. Zu fragen wäre demnach nur, warum Büchner seinen Revolutionshelden und seinen Lustspielprinzen mit Zügen ausstattet, die später als nihilistisch gelten. Im Zusammenhang des Themas „Büchner und die Romantik“ aber wäre vor allem zu fragen, warum Büchner die nihilistisch genannten Elemente aus Tiecks Schriften in sein Drama aufgenommen hat. Hier ist der Versuch einer Antwort. Büchner selbst hat seinen Schreibprozess so dargestellt: Ich zeichne meine Charaktere, wie ich sie der Natur und der Geschichte angemessen halte und lache über die Leute, welche mich für die Moralität oder Immoralität derselben verantwortlich machen wollen. (An die Eltern, 1. Jan. 1836, MBA 10.1, S. 79)
Dieses Bekenntnis zum Realismus im Drama ist sicher eine Absicherung gegen den Vorwurf der Immoralität;34 es ist jedoch auch ein ernstzunehmendes Programm für einen an Shakespeare geschulten Schriftsteller. Büchner stand vor der Aufgabe, angemessene Ausdrucksformen für einen Charakter in der historischen Situation des George Danton im Jahre 1794 zu finden. Er fand sie zunächst in der historischen Überlieferung selbst, daneben bei Shakespeare und schließlich in Tiecks frühem Erzählwerk. Kommen wir zunächst zur historischen Überlieferung. Der historische Danton befand sich in Frankreich in einer Situation, in der Robespierre zwar gerade den Deismus zur offiziellen Staatsreligion erklären ließ, in der aber die atheistischen und epikureischen Prinzipien, denen Danton vermutlich anhing, seit längerem Teil des öffentlichen Diskurses waren. Gestärkt durch seinen Ruf als „Mann des September“ und als Schöpfer der Revolutionsarmee, konnte Danton es wagen, öffentlich Witze über den Begriff der „Tugend“ zu äußern, während Robespierre die Tugend in seinem politischen Programm gerade zum zentralen Wert erhöhte. Robespierre fasste seine Empörung über diesen Tugendleugner während des Dantonisten-Prozesses von 1794 in folgenden Sätzen zusammen:
34Dies
gilt besonders für die aktuelle Situation, in der Karl Gutzkow wegen „Angriffes auf die christliche Religion“ zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde, weil sich in seinem Roman Wally, die Zweiflerin der Erzähler selbst in so unvorsichtiger Weise über religiöse Fragen äußerte, dass der Autor dafür haftbar gemacht werden konnte. Tieck stellte dagegen moralisch korrumpierte Figuren dar, die geschickten Verführern zum Opfer fallen. Seine Erzählungen geben sich daher als Beiträge zur Moral, indem sie scheinbar nur die amoralischen Denksysteme der Lasterhaften und die Leiden derer, die sich von ihnen haben verführen lassen, aufdecken. Auch Büchner war geschützt, denn George Danton war bekannt als Leugner der Tugend und Atheist, und in der Lenz-Erzählung war es ein psychisch Kranker, der Gotteszweifel oder Gotteslästerungen äußerte.
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B. Dedner Das Wort Tugend fand Danton lächerlich; es gibt keine solidere Tugend, sagte er scherzend, als diejenige, die er jede Nacht an seiner Frau beweise. Wie konnte ein Mann, dem jeder Gedanke an Moral fremd war, der Verteidiger der Freiheit sein? […] Dem Laster gegenüber bekundete er eine Toleranz, die geeignet war, ihm so viel Anhänger zu verschaffen, wie es in der Welt korrupte Menschen gibt.35
Die Sätze wurden erst 1841 in den Notes de Robespierre contre les Dantonistes veröffentlicht. Es ist also unwahrscheinlich, dass Büchner sie kannte; aber natürlich wusste er, dass Danton als „Leugner der Tugend“ und „Epikureer“ bekannt war. Darüber hinaus kannte Büchner Dantons Äußerung vor dem Revolutionstribunal „Meine Wohnung ist bald im Nichts“, und er übernahm sie wörtlich in sein Drama (MBA 3.2, S. 130). Weitere Stellungnahmen in dieser Richtung konnte Büchner in den französischen Dokumenten nicht finden, und zwar wohl deshalb, weil epikureische oder auch atheistische Ansichten in Frankreich weniger provozierten und weniger Aufsehen erregten als in dem noch sehr viel stärker christlich-religiös geprägten Deutschland. Tiecks Position zu diesen Fragen ist schwer einzuschätzen. Möglicherweise reflektiert sein Frühwerk die Krisensituation der 1790er Jahre – also die Revolution und ihre Schrecken zum einen, die Wirkungen der kritischen Philosophie Kants zum andern – möglicherweise hatte Tieck aber auch nur ein gutes Gespür für den literarischen Markt und fand es opportun, die Leserschaft seiner Erzählung Abdallah nicht nur mit grellen schauerromantischen Effekten, sondern auch mit wertenihilistischen Argumenten zu erschrecken und zu unterhalten. Beide Erklärungen schließen einander übrigens nicht aus. Unter den jungen Schriftstellern der 1830er Jahre war Büchner nicht der einzige, der auf frühromantische Schriften zurückgriff. Während Danton’s Tod gedruckt wurde, veranstaltete Karl Gutzkow eine Neuauflage von Friedrich Schleiermachers Vertrauten Briefe über die Lucinde. In ihnen hatte der später führende Theologe Berlins Friedrich Schlegels skandalträchtigen Roman Lucinde. Bekenntnisse eines Ungeschickten (Erstdruck 1799) gegen Kritiker verteidigt. Der zweite Satz in Lucinde lautet: „Ich schaute und ich genoß alles zugleich, das kräftige Grün, die weiße Blüte und die goldne Frucht. Und so sah ich auch mit dem Auge meines Geistes die Eine ewig und einzig Geliebte in vielen Gestalten“.36 Der Roman entfaltet ein epikureisch libertines Programm, das den Ansichten Karl Gutzkows weitgehend entsprach und das sich ganz ähnlich auch in Danton’s Tod in der Rede der Marion oder in Camille Desmoulins’ Äußerungen findet. Es verkörpert die hellere Seite der frühromantischen Bewegung, wie Tiecks Frühwerk die dunklere Seite repräsentiert. Die jungen Romantiker hatten sowohl die eine
35„Le
mot de vertu faisoit rire Danton; il n’y avoit pas de vertu plus solide, disait-il plaisamment, que celle qu’il déployoit toutes les nuits avec sa femme. Comment un homme, à qui toute idée de morale étoit étrangère, pouvoit-il être le défenseur de la liberté? […] Il professoit pour le vice une tolérance qui devoit lui donner autant de partisans qu’il y a d’hommes corrompus dans le monde“ (zit. nach Albert Mathiez: Robespierre Terroriste. Paris 1921, S. 97 f.). 36Kritische Friedrich Schlegel-Ausgabe. Hrsg. von Ernst Behler, Hans Eichner. Bd. 5 Dichtungen. Paderborn 1979, S. 7.
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wie die andere Position provokativ scharf formuliert, und in der einen wie der anderen Form konnten sie für Büchner, einen Liebhaber von Zuspitzungen, von Interesse sein.
4 Tieckspuren in Lenz Büchners Lenz-Erzählung gliedert sich bekanntlich in drei Abschnitte. Im ersten erleben wir die extremen – und teilweise bereits psychotisch wirkenden – Stimmungsumschwünge eines einsamen Wanderers, der im Februar einen ihm unbekannten Weg vom Rheintal in ein Vogesental findet. Im zweiten sehen wir Lenz in einer Phase der Beruhigung; im dritten wird der Rückfall in die Krankheit gezeigt. Auslöser ist eine Nacht in einer abseits gelegenen bewohnten Hütte; vorläufiger Höhepunkt ist eine Wutattacke auf den christlichen Gott. Die Tieckspuren, um die es hier geht, beschränken sich in der ersten Phase auf vereinzelte Elemente aus Tiecks Landschaftsdarstellungen. In den beiden anderen Phasen sind es ganze Szenen, die Büchner aus Tiecks Schriften entlieh. Dabei orientierte sich Büchner in der Beruhigungsphase naturgemäß an der helleren Seite des romantischen Schriftstellers, in der Rückfallphase wieder an dessen Nachtseiten.
4.1 Beängstigung in freier Natur Lenz geht anfangs „durch’s Gebirg“ (MBA 5, S. 31) und erlebt ein Wechselbad von Gefühlen. Meist ist er apathisch und gleichgültig gegenüber seiner Umgebung; zwischendurch gerät er in Ekstasen der Naturumarmung, wie Goethe sie in Werther, aber auch in Faust beschrieben hatte.37 In diesen Beschreibungen ekstatischer Naturnähe findet sich auch eine mögliche Anregung von Tieck in dem Satz „er meinte, er müsse den Sturm in sich ziehen.“ (MBA 5, S. 31) In William Lovell (Tieck, Schriften VI, 16) heißt es: „Ich athmete tief auf, und hätte von Bäumen und Gras diesen Geist, der mich anglänzte, in mich ziehen mögen“. Vorwiegend aber erlebt Lenz Momente extremer Angst. Ihm ist „entsetzlich einsam“; die ihn umgebende Stille verstärkt jedes Geräusch zu einem „Donner“, und er „wagte kaum zu athmen“. Schließlich werden die „gewaltigen Flächen und Linien“ des Gebirges zu Stimmen, die „ihn mit gewaltigen Tönen anredeten“. (MBA 5, S. 34) An späterer Stelle, nach der Nacht in der Gebirgshütte, hat Lenz noch einmal ähnliche Angstgefühle. Sie werden jetzt zum Teil hervorgerufen von einem „gewaltigen Menschen“ (MBA 5, S. 41) mit religiös-charismatischer Ausstrahlung. Die Anregungen für die Beschreibung dieser Angstgefühle stammen vorwiegend von Tieck. Büchner fand sie wiederum in Abdallah, daneben auch in
37Vgl.
MBA 5, S. 374–376, Erläuterungen zu 53,17–54,2, 53,19–21, 53,31–35.
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B. Dedner
William Lovell. Tieck übernahm einzelne dieser Erzählelemente auch in das Phantasusmärchen Der Runenberg (Erstdruck 1804), das Büchner ebenfalls kannte. Ich beschränke mich auf eine Auflistung der vermutlichen Anregungen. Tieck
Büchner
„Als wenn Drachen mit klingenden Flügeln hinter ihm herjagten, so entflohe er“ (Abdallah; Tieck, Schriften VIII, 125)
„als jage der Wahnsinn auf Rossen hinter ihm“ (MBA 5, S. 32)
„es war, als wenn mich die Gebirge umher mit entsetzlichen Tönen anredeten“ (William Lovell; Tieck, Schriften VII, S. 226)
„die einförmigen gewaltigen Flächen und Linien, vor denen es ihm manchmal war, als ob sie ihn mit gewaltigen Tönen anredeten“ (MBA 5, S. 34)
„wie ihm plötzlich die Einsamkeit so schrecklich vorgekommen sei“, (Runenberg; Tieck Schriften IV, S. 217)
„Es war ihm jetzt unheimlich mit dem gewaltigen Menschen, von dem ihm manchmal war, als rede er in entsetzlichen Tönen. Auch fürchtete er sich vor sich selbst in der Einsamkeit“ (MBA 5, S. 41)
„es wurde ihm entsetzlich einsam“ (MBA 5, „die Strenge der Einsamkeit noch nicht S. 32) ertragen“ (Runenberg; Tieck, Schriften IV, S. 229 f.). „als sei er in einer feindseligen Einsamkeit verloren“ (Runenberg; Tieck, Schriften IV, S. 231) „eine fürchterliche Stille ging vor mir her, ich hörte in der entsetzlichsten Einsamkeit nichts als das Wehen meines Athems […] und das Dröhnen meiner Tritte.“ (Abdallah; Tieck, Schriften VIII, S. 68)
„hören Sie denn nicht die entsetzliche Stimme, die um den ganzen Horizont schreit, und die man gewöhnlich die Stille heißt“ (MBA 5, S. 48)
„er wagte es kaum, Athem zu holen und den Fuß hörbar aufzusetzen, eine Stille, so einsam und todt lag um ihn her“. (Abdallah; Tieck, Schriften VIII, S. 141) „sie konnte, sie wagte es nicht, weiter zu sprechen“ (Abdallah; Tieck, Schriften VIII, S. 229) „Er wagte kaum zu athmen, als sie nach und nach alle Hüllen löste“ (Runenberg; Tieck, Schriften IV, S. 223)
„er wollte mit sich sprechen, aber er konnte, er wagte kaum zu athmen, das Biegen seines Fußes tönte wie Donner unter ihm.“ (MBA 5, S. 32)
4.2 Phasen der Beruhigung 4.2.1 „Ein süßes Gefühl unendlichen Wohls“ Nach der durch Angstattacken geprägten Anfangsphase findet Lenz zunehmend Ruhe in der Gesellschaft Oberlins und bei Spaziergängen in der Umgebung im
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Steintal.38 Ein besonderes Zeichen dieser Beruhigung ist es, dass er am Sonntag in der Kirche von Waldersbach predigt. Büchner nahm Anregungen für diese Episode aus Tiecks Erzählung Der Runenberg. Christian, der Held von Der Runenberg, hat eine ihn tief verstörende Nacht im Gebirge verbracht. Er ist dort einer mythischen Frau begegnet, die sich vor seinen Augen entkleidet und ihm schließlich eine magische Steintafel schenkt, die er allerdings am nächsten Morgen nicht wiederfindet. Noch belastet von diesen Erinnerungen, kommt Christian am nächsten Tag in ein Gebirgsdorf:39 Gegen Mittag stand er über einem Dorfe, aus dessen Hütten ein friedlicher Rauch in die Höhe stieg, Kinder spielten auf einem grünen Platze festtäglich geputzt, und aus der kleinen Kirche erscholl der Orgelklang und das Singen der Gemeine. Alles ergriff ihn mit unbeschreiblich süßer Wehmuth, alles rührte ihn so herzlich, daß er weinen mußte. Die engen Gärten, die kleinen Hütten mit ihren rauchenden Schornsteinen, die gerade abgetheilten Kornfelder erinnerten ihn an die Bedürftigkeit des armen Menschengeschlechts, an seine Abhängigkeit vom freundlichen Erdboden, dessen Milde es sich vertrauen muß; dabei erfüllte der Gesang und der Ton der Orgel sein Herz mit einer nie gefühlten Frömmigkeit. […] er sehnte sich, in diesem friedlichen Dorfe wohnen zu dürfen, und trat mit diesen Empfindungen in die menschenerfüllte Kirche. / Der Gesang war eben beendigt und der Priester hatte seine Predigt begonnen. (Der Runenberg; Tieck, Schriften IV, S. 226)
Der Tieck-Leser weiß, dass der einmal von fremden Mächten Ergriffene dem Schicksal nicht dauerhaft wird entrinnen können. Zunächst aber kehren Friede und Glück ein in sein Leben. In Lenz heißt es: Lenz stand oben, wie die Glocke läutete und die Kirchengänger, die Weiber und Mädchen […] die schmalen Pfade zwischen den Felsen herauf und herab kamen. Ein Sonnenblick lag manchmal über dem Thal, die laue Luft regte sich langsam, die Landschaft schwamm im Duft, fernes Geläute, es war als löste sich alles in eine harmonische Welle auf. […] Der Gesang verhallte, […] Ein süßes Gefühl unendlichen Wohls beschlich ihn. Er sprach einfach mit den Leuten, sie litten alle mit ihm, und es war ihm ein Trost, wenn er über einige müdgeweinte Augen Schlaf, und gequälten Herzen Ruhe bringen, wenn er über dieses von materiellen Bedürfnißen gequälte Seyn, diese dumpfen Leiden gen Himmel leiten konnte. (MBA 5, S. 35)
Gleich ist zunächst die räumliche Perspektive: Der Held der Erzählerfigur steht „oben“ bzw. „über einem Dorfe“ und schaut herab. Unter ihm finden sich die Kirche und die
38„er
sah Lichter, es wurde ihm leichter“, heißt es als erstes Zeichen von Lenz‘ Beruhigung bei der nächtlichen Ankunft in Waldersbach. Das alliterierende Wortspiel ist mglw. angeregt durch Runenberg (Tieck: Schriften IV, 217): „in einer Stunde kommt der Mond hinter den Bergen hervor, sein Licht wird dann wohl auch eure Seele lichter machen.“ (So MBA V, S. 32).
39Zu
dieser Anleihe in Büchners Lenz an Tiecks Runenberg vgl. Axel Kühnlenz: „Wie den Leuten die Natur so nah trat …“. Ludwig Tiecks „Der Runenberg“ als Quelle für Büchners Lenz. In: Georg Büchner Jahrbuch 7 (1988/1989), 1991, S. 297–310.
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B. Dedner
Bewegung von Menschen im Dorf. Gleich ist dann das Gefühl des Betrachters: „Alles ergriff ihn mit unbeschreiblich süßer Wehmuth“ heißt es in einem, „Ein süßes Gefühl unendlichen Wohls beschlich ihn“ im anderen Text. Als zeitliche Dimension wird der Übergang vom Gesang zur Predigt markiert: „Der Gesang verhallte“ – „Der Gesang war eben beendigt“. Und gleich ist schließlich die Wahrnehmung dessen, was menschliche Existenz oder „die Menschheit“ in dieser Dorfidylle bestimmt: „dieses von materiellen Bedürfnißen gequälte Seyn“ – „die Bedürftigkeit des armen Menschengeschlechts“.
4.2.2 „einen Eindruck […] wie das neue Testament“ Zu den beruhigenden Einflüssen des Steintals gehört es, dass sich Lenz hier an das Neue Testament erinnert fühlt: „Das neue Testament trat ihm hier so entgegen, […] jetzt erst ging ihm die heilige Schrift auf. Wie den Leuten die Natur so nah trat; aber nicht gewaltsam majestätisch, sondern noch vertraut“ (MBA 5, S. 34). Etwas später, im Kunstgespräch, spricht Lenz dann von zwei Bildern, die ihm „einen Eindruck gemacht hätten, wie das neue Testament“ (MBA 5, S. 38). Das erste dieser Bilder hatte Büchner tatsächlich mit seinem Freund Alexis Muston in der Darmstädter Gemäldesammlung gesehen. Das zweite von Lenz beschriebene „Bild“ entspricht einer Szene aus Ludwig Tiecks Märchentragödie Leben und Tod des kleinen Rothkäppchens (Tieck, Schriften II, S. 329 f.; Erstdruck 1800). Die relative Nähe wird am ehesten deutlich, wenn man beide Texte nebeneinanderstellt: Tieck, Rothkäppchen
Büchner, Lenz
„Stube. D i e G r o ß m u e r sitzt und lies’t. Ist heute gar ein schöner Tag, An dem man gern Go dienen mag, Das Weer ist hell, scheint die Sonne herein, Da muß das Herz andächg sein. Ich höre von ferne das Geläute, Es ist ein lieblicher Sonntag heute […] Ich wohn allhier vom Dorf absei
g, Sonst ging ich gern zur Kirche zei
g, Doch ich bin alt, dazu krank gewesen, Da thu ich im lieben Gesangbuch lesen.“ – Das inzwischen hereingetretene Rothkäppchen antwortet auf die Frage nach seinen Eltern: „Sie werden jezt in der Kirche sein. Ich ging vorbei, die Orgel klung Recht lus
g, der Kanter mäch
g sung.“ – Sie bemerkt dann den Hausputz: „Du hast ja schönen frischen Sand gestreut“, worauf diese antwortet: „Man muß doch auch wissen, daß Sonntag ist“.
„Eine Frau sitzt in ihrer Kammer, das Gebetbuch in der Hand. Es ist sonntäglich aufgeputzt, der Sand gestreut, so heimlich rein und warm. Die Frau hat nicht zur Kirche gekonnt, und sie verrichtet die Andacht zu Haus, das Fenster ist offen, sie sitzt darnach hingewandt, und es ist als schwebten zu dem Fenster über die weite ebne Landscha die Glockentöne von dem Dorfe herein und verhallet der Sang der nahen Gemeinde aus der Kirche her, und die Frau liest den Text nach.“
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4.3 Ekstatische Frömmigkeit und Atheismus Für seine Erzählung vorgegeben waren Büchner die biographisch überlieferten Eckdaten: a) Oberlins Trennung von dem scheinbar gesunden Lenz, b) Lenz’ Versuch einer rituellen Kindeserweckung, c) Lenz’ Verstörung bei Oberlins Rückkehr, wobei Oberlin schreibt: „Ich merkte, daß er bei Erinnerung gethaner, mir unbekannter Sünde, schauderte, an der Möglichkeit der Vergebung verzweifelte“ (MBA 5, S. 233). Lenz glaubte demnach – so konnte Büchner vermuten – er habe die „Sünde in den Heiligen Geist“ begangen, die ja den Evangelien zufolge nicht vergeben werden kann. Dies gab Büchner vermutlich Anlass für die Erzählung vom Atheismus-Anfall. Ebenso musste dem Versuch der rituellen Kindeserweckung eine gravierende Erfahrung vorausgegangen sein. Büchner erfand deshalb die Hüttenepisode, über die der Erzähler rückblickend sagt: Doch hatte die verflossene Nacht einen gewaltigen Eindruck auf ihn gemacht. Die Welt war ihm helle gewesen, und an sich ein Regen und Wimmeln nach einem Abgrund, zu dem ihn eine unerbittliche Gewalt hinriß. (MBA 5, S. 64)
Die Nacht auf der Hütte und der Atheismus-Anfall sind unmittelbar aufeinander bezogen, denn am Ende des Atheismus-Anfalls heißt es wiederum: Am folgenden Tag befiel ihn ein großes Grauen vor seinem gestrigen Zustande, er stand nun am Abgrund, wo eine wahnsinnige Lust ihn trieb, immer wieder hineinzuschauen, und sich diese Qual zu wiederholen. Dann steigerte sich seine Angst, die Sünde [in] de[n] heilige[n] Geist stand vor ihm. (MBA 5, S. 67)
In beiden Fällen ist eine Anregung durch Tieck wahrscheinlich. In William Lovell heißt es: Wechselnd gehn des Baches Wogen / Und er fließet immer zu,/Ohne Rast und ohne Ruh,/ Fühlt er sich hinabgezogen, / Seinem dunkeln Abgrund zu. (Tieck, Schriften VII, S. 33)
Und in Abdallah lesen wir: der Abgrund gähnt bereitwillig unter mir und hinter mir steht das Schicksal und läßt mich nicht entrinnen, ich sträube mich vergebens, mein Wille ist zu schwach, ich muß hinunter (Tieck, Schriften VIII, S. 72).
Dieses Gefühl, widerstandsunfähig im Soge eines höheren „Muss“ zu stehen, gehört – wie schon gezeigt – zu den Standardthemen des jungen Tieck. Für die zwei Episoden, die Lenz’ Verstörung zwischen Oberlins Abreise und Rückkehr erklären sollten, fand Büchner das Vorbild in Tiecks Aufruhr
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in den Cevennen (Erstdruck 1826), einer Erzählung über den Aufstand der südfranzösischen Camisarden im frühen 18. Jahrhundert, die er in Darmstadt im September 1834 gemeinsam mit seiner Braut gelesen hatte.40 Edmund, der Held aus Tiecks Erzählung, ist ein entschiedener Gegner dieser aufständischen Evangelikalen. Er besucht eine ihrer geheimen Zusammenkünfte, um sich in seinem Hass gegen sie zu befestigen. Jedoch vollzieht sich an ihm das Wunder des Paulus. Der Hasserfüllte hat ein Bekehrungserlebnis und er wird zum Anhänger der Aufständischen. Er erzählt seinem Vater von dem Besuch:
Tieck, Aufruhr in den Cevennena)
Büchner, Lenz (MBA 5, S. 63)
„Wir gelangten [...] zu einer einsamen Scheune. Man klope an, sie wurde uns aufgethan. [...] Alles ging sll zu, aller Augen waren auf den Boden geheet, nur einige alte Weiber murmelten zwischen den Zähnen ihre Psalmen. Plötzlich fiel ein Knabe, von ohngefähr acht Jahren, nieder, und zuckte wie in Krämpfen. […] Plötzlich ertönt es mit heiserer Smme aus dem Kinde: wahrlich, ich segne euch, ihr sollt gesegnet seyn! – nun im Strom, der unaualtsam floß, eine Menge von Gebeten und Ermahnungen, so wie Stellen aus der heiligen Schri und ihre Erklärung, alles wie auf die gegenwärge Zeit gedeutet. [...]. Einige aus der Versammlung gingen hinaus, und sangen mit lauter Smme, und bald darauf kamen sie mit einer Anzahl Begeisterter wieder, unter denen ein großer Mann hervorragte, den sie alle ehrfurchtsvoll begrüßten.“
„Es war finster Abend, als er an eine bewohnte Hüe kam, im Abhang nach dem Steinthal. […] Weiter weg im Dunkel saß ein altes Weib, das mit schnarrender Smme aus einem Gesangbuch sang. Nach langem Klopfen öffnete sie; sie war halb taub, sie trug Lenz einiges Essen auf […], wobei sie beständig ihr Lied fortsang.[ … ] Das Mädchen hae sich nicht gerührt. Einige Zeit darauf kam ein Mann herein, er war lang und hager, Spuren von grauen Haaren, mit unruhigem verwirrtem Gesicht. Er trat zum Mädchen, sie zuckte auf und wurde unruhig. […]
a)
Einmal wurden die Töne lauter, das Mädchen redete deutlich und besmmt, sie sagte, wie auf der Klippe gegenüber eine Kirche stehe. Lenz sah auf und sie saß mit weitgeöffneten Augen aufrecht hinter dem Tisch […] […] Der Mann erwachte, seine Augen trafen auf ein erleuchtet Bild an der Wand, sie richteten sich fest und starr darauf, nun fing er an die Lippen zu bewegen und betete leise, dann laut und immer lauter. Indem kamen Leute zur Hüe herein, sie warfen sich schweigend nieder. Das Mädchen lag in Zuckungen, die Alte schnarrte ihr Lied und plauderte mit den Nachbarn.“
Ludwig Tieck: Der Aufruhr in den Cevennen. Eine Novelle in vier Abschnien. Erster und zweiter Abschni, Berlin 1826, S. 151–155; vgl. MBA 5, S. 438.
Beide Szenen beginnen mit dem Anklopfen an einer abseits im Gebirge gelegenen Behausung. Darin befinden sich eine alte Frau bzw. mehrere alte Frauen, die in
40Vgl.
Ludwig Büchner: Einleitung zu: Nachgelassene Schriften von Georg Büchner. Frankfurt a. M. 1850, S. 18.
Lektürespuren in Büchners literarischen Werken
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undeutlich-unheimlicher Weise religiöse Texte singen oder murmeln. Ein Mädchen bzw. ein Junge liegen in Zuckungen und äußern sich dann über ihre Visionen. Anführer der religiösen Gemeinschaft ist ein „langer und hagerer“ bzw. ein „großer Mann“, der ebenfalls in die Hütte kommt. Die Anwesenden „begrüßen“ ihn „ehrfurchtsvoll“ bzw. „werfen sich nieder“. Später kommen von außerhalb noch weitere Gläubige hinzu. Edmund wird, wie schon gesagt, in dieser Szene zum evangelikalen Glauben erweckt. Unmittelbar darauf erleidet er einen Atheismus-Anfall. Der Ort ist – wie dann auch bei Büchner – die Höhe des Gebirges, eine – für Tiecks Cevennen glaubwürdige, für Büchners Vogesen dagegen ungewöhnliche – Kalksteinlandschaft. Beide Helden sehen in den dunkelblauen Himmel – bei Büchner ist es eine Mondscheinnacht –, beide verzweifeln an Gott und am Sinn der Schöpfung und brechen in Gelächter aus.
Tieck, Aufruhr in den Cevennena)
Büchner, Lenz
„Bald ruhend, bald wandelnd kam ich mit der Dämmerung der Frühe in die Gegend von Sauve hinüber, im innern Gebirge. Sie kennen, mein Vater, die hohe Lage der dorgen traurigen Landscha, kein Baum, kein Strauch weit umher, kaum einzelne Grashalme auf dem dürren weißen Kalkboden, und so weit das Auge reicht, Blöcke, Gruppen, Massen von Kalksteinen in allen Formen, wie Menschen, Thiere, Häuser, blendend und ermüdend, umher gestreut, […] Hier warf ich mich wieder nieder und schaute in die wüste Zerstörung hinaus, und über mir in den dunkelblauen Himmel hinein. Sonderbar, wie […] toll, widersinnig und lächerlich mir alles dies erschien[.] Ich konnte mich nicht zähmen, ich mußte unaualtsam dem Triebe folgen, und mich durch lautes Lachen erleichtern. Da war kein Go, kein Geist mehr, da war nur Albernheit, Wahnwitz und Fratze in allem […]. Vernichtung, todtes kaltes Nichtsein, schienen mir einzig wünschenswerth und edel. Ich war ganz zerstört, und schwer ward mir der Rückweg zum Leben, aber ich fand ihn endlich mit Hülfe des Erbarmenden.“
„Der Wind klang wie ein Titanenlied, es war ihm, als könne er eine ungeheure Faust hinauf in den Himmel ballen und Go herbei reißen und zwischen seinen Wolken schleifen; als könnte er die Welt mit den Zähnen zermalmen und sie dem Schöpfer in’s Gesicht speien; er schwur, er lästerte. So kam er auf die Höhe des Gebirges, und das ungewisse Licht dehnte sich hinunter, wo die weißen Steinmassen, und der Himmel war ein dummes blaues Aug, und der Mond stand ganz lächerlich drin, einfälg. Lenz mußte laut lachen, und mit dem Lachen griff der Atheismus in ihn und faßte ihn ganz sicher und ruhig und fest. Er wußte nicht mehr, was ihn vorhin so bewegt hae, es fror ihn […]“
a)
Tieck: Der Aufruhr in den Cevennen, S. 158 f.; vgl. MBA 5, S. 455 f.
Tiecks Aufruhr ist eine historische Erzählung, die im Wesentlichen realistischen Konventionen folgt. In diesen Episoden ist sie freilich angefüllt mit religiös begründeten Mirakeln wie Hellsehen und Gedankenlesen. In der narrativen Struktur folgt sie an dieser Stelle zwei biblischen Mustern, zum einen der schon genannten paulinischen Bekehrung, zum andern der aus den Evangelien bekannten
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B. Dedner
vierzigtägigen „Versuchung Jesu in der Wüste“, die jedoch in Edmunds Fall „der Erbarmende nach wenigen Stunden abgekürzt“41 hat. Diese Einbettung in biblisch-religiöse Muster erspart dem Erzähler die Mühe, Edmunds Atheismus-Anfall und seine nachfolgende Rückkehr zum Glauben psychologisch plausibel zu motivieren. Büchner streicht in seiner Erzählung alle den christlichen Glauben stärkenden Elemente. Seinen evangelikalen Christen – diese Gruppierung gab es tatsächlich in der Nähe des Steintals – fehlt die missionarisch-charismatische Kraft der bei Tieck dargestellten Camisarden. Ihr Anführer erscheint „mit unruhigem verwirrtem Gesicht“; das in der Hütte lebende Mädchen leidet an Zuckungen wie Tiecks Knabe, ist aber keine Hellseherin, sondern äußert nur Phantasien, vermutlich im Fieberwahn. Die religiöse Gewissheit und Begeisterung der Camisarden ist zusammengeschrumpft zum Konventikelwesen verstreuter Berghütten in den Vogesen. Und Lenz’ Lästerung Gottes auf der Gebirgshöhe ist nicht eingebunden in eine Bekehrungsgeschichte, sondern der weitere Höhepunkt in einer Krankheitsgeschichte, von der Lenz sich nicht wieder erholt. Von der aufhellenden Erzählweise des Tieck der 1820er Jahre führt Büchner uns zurück zur Nachtseiten-Romantik des frühen Tieck der 1790er Jahre oder auch zu Hoffmann. Büchners Welt ist zwar nicht mehr bestimmt von Teufelsfiguren, Wundern, Fluchsprüchen oder düsteren Verhängnissen; aber sie ist geprägt von Ängsten, Schmerzen, psychischen Krankheiten und Wahnvorstellungen von solchen Wundern, Fluchsprüchen und Verhängnissen, und diese erscheinen in einer radikalen Form, wie sie der auf Effekte bedachte frühe Tieck noch nutzte, der späte Tieck aber nicht mehr. Nehmen wir den Schluss des Atheismus-Anfalls: Edmund muss „[s]ich durch lautes Lachen erleichtern“, dann wird ihm die „Hülfe des Erbarmenden“ zuteil. In Lenz bewirkt das Lachen keine Erleichterung, sondern ist Teil der ungehemmten verbalen und physischen Aggression gegen den Schöpfergott und Teil eines circulus vitiosus aus „wahnsinniger Lust“, „Qual“ und sich steigernder „Angst“. Lenz, so schrieb 1851 Wilhelm Schulz mit deutlicher Anspielung auf E. T. A. Hoffmann, „ist ein düsteres Nachtgemälde, denn auch in der Familie des glaubenssicheren Oberlin wird Einem ziemlich unheimlich zu Muthe“.42 Tatsächlich tritt Büchners Text mit dem Anspruch auf, unter Verzicht auf Erzähleffekte zu rekon struieren, wie es wirklich gewesen ist oder doch gewesen sein könnte. Der Eindruck des Unheimlichen wird dadurch aber nicht gemindert. „Unheimlich“ ist ein in Büchners Text zweimal wiederholtes Kennwort für die Hüttenepisode. Diesen Eindruck des Unheimlichen erzielt Büchner auch dadurch, dass er bei der Darstellung nicht nur auf Tiecks späte historische Novelle, sondern auch auf das frühe Phantasus-Märchen Der Blonde Eckbert zurückgriff.
41Tieck:
Der Aufruhr in den Cevennen, S. 159 f. Schulz: Über Nachgelassene Schriften von Georg Büchner. In: Deutsche Monatsschrift für Politik, Wissenschaft, Kunst und Leben. Hrsg. von Adolph Kolatschek. Heft 2, Februar 1851, S. 210–233, hier S. 218; zit. nach buechnerportal.de, Textdokumente, LZ 4520.
42Wilhelm
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Tieck, Der blonde Eckbert (Tieck, Schrien IV, 150–153)
Büchner, Lenz (MBA 5, S. 63)
„ich ging näher und ward an der Ecke des Waldes eine alte Frau gewahr, die auszuruhen schien. […] Indem ich aß, sang sie mit kreischendem Ton ein geistliches Lied. […] und dann wies sie mir in einer niedrigen und engen Kammer ein Be an.“
„Weiter weg im Dunkel saß ein altes Weib, das mit schnarrender Smme aus einem Gesangbuch sang. Nach langem Klopfen öffnete sie; sie war halb taub, sie trug Lenz einiges Essen auf und wies ihm eine Schlafstelle an, wobei sie beständig ihr Lied fortsang.“
In Tiecks Märchen ist die alte Frau eine mit Zauberkräften ausgestattete Figur, die den Übergang in die Märchenwelt bezeichnet. Büchner macht aus dem Eintritt in die Hütte eine Alltagserfahrung, die Übernachtung in einer abgelegenen Hütte bei einer alten Frau und einem kranken Mädchen. Die Tatsache, mit wie wenigen Änderungen Büchner Tiecks Episode in seine Erzählung übernehmen kann, zeigt natürlich auch, wie sehr dieses Phantasus-Märchen der Alltagsrealität verpflichtet war.
5 Tieckspuren in Woyzeck Über die Anleihen an die Schauerliteratur in Büchners Woyzeck hat Ingrid Oesterle alles Entscheidende gesagt,43 und da die Tieckspuren in Büchners letztem Drama fast ausschließlich dieser literarischen Spezies angehören, kann ich mich hier auf wenige Beobachtungen beschränken. Sie betreffen vor allem die Erzählung Adalbert und Emma oder das grüne Band und das kleine Drama Der Abschied. Beide Texte entstanden 1792 und wurden 1798 erstmals veröffentlicht, gehören also zum absoluten Frühwerk des 1773 geborenen Ludwig Tieck. In beiden Fällen geht es um Dreiecksgeschichten. In der Erzählung wird die kurz vor der Hochzeit mit Löwenau stehende Emma von ihrem früheren Geliebten Adalbert ermordet. Er ist auf die Nachricht von ihrer Hochzeit von weither gekommen und erscheint bei der Tat als vorübergehend Wahnsinniger. Löwenau tötet ihn gleich nach der Tat auf offener Bühne. In dem kleinen Drama Der Abschied treffen sich Louise, die vor einiger Zeit Karl Waller geheiratet hat, und ihr früherer Geliebter Karl Ramstein noch ein letztes Mal, um sich auf immer von einander zu verabschieden (2. Akt, 2. Szene). Waller missversteht die Abschiedsszene als Liebesszene und ermordet Ramstein gleich danach im Schlaf. Er kommt zurück auf die Szene und trifft Louise, die er am Ende der Szene ebenfalls ermordet, wiederum in einem Anfall von vorübergehendem Wahnsinn (2. Akt, 5. Szene).
43Vgl.
Ingrid Oesterle: Verbale Präsenz und poetische Rücknahme des literarischen Schauers. Nachweise zur ästhetischen Vermitteltheit des Fatalismusproblems in Georg Büchners „Woyzeck“. In: Georg Büchner Jahrbuch 3 (1983), 1984, S. 168–199.
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Die Schauerliteratur verlangt, dass eine Mordatmosphäre hergestellt wird, noch bevor der Mord geschieht, dass also die Personen den Mord im Voraus fühlen wie wetterfühlige Menschen den Regen von morgen. Es ist klar, dass Büchner mit der Figur des Narren einen solchen mordfühligen Menschen auf die Bühne stellt und dass der zweite Teil der Woyzeck-Handlung – spätestens ab der Szene, in der Woyzeck Marie und den Tambourmajor beim Tanzen beobachtet – im Zeichen des kommenden Mordes steht. Nicht klar war mir bisher, dass diese Verweiskette in Woyzeck schon in der ersten Szene einsetzt. Im Abschied nähert sich Ramstein Louise, weil er gerade hörte, wie die Glocke Mitternacht schlug. Sie klang ihm wie eine Sterbeglocke oder genauer: wie seine Sterbeglocke. Danach wurde es still und die Welt erschien wie tot. Woyzeck hat diese Empfindung in der ersten Szene. „Ramstein. Der letzte Schlag, – so hart, – so fürchterlich schließend, – und hernach alles so sll, kein Laut in der ganzen Natur, – alles todt! t o d t , Louise – mir war, als würd' ich es nicht hören Eins schlagen.“ (Tieck, Schrien II, 307 f.)
„Woyzeck. Sll, Alles sll, als wär die Welt todt.“ (Woyzeck H4,1)
Ramsteins frühere Geliebte Louise reagiert zunächst abwiegelnd, fühlt aber dann schließlich denselben „Schauer“. „Louise. Du bist sehr krank, – lieber Ferdinand, – und doch steckst du mich mit deiner Furcht an [...] Horch! wie der Wind um die Ecke der Straße winselt, – es ist wirklich schauerlich. Das Licht brennt so bleich und ma.“ (Tieck, Schrien II, S. 308)
„Marie. […] er hat mir Angst gemacht und sonst scheint doch als die Latern herein. ich halt’s nicht aus. Es schauert mich.“ (Woyzeck H4,2)
Zu Beginn dieser Szene erzählt Ramstein, warum er nicht schlafen konnte. Bei Büchner kommt diese Erzählung erst in einem späteren Teil der Handlung: „Ramstein. Ich kann nicht schlafen, – mir ist so sonderbar. […] als ich mich so allein im Zimmer sah, überfiel mich plötzlich ein sonderbares Entsetzen, – es war, als ständen fremde Männer um mein Be, die mir mit fürchterlichen Gesichtern den Zugang versperrten.“ (Tieck, Schrien II, S. 307)
„Woyzeck. ich kann nit schlafen [...] hörst du nix?“ (Woyzeck H4,13) „Woyzeck. […] hörst du jezt, und jezt, wie sie in den Wänden klopfen eben hat einer zum Fenster hereingeguckt[.] Hörst du’s nicht, ich hör’s den ganzen Tag.“ (Woyzeck H1,13)
Als Waller nach dem Mord an Ramstein Louise begegnet, die er gleich darauf ermorden wird, kommt es zu demselben Dialog wie in Woyzeck bei der Begegnung zwischen Woyzeck und seiner Geliebten vor dem Mord.
Lektürespuren in Büchners literarischen Werken „Waller. Fort! komm! Louise. Wohin? Waller. Wohin? – Was weiß ich’s?“ (Tieck, Schrien II, S. 319)
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„Louis. Margreth wir wollen gehn s’ist Zeit, Margreth. Wohinaus Louis. Weiß ich’s?“ (Woyzeck H1,14)
In der Erzählung Das grüne Band schließlich wird die Vorahnung des Sterbenmüssens ausgelöst durch ein ominöses Geräusch, ein „Ächzen“ und „schweres Athmen“. Büchner verwendet dieses Motiv als Wahrnehmung eines tatsächlichen Todesröchelns durch einen Fremden. „Emma. hörtest du kein Aechzen in der Nähe? [...] Es war „Hörst du? [...] Wie ein Mensch der ein schweres Athmen – wie eines Sterbenden.“ srbt.“ (Tieck, Schrien VIII, S. 343) (Woyzeck H1,16)
Anders als etwa Kleist sei Ludwig Tieck nicht als in sich geschlossene Dichterpersönlichkeit präsent und anregend, sondern „seine Texte, einige ihrer Denkfiguren, auch Zitate sind auf eine diffuse Art gegenwärtig […]; sein Werk ist sozusagen schon teilweise mutiert zum abstrakt-überpersönlichen Textkorpus der Zukunft,“ so urteilte der Tieck-Forscher Achim Hölter,44 und ein Gesamtbild von Büchners Übernahmen aus Tiecks Werken würde dieses Urteil bestätigen. Nehmen wir punktuelle Übernahmen wie das Bild von dem Tod, der unter die Bettdecke kriecht, oder Büchners Variante auf Tiecks witzige Folgerung aus dem Sprichwort „Müßiggang ist aller Laster Anfang“ mit in den Blick, so erscheint Tiecks Werk wie der Steinbruch aus einem „überpersönlichen Textcorpus“. Damit gleicht es übrigens dem Werk Jean Pauls. Die Beispiele, die hier in den Blick genommen wurden, lassen sich dagegen doch auf einen oder vielleicht zwei gemeinsame Nenner bringen. Wir haben zum einen die zwei Dorfidyllen in Lenz und zum andern herausragende Beispiele der Nachtseiten-Romantik. Sie begegnen beim sehr frühen Tieck in literarischen Produkten, die – mit der möglichen Ausnahme von William Lovell – so grell und effekthascherisch sind, dass ihnen der Zugang zum literarischen Kanon verwehrt blieb. Beim späten Tieck, also in Aufruhr in den Cevennen, erscheinen sie dagegen in moderater, für Kanonliteratur akzeptabler Form. Büchner gelingt es, die grellen Elemente so in die Dialoge von Danton’s Tod einzubauen, dass sie plausibel wirken. Das gelingt ihm vielleicht deshalb, weil zum einen die Situation, in der das Drama spielt, zwar entsetzlich, dabei aber historisch verbürgt ist, und weil zum andern die dramatis personae jenen uneigentlichen und leichten Ton, den das Salongespräch fordert, auch dann noch finden, wenn sie gerade die Leiter zur Guillotine hinaufklettern. Dort aber, wo der späte Tieck die moderateren Töne bevorzugt, führt Büchner umgekehrt wieder krassere
44Achim
Hölter: Ludwig Tieck. Ein kurzer Forschungsbericht seit 1985. In: Athenäum 13 (2003), S. 93–129. Hier zit. nach: https://edoc.hu-berlin.de/bitstream/handle/18452/6461/hoelter.pdf?sequence=1, S. 27 (Zugriff 05.12.2018).
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Töne ein. Die Hütte, in der Lenz eine Nacht verbringt, wirkt sehr viel unheimlicher als der Versammlungsplatz der Camisarden bei Tieck oder auch als die Hütte im Blonden Eckbert, und Lenz’ Attacke auf den Schöpfergott ist ungleich aggressiver und radikaler als Edmunds vorübergehender Abfall vom Glauben. Macht all das Büchner zum Romantiker? Vielleicht kann man sagen, dass Büchner für bestimmte Tendenzen der Romantik, die unter anderem Tieck zeitweilig vertrat, in seinen Werken den bleibenden Ausdruck gefunden hat.
Kryptomnemonische Anregungen Anmerkungen zu Büchners Tieck-Rezeption Arnd Beise
1 Hinweise auf tonale Verwandtschaft Georg Büchner war als Schüler ein Anhänger der „romantische[n] Schule“, berichtete sein Bruder Ludwig; unter „den deutschen Schriftstellern“ hätte bei ihm „eine Zeitlang Tieck den ersten Platz“ eingenommen.1 Bei der Schwester Luise lässt sich nachlesen, mit welchem „warmen Interesse“ und welcher „enthusiastischen Freude“ der Gymnasiast Georg im Familienkreis aus Tiecks Phantasus vorgelesen hat. Das von Luise Büchner in diesem Zusammenhang für den romantischen „Dichter“ gebrauchte Epitheton „genial“ widerspiegelt wohl die gemeinsame Einschätzung im Familienkreis.2 Und auch der Student Georg Büchner vertiefte sich noch im Herbst 1834 mit seiner Verlobten in die gemeinsame Lektüre des Roman(fragment)s Der Aufruhr in den Cevennen,3 mit dem Tieck nach einem Wort von Willibald Alexis das „Geheimnis“ entdeckt habe, wie man Geschichte dichterisch behandeln müsse,4 kurz bevor er selbst mit dem historischen Drama Danton’s Tod im literarischen Feld debütierte.
1Burghard Dedner (Hrsg.): Der widerständige Klassiker. Einleitungen zu Büchner vom Nachmärz bis zur Weimarer Republik. Frankfurt a. M. 1990, S. 116 f. 2Luise Büchner: Nachgelassene belletristische und vermischte Schriften in zwei Bänden. Frankfurt a. M. 1878. Bd. 1, S. 231. 3Dedner: Der widerständige Klassiker (wie Anm. 1), S. 117. 4Paul K. Richter: Willibald Alexis als Literatur- und Theaterkritiker. Berlin 1931 (Reprint: Nendeln 1967), S. 92.
A. Beise (*) Departement für Germanistik, Universität Fribourg, Freiburg, Schweiz E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 R. Borgards und B. Dedner (Hrsg.), Georg Büchner und die Romantik, Abhandlungen zur Literaturwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05100-4_5
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A. Beise
Die intensive Tieck-Lektüre hat allenthalben Spuren in den literarischen Texten Büchners hinterlassen, doch sind diese noch immer nicht systematisch aufgearbeitet worden.5 Nach eher allgemeinen Hinweisen, zum Beispiel des Literaturkritikers Otto von Leixner (1897),6 verfolgten Anfang des 20. Jahrhunderts etwa Heinz Lipmann (1923), Armin Renker (1924) und Rudolf Majut (1932) einzelne Spuren,7 gegen Ende des Jahrhunderts Ingrid Oesterle (1983), Axel Kühnlenz (1989) und Burghard Dedner (1992).8 Sofern philologisch nachvollziehbar, wurden alle bis dato angeführten Hin- und Nachweise in den Stellenkommentaren der Marburger Büchner-Ausgabe (MBA) in ihrer Bedeutung für Büchners Text relational abgestuft dokumentiert. Manche Hinweise wurden jedoch ignoriert; zum Beispiel einer des Herausgebers von Tiecks Phantasus im Deutschen Klassiker Verlag. Manfred Frank schrieb im Kommentar zu dem Märchenstück Der Blaubart, dass Büchners Leonce und Lena diesem „Tieckschen Schauspiel mehr verdankt als einer anderen zeitgenössischen Dichtung“.9 Leider führte er nicht genauer aus, an was er dabei dachte; wahrscheinlich an die kurz zuvor genannte „Ironie“,10 vielleicht aber auch an den später genannten „Tonfall“, den Frank im Fall der beiden Märchen, die im Blaubart und im Woyzeck erzählt werden, so ähnlich fand, dass er vermutete, Büchner sei hier durch Tieck direkt „angeregt“ worden.11
5Immerhin
habe „sich inzwischen“ die „Erkenntnis“ der „besondere[n] Abhängigkeit Georg Büchners“ von Tieck „vertieft“, meinte vor gut anderthalb Jahrzehnten Achim Hölter: Ludwig Tieck. Ein kurzer Forschungsbericht seit 1985. In: Athenäum 13 (2003), S. 93–129, hier S. 121. 6Leonce und Lena trage „den Stempel Tieckscher Romantik an sich“; zit. nach Jan-Christoph Hauschild: Georg Büchner. Studien und neue Quellen zu Leben, Werk und Wirkung. Königstein 1985, S. 263. 7Heinz Lipmann: Georg Büchner und die Romantik. München 1923; Armin Renker: Georg Büchner und das Lustspiel der Romantik. Eine Studie über Leonce und Lena. Berlin 1924 (Reprint: Nendeln 1967); Rudolf Majut: Studien um Büchner: Untersuchungen zur Geschichte der problematischen Natur. Berlin 1932 (Reprint: Nendeln 1967). 8Ingrid Oesterle: Verbale Präsenz und poetische Rücknahme des literarischen Schauers. Nachweise zur ästhetischen Vermitteltheit des Fatalismusproblems in Georg Büchners Woyzeck. In: Georg Büchner Jahrbuch 3 (1983), S. 168–199; Axel Kühnlenz: „Wie den Leuten die Natur so nahtrat…“. Ludwig Tiecks Der Runenberg als Quelle für Büchners Lenz. In: Georg Büchner Jahrbuch 7 (1988/89), S. 297–310; Burghard Dedner: Verführungsdialog und Tyrannentragödie. Tieckspuren in Dantons Tod. In: Ders., Ulla Hofstaetter (Hrsg.): Romantik im Vormärz. Marburg 1992, S. 31–89. 9Ludwig Tieck: Phantasus. Hrsg. von Manfred Frank. Frankfurt a. M. 1985 (= Bibliothek deutscher Klassiker. Bd. 2; Tieck: Schriften in zwölf Bänden. Bd. 6), S. 1356. 10Ebd.; vgl. Manfred Frank: Einführung in die frühromantische Ästhetik. Vorlesungen. Frankfurt a. M. 1989, S. 378, wo die Rede davon ist, dass erst Büchner in seinem Lustspiel wieder das Niveau der dramatischen Ironie erreicht habe, die den Blaubart auszeichne. 11Tieck: Phantasus (wie Anm. 9), S. 1367.
Kryptomnemonische Anregungen
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Mechthildes Märchen im Blaubart V/2
Großmutter-Märchen im Woyzeck H1,14
Es wohnte einmal ein Förster in einem dicken, dicken Wald; der Wald war so dick, daß der Sonnenschein nur in gebrochenen Schimmern herunter fallen konnte; wenn das Jagdhorn geblasen ward, so klang es fürchterlich in der grünen Einsamkeit. In der dichtesten Gegend des Forstes lag nun grade das Haus des Jägers. – Die Kinder wuchsen in der Wildnis auf, und sahen gar keine Leute als ihren Vater, denn die Mutter war schon seit lange gestorben. […] (S. 469 f.)a
Es war einmal ein arm Kind und hat kein Vater und keine Mutter war Alles todt und war Niemand mehr auf der Welt. Alles todt, und es ist hingangen und hat gerrt Tag und Nacht. Und wie auf die Erd Niemand mehr war, wollt’s in Himmel gehn, und der Mond guckt es so freundlich an und wie’s endlich zum Mond kam, war’s ein Stück faul Holz und da ist es zur Sonn gangen und wie’s zur Sonn kam war’s eine verwelkte Sonnenblume […].b
aAlle
in Klammern gesetzten Seitenangaben im Haupttext beziehen sich auf die in Anm. 9 genannte Ausgabe. Frank edierte die Phantasus-Ausgabe (3 Bde.) von 1812/16, die Büchner mutmaßlich gelesen hat. Für eine eingehende Untersuchung ist dieser Sachverhalt wichtig, weil die Ausgabe innerhalb der Schriften (1828) den Textzusammenhang zum Teil wieder auflöste bGeorg Büchner: Werke und Briefe. Hrsg. von Vf., Tilman Fischer, Gerald Funk. Darmstadt 2013, S. 141
Der direkte Vergleich der Anfänge der beiden Märchenerzählungen zeigt allerdings, dass die beiden Texte kaum Ähnlichkeiten haben. In dem einen wird stärker hypotaktisch erzählt, wo der andere parataktisch reiht; der eine kontextualisiert die Aussagen, der andere erklärt nichts; auch die szenische Einbettung ist in den beiden Dramen völlig anders, und die Ideologie des Märchens unterscheidet sich jeweils fundamental. Während in Tiecks Stück der Schrecken nach der Entdeckung von Blaubarts blutigem Geheimnis durch Mechthildes Schauermärchen aufrechterhalten und die Angst vor der Rückkehr des Ritters gesteigert werden soll, spiegelt sich im Märchen der Großmutter in Büchners Woyzeck das Elend der Armen, die sich darüber in gewisser Weise durchs Erzählen hinwegtrösten. Und doch sollte der Hinweis auf Tiecks „Tonfall“ und seine Vorbildlichkeit für Büchner in Hinsicht auf andere Passagen ernst genommen werden. In seiner Habilitationsschrift über Tiecks Beitrag zum Drama der Romantik bemerkte nämlich auch Stefan Scherer eine „Ähnlichkeit des Tons“ zwischen Leonce und Lena und dem Blaubart,12 welchem ein „besonderer Stellenwert“ für Büchners gewollte „Einschreibung in die Tradition der romantischen Komödie“ zukomme.13 Scherer hat diese Beziehung weder in dieser noch in anderen Publikationen genauer erforscht, doch verwies er in einer Fußnote beispielhaft auf die beiden Dialoge zwischen Simon und dem Arzt in Tiecks Stück, die sogleich an Büchners Stück denken ließen und „Vergleichsmöglichkeiten“ böten.14
12Stefan
Scherer: Witzige Spiegelgemälde. Tieck und das Drama der Romantik. Berlin, New York 2003, S. 272. 13Ebd., S. 610. 14Ebd., S. 272.
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2 Nagelprobe: Der Blaubart Simon ist der Melancholiker unter den drei Brüdern von Agnes, wie in diesem Stück die siebte Frau des Blaubarts heißt; er ist außerdem ein Romantiker mit einem übertriebenen „Hang zum Wunderbaren“ (S. 430). Der Arzt ist dagegen ein sehr prosaischer Mensch, der Simons Grillen mit Pulver, Trank und Pillen, also somatisch, kurieren möchte – was ihm aber letztlich nicht gelingt. Zum Glück, könnte man sagen, denn die romantischen Ahndungen Simons führen am Ende zur Rettung von Agnes und zur Bestrafung Blaubarts. Während der Arzt Simon untersucht (S. 421: „fühlt Simons Puls“), verwickelt dieser ihn in ein Gespräch über das, was ihm „beständig […] im Kopfe“ liege, nämlich ob man „seine dunkeln Empfindungen […] nicht bis zum Prophezeien sollte bringen können“, wenn man sie gehörig kultiviere und aufkläre. Der Arzt wiegelt ab: Arzt Das ist nur Schimäre. Simon Und dann ängstigts mich so oft, warum eine Sache gerade so und nicht anders ist. Arzt Wie meint Ihr? Simon Seht, diese Tür geht nach außen hinaus, wenn man sie aufmacht; warum könnte sie nicht eben so gut ins Zimmer herein gehn? Arzt Da habt Ihr Recht; – aber auf irgend eine Art muß sie doch beschaffen sein. Simon Wer leugnet das? – Und manchmal ist mir, als müßt ich durchaus auf meine Pulsschläge Acht geben, und als würde bei dem einen plötzlich eine schmerzhafte Krankheit ausbrechen. Arzt Ihr müßt die Pulver nehmen. Simon Manchmal muß ich einen halben Tag hinter einander funfzehn zählen. Arzt Und den Trank. Simon Manchmal, als wäret Ihr mit allen Euren Arzneien nur ein Narr. Arzt setzt sich: Ja, da muß ich Euch nur noch Pillen verschreiben. – Schreibt. Und nun lebt wohl, ich besuche Euch bald wieder. Ab. Simon Es ist nichts mit ihm anzufangen. Geht ab. (S. 421 f.)
In der Tat erinnert Simon ein wenig an Leonce und König Peter zugleich, während der Arzt als Doctor im Woyzeck wieder auftaucht: egozentrisch, platter Rationalist, auf die Somatik fixiert, pulsmessend, verständnislos für die Nöte seines Patienten und überzeugt von der unbeschränkten „Gewalt“ des Menschen „über sich“ selbst (S. 427). Etwas später folgt eine Szene mit dem Arzt, Simon und dem hinzutretenden Ritter Hugo, die der Unterhaltung zwischen Doctor, Hauptmann und Woyzeck in H2,7 verwandt zu sein scheint:15 Hugo [zu Simon] Und Ihr seid noch immer so finster, Junker? – Ihr solltet heiraten, die Liebe würde Euch wie eine Sonne aufgehn, und Ihr würdet dann die Welt nicht mehr so dunkel finden. Arzt Er sollte nur Arznei nehmen, so würde er schon besser werden. […]
15Vgl.
Büchner: Werke und Briefe (wie Anm. b zu dem Textbild auf S. 89), S. 151 f.
Kryptomnemonische Anregungen
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Hugo Vielleicht ist eine unglückliche Liebe an Eurem Zustande Schuld. Arzt Ach nein! Er hat gewiß schon seit mehreren Jahren keine Diät gehalten, und da rächt sich die Natur nachher. Hugo Sucht Euch ein schönes Mädchen aus. Arzt Es sind nur Unordnungen im Unterleibe. Hugo Ihr scheint ein verständiger Mann, nehmt Euch meines Freundes an. Arzt Er läßt sich nicht raten. Hugo Es wird noch mit ihm besser werden, wenn er nur erst heiratet. (S. 429 f.)
Im weiteren Verlauf wendet sich der Kriegsmann dem Arzt mit einem eigenen Problem zu, der Farbe seines Bartes nämlich, doch der Arzt scheint das Anliegen nicht ernst zu nehmen: Arzt Nun, grün könnten wir ihn bald kriegen, aber damit wäre Euch auch nicht gedient, eine Frühlingskur, oder ein Eisenbad könnten ihn gar scheckig machen, halb rot, halb blau, – die Kunst ist hier sehr beschränkt, – aber seid nur getrost, mit dem Alter, so wie das Haar etwas ergraut, wird Euer Bart binnen wenigen Jahren noch lichter oder himmelblau werden, dann in das Müllerblau fallen, und so unvermerkt in die ehrwürdige und unanstößige weiße Farbe. Hugo für sich: Himmelblau! Müllerblau! Laut: Lümmel von Arzt. Geht schnell ab. Arzt Es gibt wunderliche Menschen! Von der andern Seite ab. (S. 431)
Dieser kleine Disput erinnert an die Szene H4,9 im Woyzeck, in der der Doctor den Hauptmann mit einer unangenehmen Diagnose schreckt, worauf sie sich mit „Hohlkopf“ und „Einfalt“ foppen und betitelt als „Exercirzagel“ bzw. „Sargnagel“ nach verschiedenen Seiten abgehen.16 Simon musste Büchner schon als der Melancholiker des Stückes interessieren. Dass es ihn ängstigt, dass „eine Sache gerade so und nicht anders ist“, erinnert an König Peter; dass er halbe Tage immerzu bis 15 zählen muss, ist auch nicht besser als „dreihundert fünf und sechzig Mal hintereinander“ auf einen „Stein […] zu spuken“.17 Simon denkt außerdem zwanghaft über das Denken nach, so dass er einem närrischen Freund seines Bruders als „Narr“ erscheint, von dem jener sagt: „Höchst kurios! Ha ha ha! Ich muß lachen, so oft ich an ihn denke“ (S. 403). Tieck karikierte in einer der Scharaden über das Denken die Transzendentalphilosophie Fichtes (S. 420), der auch Büchners Spott in Leonce und Lena galt. Simon findet „keine Ruhe“ in sich „selber“ (S. 427; vgl. S. 420: „Unruhe“), wie er sagt, weil es „schwer zu denken“ sei, „auf welche Art man denkt: denn, versteht, das, was gedacht wird, soll denken; ein Casus, der einen sonst ganz vernünftigen Menschen wohl toll machen könnte“ (S. 420); und das Schlimmste ist: Die meisten Leute wissen in ihrer „unbegreiflichen Trägheit“ gar nicht, dass sie kaum mehr denken, als was es zum Mittagessen geben könnte. „Alle Menschen würden melancholisch sein, wenn sie sich nur vor ihren Nichtswürdigkeiten die Zeit dazu ließen.“ (S. 428) Ohne dass sich wörtliche Übereinstimmungen finden ließen, liegt die
16Ebd., 17Ebd.,
S. 162. S. 108.
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erwandtschaft mit Büchners Texten, namentlich Leonce und Lena sowie WoyV zeck, auf der Hand. Neben Simon, den man – wie gesagt – sowohl in Leonce als auch in König Peter wiedererkennen kann, gibt es noch weitere Figuren, die Büchner offenbar beeindruckt haben: Zum Beispiel der opportunistische und sinnlose Ratschläge gebende Ratgeber, der aus den Diensten der Herren von Wallenrod in die des Blaubarts übergeht, ebenso wie dessen Kumpel Claus, der Narr. Einmal gibt Claus den Wallenrod-Brüdern den durchaus vernünftigen Rat, „die Sachen nicht einseitig“ zu betrachten: Claus Nun also, so denkt! Ratgeber, denkt einmal recht tüchtig! Ratgeber Ja, der Kleine hat Recht, so klein er auch ist, und so rate ich denn, nach reiflichem Überlegen, daß Ihr noch fürs erste den ganzen Feldzug sein lasset. Heymon Ist das Euer Rat? Ratgeber Wenn wirs beim Lichte besehn, wirds ohngefähr auf so etwas hinaus laufen. Heymon Das ist nichts, Ratgeber. Etwas Besseres. Ratgeber Ihr glaubt wohl, daß man den guten Rat nur so aus den Ärmeln schüttelt. Ich weiß nichts Bessers. Conrad Hm, – wenn man – nein! Heymon Hm. – Könnte man nicht, – bewahre! Martin Hm! – Ich dächte – Ich weiß nicht, was ich dachte. Ein Ritter Aber Herr Ritter, Ihr vergaßt ja ganz, daß Claus nur ein Narr ist. Conrad Richtig! Da steckt der Knoten! – Und wir stehn da alle und überlegen! (S. 398)
Das sind alles Szenen, die Büchner nicht zitierte, sondern in ihrer Sprachverwendung oder Dialogführung imitierte. Wichtig ist dabei die gelegentliche „Verselbständigung selbstbezüglicher Figurenrede ins Wortspiel“,18 die sich bei Büchner genauso wie bei Tieck findet. Nach der Schlacht zwischen den Kriegsknechten der Wallenrods und denen Ritter Hugos (der Blaubart) zerren die Soldaten den Narren hinter einem Busch hervor und vor ihren Herren: Hugo Komm her, ich bin grade in der rechten Stimmung, dir dein Todesurteil zu sprechen. Claus Und ich sage Euch, ich bin grade in der rechten Stimmung, daß ich nichts darnach frage. (S. 409)19
Wer würde dabei nicht an Leonce und Valerio denken, deren Dialoge häufig aus vergleichbaren Pingpong-Sätzen bestehen. Und wie Leonce Valerio wegen seiner „himmlische[n] Unverschämtheit“20 in sein Herz geschlossen hat, so ist auch Ritter Hugo von Claus’ Repliken begeistert: „Kerl, du gefällst mir. Willst du mein Narr werden?“ (S. 411).
18Scherer:
Witzige Spiegelgemälde (wie Anm. 12), S. 273. Tieck: Phantasus (wie Anm. 9), S. 723: „ich bin heut einmal in dem Humor, zu bezahlen, ich weiß nicht, wann mir das wieder kommt.“ 20Büchner: Werke und Briefe (wie Anm. b zu dem Textbild auf S. 89), S. 115. 19Vgl.
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Der Narr selbst findet den Erfolg seiner närrischen Rede – „schwatzen“ nennt Hugo diese Art närrischer selbst- und weltverneinender Philosophie (S. 411); Anton nennt die melancholischen Reflexionen seines Bruders Simon „Geschwätz“ (S. 418) – befremdlich. Da habe er sich mit „einer so geringen Verstellung“ und „wenigen Worten“ sein Leben „von dem blutdürstigen grimmigen Menschen zurück kaufen können?“ Aber „ernsthaft überleg[t]“ sei sein „Leben“ wirklich wohl nicht viel wert. Ho ho! das fehlte nur noch, das wäre ein Hauptspaß, daß ich mich selbst aus Desperation aufknüpfte, nachdem er mich verschont hat. Aber meine armen Herren! – Ich könnte weinen. – Und warum sollte ich nicht weinen? Es ist eben so töricht, als zu lachen, es liegt also nicht außer meinem Berufe. (S. 412)
Abgesehen von der letzten Selbstexplikation – eine Umständlichkeit, die Büchner seinen Figuren stets ersparte – sind das Gedanken oder Formulierungen, die man auch bei Büchner finden könnte, selbst wenn man sie nicht wörtlich so findet. In der Art ließe sich noch allerlei anführen: Das menschliche Leben als ein „albernes Puppenspiel“ (S. 450); dass „die meisten Menschen“ nicht wissen, was oder warum sie etwas meinen oder „tadeln“ (S. 418); das Sprechen in Sentenzen und Sprichwörtern (S. 408, 451); die Nachsicht der Menschen immer nur mit „eigenen Schwachheiten“ (S. 460); die Lachlust („Ich möchte lachen“) angesichts der eigenen Melancholie (S. 427); der überforderte Ratgeber des Fürsten (S. 397, 448); die Verwunderung darüber, dass bei manchen Menschen das „ganze Leben […] nur mit einem einzigen Gedanken ausgefüllt“ sei (S. 447); die „Herberge an der Landstraße“, in der Agnes plötzlich auffällt, dass auf ihrer wirklichen „Reise“ nun „alles so anders“ sei, als sie es sich in ihrer „Vorstellung“ vorher ausgemalt hatte (S. 442) – allerdings ist es bei Büchner nicht die Braut, sondern die Gouvernante, die die Welt „abscheulich“ findet und den Kommentar erntet: „Wir haben Alles wohl anders geträumt mit unsern Büchern hinter der Mauer unsers Gartens“.21
3 Kryptomnemonische Anregungen Die bisher gegebenen Beispiele können vermutlich zeigen, dass es durchaus so etwas wie eine ‚tonale‘ Verwandtschaft zwischen Tiecks Blaubart und Büchners Dramen gibt, allerdings ist diese nicht solcher Art, dass sie in der Marburger Büchner-Ausgabe verzeichnet worden wäre. Dort finden sich Hinweise auf Tiecks Blaubart in Band 6 (Leonce und Lena) gar nicht und in Band 7 („Woyzeck“) nur in zwei Fällen, nämlich zur Szenenangabe „Freies Feld“ (H1,12; H4,12) und zur Formulierung „Ich hab(e) keine Ruh(e)“ (H1,4; H1,7; H1,13; H4,10); das eine Mal als sehr allgemeiner Hinweis auf die „besonders im romantischen Drama beliebte Szenenangabe“, für die Der Blaubart ein Beispiel unter anderen ist, das zweite Mal als Verzeichnung der möglicherweise direkt anregend wirkenden Stelle eines
21Ebd.,
S. 121.
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im Blaubart V/1 formulierten Rachewunsches: „Ich habe keine Ruhe, bis ich diesen Hugo mit dem Schwert unter mich gebracht habe“ (S. 464).22 Für textliche Verwandtschaften, die weder Informationen über die allgemeine Verbreitung bestimmter Formulierungen und Vorstellungen noch über die vermuteten (möglichen oder wahrscheinlichen) Abhängigkeiten bzw. Anregungen Auskunft sind, hatte die Marburger Ausgabe keine Beschreibungssprache gefunden. Aus gutem Grund: Als die historisch-kritische Ausgabe der Werke und Schriften Georg Büchners konzipiert und erarbeitet wurde, waren die Philologen unter den Literaturwissenschaftlern immer noch traumatisiert von einem subjektiv-emphatischen Umgang mit literarischen Texten, wie er nach dem Krieg bis in die 1970er Jahre hinein gepflegt wurde, wobei es vornehmlich um „Stimmungslagen“ und „Gefühlsordnungen“ ging.23 Die Marburger Ausgabe wollte (neo-)positivistisch exakt informieren und keine literaturwissenschaftlichen ‚Ahnungen‘ vermitteln. In dieser Hinsicht ist die Marburger Ausgabe der Werke und Schriften Georg Büchners bis heute für avancierte Editions-Projekte terminologisch stilprägend. Ich denke aber auch, dass wir noch eine Beschreibungssprache finden müssen, die es erlaubt, auch tonale (indirekte) Verwandtschaften mit derselben Exaktheit zu beschreiben, wie sie für direkte Abhängigkeiten inzwischen etabliert wurde.24 Wahrscheinlich wäre für dieses Projekt insbesondere eine gründliche, systematische und theoriegestützte Untersuchung von Büchners Rezeption des Phantasus nützlich. Wir wissen, dass Büchner diese Textsammlung als Jugendlicher liebte; wir können vermuten, dass selbst dann, wenn Büchner sich im Sinn einer Kryptomnemonik – ich vermeide absichtlich den pathologisierenden Begriff der Kryptomnesie – nicht bewusst erinnerte, Tiecks Texte sein Schreiben beeinflussten.25 Denn bis zur Erfindung von Literaturschulen im 20. Jahrhundert galt die Regel: „Dichter werden meistenteils Dichter durch Dichter-Lesen“.26 Dass man über die bisher in der Forschung ventilierten „Vergleichsstellen“27 hinaus – es kamen fast alle Erzählungen und Dramen aus dem Phantasus schon
22MBA
7.2, S. 447 und 489. Baumann: Georg Büchner. Die dramatische Ausdruckswelt (1961). Zweite, durchgesehene und ergänzte Auflage. Göttingen 1976, S. 165. 24Vgl. Vf.: Georg Büchner und die Romantik. In: Georg Büchner und das 19. Jahrhundert. Hrsg. von Ariane Martin und Isabelle Stauffer. Bielefeld 2012, S. 215–229, hier S. 224: In der historisch-kritischen Ausgabe fehle eine Verzeichnung von „Zusammenhänge[n] in Hinsicht auf Empfindungen, Klangfarben und Konstellationen“. 25An anderer Stelle sprach ich davon, dass Tieck Büchners Schreiben „imprägniert“ habe; vgl. Vf.: „Ein Revolutionär und ein Romantiker zugleich“. In: Georg Büchner. Revolutionär mit Feder und Skalpell. Hrsg. von Ralf Beil, Burghard Dedner. Stuttgart 2013, S. 367–389, hier S. 367. 26Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe. Hrsg. von Wolfgang Promies. Bd. 1. München 1968, S. 313 (in D 541). 27Renker: Georg Büchner und das Lustspiel der Romantik (wie Anm. 7), S. 125: „Der Ausdruck ‚Vergleichsstellen‘ ist ein Sammelbezeichnung und vielleicht nicht glücklich gewählt. Diese Parallelen enthalten eine Skala, beginnend mit den wörtlich angeführten Stellen aus andern Dichtern fortschreitend zu den Strahlen, die unbewußt in die Konzeption und Niederschrift geleuchtet haben.“ 23Gerhart
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vereinzelt in den Blick – noch einmal den gesamten Text daraufhin untersuchen muss, inwieweit sie auch strukturell oder in der „Tonart“28 Büchners Texte beeinflusst haben könnten, versteht sich von selbst. In einem früheren Aufsatz formulierte ich: „Der Einfluss Tiecks lässt sich im gesamten literarischen Werk Büchners nachweisen. Er hatte ihn derart verinnerlicht, dass es oft kaum möglich ist, kleine und kleinste Tieck-Partikel in Büchners Texten eindeutig zu identifizieren.“29 Es wäre zu überprüfen, ob eine Identifikation nicht doch möglich ist. Die Schwierigkeiten des Vorhabens sind indes immens. Dass es „schwierig“ sei, „wenn nicht unmöglich, Teile oder einzelne Stellen des Textes […] philologisch schlüssig auf eine bestimmte Herkunft festzulegen“, notierte bereits Henri Poschmann.30 Mitunter konvergieren die Traditionen, in denen Büchner sich bewegt, so dass etwa „Motive aus den Dramen Shakespeares und aus Tiecks Texten sich überschneiden“, wie Burghard Dedner zu Recht feststellte.31 Wo Büchner zum Beispiel zuerst die im Woyzeck (H3,2; H4,2) verwendeten, zu Volksliedern gehörenden Interjektionen „sa sa. […] Hop! hop! […] Sa ra ra ra! […] Sa! Sa!“32 las, in Des Knaben Wunderhorn33 oder in Tiecks Blaubart (S. 440 f.), muss offen bleiben; gelesen hat er beides. Schon länger vermutet wurde in der Forschung die Abhängigkeit einer bestimmten Situation in Lenz – die häusliche Verrichtung der Andacht durch eine alte Frau, die „nicht zur Kirche gekonnt“34 – von der Eingangsszene des Tieck’schen Leben und Tod des kleinen Rotkäppchens (S. 363). Ist vielleicht auch die Formulierung des unmöglichen Ideals, „sich einmal auf den Kopf sehen“ zu können,35 durch eine unbewusste Erinnerung an die angeblich ‚närrische‘ Idee Rotkäppchens induziert, die denjenigen „selig“ preist, „wem es mochte glücken,/Daß er auf seinem Kopf sah/Wie ich, ein schönes rotes Käppchen“ (S. 371)? Obwohl hier streng genommen der Blick in den Spiegel nicht ausgeschlossen ist, so dass Rotkäppchens Wunsch nicht gleichermaßen unmöglich ist wie der von Leonce, könnte man zu Gunsten einer Beeinflussung argumentieren, dass ein Spiegel in Tiecks Text nicht vorkommt. 28Renker:
Georg Büchner und das Lustspiel der Romantik (wie Anm. 7), S. 56; Renker hält allerdings gerade die „Tonart“, die er nicht zum „Stoff“ oder „Gehalt“, sondern zur „Form“ (Stilmittel) zählt, bei Büchner und Tieck auch bei äußerlicher Ähnlichkeit für „im Grunde“ verschieden (vgl. ebd., S. 7, 41, 49, 52 und 76).
29Vf.:
Georg Büchner und die Romantik (wie Anm. 24), S. 222. S. 465: „Stichhaltigkeit und Bewertung der in Betracht gezogenen Quellenbezüge sind zu großen Teilen umstritten.“ Vgl. Renker: Georg Büchner und das Lustspiel der Romantik (wie Anm. 7), S. 125: „Ueber die Auswahl läßt sich streiten, manches mag als allzuweit hergeholt betrachtet, manches als gesucht abgelehnt werden.“ 31Dedner: Verführungsdialog und Tyrannentragödie (wie Anm. 8), S. 81. 32Georg Büchner: Werke und Briefe (wie Anm. b zu dem Textbild auf S. 89), S. 155–157. 33Vgl. Georg Büchner: Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. von Ariane Martin. Stuttgart 2012, S. 636–638. 34Georg Büchner: Werke und Briefe (wie Anm. b zu dem Textbild auf S. 89), S. 95. 35Ebd., S. 108. 30P I,
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Man könnte weiterhin fragen, ob die Dialogtechnik in Leonce und Lena II/1 und II/2: Valerio (keuchend). Auf Ehre, Prinz, die Welt ist doch ein ungeheuer weitläuftiges Gebäude. Leonce. Nicht doch! Nicht doch! Ich wage kaum die Hände auszustrecken, wie in einem engen Spiegelzimmer […].36 Gouvernante. […] es ist so unendlich lang seit unsrer Flucht. Lena. Nicht doch, meine Liebe, die Blumen sind ja kaum welk, die ich zum Abschied brach […].37
ihr Vorbild nicht auch in den Repliken von Hanne und Rotkäppchen in Tiecks Märchenstück (4. Szene) hat: Hanne. Es wird schon finster, ich gehe nicht weiter. Rotkäppchen. Nicht doch, die Sonne scheint noch so heiter. (S. 379)?
Freilich ist dann zu prüfen, ob die Zurückweisung einer Behauptung durch das entschiedene „Nicht doch“ nebst folgender Behauptung des Gegenteils ein in der dramatischen Literatur womöglich verbreitetes Strukturelement ist. Und in der Tat findet man es auch in Tiecks Gestiefeltem Kater (554), genauso wie bei Gerstenberg, Leisewitz, Lessing, Klinger, Maler Müller, Wagner, Schiller, Iffland, Kotzebue, Weißenthurn, Kleist, Zschokke, Immermann und einigen andern, vor allem aber auch bei Goethe (Götz von Berlichingen, Faust u. a.) und Shakespeare in der Schlegel-Tieck’schen Übersetzung (Hamlet, Was ihr wollt, Wie es euch gefällt u. v. a. m.; in Liebes Leid und Lust sogar in Verbindung mit „müden Schritten“38), mithin also in vielen Texten, die für Büchners literarische Sozialisation wichtig waren. Zu konstatieren ist also, dass Büchner bestimmte Dialogtechniken bei Dramatikern in der Shakespeare-Tradition lernte, sei es bei dem ‚Meister‘ selbst (vermittelt durch Schlegel-Tieck) oder bei seinen deutschsprachigen Adepten, allen voran Goethe, Tieck und die Sturm-und-Drang-Dichter. Die Aufmerksamkeit für Stilmittel und Strukturen sollte weiter geschärft werden, denn möglicherweise kann man den Ursprung bestimmter szenischer Vorstellungen doch noch genauer festmachen, als dies bisher geschehen ist. Natürlich wurde der Zusammenhang von Büchners Kleinststaaten-Verspottung in der letzten Szene von Leonce und Lena mit ihrer Entsprechung in Tiecks Gestiefeltem Kater (S. 511) schon längst bemerkt, doch übersehen wurde, dass die szenische Vorstellung vom allmählichen Näherkommen einer oder mehrerer Figuren, die – zunächst nicht genau erkennbar („Vorsprung“, „Nase“) – sich zuletzt als „Personen“ erweisen,39 möglicherweise ihr Vorbild in einer grotesken Situation von 36Ebd.,
S. 120. S. 121. 38Shakspeare’s dramatische Werke. Uebersetzt von August Wilhelm von Schlegel, ergänzt und erläutert von Ludwig Tieck. Neunter Theil. Berlin 1833, S. 166. 39Georg Büchner: Werke und Briefe (wie Anm. b zu dem Textbild auf S. 89), S. 130. 37Ebd.,
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Tiecks Leben und Taten des kleinen Thomas, genannt Däumchen hat, wobei sich in Büchners Hirn vermutlich nicht der Wortlaut, sondern das Bild des surrealistischen Vorgangs festgesetzt hatte: Hofrat Semmelziege ist durch einen Zufall zum Spielzeug eines „ungeschlachte[n] Mann[es]“ (S. 704) geworden, der ihn zum Spaß mit einer Wippe durch die Luft zu schleudern pflegt. Zeugen dieser peinlichen Art von Höhenflügen des ehemals arroganten Studenten werden eines Tages die vormaligen Kommilitonen von Semmelziege: Persiwein. Sieh! sieh! was ist das Weiße, das dort unten im Tal in der Luft schwebt? Alfred. Ich sehe nichts. Persiwein. Dort unten, bei den romantischen Hütten, im Gärtchen, – sieh, wieder, – nun kömmt es zurück, – nun fliegt es wieder in die Höhe. Alfred. Ich muß mein Glas zur Hülfe nehmen. Sollt es nicht ein Schmetterling sein? Persiwein. Es ist größer. Alfred. Ich seh, es ist eine Eule, die herunter gefallen ist […]. Persiwein. Es hat fast eine menschliche Gestalt. Alfred. Warum nicht gar. Jetzt unterscheid’ ich, es ist ein Stück Wäsche, mit welchem der Wind spielt. Persiwein. Ei bewahre! Es läuft ja, dann fliegt es wieder. Sehr kurios […], es rührt sich und kommt näher. Alfred. Ich ändre meine Meinung, es ist ein Tier, welches in den Bergen herum klettert. Persiwein. Es scheint mir immer gewisser, daß es eine Art von Mensch sein muß. Alfred. Niemals werd ich das glauben. Schau, wie es herauf klimmt, und die langen Vorderbeine schwenkt und schleudert; es spürt wohl nach Mäusen. Persiwein. Sieh, sieh, nun nimmt es den Hut ab und ist ein Mensch. Alfred. Richtig, ich erstaune. Persiwein. Es grüßt. (S. 713 f.)
4 Fazit Wie meine Beispiele gezeigt haben, sind Tiecks mutmaßliche Einflüsse auf Büchners Texte auf ganz unterschiedlichen Ebenen zu finden. Auf der obersten Ebene findet sich eine grundsätzliche Strukturhomologie, etwa im Fall von Leonce und Lena mit der romantischen Komödie respektive der „aristophanischen Humoreske“, wie man das damals nannte.40 Das bedeutet konkret: Die satirischen Elemente werden nie dominant, sondern sind der romantischen Struktur ein- oder untergeordnet, sozusagen inkorporiert. Auf der untersten Ebene finden sich einzelne Formulierungen wie: „beim Licht(e) besehn“ (S. 398) – mit explizitem Dativ eine in der romantischen Literatur häufige und besonders Tieck
40Vgl.
Vf.: Georg Büchners Leonce und Lena und die „Lustspielfrage“ seiner Zeit. In: Georg Büchner Jahrbuch 11 (2005–2008), S. 81–100.
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eigentümliche Wendung41 –, die sich auch in Leonce und Lena findet.42 Zwischen diesen beiden Extremen liegen die anderen ‚Ähnlichkeiten‘: Szenische Situationen, figurative Konstellationen, rhetorische Tricks, Wortspielereien; zum großen Teil kryptomnemonische Anregungen, die sich nicht in wörtlichen Übereinstimmungen niedergeschlagen haben. Es gilt also für die „Forschenden“, mit Tieck zu sprechen,43 neben den „sichtbaren“ nun also auch die „unsichtbaren Fäden“ des intertextuellen Geflechts zwischen Büchner und Tieck ans Licht zu ziehen. Die besondere Aufmerksamkeit des Dramatikers Tieck galt dem, was er selbst mit Begriffen wie „Klima“, „Duft“, „Färbung“ oder „Ton“ zu beschreiben suchte,44 dazu kamen ihm eigentümlich erscheinende „Träume und Visionen als Handlungsmotive“ sowie eine „Technik der scharfen Kontrastierung sowohl der Personen wie der Szenen“.45 Das alles beeindruckte den jungen Büchner augenscheinlich, wie aber noch präziser herausgearbeitet werden müsste. Nicht zuletzt fühlte Büchner sich wohl auch durch die „liebe Albernheit“ (S. 121)46 angezogen, mit der Tieck die romantische Sehnsucht nach einer heilen Welt, recht eigentlich die Sehnsucht nach dem Ganzen,47 ironisierte. Selbstpersiflage zeichnet natürlich vor allem Leonce und Lena aus, aber Büchner scheute sich nicht, wie ich an anderer Stelle schon einmal sagte,48 auch in tragischen Zusammenhängen, wie etwa dem W oyzeck-Drama, romantische „Albernheit“ miteinzubringen.
41Mit
explizitem Dativ findet sich die Phrase nur 30 Mal (davon 7 Mal bei Tieck) in der Datenbank: Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky. Großbibliothek. Berlin 2005 (= Digitale Bibliothek. Bd. 125). 42Georg Büchner: Werke und Briefe (wie Anm. b zu dem Textbild auf S. 89), S. 115. 43Ludwig Tieck: Kritische Schriften. Zweiter Band. Leipzig 1848 (Reprint: Berlin, New York 1974), S. 137. 44Tieck an Solger, 30. Januar 1817; zit. nach Karl Wilhelm Ferdinand Solger: Nachgelassene Schriften und Briefwechsel. Hrsg. von Ludwig Tieck und Friedrich von Raumer. Bd. 1. Leipzig 1826 (Reprint: Heidelberg 1973), S. 501 f. 45Paul Kluckhohn: Einführung zu den Bänden 20, 21, 22. In: Dramen von Zacharias Werner. Bearbeitet von Paul Kluckhohn. Leipzig 1937 (= DLE, Reihe Romantik. Bd. 20), S. 9. Ebenso Thomas Meißner: Erinnerte Romantik. Ludwig Tiecks „Phantasus“. Würzburg 2007, S. 382: „Komik und Ernst, Albernheit und tragische Zuspitzung“, „Oszillieren zwischen Tragödie und Komödie“; S. 384: „Träume und ‚Ahndungen‘“; S. 385: „dialektisch auf einander bezogene Figuren“; S. 387: „kontrastive Fügung der Szenen“. 46Derselbe Ausdruck auch in Tiecks Prolog zu Ritter Blaubart (1797; zit. nach Paul Kluckhohn (Hrsg.): Dramen der Frühromantik. Leipzig 1936, S. 17) und in der Novelle Dichterleben (1826; zit. nach Ludwig Tieck: Shakespeare-Novellen. Hrsg. von Joachim Lindner. Berlin 1981, S. 137). 47Das „Ganze“ (MBA 3.2, S. 46; MBA 8, S. 155) war auch eine Sehnsucht Büchners, der er sich literarisch aber nicht hinzugeben wagte, vgl. Vf.: Die Sehnsucht nach dem System und ihre literarische Preisgabe bei Büchner. In: Georg Büchner Jahrbuch 13 (2013–2015), S. 93–101. 48Vf.: Georg Büchners Leonce und Lena und die „Lustspielfrage“ (wie Anm. 40), S. 86.
Romantische Passion? Konfessionspoetik und Medienpolitik in Georg Büchners Danton’s Tod Andrea Polaschegg
1 Büchner – Romantik – Religion Dass Büchners Dichtungen von Bibelversen, sakralen Figurationen und Frömmigkeitsszenarien durchsetzt sind, besitzt eigentlich keinen Neuigkeitswert.1 Zwar hat der Autor die religiösen Prä- und Subtexte in seinen dramatischen und erzählerischen Werken sorgsamer verarbeitet als im Hessischen Landboten, wo auch die vielen unausgewiesenen Bibelzitate aus einem derart prominenten Perikopen-Pool stammen, dass selbst dem unaufmerksamsten Leser – dessen (kultur-)protestantische Sozialisation vorausgesetzt – der durchgängige Gottesbezug nicht entgehen kann.2 Gleichwohl bedarf es auch bei der Lektüre der Büchner’schen Dramen und des Lenz
1Vgl.
dazu die grundlegenden Studien: Joachim Bark: Bibelsprache in Büchners Dramen. Stellenkommentar und interpretatorische Hinweise. In: Burghard Dedner, Günter Oesterle (Hrsg.): Zweites Internationales Büchner-Symposium. Frankfurt a. M. 1990, S. 476–505; Heinrich Anz: „Leiden sei all mein Gewinnst“. Zur Aufnahme und Kritik christlicher Leidenstheologie bei Georg Büchner. In: Georg Büchner Jahrbuch 1 (1981), S. 160–168; Walter Hinderer: Pathos oder Passion. Die Leiddarstellung in Büchners Lenz. In: Ders.: Über deutsche Literatur und Rede. Historische Interpretationen. München 1981, S. 168–190; Thorben Päthe: Theatralische Passionen. Zur Liturgie der Revolution bei Bertolt Brecht und Georg Büchner. In: Gernot Wimmer (Hrsg.): Georg Büchner und die Aufklärung. Wien, Köln, Weimar 2015, S. 207–225; Ikumi Waragai: Analogien zur Bibel im Werk Büchners. Religiöse Sprache als sozialkritisches Instrument. Frankfurt a. M. 1996. 2Vgl. Gernot Wimmer: Christlicher Glaube als Vehikel subversiver Aufklärung. Zur PersuasionsFunktion der Weltgerichts-Prophetie in Der Hessische Landbote. In: Ders.: Georg Büchner und die Aufklärung. Wien, Köln, Weimar 2015, S. 35–50.
A. Polaschegg (*) Germanistisches Seminar, Universität Siegen, Siegen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 R. Borgards und B. Dedner (Hrsg.), Georg Büchner und die Romantik, Abhandlungen zur Literaturwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05100-4_6
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keiner ausgewiesenen Sakralkompetenz, um die entsprechenden Rekurse als solche zu erkennen. So entwirft sich Marie im Woyzeck ganz unmissverständlich als büßende Maria Magdalena, zumal sie dabei die entsprechende Perikope aus der Bibel vorliest:3 „Und trat hinein zu seinen Füßen und weynete und fing an seine Füße zu netzen mit Thränen und mit den Haaren ihres Hauptes zu trocknen und küssete seine Füße und salbete sie mit Salben. (schlägt sich auf die Brust) Alles todt! Heiland, Heiland ich möchte dir die Füße salben.“ (MBA 7.2, S. 32).4 Nicht minder explizit wird am Ende des ersten Aktes von Leonce und Lena nämliche Lena von ihrer Gouvernante als „Opferlamm“ apostrophiert, woraufhin sie in den Ruf ausbricht: „Mein Gott, mein Gott, ist es denn wahr, daß wir uns selbst erlösen müssen mit unserem Schmerz? Ist es denn wahr, die Welt sei ein gekreuzigter Heiland, die Sonne seine Dornenkrone und die Sterne die Nägel und Speere in seinen Füßen und Lenden?“ (MBA 6, S. 110). Das berühmte Kunstgespräch im Lenz wiederum, das mit der Bestimmung des Künstlers als „klecksen[dem]“ Epigonen des Schöpfergottes beginnt (MBA 5, S. 37), läuft zielstrebig auf die poetische Verlebendigung zweier Gemälde zu, die beide biblisch-religiöse Sujets besitzen – das eine zeigt Jesus mit den Emmaus-Jüngern, das andere eine sitzende Frau mit Gebetbuch (MBA 5, S. 38). Und die Reden in Danton’s Tod umkreisen nicht nur in nachgerade manischer Weise die Figur des Gekreuzigten, sondern sie sind selbst über ganze Passagen hinweg im Lutherton gehalten und überdies gespickt mit Evangelienversen: „[d]as Blut dießer Heiligen komme über sie“5 aus dem Mund Legendres (I/3, MBA 3.2, S. 14), „ihr Berge fallet auf uns“6 von Camille (IV/7, MBA 3.2, S. 78) oder das viel zitierte „es muß ja Aergerniß kommen, doch wehe dem, durch welchen Aergerniß kommt“7 von Danton (II/5, MBA 3.2, S. 41). Dass sich nichts davon in Büchners historischen Quellen zur Revolution findet, sondern sämtliche Bibelallusionen im Stück aus seiner eigenen Feder stammen, sei schon
3Vgl.
Lk 7,38. Die Marburger Ausgabe listet unter den Quellen zwar die von Nicolaus Funk 1815 herausgegebene Altonaer Lutherbibel, begründet diese Wahl aber nicht (vgl. MBA 3.4, S. 241; 248). Da Büchners Reisen ihn nie nach Schleswig-Holstein geführt haben und eine Verbreitung der Altonaer Bibel zu seinen Lebzeiten im Hessischen, Straßburger oder gar Schweizer Raum nicht belegt ist, lässt sich angesichts der Büchner’schen Allusionspraxis nur konstatieren, dass er auf eine (oder mehrere) zeitgenössische Lutherbibel(n) zurückgegriffen bzw. die Perikopen im (erinnerten) Lutherton wiedergegeben hat. Aus den zahlreichen zeitgenössischen Lutherbibeln habe ich für meine eigenen Zitate die folgende Ausgabe gewählt, ohne damit die Behauptung zu verbinden, Büchner habe sie tatsächlich benutzt: Die Bibel oder die ganze heilige Schrift nach der Übersetzung D. Martin Luthers. Hrsg. von der Cansteinschen Bibel-Anstalt. Halle 861826. 4Textstellen von Büchner werden hier und im Folgenden zit. nach der Marburger Büchner Ausgabe (Darmstadt 2000–2013) unter der Sigle MBA. Die Nachweise erscheinen direkt im Text. 5Angelehnt an Mt 27,25. 6Angelehnt an Hos 10,8: „Ihr Berge, bedecket uns, und ihr Hügel, fallet über uns!“; Off 6,16: „Und sprachen zu den Bergen und Felsen: Fallet auf uns […]“. 7Mt 18,7: „Es muß ja Aergerniß kommen; doch wehe dem Menschen, durch welchen Aergerniß kommt“.
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jetzt angemerkt. Warum das so ist, und warum es letztlich auch gar nicht anders sein kann, wird später noch Gegenstand meiner Überlegungen sein. Für den Moment mag es genügen, die ubiquitäre Präsenz biblisch-sakraler Segmente und Sedimente in Büchners Dichtung festzuhalten, obwohl oder gerade weil es der literaturwissenschaftlichen Forschung nicht immer leicht gefallen ist, diesem Umstand mutig ins Auge zu blicken, geschweige denn, ihm mit professioneller Gelassenheit zu begegnen. Zu ausgeprägt war seit den späten 1960er Jahren innerhalb der Germanistik der Reflex, Büchners Status als Ikone einer progressiven und kritischen Moderne dadurch zu sichern, dass man seine Texte gegen jeden Ruch eines irgendwie ‚Religiösen‘ mit einer Verve verteidigte, als stünde dabei die intellektuelle und politische Integrität und überdies die literarische Geltung des Autors in Frage. Verstärkt wurde dieser apotropäische Reflex freilich durch die Tendenz von Teilen zumal der älteren Forschung, aus Büchners großzügigen Bibel- und Frömmigkeitsanleihen ein entsprechendes Bekenntnis des Autors abzuleiten.8 Und da Hermann Kurzke eben dies jüngst noch einmal im biographischen Rahmen unternommen hat,9 steht ein baldiges Ende des literaturwissenschaftlichen Ringens um die Gretchenfrage in der Arena der Büchner’schen Texte nicht zu erwarten. Umschiffen lässt sich dieses weltanschaulich verminte Feld indes nur schwer, zumal dann nicht, wenn die Frage nach Büchners Verhältnis zur Romantik im Raum steht. Die an Kenntnisreichtum und Luzidität bis heute unerreichte Studie Heinz Lipmanns jedenfalls lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass der große Themenkomplex Georg Büchner und die Romantik ohne eine Reflexion der jeweiligen religiösen Denkmodelle und sakralen Äußerungsformen nur unzureichend ausgeleuchtet werden kann.10 Diese Einsicht vermittelt Lipmann umso nachhaltiger, als seine Monographie mit ihrem Erscheinungsjahr 1923 merklich aus einer Zeit stammt, in der eine literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Wechselbeziehung von Religion und Literatur – selbst anhand des damals bereits politisch aufgeladenen Büchner’schen Werks11 – ungleich nüchterner und weniger affektbesetzt geführt wurde, als dies gegenwärtig der Fall ist. Zwar muss man Lipmann in seiner nietzscheanisch untersetzen Grundunterscheidung eines „griechisch-dionysischen“ und eines „christlich-transzendenten“ Habitus nicht folgen,12 mit der er – unübersehbar ‚wesentlich‘ – Büchner und die
8So
etwa Wolfgang Martens: Ideologie und Verzweiflung. Religiöse Motive in Büchners Revolutionsdrama. In: Euphorion 54 (1960), S. 83–108, oder Wolfgang Wittkowski: Georg Büchner, die Philosophen und der Pietismus. Umrisse eines neuen Büchnerbildes. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1976), S. 352–419. 9Hermann Kurzke: Georg Büchner. Geschichte eines Genies. München 2013. 10Heinz Lipmann: Georg Büchner und die Romantik. München 1923. 11Vgl. dazu die ungemein erhellende Materialsammlung: Dietmar Goltschnigg (Hrsg.): Georg Büchner und die Moderne. Texte, Analysen, Kommentar. Bd. 1: 1875–1945. Berlin 2001, i. B. S. 281–377. 12Lipmann: Georg Büchner und die Romantik (wie Anm. 10), S. 1–6.
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Romantik zu fassen sucht, um dann nach möglichen Konvergenzen zwischen beiden zu fragen. Doch dass ein veritabler Teil der intertextuellen Bezüge Büchners zu Novalis, Tieck und Brentano genuin religiöse Formatierungen transportiert, die sich im Spannungsfeld von Immanenz und Transzendenz bewegen und maßgeblich von den Problemkomplexen Tod, Erlösung und Schuld bestimmt sind, legt die Studie unabweisbar offen.13 Gemein ist Büchner und den Romantikern, Lipmann zufolge, das antithetische Prinzip – und zwar in ihrer Weltwahrnehmung und literarischen Gestaltung gleichermaßen. Doch während diese Antithetik von den Romantikern im Ausgriff auf die Unendlichkeit überwunden werde und der Tod als erotisierter Fluchtpunkt des Lebens erscheine, sei der Tod bei Büchner als „abgründige Tiefe des Lebens“14 selbst begriffen: eines Lebens, das er – in besagter dionysischer Manier – absolut setze. Entsprechend werde bei ihm die alles bestimmende „Antithese“ in einer inversen Bewegung „durch jene große Lebensdynamik überwunden, in der alles Gegensätzliche Platz findet, die offen ist und geschlossen zugleich, weil sie das All in sich trägt und es verkörpert.“15 Doch so vitalistisch-harmonisierend das in Lipmanns Schlussformulierung klingt, so deutlich weist er in seiner Studie auf das Moment hin, an dem sich der Büchner’sche Natur- und Lebensholismus bricht: am Moment des Leidens als unerträglicher conditio humana. Just an dieser Stelle, so argumentiert Lipmann anhand des bereits zitierten Ausrufs Lenas „Ist es denn wahr, die Welt sei ein gekreuzigter Heiland, die Sonne seine Dornenkrone, und die Sterne Nägel und Speere in seinen Füßen und Händen?“, präsentiere sich die gesamte Natur in einer symbolischen Form, wie sie „die gesamte transzendente Romantik charakterisiert“.16 Dieses spannende rhetorische Konvergenzmoment von Büchners Körper- und Lebensapologie mit der unendlichkeitsbezogenen Romantik bildet den Fußpunkt meiner Überlegungen, die sich an den tatsächlich auffällig häufigen und frappierend dichten Passions-Allusionen in Büchners Werk entlang bewegen werden. Dass es sich dabei keineswegs allein um ein bloßes decorum der Texte handelt, sondern Büchners (post)figurative Bezugnahmen auf das Leiden Christi zentrale dramaturgische und diskursive Funktionen erfüllen, hat Gregor Streim in seinem fundierten Aufsatz zu Danton’s Tod noch einmal nachdrücklich ins Bewusstsein gebracht.17 Dies ist ihm umso überzeugender gelungen, als er an die starke Traditionslinie der pietistischen Blut- und Wunden-Mystik erinnert hat,18 die
13Vgl.
dazu i. B. ebd., S. 7–21; 29–39; 61–69; 85–101. S. 67. 15Ebd., S. 135. 16Ebd., S. 31. 17Gregor Streim: Die „Wollust des Schmerzes“ und die „Qual des Henkers“. Allusionen auf die imitatio Christi in Büchners Revolutionsdrama Dantons Tod. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 128 (2009), S. 511–529. 18Ebd., S. 522–525. Vgl. dazu auch noch einmal grundlegend: August Langen: Der Wortschatz des deutschen Pietismus. Zweite, ergänzte Auflage. Tübingen 1968, i. B. S. 214–217; 286–298. 14Ebd.,
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Büchners Texte im Zeichen einer „Wollust des Schmerzes“19 grundiert und dabei mehrfache Transformationen durchläuft. Diese christusmystische Tradition des Pietismus war innerhalb der BüchnerForschung zuletzt ein wenig in Vergessenheit geraten,20 wurde sie doch überlagert von der Auseinandersetzung um Büchners etwaige Rückgriffe auf Heinrich Heine, in dessen 1833 erschienener Schrift Zur Geschichte der neueren schönen Literatur in Deutschland – der Grundlage der späteren Romantischen Schule – von „der Wollust des Schmerzes“ bereits an prominenter Stelle die Rede war.21 Heine hatte seine Eingangsdefinition der „romantische[n] Schule in Deutschland“ auf diese Wendung zulaufen lassen: Diese Schule sei, so Heine, letztlich „nichts anders als die Wiedererweckung der Poesie des Mittelalters“, die ihrerseits aus „dem Christentume hervorgegangen“ sei wie – der Legende nach – die Passionsblume aus „dem Blute Christi entsprossen“.22 Da in den Kelch dieser „melancholischen Blume“ die Marterwerkzeuge Jesu gezeichnet seien, errege ihr „Anblick […] ein grauenhaftes Vergnügen in unserer Seele, gleich den krampfhaft süßen Empfindungen, die aus dem Schmerze selbst hervorgehen.“ Und eben dies mache die Passionsblume zum „geeignetste[n] Symbol für das Christentum selbst, dessen schauerlichster Reiz eben in der Wollust des Schmerzes besteht.“23 Durch eine mehrfache synekdochische Verschiebung lässt Heine also romantische Schule, mittelalterliche Poesie und Christentum in der Passionsblume kulminieren, um deren wirkungsästhetische Attraktion wiederum auf jene Formel der „Wollust des Schmerzes“ zu bringen, die auch Büchner benutzt. Es ist durchaus möglich, dass er sie tatsächlich von Heine entliehen hat. Wie Streim allerdings plausibel aufzeigt, setzt Büchner die Formulierung sowohl im Fatalismusbrief als auch im Danton zur Bezeichnung einer „positive[n] sinnlich-religiöse[n] Erfahrung“24 in mystisch-pietistischer Tradition ein, wohingegen Heine sie
19Diese
Formulierung findet sich im sogenannten Fatalismusbrief an Wilhelmine Jaeglé vom Januar 1834 (MBA 10.1, S. 30 f.), in abgewandelter Form im Lenz (MBA 5, S. 35) und besonders prominent im R obespierre-Monolog in Danton’s Tod (I/6, MBA 3.2, S. 29). 20Weder Bodo Morawe (Blut, Blutmensch, Blutmessias. Politische Körpersprache und subversive Rhetorik in Dantons Tod von Georg Büchner. In: DVjs Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 87 [2013], S. 217–239) noch Ariane Martin (Religionskritik bei Georg Büchner. In: Georg Büchner Jahrbuch 11 [2005–2008], S. 221–236) noch Thorben Päthe (Theatralische Passionen. Zur Liturgie der Revolution bei Bertolt Brecht und Georg Büchner [wie Anm. 1]) beziehen die pietistische Blut- und Wunden-Mystik in ihre Analyse mit ein. 21Heinrich Heine: Zur Geschichte der neueren schönen Literatur in Deutschland. Paris, Leipzig 1833, S. 7. Vgl. dazu bereits Burghard Dedner: Legitimationen des Schreckens in Georg Büchners Revolutionsdrama. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 29 (1985), S. 343–380, i. B. S. 370–378; ferner den Stellenkommentar in MBA 3.4, S. 111. 22Heine: Zur Geschichte der neueren schönen Literatur in Deutschland (wie Anm. 21), S. 6. 23Ebd., S. 6 f. Wortgleich in: Heinrich Heine: Die romantische Schule. In: Ders.: Historischkritische Gesamtausgabe der Werke. Bd. 8/1: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. Die romantische Schule. Text, bearbeitet und hrsg. von Manfred Windfuhr. Hamburg 1979, S. 126. 24Streim: Die „Wollust des Schmerzes“ (wie Anm. 17), S. 522.
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zur Charakterisierung des Katholizismus – und zwar erklärtermaßen allein des Katholizismus25 – als einer Konfession gebraucht, die nach bedeutenden Leistungen in Spätantike und Mittelalter mit ihrer „Verdammnis alles [sic] Fleisches“ nun historisch an ihr Ende gelangt sei.26 Ausgehend von diesen konfessionspolitischen und geschichtsphilosophischen Dimensionen der rhetorischen Koppelung von Erotik und Leiden, wie sie bei Heine greifbar werden, will ich den Passionskomplex bei Büchner noch einmal neu beleuchten. Im Zentrum der Analyse steht Danton’s Tod, wo sich die Passionsfigurationen nicht nur merklich verdichten, sondern sie – wie zu zeigen sein wird – zusätzlich mit medienpolitischen Strategien verknüpft werden, die auf verschiedene Wirkungsästhetiken abstellen.
2 Passion als Passion: Traditionslinien Um Büchners Passionsdramaturgie nicht nur frömmigkeits-, sondern auch ästhetikgeschichtlich klarer konturieren zu können, sind allerdings einige Bemerkungen zur Geschichte des Passionskonzepts samt seiner medialen Fassung und erotischen Untersetzung vorauszuschicken, zumal dieses Konzept historisch mehrere Konjunkturen durchlaufen hat:27 In der Alten Kirche hatten das Leiden und der Tod Jesu zunächst nur als Durchgangsstation zur Auferstehung als dem heilsgeschichtlich eigentlich entscheidenden Ereignis fungiert, so dass nicht der Gekreuzigte, sondern der Christus Victor im Zentrum einer Verehrung stand, die sich literarisch im Hymnus artikulierte. Im Hochmittelalter kam es dann innerhalb der römisch-katholischen Kirche zu einer weniger theologisch-dogmatischen, dafür umso stärker ästhetischen Neuentdeckung der Passion.28 Sie nahm vor allem die Form einer avancierten Christus- und Blutmystik an, befeuert durch den stigmatisierten Franz von Assisi samt seinem Orden und literarisch einflussreich formatiert durch Bernhard von Clairvaux, in dessen Dichtungen die blutenden Wunden Jesu deiktisch vor Augen gestellt und einzeln besungen wurden. Dies geschah in einer dezidiert erotischen Weise, für die das Hohelied Salomos als wichtiger Bildspender diente, wobei die poetischen Kompositionen auf eine Vereinigung des oder der Gläubigen mit dem Gekreuzigten in dessen Blut abstellte.
25„Obgleich
man in Frankreich unter dem Namen Christentum nur den römischen Katholizismus versteht, so muß ich doch besonders bevorworten, daß ich nur von letzterem spreche.“ (Heine: Zur Geschichte der neueren schönen Literatur in Deutschland [wie Anm. 21], S. 8). 26Ebd., S. 8–10. 27Vgl. zum Folgenden zusammenfassend: Vf.: Passion. In: Daniel Weidner (Hrsg.): Handbuch Religion und Literatur. München 2016, S. 419–422. 28Vgl. dazu ausführlich Gerhard Hahn: Die Passion Christi im geistlichen Lied. In: Walter Haug, Burghart Wachinger (Hrsg.): Die Passion Christi in Literatur und Kunst des Spätmittelalters. Tübingen 1993, S. 297–319.
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Wie Erich Auerbach in seinem fulminanten Aufsatz Passio als Leidenschaft (1941) aufgezeigt hat, ist es eben diese religionsästhetische Entwicklung des Hochmittelalters gewesen, die es allererst ermöglicht hat, in der uns heute so geläufigen Weise ‚Passion‘ als ‚Leidenschaft‘ und ‚Leidenschaft‘ als ‚Passion‘ zu denken.29 Schließlich wird damit der ursprünglich rein passiv verstandenen passio eine forciert aktive Dimension eingeschrieben, die sich im heißen Wunsch nach dem potenziell tödlichen Liebesleiden artikuliert. Während dieser kategoriale Konzeptumbau der Passion sein zentrales Medium in dem fand, was wir heute Lyrik nennen, brachen sich im Spätmittelalter neue theatral-performative Vergegenwärtigungspraktiken der Passion bahn. Das geschah zum einen in Gestalt der mehrtägigen Passionsspiele kollektiver Provenienz, in denen die jeweilige Stadt- und Dorfbevölkerung die Heilsgeschichte in actu realisierte,30 zum anderen durch die Errichtung von Kreuzwegen und – ungleich eindrucksvoller noch – von skulpturenbestückten Kalvarienbergen,31 auf denen die Leidensstationen Jesu von den Gläubigen im Gestus der compassio abgeschritten wurden. Im Unterschied zur Blut- und Wunden-Mystik des geistlichen Lieds, die sich in die protestantische Barockdichtung hinein verlängerte32 und schließlich im besagten Pietismus neue Aktualität gewann, haben die architektonisch-theatralen Formen der mittelalterlichen Passionsfrömmigkeit ihre katholische Signatur nie verloren. In ganz besonderem Maße gilt das für die ursprünglich von Kreuzzugsheimkehrern erbauten Kalvarienberge, die in Deutschland, Österreich, Frankreich und Italien bedeutende Wallfahrtsstätten waren und weithin sichtbar die Landschaft präg(t)en.33 Eine im strengen Sinne theologische Neubestimmung der Passion hat erst Martin Luther unternommen, wenngleich seine Position der skizzierten Renaissance
29Erich
Auerbach: Passio als Leidenschaft. In: Proceedings of the Modern Language Association 56 (1941), S. 1179–1196. 30Ursula Schulze: Schmerz und Heiligkeit. Zur Performanz von Passio und Compassio in ausgewählten Passionsspieltexten (Mittelrheinisches, Frankfurter, Donaueschinger Spiel). In: Horst Brunner (Hrsg.): Forschungen zur deutschen Literatur des Spätmittelalters. Festschrift für Johannes Janota. Tübingen 2003, S. 211–232; Franz Simmler: Das Passionsspiel, seine Strukturen und Funktionen in der Aufführungspraxis und in Lesetexten des 15. und 16. Jahrhunderts mit besonderer Berücksichtigung der Darstellung der Marter des Leibes Christi. In: Alexander Schwarz, Catalina Schiltknecht, Barbara Wahlen (Hrsg.): Körper – Kultur – Kommunikation. Bern u. a. 2014, S. 145–173. 31Vgl. dazu die Beiträge in dem Band: Hans Aurenhammer, Daniela Bohde (Hrsg.): Räume der Passion. Raumvisionen, Erinnerungsorte und Topographien des Leidens Christi in Mittelalter und Früher Neuzeit. Bern 2015. 32Vgl. dazu Marlies Lehnertz: Vom hochmittelalterlichen katholischen Hymnus zum barocken evangelischen Kirchenlied. Paul Gerhardts Oh Haupt voll Blut und Wunden und seine lateinische Vorlage, das Salve caput cruentatum Arnulfs von Löwen. In: Hansjakob Becker, Rainer Kaczynski (Hrsg.): Liturgie und Dichtung. Ein interdisziplinäres Kompendium. Bd. 1: Historische Präsentation. St. Ottilen 1983, S. 755–773. 33Vgl. Elisabeth Roth: Der volkreiche Kalvarienberg in Literatur und Bildkunst des Spätmittelalters. 2. überarbeitete Auflage. Berlin 1967.
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passionierter Praktiken im Hoch- und Spätmittelalter sicherlich viel verdankt. Tatsächlich neu an Luthers Passionstheologie ist, dass er ein bereits bei Augustinus vorgezeichnetes Paradox des Gekreuzigten, der als sündlos Sterbender die Sünde aufhebt und den Tod überwindet,34 auf die Spitze treibt. Ihren Fußpunkt findet diese Theologie in der Gethsemaneszene, also im einsamen Angstgebet Jesu vor seiner Verhaftung. Von ihr her justiert Luther das Verhältnis zwischen Gott und Mensch in Christus neu und lädt es affektiv auf: Der lutherischen Rechtfertigungslehre entsprechend, erwirbt Christus die Sündenvergebung für alle Menschen nämlich, indem er sich in seiner Passion stellvertretend für sie dem Zorn und dem Strafgericht Gottes unterwirft, also mit forcierter Aktivität in die eigene passio eintritt.35 Dabei erfassen nach Luther die Verzweiflung in Gethsemane und das Leiden am Kreuz – und eben darin liegt die paradoxe Pointe – nicht allein die menschliche Natur Jesu. Vielmehr wird auch seine Göttlichkeit von Angst und Schmerz affiziert, so dass im Schrei des Gekreuzigten „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mt 27,46) tatsächlich der von Gott verlassene Gott spricht. Am Scheitelpunkt der Passion, in der Klimax des physischen und psychischen Schmerzes, lässt Luther also im Wortsinne Anthropo-Logie und Theo-Logie zusammenfallen. Und bei allem Erlösungsversprechen, das in der Auferstehung liegt, löst sich in ihr das zentrale Paradox der Passion gerade nicht auf, sondern wird als markierter Logik-Bruch mitgeführt – paulinisch formuliert, als „Torheit des Wortes vom Kreuz“.36 Wenn Georg Büchner also, wie Streim aufgezeigt hat,37 verschiedene Figuren seines Danton die Sprache erotisierter Leidensfrömmigkeit pietistischen Zuschnitts sprechen lässt, die aufgerufenen Passionsfigurationen dabei aber in einem von Lipmann als romantisch ausgewiesenen Verfahren38 universalisiert und somit in ihrer Paradoxie diesseits aller Auf- und Erlösung festschreibt, dann operiert der Autor deutlich im Resonanzraum der Passionstradition. Deren dramatische Transformation im Stück auf ihre medienpolitischen Strategien hin zu befragen und im Zuge dessen auch die konfessionellen und geschichtsphilosophischen Implikationen der Büchner’schen „Poetik des Sprechakts“39 freizulegen, hat sich der vorliegende Beitrag zur Aufgabe gemacht.
34Dazu
pointiert: Christian Kiening: Mitte der Zeit. Geschichten und Paradoxien der Passion Christi. In: Ders., Aleksandra Prica, Benno Wirz (Hrsg.): Wiederkehr und Verheißung. Dynamiken der Medialität in der Zeitlichkeit. Zürich 2011, S. 121–137. 35Grundlegend dazu: Johann Anselm Steiger: Zorn Gottes, Leiden Christi und die Affekte der Passionsbetrachtung bei Luther und im Luthertum des 17. Jahrhunderts. In: Ders. (Hrsg.): Passion, Affekt und Leidenschaft in der Frühen Neuzeit. Wiesbaden 2005, S. 179–201. 361. Kor 1,18: „Denn das Wort vom Kreuz ist eine Thorheit denen, die verloren werden“. 37Streim: Die „Wollust des Schmerzes“ (wie Anm. 17), S. 516–525. 38Lipmann: Georg Büchner und die Romantik (wie Anm. 10), S. 31–35. 39Grundlegend dazu: Rüdiger Campe: „Es lebe der König!“ – „Im Namen der Republik.“. Poetik des Sprechakts. In: Jürgen Fohrmann (Hrsg.): Rhetorik. Figuration und Performanz. Stuttgart, Weimar 2004, S. 557–581.
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3 Poetik des Nachhalls: Der Blutmessias Die viel diskutierte Rede von der „Wollust des Schmerzes“ hat Büchner seinem Robespierre in den Mund gelegt (I/6, MBA 3.2, S. 29), dies allerdings eingelassen in eine komplexe rhetorische Dynamik. Wie so häufig im Stück, bildet die entsprechende Monologpassage aus der sechsten Szene des ersten Akts das Echo einer vorangegangenen Rede, fügt sich mithin nahtlos ein in Büchners Dramaturgie des Nachhalls, wie ich sie nennen will, die er mit Danton’s Replik auf Camille im zweiten Akt „Du bist ein starkes Echo.“ (II/1, MBA 3.2, S. 32) explizit gemacht hat. Die Worte, die in Robespierres Monolog wiederhallen, geben sich ihrerseits als Zitat, und zwar als einziges, das im Dramentext als solches ausgewiesen wird. Es handelt sich um eine Passage aus Camille Desmoulins‘ Zeitschrift Le vieux Cordelier,40 die Robespierre auf Geheiß St. Juists vorliest und deren Signifikanz nicht zuletzt darin liegt, dass sich dieses prätendierte Zitat in der Zeitschrift gerade nicht findet, sondern von Büchner selbst stammt.41 Robespierre (liest). „Dießer Blutmessias Robespierre auf seinem Kalvarienberge zwischen den beyden Schächern Couthon und Collot, auf dem er opfert und nicht geopfert wird. Die Guillotinenbetschwestern stehen wie Maria und Magdalena unten. St. Just liegt ihm wie Johannes am Herzen, und macht den Convent mit den apokalyptischen Offenbarungen des Meisters bekannt, er trägt seinen Kopf wie eine Monstranz.“ St. Just. Ich will ihn den seinigen wie St. Denis tragen machen. Robespierre (liest weiter). „Sollte man glauben, daß der saubre Frack des Messias das Leichenhemd Frankreichs ist und daß seine dünnen auf der Tribune herumzuckenden Finger, Guillotinmesser sind? Und du Barrère, der du gesagt hast, auf dem Revolutionsplatz werde Münze geschlagen. Doch – ich will den alten Sack nicht aufwühlen. Er ist eine Wittwe, die schon ein halb Dutzend Männer hatte und sie begraben half. Wer kann was dafür? Das ist so seine Gabe, er sieht den Leuten ein halbes Jahr vor dem Tode das hippocratische Gesicht an. Wer mag sich auch zu Leichen setzen und den Gestank riechen?“ Also auch du Camill? (I/6, MBA 3.2, S. 28 f.)
Tatsächlich durch die Revolutionsquellen verbrieft war die Attribuierung Robespierres als „Messias“.42 So hatte auch Büchner seine Figur ins Stück eingeführt, als er den ersten Ausspruch Robespierres – „Im Namen des Gesetzes“ (I/2, MBA 3.2, S. 12) – von einer Frau aus dem Volk mit den im Bibelton gehaltenen Worten kommentieren lässt: Hört den Messias, der gesandt ist zu wählen und zu richten; er wird die Bösen mit der Schärfe des Schwertes schlagen. Seine Augen sind die Augen der Wahl und seine Hände sind die Hände des Gerichts! (I/2, MBA 3.2, S. 12)
40Im
Stück als „der alte Franziskaner“ eingeführt (I/6, MBA 3.2, S. 28). dazu summarisch den Stellenkommentar in Georg Büchner: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zwei Bänden. Hrsg. von Henri Poschmann. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1992, S. 520. 42Vgl. MBA 3.4, S. 107. 41Vgl.
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In Camilles gedruckter Polemik wird dieser überlieferte Messias nun allerdings in einen „Blutmessias“ verwandelt und dabei nicht nur propositional, sondern auch performativ auf Robespierre übertragen, durch dessen laute Lektüre die Worte schließlich allererst auf die Bühne gelangen. Die Fulminanz dieser genuin Büchner’schen Begriffsprägung43 liegt im radikal kontradiktorischen Doppelsinn des Kompositums, das den blutenden Schmerzensmann in der Bildtradition des Ecce Homo44 mit der Gewaltinstanz eines eschatologischen Blutgerichts zusammenschweißt.45 Wie groß die Durchschlagskraft dieser paradox-prägnanten Wortschöpfung ist, lässt sich schon daran ablesen, dass Büchners „Blutmessias“ eine eigene Wirkungsgeschichte besitzt, in der die Grenzen zwischen politischem, historiographischem und literarischem Diskurs verschwimmen. Da diese Wirkungsgeschichte ein ebenso großes Desiderat der Forschung darstellt wie die diskurs- und dramengeschichtlichen Nachwirkungen des Stücks insgesamt, kann ich im Folgenden nur Schlaglichter werfen und hoffen, dass die Suggestion ihrer Signifikanz verfängt. Bereits Karl Gutzkow hatte in seiner Danton-Rezension von 1835, ein Jahr später wiederabgedruckt in seinen Beiträgen zur Geschichte der neuesten Literatur, den „Blutmessias“ prominent aufgegriffen und ihn effektvoll als rhetorisches Relais zwischen Revolutionsgeschichte und dramatischer Figurenrede eingesetzt: „Diese zweite Phase der Revolution“, so beschreibt Gutzkow die historische Lage im Frühjahr 1794, „kämpfte mit der dritten, wo die Revolution Cultus geworden war und ihre Altäre, ihre Dogmen und Ceremonien hatte, wo dem Blut-Messias, wie Camille Robespierre nannte, St. Just zur Seite stand, die Apokalypse neben dem Evangelium.“46 Büchners Formulierungen verlieren hier sichtlich ihren literarischen Charakter zugunsten einer historiographischen Darstellung. Im Revolutionsjahr 1848 wandert der „Blutmessias“ dann, ganz ohne literarischen Bezug, in die politische Publizistik ein, namentlich in die vom Revolutionsstudenten Adolf Buchheim verfasste Streitschrift Die politischen zehn Gebote der alten und neuen Zeit, wo das neunte Gebot der „alten Zeit“ („Du sollst nichts Schlechtes aussagen wider den Herrscher, deinen Gebieter, und wenn es auch wahr ist.“) durch das neue abgelöst wird: „Du sollst selbst den Blut-Messias der Freiheit nicht verrathen.“47 Und 1862 greift der württembergische Kunsthistoriker 43Vgl.
Dedner: Legitimationen des Schreckens (wie Anm. 21), S. 380. Vgl. ferner MBA 3.4, S. 107. 44Vgl. Art. Ecce Homo. In: Lexikon der Christlichen Ikonographie. Hrsg. von Engelbert Kirschbaum SJ. Bd. 1. Rom, Freiburg, Basel, Wien 1968, S. 557–561. 45Es handelt sich hier also um etwas viel Tiefgreifenderes und Weitreichenderes als eine bloße „hybride Wortbildung des Dichters, der die religiöse Sprache (‚Messias‘) mit der Körpersprache (‚Blut‘) kontaminiert“, um der Zensur der zeitgenössisch gängigen Antonomasie Robespierres als „Blutmensch“ zu umgehen, wie Bodo Morawe konstatiert (Morawe: Blut, Blutmensch, Blutmessias [wie Anm. 20], S. 232). 46Karl Gutzkow: Beiträge zur Geschichte der neuesten Literatur. Bd. 1. Stuttgart 1836, S. 184. 47„Die politischen Gebote der alten und der neuen Zeit“. In: Die politische Sonntagsschule. Ergänzungsblatt zum politischen Studenten-Courier, Nr. 7 v. 02. Juli 1848, S. 27 f., ebenfalls abgedruckt in: Gratzer Schnellpost. Politisch, satirisches Morgenblatt, Nr. 44 v. 15. Juli 1848, S. 175.
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und Schriftsteller Johannes Scherr schließlich in seinem mehrbändigen Werk Blücher. Seine Zeit und sein Leben auf Büchners „Blutmessias“-Komplex zurück, um ihn jetzt vollständig in ein Dokument der Revolution zu verwandeln. Über die Situation in Paris zum Zeitpunkt des Todes von Georg Forster heißt es bei Scherr: Forster starb zu Paris am 12. Januar 1794. Der grazienschlingelhafte Camille wird seinen im Dienste des Erbarmens unternommenen Witzkrieg auch nicht mehr lange führen. „Saint-Just, der Lieblingsjünger des Blutmessias (Robespierre), trägt seinen Kopf wie eine Monstranz,“ sagt Camille. „Ah, ich werde ihn den seinigen tragen machen wie St. Denis,“ sagt der Lieblingsjünger […].“48
Und auch dramengeschichtlich ist der „Blutmessias“ nicht ohne Wiederhall geblieben. Die größte Resonanz hat er in Marie von Ebner-Eschenbachs 1867 in Wien publiziertem und im Jahr darauf in Weimar uraufgeführtem RevolutionsTrauerspiel Marie Roland gefunden, das sich – von der Forschung bislang unbemerkt – insgesamt als Neuschreibung von Büchners Drama präsentiert.49 Die folgende Gesprächssequenz zwischen Marat, Robespierre und Danton schließt sich an einen Streit mit zwei Girondisten an, die gerade aus dem Raum gestürmt sind: Marat zu Danton Was sagten sie? Danton Ich weiß es nicht mehr. Doch ja! jetzt besinn ich mich. – Sie sagten, Marat sei ein großer Mann; die Hoffnung der Republik – der Todten … ein Philanthrop, der die hungernde Nation mit Leichen füttert. Sie sagten, Robespierre sei die Tugend im blauen Frack mit immer blanken Knöpfen, das Dogma der Revolution, ihr Blutmessias. Robespierre Sagten sie! – Ich wollte, ich wäre der Mann, der Frankreich erlöst. – Aber die Ideen tödten ihre Apostel. Ich werden von dem Feuer der meinen verzehrt – verzehrt von dem Fieber des Patriotismus.50
Anstelle der tatsächlichen Rede der Girondisten lässt Ebner-Eschenbach ihren Danton hier Büchner zitieren, der mit seiner Wendung vom „Blutmessias“ seinerseits vermeintlich Camille Desmoulins wiedergegeben hatte, und setzt somit Büchners Poetik des Nachhalls fort.
48Johannes
Scherr: Blücher. Seine Zeit und sein Leben. Zehn Bücher in drei Bänden. Bd. 1: Die Revolution 1740–1799. Zweite verbesserte und vermehrte Ausgabe. Leipzig 1865 (11862), Viertes Buch: Die Sündflut, S. 303. Wie mir Burghard Dedner mitteilt und wie sich synoptisch auch bei Hauschild nachlesen lässt (vgl. Jan-Christoph Hauschild: Georg Büchner. Studien und neue Quellen zu Leben, Werk und Wirkung. Mit zwei unbekannten Büchner-Briefen. Königstein/ Ts. 1985, S. 222), hat Scherr bereits in den 1840er Jahren ebenso explizit wie nachdrücklich die Büchner-Rezeption voranzutreiben gesucht. Umso bemerkenswerter erscheint es indes, dass er in der zitierten Passage die prätendierte Camille-Rede vom „Blutmessias“ Robespierre ohne jeden Verweis auf Büchners Drama als historische Überlieferung präsentiert. 49Marie Roland. Trauerspiel in fünf Aufzügen. Von Marie von Ebner-Eschenbach. Wien 1867. 50Ebd., III/2, S. 18.
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Otto Franz Gensichen schließlich greift in seinem 1874 erschienenen Robespierre die Figuralallegorie auf, in die Büchner seinen „Blutmessias“ eingebettet hatte, und verlebendigt sie. In der letzten Szene des ersten Akts kommt es zu einem Streit zwischen Collot und Carnot auf der einen und Saint-Just auf der anderen Seite, im Zuge dessen sich Carnot mit den Worten an Saint-Just wendet: Carnot. Du stehst nicht mehr Vor feindlichen Kanonen auf dem Kampfplatz. Saint-Just. Wohl ist mir wohler in dem Kriegsgewühl Als hier, wo kleinlicher Parteienhader Des hohen Meisters große Pläne kreuzt (Er lehnt sich zärtlich auf Robespierre’s Schulter und drückt ihm die Hand.) Collot. Schaut, wie Johannes sich, der Lieblingsjünger, An seines Blutmessias Busen lehnt. (Robespierre drückt mit einem Anflug von Innigkeit Saint-Just’s Hand und macht sich dann von ihm los. Das Folgende spricht er mit einer gewissen Verklärtheit, sich allmählich in Ekstase steigernd.) Robespierre. Messias, Collot? Blutmessias? Ja Messias bin ich. Jeder ist Messias, Der in die Welt tritt, überzeugungstreu, Von einer großen, göttlichen Idee Getragen, die er zu der Menschheit Wohl, Sich selbst vernichten, ernst verkörpern will.51
Dass ein Dramatiker wie Gensichen, der fünf Jahre vor seinem Robespierre eine Messias-Trilogie vorgelegt hatte,52 Büchners „Blutmessias“ zusammen mit der gesamten Kreuzigungsfiguration aufgreift und theatral ausgestaltet, kann freilich nicht überraschen. Blickt man von dieser, vier Jahrzehnte nach dem Danton veröffentlichten, Variation zurück auf Büchners Stück, lässt sich indes auch dessen Tendenz zur ‚Verkörperung‘ deutlicher greifen, als dies ohne Beachtung des fernen Echos möglich
51Robespierre.
Trauerspiel von Otto Franz Gensichen. Berlin 1874, I/11, S. 43 f. Messias. Eine Trilogie von Otto Franz. Berlin 1869. Die Komposition – Teil I: Jesus von Nazareth, Schauspiel; Teil II: Judas Ischarioth, Trauerspiel; Teil III: Die Zerstörung Jerusalems, Trauerspiel – steht in der Tradition historisierender Christus-Dramatik des Nachmärz (ausführlich dargestellt in: Vf.: Passionsspiele der Postrevolution. Christusdramatik und Volksbühnenpolitik im Nachmärz. In: Michael Gamper, Peter Schnyder [Hrsg.]: Dramatische Eigenzeiten des Politischen. Hannover 2017, S. 255–276). Allerdings setzt Gensichen den besonderen dramaturgischen Akzent, Jesus von Nazareth in keinem der Teile auftreten zu lassen, wodurch die Bühne samt ihrer Figuren zu einem einzigen Resonanzraum des unsichtbaren Christus wird. Die Selbstinszenierung Robespierres als Christus fungiert in ihrer figuralen Konkretisierung der Büchner’schen Rede somit als radikales theatralisches Gegenmodell zu Gensichens Messias.
52Der
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wäre. Gerade im kontrastiven Vergleich mit Gensichens Verlebendigung der „Blutmessias“-Figuration weist sich Büchners rhetorische Gestaltung nämlich als eine dezidiert skulpturale und ebenso dezidiert katholische aus. Die hier aufgerufene Konstellation aus dem „Blutmessias […] auf seinem Kalvarienberge zwischen den beyden Schächern“ mit „Maria und Magdalena“ sowie „Johannes“ zu seinen Füßen (I/6, MBA 3.2, S. 28) ist schließlich keineswegs biblisch, sondern sie greift eine ikonische Tradition auf, die ihren eindrücklichsten Niederschlag in der skulpturalen Gestaltung der besagten Kalvarienberge des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit gefunden hatte, auf deren Spitze sich stets eine eben solche Kreuzigungsgruppe fand. Hätte Büchner die biblischen Passionserzählungen und mithin einen Text als Formatvorlage aufrufen wollen, dann hätte er diese Szene nach „Golgatha“53 verlegt anstelle einer Wallfahrts- und Andachtsstätte, die nach der einschlägigen Vulgata-Bezeichnung calvariae54 benannt war. Wie ernst es dem Dramatiker damit war, die Szene mit einer unübersehbaren katholischen Signatur zu versehen, wird auch daran ablesbar, dass er Johannes/Saint Just als Lieblingsjünger des Messias „seinen Kopf“ tragen lässt „wie eine Monstranz“ (I/6, MBA 3.2, S. 28) – wie jenes aufwendig gestaltete Schaugerät zur Präsentation der konsekrierten Hostie55 auf den Prozessionen zum Fronleichnamsfest also, dem katholischsten und zugleich theatralischsten aller kirchlichen Feste.56 Bevor den skulpturalen und katholischen Implikationen weiter nachgegangen werden soll, mit denen die „Blutmessias“-Figuration bei Büchner versehen ist, gilt es allerdings noch einen genaueren Blick auf ihre Transformation innerhalb des ersten Aktes zu werfen und auch ihre dramaturgische Funktion zu bestimmen.
4 Robespierre in Gethsemane Wie bereits erwähnt, lässt Büchner die verlesene „Blutmessias“-Polemik Camilles im anschließenden Monolog Robespierres noch einmal nachhallen. Darin wiederholt sich kompositorisch das Echo des vorangegangenen Streitgesprächs mit Danton, dessen Versuch, seinem Gegenüber „die Absätze […] von den Schuhen zu treten“, indem er ihm vorwirft, sich mit seiner ostentativen Tugend als „Policeysoldat des Himmels“ zu gerieren, ohne den Blick in die menschlichen Abgründe zu ertragen (I/6, MBA 3.2, S. 25), im anschließenden Monolog Robespierres weiter wirkt: Robespierre (allein). […] Mir die Absätze von den Schuhen treten! Um bey deinen Begriffen zu bleiben!
53Mt
27,33; Mk 15,22; Jh 19,17. 19,30, zit. nach Biblia Sacra Vulgata. Hrsg. von Robert Weber, Roger Gryson. Editio quinta. Stuttgart 2007. 55Vgl. dazu Rupert Berger: Monstranz. In: Walter Kasper (Hrsg.): Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 7. Freiburg i. Br. 31998, S. 432–433. 56Vgl. dazu Karl Suso Frank: Fronleichnam. In: Walter Kasper (Hrsg.): Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 7. Freiburg i. Br. 31995, S. 172–174. 54Jh
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Halt! Halt! Ist’s das eigentlich? Sie werden sagen seine gigantische Gestalt hätte zuviel Schatten auf mich geworfen, ich hätte ihn deßwegen aus der Sonne gehen heißen. Und wenn sie Recht hätten? Ist’s denn so nothwendig? Ja, ja! die Republik! Er muß weg. […] Keine Tugend! die Tugend ein Absatz meiner Schuhe! Bey meinen Begriffen! Wie das immer wieder kommt. Warum kann ich den Gedanken nicht los werden? Er deutet mit blutigem Finger immer da, da hin! Ich mag soviel Lappen darum wickeln als ich will, das Blut schlägt immer durch. – (Nach einer Pause.) Ich weiß nicht, was in mir das Andere belügt. (I/6, MBA 3.2, S. 26 f.)
Die polemische Rede Dantons bohrt sich in Form eines „blutige[n] Finger[s]“ in Robespierres Gedanken, um sich dort zu duplizieren. Auch werden die „Begriffe[ ]“ beider Figuren ununterscheidbar, und dennoch steht am Ende das Todesurteil. Während Robespierre von der unterliegenden Passionsdramaturgie des Stücks – Verhör, Verurteilung, Auslieferung und Hinrichtung57 – zunächst an die Stelle des Pilatus gesetzt wird („Mein Gewissen ist rein“, MBA 3.2, S. 25), wiederholt sein Urteilsspruch „Er muß weg“ den Ruf des Volkes vor der Kreuzigung: „Weg, weg mit dem! Kreuzige ihn“.58 Und unmittelbar darauf schließt sich die Fremdattribuierung Robespierres als „Blutmessias“ auf dem „Kalvarienberge“ an, deren Echo im nachfolgenden Monolog wiederum zur Selbstattribuierung wird: Robespierre allein. Ja wohl, Blutmessias, der opfert und nicht geopfert wird. – Er hat sie mit seinem Blut erlöst und ich erlöse sie mit ihrem eignen. Er hat sie sündigen gemacht und ich nehme die Sünde auf mich. Er hatte die Wollust des Schmerzes und ich habe die Qual des Henkers. Wer hat sich mehr verleugnet, Ich oder er? (I/6, MBA 3.2, S. 29)
Robespierre buchstabiert hier den „Blutmessias“ passionstheologisch aus, und er tut dies mit großer Konsequenz: Er dekuvriert das Selbstopfer Jesu als Akt der Erlösung, dessen Preis diejenigen zu zahlen haben, die er durch seine Hinrichtung allererst hat schuldig werden lassen, um selbst schuldlos zu bleiben. Dagegen behauptet Robespierre sein eigenes Erlösungswerk an den Menschen durch das Vergießen von deren Blut, an dem er allein schuldig wird und insofern tatsächlich im Wortsinne „die Sünde auf [s]ich“ nimmt. Entsprechend folgerichtig präsentiert sich die pointierte Wendung, in der die pietistisch grundierte „Wollust des Schmerzes“ Jesu als wohlfeile passio gegenüber der eigenen lust-losen „Qual“ erscheint, die Robespierre für sein aktives Erlösungswerk zu ertragen bereit ist. Wie schon Wolfgang Martens argumentiert hat, bietet der Text keinen Anlass, diese Worte als
57Streim: 58Jh
Die „Wollust des Schmerzes“ (wie Anm. 17), S. 513. 19,15.
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„bitteren Zynismus“59 der Figur anstelle einer ernsthaften Auseinandersetzung mit Fragen nach actio und passio im Horizont von Schuld und Erlösung zu lesen.60 Und nicht minder vorschnell wäre es, die Schlusspassage des Monologs als „überaus selbstgefällige Stilisierung Robespierres“61 zu bewerten, wenn es dort im Gestus der Selbstkorrektur heißt: Und doch ist was von Narrheit in dem Gedanken. – Was sehen wir nur immer nach dem Einen? Wahrlich des Menschensohn wird in uns Allen gekreuzigt, wir ringen Alle im Gethsemanegarten im blutigen Schweiß, aber es erlöst Keiner den Andern mit seinen Wunden. – Mein Camille! – Sie gehen Alle von mir – es ist Alles wüst und leer – ich bin allein. (I/6, MBA 3.2, S. 29)
Denn Robespierre lenkt hier seine Passionsreflexion von dem einen Kreuzigungsgeschehen ab und richtet sie mit einer – von Lipmann als „romantisch“ begriffenen – universalisierenden und zugleich inversen Bewegung aufs Anthropologische aus, wobei er nicht ohne Grund die Gethsemane-Szene als Fokus wählt: Das von Luther zentral gesetzte Moment des Leidens und der Verzweiflung wird hier aufgegriffen, dabei aber von aller Stellvertreterschaft abgekoppelt. Stattdessen wird der leidende und sterbende „Menschensohn“ – verbunden mit einer luziden Neuakzentuierung dieses als Christus-Periphrase etablierten Kompositums62 – in „uns Alle[ ]“ hinein verlegt ohne Aussicht auf Erlösung, durch wessen „Wunden“ auch immer. Entscheidend ist hier die Personaldeixis des „wir“, mit der Robespierre sich selbst und die Zuschauer/Leser in das Zeigefeld seiner Äußerung63 einbezieht, um in der Schlusswendung diesen maximalen Radius wiederum auf sein „Ich“ zu konzentrieren, das als Mensch und Gott,64 von allen Gefährten verlassen, in Gethsemane zurück bleibt, um – nun nicht mehr in eine skulpturale Figurengruppe eingefasst, sondern dem discours des biblischen Prätexts folgend – auf die eigene Gefangennahme und Hinrichtung zu warten. Und dass Robespierres Guillotinierung tatsächlich nicht lange auf sich
59Martens:
Ideologie und Verzweiflung (wie Anm. 8), S. 92. Barks Diagnose der „Blasphemie“ greift zu kurz (Bark: Bibelsprache in Büchners Dramen [wie Anm. 1], S. 485). Kritisch dazu: Streim: Die „Wollust des Schmerzes“ (wie Anm. 17), S. 518. 61Martin: Religionskritik bei Georg Büchner (wie Anm. 20), S. 227. 62Alle 77 Nennungen in den Evangelien finden sich tabellarisch aufgelistet in: Große Konkordanz zur Lutherbibel. 3. durchgesehene Auflage. Stuttgart 1993, S. 993 f. 63Vgl. dazu grundlegend Karl Bühler: Sprachtheorie. Ungekürzter Neudruck der Ausgabe von 1934. Stuttgart 1999, S. 79–148. Im Rekurs auf die Wirkungsästhetik der Deixis ließe sich auch Rüdiger Campes Diagnose einer „Poetik des Sprechaktes“ bei Büchner feiner justieren (Campe: „Es lebe der König!“ [wie Anm. 39]). 64Indem Büchner seinem Robespierre im Rahmen der hier evozierten Gethsemane-Szene die Wendung „[Und die Erde war] wüst und leer“ aus Gen 1,2 in den Mund legt, flankiert er den verlassenen Christus mit dem Imago Gottes in seiner Einsamkeit vor Beginn der Schöpfung, nutzt also die Intertextualität einmal mehr zur Universalisierung des Bezugsrahmens. 60Auch
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warten lassen wird, ist ein Wissen, das Büchner bei seinen Rezipienten selbstverständlich voraussetzt. Zusätzlich zum Horizont der kommenden Revolutionsereignisse, welche die imitatio Christi65 Robespierres besiegeln werden, gewinnen diese Sätze ihr besonderes Gewicht aber durch ihre dramaturgische Position im Stück. Mit Robespierres Klage „ich bin allein“ beschließt Büchner nämlich nicht nur den ersten Akt und lässt somit seine Figur tatsächlich allein zurück. Vielmehr finden hier auch die Auftritte Robespierres außerhalb des institutionellen Rahmens und seine Reden abseits des historischen Scripts ein Ende. Ein einziges Mal noch erhält der Revolutionsführer im Drama das Wort, um im Nationalkonvent zu sprechen (II/7, MBA 3.2, S. 44 f.). Doch im Unterschied zur anschließenden Rede Saint Justs (II/7, MBA 3.2, S. 45 f.) hält sich Büchner bei deren Gestaltung treulich an die Überlieferung und kappt damit jede Verbindung zur vorangegangenen Blut-, Wunden-, Leindes- und Erlösungsrhetorik der Figur, die – das scheint mir für die Einschätzung ihrer dramaturgischen Funktion nicht unwesentlich zu sein – nach dieser letzten Rede im zweiten Akt nicht mehr auftritt: weder im Umfeld des Revolutionstribunals (III/4) noch im Zusammenhang mit dem Wohlfahrtsausschuss (III/6) noch auf dem Revolutionsplatz (IV/7). Allein sein Name geistert noch durch das Drama – ausgesprochen von Danton (III/10, IV/5), Barrère (III/6), Lacroix (IV/5) und dem Volk (IV/1). Robespierre hat im Stück also bereits sehr früh seine Schuldigkeit getan. Und dies macht es wenig plausibel, ihn ernsthaft als Gegenspieler Dantons zu verhandeln oder gar als Inkarnation des negativen Revolutionsprinzips, gegen das sich das Dantonistische positiv abhebt. Vielmehr lässt sich zumal an der Leidens- und Sakralrhetorik beobachten, wie Büchner in seiner Poetik des Nachhalls Danton als Echo Robespierres inszeniert und dabei einmal mehr auf skulpturalkatholische Semantiken zurückgreift. So rahmt Büchner den „Blutmessias“-Komplex in der sechsten Szene des ersten Akts durch eine signifikante Attribuierung Dantons durch Lacroix: Dieser kontert die viel zitierte Einlassung Dantons „Ich weiß wohl, – die Revolution ist wie Saturn, sie frißt ihre eignen Kinder. (nach einigem Besinnen) Doch, sie werden’s nicht wagen“ (I/5, MBA 3.2, S. 22) mit den Worten: Lacroix. Danton, du bist ein todter Heiliger, aber die Revolution kennt keine Reliquien, sie hat die Gebeine aller Könige auf die Gasse und alle Bildsäulen von den Kirchen geworfen. Glaubst du man würde dich als Monument stehen lassen? (I/5, MBA 3.2, S. 23)
Kompositorisch völlig analog zum Echo von Camilles „Blutmessias“-Polemik in Robespierres Monolog, hallt auch diese Einlassung in der Rede Dantons zu
65Als
solche liest Streim den Monolog Robespierres (vgl. Streim: Die „Wollust des Schmerzes“ [wie Anm. 17], S. 518 f.).
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Beginn des zweiten Akts wieder, wenn er hier die Aufforderung Lacroix’ zur rhetorischen Mobilmachung mit dem Hinweis pariert: Danton. Du hast ein schlechtes Gedächtniß, du nanntest mich einen todten Heiligen. Du hattest mehr Recht, als du selbst glaubtest. Ich war bey den Sectionen, sie waren ehrfurchtsvoll, aber wie Leichenbitter. Ich bin eine Reliquie und Reliquien wirft man auf die Gasse, Du hattest Recht. (II/1, MBA 3.2, S. 30)
In dem kurz darauf folgenden Gespräch mit Julie, an dessen Beginn Danton in einem novalishaften Seufzer66 das neuralgische Metonym „September!“ entschlüpft war (II/5, MBA 3.2, S. 40), wiederholt sich wiederum Robespierres Imago des Gedankens als „blutige[m] Finger“, der auf immer dieselbe Stelle deutet (I/6, MBA 3.2, S. 26), in den Worten Dantons: „Was das Wort nur will? Warum gerade das, was hab’ ich damit zu schaffen. Was streckt es nach mir die blutigen Hände?“ (II/5, MBA 3.2, S. 41). Und am Ende dieser Szene steht schließlich Dantons berühmte Passions-Reflexion, die letztlich auf dieselbe argumentative Pointe hinausläuft wie die Robespierres. Zu den Septembermorden heißt es hier: Danton. Wir schlugen sie, das war kein Mord, das war Krieg nach innen. Julie. Du hast das Vaterland gerettet. Danton. Ja das hab’ ich, das war Nothwehr, wir mußten. Der Mann am Kreuze hat sich’s bequem gemacht: es muß ja Aergerniß kommen, doch wehe dem, durch welchen Aergerniß kommt. Es muß, das war dieß Muß. Wer will der Hand fluchen, auf die der Fluch des Muß gefallen? Wer hat das Muß gesprochen, wer? (II/5, MBA 3.2, S. 41)
Indem Büchner die Perikope aus den Jesusreden nach Matthäus67 dem Gekreuzigten in den Mund legt, lässt er Dantons Rede im Zeichen der Passion auf dieselbe Schuldproblematik zulaufen, an der sich schon Robespierre abgearbeitet hat. Der einzig signifikante Unterschied besteht darin, dass „dieß Muß“ für Danton in der Vergangenheit liegt, während es Robespierres Gegenwart bestimmt, dem mit Dantons Schicksal zugleich die eigene Zukunft vor Augen steht. Eben dadurch gewinnt das „Muß“ eine Universalität, die nicht allein anthropologische und theologische, sondern ebenso geschichtsphilosophische und dramenpoetische Implikationen besitzt.
66In
Dantons verzweifeltem Wunsch: „Will denn das nie aufhören? Wird das Licht nie ausglühn und der Schall nie modern, will’s denn nie still und dunkel werden […]?“ (II/5, MBA 3.2, S. 40) klingt der Anfang von Novalis‘ zweiter Hymne an die Nacht wieder: „Muß immer der Morgen wiederkommen? Endet nie des irdischen Gewalt? Unselige Geschäftigkeit verzehret den himmlischen Anflug der Nacht.“ (Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Hrsg. von Paul Kluckhorn und Richard Samuel. Zweite, nach den Handschriften ergänzte, erweiterte und verbesserte Auflage in vier Bänden. Bd. 1: Das dichterische Werk. Darmstadt 1960, S. 133). 67Mt 18,7.
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5 Unterschlagene Hinrichtung: Das wortgewordene Fleisch Die geschichtsphilosophischen und dramenpoetischen Implikationen des universalisierten „Muß“ erhalten in Danton’s Tod nun dadurch ein zusätzliches Gewicht, dass Büchner trotz der forcierten Passionsreden seiner Protagonisten und anders, als auch die dominante Blut-Semantik des Stücks und nicht zuletzt dessen Titel dies erwarten ließe, auf eine theatrale Realisierung der Hinrichtung Dantons und seiner Anhänger verzichtet. Tatsächlich wird auf der Bühne kein Tropfen Blut vergossen; der einzige im Stück inszenierte Tod ist Julies Suizid durch Gift (IV/6). Und nicht einmal auf dem Weg der Teichoskopie, des Botenberichts oder als Geräuschkulisse aus dem Off gelangt die tatsächliche Guillotinierung der Dantonisten nach deren letzten Worten in den Wahrnehmungsraum des Dramas hinein,68 sondern fällt ins Nichts des Schauplatzwechsels zwischen dem Revolutionsplatz (V/7), Eine[r] Straße (V/8) und erneut dem Revolutionsplatz (V/9). Wie Martin Wagner überzeugend argumentiert hat, versagt Büchner mit der theatralen Exklusion der Hinrichtung seinem Drama jenen „turning point“, auf den jedes Revolutionsnarrativ angewiesen ist, das den gewaltsamen Kampf als historisches Durchgangsstadium begreift.69 Fehlt dagegen ein solcher Wendepunkt, dann wird die Revolution konzeptionell auf Dauer gestellt, wofür Wagner zwei historische Modelle einer Rhetorik der „permanent revolution“ des 19. Jahrhunderts anführt – ein kommunistisches und ein konservatives –, ohne letztlich entscheiden zu wollen, welchem der beiden Büchners Stück zuzuschlagen ist.70 Büchners Parallelisierung der Figuren Dantons und Robespierres durch die skizzierte Poetik des Nachhalls und ihre zeitliche Verschränkung über ein „Muß“, das die Vergangenheit des Einen zur Zukunft des Anderen macht, lässt sich durchaus als Bestätigung der Wagner’schen These lesen, dass in Danton’s Tod durch den Verzicht auf die Darstellung just dieses Todes der Revolution ihre turning-point-Dramaturgie und damit auch ihr Ende entzogen ist. Die Analyse der Passionsrhetorik des Stücks mitsamt ihrem konfessionellen und medialen impact erlaubt allerdings eine feinere Justierung dieser Diagnose. Schließlich kassiert Büchner mit seiner anti-theatralen Gestaltung des Dramenschlusses auch jede Re-Aktualisierung der Kreuzigung, die als KalvarienbergFiguration auf so wirkmächtige, skulptural-katholische Weise aufgerufen worden war, um sich im Falle Robespierres zu einer protestantisch-literalen GethsemaneSzene antizipatorischen Zuschnitts zu transformieren, während Danton vor seiner Gefangennahme den wiederum katholischen Zuweis affirmiert, „eine Reliquie“ zu
68Auch
die drei Frauen, die sich in Gegenwart Luciles über die gerade vollzogene Hinrichtung unterhalten und somit für eine solche Botenfunktion prädestiniert wären, umschiffen in ihren Einlassungen das konkrete Ereignis auf signifikante Weise (IV/8, MBA 3.2, S. 80). 69Martin Wagner: Why Danton Doesn’t Die. In: Robert Gillett, Ernst Schonfield, Daniel Steuer (Hrsg.): Georg Büchner. Contemporary Perspectives. Boston 2017, S. 173–191, i. B. S. 183–188. 70Ebd., S. 186–191.
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sein, die man „auf die Gasse […] wirft“ (II/1, MBA 3.2, S. 30). Nun werden Reliquie wie Kalvarienberg im Stück als Objekte eingeführt, die in ihrer Materialität die Zeit zwar überdauern mögen, als Gegenstände der Verehrung aber entweder pervertiert oder wirkungslos geworden sind. Flankiert wird dies von einer den gesamten Text durchziehenden Skepsis gegenüber dem Skulpturalen. So „prophezei[t]“ Danton bereits in der ersten Szene des Stücks: „die Statue der Freiheit ist noch nicht gegossen, der Ofen glüht, wir Alle können uns noch die Finger dabey verbrennen“ (I/1, MBA 3.2, S. 7 f.). Auf den von Legendre kolportierten Witz, „man müsse Marat und Chalier zu einem doppelten Märtyrertum verhelfen und sie in effigie guillotinieren“, antwortet Collot mit groteskem Pathos: „Die Büsten der Heiligen werden unberührt bleiben, sie werden wie Medusenhäupter die Verräther in Stein verwandeln.“ (I/3, MBA 3.2, S. 14). Dantons nekrophil-terroristische Phantasien71 von den eigenen „fossilen Knochen“, mit denen „man noch immer allen Königen die Schädel einschlagen“ könne, oder vom „Duft unserer Leichen“, der den „Despotismus“ aus den „Grüften“ der „Geschichte“ heraus „ersticken“ werde (IV/5, MBA 3.2, S. 75), werden ihrerseits von seinen Mitgefangenen als „Phrasen für die Nachwelt“ abgetan, bei deren Akklamation er „ein Gesicht“ ziehe, „als solle es versteinern und von der Nachwelt als Antike ausgegraben werden“ (ebd.). Und als Gipfel des Büchner’schen Antiskulpturalismus lässt sich der Blick der wahnsinnig gewordenen Lucile lesen, in dem das Gesicht des gefangenen Camille hinter den Gitterstäben mit der Steinwand zu einem absurden Standbild verschmilzt: „Höre Camille, du machst mich lachen mit dem langen Steinrock und der eisernen Maske vor dem Gesicht, kannst du dich nicht bücken? Wo sind deine Arme?“ (IV/4, MBA 3.2, S. 73). Deutlicher lässt sich eine kategoriale Absage an das Medium der Plastik als Garantin des Bleibenden und Bedeutenden kaum formulieren. Was Büchner einer solchen Ästhetik des Statuarischen entgegen setzt, ist eine Rhetorik des Fleisch gewordenen Wortes,72 die er in eine Dramaturgie des Wort gewordenen Fleisches einfasst: Wenn Saint Just in seiner Rede vor dem Nationalkonvent den „Weltgeist“ als Choreographen der „geistige[n] Sphäre“ wie der „physischen“ herbeizitiert und im Anschluss daran die gesamte Revolution zu einem „in der Wirklichkeit angewandten Satz“ allegorisiert, dessen einzelne „Glieder […] getödtet“ haben und der im Sturm auf die Bastille und die Tuilerien sowie im Sansculottenaufstand „seine Interpunctionszeichen“ gefunden hat (II/7, MBA 3.2, S. 46), dann buchstabiert er die Christologie des Fleisch gewordenen Wortes revolutionsgeschichtlich ebenso aus, wie dies Mercier tut, wenn er sich in der Gefangenschaft anklagend an Danton richtet: „Blickt um euch, das Alles habt Ihr gesprochen, es ist eine mimische Uebersetzung Eurer Worte. Dieße Elenden, ihre
71Vgl.
dazu Roland Borgards: Geschichte zwischen Erdzeit und Organzeit. Eigenzeiten in Büchners Danton’s Tod. In: Michael Gamper, Peter Schnyder (Hrsg.): Dramatische Eigenzeiten des Politischen im 18. und 19. Jahrhundert. Hannover 2018, S. 157–170. 72Dies in konkretisierender Anverwandlung des berühmten Verses vom Anfang des Johannesevangeliums: „Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns“ (Jh 1,14).
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Henker und die Guillotine sind Eure lebendig gewordnen Reden.“ (III/3, MBA 3.2, S. 53). Büchners Drama selbst schlägt dagegen den umgekehrten Weg ein und verwandelt das „Menschenfleisch“, in das Danton „heut zu Tag Alles […] [ge]arbeitet“ sieht (ebd.), in Worte, für deren Durchschlagkraft der „Blutmessias“ das Paradigma bildet: Ohne theatrale Einhegung, skulpturale Manifestation oder dramatische Finalisierung entfalten die Büchner’schen Worte eine eigene Wirkungsästhetik, in der sämtliche Momente der Passion kulminieren und – weil sie eben nicht an eine einzelne Figur gebunden sind – über die Grenzen des Stücks ebenso hinausgetrieben werden wie über die historische Situation: über die dargestellte und die der Darstellung gleichermaßen. Durch den Einsatz dieses Wort gewordenen Fleisches werden Passion und Revolution also zusammen auf Dauer gestellt, wird beidem mit dem turning point auch die Auf- und Erlösungshoffnung versagt, während das Wort selbst – und das scheint mir bei einem literarischen Kunstwerk wahrlich kein deprimierender Umstand zu sein – weiter wirkt, angetrieben durch eine passio, die sich nicht in der pietistischen „Wollust des Schmerzes“ auflöst.
6 Adieu, katholische Revolution? Nun ist eine solche Apotheose des wirkenden Worts eine ungemein protestantische Figur, ebenso wie die Bibelzitate, die Büchners Stück durchziehen, von einer durch und durch protestantischen Praxis zeugen und sich in den französischen Quellen entsprechend nicht finden, weil „man“, um noch einmal mit Heines Geschichte der neueren schönen Literatur zu sprechen, „in Frankreich unter dem Namen Christentum nur den römischen Katholizismus versteht“.73 Umso klärungsbedürftiger erscheint freilich, was Büchner angesichts dessen mit seinen dezidiert katholischen Einträgen – Kalvarienberg, Monstranz, Reliquie – im Zeichen des Skulptural-Theatralen kommuniziert, zumal auch diese nicht durch die Quellen gedeckt sind. Probehalber sei hier einmal dem Fingerzeig des Hegelianisch anmutenden „Weltgeist[s]“ gefolgt, im Rekurs auf dessen Allmacht Saint Just vor dem Nationalkonvent seine rhetorische Frage beantwortet: „Soll überhaupt ein Ereigniß, was die ganze Gestaltung der moralischen Natur d. h. der Menschheit umändert, nicht durch Blut gehen dürfen?“ (II/7, MBA 3.2, S. 46). In seinen Berliner Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte von 1822/182374 hatte Hegel sich nämlich ausführlich mit der Frage auseinandergesetzt, „unter welcher Bestimmung und Form die Revolution erscheint.“75 Und er 73Heine:
Zur Geschichte der neueren schönen Literatur in Deutschland (wie Anm. 21), S. 8. den Hinweis auf diese Vorlesungen Hegels danke ich Claude Haas ebenso ausdrücklich wie herzlich, ohne ihn freilich für meine Schlussfolgerungen in Mithaftung zu nehmen. 75Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Philosophie der Weltgeschichte. Die Französische Revolution und ihre Folgen. In: Horst Günther (Hrsg.): Die Französische Revolution. Berichte und Deutungen zeitgenössischer deutscher Schriftsteller und Historiker. Frankfurt a. M. 1985, S. 857–878, hier: S. 862. 74Für
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hat sie mit Blick auf die gewaltsamen Erhebungen in Frankreich, Italien, Spanien und Irland tatsächlich konfessionsgeschichtlich beantwortet. Die blutige Revolution sei, so Hegel, ein spezifisches Ereignis katholischer Staaten, „[d]enn mit der Reformation“ hätten die protestantischen Länder bereits „ihre Revolution vollbracht“: „[W]o aber die Freiheit der evangelischen Kirche herrscht, da ist Ruhe.“76 Den Grund dafür sieht Hegel darin, dass im Protestantismus abstrakte Philosophie und „konkrete Welt“ miteinander verbunden seien und es hier „zur Beruhigung über die rechtliche und sittliche Wirklichkeit“ gekommen sei. Denn diese Wirklichkeit ist einerseits die protestantische Welt selbst, die so weit im Denken zum Bewußtsein der absoluten Spitze des Selbstbewußtseins gekommen ist, und andererseits hat der Protestantismus die Beruhigung über diese Wirklichkeit in der Gesinnung, die selbst, mit der Religion eins, die Quelle alles rechtlichen Inhalts im Privatrecht und in der Staatsverfassung ist.77
Wo aber die „Gesinnung“, so lässt sich der Hegel’sche Gedankengang zusammenfassen, in Form einer Religion auf dem Gipfel des „Selbstbewußtseins“ zugleich das Fundament von Recht und Staat bildet, da fehlt es an jener Reibung, die eine Revolution allererst entfacht. Der Philosoph führt aus: „Die protestantische Religion […] läßt nicht zweierlei Gewissen zu“, ein staatspolitisches und ein religiöses; „in der katholischen Welt“ dagegen „steht das Heilige auf der einen Seite und auf der anderen die Abstraktion gegen die Religion, d. h. gegen ihren Aberglauben und gegen ihre Wahrheit.“78 Und eine solche konfessionell grundierte Konstellation, in der sich Denken und Welt, Religion und Staat auf zwei antagonistische Pole verteilen, hält Hegel eben für die Bedingung der Möglichkeit gewaltsamer Revolutionen: „Der Gedanke ist da zur Gewalt geworden, wo er das Positive als Gewalt sich gegenüber hatte“,79 also allein in den katholischen Ländern. Wie weit diese konfessionsgeschichtliche Interpretation der Revolution in den 1830er Jahren innerhalb Deutschlands verbreitet war und ob Horst Günther Recht hat mit seiner Einschätzung, Hegel habe die „Auffassung, daß Frankreich mit der Revolution etwas nachholt, das die protestantischen Länder mit der Reformation schon erreicht haben“, „mit vielen seiner deutschen Zeitgenossen“ geteilt,80 lässt sich für den Moment nicht beurteilen, weil die dazu notwendige Forschungsgrundlage fehlt (ein Desiderat, das der Aufarbeitung wahrlich wert wäre).81 76Ebd., 77Ebd.,
S. 862 f. S. 861.
78Ebd. 79Ebd.,
S. 862. S. 1456. 81Einen ersten Fingerzeig gibt die MBA in ihrem Kommentar zu Büchners Schülerschrift Heldentod der vierhundert Pfortzheimer und deren Rede von der Reformation als „schönste[m] Kampf“ der Deutschen und „erste[m] Act“ des menschheitlichen Aufbegehrens gegen die Unterdrückung, dem die Französische Revolution als „zweiter“ Akt folgte (MBA 1.2, S. 6 f.). Hier findet sich eine kurze Synopse verschiedener zeitgenössischer Positionen zum Verhältnis von Reformation und Revolution (vgl. MBA 3.2, S. 173). Für diesen Hinweis danke ich Burghard Dedner herzlich.
80Ebd.,
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A. Polaschegg
Mit Blick auf Büchner scheint es mir indes nicht ausgeschlossen, dass die deutlichen konfessionspoetischen Einträge in Danton’s Tod, zumal im Verbund mit den medienpolitischen Strategien und Positionen des Stücks, einen Hegel’schen Subtext transportieren. Die vom Drama auf Dauer gestellte Revolution wäre dann allerdings per definitionem keine deutsche, weil eine protestantische Revolution nach Hegel eine geschichtsphilosophische contradictio in adjecto darstellte. Das wortgewordene Fleisch wäre es dagegen umso mehr, zumal wenn es im Zeichen der Passion und ohne den erotisierten Trost einer „Wollust des Schmerzes“ weiter wirkt, den Heine als ein dezidiert katholisches Versprechen verhandelt hatte82 und Büchner selbst als m ystisch-pietistisches figuriert.83 Dass das über die Grenzen des Stücks hinaus wirkende Wort ein blutiges ist, das den Schmerz als „Riß in der Schöpfung von oben bis unten“ (III/1, MBA 3.2, S. 49) mit sich führt und seine passio somit als eine im Wortsinne untröstliche formatiert, ließe sich dann als dessen eigentlich revolutionäres Potenzial lesen, das die von Hegel diagnostizierte „Ruhe“ des protestantischen Staates mit dessen ureigenen medialen und religiösen Instrumenten aufsprengen könnte. Dann wäre dieses Wort die eigentliche „politische Zeitbombe“,84 die – weil nicht in Relikten oder Plastiken verkörpert, sondern in der Form sprachlicher Äußerungen – jederzeit explodieren oder eben auch mit steten, trostlosen (Bluts-)Tropfen den quietistischen Staats-Stein höhlen kann. Und als solches bräuchte das Wort – mit Büchners Robespierre formuliert – tatsächlich gerade nicht den „Einen“ (I/6, MBA 3.2, S. 29), um wirkmächtig gesprochen zu werden, sondern im Gegenteil „uns Alle[ ]“ – allerdings nur, sofern und solange „wir […] Alle im Gethsemanegarten im blutigen Schweiß [ringen]“ (ebd.). Das wäre für eine politische und anthropologische Lektüre von Danton’s Tod freilich ein steiles Gebot, scheint mir deshalb aber nicht weniger bedenkenswert. Schließlich verdankt sich das Renommee dieses Autors seit gut einem Jahrhundert der Unterstellung eines anhaltenden (Ver-)Störungspotenzials seiner Texte. Wenn sich die Literaturwissenschaft der Gegenwart von dieser Verstörung eo ipso unbetroffen wähnen wollte, wäre dies für die Relevanz Büchners entsprechend wenig verheißungsvoll.
82Vgl.
dazu noch einmal: Heine: Zur Geschichte der neueren schönen Literatur in Deutschland (wie Anm. 21), S. 8. 83Vgl. dazu noch einmal: Streim: Die „Wollust des Schmerzes“ (wie Anm. 17), S. 522–525. 84Borgards: Geschichte zwischen Erdzeit und Organzeit (wie Anm. 71), S. 170.
Mit Händen und Füßen Büchner und die romantische Komiktheorie (von Stephan Schütze) Johannes F. Lehmann
Georg Büchner hat in seinen Texten immer wieder nach dem „das“ gefragt, nach dem „Muß“, das aller Sünde zugrunde liegt: Der Mann am Kreuze hat sich’s bequem gemacht: es muß ja Aergerniß kommen, doch wehe dem, durch welchen Aergerniß kommt. Es muß, das war dieß Muß. Wer will der Hand fluchen, auf die der Fluch des Muß gefallen? Wer hat das Muß gesprochen, wer? Was ist das, was in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet? Puppen sind wir von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst! Die Schwerter, mit denen Geister kämpfen, man sieht nur die Hände nicht wie im Mährchen. (MBA 3.2, S. 41)1
Diese Passage aus Büchners Danton’s Tod, die fast wortgleich im sogenannten Fatalismusbrief vom März 1834 steht, korreliert jeweils das fatale „Muß“ von Huren, Lügen, Stehlen und Morden mit dem Fluch des unausweichlichen Ärgernisses, wie es bei Matthäus 18,7 und Lukas 17,1 heißt. Büchner zitiert die Formulierung nach Matthäus in der Übersetzung Luthers: „Es muß ja Ärgernis kommen; doch weh dem Menschen, durch welchen Ärgernis kommt!“ (Matthäus 18,7) Sieht man sich den Kontext dieses Satzes bei Matthäus an, dann findet man, dass mit ‚Ärgernis‘ jene körperlich fundierte Sündenenergie gemeint ist, die allgemein in der protestantischen Lehre und speziell bei dem von Büchner geschätzten Jakob
1Textstellen von Büchner werden hier und im Folgenden zit. nach der Marburger Büchner Ausgabe (Darmstadt 2000–2013) unter der Sigle MBA. Die Nachweise erscheinen direkt im Text.
J. F. Lehmann (*) Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft, Universität Bonn, Bonn, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 R. Borgards und B. Dedner (Hrsg.), Georg Büchner und die Romantik, Abhandlungen zur Literaturwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05100-4_7
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Michael Reinhold Lenz unter dem Begriff der ‚Konkupiszenz‘ firmiert2 – und die im Umkreisen von Hedonismus und Sünde, Fleisch und Augenlust, Genuss und Unzucht auch für Büchner zentral ist. Im Anschluss an den zitierten Satz bei Matthäus heißt es: 8. So aber deine Hand oder dein Fuß dich ärgert, so haue ihn ab und wirf ihn von dir. Es ist besser, daß du zum Leben lahm oder als Krüppel eingehst, denn daß du zwei Hände oder zwei Füße hast und wirst in das höllische Feuer geworfen. 9. Und so dich dein Auge ärgert, reiß es aus und wirf’s von dir. Es ist dir besser, daß du einäugig zum Leben eingehest, denn daß du zwei Augen habest und wirst in das höllische Feuer geworfen. (Matthäus 18,8 und 9)3
Das ‚Ärgernis‘ als Korrespondenzbegriff der Sünde bei Strafe des ewigen Todes ist hier sehr konkret auf den Körper als Medium des Sündenbegehrens und des Sündenhandelns bezogen, auf Hände, Füße und auf Augen. Es genügt ein Blick in Büchners Woyzeck, in dem das Bildfeld der Augen auf ca. 80 Druckseiten 128 mal erwähnt wird (MBA 3.2, S. 3–81), um zu sehen, dass das Auge als Kippfigur zwischen körperlichem Sündenbegehren und Bewusstseinsreflexivität bei Büchner eine große Rolle spielt, als Körperteil, der über den Körper hinausreicht, aber doch notwendig an ihn gebunden bleibt – Büchners gesamte anatomische Forschung sowie seine philosophisch-materialistische Frage nach dem körperlichen Substrat des Bewusstseins gehören hierher.4 Das möchte ich aber hier nicht vertiefen – sondern vielmehr darauf hinweisen, dass Büchners Thematisierung des Körpers auf allen ihren Feldern, sei es Ökonomie (Hunger, Nacktheit, Kleidung, Prostitution, Arbeit), sei es Anatomie, sei es Pathologie, seien es schließlich Sündenenergie oder epikuräischer Genuss, mit einer spezifischen Form der Komik arbeitet, die eben diese Unhintergehbarkeit des Körpers auf der Ebene der Handlung wie auf der Ebene der Sprache permanent mitführt. Dabei spielen insbesondere wieder Hände und Füße eine Rolle. Ich möchte mich im Folgenden dem Verhältnis von Büchner zur Romantik im Hinblick auf Büchners Verhältnis zur romantischen Komiktheorie nähern und der
2Vgl. zur Konkupiszenz allgemein Heinrich Köster: Urstand, Fall und Erbsünde. Von der Reformation bis zur Gegenwart. Freiburg, Basel, Wien 1982. Zu Lenz vgl. Vf.: Energie, Gesetz und Leben um 1800. In: Maximilian Bergengruen, Vf., Hubert Thüring (Hrsg.): Sexualität – Recht – Leben. Zur Entstehung eines Dispositivs um 1800. München 2005, S. 41–66. 3In Matthäus 5,29 heißt es parallel: „Ärgert dich aber dein rechtes Auge, so reiß es aus und wirf’s von dir. Es ist dir besser, daß eines deiner Glieder verderbe, und nicht der ganze Leib in die Hölle geworfen werde.“ Der Text folgt der Ausgabe: Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments nach der deutschen Übersetzung Martin Luthers. Neu durchgesehen nach dem vom Deutschen Evangelischen Kirchenausschuss genehmigten Text. Privilegierte Württembergische Bibelanstalt. Stuttgart o. J. 4Vgl. hierzu meine Woyzeck-Interpretation in Vf.: Fallgeschichte und Rahmen bei Schiller, Büchner und Musil. In: Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge 2 (2009), S. 361–380. Vgl. auch meinen Artikel „Sexualität“. In: Roland Borgards, Harald Neumeyer (Hrsg.): Büchner Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2009, S. 231–236.
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Frage nach den Realitäten des Körpers in ihr. Dazu ist ein kleiner Umweg über die romantische Komiktheorie erforderlich. Methodisch geht es dabei nicht um weitere Nachweise von Parallelstellen aus Texten der Romantik, sondern um eine Strukturanalogie zwischen Büchner und einer bislang wenig beachteten Position im Feld der romantischen Komiktheorie, die sich zugleich von der Romantik spezifisch absetzt.5
1 Romantische Antiromantik in der Komiktheorie: Stephan Schütze Der Körper hat zwar in der Geschichte der Komik, insbesondere natürlich in der Tradition der commedia dell’arte, immer eine zentrale Rolle gespielt, aber nicht in der Komiktheorie. Es ist der Komiktheoretiker Stephan Schütze (1770–1838), der erstmals den Körper und die Materialität der Dinge für eine Theorie des Komischen gewinnt. Dies tut er in zwei kleinen Aufsätzen aus dem Jahr 1811 und 1812 sowie in seinem diese Gedanken systematisierenden Buch Versuch einer Theorie des Komischen aus dem Jahr 1817. Man kann die entscheidende Innovation Schützes am besten verdeutlichen, indem man Parallelität und Differenz zu Schelling und vor allem zu Jean Paul hervorhebt. Schütze vollzieht in der Romantik und vor dem Hintergrund ihrer Prämissen eine anti-romantische, materialistisch-realistische Innovation innerhalb der romantischen Komiktheorie. Hierin sehe ich die strukturellen Parallelen zu Büchner.6 „Wir suchen überall das Unbedingte und finden immer nur Dinge“7 – dieser Satz von Novalis beschreibt bereits eine Komik, in der Dinge vorkommen, indem
5Die Forschung zum Verhältnis von Büchner zur Romantik hat seit ca. 100 Jahren immer wieder Listen mit Parallelstellen und wörtlichen Übernahmen erstellt und in unterschiedliche theoretische Kontexte gestellt. Vgl. Heinz Lipmann: Georg Büchner und die Romantik. München 1923; Ingrid Oesterle: Verbale Präsenz und poetische Rücknahme des literarischen Schauers. Nachweise zur ästhetischen Vermitteltheit des Fatalismusproblems in Georg Büchners Woyzeck. In: Georg Büchner Jahrbuch 3 (1983), S. 168–199; Burghard Dedner: Verführungsdialog und Tyrannentragödie. Tieckspuren in Danton’s Tod. In: Ders., Ulla Hofstaetter (Hrsg.): Romantik im Vormärz. Marburg 1992, S. 31–89. Speziell zur Komik vgl. Arnd Beise: Georg Büchners Leonce und Lena und die Lustspielfrage seiner Zeit. In: Georg Büchner Jahrbuch 11 (2005– 2008), S. 81–100; Ariane Martin: Absolut komisch. König Peter und die Philosophie in Büchners Leonce und Lena. In: Dies., Isabelle Stauffer (Hrsg.): Georg Büchner und das 19. Jahrhundert. Bielefeld 2012, S. 183–198. 6Vgl. zu Stephan Schütze Vf.: Vom Leben und Tod der Dinge. Zur Aktualität der romantischen Komiktheorie Stephan Schützes. In: Limbus – Australisches Jahrbuch für germanistische Literatur- und Kulturwissenschaft 5 (2012), S. 105–122; Ders.: Stephan Schütze – Dichter, Publizist, Komiktheoretiker. In: Dagmar Ende, Thorsten Unger (Hrsg.): Magdeburger Literaten von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Heidelberg 2015, S. 85–105. 7Novalis: Blüthenstaub. In: Ders.: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Hrsg. von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. Bd. 2: Das philosophisch-theoretische Werk. Darmstadt 1999, S. 209–304, hier S. 227.
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sie sich bei der Suche nach dem Unbedingten in den Weg stellen. Allerdings bleibt das bei Novalis in der Opposition von Unbedingtem (im Singular) und Dingen (im Plural), also der Korrelation eines philosophischen Begriffs mit Alltagsgegenständen, nur implizit. Stephan Schütze dagegen stellt wenig später die Dinge und das Körperliche als das Ding in und außer uns ins Zentrum, und Friedrich Theodor Vischer wiederum, der Schütze intensiv rezipiert hat, wird daraus noch später die „Tücke des Objekts“ machen und Sigmund Freud schließlich die Psychopathologie des Alltagslebens.8 Schellings Theorie des Komischen arbeitet mit der Opposition von Freiheit und Notwendigkeit, die auch seinem Begriff des Organischen zugrunde liegt, wie er ihn in seiner Naturphilosophie entwickelt, nämlich als einer dialektischen Synthese von Mechanik/Notwendigkeit einerseits und Freiheit andererseits: „Die Natur soll in ihrer blinden Gesetzmäßigkeit frei: und umgekehrt in ihrer vollen Freiheit gesetzmäßig seyn, in dieser Vereinigung liegt allein der Begriff der Organisation.“9 Diese Opposition von Mechanik/Notwendigkeit und Leben/Freiheit legt Schelling dann wenig später auch seiner Theorie des Komischen zugrunde, die er in seiner Philosophie der Kunst als Theorie der Komödie formuliert. Ausgangspunkt ist, dass im nicht-komischen Normalfall, wie es heißt, „die Nothwendigkeit als das Objekt, die Freiheit als das Subjekt erscheint“.10 Das Komische besteht nun nach Schelling in der Umkehrung dieses Verhältnisses, also darin, dass das Objekt selbst als freihandelndes Subjekt erscheint. Das Komische ist nach Schelling da, „wo ein allgemeiner Gegensatz der Freiheit und Notwendigkeit ist, aber so, daß diese in das Subjekt, jene ins Objekt fällt“.11 Was hier lediglich in einer abstrakten begrifflichen Struktur gefasst wird, übersetzt Schütze ins Konkrete, indem er die bei Schelling eingerichtete Systemstelle der ‚Natur‘ bzw. der ‚Notwendigkeit‘ tatsächlich mit Dingen (und gerade mit Dingen des Alltags) und dem Mechanischen des (eigenen) Körpers besetzt. Jenes Mechanische, Dingliche, das in seinem Gegensatz zur Freiheit das Leben zugleich konstituiert wie unterminiert, ist sowohl im als auch außerhalb des Menschen. Schütze schreibt: „Das Materiale, der Mechanismus, die Welt, worin er [der Mensch, J. L.] mit seinem Geiste schwebt, kommt hier noch besonders in Betrachtung. Diese bestimmende Welt ist sowohl in ihm als außer ihm, und trägt überall dieselben Kennzeichen“.12
8Vgl. hierzu Vf.: Im Abgrund der Wut. Zur Kultur- und Literaturgeschichte des Zorns. Freiburg i. Br. 2012, S. 371–377. 9Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Von der Weltseele, eine Hypothese der höheren Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus. In: Ders.: Ausgewählte Werke, Schriften von 1794–1798. Darmstadt 1967, S. 399–637, hier S. 581. 10Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Vom Wesen der Komödie. In: Ders.: Philosophie der Kunst (1802/1803). Ausgewählte Schriften in 6 Bänden. Bd. 2: Schriften 1801–1803. 2. Aufl. Hrsg. von Manfred Frank. Frankfurt a. M. 1995, S. 539–654, hier S. 539. 11Ebd., S. 540. Vgl. zu Schellings Theorie der Komödie Stephan Kraft: Zum Ende der Komödie. Eine Theoriegeschichte des Happyends. Göttingen 2011, S. 252–262. 12Stephan Schütze: Versuch einer Theorie des Komischen. Leipzig 1817, S. 79 f.
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Damit ist es Schütze, der sowohl die Dinge der Außenwelt, mit der der Mensch in Kollision kommt, als auch das Mechanische der Apparatur des menschlichen Körpers sowie auch das Apparathafte des Geistes in die Komiktheorie einführt. Entscheidend ist dabei, dass Schütze nicht wie die Komiktheorien der Romantiker (Schelling, Fr. Schlegel oder Jean Paul) vom nicht-komischen Normalfall ausgeht, der im Komischen dann verkehrt, negiert, vernichtet oder sonst wie denormalisiert wird, sondern dass das Komische bereits im Normalfall latent enthalten ist. Das Gegeneinander des Mechanischen und des Lebendigen, der Natur und der Freiheit, des Geistigen und seiner Beschränkung durch das „Vorhandenseyn einer Körperwelt“,13 wie Schütze immer wieder sagt, ist immer schon da; die Arbeit des Komischen besteht nur darin, dies sichtbar zu machen. Gehen etwa ist normalerweise ein ganz unauffälliger Vorgang, recht eigentlich ist es aber ein ständiger Kampf zwischen der Freiheit, seine Glieder zu beherrschen einerseits und der dinglichen Mechanik dieser Glieder andererseits. Dieser Kampf ist immer da und tritt im Komischen, wenn die dingliche Mechanik der Glieder sichtbar wird und auch noch den Anschein gewinnt, als spiele sie mit der Freiheit des Menschen, nur hervor. Das Komische liegt also in einem „gebundenen Zustande“14 auch da immer vor, wo nichts Komisches geschieht. Jede Gewohnheit, jede Wiederholung, jede Mechanik des menschlichen Bewegens und Handelns wird aber komisch, wenn sie sichtbar die menschliche Freiheit beschränkt. Im Lachen liegt, so folgert Schütze weiter, zugleich eine Sollensimplikation, nämlich der Verweis auf eine höhere, von der Körperwelt unbeschränkte Freiheit. So wie nach Henri Bergson das Lachen den Verlachten für das Verfehlen des Lebendigkeitsimperativs bestraft, so steckt auch bei Schütze im Lachen über das Komische das Moment dieser Sollensimplikation: „Wir lachen nicht blos, weil wir uns gerade von diesem oder jenem Fehler und Irrthume frey fühlen, sondern weil wir überhaupt uns und andere einer größern Vollkommenheit und Freyheit fähig halten.“15 Indem Schütze das Komische nicht als Kontrast denkt, nicht als die Umkehrung des Erhabenen, nicht als die Vernichtung des Idealen durch das Reale und auch nicht als Ungereimtheit oder Fehlverhalten, sondern als das anthropologisch unentrinnbare Zusammenspiel des Geistigen mit dem Körperlichen, kann er die Körperwelt der Dinge und auch den eigenen Körper als Medium für den in der Welt handelnden Menschen denken: Um seinen Willen zu realisieren, muss er Hände und Füße gebrauchen, um zu kommunizieren, muss er Worte benutzen, sich der physischen Sphäre des Schalls anvertrauen: „Der Geist findet die Gegenstände seiner Thätigkeit in der Außenwelt, aber auf dem Wege zu ihnen hinüber muß er Hände, Füße, Worte, Blicke usw. gebrauchen, und sie in Bewegung setzen.
13Ebd.,
S. 80. S. 31. 15Ebd., S. 99. 14Ebd.,
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Welche Beschränkung, welche vertheilte Macht, welche spärliche Bewaffnung für den denkenden Geist!“16 Mit dem Blick auf den Körper und die Körperwelt als notwendige und beschränkende Medien für den Geist kann Schütze einerseits die Darstellung des Komischen als spezifische Form des Realismus denken, die nur sichtbar herausarbeitet, was strukturell und latent immer vorhanden ist,17 und andererseits kann er die Realitäten des Körpers, der Arbeit, der gesellschaftlichen Organisation als Gegenstände des Komischen in den Blick nehmen, wie dies in der romantischen Komiktheorie sonst nicht geschieht: „Stände, Gewerke, Gerichtshöfe, Regierungsarten, Schulen alles gehört dahin.“18 Es geht mir vor diesem Hintergrund nun nicht darum, zu erweisen, dass Büchner Schütze gelesen hat,19 sondern darum zu zeigen, inwieweit Schützes Theorie als romantische Theorie zugleich gegen die Romantik argumentiert, und zweitens, wie wiederum Büchners Umgang mit Komik, Körper und Mechanik sich zu dieser romantischen Anti-Romantik verhält. Es geht dabei auch nicht um den Nachweis bestimmter motivischer oder wörtlicher Übernahmen aus Texten der Romantik, sondern um die Parallelen einer theoretischen Struktur. Der Text von Schütze hat jedenfalls nicht für die Romantik eine große Rolle gespielt, sondern für den Realismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Es war Friedrich Theodor Vischer, der auf Schütze als Rezensent seiner 1837 erschienenen Habilitationsschrift Über das Erhabene und Komische aufmerksam wurde. Vischer hat dann die Komiktheorie von Schütze weitestgehend übernommen und bis hinein in einzelne Details seine Hauptfigur aus seinem Roman Auch einer ihr gemäß konzipiert. Dass Vischer Schütze aufnehmen und Büchner ablehnen konnte, führt dann wiederum
16Ebd.,
S. 56. nennt das die „objective Begründung des Lächerlichen“ (ebd., S. 79 ff.). 18Stephan Schütze: Ueber das Komische. In: Ders.: Gedanken und Einfälle über Leben und Kunst. Leipzig 1810, S. 278–296, hier S. 294. Vgl. auch Schütze: Versuch einer Theorie des Komischen (wie Anm. 12), S. 85 f.: „Staatsverfassungen, Gesetzgebungen sind vergebens bemüht, das Ganze und das Einzelne zugleich so zu sichern, daß der Kampf zwischen beyden geschlichtet, und bey den Verordnungen nie eine Lächerlichkeit zum Vorschein käme.“ – In ihrem Aufsatz zum Witz in „Danton’s Tod“ betont Serena Grazzini den objektiven Charakter des Komischen und den realistischen Erkenntniswert der Komik und auch sein politisches Potenzial (allerdings ohne Bezug auf Schütze): Der Witz kann „eine komische Qualität des Objektes entdecken“ und hat daher, weil er „Seiten der Wirklichkeit ans Licht bringen könnte, die man lieber versteckt […] auch ein politisches Potenzial.“ Serena Grazzini: Mimetischer Realismus, ästhetische Evidenz, poetologische Reflexion. Über den Witz in Georg Büchners Drama Danton’s Tod. In: Carsten Jakobi, Christine Waldschmidt (Hrsg.): Witz und Wirklichkeit. Komik als Form ästhetischer Weltaneignung. Bielefeld 2015, S. 185–209, hier S. 190 f. 19Das ist nicht wahrscheinlich. Allerdings gibt es in der zweiten Auflage der Vorschule der Ästhetik von Jean Paul (1813), die Büchner vermutlich sehr wohl kannte, einen Hinweis auf den Aufsatz von Schütze aus der Zeitung für die elegante Welt von 1811 und dessen Nützlichkeit für den Dichter. Ob Büchner diesem Hinweis gefolgt ist, wissen wir nicht. Vgl. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik. 2. Auflage. Stuttgart, Tübingen 1813, S. 242. 17Schütze
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zur Spezifität Büchners, der trotz großer Nähe zu Schütze zugleich weit von ihm entfernt ist. Die Spezifität der Schützeschen Theorie in ihrem Verhältnis zur Romantik lässt sich am besten im Vergleich mit der wohl ausgefeiltesten romantischen Komiktheorie ersehen, mit der Komiktheorie Jean Pauls, mit der Schützes Theorie zugleich die größte Ähnlichkeit aufweist und die ihrerseits in einer kritischen Spannung zur Frühromantik steht.20 Das sechste Programm von Jean Pauls Vorschule, das dem Lächerlichen gewidmet ist, bietet zu den subjekt- und geschichtsphilosophischen Ausführungen der ersten Programme einen Gegensatz, und dies insbesondere zu der im fünften Programm formulierten These, dass die neuere Poesie, das Romantische, sich aus dem christlich bedingten Zusammenbruch der antiken, schönen, äußeren Welt und ihrer Verlagerung ins Innere ergeben habe und nun im Inneren „das Reich der Unendlichkeit über der Brandstätte der Endlichkeit“21 aufblühe. Denn mit dem Komischen komme gerade die Negation des Unendlichen, das Gegenspiel des Erhabenen zur Geltung. Die Opposition des Komischen und des Erhabenen, an die auch Vischer später in seiner Habilitation anschließen wird, hat bei Jean Paul ein transzendentales Tertium Comparationis, nämlich die These, dass „das Komische, wie das Erhabene nie im Objekte wohnt, sondern im Subjekte.“22 Die Opposition zwischen dem Komischen und dem Romantischen ist mit dieser transzendentalen und subjektphilosophischen Grundlegung zugleich, wie Ralf Simon gezeigt hat, eine romantikinterne Unterscheidung.23 Jean Paul konzipiert vor diesem Hintergrund seine eigentliche Theorie des Komischen als eine dreifache Potenzierung subjekt-interner und intersubjektiver Kontraste, namentlich objektiver Kontrast, sinnlicher Kontrast und subjektiver Kontrast.24 Das Beispiel, das den komplexen Vorgang der Beobachtung einer Ungereimtheit und das Leihen des Bewusstseins, die Ungereimtheit als solche zu erkennen etc., illustrieren soll, ist das des Sancho Panza, der sich eine Nacht über in einem Graben hält, weil er glaubt, er befinde sich über einem Abgrund. Die Theorie Schützes ist gegenüber dieser Komplexität deutlich einfacher – es gehe, so Schütze, einfach darum, dass im Komischen ein situatives Aufeinanderstoßen zwischen der Freiheit (einem Wollen) und der Beschränkung dieses Wollens
20Vgl.
zur Kritik Jean Pauls an Friedrich Schlegel und der Frühromantik Wulf Köpke: Jean Pauls Begriff des Kunstwerks im Kontext der zeitgenössischen Ästhetik. In: Wolfgang Wittkowski (Hrsg.): Revolution und Autonomie, Deutsche Autonomieästhetik im Zeitalter der Französischen Revolution. Ein Symposium. Tübingen 1990, S. 143–156. 21Paul: Vorschule der Ästhetik (wie Anm. 19), S. 93, § 23. 22Ebd., S. 110, § 28. 23Jean Pauls Theorie des Komischen (bzw. des Humors) ist eine romantische Theorie, indem sie das Romantische in einer Art re-entry als das Gegenteil des Komischen fasst. Vgl. Ralf Simon: Idee der Prosa. München 2013, S. 238–246. 24Vgl. Paul: Vorschule der Ästhetik (wie Anm. 19); vgl. hierzu Maximilian Bergengruen: Schöne Seelen, groteske Körper. Jean Pauls ästhetische Dynamisierung der Anthropologie. Hamburg 2003, S. 214.
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durch die Natur (Körper und Dinge) sinnfällig werde, und zwar so, dass dies als Spiel der Natur mit der Freiheit erscheint. Der Gegensatz zwischen dem Komischen und dem Erhabenen berühre letztlich nicht den Kern der Sache, wie überhaupt die Frage nach dem Gegenteil und den Oppositionen nicht zum Komischen führe.25 Auch Schütze stellt, ähnlich wie Jean Paul, dem Komischen das Romantische gegenüber, allerdings nicht im Sinne eines Gegensatzes, sondern einer Unterscheidung. Während Jean Paul das Romantische als das Reich der Unendlichkeit und das Komische als dessen Vernichtung durch das Endliche begreift, sieht Schütze den Unterschied als einen Modus der Repräsentation bzw. der Signifikation: Das Romantische „giebt zwar den Dingen und Zufällen auch Handlung und Verstand, aber die Wirkung geschieht mehr aus einem geheimen Dunkel zu uns herüber, und läßt den Weltgeist mehr als etwas Verborgenes ahnden, als in den Kräften sichtbar werden.“26 Was ist das Neue, das Radikale bei Schütze? Er verweigert, so würde ich sagen, das romantische Spiel mit extremen Gegensätzen und ihren dialektischen Re-entrys: Es geht nicht um Negation und nicht um Vernichtung, nicht um Umkehrung und nicht um unendliche Spiegelungen von Beobachtungs- und Bewusstseinsakten, wie etwa bei Schelling oder Jean Paul. Schütze ist demgegenüber ganz Phänomenologe und beweist, dass bereits im normalen Gebrauch von Händen und Füßen eine Fülle komischen Potenzials liegt, ganz ohne dass irgendeine Ungereimtheit dabei bemerkbar sein müsse: Die Füße zeigen, daß die Hände ihrer bedürfen, und die Hände versagen dem Munde den Gehorsam oder eilen ihm zuvor. Die Worte sind Boten der Lippen. Der Athem wird zum Verräther. Und wer kann den Willen des Menschen von dieser Dienerschaft umgeben sehen, ohne über seine Freiheit zu lachen.27
So sei es bereits komisch, wenn man auf einer Bühne fünf Menschen langsam hintereinander hergehen sieht, da hier das Gehen als Gehen, als die Mechanik des Gehens hervortrete und so der Mensch sowohl in der Bewegung als auch in der ihn beschränkenden Körperlichkeit sichtbar werde. Auf dem Theater „hat alles […] eine komische Wirkung, was den Menschen zur Sache zu machen scheint, und die Ahnung von einem Mechanismus giebt.“28 Essen, Trinken, Stottern, Stolpern, all das, was den Mechanismus hervorhebt, ist an sich selbst bereits komisch, insofern dieses Mechanische – in Form einer Projektion, die selbst wiederum ein unhintergehbarer Mechanismus des Menschen ist – als lebendig, frei handelnd erscheint, als Geist, der mit dem Menschen spielt, ihn zum Objekt macht. Zu diesem Mechanismus gehört, wie gezeigt, auch die gesamte Sozialwelt mit ihren Hie-
25Vgl. Stephan Schütze: Ueber das Verhältniß des Lächerlichen zum Komischen. In: Blätter für literarische Unterhaltung Nr. 270, 27/9 (1834), S. 1117–1119. 26Stephan Schütze: Versuch einer Theorie des Komischen (wie Anm. 12), S. 174. 27Ebd., S. 171. 28Ebd., S. 125.
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rarchien und Ordnungen. Die Grundlage des „Vorhandenseyns der Körperwelt“, aus der das Komische nach Schütze hervorgeht, führt so auch zur Arbeitsteilung, zur Beschränkung des Menschen durch seine Berufsrollen, die wiederum an ihm als Komisches sichtbar werden, „als hätten ihm neckende Buben etwas angehängt, womit er lustig herumspringt, ohne die Posse zu ahnen. […] Ja es ist nicht möglich, manches Gewerk mit seiner Kleidung und Physiognomie auf dem Theater nur zu sehen, ohne darüber gleich in ein lautes Gelächter auszubrechen.“29 Zwar ist Jean Pauls Theorie mitunter sehr nah an Schützes Blick auf die kleinen Dinge, aber gerade zum Slapstick und der spezifisch philosophischen Ansicht Schützes findet Jean Paul nicht. Er findet nicht zum Körperkomischen selbst, wie Vischer wiederum, von Schütze begrüßt, formuliert hat: „J. Pauls Erklärung paßt auf diejenigen Fälle nicht, wo das Bagatell eines äußeren Zufalls, nicht ein innerer Irrtum, menschliche Thätigkeiten komisch macht […]. J. Pauls Erklärung ist nur psychologisch, nicht philosophisch.“30 Schützes Verschiebung innerhalb der romantischen Komiktheorie und gegen Jean Paul lässt sich als eine Theorie, die selbst mit romantiktypischen Oppositionen argumentiert, sie aber zugleich in Richtung auf die Realität und der Materialität der Zeichen, der Dinge und Körper verschiebt, zusammenfassend sechsfach auffächern: 1) Das Komische basiert auf der anthropologischen Situation des Menschen, auf der immer vorhandenen Körperwelt, der der Mensch mit seiner Freiheit und seinem Bewusstsein dennoch angehört. 2) Schütze setzt das Komische als immer vorhanden voraus, die Subjektivität und die Phantasie des Beobachters sieht etwas, was objektiv vorhanden ist. 3) Schütze begreift die Körperwelt als Vermittlungsrelais zwischen dem Willen des Menschen und der Außenwelt, von der er abhängig ist. So kann er Körper, Dinge und Instrumente als Medien des Handelns denken, die sich dem Willen des Menschen in ihrer Beschränkung in den Weg stellen. 4) Zu diesen Medien gehören auch Stimme, Schall und Zeichenkörper aller Art, die, ganz parallel zu Händen und Füßen, Medien zur Realisierung geistiger Zwecke sind. Auch Kommunikation bedarf des Behelfs physikalischer Entitäten, die im Fall der Störung als ihr mediales Apriori hervortreten und komisch werden. 5) Schütze blickt mit dem Körper als der unhintergehbar materiellen Grundlage für alles menschliche Handeln auch auf die Arbeit, ihre Organisation und auf die politischen Grundlagen der Einrichtung der Welt, Institutionen, Ordnungen, auf Staatsverfassungen und ihre Mechanik. 6) Mit der Fokussierung auf Körper und Mechanik liegt dem Gegensatz von Freiheit und Natur letztlich die sollensimplikative Opposition von Leben und Tod zugrunde. Wie unverständlich diese, philosophisch Bergson vorwegnehmende und nach der Bedingung des Menschseins (zwischen Freiheit/Geist/Leben und Natur/ Mechanismus/Tod) fragende, Theorie des Komischen den Zeitgenossen war, zeigt ein Büchner zeitgenössischer Disput zwischen Stephan Schütze und Arnold Ruge
29Ebd.,
S. 87. Theodor Vischer: Über das Erhabene und Komische und andere Texte zur Philosophie des Schönen. In: Robert Vischer (Hrsg.): Kritische Gänge 4, Frankfurt a. M. 1967, S. 126. 30Friedrich
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Mitte der 1830er Jahre. Arnold Ruge nahm in seiner 1837 erschienenen Neuen Vorschule der Ästhetik einen kleinen, oben bereits zitierten Artikel von Schütze Ueber das Verhältnis des Lächerlichen zum Komischen aus dem Jahr 1834 zum Anlass, in einer „Reihe von Briefen an den Hofrat Schütze“,31 die er als Anhang seines Buches publizierte, gegen Schützes Komiktheorie zu polemisieren und sie wie ihren Autor lächerlich zu machen. Schütze hatte hier einmal mehr seine Komiktheorie verteidigt und insbesondere zwischen dem Lächerlichen als einem Oberflächenphänomen ungereimter Handlungen (die das Verhalten betreffen) und dem Komischen als dem dahinterliegenden tieferen Gehalt des anthropologisch bedingten Zusammenstoßes von Freiheit und Beschränkung durch Körper- und Objektwelt unterschieden. Ruge wirft nun Schütze vor, dass die Beispiele, die er zum Beweis seiner These anführt, gar nicht komisch seien – und man sieht, dass Ruge sich auf die anthropologisch-reale Ebene des Komischen, wie Schütze sie denkt, nicht einlassen will, sondern immer nur nach der Ungereimtheit auf der Ebene des Verhaltens fragt. Nach Schütze aber lacht man angesichts des Komischen über den Menschen und seine conditio humana schlechthin. In diesem Sinne hat sich auch Büchner als „Spötter“ begriffen: „Es ist wahr, ich lache oft, aber ich lache nicht darüber, wie Jemand ein Mensch, sondern nur darüber, daß er ein Mensch ist, wofür er ohnehin nichts kann, und lache dabei über mich selbst, der ich sein Schicksal theile“ (Brief an die Familie, Mitte Februar 1834, MBA 10.1, S. 32 f). So kann man ein und dieselbe Szene entweder bloß im Hinblick auf das Lächerliche eines ungereimten Verhaltens oder aber tiefergehend als das Auftreten der den Menschen beschränkenden Natur verstehen. Schützes Beispiel ist der mit Händen und Füßen zu viel gestikulierende Prediger. Einerseits ist das Übermaß des gestischen und körperlichen Einsatzes lächerlich, weil es ein ungereimtes Verhalten darstellt, andererseits hat die Szene für den tieferen Blick doch Anteil am Komischen, weil die vielen Bewegungen eben dadurch, daß sie mit der Empfindung nicht recht zusammentreffen, uns an die mancherlei Mittel erinnern, deren sich der Mensch bedient und deren er bedarf, um Eindruck zu machen; es ist, als ob der Prediger die Gesticulationen überhaupt persiflirte und den Menschen damit in seiner Bedürftigkeit, in seiner Abhängigkeit von der Natur zeigte.32
Dass der Mensch, um zu handeln, respektive zu kommunizieren, sich überhaupt des Behelfs gestikulierender Hände und Finger wie auch der physikalisch-materiellen Sprachzeichen selbst bedienen muss, ist nach Schütze als Abhängigkeit von der Materialität des Behelfs die Grundlage für das Komische. Die Tatsache etwa, dass im Gespräch „eine bestimmte Entfernung zwischen Mund und Ohr, und
31Arnold
Ruge: Komischer Anhang. Sechs lächerliche Briefe über das Lächerliche. An den Herrn Hofrath Stephan Schütze in Weimar. In: Ders.: Neue Vorschule. Das komische mit einem komischen Anhange. Halle 1837, S. 259–274. 32Schütze: Ueber das Verhältniß des Lächerlichen zum Komischen (wie Anm. 25), S. 1118.
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das Vorrecht des jedesmal Sprechenden, die Luft allein zu erschüttern, von einer Gesellschaft muß beobachtet werden“,33 ist bereits Anlass für Komik. Schütze begreift Kommunikation wie alles menschliche Handeln von der materiellen Seite her und sieht im immer möglichen Umschlagen des Behelfs in die Beschränkung oder die Störung eben jenes Hervortreten dieser Abhängigkeit des Menschen von der Körperwelt.
2 Körpersprache und Sprachkörper in Büchners Danton’s Tod Das Physische als das unhintergehbare Substrat des Bewusstseins und des Geistes, das scheint mir, ist auch Büchners Thema. Büchners spezifische Anthropologie, seine naturwissenschaftliche Forschung wie seine Ästhetik kreisen um das Physisch-Körperlich-Materielle, das von Physiologie über Ökonomie und Sprache bis zur Sexualität als das fatale „Muß“ den Menschen und seine Freiheit begrenzt und beschränkt. Indem diese Fokussierung auf den Körper – in Differenz zu dem, was an Bewusstsein und Reflexionsfähigkeit über den Körper hinausreicht – immer da ist, ist auch die Komik bei Büchner immer da. Nicht nur in der Komödie Leonce und Lena,34 sondern auch in Danton’s Tod und im Woyzeck herrscht bei aller Beklemmung durchgängig eine Form der Komik, die insbesondere den Körper und seine Mechanik sowie die Mechanik der Zeichen- und Sprachkörper, im doppelten Register von Ökonomie und Sexualität, spielen lässt.35 Dass der kreatürliche Körper selbst in sich eine Spannung zwischen Körper und Geist austrägt, dass Organe wie Lippen, Augen, Hände oder Finger auf der Schwelle des Geistigen und des Körperlichen stehen – nicht nur sprachlichmetaphorisch, sondern auch in der anatomischen Analyse der Gehirnnerven von Barben –, dass sie Kippfiguren bilden, das ist auch die Grundlage für die Büchner’sche Komik und die motivischen Verweisketten, die dieses Kippen durchgängig inszenieren. Wie bei Schütze geht es auch bei Büchner um Hände und Füße als Medien des Geistes und des Willens, und wie bei Matthäus geht es um
33Schütze:
Versuch einer Theorie des Komischen (wie Anm. 13), S. 57. hierzu Dieter Kafitz: Visuelle Komik in Georg Büchners Leonce und Lena. In: Franz Norbert Mennemeier (Hrsg.): Die Großen Komödien Europas. Tübingen, Basel 2000, S. 265– 284. Bernhard Greiner: Die Komödie. Eine theatralische Sendung. Grundlagen und Interpretationen. 2. Aufl. Tübingen, Basel 2006, S. 282–298. 35Forschungsbeiträge, die sich dezidiert mit der Komik in Woyzeck beschäftigen, sind mir nicht bekannt, gelegentlich finden sich aber Hinweise auf groteske, satirische und komödiantische Elemente (Roland Borgards: Georg Büchner: Woyzeck. Schroedel Interpretationen. Bd. 8. Braunschweig 2009, S. 47–55; vgl. auch den Beitrag von Günter Oesterle in diesem Band). Zur Komik in Danton’s Tod gibt es neben dem bereits zitierten Aufsatz von Serena Grazzini (Anm. 18) fast gar keine Forschung. Zu nennen ist aber noch die online publizierte Marburger Dissertation von Choi-Go Sung: Das Komische in Büchners Drama Dantons Tod. Marburg 2011 (http://archiv. ub.uni-marburg.de/diss/z2011/0622/pdf/dcgs.pdf). 34Siehe
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Hände und Füße als jene Organe, die die Freiheit des Menschen symbolisieren und ihn zugleich zurück ins Körperliche ziehen, die, mit einem Wort, Ärgernis bringen. Ich möchte das im Folgenden kurz an der spezifischen Thematisierung von Händen und besonders von Fingern in Danton’s Tod zeigen. Dass an der Unterscheidung von Hand und Finger einerseits und fingerlosem Huf andererseits eine ganze anthropologische und anatomische Tier-Mensch-Diskussion hängt, hat Büchner in der Budenszene in I,2 im Woyzeck kurz angedeutet und auch in der Probevorlesung berührt.36 In Danton’s Tod kommen Hände 19 Mal und Finger 16 Mal vor und verweisen häufig auf jene Doppelstellung zwischen Geist und Körper.37 Gleich am Anfang ist es die hübsche Dame, die die Karten in ihren Fingern dreht, während Danton weiß, dass sie das „Coeur“ ihrem Manne und das „Carreau“ den anderen zeigt. Auf dieses komische Sprachspiel, das das Drehen der Karten auf kommunikative Täuschung und auf Körper bezieht, folgt gleich im nächsten Satz ein Abbruch des Komischen, allerdings mit einem durchaus komischen Bild: „Wir sind Dickhäuter, wir strecken die Hände nacheinander aus aber es vergebliche Mühe, wir reiben nur das grobe Leder aneinander ab – wir sind sehr einsam.“ (MBA 3.2, S. 4) Die Hände bilden hier den inklusiven Gegensatz zum „groben Leder“, indizieren also das unkörperliche Bewusstsein, das dann aber von eben diesen selbst körperlichen Händen, die im Dienst eines Kommunikationsbegehrens die physisch besetzten Kommunikationskanäle transzendieren sollen, doch nur in Form der Hirnfasern herausgeholt werden kann. So tragisch der Auseinanderfall von Bewusstsein und Körper auch sein mag, das Bild der sich aneinander reibenden händelosen Dickhäuter ist durchaus komisch im Sinne Schützes. Als ein Beispiel seiner These, dass der Mensch „überhaupt in einem lächerlichen Zustande sich befindet“,38 hatte Schütze angeführt,
36In
der Probevorlesung heißt es: „In dem [Augenm]uskelnerv erreicht der Nerv als solcher seine höchste Entfaltung, er v[erhäl]t sich, um ein Beyspiel zu geben, zu den übrigen Nerven wie der Huf [zu] der Hand des Menschen. Was in dem ersteren noch verbunden liegt, glie[dert] sich in der letzteren im schönsten Verhältniß ab. Dieße Entwicklung fäl[lt] mit der Bedeutung des Auges zusammen, von dem Oken wahrhaftig und mit Recht [sagt,] es sey das höchste Organ, die Blüthe oder vielmehr die Frucht aller organischen Reiche.“ (MBA 8, S. 167) Büchner zitiert hier fast wörtlich Lorenz Oken: Allgemeine Naturgeschichte für alle Stände. Vierter Band. Stuttgart 1833, S. 146 ff. Vgl. hierzu Udo Roth: Georg Büchners naturwissenschaftliche Schriften. Ein Beitrag zur Geschichte der Wissenschaften vom Lebendigen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Tübingen 2004, S. 382. Dieses Beispiel des Verhältnisses von Huf und Hand, das Büchner hier allerdings versehentlich vertauscht, steht auch in Diderots Gedanken über die Interpretation der Natur. Dort heißt es im 12. Abschnitt: „Stellen Sie sich vor, die Finger der Hand seien zusammengewachsen und die Substanz der Nägel sei so reichlich, daß sie sich immer mehr ausdehnt und anschwillt, bis sie das Ganze einhüllt und bedeckt: dann bekommen Sie statt einer Menschenhand einen Pferdefuß.“ Denis Diderot: Gedanken zur Interpretation der Natur. In: Ders.: Über die Natur. Hrsg. und mit einem Essay von Jochen Köhler. Frankfurt a. M. 1989, S. 7–65, hier S. 17. 37Auf die Häufigkeit der Erwähnung der Finger hat bereits kursorisch Michael Braun hingewiesen, allerdings ohne das Bedeutungspotenzial zu erschöpfen; vgl. Michael Braun: „Hörreste, Sehreste“. Das literarische Fragment bei Büchner, Kafka, Benn und Celan. Köln u. a. 2002, S. 67–68. 38Schütze: Versuch einer Theorie des Komischen (wie Anm. 12), S. 174.
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dass es bereits komisch sei, wenn „ein Mensch im Grase schlummert und eine Kuh oder ein Esel kommt, ihn mit der Nase zu berühren.“ Es reiche aus, wenn „die sich berührenden Gegensätze zum Bewußtsein kommen.“39 Dass auch Danton im Bild der wollenden und nicht könnenden Dickhäuter, die sich vergeblich aneinander reiben, etwas Komisches sieht, zeigt nicht zuletzt das lakonisch, fast ironisch nachgestellte „wir sind sehr einsam“. Hände und Finger changieren auch im Folgenden auf der Schwelle von Körper und Geist, überblenden Frivolität und Politik und bilden zugleich auf der Ebene der sprachmechanischen Verkettung und ihrer semantischen Verschiebungen komische Effekte. Die obszönen Gesten, die Herault gleich im nächsten Satz an eine Dame adressiert („Eine Dame: Was haben Sie nur mit ihren Fingern vor?“), seien, wie es heißt, „Liebeserklärungen, […], mit den Fingern gemacht.“ (MBA 3.2, S. 5) Die Szene I,1 endet mit der rhetorischen Frage Camilles an die anderen, ob diese glaubten, dass Danton, der davor warnt, dass man sich am Ofen der Revolution noch „die Finger dabey verbrennen“ könne, es schaffen werde, „die Finger davon [zu] lassen, wenn es zum Handeln kömmt?“ (MBA 3.2, S. 8) Zum einen erzeugt hier sprachmechanisch die eine Redensart die nächste (und weitere folgen), zum anderen sind die Finger, die man sich verbrennt, als Geistesinstrumente zugleich brennbare Körperteile. Die Finger nicht von etwas lassen können wiederum verweist auf einen psychischen Mechanismus, und Finger changieren hier wiederum als Körperdinge zwischen physischer Materialität, der Hand zum Handeln sozusagen, und der Freiheit, die mit Reden/Zeigen verbunden ist. „Mit Fingern“ jedenfalls, so sagt wenig später Marion, die mit Lippen redet, statt damit zu handeln, weise man auf sie. Und Camille will all jenen, die „über die nackten Schultern der allerliebsten Sünderin Frankreich den Nonnenschleier werfen wollen, auf die Finger schlagen.“ (MBA 3.2, S. 7) Finger changieren schließlich auch in der Szene „Eine Gasse“ im ersten Akt zwischen bloßem Körperding und Geistesinstrument, das aber doch ein Körper ist: Einige Stimmen. Er hat ein Schnupftuch! ein Aristocrat! an die Laterne! an die Laterne! 2. Bürger. Was? er schneuzt sich die Nase nicht mit den Fingern? An die Laterne! (MBA 3.2, S. 11)
Die Nase und das Niesen verweisen auf jene unwillkürliche Körpermechanik, die gerade in ihrer Wiederholung, wie Schütze zeigt, sehr komisch werden kann.40 Zugleich versuchen die Finger hier im Auftrag des Bewusstseins sich dieser Körpermechanik zuzuwenden und jenes Ding, das den Armen fehlt, durch sich selbst zu ersetzen. Finger statt Tuch. In Leonce und Lena greift Büchner die Komik von Nasen, Schnäuzen und Schnupftuch wieder auf, wenn der König
39Beide
Zitate Stephan Schütze: Ueber das Verhältniß des Lächerlichen zum Komischen (wie Anm. 26), S. 1118. Gerade dieses Beispiel hatte Ruge als ganz und gar nicht komisch kritisiert, vgl. Ruge: Neue Vorschule. Das komische mit einem komischen Anhange (wie Anm. 31), S. 262. 40Vgl. Schütze: Versuch einer Theorie des Komischen (wie Anm. 12), S. 124.
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dem Staatsrat, d. h. allen Anwesenden befiehlt, ihr Schnupftuch herauszuholen, was gerade in der Gleichzeitigkeit eines chorischen Naseschnäuzens die Körpermechanik hervorhebt. Was mit den Fingern als Geistesinstrumenten noch geht (sich die Nase schnäuzen), funktioniert allerdings nicht mit der Zunge, die zwar als Medium zur Bildung von Sprachlauten durchaus auch Geistesinstrument, aber zum physischen Selbstbezug weniger geeignet erscheint: „Du magst die Zunge noch so weit zum Hals heraushängen, du kannst dir damit doch nicht den Todesschweiß von der Stirne lecken.“ (MBA 3.2, S. 51) Robespierre schließlich, der, wenn er auf der Tribüne redet, zugleich, wie es im Text heißt, „fingert“ und von dem gesagt wird, „daß seine dünnen auf der Tribune herumzuckenden Finger, Guillotinmesser sind“, (MBA 3.2, S. 28) koppelt auch in der eigenen Rede die Finger mit den Gedanken: Keine Tugend! die Tugend ein Absatz meiner Schuhe! Bey meinen Begriffen! Wie das immer wieder kommt. Warum kann ich den Gedanken nicht los werden? Er deutet mit blutigem Finger [Hervorh. J. L.] immer da, da hin! Ich mag so viel Lappen darum wickeln als ich will, das Blut schlägt immer durch. – (Nach einer Pause) Ich weiß nicht, was in mir das Andere belügt. (MA 3.2, S. 26 f.)
Der blutige Finger, der als Redegestikulationsmaschine mit der Guillotinenmaschine verknüpft ist, deutet hier als körperliches Organ des unkörperlichen Gedankens auf einen psychischen Mechanismus, auf die leere Mechanik des Selbstgefühls, die zum Bewusstsein drängt und immer wieder durchschlägt. Der Finger gehört hier dem mechanisch handelnden Gedanken und seinem immer wiederholenden Zeigen. Der Gedanke erscheint so selbst als Körper, nämlich im Bild des immer durchschlagenden Blutes, das sich wie eine laufende Nase aber durch kein Schnupftuch will stillen lassen, so wie Robespierre auch nicht bereit ist, sich sein „Schnupftuch vor die Augen“ (MBA 3.2, S. 25) zu halten, wie Danton vorschlägt. Indem der Finger hier als Gedankenkörper auf einen psychischen Mechanismus zeigt, wird eben dies Mechanische des Körpers um die Mechanik des Unbewussten erweitert. Auch das Unbewusste ist ein Ding in uns, ein psychischer Zwang, den Danton als die Triebkraft des Selbstgefühls mit der physischen Triebkraft der Sexualität parallelisiert. Im vierten Akt, nach der Verurteilung, wird unter den Dantonisten noch einmal der Gegensatz griechischer Götter und Stoiker im Angesicht des Leidens thematisiert: Hérault. […] Griechen und Götter schrieen, Römer und Stoiker machten die heroische Fratze. Danton. Die Einen waren so gut Epicuräer wie die Andern. Sie machten sich ein ganz behagliches Selbstgefühl zurecht. Es ist nicht so übel seine Toga zu drapieren und sich umzusehen ob man einen langen Schatten wirft. Was sollen wir uns zerren? Ob wir uns nun Lorbeerblätter, Rosenkränze oder Weinlaub vor die Schaam binden, oder das häßliche Ding offen tragen und es uns von den Hunden lecken lassen? (MBA 3.2, S. 76)
Das hässliche Ding ist nicht nur das Sexualorgan, sondern bezeichnet hier auch die Psycho-Mechanik des Selbstgefühls, das Theater des Gewissens oder der Selbstbespiegelung, das hier in Analogie zur sexuellen Triebmechanik gebracht wird.
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Jedes Handeln in der Außenwelt, mit Händen und Füßen, ist notwendig begleitet von einer Innenseite des Bewusstseins bzw. des Selbstgefühls, das Genuss- und Schmerzqualitäten ganz unkörperlicher Art produziert, wenn noch im Selbstopfer Jesu der feinste Epikuräismus vermutet werden kann, wenn Danton von Albträumen gequält wird und wenn das Gewissen ein Spiegel ist, vor dem, wie Danton sagt, „ein Affe sich quält“ (MBA 3.2, S. 25). So steht der blutige Finger Robespierres, der auf den Selbstbetrug durch das Selbstgefühl zeigt, doch in semantischer Verknüpfung zu den Fingern als Medien von Sexualität und Rede. Finger sind demnach erstens durchgehend auf den Komplex von Trieb und Sexualität bezogen, als körperliche Geistesorgane des Körperlichen. Zweitens sind sie körperliche Geistesorgane in Begleitung und Analogie zu Zeichen, Sprache und Gedanken, und sie sind drittens selbst wiederum als Organe der Gedanken Teil einer Mechanik des Unbewussten. Der Mensch ist nicht nur Sexual-Automat, sondern auch Selbstbespiegelungs-Automat, und dies so sehr, dass kein Automat den anderen ausschalten kann. Ich habe mich mit dieser kurzen Analyse von Schützes Komiktheorie und vom Komischen insgesamt entfernt – und Schütze hätte Büchners Texte vermutlich ebenso wenig goutiert wie sein komiktheoretischer Bruder im Geiste, Theodor Friedrich Vischer.41 Schütze ist in seinen eigenen Komödien und auch in seiner Theorie eng an der Vorstellung geblieben, dass im Zusammenstoß des Menschen mit Körpermaterialität und Dingen im Sinne einer Sollensimplikation notwendig eine höhere Freiheit aufscheint, die man im Lachen zugrunde legt und die in der Fröhlichkeit des Lachens als Erhebung über die Abhängigkeit Vergnügen und Befreiung bewirke. Ohne diese Annahme wäre der Blick auf das Spiel der Natur mit dem Menschen gar nicht komisch. Es wäre „etwas Schreckliches und Grauenhaftes, den Weltgeist selbst so mit sich in Widerspruch zu sehen. Die Annahme eines solchen Widerspruchs giebt die tragische Verzweiflung.“42 Eine Komik am Rande der tragischen Verzweiflung, das scheint mir eher Büchners Position, die sich so von den romantischen Restbeständen der Theorie Schützes, der Dialektik von Freiheit und Natur im Hinblick auf eine höhere Freiheit, deutlich absetzt. Gleichwohl ist es Schütze, dessen Komiktheorie als Bedingung der Möglichkeit einer Überschreitung des Komischen in Richtung einer solchen Verzweiflung gelesen werden kann. Es ist Schütze, der die Körperlichkeit und die Materialität als Grundlage der Komik und der die Komik als materialistisches Existenzial des Menschen versteht. Und es ist Schütze, der in seiner Komiktheorie jene Passage aus Shakespeares Tragödie Romeo und Julia zitiert, die auch für Büchner zentral ist: „denn wenn die Sonne Maden in einem todten Hund ausbrütet, – eine Gottheit,
41Vgl.
Dietmar Goltschnigg (Hrsg.). Georg Büchner und die Moderne. 1875–1945. Texte, Analysen, Kommentar. Bd. I: 1875–1945. Berlin 2001, S. 19. 42Stephan Schütze: Rezension zu Vischer: Über das Erhabene und Komische. In: Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung 176 (1838), Sp. 442–451, hier Sp. 448.
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die Aas küßt, – habt ihr eine Tochter? Laßt sie nicht in der Sonne gehen.“43 Dieses Motiv nimmt Büchner in Danton’s Tod auf und verknüpft Körper und Sexualität wiederum mit den Händen und explizit mit dem Komischen: Lacroix. (bleibt in der Tür stehen) Ich muß lachen, ich muß lachen. […] Auf der Gasse waren Hunde, eine Dogge und ein Bologneser Schooßhündlein, die quälten sich. […] Das fiel mir nun gerade so ein und da mußt’ ich lachen. Es sah erbaulich aus! Die Mädel guckten aus den Fenstern, man sollte vorsichtig seyn und sie nicht einmal in die Sonne sitzen lassen, die Mücken treiben’s ihnen sonst auf den Händen, das macht Gedanken. (MBA 3.2, S. 20).44
Wenn die Kopulationsbemühungen zweier ungleich großer Hunde komisch sind,45 dann liegt das ganz auf der Linie von Schützes Komiktheorie und ihrer Fokussierung auf das Mechanische des Körperlichen. Und wenn die Hände als Medien der Sünde (in Handlung und Rede) hier zugleich Schauplatz für jenes Komische der Kopulation sind, dem die Mädchen zuschauen, dann wird noch einmal deutlich, wie auch Büchner seine Theatersonne über dem Komischen des Körpers und der körpersprachlichen Metaphorik scheinen lässt. Schütze jedenfalls kommentiert das Hamlet-Zitat in seiner Komiktheorie wie folgt: „Der Humor setzt alle Dinge der Körperwelt in eine Verwandschaft, und Hamlet zeigt, wie ein Bettler durch die Gedärme eines Königs wandert.“46 In dieser Fokussierung auf die materialistischen Zusammenhänge der Körperwelt und in der hiermit vollzogenen Absetzung von der Romantik besteht die Nähe zwischen Schütze und Büchner.
43Schütze:
Versuch einer Theorie des Komischen (wie Anm. 12), S. 163. Das Motiv nimmt Büchner in Danton’s Tod auf und verknüpft Körper und Sexualität wiederum mit den Händen: „Lacroix. […] Die Mädel guckten aus den Fenstern, man sollte vorsichtig seyn und sie nicht einmal in die Sonne sitzen lassen, die Mücken treiben’s ihnen sonst auf den Händen, das macht Gedanken.“ (MBA 3.2, S. 20). 44Später sagt Danton: „es ist als brüte die Sonne Unzucht aus.“ (MBA 3.2, S. 35) Mit dem Motiv der Sonne und dem Grotesk-Komischen bei Büchner hat sich, wenn auch mit zum Teil arg überspitzten Thesen, Christian Milz auseinandergesetzt; vgl. Christian Milz: Georg Büchner. Dichter, Spötter, Rätselsteller. Wien 2012. 45Vgl. zu den beiden Hunden und ihrer Metaphorik den Aufsatz von Aline Steinbrecher und Roland Borgards: Doggen, Bologneser, Bullenbeisser. Hunde in historischen Quellen um 1800 und in Danton’s Tod von Georg Büchner. In: Meret Fehlmann, Rebecca Niederhauser (Hrsg.): Tierisch! Das Tier und die Wissenschaft. Ein Streifzug durch die Disziplinen. Zürich 2015, S. 151–171. 46Schütze: Versuch einer Theorie des Komischen (wie Anm. 12), S. 163.
Die Persiflage und ihre Transformationen Das vorrevolutionäre Paris, die Frühromantik und die Dramen Georg Büchners Günter Oesterle
1 Einleitung In einem Überblicksartikel zur Geschichte der Satire hat ein Experte den common sense der Forschung zusammengefasst, dass nämlich nach einer Hochkonjunktur der Satire in der Aufklärung der Trend in der Romantik eher zum Phantastischen und Grotesken sich neige.1 Hayden White geht noch ein Stück weiter, indem er sogar behauptet: „Schon der Begriff einer romantischen Satire ist eine Ungereimtheit“.2 Die Sachlage ist aber komplexer. Hat doch Friedrich Schlegel ausgerechnet eine seiner innovativsten Gattungserfindungen, die Athenäumsfragmente, charakterisiert als „Lessingsches Salz gegen die geistige Fäulnis, vielleicht eine cynische lanx satura im Stile des alten Lucilius oder Horaz“,3 hat er doch sogar in einem Athenäumsfragment die Satire als Vorgängermodell des romantischen Romans ausgegeben. Sie bleibe „durch alle Umgestaltungen […] doch immer eine klassische Universalpoesie, eine Gesellschaftspoesie aus und für den Mittelpunkt der gebildeten Welt“ und gehöre deshalb zu den „ewigen Urquellen der Urbanität“.4
1Vgl. Burkhard Meyer-Sickendiek: Satire. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 8. Tübingen 2007, S. 447–469, 461. 2Hayden White: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Frankfurt a. M. 2008, S. 24. 3Friedrich Schlegel: Athenäumsfragment 259. In: Ders.: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. 2: Charakteristiken und Kritiken I. Hrsg. von Hans Eichner. München, Paderborn u. a. 1967, S. 209. 4Schlegel: Athenäumsfragment 146 (wie Anm. 3), S. 188.
G. Oesterle (*) Institut für Germanistik, Universität Gießen, Gießen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 R. Borgards und B. Dedner (Hrsg.), Georg Büchner und die Romantik, Abhandlungen zur Literaturwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05100-4_8
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Schlegels Markierung einer satirischen Gesellschaftspoesie als „Urquell“ der Urbanität bietet einen Richtungspfeil unserer Untersuchung zu Romantik und Büchner. Denn wenn die romantischen Intellektuellen sich in ihrer Gegenwartsdiagnostik umklammert fühlen vom Kleingeist der Mediokrität, strebt ihre romantische Sehnsucht nicht nur in ferne Natur, sondern formuliert sich auch als Sehnsucht nach Urbanität. Freilich nicht auf gleichwertige Weise. Das führt zu folgender paradoxer Konstellation: Die Satire in der Romantik steht nicht im Zentrum ihrer poetologischen Ambitionen und ist gleichwohl zentral und unverzichtbar. Die Romantik stellt zwei Ansprüche an die Kunst: Einerseits soll sie autonom sein, das heißt frei gegenüber der Politik, der Moral und Meinung der eigenen Zeit, andererseits soll sie den innersten Puls der eigenen Zeit zum Ausdruck bringen, eine unabdingbare Voraussetzung, um ihre programmatische Hausaufgabe, die zeitgemäße unhistoristische Umbildung der überkommenen Kunstformen, bewerkstelligen zu können. Im Blick auf den ersten Anspruch, die Kunstautonomie, ist die Satire defizitär; im Blick auf den zweiten Anspruch, dicht am Puls der Zeit zu sein, ist sie einzigartiger Favorit. Dieser ambivalente Sonderstatus der romantischen Satire macht sie für Büchner so interessant, besonders in ihrer Variante als Persiflage: Aus einem Nebenstrang in der Frühromantik wird ein Hauptstrang bei Büchner. Die Ausgangsfrage des frühromantischen Poetologen Friedrich Schlegel ist: Welches Spezifikum unterscheidet die Satire von den anderen Formationen des Komischen, der Ironie, dem Humor, der Groteske und Bouffonerie? Antwort: Die romantische Satire ist nicht in erster Linie Teil der „mythischen Poesie“ wie etwa das Märchen und die Groteske, sondern sie ist prominenter Repräsentant der sogenannten „immanenten Poesie“. Daraus ergibt sich ihre Kernkompetenz: „Ohne reine Satire kann man nicht in der großen Welt leben“.5 Das Alleinstellungsmerkmal der Satire aus der Sicht der Romantik ist die damit verbundene Selbstbehauptungsmöglichkeit im zivilgeschichtlichen Leben. Urbane Poesie entsteht aus dem vitalen Wechsel von Weltton und einer aus Geselligkeitszirkeln gespeisten, zwischen bissigem Spott und witzigem Scherz variierenden Satire. Das heißt, Satire ist im Unterschied zu allen anderen ästhetischen Favoriten der Romantik, der Ironie, der Arabeske, der Groteske, dem Humor, dicht in die gesellig-witzige Alltagskommunikation verwickelt mit all ihren Schönheiten und Bosheiten, ihrem ‚Gold‘ des Gesprächs und Stachel des Gerüchts, um im Wechselreiten zwischen Individuellem und Universellem6 die Genese des poetischen Witzes stilistisch und medial aufschreiben zu können. Daraus folgt zweierlei: Die romantische Satire bezieht sich nicht, jedenfalls nicht in erster Linie, auf eine moralische Norm, sondern eine bestimmte gesellschaftliche Lebens-und Kommunikationsweise, nämlich Urbanität, und sie ist partizipativ, insofern sie
5Vgl.
Friedrich Schlegel: Philosophische Lehrjahre 1796–1806. In: Kritische Friedrich-Schlegel Ausgabe. Bd. 18. Hrsg. von Ernst Behler. München, Paderborn, Wien 1963, S. 212 (Nr. 203). 6Friedrich Schlegel: Notiz Nr. 1082. In: Ders.: Literary Notebooks 1797–180. Hrsg. von Hans Eichner. University of London 1957, S. 114.
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einerseits Teil des Welttons ist, andererseits sich gleichzeitig an ihm polemisch reibt und abarbeitet. Gerade weil die erstrebte Urbanität als Basis einer romantischen geselligen Satire im deutschsprachigen Raum auf einige wenige Inseln (Salons und gesellige Häuser) begrenzt blieb, gestaltete sich die romantische Suche nach satirischen Vorreitern und Inzitamentgebern umso intensiver. Anschauungsunterricht einer produktiven Wechselbeziehung zwischen Weltton und geselliger Satire im Geist von Urbanität bot das antike Rom, die Geburtsstätte der Satire, sowie die karnevaleske Satire der Frühen Neuzeit, die teilweise in der Romantik nach und nach wiederbzw. neuentdeckt wurde, und, vornehmlich für die Frühromantik von Bedeutung, das vorrevolutionäre Paris mit seiner modernen satirischen Variante, der Persiflage. Die in der Forschung bislang übersehene eigenständige Rezeption der urbanen in Paris entstandenen Persiflage durch die Frühromantiker*innen bietet eine Möglichkeit, die duale Konstellation zwischen Büchner und der Romantik um eine dritte komparatistische Perspektive zu erweitern. Es wird im Folgenden also nicht das allgemeine Phänomen der Verwendung von satirischen Mitteln in der Romantik und in Büchners Werk diskutiert, sondern eine spezifischer ausgelegte dreigliedrige Fragestellung: Der Nachweis der Attraktivität der französischen Persiflage als moderne Form boshafter Satire in der Frühromantik wird ergänzt durch die Analyse der Romantisierung der Persiflage. Erst danach kann das virtuose ausdifferenzierte Widerspiel von Persiflage und Karnevaleske in Büchners Werk vorgestellt und analysiert werden.
2 Persiflage in der Frühromantik Neuere Forschungen haben zeigen können, wie nachhaltig und intensiv der erste Berliner Salon von Rahel Levin von dem französischen Salondiskurs des Ancien Régime, von seiner Mokerie, seiner „himmlischen Frechheit, Eleganz und Geistesgegenwart“ geprägt war.7 Blickt man aus dieser Perspektive auf den Lebens- und Denkstil der Frühromantiker*innen, dann fällt auf, dass dessen Favorisierung von Witz und Esprit, Provokation und Sarkasmus, stilistischer Eleganz und Frivolität und besonders auffällig deren Vorliebe für Neologismen den Schluss nahelegen, dass sie sich mehr als bisher angenommen in Stil und Habitus an der Pariser urbanen Sozialisation der Oberschicht des Ancien Régime orientiert haben. Diesen staunenswerten Versuch der Frühromantiker*innen, einen im Paris des Ancien Régime entstandenen Lebens- und Schreibstil just zu einem Zeitpunkt zu importieren, als er in Frankreich im Zuge der Revolution obsolet wurde,8 hat
7Ursula Isselstein: Die Titel der Dinge sind das Fürchterlichste! Rahel Levins „Erster Salon“. In: Hartwig Schulz (Hrsg.): Salons der Romantik. Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zu Theorie und Geschichte des Salons. Berlin, New York 1997, S. 193. 8Vgl. Elisabeth Bourguinat: Les Persifleurs a la lanterne. In: Dies.: Le Siècle du persiflage 1734– 1789. Vendome 1998, S. 183–210, 198 f.
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ausgerechnet ein Opfer der romantischen satirischen Bosheit herausgespürt. Christoph Martin Wieland war zweifelsfrei ein hervorragender Kenner der Pariser Lebenskultur und der Literaturszene des Ancien Régime. Im Unterschied zur Ansicht der in seinem Umkreis agierenden Romantikgegner, wie Böttiger und Merkel, die in der provozierenden Spottlust der Romantiker die Grenzen der Schicklichkeit pasquillantisch überschritten sahen, erkannte Wieland deren programmatischen Anspruch, die Grenzen zwischen Satire und Pasquill neu zu vermessen. Er diagnostizierte, dass die Frühromantiker – er fügte hinzu: wahrscheinlich vergeblich – „durch ein in Teutschland noch neues Genre, nämlich französische persifflage, ihr Glück zu machen hoffen“.9 Mit dieser Diagnose, die Frühromantiker versuchten mit dem Import des seit 1735 in Frankreich10 heiß umkämpften Neologismus Persiflage in Deutschland Furore zu machen, hat Wieland hellsichtig eine interessante Perspektive auf die Frühromantik möglich gemacht. Auch wenn es in der Forschung bislang unbemerkt blieb, die Frühromantiker*innen haben vor 1800 ihre Affinität zu dieser französischen Modeerscheinung häufig durch interne und externe Verwendung dokumentiert. So hat beispielsweise Friedrich Schlegel im Abschnitt „Allegorie der Frechheit“ seines Romans Lucinde das Verb „persiflieren“ gezielt eingesetzt;11 und so hat Friedrich Schleiermacher in einer von ihm anonym publizierten Anzeige dieses Romans im „Berliner Archiv“ die dort vorgetragene „Persiflage der leeren Geschäftigkeit und des psychologischen Unwesens“12 eigens hervorgehoben. Wie sehr der Begriff Persiflage in den Alltagsjargon der Frühromantiker Eingang gefunden hat, kann eine kritikabwehrende Formulierung Johann Gottlieb Fichtes belegen. Friedrich Schleiermacher hatte in der frühromantischen Zeitschrift Athenäum Fichtes Schrift „Die Bestimmung des Menschen“ in „respectueuser Architeufeley“,13 das heißt zwar schonend, aber mit rücksichtsloser scharfer Intellektualität rezensiert.14 Fichtes Reaktion auf diese innerromantische Kritik, die er gegenüber dem Berliner Romantiker August Ferdinand Bernhardi mündlich
9Johann Samuel Ersch: Die Biographie Wielands. 8. Buch, S. 266 f. Zit. aus: Rainer Schmitz (Hrsg.): Die ästhetische Prügeley. Streitschriften der antiromantischen Bewegung. Göttingen 1992, S. 303. 10Werner Krauss: Zur Wortgeschichte von Persiflage. In: Ders.: Perspektiven und Probleme. Zur französischen und deutschen Aufklärung und andere Aufsätze. Neuwied 1965, S. 296–330, 297. 11Vgl. Friedrich Schlegel: Lucinde. Ein Roman. In: Ders.: Dichtungen. Hrsg. von Hans Eichner. Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe Bd. 5. München, Paderborn, Wien 1962, S. 18: „Der Klügste von allen ist wohl der Elegant, der jetzt mit der Bescheidenheit spricht, ich glaube er persifliert sie“. 12Zit. nach Oscar Fambach: Das große Jahrzehnt in der Kritik seiner Zeit. Bd. 4. Berlin 1958, S. 520. 13August Wilhelm Schlegel an Friedrich Schleiermacher am 20.08.1800. In: Fambach: Das große Jahrzehnt (wie Anm. 12), S. 537. 14Vgl. Friedrich Schleiermacher: Notiz zu Fichtes „Bestimmung des Menschen“. In: Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel (Hrsg.) 3. Band. 2 Stück Nr. VII. Berlin 1800, S. 281–295.
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äußerte und die dieser postwendend an den Kritiker weiterleitete, lautete: Schleiermacher „habe ihn persiflieren wollen“, sich aber damit „unglücklicherweise selbst persifliert“.15 Diese allenthalben feststellbare Konjunktur des Begriffs Persiflage in der Frühromantik ist freilich zunächst nicht mehr als ein begriffsgeschichtliches Indiz für die Adaption einer französischen satirischen Mode. Die kulturpoetische Bedeutung der Persiflage in der Frühromantik wird erst deutlich, wenn das Neuartige ihres ästhetischen Verfahrens und der Mehrwert gegenüber den traditionellen Vorgaben der Satire namhaft gemacht werden können. Die von Werner Krauss rekonstruierte Herkunft des Neologismus gibt einigen Aufschluss über das Potenzial der Persiflage. Die Ursprungsszene der Persiflage ist das Pfeifkonzert („sifler“) im Theater, verbunden mit einem penetrant wirkenden Einsatz einer technischen Neuerung, der „Trillerpfeife“,16 die, wie Werner Krauss berichtet, manche(n) Schauspieler*in so sehr traumatisiert haben soll, dass er/sie nur noch Pfiffe hörte. Krauss macht zudem plausibel, dass die Verschiebung von der im Französischen zu erwartenden Wortneubildung ‚parsiflage‘ zu ‚persiflage‘ in Anlehnung an das Adjektiv ‚perfide‘ zustanden gekommen sein dürfte.17 ‚Persiflage‘, ‚persifleur‘ und ‚persifler‘ sind, so kann man die Studien von Krauss, Elisabeth Bourguinat und Pierre Chartier zusammenfassen,18 eine nonverbale, Aggressionsäußerungen nicht scheuende, an Gewalt grenzende höchst provokative Protestform. Es war zweifelsfrei ein Skandal, als die hochadligen Stutzer, genannt ‚petits maitres‘, den in der Pariser mondänen Welt stark normierten bon gout mit ihrem in Grazie gewickelten boshaften bissigen Spott herausforderten, zumal in einer neuartigen Sprache, die makkaronische Bouffonerie mit frivolen Zweideutigkeiten und Extravaganzen sowie einem gewissen ans Dunkle grenzenden Insiderjargon aufschmückte. Die Art dieser jungen Leute, sich in einer freisinnigen, auf Distinktion wertlegenden Weise zwischen Salon, Promenade und Theater zu bewegen und zugleich auf eine neuartige Weise zu kommunizieren, schockierte – ich zitiere einen zeitgenössischen Definitionsversuch der Persiflage – „die ehrliebenden oder furchtsamen Leute“, zumal die Persifleure nicht davor zurückschreckten „die anerkannten vernünftigen Reglements auf den Kopf zu stellen“: Die „paroles sans idées“ der Persiflage „scandalisent la raison, déconcertent les gens honnêtes ou timides“.19 Trotz kritischer Dauerbegleitung wird dieses Persiflieren zur herrschenden Kommunikations- und Verhaltensweise der Pariser Salons.
15Friedrich
Schleiermacher an August Wilhelm Schlegel am 29.08.1800. In: Friedrich Daniel Schleiermacher: Briefwechsel 1800. Bd. 5/4 der Kritischen Gesamtausgabe. Berlin, New York 199, S. 231–238, 234 f. 16Krauss: Zur Wortgeschichte von Persiflage (wie Anm. 10), S. 303. 17Vgl. ebd., S. 304. 18Vgl. Krauss: Zur Wortgeschichte von Persiflage (wie Anm. 10); Bourguinat: Le Siècle du persiflage (wie Anm. 8); Pierre Chartier: Theorie du persiflage. Paris 2005. 19So Gaudet in der Bibliotheque des petits-maitres (1762), zit. nach Krauss: Zur Wortgeschichte von Persiflage (wie Anm. 10), S. 329.
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Die Attraktivität der französischen urbanen bösen Persiflage für die Frühromantik lässt sich in vier Punkten resümieren: 1. Die Persiflage ist wesentlich daran beteiligt, die in der deutschen Aufklärungspoetik dominante satirische Stoßrichtung – nämlich didaktisch transparente, generelle und von Personen absehende Laster- und Irrtumskritik zu leisten – umzulenken hin auf die Polemik des Mediokren. Dazu bedarf es neuer satirischer Strategien. Um die Polemik des Mediokren effektiv gestalten zu können, muss der Satiriker sich elastisch und agil in die kleinsten Haarrisse der Gegner mimikryartig hineinimaginieren, um zugleich in der Gegenbewegung die universelle Tendenz dieses hinterweltlerischen Daseins als generelle Plattheit herauszuprofilieren. Die französische Persiflage mit ihren auf „Subtilitäten“ und Darstellung von „Nuancen“ des städtischen Lebens ausgerichteten Provokationen20 war wie geschaffen, die frühromantische Aversion gegen den „Moderantismus“ der sich aufgeklärt dünkenden Schicklichkeitsadepten aufzubrechen und den „Geist der kastrierten Illiberalität“21 zu persiflieren. Wenn Friedrich Schlegel die selbst seinen romantischen Mitstreitern zu kühnen Wendungen seiner Athenäumsfragmente in ihrer das „Pikante einer Impertinenz“ pflegenden Manier verteidigt,22 liegt er ganz und gar auf der Linie der besten französischen Persifleure. 2. Die Persiflage war in der Lage, der Satire den ‚Biss‘ und die Schärfe der Bosheit zurückzugeben. Denn die romantische Satire, so August Wilhelm Schlegel, wusch nicht nur „den Pelz“, sondern „machte“ ihn auch „wirklich naß“.23 Die Methode der Persiflage setzte die Frühromantiker in die Lage, eine Neuvermessung des starren Dualismus von moralisch agierender, braver, die Personalsatire meidender Polemik und einer das Pasquill umgehender Verhöhnung ad hominem zu bewerkstelligen. Es war eine virtuose Meisterleistung, den Lebensund Denkstil persiflierend aufzubrechen, ohne sich am „Privatleben eines solchen Menschen […] zu vergreifen“.24 3. Mit dem Schutz der Privatheit der Person suchten die romantischen Schriftsteller*innen einen dritten Weg zwischen der braven generalisierenden Satire und der Infamien nicht scheuenden Insinuation. Die Frühromantik nutzte die
20Vgl.
Bourguinat: Le Siècle du persiflage (wie Anm. 8), S. 63. Schlegel: Athenäumsfragment 64 (wie Anm. 3), S. 174. 22Friedrich Schlegel an August Wilhelm Schlegel. Berlin ca. Anfang Februar 1798. In: Ders: Briefe von und an Friedrich und Dorothea Schlegel. Die Periode des Athenäum. Hrsg. von Raymond Immerwahr. Paderborn, München 1985, S. 83–85, 83. 23August Wilhelm Schlegel: Literarischer Reichsanzeiger oder Archiv der Zeit und ihres Geschmacks. In: Athenäum. Bd. 2, 2. St. (wie Anm. 14), Berlin 1799, S. 328–340, 331. 24Caroline Schlegel an Ludwig Ferdinand Huber am 22.11.1799. In: Caroline. Briefe aus der Frühromantik. Nach Georg Waitz vermehrt. Hrsg. von Erich Schmidt. Bd. 2, Leipzig 1913, S. 577–582, 579. 21Friedrich
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Janusköpfigkeit der Persiflage einerseits „ingenös“, andererseits „perfide“ zu sein,25 indem sie das artistische Element ausbaute und die infame Bosheit zur „artigen Verleumdung“ herunterstimmte.26 Es kam alles darauf an, die Gratwanderung zu leisten, hinreichend perfid und doch gleichzeitig so graziös zu sein, so Ludwig Tiecks Überlegungen in der Einleitung seiner Novellensammlung „Phantasus“, um den „feinern Geist der Unterhaltung“ am Leben zu halten.27 Die Freisetzung der Persiflage vom didaktischen Pathos der Lasterbekämpfung erlaubt ihr einen Rückbau von Transparenz und deutlicher Deixis zugunsten einer Kultivierung von Anspielungen. Hier eröffnet sich ein Terrain zur Romantisierung der Persiflage. So nutzt zum Beispiel Friedrich Schleiermacher die Kombination aus Persiflage und Anspielung, um ein Dilemma der Geselligkeit auf charmante und raffinierte Weise zu lösen. In geselligen Kreisen ist häufig eine Asymmetrie der Teilehmer*innen in Bildung und Kenntnissen nicht vermeidbar. Um nun einerseits niemanden zu verletzen, indem etwa einige Intellektuelle auf arrogante Art über Dinge reden, die die anderen Teilnehmer*innen nicht verstehen, andererseits den bei limitierten Redemöglichkeiten naheliegenden Effekt des langweiligen Austauschs von Plattitüden zu vermeiden, entwickelt Schleiermacher in seinem Essay „Versuch einer Theorie des geselligen Betragens“ die Möglichkeit, Persiflage und Anspielung einzusetzen, um auf verdeckte Weise neben dem ‚small talk‘ eine esoterische Ebene der witzigen „respectueusen Architeufeleyen“ einzuschwärzen. Einen solchen Einsatz einer doppelten Sprechweise, dass das „ernsthaft gesagte, zugleich auf einen anderen [Sinn, G. Oe.] hindeutet, in dem es ein Scherz ist“,28 zählt Schleiermacher zu der „Kunst, welche die Feinheit der Konversation ausmacht“.29 In seiner Verteidigung „zweier Gattungen, welche insgemein in einem schlechten Ruf stehn“ – „ich meine [so schreibt Schleiermacher, G. Oe.] die Anspielung und Persiflage“ – vollzieht er zugleich eine Veredlung dieser Redeweisen, damit sie „wenn sie nur recht gebraucht werden, auf dem höchsten Gipfel des Schicklichen liegen“.30 An Schleiermachers Markierung des Übelbeleumdeten der persiflierenden und anspielenden Redeweise lässt sich erstens die genaue Kenntnis dieser französischen Artistik heraushören, unter der Maske der Höflichkeit und des Anstandes sprachspielerisch infame Zweideutigkeiten einzuspeisen;31 an der Veredelung dieser Redeweise lässt sich zweitens die
25Vgl.
Krauss: Zur Wortgeschichte von Persiflage (wie Anm. 10), S. 304. Tieck: Einleitung zum Phantasus. Hrsg. von Manfred Frank. In: Ders.: Schriften. Bd. 6. Frankfurt 1985, S. 45. 27Ebd. 28Friedrich Schleiermacher: Versuch einer Theorie des geselligen Betragens. In: Ders.: Schriften. Hrsg. von Andreas Arndt. Frankfurt a. M. 1996, S. 65–91, 88. 29Ebd. 30Ebd. 31Vgl. Krauss: Zur Wortgeschichte von Persiflage (wie Anm. 10), S. 307 und 315. 26Ludwig
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Sublimierung in kleine artige Bosheiten mit dem Ziel, das gesellige Gespräch mit Esprit zu würzen, klar erkennen. 4. Auf dieser Argumentationslinie einer geselligkeitsstimulierenden „artigen Verleumdung“ vermag die romantische Persiflage eine urbane Besonderheit der Pariser Persiflage zu adaptieren und auszubauen. Gemeint ist die sogenannte „persiflage continuel“ bzw. „persiflage perpétuel“.32 Darunter verstanden die Pariser Habitués die Form einer Orgie des Spottes und Scherzes: „un persiflage continuel est un délire“.33 Diese persiflierende Orgie setzt sich zusammen aus einem schnellen Konversationswechsel von Dialogen und Monologen und einem satirisch-polemischen Rundumschlag. Man muss sich das auf Permanenz gestellte Persiflieren so plastisch wie möglich vorstellen: wie an einem Abend die gesamte mondäne städtische Gesellschaft, einzelne Personen nicht schonend, frech und skandalisierend durchgehechelt wird. Friedrich Schlegels Notizen kreisen mehrfach um diese besondere Errungenschaft der modernen Satire, etwa in der Formulierung: „die Satire ist universell im Negativen, sie jambisiert nach allen Seiten“.34 Ein Nachhall dieses vereinheitlichenden Tons findet sich in folgender Notiz: „In der Satire ist eine Einheit in der Gesellung wie der Stimmung und Richtung“.35 Der ästhetische Zugewinn ist offensichtlich: Die Scherz- und Spottorgien vermögen eine durch die erlaubte Heterogenität schwer verhinderbare Schwäche der Satire, ihre Zusammenhanglosigkeit, durch einen schnellen Wechsel der Konversationsthemen („volubilité de propos“36) bei gleichzeitigem virtuosen Einsatz verschiedener Sprachebenen vom Noblen zum Trivialen und von der raffiniert gesetzten Sottise zum Insiderjargon zu überspielen und kompensieren. Das Besondere der Persiflage und die Affinität der Frühromantik dazu wird evident, wenn man die romantische Satire nicht nur, wie in der Forschung geschehen,37 auf ästhetische Aggression eingrenzt, sondern im Kopf behält, dass die romantische „Grundquelle der Poesie“ in der Verbindung von „Zorn und Wollust“38 besteht. Entsprechend treffsicher haben zumindest zwei der Romantiker diese ästhetische Innovation der Persiflage sprachlich benennen können: „Die Persiflage ist eine Rhapsodie der Urbanität“,39 so Friedrich Schlegel, und nicht weniger
32Zit.
nach ebd., S. 311. nach ebd., S. 311 und 307. 34Schlegel: Literary Notebooks (wie Anm. 6), Nr. 1678, S. 168. 35Ebd., Nr. 222, S. 39. 36Zit. nach Krauss: Zur Wortgeschichte von Persiflage (wie Anm. 10), S. 311. 37Vgl. Jürgen Brummack: Zu Begriff und Theorie der Satire. In: DVjs Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 45 (1971), S. 275–377. 38Schlegel: Literary Notebooks (wie Anm. 6), Nr. 2106, S. 209. 39Ebd., Nr. 1076, S. 114. 33Zit.
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p ointiert Jean Paul: „die Persiflage könnte man das ironische Streiflicht nennen“.40 Sie erfassen mit diesen Formulierungen auf eigenständige Weise das den Redefluss am Laufen haltende Improvisierende, diese einzigartige Mischung aus Grazie und Spott, die zugleich eine neue Art von schriftlichem Skizzenstil ermöglicht. Gaudet hat in seinem 1762 unternommenen Definitionsversuch die Persiflage mit dem „elegantisme“ der „papillonage“ verglichen. Chartier hat in seinem 2005 erschienen Buch Theorie der Persiflage auf den damit angesprochenen Vergleich mit einem damals neu auftauchenden bildkünstlerischen Begriff für eine neuartige Erscheinungsweise in der Skulptur und Malerei verwiesen, auf die „papillotage“,41 ein Begriff, der speziell das Wahrnehmungsphänomen flüchtiger, nicht fixierbarer Bewegungen wie das Flackern oder Glitzern auf dem Wasser sprachlich einzufangen versucht – eben das, was Jean Paul mit der Bezeichnung „Streiflichter“ in den Griff zu bekommen hofft. Büchners Nähe zu dieser Form flüchtiger Wahrnehmung bedürfte einer eigenen Untersuchung. Die Tendenz der Persiflage zum ästhetisch Flüchtigen nutzt Friedrich Schlegel, um in griechischem Geist die Pariser Vorlage zu romantisieren. Daraus entsteht eines seiner brillanten Athenäumsfragmente: „Wer frisch vom Aristophanes dem Olymp der Komödie kommt, dem erscheint die romantische Persiflage wie eine lang ausgesponnene Faser aus einem Gewebe der Athene, wie eine Flocke himmlischen Feuers, von der das beste im Herabfallen auf die Erde verflog.“42 Novalis hat mit seinem Vorschlag einer Überschrift zu diesem Fragment kongenial die aristophanisierte Erweiterung der französischen Persiflage erfasst: „Der Olymp der Komödie und die romantische Persiflage“.43 Die romantische Persiflage verfolgt die Tendenz, die urbane durch eine olympische „Frechheit“ zu erweitern. Denselben Romantisierungstrend verfolgt Jean Paul. Er glaubt, die komische Freiheit der romantischen Persiflage von der „gefesselten Anspielung“ ihrer französischen Vorgängerin absetzen zu müssen: „Der freie Scherz wird in Paris, wie an den Höfen, gefesselte Anspielung; so wie die Pariser sich durch ihre witzige Anspielungs-Sucht sowohl die Freiheit als den Genuß der ernsten Dichtung rauben“.44 Bleibt als Abspann zu diesem Abschnitt zur romantischen Persiflage noch kurz zu erläutern, warum bis dato die bedeutsame Filiation von französischer und frühromantischer Persiflage in der Forschung unbemerkt blieb. Ein Grund dürfte sein, dass bald nach der frühromantischen Phase eine Verschiebung der satirischen Vorlagen von der französisch inspirierten Persiflage zu einer deutschen akademischen Tradition der „Philistersatire“ stattfindet. Letztere teilt viele satirische Motive und
40Jean Paul: Vorschule der Ästhetik. In: Ders.: Werke. Bd. 5. Hrsg. von Norbert Miller. Darmstadt 1967, S. 155. 41Chartier: Théorie du persiflage (wie Anm. 18), S. 151. 42Schlegel: Athenäumsfragment Nr. 154 (wie Anm. 3), S. 189. 43Novalis: Titel der Fragmente [sic]. In: Ders.: Schriften. 2. Bd. Hrsg. von Richard Samuel, HansJoachim Mähl und Gerhard Schulz. Darmstadt 1965, S. 625–639, 635 (Nr. 150). 44Paul: Vorschule der Ästhetik (wie Anm. 40), S. 154.
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Motivationen mit der französischen Persiflage, etwa die Verachtung der Illiteraten durch die Literaten, die Mischung aus „Spott und Gewalt“, den „kriegsmäßigen“ Ton, der in die „Geschichte des Gesagten“ hineinkommt,45 sowie die Mixtur aus jugendlicher Protesteuphorie und Kreativität. Doch bleibt der tragende Ton der Philistersatire kleinstädtisch; es fehlt ihr die souveräne Urbanität der Persiflage aus Paris; durch ihr Herkunftsfeld aus der Bibel bietet sie zudem Anschlussstellen für antisemitische Ressentiments. Die Beobachtung des Wechsels von der unter der Einflusszone der französischen Persiflage stehenden Frühromantik zu dem bei jüngeren romantischen Schriftstellern wie Clemens Brentano und Achim von Arnim feststellbaren Interesse an einer in der Frühen Neuzeit sich herausbildenden deutschen und akademischen Tradition der Philistersatire könnte zudem als ein bescheidener Beitrag zur Frage einer Dresdner Forschergruppe zu den Ressourcen von Invektivität gerechnet werden. Die Frage lautet, „ob die Wurzel einer modernen europäischen Streitkultur in der spezifischen Lästerungskultur der Vormoderne liegt oder ob die westliche Moderne differente Umgangsweisen mit Invektivität entwickelt hat.“46 Es liegt auf der Hand, dass diese Frage nicht nur für Büchners Dramen, sondern auch für die von ihm mitverfasste Flugschrift relevant ist.
3 Georg Büchners virtuoses Spiel mit dem Kontrast von französischer Persiflage, romantisierter Persiflage und Karnevaleske Obwohl die Romantik, wie u. a. das Lyceumsfragment 97 belegen kann, ansatzweise eine Differenzierung zwischen „grobkörnige[r] und feine[r]“ Satire47 zu machen in der Lage war, hat erst Georg Büchner den sozialästhetischen Kontrast zwischen der subtil-frivolen Persiflage und der derb obszönen Karnevaleske dramaturgisch ausgereizt. Persiflage und Karnevaleske haben ein und dieselbe sprachlich-stilistische Quelle: die Burleske. Statt den volkstümlichen karnevalesken hybriden Körperausstülpungen gilt in der Persiflage die Aufmerksamkeit den Attitüden, Manien und Sonderbarkeiten der Hofleute und Städter, etwa das Schnipsen mit den Fingern im 1. Akt der 3. Szene von Leonce und Lena (MBA 6, S. 107).48 Statt derben obszönen Späßen sind Äußerungen der „libertinage“,
45Heinrich
Bosse: Musensohn und Philister. Zur Geschichte einer Unterscheidung. In: Reginius Bunia, Til Dembeck, Georg Stanitzek (Hrsg.): Philister. Problemgeschichte einer Sozialfigur der neueren deutschen Literatur. Berlin 2011, S. 55–100, 95 f. 46Dagmar Ellerbrock, Lars Koch, Sabine Müller-Mail, Marina Münkler Dominique Schrage, Gerd Schwerhoff: Invektivität. Perspektiven eines neuen Forschungsprogramms in den Kulturund Sozialwissenschaften. In: Kulturwissenschaftliche Zeitschrift 1 (2017), S. 3–23, 21. 47Schlegel: Lyceumsfragment 97 (wie Anm. 3), S. 158. 48Textstellen von Büchner werden hier und im Folgenden zit. nach der Marburger Büchner Ausgabe (Darmstadt 2000–2013) unter der Sigle MBA. Die Nachweise erscheinen direkt im Text.
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das heißt ‚Subtilitäten des parisischen Lebens’49 angesagt. Für die boshaft bissigen und zugleich charmant eingesetzten Anspielungen fanden die zeitgenössischen Beobachter in Paris aus dem Metaphernfeld des Tanzes Vergleichsbilder. Sie nannten es eine „persiflage-pirouette“.50 Vergleicht man den Einstieg in die beiden ersten Szenen des 1. Aktes von Georg Büchners Danton’s Tod miteinander, so kann man den Kontrast zwischen der Karnevaleske auf der Gasse (in der zweiten Szene) gegenüber der Persiflage der Interieurszene (der ersten Szene) gut nachvollziehen: auf der Gasse eine brutale, deftige, körperliche und verbale Ausdrucksweise – Schläge, Flüche, unflätige Beschimpfungen, Zitatphrasen verbunden mit einem Auflauf einer Menschenmenge; dagegen herrscht in der vorausgehenden ersten Szene des ersten Aktes eine praktische und sprachliche Koketterie an Wortspielen, Sottisen, Parodien und Paradoxien sowie die Notierung körperlicher Manien und nervöser Anwandlungen, wie sie für einen von der Persiflage durchtränkten Konversationsstil üblich ist.51 Und doch ist schon in der ersten Szene des Dramas die frivole Koketterie konterkarierende melancholische Gesamtatmosphäre nicht zu verkennen. Es ist überall neben den Imponiergesten ein romantisch anmutender elegischer Ton eines Verglimmens und Erlöschens einer ansonsten ostentativ vorgetragenen überschäumenden Lebensfreude zu spüren – ein Verglühen, wie es theoretisch das zitierte Athenäumsfragment 154 Friedrich Schlegels beschrieben hatte. Während Karnevaleske und Persiflage ostentativ in Danton’s Tod ausgestellt werden, bleibt der melancholische Unterton fast ungreifbar in der Luft hängen, bis er punktuell und überraschend in bestimmten unerwarteten Haltungen als abgründige romantische Groteskvorstellung auftaucht: 1. Herr. Was haben Sie denn! 2. Herr. Ach nichts! Ihre Hand! Herr, die Pfütze, so! ich danke Ihnen. Kaum kam ich vorbey, das konnte gefährlich werden! 1. Herr: Sie fürchten doch nicht! 2. Herr: Ja, die Erde ist eine dünne Kruste, ich meine immer ich konnte durchfallen, wo so ein Loch ist. (MBA 3.2, S. 36) Anders als in der Aufklärung, in der die Groteske als monströses, aus heterogensten Elementen zusammengesetztes Bild vorgestellt wurde, bezog sich in der Romantik die Groteske zunehmend auf von der Einbildungskraft erzeugte abgründige Vorstellungen. Diese romantische Tendenz zur abgründigen statt monströsen Groteske intensiviert Georg Büchner.
49Vgl.
Bourguinat: Le Siècle du Persiflage (wie Anm. 8), S. 85. nach ebd., S. 60. 51Vgl. Reinhold Grimm: Love, Lust, and Rebellion. New Approaches to Georg Büchner. London 1985, S. 79–111. 50Zit.
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Das ästhetische Widerspiel von subtiler Persiflage und derber Karnevaleske, das sich in Danton’s Tod auf einerseits Straßen- andererseits Interieurszenen verteilt, wird in dem Lustspiel Leonce und Lena in einem Dialog verdichtet. Die Tonlage des blasierten Persifleurs Prinz Leonce ist gespickt von feinen Bosheiten und perfiden Anspielungen, wogegen die Witze des schmatzenden, trunkenen, von derben Obszönitäten strotzenden Valerio (der ursprünglich als desertierender Soldat konzipiert war) in plebejischer Manier inszeniert sind. An anderer Stelle wurde diese Figurenkonstellation schon vorgestellt und analysiert.52 Das Widerspiel von derb-obszöner Karnevaleske und perfid-frivoler Persiflage lässt sich auch in dem Dramenfragment Woyzeck ausfindig machen. Die derbdeftige Seite vertritt ein Handwerksbursch in H2,4. In einer Gemengelage von Flüchen sowie blasphemisch tabubrechenden Ritualen („Laßt uns jezt über das Kreuz pissen, damit ein Jud stirbt“, MBA 7.2, S. 15) und surreal anmutender Körperakrobatik („Ich lieg mir selbst im Weg und muß über mich springen“, ebd.) lässt sich diese farcenhafte Exzentrik dingfest machen. Anders als der „Handwerksbursche“ pflegen „Hauptmann“ und „Doctor“ eine sarkastisch-zynische Anspielungskultur – eben die moderne Persiflage. Beim „Doktor“ und beim „Hauptmann“ lassen sich nur noch Anklänge an die traditionelle Standessatire entdecken. Sie werden charakterisiert als durch ihre Handhabung von Machtwissen personifizierte Entstellungen: der eine durch seine medizinische „Besessenheit“ und zeitgemäße Diagnostik,53 der andere durch seinen verbal und habituell vorgeführten Widerspruch von ethischer Selbststilisierung und subtil boshafter Insinuation. In der Straßenszene (H2,7) im Woyzeck ist diese perfide Form der Persiflage brennglasartig eingefangen. Anders als in den bisher erörterten Beispielen, in denen die virtuose Schlagfertigkeit der Persifleurs vorgeführt wird – auch diese fehlt in der Straßenszene nicht –, wird darüber hinaus die allmähliche willkürlich-unwillkürliche Entstehung einer infamen zynischen Denunziation vorgeführt. In keinem anderen Drama Büchners ist die Zwiespältigkeit der Figuren so weit getrieben wie im Woyzeck. Mit Blick auf die Person „Woyzeck“ spricht der Doktor von einer Vermengung von verständiger Lebensweise und „dazwischen“ stattfindenden „fixen Ideen“ (MBA 6.2, S. 17). Woyzeck ist zurechnungsfähig und unzurechnungsfähig zugleich. Auch der Hauptmann ist in seiner Selbstdarstellung als Verkörperung der Moral ein höchst zweideutiges Doppelwesen: Er gibt sich als „guter Mensch“ (ebd.) aus, dies freilich im Wissen, dass er auf perfide Weise zum Unguten greifen kann. In der Straßenszene antwortet er dem „Doctor“ in Paronomasien, das Gute und Ungute in sich ausstellend: „Aber nichts für ungut. Ich bin ein guter Mensch –
52Vgl.
Vf.: Die Poesie auf dem Prüfstand. Wortspiele, Gedankenstriche und eine prosaische lakonische Frage. Georg Büchners Leonce und Lena. In: Hans-Richard Brittnacher, Irmela von der Lühe (Hrsg.): Enttäuschung und Engagement. Zur ästhetischen Radikalität Georg Büchners. Bielefeld 2014, S. 153–166. 53Vgl. Harald Neumeyer: Woyzeck. In: Roland Borgards, Harald Neumeyer (Hrsg.): Büchner Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Stuttgart 2009, S. 98–118, 113.
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aber ich kann auch wenn ich will Herr Doctor, hähäh, wenn ich will.“ (MBA 6.2, S. 18) Und prompt folgt, wie zur Demonstration, ein Exempel seiner Fähigkeit zur Ungüte gegenüber dem an den beiden Spöttern vorbeieilenden Woyzeck. Die im Folgenden vom Hauptmann vorgeführte Denunziation von Maries ‚Verhältnis‘ zum „Tambourmajor“ ist ein Bravourstück der Vorstellung einer mit Anspielungen arbeitenden, persiflierenden, willkürlich-unwillkürlichen, instinktiven und bewussten Ideenassoziation. Sie nimmt aus der Beobachtung des vorbeihetzenden Woyzeck und in Gedanken an seine Tätigkeit des Rasierens ihren bildspendenden Ausgangspunkt. Woyzeck wird zum Einen mit einem offenen „Rasirmesser“ (ebd.) verglichen, an dem man Gefahr läuft sich zu schneiden; die Aversion gegen Woyzecks Lauftempo führt zur Imagination, der einfache Stadtsoldat Woyzeck hätte nicht nur seinen behaglichen Hauptmann zu rasieren, sondern „ein Regiment von Kosacken“ (ebd.) mit der fragwürdigen Aussicht, „über dem letzten Haar […] gehenkt“ (ebd.) zu werden. Aus dem mit Gewalt, Tempo und Tod spielenden Bildfeld erwächst der nächste assoziative Gedankensprung. An zwei Sprechanläufen wird die allmähliche Verfertigung der Perfidie Zug um Zug nachvollziehbar. Hauptmann: „aber, über die langen Bärte, – was wollt ich doch sagen? Woyzeck – die langen Bärte […]. Hä? über die langen Bärte?“ – nun hat er den Denunziationsfaden gefunden; als Brücke dient die Redewendung ‚ein Haar in der Suppe finden‘:54 „Wie is Woyzeck hat er noch nicht ein Haar aus einem Bart in seiner Schüssel gefunden?“ (ebd.), um fast kumpelhaft erläuternd und explizierend fortzufahren: „He er versteht mich doch, ein Haar von einem Menschen“ (ebd.), um erneut in drei Sprechanläufen zum Ziel seiner Botschaft zu kommen: „vom Bart eines Sapeur, eines Unterofficier, eines – eines Tambourmajor?“ (ebd.) Nun, nach vollbrachter Redetat, vermag er seine Denunziation in einer ironisch gut gemeinten, in Wahrheit aber infamen Verhöhnung auslaufen lassen: „He Woyzeck? Aber Er hat eine brave Frau. Geht ihm nicht wie andern.“ (ebd.). Den zynischen, kaltblütigen Verhaltensweisen des Doktors und des Hauptmanns begegnet Woyzeck auf zwei Weisen. Zum einen mit der kynischen Berufung auf das Kreatürliche im Menschen. Sein Pfeifen kann man als eine solche kynische nonverbale Widerstandsform deuten (vgl. H4,14; MBA 6.2, S. 31). In der Straßenszene antwortet er zum anderen mit einem Bild, das nicht weniger gewaltgeladen ist als das des Hauptmanns. Und doch ist die Differenz deutlich. Im Unterschied zu den Phrasen des Hauptmanns ist Woyzecks Sprach- und Denkfigur eigenständig und einzigartig. In dieser extrem schockierenden Situation vermag Woyzeck zum ersten Mal seine bislang nur vage formulierte Grundfrage „Das ist, so wenn etwas ist und doch nicht ist“ (H2,6; MBA 6.2, S. 16) in ein hochkomplexes Bildfeld zu übersetzen:
54Vgl. Christian Friedrich Hebbel: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Richard Maria Werner. Teil 1. Bd. 6. Berlin 1904, S. 444 (Neue Epigramme Nr. 163): „Mancher findet nur darum ein Haar in der Suppe, weil er das eigene Haupt schüttelt, solange er ißt.“
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Wir haben schön Wetter Herr Hauptmann[.] Sehn sie so ein schönen, festen grauen Himmel, man könnte Lust bekommen, einen Kloben hineinzuschlagen und sich daran zu hängen, nur wegen des Gedankenstrichels zwischen Ja, und nein[,] ja – und nein, Herr Hauptmann ja und nein? Ist das nein am ja oder das ja am nein Schuld. Ich will drüber nachdenken. (MBA 6.2, S. 18)
Die Forschungsthese von der „poetischen Determination“ der Figur Woyzecks, die sich durch Sprachohnmacht und Entfremdung kundtue,55 ist vor diesem Hintergrund schwerlich aufrecht zu halten. Durch neokolonialistische Problemstellungen sensibilisiert, lässt sich angesichts eines überbeschäftigten Paupers die Frage stellen, auf welche Weise überhaupt „Handlungsfähigkeit außerhalb der Diskurse des Individualismus individuiert und spezifiziert“ werden kann.56 Die Antwort könnte im Blick auf die Fragestellung dieses Bandes, also auf das Verhältnis Büchners zur Romantik, lauten: durch die Verabschiedung der ironisch-satirischen Posse der Romantik und den Wechsel zur sarkastischen Farce.57 Damit sind wir erneut bei unserer Ausgangslage angelangt: der paradoxen Konstellation, dass die Satire in der Romantik zwar von zentraler Bedeutung ist, gleichwohl aber nicht im Zentrum steht.
4 Das „Parasitäre“ der Satire und der Persiflage als romantisches Handicap und als nachromantische Chance Der Vorteil der Satire und ihrer bissigen Variante, der Persiflage, sich der heterogenen Mannigfaltigkeit des Lebens zu öffnen und mimikryartig sich in die zu satirisierenden und zu persiflierenden Subjekte einzulassen, hat aus autonomieästhetischer Perspektive der Romantik einen hohen Preis. Friedrich Schlegel nennt ihn ungeschminkt. Komik und Satire entkommen nicht der „Erbsünde des Schlechten und Häßlichen.“58 Um dieses Manko zu minimieren, wird Satire und Persiflage in der Romantik zurückgedrängt und gegenüber Ironie und Humor herabgestuft – expressis verbis von Novalis: „Persiflage gehört zum Humor, aber um einen Grad geringer – sie ist nicht mehr rein artistisch – und viel beschränkter“.59
55Franziska
Schößler: Exkurs: Soziales Drama. In: Borgards, Neumeyer (Hrsg.): Büchner Handbuch (wie Anm. 53), S. 118–123. 56Vgl. Mieke Bal: Kulturanalyse. Hrsg. von Thomas Fechner-Smarsly und Sonja Neef. Frankfurt a. M. 2006. 57Vgl. Gerhard Mack: Die Farce. Studien zur Begriffsbestimmung und Gattungsgeschichte in der neueren deutschen Literatur. München 1989, S. 73–77. 58Friedrich Schlegel: Vom ästhetischen Wert der griechischen Komödie. 1794. In: Ders.: Studien des klassischen Altertums. Bd. 1. Hrsg. von Ernst Behler. Paderborn, München 1979, S. 31. 59Novalis: Blüthenstaub. In: Ders.: Schriften. 2. Bd. (wie Anm. 43), S. 424.
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Just genau an diesem Punkt zeichnet sich die Differenz zwischen der Romantik und Büchner ab. Während der aus Sicht einer romantischen Autonomieästhetik „parasitäre Status“ der Satire,60 das heißt ihre Referenz zur Wirklichkeit, ein Problem darstellt, das zu artistischer Kompensation aufruft, ist für Büchner die Satire mit ihrer Gratwanderung zwischen Ästhetischem und Außerästhetischem eine Chance, den der Poesie notwendigen Trug zu relativieren. Während die Romantiker mit der „unendliche[n] Achtung und Verachtung“ bloß ironisch spielen (und das dann auch noch als „reif“ ausgeben!),61 hebt Büchner den Vorhang dieses ironischen Spiels, um dahinter die gesellschaftliche Brutalität aufzudecken. Nicht nur an der Bauernszene in Leonce und Lena wird die Vorstellung zur satirisch „transparenten Entstellung“62 der Zustände genutzt, auch an subtileren Stellen wird eine Durchstoßung des persiflierenden Charmes vorgeführt – so zum Beispiel dort, wo sich Leonce der demütigenden Problematik seiner Persiflage selbst bewusst wird: „Wie gemein ich mich zum Ritter an den armen Teufeln gemacht habe! Es steckt nun aber doch einmal ein gewisser Genuß in einer gewissen Gemeinheit.“ (MBA 6, S. 67) Was in Leonces Spiel mit den Hofbeamten noch vergleichsweise harmlos daherkommt, wird zur Infamie im Woyzeck. Der sich als Gutmensch inszenierende Hauptmann hebelt die ohnehin schon geschwächte Selbstbehauptung des pfeifenden Woyzecks aus – mit einer Denunziation, die berechenbar und zugleich unberechenbar, mit Absicht und zugleich unentwirrbar mit Instinkt verknüpft ist. Aus dem Hauptmann bricht diese Denunziation von Maries Fremdgehen in einer Agressionsassoziation heraus, sie verselbständigt sich und wird im romantischen Sinn satanisch. Die Straßenszene im Woyzeck hat mit dem einsetzenden Stegreifspiel und der Schlusspointe des grotesken Schattenspiels eine Reihe von romantischen Motiven sowie grotesken Erschreckensszenarien aus Shakespeares Werk aufgegriffen. Büchner hat aber diese romantischen und shakespeareartigen Inzitamente eingespeist in eine persiflierende Orgie der Aggression und Infamie, er hat bis ins Tempo der Darstellung und die rasant wechselnden Beobachterkommentare hinein die deliriumsträchtige „persiflage continuelle“ mit der „persiflage pirouette“ kurzgeschlossen. Diese infame Persiflage (das Gegenstück zu der von Schlegel gerühmten juvenalschen „Begeisterung des Hasses“63) markiert die Differenz zwischen Büchner und der Romantik, die Verabschiedung der ironisch-satirischen
60Rainer
Warning: Komik/Komödie. In: Fischer Lexikon Literatur. Hrsg. von Ulfert Ricklefs. Bd. 2. Frankfurt a. M. 1996, S. 897–936, 923. 61Schlegel: Philosophische Fragmente. Nr. 302. In: Kritische Friedrich-Schlegel Ausgabe (wie Anm. 5), S. 219. 62Wolfgang Preisendanz: Zur Korrelation zwischen Satirischem und Komischem. In: Ders., Rainer Warning (Hrsg.): Das Komische. München 1976, S. 411–416, 413. 63Friedrich Schlegel: Epochen der Dichtkunst. In: Ders.: Charakteristiken und Kritiken I (1796– 1801). Hrsg. v Hans Eichner (Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe Bd. 2). München, Paderborn, Wien 1967, S. 296.
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Posse der Romantik und den Wechsel zur sarkastischen Farce.64 Heiner Müller hat diese grotesk-satirische Szenerie „das Tragische im Bauch der Farce“ genannt.65 Ich fasse zusammen: Allgemeingut ist, dass die Romantiker von einem Ungenügen an den damaligen deutschen Verhältnissen ausgingen.66 Um diesen mediokren Verhältnissen auch nicht als Kritiker zu verfallen, haben sie Gegenentwürfe konzipiert. Bekannt sind Gegenentwurfsversuche im Blick auf Natur und Landschaft, auf Mythen und auf einstige Weltentwürfe mit Zukunftspotenzial. Unterbelichtet blieb, dass in der Frühromantik als Alternative zur Mediokrität der eigenen deutschen Verhältnisse auch die Konzeption einer ‚Poesie der Urbanität‘ in Arbeit war – und zwar unter Bezugnahme auf das antike Rom und mehr noch in Konkurrenz zu neuartigen Satireverfahren, die im vorrevolutionären Paris erfunden und erprobt wurden. An diesen Seitenstrang der Frühromantik knüpft Büchner eigenständig an. Die Leistung der Romantik einer Ausdifferenzierung der satirisch-ironischen Möglichkeiten nutzt er virtuos. Die romantischen Schriftsteller waren hochgradige Projektemacher. In seinem Essay „Über die Unverständlichkeit“ hat Friedrich Schlegel, nachdem er ein ganzes System von Ironieformen aufgezählt hat, ein vergleichbares zukünftiges Projekt in Aussicht gestellt: „Noch sind wir nicht weit genug mit dem Anstoßgeben gekommen: aber was nicht ist kann noch werden.“67 Georg Büchner hat dieses Projekt des Anstoßgebens aufgegriffen und vollendet. Zum Abschluss eine Pointe: Die jüngste Forschung zur Persiflage konnte eindrücklich zeigen, wie die Hochkonjunktur der Persiflage in der französischen Revolution abrupt abbricht.68 Die Persiflage wird in der französischen Revolution unter den Verdacht eines „aristokratischen gouts“, eines „defaut mondain par excellence“ gestellt und deshalb getilgt, u. a. von solchen Berühmtheiten wie Sebastian Mercier und Madame de Stael.69 Diese Denunziationsformel gegen die Persiflage als aristokratisch verwerfliches Erbgut setzt mehr als 30 Jahre später Ludwig Börne in einer polemischen Rezension gegen Heinrich Heines Schrift De l’Allemagne fort.70 Auf diese Weise entsteht eine verblüffende Konstellation: Auf
64Meyer-Sickendiek
hat diesen historischen Wechsel vom spielerischen Witz zum Sarkasmus an der „deutsch-jüdischen Moderne“ untersucht. Burkhard Meyer-Sickendiek: Was ist literarischer Sarkasmus? Ein Beitrag zur deutsch-jüdischen Moderne. München 2009. 65Vgl. Nikolaus Müller-Schöll: Tragik, Komik, Groteske. In: Hans-Thies Lehmann, Patrick Primavesi (Hrsg.): Heiner Müller Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Stuttgart, Weimar 2003, S. 82–88, 86. 66Lothar Pikulik: Romantik als Ungenügen an der Normalität. Am Beispiel Tiecks, Hoffmanns, Eichendorffs. Frankfurt 1979. 67Friedrich Schlegel: Über die Unverständlichkeit. In: Athenäum 3/2 (1800) (wie Anm. 14), S. 343. 68Vgl. Bourguinat: Le Siècle du persiflage (wie Anm. 8), S. 198–199. 69Vgl. Krauss: Zur Wortgeschichte von Persiflage (wie Anm. 10), S. 325. 70Vgl. Vf.: Die Poesie auf dem Prüfstand (wie Anm. 52), S. 153–166.
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der einen Seite stehen Mercier, Madame de Stael und Ludwig Börne als Persiflagekritiker, auf der anderen Seite finden sich als Befürworter der Persiflage, die unverzichtbar sei für die Förderung von Ambiguitätstoleranz: die Frühromantiker, Heinrich Heine, Georg Büchner und Karl Marx.
Über Empfindlichkeiten Carl Blechen und Georg Büchner Mareike Hennig
Im Kontext der Büchner-Forschung ist Carl Blechen ein Unbekannter. Obwohl Büchner und Blechen Zeitgenossen sind, bewegen sie sich doch in unterschiedlichen Kontexten und unterschiedlichen Räumen. Daher sei der Maler Carl Blechen hier zunächst knapp vorgestellt. Carl Blechen wird 15 Jahre vor Georg Büchner im Jahr 1798 geboren. Als Autodidakt kommt Blechen erst spät zur Kunst. Er studiert an der Berliner Akademie, ist Dekorationsmaler am Königsstädtischen Theater und geht nach dem Verkauf seines einzigen Historienbildes 1828 für ein Jahr nach Italien. Dieses Jahr verändert seine Kunst. Mit Hunderten von Zeichnungen, Aquarellen und Ölskizzen kommt er zurück und präsentiert von nun an Bilder, die die immense Wirkung, welche die Landschaft und vor allem das Licht des Südens auf ihn hatten, in großer Unmittelbarkeit wiedergeben.1 So etwas ist neu. Blechen findet Bewunderer, etwa König Friedrich Wilhelm IV. und Bettine von Arnim, doch auch scharfe Kritiker. 1831 erhält er eine Professur für Landschaftsmalerei an der Berliner Akademie, doch schon ein paar Jahre später erkrankt er an einer „Seelenstörung“2 und verbringt die Jahre von 1837 bis zu
1Vgl. hierzu Rosa von der Schulenburg (Hrsg.): Carl Blechen. Mit Licht gezeichnet. Das AmalfiSkizzenbuch. Berlin 2010; Mareike Hennig: „Ein begnadetes Auge und eine sichere Hand“. Das Amalfi-Skizzenbuch von Carl Blechen. In: ebd., S. 31–36; Kilian Heck: Das vom Licht erbaute Bild. Zu den Sepien „Bäume und Häuser“ und „Besonnte Bäume in Amalfi“ von Carl Blechen. In: ebd., S. 133–136; Reinhard Wegner: Die Grenzen der Wirklichkeit. Über den Kontrast von Licht und Schatten im Amalfi-Skizzenbuch Carl Blechens. In: ebd., S. 129–132. 2So sein behandelnder Arzt Dr. Ernst Horn in einem Brief an Schadow, zit. nach Heino R. Möller: Carl Blechen. Romantische Malerei und Ironie. Dresden 1995, S. 211.
M. Hennig (*) Freies Deutsches Hochstift, Frankfurt a. M., Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 R. Borgards und B. Dedner (Hrsg.), Georg Büchner und die Romantik, Abhandlungen zur Literaturwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05100-4_9
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s einem Tod 1840 in der Berliner Heilanstalt von Ernst Horn. Nur einige Jahre früher, 1837, starb Büchner in Zürich. Ein Schriftsteller und ein Maler, kaum 15 Jahre auseinander, beide zur gleichen Zeit arbeitend und, zeitlich nah aneinander, früh verstorben. Als Persönlichkeiten jedoch sind die beiden sehr unterschiedlich: Büchner ist politisch engagiert, eloquent, umtriebig, gesellschaftlich eingebunden, ein Mensch der Gruppen, hochintelligent, er hat einen weiten Horizont, ist sehr jung bei allem dabei, schnell und wendig. Blechen braucht länger, um dahin zu kommen, wo er hinwill. Und dieses Ziel ist keines, in dem eine Gemeinschaft oder Gesellschaft eine Rolle spielt, es ist seine eigene Vorstellung von Kunst, die er mit unbedingtem Willen verfolgt. Blechen ist eigensinnig, unnachgiebig, streitbar, kompromisslos auf seine Kunst bezogen. Er ist kein guter Schreiber, doch trotz seiner Eigenwilligkeiten ein beliebter Lehrer. Was diese beiden Künstler in den 20er und 30er Jahren des 19. Jahrhunderts verbindet, ist ihre bis heute frappierende Fähigkeit der Darstellung von Wahrnehmung, genauer gesagt einer übersteigerten Wahrnehmung, einer Wahrnehmung, die die Norm des Kunstwerkes sprengt,3 was wiederum die Leser und Betrachter ihrer Werke irritiert, begeistert oder verärgert hat. Blechen4 und Bücher5 schildern körperliche Erfahrungen von Welt in einer Weise, wie man sie 3Es
geht im Folgenden ausschließlich um eine konzeptionelle Nähe zwischen Blechen und Büchner, nicht um Einflüsse, Rezeption, Reaktionen oder Übernahmen. Ob Büchner Blechen kannte oder nicht, ist für die Beschreibung dieser konzeptionellen Nähe nicht relevant. Auch unberücksichtigt kann in diesem Zusammenhang die Frage bleiben, welche Rolle die Bildende Kunst bei Büchner spielt, etwa in Büchners expliziten literarischen Äußerungen zur Kunstgeschichte (wie z. B. im Kunstgespräch im Lenz) oder in den offensichtlichen oder verdeckten Literarisierungen von einzelnen Kunstwerken (wie z. B. in der Schlusspassage im Lenz); vgl. zu diesen Fragen z. B. Christian Neuhuber: Lenz-Bilder. Bildlichkeit in Büchners Erzählung und ihre Rezeption in der bildenden Kunst. Wien 2009. 4Zum Verhältnis von Wahrnehmung, Physiologie und Kunst bei Blechen vgl. Annik Pietsch: Sehen und Imagination. Carl Blechens „Naturgemälde“, die neuen Bildmedien und die physiologische Optik um 1800. In: Beate Schneider und Reinhard Wegner (Hrsg.): Die neue Wirklichkeit der Bilder. Carl Blechen im Spannungsfeld der Forschung. Berlin 2009, S. 56–77; Dies.: „Dichter der Natur in Farben“. Beobachtungen zur Skizzentechnik Carl Blechens. In: Schulenburg: Carl Blechen (wie Anm. 1), S. 123–128; Dies.: „Gottes Natur empfunden und erkannt?“ Carl Blechens ‚Naturgemälde’. In: Jahrbuch der Berliner Museen 48 (2006), S. 89–116. Vgl. hierzu demnächst auch Kilian Heck: Das zweite Bild im Bild. Auflösungstendenzen des perspektivischen Raumes bei Carl Blechen. Fulda 2020. Vgl. auch Reinhard Wegner: Blechens dunkle Bilder. In: Schneider. Wegner (Hrsg.): Die neue Wirklichkeit der Bilder, S. 171–179; Beate Schneider: „Sehen, sehen und zeichnen, sehen und malen: das allein war sein Leben“. Die Cottbuser Sammlung Carl Blechen. In: Jutta Götzmann, Gert Streidt (Hrsg.): Carl Blechen und Carl Gustav Wegener im Dialog. Romantik und Realismus in der Landschaftsmalerei. Berlin 2014, S. 29–35. 5Zur einer physiologischen Ästhetik bei Büchner vgl. Günter Oesterle: „Das Komischwerden der Philosophie in der Poesie. Literatur-, philosophie- und gesellschaftsgeschichtliche Konsequenzen der ‚voie physiologique’ in Georg Büchners Woyzeck“. In: Georg Büchner Jahrbuch 3 (1984), S. 201–239; Ingrid Oesterle: Verbale Präsenz und poetische Rücknahme des literarischen Schauers. Nachweise zur ästhetischen Vermitteltheit des Fatalismusproblems in Georg Büchners „Woyzeck“. In: Georg Büchner Jahrbuch 3 (1983, 1984), S. 168–199.
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zuvor nicht findet. Und wenn eine zeitgenössische Kritik schrieb, Blechen würde „mit einer fast bizarren Konsequenz das Charakteristische“6 festhalten, was durchaus nicht als Lob gemeint war, so kann dies auch für Büchner gelten. Es ist eben jene Fähigkeit, die Büchners und Blechens Kunst bis heute das Potenzial gibt zu erschüttern, wiederum eine Wahrnehmung, die zwar stark, aber nicht eindeutig positiv oder negativ ist. Es ist die Kunst der Überempfindlichkeit.
1 Blechens überempfindliche Bilder Carl Blechen trat seine Italienreise im Herbst 1828 an. Er hatte zuvor als Theatermaler gearbeitet und dabei Geschichten Bilder gegeben, gemäß der Theaterliteratur der Zeit gern auch Schauergeschichten. Er wusste Effekte zu gestalten und zu inszenieren.7 Dies alles ist in Italien nicht nötig. Ein Jahr lang, in dem niemand etwas von ihm will, traut Blechen einfach nur seinen eigenen Augen. Bereits am dritten Tag nach seiner Ankunft in Rom (Weihnachten 1828) beginnt er in der winterlichen Campagna, in ein kleines Skizzenbuch zu zeichnen (Abb. 1 und 2): struppige Hohlwege, kahles Gelände, dürre Vegetation, niedrige Blickwinkel. Blechen zeichnet nur das, was er sieht. Was fokussiert wird, ist deutlich, die Ränder blenden sich aus, die unmittelbare Verbindung von Auge und Hand ist spürbar. Die Notwendigkeit, mit transportablem Material zu arbeiten, lässt ihn sich in diesem Jahr auf Bleistift-, Feder-, Aquarellzeichnungen und Ölskizzen beschränken, Techniken, die im frühen 19. Jahrhundert noch nicht als vollgültige Kunstwerke galten und ihm deshalb auch keinen Zwang auferlegten. Dass diese Zeichnungen für nichts und niemanden als nur für ihn selbst bestimmt sind, gibt Blechen Freiheit. Durch die ungeheure Fülle dieser Arbeiten entwickelt sich im Laufe des Jahres immer mehr der eigene Blick und die eigene Wahrnehmung des Künstlers zum Thema seiner Arbeiten: keine Geschichten, keine Veduten, keine genreartigen Fischer- oder Hirtenszenen. Im Sommer, in Neapel und an der Amalfiküste, beim Zeichnen in einem Licht, das die Wahrnehmung verändert, perfektioniert Blechen die Fähigkeit der unmittelbaren Wiedergabe des Sehens selbst, die sich mehr um die subjektive physische Erfahrung, als um die Definition der Bildobjekte kümmert (Abb. 3 und 4). Überall gibt es flirrende Lichtkanten, das scharfe Gegeneinander von Schatten und Sonne an strahlenden Tagen bringt Szenen zuweilen bis an den Rand der Abstraktion. Übergänge zwischen Objekten und Materialien lösen sich in der gleißenden
6W.
K. Lange: Antikritik der Berliner Kunstausstellung des Herbstes 1830. Im Verein mehrerer Gelehrten und Künstler. Hrsg. von Dr. W. K. Lange, Heft 6/1. Oktober 1830, zit. nach: Paul Ortwin Rave: Karl Blechen. Leben, Würdigung, Werk. Berlin 1940, S. 19. 7Vgl. hierzu Kilian Heck: Der lebendige Anblick des Menschen. Die Badenden von Terni von Carl Blechen. In: Steffen Bogen, Wolfgang Brassart, David Ganz (Hrsg.): Bilder, Räume, Betrachter. Festschrift für Wolfgang Kemp zu 60. Geburtstag. Berlin 2006, S. 395–407.
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Abb. 1 Carl Blechen, Feldweg, 14 Blätter vom Monte Mario, 26. Dezember 1828, bez.: Monte Mario Decbr. 28, Feder laviert, Sepia und Tusche auf Papier, 13,2 × 20,5 cm, Berlin, Akademie der Künste, Kunstsammlung, Inv.-Nr.: Blechen 4 (Rave 716)
süditalienischen Sonne und im vom Meer reflektierten Licht auf. Und zuweilen führt die Genauigkeit dieser ‚Wahrnehmungsdarstellungen‘ nahezu synästhetisch dazu, auch Hitze und Kühle, Mittagsstille und die lebendige Bewegung von Licht und Vegetation zu empfinden. Hier zeigt sich neben der Meisterschaft in der Widergabe auch eine Art Meisterschaft in der Wahrnehmung, eine besonders ausgeprägte Empfindlichkeit und Reizbarkeit des Künstlers. Die Motive sind denkbar unspektakulär, doch Blechen beginnt mit ihnen, die stabile Welt aufzulösen und die Dinge zu neuen, durch Licht und den eigenen Blick generierten Körpern zusammenfügen. Es entsteht eine durch Empfindung und Wahrnehmung vorgestellte Szenerie, die nicht weniger real ist als die materielle Welt. Nur liegt die Stabilität der Welt jetzt im Wahrnehmenden, nicht mehr im Objekt, sie liegt im Künstler, nicht in der Welt. Sie ist damit fragil, aber sie ist evident. So meisterhaft Blechen dies handhabt, so viel gibt er dabei von sich selbst preis. Blechen leiht dem Betrachter die eigenen Augen, um Dinge zu zeigen, nicht wie sie sind, sondern wie er sie in diesem Moment sieht. In diesen Arbeiten tritt der Körper des Künstlers in das Kunstwerk ein, und es entsteht eine intime Situation, die auch die gebührliche Distanz zwischen Künstler und Rezipienten aufhebt. Dies alles ist in der Zeichnung noch erlaubt, auch im Aquarell und in der Ölskizze. Als Blechen jedoch nach seiner Rückkehr anfängt, auf der Akademieausstellung Gemälde zu zeigen, denen diese ‚Leibhaftigkeit‘ zu eigen ist, gibt es
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Abb. 2 Carl Blechen, Feldweg, 14 Blätter vom Monte Mario, 26. Dezember 1828, bez.: Monte Mario Decbr. 28, Feder laviert, Sepia und Tusche auf Papier, 13,2 × 20,5 cm, Berlin, Akademie der Künste, Kunstsammlung, Inv.-Nr.: Blechen 11 (Rave 722)
Unruhe. 1830 sind es drei Gemälde nach italienischen Motiven, die von der Kritik intensiv besprochen werden: „Der Mittag. Ein Blick von Civita Castellana in die Ebene und auf den Monte Soratte“,8 „Der einbrechende Abend. Ein Blick aus der Umgebung Narnis“9 und „Parthie aus dem Park des Grafen Graziani bei Terni“.10 Die beiden ersten, auf die sich die Kritiken beziehen, sind heute verloren. Bemerkenswert an diesen Ausstellungkritiken, etwa der „Antikritik der Berliner Kunstausstellung des Herbstes 1830“ ist, dass sie den Bildern stets „Wahrheit“ und „Naturtreue“ bescheinigen.11 Dem Betrachter steht mit den Bildern also das eigene Erleben lebhaft vor Augen. Doch will er das wirklich? Und ist es das, was ein Bild tun soll?
8Werke von Blechen werden nach dem Werkverzeichnis von Rave: Karl Blechen (wie. Anm. 6) nachgewiesen; hier Rave 1284. 9Rave 1291. 10Rave 1303. Vgl. zur Rezeption und Kritik dieser drei Gemälde auch Friederike Sack: Carl Blechens Landschaften. Untersuchungen zur theoretischen und technischen Werkgenese. Dissertation an der Fakultät für Geschichts- und Kunstwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München 2007 (online publiziert unter https://d-nb.info/1005067600/34, letzter Zugriff: 2.9.19), S. 99 f. 11Lange: Antikritik der Berliner Kunstausstellung des Herbstes 1830 (wie Anm. 6), S. 19.
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Abb. 3 Carl Blechen, Bäume und Häuser, 1829, Sepia über Graphit, 20,3 × 29,5 cm, Berlin, Akademie der Künste, Kunstsammlung, Inv.-Nr.: Blechen 59 (Rave 1142)
Abb. 4 Carl Blechen, Hafen von Amalfi, 1829, Sepia über Graphit, 20,3 × 29,5 cm, Berlin, Akademie der Künste, Kunstsammlung, Inv.-Nr.: Blechen 50 (Rave 1162)
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Das sind die weißen Felsen, das ist der weiße Boden, das ist Mittelitaliens heißer Mittag, das brennt; so graugrün sieht die zerknickte Aloe aus, und das ist Blechen, mitten darin die weiße Ziege. Nichts soll die auffallende Wahrheit des Bildes stören. Darum aber fragen wir, und geben hier vielleicht eine Blöße, wo nahm der Künstler die rotbraunen Schatten im Hintergrund der Schlucht her. Hat er es so gesehen, und wir geben viel auf seinen Blick; so danken wir ihm, daß er uns darauf aufmerksam macht. Wir können uns dieser Färbung nicht erinnern, und finden auch keinen Grund auf, der sie bedingt.12
Man attestiert die Treue, will es dann aber auch verbürgt realistisch und übersieht dabei, dass es keine objektive Wahrheit gibt, sondern immer nur die Wahrnehmung des Künstlers, und dass Blechen sich nicht für Naturtreue interessiert, sondern für das eigene Sehen. Das Unbehagen des Betrachters liegt im Unidealen seiner Empfindung ebenso wie im Ärger über das vollkommene Ignorieren dessen, was konventioneller Weise in Italienbilder gehört. 1832 kommen sechs weitere Italienansichten, darunter der „Nachmittag auf Capri“ (Abb. 5) und die „Villa d’Este“ zur Akademieausstellung, und die Kritik wird heftiger. In der von Franz Kugler herausgegebenen Zeitschrift Museum. Blätter für bildende Kunst heißt es: Dieser Nachmittag auf Capri, der vor lauter Sonnenhelle undeutlich, bei aller Simplizität der Massen zerbröckelt, bei aller Eintönigkeit schreiend ist – […] – dies ist kein seelenvolles Angesicht der Natur und will es nicht sein; sondern seine Züge verhalten sich zu diesem wie die eines Hirnverbrannten zum gesunden Menschengesicht. […] Und wenn unsereinem, der nie, weder vor- noch nachmittags, auf Capri war, das Ganze eher wie eine mit trübroten und bläulichen Ingredienzien angelaufene Lauge als wie ein Bild vorkommt: so kann es doch ganz wahr […] sein.13
Statt einem „seelenvollem Angesicht der Natur“, wie man es bei Capri erwarten könnte, zeigt die überstrahlte, heißweiße, undeutlich flimmernde Szene eine für viele Betrachter des Bildes unerträgliche Distanzlosigkeit. Und statt reinem Wohlgefühl italienischer Landschaft entsteht so die unentrinnbare Empfindung einer fast schmerzhaften Mittagshitze. Diese Präsenz der Wahrnehmung, die übertragene Empfindlichkeit wird vom Betrachter selbst körperlich wahrgenommen, wie die Kritik am Gemälde der „Villa d’Este“ (Abb. 6) zeigt:
12Ebd. 13Über
das Leben der Kunst in der Zeit, aus Veranlassung der Berliner Kunstausstellung im Herbst 1832. Landschaft. In: Museum, Blätter für bildende Kunst 1/6 (1833), zit. nach Rave (wie Anm. 6), S. 30–32, 31.
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Abb. 5 Carl Blechen, Nachmittag auf Capri, um 1832, Öl auf Leinwand, 90 × 130 cm, Wien, Österreichische Galerie im Oberen Belvedere (Rave 1023) Auch hier wird das Auge beohrfeigt, erkennt aber nach dem ersten Schrecken einen hochgezogenen Baumgang und daran aufwärts in steiler Perspektive Terrassen und Schloß, am Fuß dichtstäubende Springbrunnen […]. Das zwischen den Baumdecken hereinscheinende Licht skalpiert gleichsam die langen Stämme und schlitzt den Boden, grelle Streifen fahren hin, schiefe Schattenzacken dazwischen.14
Es ist also zunächst ein „Schrecken“ – eine plötzliche, heftige Empfindung –, die den Kritiker beim Betrachten Blechen’scher Kunst befällt. Erst nach und nach stellt sich der Betrachter dann mithilfe des Erkennens von Objekten die stabile Welt wieder her, wenn er das möchte, und der Kritiker möchte das unbedingt. Das Einschreiben der eigenen Person in das Bild, der Fokus auf die Welt als eine empfundene und damit unsichere, erscheint für Blechen selbst wie eine Befreiung. Für viele Zeitgenossen ist es eine Zumutung, für andere eine Offenbarung.15 Für die Kunst ist es ein Paradigmenwechsel.
14Ebd. 15So
kaufte etwa Bettine von Arnim, auch eine Person mit starken Empfindungen, den „Nachmittag auf Capri“.
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Abb. 6 Carl Blechen, Park der Villa d’Este in Tivoli, um 1832, Öl auf Leinwand, 126 × 93 cm, Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg, GK I 4210 (Rave 869), Fotograf: Wolfgang Pfauder
Der Wahrheit der Empfindung den Vorrang vor der Wahrheit der Dinge zu geben, dem Wandelbaren den Vorrang vor dem Festen und die Grenzen zwischen Person und Welt aufzulösen, dies macht zu jener Zeit kein Maler außer Blechen. Einer jedoch, der ihm in dieser Weise nahekommt, der ein ähnliches Erdbeben der Überempfindlichkeit thematisiert, ist in dieser Zeit Georg Büchner.
2 Büchners überempfindliche Gestalten Auch für Büchners Protagonisten, vor allem für Lenz und Woyzeck, ist die festgefügte Welt kein Referenzraum mehr. Sie verliert ihren Zusammenhalt, zerfällt und wird in der Wahrnehmung der jeweiligen Person, allein durch deren Empfinden neu zusammengesetzt, wenn auch nicht neu geordnet. Die Wahrnehmung der Welt als etwas, auf das die überempfindlichen Sinne sozusagen gestaltenden, schöpferischen Einfluss haben, bestimmt etwa die Eingangspassage des Lenz:
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Den 20. ging Lenz durch’s Gebirg. Die Gipfel und hohen Bergflächen im Schnee, die Thäler hinunter graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen. Es war naßkalt, das Wasser rieselte die Felsen hinunter und sprang über den Weg. Die Äste der Tannen hingen schwer herab in die feuchte Luft. Am Himmel zogen graue Wolken (MBA 5, S. 31).16
Der Text beginnt mit einer Bildbeschreibung, mit dem Sehen, dem dann das Fühlen zugegeben wird, es ist kalt, nass und feucht. Dann plötzlich gehen Bild und Empfindung auseinander, etwas ist nicht angemessen, verhält sich übersensibel, über den ihm zugeordneten Sinn hinaus: aber Alles so dicht, und dann dampfte der Nebel herauf und strich schwer und feucht durch das Gesträuch, so träg, so plump. (MBA 5, S. 31)
Dies sind Attribute, die eher auf eine Person als auf Nebel passen. Schließlich tritt die Figur ins Bild, und man begreift, durch wessen Empfindung wir die Szene wahrnehmen und dass diese Empfindung ungefiltert und leicht aus der Norm gefallen wiedergegeben wird: Er ging gleichgültig weiter, es lag ihm nichts am Weg, bald auf- bald abwärts. Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehn konnte. Anfangs drängte es ihm in der Brust, wenn das Gestein so wegsprang, der graue Wald sich unter ihm schüttelte, und der Nebel die Formen bald verschlang, bald die gewaltigen Glieder halb enthüllte; es drängte in ihm, er suchte nach etwas, wie nach verlornen Träumen, aber er fand nichts. Es war ihm alles so klein, so nahe, so naß, er hätte die Erde hinter den Ofen setzen mögen, er begriff nicht, daß er so viel Zeit brauchte, um einen Abhang hinunter zu klimmen, einen fernen Punkt zu erreichen; er meinte, er müsse Alles mit ein Paar Schritten ausmessen können. (MBA 5, S. 31)
Lenz betrachtet die Umgebung nicht. Er erfühlt sie. Das rutschende Gestein bedrängt seine Brust, Wald und Nebel sind sich schüttelnde, verschlingende, enthüllende Wesen, haben menschliche Fähigkeiten. Formen, Größen und Distanzen gehorchen keinem regulären Maß, sondern ändern sich allein durch die Empfindung des Wanderers. Wie Blechen lässt Büchner den Rezipienten seines Werkes an der Auflösung der scheinbar stabilen Grenze zwischen Körper und Welt teilhaben. Es gibt keine festen Parameter mehr. Das kann verstörend sein, kann sich aber auch ins Überwältigende, Rauschhafte wenden: Nur manchmal, wenn der Sturm das Gewölk in die Thäler warf, und es den Wald herauf dampfte, und die Stimmen an den Felsen wach wurden, bald wie fern verhallende Donner, und dann gewaltig heran brausten, in Tönen, als wollten sie in ihrem wilden Jubel die Erde besingen, und die Wolken wie wilde wiehernde Rosse heransprengten,
16Textstellen
von Büchner werden hier und im Folgenden zit. nach der Marburger Büchner Ausgabe (Darmstadt 2000–2013) unter der Sigle MBA. Die Nachweise erscheinen direkt im Text.
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und der Sonnenschein dazwischen durchging und kam und sein blitzendes Schwert an den Schneeflächen zog, so daß ein helles, blendendes Licht über die Gipfel in die Thäler schnitt; […] riß es ihm in der Brust, er stand, keuchend, den Leib vorwärts gebogen, Augen und Mund weit offen, er meinte, er müsse den Sturm in sich ziehen, alles in sich fassen (MBA 5, S. 31).
Lenz’ Umgebung wirkt unmittelbar auf seinen Körper. Welt wird Wahrnehmung, und Büchner lässt den Leser diese über Lenz’ überempfindliche Sinne erleben. Auch Woyzecks Sinne sind überempfindlich, auch seine Wahrnehmung verlässt die Norm und erschafft eine subjektiv erlebte, ihm jedoch in der starken Empfindung ganz reale Welt, oder wie er sagt, „Natur“: Woyzeck […] Wenn die Welt so finster wird, daß man mit den Händen an ihr herumtappen muß, daß man meint sie verrinnt wie Spinnweb’[.] Das ist, so wenn etwas ist und doch nicht ist, Wenn alles dunkel ist und nur noch ein rother Schein im Westen, wie von einer Esse. Wenn (schreitet im Zimmer auf und ab) Doctor Kerl er tastet mit seinen Füßen herum, wie mit Spinnenfüßen. Woyzeck (steht ganz grad). Haben Sie schon die Ringe von den Schwämmen auf dem Boden gesehn, lange Linien, dann Kreise, Figuren, da steckt’s! da! Wer das lesen könnte. Wenn die Sonn im hellen Mittage steht und es ist als müsse die Welt auflodern, Hören sie nichts? (MBA 7.2, S. 16 f.)
Erweiterte Sinnenwahrnehmung ist, so zeigen Büchner und Blechen, überaus wirkmächtig. Sie lässt sich nicht abtun wie ein Phantasma, eine Erscheinung, die das Ich von außen erschreckt. Sie hat die Macht, die Welt aus den Fugen zu heben.
3 Blechen und Büchner Leibhaftigkeit in der Kunst, Distanzlosigkeit und die Auflösung der Grenze zwischen Körper und Welt: Wenn Büchner und Blechen, beide in eigener Manier und doch erstaunlich ähnlich, mit ihren Werken dem Publikum den Boden unter den Füßen wegziehen, so geschieht das nicht mehr durch Gruseleffekte oder Geistererscheinungen der Schauerromantik,17 sondern durch die Kategorie der Wahrnehmung, die die Macht hat, das Gegensatzpaar von Subjektivität und Objektivität implodieren zu lassen.18
17Vgl.
hierzu nochmals Oesterle: Verbale Präsenz und poetische Rücknahme des literarischen Schauers (wie Anm. 5). 18Zu dem Phänomen, dass etwas subjektiv Wahrgenommenes auch objektiv wahrgenommen wird, vgl. Werner Busch: Die autonome Ölskizze in der Landschaftsmalerei. Der wahr- und führ wahr genommene Ausschnitt aus Zeit und Raum. In: Pantheon 43 (1980), S. 127–133, hier S. 129.
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Blechen und Büchner wenden sich dem gleichen Phänomen zu: den blanken Nerven. Das Nervensystem der Barbe ist Büchners Dissertationsthema. Das Instrumentarium der Empfindung steckt im Körper. Es geht daher nicht mehr um Empfindsamkeit, sondern um Empfindlichkeit, nicht um eine Haltung, sondern um eine körperliche Disposition, und diese kann ein Vermögen und zuweilen auch eine Qual sein. Blechen mochte seine Überempfindlichkeit. Vielleicht ist es seine geradezu körperliche Verbindung mit den Bildern, die ihn diese wie sich selbst verteidigen ließ. Als 1830 der Preis für ein Werk gedrückt wurde, schreibt er tief verletzt in einem „Brief an den Vorsitzenden des Vereins der Kunstfreunde im Preußischen Staate“: Ist es möglich, frage ich, wie kommt es, daß ich für das Bewußtsein, Gottes Natur erkannt und empfunden zu haben – und ich hoffe es besser empfunden zu haben als gewiß manche andere meines Berufs – […] und mich nun ganz erschöpft habe, daß ich dafür die Kränkung haben muß, mit einer kleinen gekürzten Summe, zum Spott aller Kollegen und Unkundigen in den öffentlichen Verhandlungen hinterdrein geduckt zu werden! […] Und ist denn das rechte Herz, das warme Blut und der Geist in der Kunst eine so unbedeutende Sache, daß dem gar nichts zuteil wird, der davon in seinen Werken mitteilt – wenn bei andern nur Geistesschwächen und Gefühllosigkeiten durchschauen?19
Natürlich besteht ein Unterschied zwischen Büchner und Blechen. Blechens Kunst offenbart die übergroße Empfindlichkeit, die eigene gesteigerte Wahrnehmungsgabe des Künstlers. Büchner verlegt diese in seine Figuren. Damit operieren Blechen und Büchner auf zwei unterschiedlichen Ebenen. Die Wirkung beim Rezipienten ist jedoch die Gleiche, beide beherrschten die reine Schilderung von Wahrnehmung meisterlich. Und noch ein Unterschied: Im Lenz, ebenso wie im Woyzeck, ist das Empfindungsvermögen der Protagonisten ins Schmerzhafte, ins Krankhafte übersteigert. Doch ist die Wahrnehmung, so überreizt sie ist, doch immer an den eigenen Körper gebunden, es sind keine Phänomene außerhalb des eigenen Ich – was die ganze Sache eher schlimmer, unentrinnbarer macht. Wenn es kein abmilderndes Mittel mehr gibt, ein Aufgehoben-Sein in der Gesellschaft etwa, kann der Körper mit seiner Empfindlichkeit den Menschen wahnsinnig machen. Lenz und Woyzeck sind in ihrer Überempfindlichkeit krank. Auch Blechen ist nicht gesund. Es gibt einige Theorien zu seiner „Seelenstörung“, die hier nicht diskutiert werden sollen. Bemerkenswert scheint aber, dass Büchner mit dem überempfindenden Lenz einen Künstler schildert und damit einen mit einer besonderen Fähigkeit begabten Menschen. Die Fähigkeit überstarker Wahrnehmung ist in diesem Künstler angelegt und zugleich eine Gefahr für ihn. Ausgelöscht wird der Künstler aber erst, wenn er nicht mehr empfindet.
19Blechen
an Beuth am 22. November 1830, zit. nach Rave: Karl Blechen (wie Anm. 6), S. 23 f.
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Abb. 7 Carl Blechen, Küste bei Neapel, 1829, Graphit, 20,3 × 29,5 cm, Berlin, Akademie der Künste, Kunstsammlung, Inv.-Nr.: Blechen 61 (Rave 1198)
Wichtig bleibt auch: Blechens grandiose Zeichnungen sind niemals rein physiologische Schilderungen, niemals einfach Netzhautbilder, die er aufs Papier überträgt. Blechen hat neben seiner überfeinerten Wahrnehmungsfähigkeit ein ausgeprägtes, gründliches Verständnis für künstlerische Prämissen. Selbst die zartesten Skizzen, die nicht viel mehr zeigen als den Horizont, den Vesuv und eine blühende Agave am Felsen (Abb. 7) sind von untrüglicher Sicherheit in Komposition und Balance. Blechen hält nicht einfach einen ephemeren Augenblick fest, sondern tut dies im Bewusstsein eines Kunstwerkes. Alles stimmt: die Proportionen, der Ausgleich von Hell- und Dunkel, die feinsten Abstufungen, der Einsatz der Kontraste, selbst die manchmal nicht naturalistisch nachzuvollziehende und dennoch vollkommen überzeugende Licht- und Schattenverteilung, die dem Betrachter vom eigenen Sehen her vertraut ist. Das reine, unkünstlerische Abbild einer Überempfindlichkeit wäre langweilig. Im Bild ebenso wie im Text.
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4 Zwei Schlüsse Er saß mit kalter Resignation im Wagen, wie sie das Thal hervor nach Westen fuhren. Es war ihm einerlei, wohin man ihn führte; mehrmals wo der Wagen bei dem schlechten Wege in Gefahr gerieth, blieb er ganz ruhig sitzen; er war vollkommen gleichgültig. In diesem Zustand legte er den Weg durch’s Gebirg zurück. Gegen Abend waren sie im Rheinthale. Sie entfernten sich allmählig vom Gebirg, das nun wie eine tiefblaue Krystallwelle sich in das Abendrot hob, und auf deren warmer Fluth die roten Strahlen des Abend spielten; über die Ebene hin am Flusse des Gebirges lag ein schimmerndes bläuliches Gespinst. Es wurde finster, jemehr sie sich Straßburg näherten; hoher Vollmond, alle fernen Gegenstände dunkel, nur der Berg neben bildete eine scharfe Linie, die Erde war wie ein goldner Pokal, über den schäumend die Goldwellen des Monds liefen. Lenz starrte ruhig hinaus, keine Ahnung, kein Drang. (MBA 5, S. 48 f.)
Am Ende von Büchners Fragment fährt Lenz durch eines der schönsten romantischen Landschaftsbilder, die man sich vorstellen kann. Alles wird aufgerufen: der Rhein, das Gebirge, der Kristall, die Flut, die Strahlen des Abendrots, und dann, im nächsten Bild, der Vollmond mit seinen Goldwellen. Die Bilder sind stimmig und poetisch. Sie passen genau, man glaubt, sie zu kennen, und schon darin zeigt sich, dass sie nicht mehr der Wahrnehmung des überempfindlichen Lenz entspringen können. Körper und Welt haben sich getrennt, heil hat ihn das nicht gemacht, im Gegenteil: Am folgenden Morgen bei trübem regnerischem Wetter traf er in Straßburg ein. Er schien ganz vernünftig, sprach mit den Leuten; er that Alles wie es die Andern thaten, es war aber eine entsetzliche Leere in ihm, er fühlte keine Angst mehr, kein Verlangen; sein Dasein war ihm eine notwendige Last. – – So lebte er hin. (MBA 5, S. 49)
Es gibt wohl keinen traurigeren Schluss als diesen. Vielleicht steht aber die letzte Zeichnung Blechens (Abb. 8) der so schlicht formulierten wie erschütternden Macht des Lenz-Schlusses nicht nach. Für Blechen entwirft niemand mehr ein idealtypisches Hintergrundbild. Seine letzte Zeichnung, entstanden in Horns Sanatorium, zeigt ein Haus. Fest umrissen die Wände, das Dach, die Fenster, die, wie so oft bei ihm, Augen gleichen.20 Eine Allee führt darauf zu. Eine Figur sitzt hier. Auf erstaunliche Weise ähnelt diese Zeichnung einem seiner berühmtesten Gemälde, der „Villa d’Este“ (Abb. 6), nun reduziert auf den Kontur der gesehenen Welt, ihrer Auflösung entgegenwirkend und damit auch ihrer überwältigenden Macht.
20Vgl.
hierzu nochmals Heck: Das zweite Bild im Bild (wie Anm. 4).
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Abb. 8 Carl Blechen, Wohnhaus mit Alleeweg, 1838, Sepia, 10,3 × 18,8 cm, Berlin, Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie, Sammlung der Zeichnungen (Rave 2183)
Die Schlichtheit der Anlage führt die ganze Welt auf einen einzigen, perspektivisch definierten Punkt zu, einen Endpunkt: ein Auge, das nur noch sieht und dieses Sehen nicht mehr weitergibt, ein Kürzel, ein Zeichen für die Welt, die er so überstark empfunden hat. So lebte auch Blechen noch zwei Jahre hin.
Ästhetische Eigenzeiten und romantische Inszenierungsräume Dynamiken der Beschleunigung und Entschleunigung in Büchners Woyzeck und Leonce und Lena Claudia Lillge
Das Rad an meines Vaters Mühle brauste und rauschte schon wieder recht lustig, der Schnee tröpfelte emsig vom Dache, die Sperlinge zwitscherten und tummelten sich dazwischen; ich saß auf der Türschwelle und wischte mir den Schlaf aus den Augen, mir war so recht wohl in dem warmen Sonnenscheine. Da trat der Vater aus dem Hause; er hatte schon seit Tagesanbruch in der Mühle rumort und die Schlafmütze schief auf dem Kopfe, der sagte zu mir: „Du Taugenichts! da sonnst du dich schon wider und dehnst und reckst dir die Knochen müde, und lässt mich alle Arbeit allein tun. Ich kann dich hier nicht länger füttern. Der Frühling ist vor der Türe, geh auch einmal in die Welt und erwirb Dir selber Dein Brot.“ – „Nun,“ sagte ich, „wenn ich ein Taugenichts bin, so ist’s gut, ich will in die Welt gehen und mein Glück machen.“1
Mit diesen Zeilen eröffnet Joseph von Eichendorff seine 1826 erschienene Erzählung Aus dem Leben eines Taugenichts, die bis heute ganz zweifellos zu den kanonischen Texten der deutschen Romantik zählt.2 Besieht man die Komposition dieser Exposition genauer, dann fällt sogleich ins Auge, dass Eichendorff seine Diegese mittels deutlicher Gegensatzpaare entwirft, und zwar solcher, die mitnichten ‚nur‘ eine einfache Begegnung zwischen Vater und Sohn inszenieren. 1Joseph von Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts/Der neue Troubadour. In: Ders.: Joseph von Eichendorff. Werke in fünf Bänden. Hrsg. von Wolfgang Frühwald, Brigitte Schillbach, Hartwig Schultz. Bd. 2: Ahnung und Gegenwart, Erzählungen. Hrsg. von Wolfgang Frühwald, Brigitte Schillbach. Berlin 1985, S. 445–561, hier S. 446. 2Diesem Beitrag liegt ein europäisch orientiertes, heterogenes Romantik-Verständnis zugrunde, wie es Roland Borgards in der Einleitung zu diesem Band entwirft: Romantik wird hier aus ihrem relationalen Verhältnis zu Aufklärung und Moderne sowie zu Klassizismus und Vormärz heraus verstanden, sprich: als ein Prozess, in dem sich die „Aufklärung auf eine spezifische, von anderen Verfahren zu unterscheidende Art zur Moderne“ transformiert.
C. Lillge (*) Institut für Deutsche Literatur und ihre Didaktik, Universität Frankfurt, Frankfurt a. M., Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 R. Borgards und B. Dedner (Hrsg.), Georg Büchner und die Romantik, Abhandlungen zur Literaturwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05100-4_10
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Vielmehr treffen eklatant divergente Lebenssphären aufeinander: Der brausenden, rauschenden, von Wasser betriebenen Mühle ist die sonnenbeschienene Türschwelle des Hauses entgegengesetzt, die als wohlig warmer Rückzugsort für einen Tagschlaf dient.3 Diesen Räumen wiederum korrespondiert ein Figurenpersonal, das ebenfalls Gegenpole markiert: So ist die Mühle das Refugium des Vaters, der eine Verkörperung des tätigen Menschen und „rastlosen Wenigschläfers“ darstellt.4 Die zum Rasten und Ruhen verführende Türschwelle des Hauses hingegen hält sein schläfrig-müder Sohn besetzt, dessen habitualisierte Saumseligkeit ihm längst den Ruf eines Taugenichts eingebracht hat und der daher in der Sphäre der Arbeit nicht mehr „geduldet“ respektive unverzüglich „exiliert“ wird.5 Vita activa und vita passiva entfalten sich in Eichendorffs Eingangstableau demnach nicht nur als binäre, sondern zugleich als höchst konfliktäre Ordnung, die, wie bereits vielfach betont wurde, ein regelrechtes ‚Lieblingsthema‘ romantischer Autoren ist.6 Gemeint ist die Opposition von ‚Arbeit und Nicht-Arbeit‘, genauer: von ‚Arbeit und Müßiggang‘.
1 Arbeit und Müßiggang in der Romantik Dass Arbeit und Müßiggang zu einem romantischen Lieblingsthema avancierten, erklärt sich wesentlich mit Blick auf den sozialgeschichtlichen Kontext. Schließlich ist die Zeit von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts für die Entwicklung des modernen Arbeitsbegriffs von außerordentlicher Relevanz.7 Literatur und Künste der Romantik bringen in diesen Prozess spezifische Anregungen und Impulse ein, und zwar insbesondere deshalb, weil sie sich nicht auf die von der Aufklärung etablierte Gegenüberstellung von positiv bewerteter Arbeit und negativ bewertetem Müßiggang reduzieren lassen, sondern häufig
3Zu
Eichendorffs ‚schläfrigen‘ Helden und ihrer Vorliebe für den Tagschlaf vgl. u. a. Vf.: Über die Mittagsruhe. Alltagspolitik und ästhetische Eigenzeit bei William Wordsworth, Joseph von Eichendorff und Gustave Courbet. In: Vf., Thorsten Unger, Björn Weyand (Hrsg.): Arbeit und Müßiggang in der Romantik. Paderborn 2017, S. 285–303, sowie Otto Eberhardt: Eichendorffs Taugenichts: Quellen und Bedeutungshintergrund. Untersuchungen zum poetischen Verfahren Eichendorffs. Würzburg 2000, S. 132. 4Barbara Neumann: Editorial. In: Figurationen 1, Sonderheft: Müdigkeit/Fatigue (2013), http:// www.figurationen.ch/hefte/muedigkeit-fatigue/editorial-2/ (Zugriff: 15.03.2019). 5Leonhard Fuest: Poetik des Nicht(s)tuns. Verweigerungsstrategien in der Literatur seit 1800. München 2008, S. 59. 6Zu denken wäre u. a. an Friedrich Schlegels Idylle über den Müßiggang (1799), E. T.A. Hofmanns Das Fräulein von Scuderi (1819/1821), Ludwig Tiecks Des Lebens Überfluß (1839), aber auch die Lyrik der britischen Romantiker William Wordsworth, z. B. Daffodils (1807) und John Keats, z. B. Ode on a Grecian Urn (1819/1820). 7Vgl. etwa Andrea Komlosy: Arbeit. Eine globalhistorische Perspektive: 13. bis 21. Jahrhundert. Wien 2014.
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gerade das ‚Andere‘ des tätigen Lebens – neben dem Müßiggang auch die Muße und Faulheit8 – aufwerten oder mit Überblendungen zwischen Arbeit und NichtArbeit operieren. Leonhard Fuest hat in diesem Zusammenhang beispielsweise nachdrücklich darauf hingewiesen, dass die Literatur der Romantik „teils melancholisch, teils aggressiv auf die ideologische Inthronisierung der Arbeit in der bürgerlichen Gesellschaft reagier[e]“, und sich speziell der „romantische Müßiggang“ häufig ausgesprochen „aggressi(v), asozia(l) und nutzlo(s)“, das heißt im unverkennbaren Modus einer Verweigerungshaltung zeige, die sich zumeist – subtil oder explizit, als Apologie oder Provokation – gegen arbeitsbezogene Normen und ökonomische Vernunft richte.9 Möchte man das Werk Georg Büchners ins Verhältnis zur Romantik setzen, lässt sich an diese Beobachtung anschließen. Denn Szenen von Arbeit und Müßiggang sind auch in Büchners Texten vielfach präsent und eignen sich, wie ich behaupten möchte, bestens dazu, um zu zeigen, wie Büchner ein in der Romantik vielfach bearbeitetes Thema sondiert und zugleich einem produktiven Akt von Aneignung und Abweichung unterzieht. Besonders lohnend erscheint es, auf Arbeit und Müßiggang dabei nicht allein als Kernpunkte des romantischen Themen- und Motivinventars zu blicken, sondern darüber hinaus auch die ästhetischen Verfahren in Augenschein zu nehmen, mittels derer diese Themen reflektiert und literarisch repräsentiert werden. Da speziell Zeit und Zeitökonomien mit Prozessen der Arbeit und Nicht-Arbeit zentral verbunden sind, setzen meine Überlegungen hier an und fokussieren nachfolgend ein zeitanalytisches Vorgehen, das konkret nach Dynamiken von Beschleunigung und Entschleunigung fragt.
2 Einige Vorüberlegungen zur Zeit und ihrer Darstellbarkeit Vergleicht man einschlägige soziologische Studien – etwa von E. P. Thompson (Time, Working-Discipline, and Industrial Capitalism, 1967), Paul Ricœur (Zeit und Erzählung, 1988) oder auch Barbara Adam (Das Diktat der Uhr. Zeitformen, Zeitkonflikte, Zeitperspektiven, 1995) –, dann ähneln sich diese in ihrem methodischen Vorgehen insofern, als sie in ihren Zeitanalysen immer wieder auf das Feld der Literatur ausgreifen. Adam konstatiert sogar ganz explizit, dass im Hinblick auf das Thema Zeit insbesondere die „Werke von Autoren“ und „Dichtern“
8Vgl. hier ergänzend den Begriffsapparat bei Leonhard Fuest: „[D]ie Muße [ist] als legitime Form der Nicht-Arbeit vom Müßiggang zu unterscheiden. Während der Müßiggang seit der Antike vor allem in seinen hedonistischen Ausprägungen als unmoralische Verschwendung von Zeit und Energie gilt, hat sich die Muße gehalten und etabliert als eine geistige, kontemplative und sogar moralische Tätigkeit. […] Faulheit und Müßiggang als Laster sind in ihrer Amoralität verwandt und der Muße wie der Arbeit entgegengesetzt. Der Müßiggänger aber ist agiler als der Faulenzer. Der Faulenzer ist, wie die Etymologie zeigt, der Fäulnis, und das bedeutet schließlich auch: dem Tod, dem Nichts näher.“ Fuest: Poetik des Nicht(s)tuns (wie Anm. 5), S. 18–22. 9Ebd., S. 36.
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zu befragen seien, da diese die Möglichkeit eröffneten, Zeit in ihrer Komplexität, sprich: in ihrer Multiplizität und Simultanität wahrzunehmen.10 Dass Literatur jedoch nicht nur als „zeitanalytische[s]“, sondern vor allem auch als ein „zeit-künstlerische[s]“ Medium zu gelten hat, ist spätestens seit Gotthold Ephraim Lessings Laokoon-Schrift (1766) hinreichend bekannt.11 Denn Literatur vermag, wie Kerstin Volland prägnant ausführt, Zeit in vielfältiger – etwa in „linear-progressiver, dimensionierter, zyklischer, mosaikartiger, vernetzender, simultaner“ oder auch „hochgradig individuelle[r], verstörende[r], gar pathologische[r]“ – Weise zu inszenieren.12 Jüngere literatur- und kulturwissenschaftliche Studien etablieren in diesem Zusammenhang derzeit den Begriff der „ästhetischen Eigenzeiten“.13 Dieser Begriff verweist, wie Michael Gamper und Helmut Hühn instruktiv ausführen, zunächst darauf, dass Zeit, als ein der „unmittelbaren Anschauung nicht zugängliches Phänomen“, der „Präsentation und Repräsentation bedarf, damit überhaupt ein Wissen von ihm entstehen kann.“ Ferner impliziert der Terminus, dass ästhetische Verfahrensweisen ein probates Mittel sind, um „Zeitlichkeit in ihrer kulturellen und historischen Vieldeutigkeit und Vielbestimmbarkeit erfahrbar“ zu machen und insofern eine geeignete Basis bieten, um über Zeit mitsamt ihren „kulturellen Wahrnehmungs- und Bewertungszusammenhängen“ zu reflektieren.14 Letzteres wiederum lässt sich auch für das Studium ganzer Epochen nutzbar machen, für die sich zum Beispiel „prägnant[e] Zeitformen“15 oder auch das spezifische Zusammenspiel von „hegemonialen Zeitordnungen“ und Eigenzeiten, im Sinne von „eigensinnigen Zeithandhabungen“, beschreiben lassen.16 In Anwendung auf die europäischen Romantiken ließe sich etwa sagen, dass mit der zunehmenden Etablierung des Industriekapitalismus im 18. und 19. Jahrhundert die artifiziell erstellte, das heißt die abstrakte Zeit (oder auch Uhrenzeit) zur primären Maßeinheit wurde. Letztere nämlich ermöglichte einen „wirtschaftlichen, sparsamen und disziplinierten Umgang mit der Zeit“ und ging zugleich „mit der klaren Trennung von Arbeit und Freizeit“ einher.17 Zeitgleich stand jene „industrielle Disziplin“, die mehr und mehr „in die Zeitgestaltung des Einzelnen“ einzugreifen begann und sich an der „individuellen Zeit“ des Menschen
10Barbara Adam: Das Diktat der Uhr. Zeitformen, Zeitkonflikte, Zeitperspektiven. Frankfurt a. M. 1995, S. 133. 11Vgl. Kerstin Volland: Zeitspieler. Inszenierungen des Temporalen bei Bergson, Deleuze und Lynch. Wiesbaden 2009, S. 13. 12Ebd., S. 29. 13Vgl. dazu Michael Gamper, Helmut Hühn: Was sind Ästhetische Eigenzeiten? Hannover 2014. 14Ebd., S. 11–12. 15Ebd., S. 13. 16Ebd., S. 25. 17Adam: Das Diktat der Uhr (wie Anm. 10), S. 124.
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„nährt[e]“,18 jedoch unter höchst kritischer Besichtigung. „Zahlreich“, pointiert u. a. der französische Philosoph Thierry Paquot, seien daher „die Revolten gegen diesen [Zeit-]Diebstahl“ gewesen, „der das Unvorhergesehene, das Ungeplante, die Überraschung“ abzuschaffen schien.19 Schauplatz dieser Revolten ist nicht zuletzt die Literatur, die sich im Zuge des frappanten ökonomischen und sozialen Wandels intensiv Zeitordnungen, Zeitformen und Zeiterleben zuwendet. Georg Büchner macht hier keine Ausnahme, was allein der ausgeprägte Facettenreichtum seiner künstlerischen Gestaltung und Auseinandersetzung mit dem Phänomen Zeit belegt. Über Zeit und Zeitformen in Büchners Werk nachzudenken, ist dementsprechend keinesfalls ein neues, wohl aber ein sich stetig aktualisierendes Thema der Büchner-Forschung.20 Roland Borgards bezeichnete jüngst Büchners Revolutionsdrama Danton’s Tod (1835) sogar als ein regelrechtes „ZeitDrama“,21 weil es mit auffallender Akzentuierung die Rede auf Zeit und Zeitformen bringe. Selbiges lässt sich vielleicht nicht in gleicher Art und Weise, wohl aber ebenso berechtigt von Woyzeck (1836) und Leonce und Lena (1836) sagen.
3 Der verhetzte Mensch: Woyzeck Betrachten wir jene Szene im Woyzeck, die im emendierten Text der Marburger Ausgabe unter H4,5 geführt wird, so entwirft bereits die Bühnenanweisung („Hauptmann auf einem Stuhl. Woyzeck rasirt ihn.“; MBA 7,2, S. 24)22 ein Bild der Arbeit, genauer einer Dienstleistung, die Woyzeck dem Hauptmann erbringt. Das Tempo, das heißt die Zeit, mit der sich Woyzeck in der erzählten Zeit des Stückes bewegt, legt die Figurenrede fest: „Langsam, Woyzeck, langsam“ (ebd.), lautet die Ermahnung des Hauptmanns, der Woyzeck zur Entschleunigung seines Tuns anhält. Denn Woyzeck, und dies macht ihn zu einem Arbeiter moderner couleur, arbeitet ganz offenkundig unter Zeitdruck. Bemerkenswerter Weise verkennt der Hauptmann insofern Woyzecks Eile, als er mit seiner Frage – „Was
18Thierry
Paquot: Die Kunst des Mittagsschlafs. Göttingen 2011, S. 31–35.
19Ebd. 20Siehe
etwa: Gustav Beckers: Georg Büchners Leonce und Lena. Ein Lustspiel der Langeweile. Heidelberg 1961; Peter Mosler: Georg Büchners Leonce und Lena. Langeweile als gesellschaftliche Bewußtseinsform. Bonn 1974; Daniela Bravin: Zeit und ihrer Nutzung im Werk Georg Büchners. Eine Untersuchung zeitgenössischer Quellen. Bielefeld 2013; Norbert Otto Eke: Büchner und die Zeit. In: Ariane Martin, Isabelle Stauffer (Hrsg.): Georg Büchner und das 19. Jahrhundert. Bielefeld 2012, S. 11–28 und Eva Horn: Gelangweilt und gehetzt. Zur politischen Ökonomie der Zeit bei Georg Büchner. In: Michael Gamper, Peter Schnyder (Hrsg.): Dramatische Eigenzeiten des Politischen im 18. und 19. Jahrhundert. Hannover 2017, S. 171–190. 21Roland Borgards: Geschichte zwischen Erdzeit und Organzeit. Eigenzeiten in Georg Büchners Danton’s Tod. In: Gamper, Schnyder: Dramatische Eigenzeiten (wie Anm. 20), S. 157–170, hier S. 157. 22Textstellen von Büchner werden hier und im Folgenden zit. nach der Marburger Büchner Ausgabe (Darmstadt 2000–2013) unter der Sigle MBA. Die Nachweise erscheinen direkt im Text.
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will Er denn mit der ungeheuren Zeit all anfangen?“ (ebd.) – das Gesetz der ökonomisierten Zeit nicht ins Kalkül nimmt, demzufolge derjenige, der eilt, keineswegs vordringlich Zeit, sondern im Wesentlichen Geld spart. „Time is Money“ pointierte bereits Benjamin Franklin im Jahr 1748 den Kern dieser ökonomischen Zeitauffassung.23 Etwas ausführlicher gefasst, besagt Franklins Leitsatz, dass in Arbeitsprozessen „nicht mehr die jeweilige Aufgabe, sondern der Wert der Zeit dominiert“.24 Infolgedessen wird Zeit als „Währung“, „Ware“, „Ressource“ und als „Tauschmittel“ angesehen, woraus resultiert, dass Zeit nicht „verbracht, sondern verbraucht wird.“25 Dass in arbeitsbezogenen Kontexten „Tempo und Schnelligkeit“ demzufolge rasch eine zunehmende „Wertschätzung“ erfahren sollten, liegt auf der Hand.26 Blickt man auf Arbeitswelten der Gegenwart, dann lässt sich in der Figur des Woyzeck, der gleich mehreren Arbeiten nachgehen muss (etwa als Soldat, Barbier, Stöckeschneider und wissenschaftliches Studienobjekt) die Präfiguration eines Arbeitertypus erkennen, der uns – Theo Elm spricht treffender Weise von einem Arbeiter mit „unterentlohnter Überbeschäftigung“27 – heutzutage keineswegs fremd ist. Schließlich arbeitet Woyzeck nicht nach oder mit der Uhr, sondern stets gegen die Uhr. Zeit, so lässt sich zusammenfassen, ist ihm geradezu enteignet. Dementsprechend finden wir im Text – gewissermaßen als verräterische Dingsymbole – auch immer nur Uhren erwähnt, die niemals Woyzeck, sondern stets einer anderen Person, meist von höherem Status und Stand, gehören: „[a]ber wenn ich ein Herr wär und hätt ein’ Hut und ein Uhr“ (MBA 7,2, S. 25), phantasiert Woyzeck einen Traum von einem besseren Leben, in dem er nicht nur ein Herr, sondern bezeichnender Weise auch ein Herr seiner Zeit wäre. Beides, gesellschaftliche Macht und Zeitsouveränität, bleiben Woyzeck indes vorenthalten. Denn er kann sich der Zeit nicht ermächtigen, er muss unweigerlich ihrem Diktat folgen und wird daher wiederholt als „verhetzt[er]“ Mensch deklariert (u. a. ebd.). Dabei hat sich das Tempo, mit dem Woyzeck seinen Arbeiten nachgeht, derart beschleunigt, dass wahlweise eine Gleichzeitigkeit oder ein Stillstand alles Tuns droht. „[E]in’s nach dem andern“ (ebd., S. 24), rät ihm deshalb der Hauptmann, der die Beschleunigung zu entschleunigen, das heißt fast erreichte Simultanität auf ein zeitliches Nacheinander zurückzuführen versucht. Vergleicht man nun die eingangs zitierte Exposition aus Eichendorffs Taugenichts mit jener Szene zwischen Hauptmann und Woyzeck, so zeigen sich sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterscheide: In beiden Szenen tritt eine familiäre
23Benjamin
Franklin: Advice to a Young Tradesman, Written by an Old One. In: George Fisher (Hrsg.): The American Instructor: or Young Man’s Best Companion. Philadelphia 1748, S. 375– 377, hier S. 375. 24Adam: Das Diktat der Uhr (wie Anm. 10), S. 124. 25Ebd. 26Ebd., S. 122. 27Theo Elm: Georg Büchner: Woyzeck. Zum Erlebnishorizont der Vormärzzeit. In: Dramen des 19. Jahrhunderts. Interpretationen. Stuttgart 1947, S. 141–171, hier S. 142.
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beziehungsweise berufliche Autoritätsfigur auf, die sich zeitpolitisch äußert. Während der Vater des Taugenichts zur Beschleunigung aufruft, ermahnt der Hauptmann zur Entschleunigung. Beide Figuren sind mit dem symbolischen Bild der Mühle verbunden, das im Fall von Eichendorff zunächst einmal ein Sinnbild alltäglichen Fleißes und steter Betriebsamkeit ist. Im Woyzeck hingegen gerinnt das Mühlrad zu einem Zeitmahlwerk, das zugleich einen Wandel von aufgabenorientierter Arbeit hin zu rein ökonomischer Arbeit markiert. „Woyzeck, ich kann kein Mühlrad mehr sehn, oder ich werd’ melancholisch“ (ebd., S. 25), klagt der Hauptmann, der ähnlich wie Leonce an Langeweile, sprich: an einem Überfluss an Zeit leidet und daher kein Bedürfnis verspürt, das Mühlrad der Arbeit weiter zu beschleunigen, um dadurch einzig noch mehr Zeit für noch mehr Arbeit zu erwirtschaften. Vielmehr steht dem Hauptmann der Sinn nach „Beschäftigung“ (ebd., S. 24), worunter, bemüht man Jacob und Wilhelm Grimms Deutsches Wörterbuch, indes eher eine „edle“ Form der Tätigkeit zu verstehen ist, die „nie ermattet“.28 Eine solche freilich kann helfen, die „Ewigkeit“ (ebd.), die dem Hauptmann größte Angst und Sorge einflößt, zu strukturieren. Zugleich kann sie ein Heilmittel gegen Langeweile sein. Woyzeck jedoch hat nicht zu viel, sondern zu wenig Zeit, vor allem aber hat er Arbeit, und zwar nicht im Sinne von ‚edler Beschäftigung‘, sondern von Mühe, die ermattet, erschöpft und auslaugt. Eva Horn betont, dass Büchner, dass „Politische vom Körper her [denkt].“29 Dies gilt auch für seine Zeitpolitik. Denn Woyzeck, der eilig arbeitet und über Straßen rennt, erscheint nicht nur als ein beschleunigter Körper im Raum, sondern läuft – wie sein u. a. der Erbsendiät geschuldeter, harter, hüpfender Puls verrät – mitsamt seinem Körperkreislauf, quasi maschinengleich, auf Hochtouren. In Eichendorffs und auch Büchners Text ist folglich eine Zeitdiagnose erkennbar, die um die Enteignung individueller Zeit und die Beschleunigung des individuellen Lebenswandels weiß. Während Eichendorff diesen Zeitdiebstahl mit der Konzeption der Figur eines Taugenichtses konterte, der sich fortwährend einfach jedweder Arbeit entpflichtet oder aber im Angesicht von Arbeit meist geradezu befallsartig von Müdigkeit ergriffen wird, zeichnet Büchner das Porträt eines verhetzten Menschen, dessen beschleunigte Bewegung kein Telos, sprich: der wie der sprichwörtliche ‚Hamster im Rad‘ keinen Anfang und kein Ende mehr findet. Kyung-Ho Cha nennt Woyzeck daher mit einiger Berechtigung einen der ersten „arbeitsgestressten Menschen“, der die Bühne der deutschen Literatur betritt.30
28Jacob
und Wilhelm Grimm: Beschäftigung. In: Dies.: Deutsches Wörterbuch. Bd. 1: A – Biermolke. Leipzig 1854, Sp. 1544. 29Horn: Gelangweilt und gehetzt (wie Anm. 20), S. 171. 30Kyung-Ho Cha: Die literarische Phänomenologie der Arbeit. Zur Typologie der Arbeit in Georg Büchners Leonce und Lena, Dantons Tod und Woyzeck. In: Judith Ellenbürger, Hans-Joachim Schott (Hrsg.): Arbeit und Natur. Reflexionen in Literatur und Medien. Würzburg 2016, S. 67–91, hier S. 69.
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4 Der gelangweilte Mensch: Leonce und Lena Ein häufig formuliertes Verständnis von Arbeit ist an eine Arbeitsdefinition ex negativo gebunden. Demzufolge gilt als Arbeit schlicht all das, was nicht in den Bereich von Nicht-Arbeit fällt. Im Hinblick auf jenen Themen- und Wertekomplex der Nicht-Arbeit (darunter fallen z. B. Spiel, Arbeitslosigkeit, Verweigerung, Faulheit, Muße und Müßiggang) haben speziell die Literaturen der europäischen Romantik eine ganze Reihe ausgesprochen heterogener Sichtweisen und Perspektiven eingebracht. Den vermeintlichen „Traum vom Nichtstun“ zum Beispiel konstruieren,31 konsolidieren und dekonstruieren sie gleichermaßen; Letzteres insofern, als sie u. a. herausstellen, dass das Nichtstun auf sehr unterschiedliche Weise erfahren und empfunden werden kann. So verliert das sprichwörtliche dolce far niente (‚das süße Nichtstun‘) leicht seinen wohlgelittenen Geschmack, wenn es mit Langweile, Melancholie oder sozialer Exklusion einhergeht. Zugleich entwerfen die Literaturen dieser Zeit ein breites Spektrum an Figuren – wie zum Beispiel Faulenzer, Müßiggänger, Taugenichtse, Mittagsschläfer und Wanderer –, die der Arbeitswelt nicht eben selten mit provokativem Gestus gegenübergestellt werden und auf diese Weise deren Hegemonie konterkarieren. Denn bei allen Unterschieden, die diese Figuren kennzeichnen, hätten sie nach Ansicht Gabriele Stumpps gemeinsam, dass „sie frei über ihre Zeit verfügen“ können, „und ihr Tun und Lassen reiner Selbstzweck“ sei.32 Aus diesem Umstand wiederum erkläre sich ihr „schlechter Ruf“, wobei „gerade die Schärfe der Kritik die Anziehungskraft der inkriminierten (beanstandeten) Lebensnorm“ umso stärker hervortreten lasse.33 Formen des Nichtstuns, so spitzt es Manfred Koch in einer pointierten Behauptung zu, können zumal in einer Arbeitsgesellschaft, aber auch „als Drohung und Stachel fungier[en]“; schließlich unterliefen sie die stets präsente „Aufforderung an jeden Bürger, seine Existenz durch anerkannte Tätigkeit zu legitimieren.“34 Eichendorffs eingangs zitierter Taugenichts-Text entwirft beispielsweise einen solchen Agenten des ‚Anderen der Arbeit‘, aber auch Tiecks Des Lebens Überfluss (1839) konfrontiert uns mit zwei erklärten ‚Leistungsverweigerern‘, die, um nicht arbeiten gehen zu müssen, lieber die Treppe zu ihrer im ersten Stock gelegenen Wohnung verfeuern und sich eine Insel der Muße und des Müßiggangs schaffen. Müßiggang, an dem gelitten wird, zeigt sich dagegen häufig gepaart mit dem Zeiterleben der Langeweile. Büchners Leonce und Lena etwa konfrontiert uns
31Vgl.
Manfred Koch: Faulheit. Eine schwierige Disziplin. Springe 2012, S. 9. Stumpp: Müßiggang als Provokation. In: Wolfgang Asholt, Walter Fähnders (Hrsg.): Arbeit und Müßiggang 1789–1914. Dokumente und Analysen. Frankfurt a. M. 1991, S. 181–190, hier S. 181. 33Ebd. 34Koch: Faulheit (wie Anm. 31), S. 60. 32Gabriele
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mit müßiggängerischen Figuren in diesem Sinne, die sich explizit mit L angeweile auseinanderzusetzen haben. So wird uns Leonce gleich im ersten Akt als ein „Hel[d] der Horizontale“ vorgestellt,35 der, so heißt es in der Bühnenanweisung, „halb ruhend auf einer Bank“ liegt (MBA 6, S. 99). Während sein Körper ruht, könnte sein Geist indes kaum mobiler sein, denn er reflektiert ausführlich über das Verhältnis von Müßiggang und Langeweile. Leonce: […] Es krassiert ein entsetzlicher Müßiggang. – Müßiggang ist aller Laster Anfang. Was die Leute nicht Alles aus Langeweile treiben! Sie studiren aus Langeweile, sie beten aus Langeweile, sie verlieben, verheirathen und vermehren sich aus Langeweile, und sterben endlich aus Langeweile, und – und das ist der Humor davon – Alles mit den wichtigsten Gesichtern, ohne zu merken, warum, und meinen Gott weiß was dazu. Alle diese Helden, diese Genies, diese Dummköpfe, diese Heiligen, diese Sünder, diese Familienväter sind im Grunde nichts als raffinierte Müßiggänger. (ebd., S. 100)
Wie Hauff in seinem im Musenalmanach auf das Jahr 1828 datierten romantischen Kunstmärchen Das kalte Herz greift auch Büchner in dieser Figurenrede auf das Sprichwort „Müßiggang ist aller Laster Anfang“ zurück,36 dem er im Gegensatz zu seiner Verwendung bei Hauff allerdings die moralisch-didaktische Note nimmt. Während das Sprichwort in Hauffs Diegese so eingelassen ist, dass es als Aufforderung zur Arbeit verstanden werden muss, legt Büchner Leonce die Worte so in den Mund, dass das gleiche Sprichwort eine andere Wendung erhält: Arbeit soll hier nicht mehr Laster, sondern Langeweile verhindern; überhaupt, so Leonces Überlegung, diene jede Tätigkeit der Menschheit einzig dazu, um sich der Langeweile zu entledigen. Was aber macht die Langeweile derart bedrohlich? Rüdiger Safranski resümiert in seinem Zeit-Buch wie folgt: „Die Langeweile wird […] als ein Leiden unter der Herrschaft […] einer Zeit [verstanden], die nicht als schöpferisch, sondern als entleerend erlebt wird“,37 und die, so ließe sich mit William James ergänzen, einen Zustand meint, der immer dann auftritt, wenn wir aufgrund der relativen Leere des Inhalts einer Zeitspanne auf das Vergehen der Zeit selbst aufmerksam werden.38 Es gehört zweifellos zu den komisch-ironischen Wendungen der Kommunikation zwischen Leonce und Valerio, den Müßiggang aber nicht nur mit dem Leiden an Langeweile zu verbinden, sondern ihn auch in einen Kontext von Arbeit zu stellen. Valerio (mit Würde): Herr, ich hab die große Beschäftigung, müßig zu gehen, ich hab eine ungemeine Fertigkeit im Nichtsthun; ich besitze eine ungeheure Ausdauer in der
35Ebd.,
S. 119. Hauff: Das kalte Herz. Ein Märchen. In: Ders.: Wilhelm Hauff. Sämtliche Werke. Bd. 2: Märchen, Novellen. München 1970, S. 215–236, hier: S. 230. 37Rüdiger Safranski: Zeit. Was sie mit uns macht und was wir mit ihr machen. München 2015, S. 31. 38Vgl. William James: The Perception of Time. In: Journal of Speculative Philosophy 20/4 (1886), S. 374–404. 36Wilhelm
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Faulheit. Keine Schwiele schändet meine Hände, der Boden hat noch keinen Tropfen von meiner Stirne getrunken, ich bin noch Jungfrau in der Arbeit, und wenn es mir nicht der Mühe nicht zu viel wäre, würde ich mir die Mühe nehmen, Ihnen diese Verdienste weitläufiger auseinanderzusetzen. (MBA 6, S. 102)
In einer Verblendung von vita activa und vita passiva wird Müßiggang hier als eine Form von Beschäftigung und Fertigkeit beschrieben, die an die in Friedrich Schlegels Roman Lucinde eingelassene „Idylle über den Müßiggang“ (1799) denken lässt, in der „das Studium des Müßiggangs“ ebenfalls nicht nur „zur Kunst“, „Wissenschaft“ und „Religion“ erhoben werden soll,39 sondern gerade die bis zur Passivität entschleunigte Lebensweise und Nichtarbeit – mit ironischer Pointe – die wirkliche bzw. produktivere Arbeit sei. Jedoch nicht nur Vorstellungen von Zeit verändern sich in den Romantiken. Speziell in Verbindung mit den Phänomenen Arbeit und Müßiggang prägen sich auch besondere Raumkonzepte und Topographien aus. Den Städten als Räumen der Arbeit und Betriebsamkeit werden zum Beispiel Räume der Muße und des Müßiggangs entgegengesetzt, die vorzugsweise in der Natur angesiedelt sind. Indes bieten sich die Semantisierungen dieser Topographien als weitaus vielschichtiger dar, als es eine schlichte Gegenüberstellung von Stadt und Land zunächst vermuten lässt: Gerade der Wald, als einer der refugialen Räume der Romantik par excellence, erweist sich beispielsweise als ein Ort, an dem auch gearbeitet wird, sei es von Jägern, sei es von Holzfällern.40 In Büchners Leonce und Lena begegnen uns ebenfalls in romantischer Tradition Naturräume, wie in der eben beschriebenen Gartenszene. Diese entwirft Büchner indes als sogenannten Chronotopos, sprich: als einen Raum, der Zeit- in Raumverhältnisse transportiert respektive in dem der Raum zur temporalen Modelliermasse wird.41 So beklagt Leonce etwa: „Daß die Wolken schon seit drei Wochen von Westen nach Osten ziehen. Es macht mich ganz melancholisch.“ (MBA 6, S. 100) Und wenig später heißt es: „Die Bienen sitzen so träg an den Blumen, und der Sonnenschein liegt so faul auf dem Boden.“ (ebd.) Der Naturraum wird hier folglich nicht (oder nicht nur) als ein Refugium entworfen, in den sich das Individuum zurückzieht, um Muße oder Müßiggang nachzugehen. Der Raum, so lässt sich
39Vgl.
Friedrich Schlegel: Idylle über den Müssiggang. In: Ders.: Kritische FriedrichSchlegel-Ausgabe. Hrsg. von Ernst Behler. Band: 5/1. Abteilung: Dichtungen, S. 25–29, hier S. 27. Vgl. in diesem Kontext auch: Gustav Beckers: Die Apotheose schöpferischen Müssiggangs in Friedrich Schlegels Lucinde in ihrer Beziehung zu Georg Büchners Leonce und Lena und Kirkegaard. In: Ders.: Versuche zur dichterischen Schaffensweise deutscher Romantiker (Ludwig Tieck, Friedrich Schlegel, Clemens Brentano). Aarhus 1961, S. 18–28. 40Vgl. etwa Erhard Schütz: Romantische Waldarbeit. In: Vf., Unger, Weyand: Arbeit und Müßiggang in der Romantik (wie Anm. 3), S. 329–344. 41Zum Begriff des Chronotopos vgl. zunächst: Michail M. Bachtin: Chronotopos. Frankfurt a. M. 2008, und zur Bedeutung der Chronotopos-Analyse im Forschungsfeld der ‚ästhetischen Eigenzeiten‘: Gamper, Hühn: Was sind Ästhetische Eigenzeiten? (wie Anm. 13), S. 47–49.
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zuspitzen, ist selbst müßiggängerisch: Der Wolkenzug repetiert das immer Gleiche und liefert daher ein Bild der Langeweile. Bienen, die eigentlich ob ihres Fleißes bekannte Tiere sind, werden zu trägen Zeitgenossen umgeschrieben, und die stete Strahlkraft der Sonne wird als Faulheit deklariert.
5 Büchners Wissen von der Zeit „Jedes Wissen von Zeit“, schreiben Michael Gamper und Helmut Hühn, „ist an eine Zeitlichkeit dieses Wissens und an eine Zeitlichkeit seiner Darstellung gebunden, und jede Darstellung produziert durch ihre Zeitlichkeit ein Wissen von Zeit.“42 Büchner teilte mit den Autoren der Romantiken das Wissen um eine sich beschleunigende Zeit. Um eben diese Zeit zur Darstellung zu bringen und gleichzeitig kritisch über sie zu reflektieren, schöpfte er aus der Vielfalt romantischer Darstellungsformen von Zeit. Er differenzierte Eigenzeiten etwa von Arbeit und Müßiggang, und er entwarf Figuren und Chronotopoi, die auf den ersten Blick so aussehen, als seien sie romantischer Provenienz. Allein durch Überzeichnung und Persiflage entsteht jedoch nicht nur eine Distanz, sondern auch der Eindruck, als würde Büchner dem zeitpolitischen Gestus der Romantiker mit ihren sich entpflichtenden Müßiggängern und Taugenichtsen nicht recht zutrauen, dem Transformationsprozess in die Moderne mit ihren spezifischen Zeitdynamiken gerecht zu werden und diesen zu begleiten. Büchners Leonce beispielsweise, der „alle Uhren zerschlagen, alle Kalender“ verbieten lassen will (MBA 6, 124), ironisiert sehr deutlich das Bild des romantischen Müßiggängers, da er aufzuhalten versucht, was längst nicht mehr aufzuhalten ist. Mit Woyzeck als ‚verhetztem‘ Menschen hingegen, entwirft Büchner auch unter zeitpolitischen Aspekten eine Figur, die den Schritt hin zur Moderne und bis in die Gegenwart – man muss wohl sagen leider – bestens überstanden hat. Schon Woyzeck leidet unter Zeitdruck, ganz wie die „erschöpften Leistungsobjekte“ unserer Zeit. Ihnen ist, wie der Gegenwartsphilosoph Byung-Chul Han prognostiziert, die Erholung „nicht das Andere der Arbeit, sondern deren Produkt“ und die „Entschleunigung“ – die Pause, die Muße, der Müßiggang – lediglich „eine Folge, ein Reflex der beschleunigten Arbeitszeit“, denn sie „verlangsamt nur die Arbeitszeit, statt diese in eine andere Zeit zu verwandeln.“43
42Ebd.,
S. 15.
43Byung-Chul
Han: Im Schwarm. Ansichten des Digitalen. Berlin 2013, S. 48–49.
Vorbeiziehende Wolken Georg Büchner, Melancholie und Romantik Martina Wernli
Die folgenden Überlegungen kreisen um eine Aussage von Leonce aus der ersten Szene des ersten Aktes in Georg Büchners Leonce und Lena (1836).1 Leonce sagt dort: „Daß die Wolken schon seit drei Wochen von Westen nach Osten ziehen. Es macht mich ganz melancholisch.“2 Und der Hofmeister, der diese Äußerung hört, verdoppelt die Aussage, wenn er antwortet: „Eine sehr gegründete Melancholie.“ (MBA 6, S. 53). Der Kommentar der Marburger Büchner-Ausgabe stellt dieses Zitat in eine Verbindung mit einer Passage aus Goethes Dichtung und Wahrheit. Darin wird ein Gärtner zitiert, der „mit Verdruß ausrief: soll ich denn immer diese Regenwolken von Abend gegen Morgen ziehen sehn!“3 Die strukturelle Parallele von Abend/ Westen und Morgen/Osten in den beiden Zitaten ist frappant. In der Reaktion auf diese Windbeobachtung kann ein Unterschied zwischen dem (historischen) Gärtner und der fiktiven Figur Leonce festgemacht werden: Der Gärtner ruft verärgert
1Die Entstehungsgeschichte von Leonce und Lena als ursprünglich für einen Wettbewerb der Cotta’schen Verlagsbuchhandlung konzipierten Text ist komplex, vgl. dazu MBA 6, S. 215–266 (Büchner wird hier und im Folgenden zit. nach der Marburger Büchner Ausgabe (Darmstadt 2000–2013) unter der Sigle MBA). 2Es wird nach dem synoptischen Text der MBA zitiert, hier MBA 6, S. 53. Vgl. zu H1 vgl. MBA 6, S. 38 und zum Paralleldruck d3 vgl. MBA 6, S. 39. 3MBA 6, S. 432 f., Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, 40 Bde. I. Abt. Bd. 14: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hrsg. von Klaus-Detlef Müller, 13. Buch, S. 629.
M. Wernli (*) Institut für Deutsche Literatur und ihre Didaktik, Universität Frankfurt, Frankfurt a. M., Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 R. Borgards und B. Dedner (Hrsg.), Georg Büchner und die Romantik, Abhandlungen zur Literaturwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05100-4_11
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aus, Leonce gibt seine Befindlichkeit preis, es „macht mich ganz melancholisch.“ Um die Aussage von Leonce noch besser einordnen zu können, ist aber nicht nur dieser Intertext von Bedeutung. Vielmehr braucht es eine breit angelegte Kontextualisierung, die in der Beschreibung, was ‚Melancholie‘ ist, die Grenzen des literarischen Diskurses überschreitet. Mit dieser Kontextualisierung durch unterschiedliche Melancholie-Konzepte kann auch Büchners Verhältnis zur Romantik reflektiert werden, ein Verhältnis, das nicht frei von Ambivalenzen ist.4 Ausgangspunkt für das Folgende ist der Ausdruck „gegründet[]“, den der Hofmeister verwendet. Nach einem ersten close reading des oben zitierten Dialogs werden in einem zweiten Abschnitt dieses Aufsatzes mögliche Lesarten der Melancholie bei Büchner skizziert. Einige Herangehensweisen lassen sich der Forschungsliteratur entnehmen, andere werden hier als zusätzliche Interpretationsmöglichkeiten vorgestellt. Die Darstellung der unterschiedlichen Herangehensweisen legt die Vielschichtigkeit der Textpassage offen. Als historischer und zeitgenössischer Kontext werden im dritten Abschnitt intertextuelle Referenzen des Primärtextes hinzugezogen, bevor viertens Melancholie im psychologischen Diskurs der Zeit umrissen wird. Im abschließenden fünften Teil wird Büchners Melancholie als Palimpsest beschrieben.
1 Literarische Wolken Auf den ersten Blick fällt an Leonces Sätzen die Syntax auf: „Daß die Wolken schon seit drei Wochen von Westen nach Osten ziehen. Es macht mich ganz melancholisch“. Beim ersten Satz handelt es sich eigentlich um einen elliptischen Satzteil, der dann vollständig gemacht würde, wenn er in der Funktion eines Nebensatzes an den Hauptsatz angehängt und wie folgt lauten würde: ‚Es macht mich ganz melancholisch, daß die Wolken schon seit drei Wochen von Westen nach Osten ziehen.‘ Diese syntaktische Auffälligkeit kann zu unterschiedlichen Interpretationen führen. Zum einen mag in ihrer Inversion die Poetisierung von Leonces Sprache gesehen werden. Zum anderen bietet die Aufteilung auf zwei Sätze eine Möglichkeit für eine performative, melancholische Atempause. Die Äußerung von Leonce wirkt dadurch nicht nur in ihrer Umkehrung poetisch, sondern darüber hinaus auch besonders theatral. Auf der inhaltlichen Ebene sind die Hauptakteure der Textstelle die vorbeiziehenden Wolken. Leonce als sprechendes Ich nennt sich erst im zweiten Satz als reagierender Part. Die Wolken sind verbunden mit einer Bewegung (sie „ziehen“), die üblicherweise intransitiv gelesen wird – die Wolken ziehen gewissermaßen eigenständig vorbei. Sie können dabei beobachtet werden, ohne dass eine Interaktion stattfindet. Eine transitive Leseweise würde den Wolken eine stärkere agency zuschreiben, ihr „[Z]iehen“ wäre dann nicht einfach ein ‚Vorbeiziehen‘ am
4Zu Büchners direkten und indirekten Romantik-Bezügen vgl. die Einleitung von Roland Borgards in diesem Band.
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Betrachter, sondern ein aktives ‚Mitziehen‘. In dieser Lesart stünden das sprechende Ich und die Wolken stärker miteinander in Beziehung, Leonce würde sich von den Wolken gezogen fühlen. Im Weiteren eröffnen die beiden Sätze eine spezifische Zeitlichkeit („seit drei Wochen“) und durch die Angabe einer Himmelsrichtung („von Westen nach Osten“) auch einen Raum. In diese raumzeitliche Ordnung stellt sich Leonce durch seinen Sprechakt. Während er in der vorhergehenden Konversation über sich noch mit einer rhetorischen Frage spricht („Bin ich ein Müßiggänger?“ MBA 6, S. 53), wird die Stelle über die eigene Melancholie zu einem Aussagesatz. Auf diese Aussage antwortet der Hofmeister nicht nur mit einer verstärkenden Wiederholung wie davor (Leonce: „Ja, es ist traurig…“, Hofmeister: „Sehr traurig, Eure Hoheit“, ebd.), sondern erweitert seine Antwort um ein Adjektiv („Eine sehr gegründete Melancholie“, ebd.), dessen Bezug offenbleibt. Die möglichen Lesarten von „gegründet[]“ umfassen eine ernsthaft-gutmeinende Bestätigung, dienstliche Beflissenheit und Floskelhaftigkeit bis hin zu einer sarkastischen Distanzierung. Auf Leonce scheint diese Antwort provozierend zu wirken, so dass er zuerst ausruft: „Mensch, warum widersprechen Sie mir nicht?“ (ebd.) und den Hofmeister danach wegschickt. Der Dialog endet also mit der nicht weiter aufgenommenen Feststellung einer „gegründete[n] Melancholie“ und geht in einen Monolog über.
2 Lesarten der Melancholie bei Büchner Während die Erwähnung der Wolkenbewegung und das Verhältnis von Leonce dazu bisher wenig Beachtung fand, hat sich die Forschung intensiv mit der Melancholie beschäftigt.5 Kombiniert man diese Positionen der Forschung mit weiteren möglichen Interpretationen, wird die Vielschichtigkeit der Passage deutlich. Ihre Funktionsweise kann als Palimpsest bezeichnet werden. Die Schichten des Palimpsestes werden hier anhand von sechs unterschiedlichen, sich gegenseitig nicht zwingend ausschließenden Lesarten erläutert. Erstens wird Melancholie gelegentlich nicht als eigenes Thema, sondern vermischt mit den Motiven Langeweile und Müßiggang behandelt.6 Obwohl das Abgrenzungsproblem zwischen den drei Ausdrücken seinen Ursprung im Primärtext hat7 und obwohl die Verhaltensweise der literarischen Figur Leonce 5Besonders kompakt und reichhaltig Harald Neumeyer: Melancholie und Wahnsinn. In: Ders., Roland Borgards (Hrsg.): Büchner Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar 2011, S. 242–248. 6Titelgebend ist die Langeweile bei Gustav Beckers: Georg Büchners „Leonce und Lena“. Ein Lustspiel der Langeweile. Heidelberg 1961. Volker C. Dörr etwa nimmt die drei Ausdrücke zusammen. Volker C. Dörr: „Melancholische Schweinsohren“ und „schändlichste Verwirrung“. Zu Georg Büchners „Lustspiel“ ‚Leonce und Lena‘. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Bd. 3 (2003), S. 380–406. 7Der Müßiggänger kommt nicht nur in der bereits zitierten rhetorischen Frage („Bin ich ein Müßiggänger? Habe ich keine Beschäftigung? – Ja, es ist traurig…“ [MBA 6, S. 100]) und der Windund Melancholie-Erwähnung vor, sondern auch, wenn Leonce kurz danach wieder alleine ist:
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mit allen dreien treffend umrissen werden kann, wird in der Forschung der historisch-semantische Unterschied zwischen den Ausdrücken oft zu wenig deutlich gemacht. Während der Ausdruck ‚Melancholie‘ aus dem zeitgenössischen medizinisch-psychologischen Diskurs entstammt, sind die Ausdrücke ‚Langeweile‘ und ‚Müßiggang‘ in der Alltagssprache verbreitet und stehen bloß auf der Ebene der Symptome in Verbindung mit Melancholie.8 ‚Melancholie‘ kann, wie noch zu zeigen sein wird, aus zeitgenössischer Perspektive als einziger der drei Ausdrücke auch ‚wissenschaftliche‘ Geltung beanspruchen. Diese Wissenschaftlichkeit gilt im medizinischen Diskurs als gesetzt, sie behauptet sich in der Möglichkeit, zwischen ‚krank‘ und ‚gesund‘ unterscheiden zu können. Als medizinischer Ausdruck wird Melancholie als Zustand einer Abweichung beschrieben. Wenn nun literaturwissenschaftliche Arbeiten den Ausdruck aus der Medizin verwenden, wird die Pathologisierungsgeste ebenfalls übernommen. Zweitens stellt sich anknüpfend an diese Geste der Pathologisierung durch die Sekundärliteratur die Frage nach der Einordnung der Diagnostik bei Figur und Autor. Leonces Aussage kann nämlich als Selbstdiagnose gelesen werden. Der Ausdruck „melancholisch“ ist dann eine Zuschreibung, die im psychiatrischen Diskurs der Zeit situiert ist. Diese Zuschreibung zieht zwei mögliche interpretatorische Konsequenzen nach sich. In der einen wird die Figur Leonce als relativ autonom betrachtet und in ihrem Wissen stark gemacht, weil sie sich selbst diagnostisch einzuordnen vermag. Die andere mögliche Konsequenz beruht auf der Annahme, dass sich die Diagnose für den Autor Büchner anbietet, um sein eigenes medizinisch-psychologisches Wissen in Anschlag zu bringen und in der Figur Leonce zu inszenieren. Drittens gibt es anschließend an diese Lesart mit starker Autorenrolle die Möglichkeit, die Aussage biographisch zu lesen.9 Die Argumentation kann sich
„Es krassirt ein entsetzlicher Müßiggang. – Müßiggang ist aller Laster Anfang. Was die Leute nicht Alles aus Langeweile treiben! Sie studiren aus Langeweile, sie beten aus Langeweile, sie verlieben, verheirathen und vermehren sich aus Langeweile und sterben endlich aus Langeweile, und – und das ist der Humor davon – Alles mit den wichtigsten Gesichtern, ohne zu merken, warum, und meinen Gott weiß was dazu. Alle diese Helden, diese Genies, diese Dummköpfe, die Heiligen, diese Sünder, diese Familienväter sind im Grunde nichts als raffinirte Müßiggänger.“ (MBA 6, S. 100). Rosetta erwähnt den Müßiggang ebenfalls (ebd., 104) und Leonce hat „Langeweile, weil ich dich liebe“ (ebd.). 8Die Vermischung der drei Ausdrücke betrachte ich als problematisch. Wenn etwa in Reclams Reihe Erläuterungen und Dokumente zu Leonce und Lena „Langeweile als Zeitkrankheit“ beschrieben wird, dann wird eine pathologisierende Bezeichnung als (Zeit-)Krankheit auf einen Zustand (die Langeweile) bezogen, der in den psychologischen Texten der Zeit nicht als Symptom vorkommt. Vgl. Georg Büchner: Leonce und Lena. Erläuterungen und Dokumente. Hrsg. von Arnd Beise und Gerald Funk. Stuttgart 2005, hier S. 105. 9Dies geschieht in abgeschwächter Form auch bei Arnd Beise, wenn er schreibt: „Die Melancholie Dantons, Lenz’ und Leonces ist ihm ja selbst bekannt gewesen.“ Arnd Beise: Georg Büchner und die Romantik. In: Ariane Martin, Isabelle Stauffer (Hrsg.): Georg Büchner und das 19. Jahrhundert. Bielefeld 2012, S. 215–229, hier S. 225 f.
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beispielsweise auf eine Briefstelle stützen, in der Büchner 1834 an seine Familie schreibt: „Ich habe Anlagen zur Schwermuth.“10 In dieser Lesart wird eine doppelte, einebnende Parallelisierung vorgenommen: Schwermut wird mit Melancholie gleichgesetzt und der Briefe und Stücke schreibende Büchner mit der Figur Leonce. Beide leiden, beide erkennen und benennen die Krankheit – und damit enden die Parallelen auch. Harald Neumeyer bringt Wind und Stimmung zusammen, indem er auf Lebensdokumente verweist, so auf einen Brief an den Bruder Büchners. Darin schreibt der Autor: Ich bin ganz vergnügt in mir selbst, ausgenommen, wenn wir Landregen oder Nordwestwind haben, wo ich freilich einer von denjenigen werde, die Abends vor dem Bettgehen, wenn sie den einen Strumpf vom Fuß haben, im Stande sind, sich an ihre Stubenthür zu hängen, weil es ihnen der Mühe zuviel ist, den andern ebenfalls auszuziehen.11
Die Parallele zur Passage aus Leonce und Lena besteht in der Verbindung von Wind (hier „Nordwestwind“) und Stimmung („vergnügt“), und diese Verbindung besteht unabhängig davon, ob die Briefstelle ironisch oder ernsthaft-wörtlich gelesen wird. Nach den pathologisierenden und biographischen Lesarten zielt eine vierte Lesart auf die Verbindung von Büchner und der Romantik. Sie betrachtet die Erwähnung der Melancholie als (romantisches) Zitat;12 parallel zu lesen mit der Passage aus einem Brief, in dem Büchner an Wilhelmine Jaeglé schreibt: „Nous ferons un peu de romantique, pour nous tenir à la hauteur du siècle“,13 wird das Zeitgenössische nur anzitiert: „[À] la hauteur du siècle“ ist nicht nur
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10.1, S. 31. Büchner an die Eltern in Darmstadt. Gießen, Anfang (?) [sic] 1834. Eine Parallelstelle dazu lautet in einem anderen Brief wie folgt: „Ich war im Aeußeren ruhig, doch war ich in tiefe Schwermuth verfallen; dabei engten mich die politischen Verhältnisse ein, ich schämte mich, ein Knecht mit Knechten zu seyn, einem vermoderten Fürstengeschlecht und einem kriechenden Staatsdiener-Aristokratismus zu Gefallen. Ich komme nach Gießen in die niedrigsten Verhältnisse, Kummer und Widerwillen machen mich krank.“ MBA 10.1, S. 38. Büchner (nach) 27. März 34. An die Eltern in Darmstadt. Harald Schmidt verweist darauf, dass Büchners Bruder Ludwig „ein melancholisches Charakterbild“ von Georg gezeichnet habe. Schmidt relativiert diese Zuschreibung, hält aber fest: „die Signatur der Melancholie in Büchners Oeuvre ist dagegen ubiquitär.“ Harald Schmidt: Melancholie und Landschaft. Die psychotische und ästhetische Struktur der Naturschilderungen in Georg Büchners „Lenz“. Opladen 1994, S. 22. 11MBA 10.1, S. 102. 2. September. 36. An Wilhelm Büchner in Darmstadt (oder Umgebung). Vgl. auch Neumeyer: Melancholie und Wahnsinn (wie Anm. 5), S. 244. 12Dörr: „Melancholische Schweinsohren“ (wie Anm. 6), S. 390, schreibt: „Leonces Melancholie ist Zitat“ und bezeichnet Melancholie als Chiffre (vgl. ebd., S. 405); zudem schließt er mit einer irritierenden Verallgemeinerung: „Jeder Melancholiker ist ein Zitat“ (ebd., S. 405). 13MBA 10.1, S. 36; vgl. auch die Einleitung von Roland Borgards in diesem Band.
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‚das Romantische‘ zwischen den Liebenden, sondern es sind auch Elemente des Jahrhunderts („siècle“) der Romantik wie eben die Melancholie. Dieses Zeitgenössische der Melancholie wird in der gleichen Geste zum einen in das Theaterstück hineingeholt, und zum anderen findet eine Distanzierung statt. (Romantische) Melancholie ist dann dargestellte Melancholie. Das Lustspiel wird damit in einer Epoche situiert, in der Melancholie zur Paradekrankheit von Dichtern erklärt wird und in der zur künstlerischen Arbeit angeblich eine Portion Leiden gehört. Damit handelt es sich um eine Gegenstrategie zur Pathologisierung; der schöpferische Prozess ist in dieser Betrachtungsweise geradezu bedingt durch Elemente einer Niedergeschlagenheit, die als gängiges Element der Melancholie gelten mag. Melancholie wird in ihrer Wirkung geschwächt, sie gilt lediglich als zeitgenössisch notwendige Voraussetzung, von der aus künstlerisches Schaffen entstehen mag. Eine fünfte mögliche Lesart stellt in der Szene eine umfassende Ironie fest. Sie versteht die Windrichtung „von Westen nach Osten“ als Ironiesignal, weil die Himmelsrichtungen so ungenau gefasst und damit wenig aussagekräftig sind. Wenn Ironie hier vorerst im klassisch-rhetorischen Sinne verstanden wird als nicht-eigentliches Sprechen, bei dem das eigentlich Gemeinte durch sein Gegenteil ausgedrückt wird, kann die Melancholie als Merkmal der Figurenkomik eingeordnet werden. Diese Lesart macht aus Leonce die pathetische Inszenierung einer Figur, die nicht ernst zu nehmen ist. Aus der medizinisch-wissenschaftlichen Selbstdiagnose wird Selbstmitleid, von dem die Figur weiß und das sie jammernd ausstellt. Die Antwort des Hofmeisters, es handle sich um eine „sehr gegründete Melancholie“, wird dann durch die Wiederholung als Verstärkung der Ironie betrachtet und steigert die Figurenkomik. Daran direkt anknüpfen lässt sich eine mögliche sechste Lesart, die ebenfalls auf einer Ironie basiert, diese aber in einem emphatisch-romantischen Sinne versteht. Ausgegangen wird von einem ironisierenden Verfahren, das eine Unentscheidbarkeit produziert zwischen eigentlichem und uneigentlichem Sprechen. Romantische Ironie verunmöglicht eine eindeutige Lesart – Leonce fühlt sich in diesem Fall tatsächlich melancholisch, stellt dieses Faktum aber auch distanzierend zur Schau. Die Figur würde dann im selben Sprechakt in Melancholie versinken und sie, sich von ihr distanzierend, sezieren. Damit würde nicht nur unentscheidbar gemacht, ob die Melancholie-Zuschreibung als eine ernste oder unernste gelesen werden sollte, es würde auch – auf einer Metaebene – in Frage gestellt und gleichzeitig möglich gemacht, dass der ‚Dialog‘ und die Figuren als romantische zu betrachten sind. Als romantische Ironie gelesen müsste also systematisch offenbleiben, ob hier von ‚Romantik‘ im emphatischen Sinne gesprochen werden kann oder ob eher von einem spielerischen Umgang mit Romantik-Zuschreibungen ausgegangen werden sollte.
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3 Intertextuelle Bezüge Melancholie ist ein literarischer Topos. Dies belegen etwa thematische Anthologien, die durch die Jahrhunderte führen.14 Insofern ist es wenig erstaunlich, dass sich Leonce und Lena in einem dichten Netz aus intertextuellen Bezügen situieren lässt. Die historisch-kritische Ausgabe zeigt bis auf die Ebene von einzelnen Worterwähnungen auf, wie sich Büchner mit Leonce und Lena auf andere Werke, insbesondere auf Shakespeare bezieht. Die Figur Jaques etwa hat in As you like it (von um 1599) eine gänzlich eigene Melancholie, die er gegenüber Rosalind wie folgt beschreibt: I have neither the scholar’s melancholy, which is emulation, nor the musician’s, which is fantastical, nor the courtier’s, which is proud, nor the soldier’s, which is ambitious, nor the lover’s, which is all these; but it is a melancholy of mine own, compounded of many simples, extracted from many objects, and indeed the sundry contemplation of my travels, in which my often rumination wraps me in a most humorous sadness.15
Melancholie wird hier in ihrer Pluralität gezeichnet – neben Jacques’ individueller Version existieren noch viele weitere Spielarten. Dieser Reichtum an Erscheinungsformen kann aus dieser Passage auch auf die Lesart von Büchners Melancholie-Erwähnungen übertragen werden. Nachgewiesen wurden neben Büchners intertextuellen Melancholie-Bezügen zu Shakespeare auch etliche zu den Werken späterer Autoren wie Clemens Brentano und Alfred de Musset. In de Mussets Drama Fantasio (1834) wird der titelgebenden Figur Melancholie zugeschrieben,16 und auch in Brentanos Ponce de Leon (1803) ist es die Titelfigur, die von Sarmiento zweimal als melancholisch bezeichnet wird.17 In romantischen Texten, so kann also gefolgert werden, 14Vgl. Ludwig Völker (Hrsg.): „Komm, heilige Melancholie“. Eine Anthologie deutscher Melancholie-Gedichte. Mit Ausblicken auf die europäische Melancholie-Tradition in Literaturund Kunstgeschichte. Stuttgart 1983. Völkers Melancholie-Begriff ist weit gefasst, er subsumiert darunter auch Ausdrücke wie Schwermut, Wehmut, Einsamkeit oder Trauer. 15William Shakespeare: As you like it. In: The Oxford Shakespeare. The Complete Works. Hrsg. von Stanley Wells und Gary Taylor. Oxford 1988, S. 627–652, hier S. 644 f. Interessant ist darüber hinaus aber auch die Parallele zu Hamlet und dessen Aussage in der zweiten Szene des zweiten Aktes: „I am but mad north-north-west; when the wind is southerly, I know a hawk from a handsaw.“ Shakespeare: Hamlet, ebd., S. 653–691, hier S. 667. Der genannte Wahnsinn ist hier ein strategischer, der sich mit der Windrichtung taktisch ändern kann – wie es die Vögel tun. Insofern ist der Wind im Gegensatz zur Büchner’schen Szene nicht Auslöser eine Melancholie, sondern metaphorische Beschreibungsmöglichkeit des gezielten Einsatzes von Hamlets scheinbarem Wahn. 16Hartman sagt in der zweiten Szene des ersten Aktes: „Tu me parais un tant soit peu misanthrope et enclin à la mélancholie.“ (zit. nach MBA 6, S. 362) Und Fantasio sagt später: „Il n’y a point de maître d’armes mélancholique.“ (ebd., 363), was übertragen werden kann mit: „Es gibt keinen melancholischen Meister der Waffen.“. 17In Brentanos Ponce de Leon sagt Sarmiento im 2. Akt, 2. Auftritt: „Ihr seyd meistens melancholisch, und zwar weil ihr müssig seyd.“ Ponce: „Ihr könntet eher sagen, ich arbeite zu viel Nichts. Ihr solltet mich kennen lernen, wenn mir nicht alle Geschäfte, die ich nicht thue,
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ist Melancholie ein häufig vorkommendes Thema – Arnd Beise hat dies etwa für Prinz Zerbino oder den Roman William Lovell nachgewiesen.18 Wie Völkers Anthologie19 nahelegt, trifft man in der (romantischen) Lyrik Melancholie zuhauf an. Ludwig Tieck etwa verfasste das Gedicht Melankolie (1793), und Nikolaus Lenau betitelte eines An die Melancholie (1832).20 Tiecks Melankolie entstammt seinem Briefroman William Lovell (1795/1796) und wird dort der Hauptfigur in den Mund gelegt. Die ersten beiden Strophen lauten: Schwarz war die Nacht und dunkle Sterne brannten Durch Wolkenschleier matt und bleich, Die Flur durchstrich das Geisterreich, Als feindlich sich die Parzen abwärts wandten, Und zorn’ge Götter mich in’s Leben sandten. Die Eule sang mir grause Wiegenlieder Und schrie mir durch die stille Ruh Ein gräßliches: Willkommen! zu. Der bleiche Gram und Jammer sanken nieder Und grüßten mich als längst gekannte Brüder.21
Auch bei Lenau verweist bereits der Titel auf die Melancholie, sie wird dort direkt adressiert (An die Melancholie) und innerhalb des Gedichts als „Du“ angesprochen: Du geleitest mich durchs Leben, Sinnende Melancholie! Mag mein Stern sich strahlend heben, Mag er sinken – weichest nie! Führst mich oft in Felsenklüfte, Wo der Adler einsam haust, Tannen starren in die Lüfte Und der Waldstrom donnernd braust.
die Zeit nähmen, euch mein Herz auszuschütten, in dem nichts ist. – Seht, es gibt keine höllischere Arbeit, als die, welche man nicht thut; drum macht mir die Liebe viel zu schaffen, ich vernachlässige sie so, daß ich gar nicht dazu kommen kann, die Melancholie, Freundschaft und Wohltätigkeit einzustellen.“ (zit. nach MBA 6, S. 389). Und später, im 10. Auftritt, sagt Sarmiento noch: „Sieh, Ponce gefällt mir, wenn eine herrschende Königin in sein anarchisches Gemüth käme, könnte er viel werden. Er ist der beste von allen; er ist doch melancholisch.“ (zit. nach MBA 6, S. 390). 18Beise: Georg Büchner und die Romantik (wie Anm. 9), S. 225 f. 19Vgl. Völker: „Komm, heilige Melancholie“ (wie Anm. 14). 20[Nikolaus] Lenaus sämtliche Werke in vier Bänden. Hrsg. von Anastasius Grün. 1. Bd.: Gedichte. Stuttgart 1854, S. 213. 21Die ausgewählten Strophen stammen aus Ludwig Tieck: Melankolie. In: Schriften in zwölf Bänden. Hrsg. von Manfred Frank, u. a. Bd. 7, Frankfurt a. M. 1995, S. 11 f., hier S. 11.
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Meiner Toten dann gedenk ich, Wild hervor die Träne bricht, Und an deinen Busen senk ich Mein umnachtet Angesicht.22
Tieck und Lenau verbinden die Melancholie mit den romantischen Motiven der dunklen Nacht und dem Topos des einsamen Dichters im Walde. Es ist exakt dieser Tonfall, der nicht allen Rezipienten von Büchners Komödie gefiel und der zeitgenössisch schon Karl Gutzkow zu seinem Verdikt über Leonce und Lena führte. Denn ein Lob der Nacht findet sich auch in Leonce und Lena, wenn Leonce im geschmückten Saal auf Rosetta wartet und spricht: „Zündet die Kerzen an! Weg mit dem Tag! Ich will Nacht, tiefe ambrosische Nacht.“ (MBA 6, S. 58 f.) Doch Leonce scheint hier überdreht, die Figurenrede am Rande einer ironischen Brechung. So changiert die Replik zwischen Figurenkomik und einer tatsächlichen Anbetung der Nacht. Das Lob der Nacht durch Leonce lässt sich eben immer auch als ein inszeniertes Lob verstehen. Gutzkows Lesart war eine andere. In einer paradoxen Geste hatte er durch die postume Herausgabe des Werkes Büchner als Dichter seine Referenz erwiesen und gleichzeitig dessen angeblichen „Elfenmährchenton“ und das „bühnenwidrige[ ] Mondscheinflimmern“ (Vgl. d1 in MBA 6, S. 35) bemängelt. Zu diesem Tonfall gehört, so könnte man behaupten, auch das Aufrufen anderer romantischer Elemente. Nicht nur der paradigmatische Mond, sondern auch die Wolken erscheinen als Parallelen in Texten anderer Autoren. So etwa in Lenaus Gedicht Himmelstrauer, in dem auf eine „düstre Wolke dort, so bang, so schwer“23 verwiesen wird. Auch in Schwermut von Sophie Mereau tauchen Wolken auf; sie sind dort auf zwei unterschiedliche Weisen bildlich eingesetzt. In der ersten Strophe schaut das lyrische Ich „mit bewölktem Sinn/[…] wie auf Gräber hin.“24 Die meteorologische Erscheinung wird gleichsam verinnerlicht und zur Beschreibung des Seelenzustandes verwendet. In der dritten Strophe wird vor einer allegorisierten Wolke gewarnt, die das „Glück des Lebens“25 überschatten könnte und der auch ein Sturm nicht so schnell beikommen würde. Diese äußerliche Wolke ist nicht allein Zeichen innerer Befindlichkeiten des lyrischen Ichs, sondern auch als eigenständiger Aktant lesbar. Ähnliches gilt für die Wolken bei Leonce. Auch sie bleiben, bei allem semiotischen Bezug auf die Innerlichkeit der Figur, immer auch materielle Äußerlichkeiten.
22Nikolaus
Lenau: An die Melancholie. Zit. nach Völker: „Komm, heilige Melancholie“ (wie Anm. 14), S. 143. 23Nikolaus Lenau: Himmelstrauer. Zit. nach Völker: „Komm, heilige Melancholie“ (wie Anm. 14), S. 144. 24Sophie Mereau: Schwermut. Zit. nach Völker: „Komm, heilige Melancholie“ (wie Anm. 14), S. 115. 25Ebd.
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4 Melancholie im psychologischen Diskurs der Zeit Um die Kontextualisierung der Aussage von Leonce zu vertiefen, lohnt es sich, einen Blick in zeitgenössische psychologische Schriften zu werfen. Der Vergleich mit einer heterogenen Gruppe von ‚wissenschaftlichen‘ Texten zeigt die Traditionslinien und die entsprechenden Brüche auf, in der die Melancholie zur Zeit Büchners steht. Wie schon deutlich geworden sein dürfte, ist Melancholie keine Erfindung der Romantik. Der Ausdruck stammt aus der Medizin und findet sich bereits im Corpus Hippocraticum.26 Die Art der Krankheit wird dort als „Galletyp“ beschrieben, das Krankheitsbild aber nicht näher geschildert. Als ihre Ursache wird in der antiken Textsammlung die Eindickung der Galle verantwortlich gemacht.27 Das Austrocknen soll insbesondere durch eine bestimmte Wind-Konstellation ausgelöst werden, dann nämlich, wenn auf „einen rauhen und im Zeichen des Nordwindes stehenden Sommer ein ebenfalls im Zeichen des Nordwindes stehender trockener Herbst folgt“.28 Ohne weiter auf die in der Nachfolge von Texten des Hippokrates’ durch Galen29 formulierte Humoralpathologie einzugehen, sei hier nur als Randbemerkung darauf hingewiesen, dass von den dort beschriebenen Krankheitstypen der Melancholiker mit seinen somatischen und psychischen Bestandteilen wissenschaftshistorisch betrachtet am ‚erfolgreichsten‘ war, das heißt, dass er am meisten medizinische Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat.30 Und dies gilt auch für die Literatur und die Künste. Nach der antiken Viersäftelehre vollzieht sich in der Renaissance eine emphatische Aufladung der Melancholie. Diese Verbindung von Pathologie mit dichterisch-schöpferischen Prozessen wirkt auch in der Melancholie-Beschreibung der Aufklärung und der Romantik weiter. Hier erscheint die Melancholie in unterschiedlichen Textsorten mit divergierenden Funktionen. Wie Neumeyer einleuchtend dargelegt hat, kann differenziert werden zwischen einer relativ harmlosen, schwärmerischen Melancholie und einer pathologischen Form, die zum Wahnsinn gezählt wird.31 Diese Unterscheidung ist aber vor allem für den forschenden Blick in der Retrospektive gültig, zeitgenössisch sind diese Formen nicht eindeutig getrennt. Vielmehr ist bei allen Melancholie-Zuschreibungen von einem graduell steigerbaren pathologisierenden Moment auszugehen. Im Folgenden wird das wissensgeschichtliche Feld, in dem Psychologie und insbesondere die Melancholie situiert sind, in ungefähr chronologischer Reihen-
26Hellmut
Flashar bezeichnet diese Urheberschaft jedoch als „zweifelhaft“. Hellmut Flashar: Melancholie und Melancholiker in den medizinischen Theorien der Antike. Berlin 1966, S. 21. 27Ebd., S. 23. 28Zit. nach Flashar: Melancholie (wie Anm. 26)., S. 21. 29Ebd., S. 105. 30Ebd., S. 49. 31Neumeyer: Melancholie und Wahnsinn (wie Anm. 5), S. 242.
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folge beschrieben. Es handelt sich dabei um Texte von aufklärerischen und romantischen Autoren, nämlich von Karl August Reinhardt, Immanuel Kant, Philippe Pinel, Johann Christian Reil sowie Johann Christian August Heinroth und Jean Etienne Dominique Esquirol. Ein erstes Beispiel, das in Bezug auf Büchner als Hintergrund dienen kann, stammt von dem Pfarrer Karl August Reinhardt. Er publizierte 1792 in Carl Philipp Moritz’ Magazin zur Erfahrungsseelenkunde einen Text mit dem Titel Heilung eines Melancholischen.32 Reinhardt beschreibt den Auslöser der Krankheit im Umgang des Patienten mit Frauen, er setzt als Therapiemittel Spaziergänge ein und empfiehlt eine Mäßigung beim Essen und Trinken. Ein „Blutfieber“33 bewirkt seiner Meinung nach schließlich eine vollständige Genesung. Erzählt wird aus der Perspektive des behandelnden Pfarrers, eingefügt sind aber auch die Wiedergabe eines Dialoges mit dem Patienten und eines Briefes an ihn. Die Diagnose steht von Beginn an fest, der (erneute) Aufenthalt in der Charité führt zur Heilung. Eine Parallele zur Stelle in Leonce und Lena liegt im Umgang mit dem Melancholiker. Pfarrer Reinhardt hatte nämlich beschlossen, den Patienten „als ein Kind zu behandeln, in dessen Seele ich neue Ideen nicht erst erzeugen, sondern die alten schon vorhandenen wiederum erneuern und beleben müßte.“34 Die Aussage des Hofmeisters, Leonces Melancholie sei „sehr gegründet[ ]“, kann auch als eine beschwichtigende Betätigung gegenüber einem Kind verstanden werden. Melancholie ist dann als Krankheitszustand zu betrachten, der Melancholiker ist ein Patient, den es zu heilen gilt. Im philosophischen Diskurs differenziert Immanuel Kant in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) zwischen einer Melancholie als Temperament, als Stimmung und als Zustand. Bei den Temperamenten des Gefühls nimmt Kant die Humoralpathologie auf und unterscheidet zwischen dem „sanguinischen Temperament des Leichtblütigen“ und dem „melancholischen Temperament des Schwerblütigen.“35 Zu Letzterem schreibt er: „Der zur Melancholie Gestimmte (nicht der Melancholische; denn das bedeutet einen Zustand, nicht den bloßen Hang zu einem Zustande) gibt allen Dingen, die ihn selbst angehen, eine große Wichtigkeit, findet allerwärts Ursache zu Besorgnissen und richtet seine Aufmerksamkeit zuerst auf die Schwierigkeiten.“36 Bei Kant wird die pessimistische Grundhaltung und die Selbstbezogenheit von melancholisch „Gestimmte[n]“ zum Hauptmerkmal. In dieser Umschreibung erscheint Melancholie als möglicherweise gar nicht so problematisch, weil sie ein theoretisches Konzept ist und mit dem Schreiben über sie keine praktische Heilung angestrebt werden muss.
32Karl
August Reinhardt: Heilung eines Melancholischen. In: Stefan Goldmann (Hrsg.): Berühmte Fälle aus dem Magazin der Erfahrungsseelenkunde. Gießen 2015, S. 159–167. Die Verunsicherung der Diagnose zeigt sich schon in der Betonung, es handle sich um einen „wirkliche[ ] Melancholischen“ (ebd., S. 159). 33Ebd., S. 165. 34Ebd., S. 160. 35Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Hrsg. und eingeleitet von Wolfgang Becker. Mit einem Nachwort von Hans Ebeling. Stuttgart 1983, S. 237. 36Ebd.
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Der französische Psychiater Philippe Pinel (1745–1826) macht schon mit dem Titel Traité médico-philosophique sur l’aliénation mentale ou La manie von 180137 deutlich, dass er Geistesverwirrung und Manie synonymisch verwendet. In der Folge rechnet Pinel auch die Melancholie zu den Manien. Die „gemeine Bedeutung des Ausdruckes Melancholie“ beschreibt Pinel folgendermaßen: „Tiefsinnigkeit und Stillschweigen, angstvoller Argwohn, Hang zur Einsamkeit, dieß sind die Züge, welche gewiße Menschen in der Gesellschaft characterisiren“.38 Pinel erwähnt aber auch die Ausnahme-Melancholiker, die in der Melancholie äußerst produktiv seien: Die Geschichte der in der Politik, in den Wissenschaften und schönen Künsten berühmten Männer stellt Beyspiele melancholischer Menschen von entgegengesetztem Character auf, daß solche, die mit einem brennenden Enthusiasmus für die Meisterwerke des menschlichen Geistes, für tiefsinnige Ideen, und für alles, was Größe überhaupt und Seelengröße insbesondere anzeigt, begabt waren.39
Melancholie wird in dieser Passage an „berühmte[ ] Männer“ als Individuen geknüpft, denen eine Verbindung von Charaktereigenschaft und Schaffenskraft zugeschrieben wird. Damit macht Pinel die Spannung deutlich, in die die zeitgenössische Nosologie gerade in Bezug auf Melancholie gerät. Ein besonders wichtiger Bezugspunkt der Zeit sind Johann Christian Reils Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Kurmethode auf Geisteszerrüttung aus dem Jahr 1803. Auch wenn eine kontroverse Forschungsdebatte darüber im Gange ist, ob es so etwas wie ‚romantische Psychologie‘ überhaupt gebe,40 sind Reils Rhapsodieen doch unstrittig ein zentraler Bezugstext für viele romantische Erzählungen, insbesondere auch für E. T. A. Hoffmann.41 Es handelt sich bei den Rhapsodieen um eine Auftragsarbeit durch einen Pfarrer, dessen Wunsch Reil mit dem Werk nachkam. Reil stellte in seiner Schrift auch soziales Engagement aus, indem er die katastrophalen Bedingungen, unter denen Geisteskranke ihr Dasein fristeten, anprangerte. Er setzte sich für staatlich organisierte sowie ärztlich geführte, sogenannte ‚Irrenanstalten‘ ein und prägte den Ausdruck „psychische Curmethode“ als Behandlungskonzept. Eine seiner Forderungen war, dass
37Das
Werk ist im selben Jahr auf Deutsch erschienen unter dem Titel Philippe Pinel: Philosophisch-medicinische Abhandlung über Geistesverirrungen oder Manie. Aus dem Franz. von Michael Wagner. Wien 1801. 38Ebd., S. 147. 39Ebd., 147 f. 40Deren Existenz bestreitet etwa Reinhard Mocek: Johann Christian Reil (1759–1813). Das Problem des Übergangs von der Spätaufklärung zur Romantik in Biologie und Medizin in Deutschland. Frankfurt a. M. 1995, 1995, S. 16. 41Vgl. Christine Lubkoll, Harald Neumeyer (Hrsg.): E. T.A. Hoffmann Handbuch. Epoche – Werk – Wirkung. Stuttgart, Weimar 2015; sowie Maximilian Bergengruen: Dämonomanie. Verfolgungswahn, Magnetismus und Vererbung in E. T.A. Hoffmanns ‚Der Sandmann‘. In: Lars Friedrich, Eva Geulen, Kirk Wetters (Hrsg.): Das Dämonische. Schicksale einer Kategorie der Zweideutigkeit nach Goethe. Paderborn 2014, S. 145–172.
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eine „praktische[ ] Erfahrungs-Seelenkunde für Aerzte“ „als ein drittes Glied im Triumvirat, der Arzneikunde und Chirurgie zur Seite treten“42 solle. Die Ursachen der „Geisteszerrüttung“ fand Reil auch in den gesellschaftlichen Verhältnissen, denen folglich mehr Aufmerksamkeit zukommen sollte. Die „psychischen Mittel“ unterteilt Reil in drei Klassen. Er spricht von jenen mit „materieller Natur“,43 solchen für die äußeren Sinne („besonders für das Auge, Ohr und das Getast“),44 die dritte Gruppe – und hier wird es für den Bezug zur Literatur besonders interessant, „enthält Zeichen, Symbole, Pantomimen und besonders Sprache und Schrift, durch welche wir Vorstellungen, Imaginationen, Urtheile und Begriffe im Seelenorgan zu erregen, die höheren Seelenkräfte zu rectificiren, und den Kranken zur eignen Geistesthätigkeit zu wecken suchen.“45 Die Mittel, die Reil zur Behandlung empfiehlt, sind vielfältig, so beinhalten sie zum Beispiel Wein, Mohnsaft,46 das Peitschen mit Brennnesseln,47 der Klang von tropfendem Wasser48 oder die Einrichtung eines Theaters in der Anstalt, um die Leidenschaften zu wecken,49 und viele mehr. Mit Bezug auf die Melancholie rät Reil, gestützt auf die Schriften des italienischen Arztes Vincenzo Chiarugi, den Patienten zum „Genuß des Beischlafs“,50 wobei er einräumen muss, dass dies für Männer einfacher einzurichten sei als für weibliche Patienten, weil diese schwanger werden und ihre Krankheit weitervererben könnten.51 Melancholie und deren Behandlung wird damit auch mit den Kategorien Geschlecht und Heredität verknüpft. Von Bedeutung ist neben den Rhapsodieen ebenfalls das Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens und ihrer Behandlung. Vom rationalen Standpunkt aus entworfen des deutschen Psychikers Johann Christian August Heinroth (1773–1843) von 1818.52 Heinroth führt therapeutische Ratschläge an: „Will man die Melancholie heilen, so muß man die Elemente derselben trennen und entfernen, und da sich die Vorstellungen des Menschen mit seinem Gemüthszustande ändern, so giebt es hier nichts zu thun, als den letzern, wo möglich, umzustimmen. Hierauf beruht die ganze Cur.“53 42Johann
Christian Reil: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Kurmethode auf Geisteszerrüttung. Halle 1818, S. 42. 43Ebd., S. 179. 44Ebd., S. 180. 45Ebd., S. 181, zur Therapie vgl. ebd. ab S. 211. 46Ebd., S. 183. 47Ebd., S. 190. 48Ebd., S. 204. 49Ebd., S. 209. 50Ebd., S. 185. 51Ebd., S. 186. 52Heinroth verteidigte die Gutachten von Johann Christian August Clarus. Hier wird das Werk jedoch nicht genannt wegen Heinroths Rolle in der Debatte um die Zurechnungsfähigkeit Woyzecks; vgl. dazu Harald Neumeyer: „Woyzeck“. In: Ders., Roland Borgards (Hrsg.): Büchner Handbuch (wie Anm. 5), S. 98–118, hier S. 105. 53Johann Christian August Heinroth: Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens und ihrer Behandlung. Vom rationalen Standpunkt aus entworfen. Leipzig 1818. Bd. 2, S. 214, Kursiv im Orig. gesperrt.
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Die Behandlung variiert je nach Stadium der Krankheit. Im besten Fall, so Heinroth, entdeckt der Arzt die Krankheit im Entstehen. Er schreibt: Kann der Kranke nicht durch irgendeinen Ersatz für den erlittenen Verlust entschädigt, kann die Furcht seines Gemüths durch keine vernünftige Vorstellung, durch keine erheiternde Aussicht verscheucht werden: so gilt es ein gewaltsames Herausreißen des Kranken aus seiner Lage, kräftige Aufregung seines Gemüths, Herbeyführung irgend eines neuen Interesse, Entfernung aus seiner Lage und Umgebung, wo möglich, durch eine bedeutende, mit mancherley Reiz, Ungemach, Thätigkeit verbundene, Reise. Das Reisen ist für solche Kranken eine Universal-Medizin.54
In Jean Etienne Dominique Esquirols (1772–1840) Des Maladies Mentales55 ist Melancholie eine von fünf Arten von Geisteskrankheit. Esquirol bezeichnet sie auch als Lypémanie und hat dabei eine chronische Erscheinung Blick, heute würde diese vermutlich in das Spektrum der Depression verortet. Die anderen Arten sind die Monomanie, die Manie, Verwirrtheit (la démence) und der Blödsinn oder Kretinismus (imbécillité, idiotie).56 Anders als Pinel stellt Esquirol die Melancholie und Manie nicht in eine gemeinsame Klasse. Die seinem Werk angefügten Kupferstiche zeigen die „Melancholie (Lypémanie)“ zudem bildlich: eine Frau, die auf einem Schemel sitzt, die Hände in den Ärmeln versteckt und mit düsterem Blick zur Seite schaut, sowie eine weitere Frau, die in einem institutionellen Umfeld auf einem Bett unter einem offenen Fenster sitzt und die betrachtende Person direkt anblickt. Ergänzt werden diese beiden Bilder von anonym bleibenden Melancholikerinnen durch den Kupferstich einer historisch verbürgten, gewissermaßen ‚realen‘ Melancholie. Es handelt sich bei diesem Stich um das Profil von Théroigne de Méricourt (1762–1817). De Méricourt, auch die „Amazone der Freiheit“57 genannt, war 1785 nach Paris gekommen, hatte sich den Jakobinern angeschlossen und den Klub der Menschenrechte mitgegründet. Ihre ‚Melancholie‘ scheint weniger ihrer Konstitution geschuldet als vielmehr dem Umstand, dass sie bei politischen Auseinandersetzungen eine Kopfverletzung erlitt, aufgrund derer sie die letzten 23 Jahre ihres Lebens in einer Klinik verbringen musste. Mit der Verwendung der Kupferstiche gibt Esquirol der Melancholie ein Gesicht – und zwar sowohl ein anonymes, das ‚Typen‘ von Melancholie zeigt, als auch ein konkretes, das mit voller Namensnennung ein zeitgenössisches Schicksal mit einer Diagnose verknüpft und damit die Revolution und ihre Folgen in den psychiatrischen Diskurs holt.
54Ebd.,
S. 215. Esquirols Allgemeine und specielle Pathologie und Therapie der Seelenstörungen 1827 erschien, wurde Des Maladies Mentales erst nach Büchners Tod publiziert, und zwar im Jahr 1838. 56Jean Etienne Dominique Esquirol: Von den Geisteskrankheiten. Hrsg. und eingeleitet von Erwin H. Ackerknecht. Mit 26 Abbildungen. Bern, Stuttgart 1968, S. 31 f. 57So lautet der Untertitel des Werkes von: Helga Grubitzsch, Roswitha Bockholt (Hrsg.): Théroigne de Méricourt: Die Amazone der Freiheit. Pfaffenweiler 1991. 55Während
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Die hier knapp präsentierten Textbeispiele beinhalten eine Fallgeschichte, Reils Rhapsodieen als eine Anklageschrift,58 ein Lehrbuch (von Heinroth), psychi atrische Abhandlungen und Abbildungen französischer und deutscher Herkunft. Sie sind von Psychikern und Somatikern verfasst.59 Will man die Geschichte der Psychologie nach einem teleologischen Muster beschreiben, geht es darum, Krankheiten mittels ihrer Beschreibung fassbarer zu machen, um sie klassifizieren und in einem nächsten Schritt behandeln zu können. Am Versuch einer Festschreibung von Krankheit sind ganz unterschiedliche Textsorten beteiligt. Auslöser für diese Auseinandersetzung ist das Bestreben, die Forderungen der Aufklärung auch in Bezug auf den Umgang mit Geisteskranken umzusetzen. Der Einsatz für die Klassifizierung ist aber nicht nur der Philanthropie geschuldet, sondern geschieht auch in eigener Sache: Mit ihr soll die Etablierung der neuen Disziplin Psychiatrie vorangetrieben werden. Je genauer Zustände wie die Melancholie erfasst werden können, so die Vorstellung, desto ‚wissenschaftlicher‘ und eigenständiger wird die Psychiatrie. Dieses Bestreben kann ein literarischer Text aufnehmen, darstellen und vorantreiben, wobei er sich nicht auf eine Definition festlegen muss.
5 Die „gegründete“ Melancholie bei Büchner als Palimpsest Damit ist für die Literatur der Einsatz nicht so hoch wie für die Psychiatrie als wissenschaftliche Disziplin, die sich damals behaupten musste. Als Kunst sind literarische Texte freier und können mit Erscheinungsformen wie der Melancholie und deren Darstellung spielen. In Leonce und Lena gibt es keine Figur, die einen Kommentar bietet. Melancholie wird daher thematisiert und theatralisiert, aber nicht festgeschrieben. Wenn Büchner so offensichtlich davon Abstand nimmt, fällt im Vergleich dazu der ordnende und erklärende Gestus in psychologisch-wissenschaftlichen Texten besonders auf. Dies gilt auch für das, was man in einem engeren Sinn vielleicht tatsächlich ‚romantische Psychologie‘ nennen könnte, dessen wirkmächtigster Protagonist gewiss Reil ist: In den Rhapsodieen erklärt er seinen Lesern, dass ‚Verrücktheit‘ nicht, wie vielleicht ein an der Aufklärung geschultes Denken es nahelegen würde, das Gegenteil von Vernunft bedeute. Vielmehr würden „Verrückte“ an „einem Gebrechen [leiden], das in der Menschheit selbst gegründet ist, dem wir also alle, mehr als jedem anderen, offen liegen, und das wir, weder durch Verstand, noch durch Rang und Reichthum abhalten können.“60
58Diesen Ausdruck
verwendet Mocek: Reil: Rhapsodieen (wie Anm. 42), S. 141 u. ö. den politischen Implikationen der Auseinandersetzung zwischen Somatikern und Psychikern siehe Roland Borgards: „Lenz“. In: Ders., Harald Neumeyer (Hrsg.): Büchner Handbuch (wie Anm. 5), S. 51–70; zu einer Kritik der dann doch gar nicht so klaren, in der Forschung aber vielfach benutzten Unterscheidung vgl. Yvonne Wübben: Büchners ‚Lenz‘. Geschichte eines Falls. Konstanz 2016, S. 82 f. 60Reil: Rhapsodieen (wie Anm. 42), S. 11. Hervorh. M. W. 59Zu
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Auch die romantische Psychologie versucht, Devianz zu erklären, sieht sie aber ‚gegründet‘ in der menschlichen Natur. Melancholie ist damit in allen Menschen grundsätzlich angelegt. Wenn der literarische Hofmeister seinem Gesprächspartner Leonce antwortet: „Eine sehr gegründete Melancholie“ (MBA 6, S. 53), dann ist dies auf den ersten Blick die Affirmation einer Selbstdiagnose. Das „gegründete“ kann aber statt einer ‚begründeten‘ Melancholie, schlicht eine sein, die einen Grund hat. Der Hofmeister, so könnte man behaupten, zitiert hier Reil, und dies wäre ein deutliches Zeichen einer ambivalenten Komik, die den psychologischen Diskurs der Zeit aufnimmt, bestätigt und zugleich lächerlich macht, weil „[e]ine sehr gegründete Melancholie“ im Zusammenhang mit einem gelangweilten Prinz auch als eine oberflächliche, nichts sagende Phrase verstanden werden kann. Die ‚Melancholie‘-Erwähnung in Leonce und Lena funktioniert – um es abschließend zusammenzufassen – wie ein Palimpsest. Davon bildet die aufklärerisch begründende Psychologie einen ersten Bestandteil. Eine zweite Schicht ist die romantische, im ganzen Menschen gründende Psychologie. Auf einer dritten Ebene findet in dieser Erwähnung eine Ironisierung der romantischen Melancholie statt, die aber in sich schon wieder ambivalent ist, weil sie zwei Dinge miteinander verbindet. Einerseits eine Ironisierung der Melancholie: Ihr folgend ist nicht ernst zu nehmen, was da mit und über Melancholie gesagt wird. Und mit anderer Betonung gesprochen ist es andererseits die Ironisierung der romantischen Ironie. Auf das Unentscheidbarmachen durch die romantische Ironie wird selbst mit ironischem Blick geschaut. Und insofern hier die spezifisch romantische Melancholie aufgerufen wird, wird sie trotz (oder sogar durch) die Ironisierung gegenüber der aufklärerischen Melancholie ins Recht gesetzt. Das Geschriebene, Gestrichene und Überschriebene auf diesem Palimpsest bleiben gleichzeitig sicht- und lesbar. Oder noch einmal anders gesagt: Büchner teilt die romantische Version einer im Menschen gegründeten Melancholie, aber er stellt dies zugleich ironisierend als ein Zitat aus. Diese Aufnahme einerseits und die gleichzeitige Distanzierung andererseits wiederum ist selbst ein romantisches Verfahren.
Von der metaphysischen zur sozialen Krankheit Dämonomanie in Büchners Lenz Maximilian Bergengruen
1 Verfolgungswahn im frühen 19. Jahrhundert…
Mit den Debatten, die ab dem ersten Band von Karl Philipp Moritz’ γνωθι σαυτον von 1783 geführt werden,1 bekommt das – in der frühneuzeitlichen Medizin zwar durchaus vorfindliche, niemals jedoch vertiefte – Nachdenken über Menschen, die überall „Feindschaft“, „Nachstellung“, „Verfolgungen“2 etc. fürchten, eine andere Qualität. Es gibt nun verschiedene Fallgeschichten3 zu diesem Krankheitsbild, deren Ähnlichkeiten bzw. Analogien so sehr auf der Hand liegen, dass man im Sinne von Moritz’ „Vorschlag zu einem Magazin einer Erfahrungs-Seelenkunde“ von einer Art sich selbst bildender „Wissenschaft“ sprechen kann.4
1Vgl. zum Folgenden Vf.: Verfolgungswahn und Vererbung. Metaphysische Medizin bei Goethe, Tieck und Hoffmann. Göttingen 2018. 2Karl Philipp Moritz, Karl Christoph Nencke: Geschichte des Herrn D… als ein Pendant zur Geschichte des Herrn Klug. In: Karl Philipp Moritz: Gnōthi sauton oder Magazin zur Erfahrungs-Seelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte. Mit Unterstützung mehrerer Wahrheitsfreunde. Hrsg. von dems. und Salomon Maimon. Bd. I/2. Berlin 1783, S. 7–10, hier S. 8 f. 3Vgl. zur Fallgeschichte im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert Johannes Friedrich Lehmann: Erfinden, was der Fall ist. Fallgeschichte und Rahmen bei Schiller, Büchner und Musil. In: Zeitschrift für Germanistik NF 19/2 (2009), S. 361–380, hier S. 366–374. 4Karl Philipp Moritz: Vorschlag zu einem Magazin einer Erfahrungs-Seelenkunde. In: Ders.: Werke in zwei Bänden. Hrsg. von Heide Hollmer und Albert Meier. Bd. I: Dichtungen und Schriften zur Erfahrungsseelenkunde. Frankfurt a. M. 1999, S. 797 f. (Zitat: S. 798).
M. Bergengruen (*) Institut für Germanistik, Universität Karlsruhe, Karlsruhe, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 R. Borgards und B. Dedner (Hrsg.), Georg Büchner und die Romantik, Abhandlungen zur Literaturwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05100-4_12
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Eine weitere Spezifizierung erfährt das genannte Krankheitsbild, das im Folgenden in Ermangelung eines festen historischen Begriffs heuristisch Verfolgungswahn genannt werden soll, in einer zweiten Welle der Diskussion nach 1800, nämlich bei Philippe Pinel und Johann Christian Reil. Diese beiden Autoren ordnen die pathologische Vorstellung einer feindlich gesinnten Umwelt noch der Melancholie zu, bestimmen sie jedoch – und das ist die entscheidende Weiterführung – als eine fixe Idee, mithin als eine „partielle[ ] Verkehrtheit des Vorstellungsvermögens“.5 Leicht zeitversetzt zu den allgemeinen Debatten um Epigenese und Heredität6 setzt auch in der deutschsprachigen Psychologie ein neues Interesse an der Vererbung von seelischen Krankheiten ein. Im γνωθι σαυτον wird beispielsweise intensiv diskutiert, inwieweit den Menschen psychische Dispositionen „angebohren werden“7 – und dies an keinem anderen Gegenstand als einem Menschen, der an Verfolgungswahn leidet. Der Verfolgungswahn ist der diskursive Ort, an dem sich medizinisch-psychologische und literarische Gedankenfiguren in der Goethezeit überschneiden bzw. in der Überschneidung formieren. Von Goethes Wilhelm Meister,8 wo Vorstellungen des Harfners bezüglich der Verfolgung durch ein dämonenartiges Wesen genauso Raum gegeben wird wie seiner familiären Vorgeschichte, bis zu Tiecks Eckbert und Runenberg sowie E. T. A. Hoffmanns Sandmann werden in der Goethezeit Fälle von Verfolgungswahn verhandelt, die ins Verhältnis zu den hereditären Ausgangsvoraussetzungen gesetzt werden. Nicht von ungefähr wird der Elterngeneration eine entscheidende Rolle in den Erzählungen und im Roman zugewiesen. 5Johann
Christian Reil: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen (1803). Hrsg. von Frank Löhrer. ND Aachen 2001, S. 306 f. 6Hierzu Jörg Jantzen: Physiologische Theorien. In: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Thomas Buchheim u. a. Ergänzungsband zu Werke Bd. 5 bis 9. Stuttgart 1994, S. 375–670; Hans-Jörg Rheinberger, Staffan Müller-Wille: Vererbung. Geschichte und Kultur eines biologischen Konzepts. Frankfurt a. M. 2009, S. 64–100; zur Vererbung in der Literatur: Siegrid Weigel: Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaften. München u. a. 2006; Ohad Parnes, Ulrike Vedder, Stefan Willer: Das Konzept der Generation. Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte. Frankfurt a. M. 2008; Ulrike Vedder: Das Testament als literarisches Dispositiv. Kulturelle Praktiken des Erbes in der Literatur des 19. Jahrhunderts. München 2011, allerdings ohne besonderen Schwerpunkt auf der Goethezeit bzw. Romantik. Hierzu: Vf.: ‚Das Allerheiligste der Zeugung‘. Zum epistemischen und poetologischen Gehalt der Zwillings-Metapher in Jean Pauls ‚Flegeljahren‘ (mit einem Exkurs zur Geminologie um 1800). In: Jean-Paul-Jahrbuch 48/49 (2014), S. 285–308. 7Karl Christoph Nencke: Auszug aus einem Briefe. In: Karl Philipp Moritz: Gnōthi sauton oder Magazin zur Erfahrungs-Seelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte (wie Anm. 2), S. 1–6, hier S. 1. Hervorh. MB. 8Die Hrsg. von MBA V gehen davon aus, dass der Roman und die Figur in Büchners Lenz Niederschlag gefunden haben (ebd., S. 447). Vgl. zu Büchners Goethe-Rezeption allgemein Burghard Dedner: ‚In Shakespeare finden wir es … in Göthe manchmal‘. Büchner und Goethe. In: Ders., Ralf Beil (Hrsg.): Georg Büchner. Revolutionär mit Feder und Skalpell. Ostfildern 2013, S. 293–305.
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Goethe und die Romantiker interessieren sich in diesem Zusammenhang insbesondere für die dämonische Variante des Verfolgungswahns, allerdings nicht in dem Sinne, dass sie, wie die zeitgenössischen Mediziner, davon ausgehen, dass die Rede von den verfolgenden Dämonen ausschließlich Wahnvorstellungen bezeichnet. Vielmehr stellt die Option einer realen Existenz der Dämonen eine zwar minoritäre, aber niemals auszuschließende Lesart ihrer Texte dar. Man könnte von einer Erfindung der phantastischen Literatur aus dem Geiste des Verfolgungswahns sprechen. Dieses doppelte Interesse am Verfolgungswahn als medizinischer und dämonischer – oder allgemeiner: metaphysischer – Größe ist so tiefgehend, dass man ohne Übertreibung behaupten kann, dass das Krankheitsbild zum Strukturprinzip der genannten Texte avanciert. Das hängt damit zusammen, dass der Verfolgungswahn als eine reflexive Krankheit geschildert wird, die ihre eigenen Ursachen zur Sprache bringt, dergestalt dass die hereditären Verursacher der Krankheit, also die Eltern, in Form der eingebildeten Verfolger ihrer Kinder manifest werden. Eine neue Dimension bekommt – ich kehre zur Psychiatriegeschichte zurück – das Nachdenken über Verfolgungswahn bei dem französischen Psychiater Esquirol, der mit der Monomanie einen neuen psychischen Krankheitstyp zu beschreiben versucht, der die alte Melancholie- und die Hypochondrielehre miteinander verbindet.9 Insbesondere in den zwei Beiträgen ‚Dämonomanie‘ und ‚Monomanie‘ aus den Bänden acht (1814)10 und 34 (1819)11 des Dictionnaire des sciences médicales spitzt Esquirol die Monomanie-Lehre, den Gedanken von der partiellen Verletzung des Verstandestätigkeit radikalisierend, auf die Beschreibung von Menschen zu, die Furcht vor sie bedrohenden oder verfolgenden Geistern oder, als deren weltliche Variante, vor staatlichen Organen haben. Sehr viele Beispiele, die Esquirol wählt, um die melancholische Monomanie als eine Furcht-Krankheit zu kennzeichnen, sind dementsprechend solche, in denen, sei es religiöser, sei es weltlicher, Verfolgungswahn eine zentrale Rolle spielt: „Die Furcht hat, welches auch ihr Gegenstand ist, den allgemeinsten Einfluß auf die melancholischen; der eine abergläubisch [sic] fürchtet den Zorn und die Rache des Himmels, wird von Furien verfolgt, wähnt sich in der Gewalt des Teufels, von den Flammen der Hölle verzehrt, und zu ewiger Pein verdammt; der andere befürchtet Ungerechtigkeiten der Regierung, gefangen und zum Schaffot geführt zu werden; er beschuldigt sich selbst, die größten Verbrechen begangen zu haben, von denen er sich dennoch zu rechtfertigen sucht“12 – und in dieser
9Jean Étienne Dominique Esquirol: Allgemeine und specielle Pathologie und Therapie der Seelenstörungen. Nebst einem Anhang von J. C. A. Heinroth, übersetzt von Karl Christian Hille. Leipzig 1827, S. 223, spricht von „hypochondrische[n] Melancholien“. 10Esquirol, Jean Étienne: Art. Démonomanie. In: Marie-Joseph Alard (Hrsg.): Dictionnaire encyclopédique des sciences médicales. Par une société de médecins et de chirurgiens. 60 Bde. Paris 1812–1822. Bd. VIII, S. 294–316. 11Esquirol: Art. Monomanie (wie Anm. 10). Bd. XXXIV, S. 114–125. 12Esquirol: Allgemeine und specielle Pathologie (wie Anm. 9), S. 208 f.
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Aufzählung geht es fort.13 Immer wieder wird der „abergläubische Schrecken“, insbesondere „auf dem Lande“, als eine Hauptursache der Furcht genannt. Allerdings handelt es sich dabei, das fügt Esquirol ausdrücklich hinzu, nicht um „prädisponirende, sondern nur erregende Ursachen“.14 Esquirols Aufsätze werden in Deutschland, das muss man hinzufügen, ab den späten zwanziger Jahren in einer leicht entstellenden Übersetzung von Karl Christian Hille mit stark auf sein eigenes Werk bezogenen Zusätzen von Johann Christian August Heinroth unter dem Titel Allgemeine und specielle Pathologie rezipiert. Man müsste also streng genommen von ‚Esquirol +‘ sprechen,15 wenn man die Rezeption seiner Lehre in Deutschland beschreiben möchte. Im Zentrum von Esquirols Lehre steht eine unverkennbar soziale, ja politische Komponente, die insbesondere im Dämonomanie-Artikel aus besagtem achten Band des Dictionnaire von 1814 sichtbar wird. Dort beschreibt Esquirol die Dämonomanie, ungeachtet der Tatsache, dass sie gerade erst von ihm ‚entdeckt‘ wurde, bereits als eine aussterbende psychische Krankheit: „In unseren modernen Zeiten“ – der Text ist wie gesagt in den frühen 10er Jahren des 19. Jahrhunderts entstanden – „hat die religiöse Macht ihren Einfluß auf die Ideen […] der Menschen verloren“. An ihre Stelle sind die Organe des Staates getreten: „Viele Individuen fürchten sich jetzt so vor der Polizei, wie sonst vor den Dämonen“. Man dürfe sich also nicht „wundern, in den Irrenanstalten die an Dämonomanie Leidenden durch Kranke ersetzt zu sehen, die sich vor der Polizei, dem Gefängnisse und vor Strafe fürchten“.16 Beschrieben werden also zwei Varianten des Verfolgungswahns, eine religiöse17 und eine weltliche. Gemein ist beiden Varianten, dass diejenigen, die von ihr ergriffen sind, eine – und das verweist auf die Vorgeschichte der Monomanie
13Ebd.,
S. 226: Ein „Herr … […] gerieth […] in die größte Verzweiflung, beschuldigte Jedermann der Ungerechtigkeit, und hielt sich für den Gegenstand ihres Hasses und ihrer Verfolgung“. Schließlich wird seine Geisteshaltung suizidal: „Endlich machte er mehrere Versuche sich zu tödten“. Ein ähnliches Beispiel findet sich ebd., S. 236. Weitere Beispiele dieser Art folgen. 14Ebd., S. 208 f.; 54; 201. 15Vgl. hierzu Steffen Martus: Animalischer Magnetismus, Pathographie und Kunst in Büchners ‚Lenz‘. In: Thomas Wegmann, Martina King (Hrsg.): Fallgeschichte(n) als Narrativ zwischen Literatur und Wissen. Innsbruck 2016, S. 139–166, hier S. 142 f., sowie Yvonne Wübben: Büchners ‚Lenz‘. Geschichte eines Falls. Konstanz 2016, S. 82 f. Wübben verbindet ihre Rekonstruktion mit einer gut begründeten Kritik an der nicht-kohärenten Gegenüberstellung von Psychikern und Somatikern, an der die Büchner-Forschung seit vielen Jahren festhält; vgl. z. B. Sabine Kubik: Krankheit und Medizin im literarischen Werk Georg Büchners. Stuttgart 1991, S. 120–127; Carolin Seling-Dietz: Büchners ‚Lenz‘ als Rekonstruktion eines Falls ‚religiöser Melancholie‘. In: Georg Büchner Jahrbuch 9 (1995–1999), S. 188–236, hier S. 229. 16Esquirol: Allgemeine und specielle Pathologie (wie Anm. 9), S. 256. 17Esquirol bezeichnet mit der „religiöse[n] Melancholie oder […] Dämonomanie“ diejenien „Delirien […], die sich auf übersinnliche Ideen, auf geistige Wesen, und auf Alles, was zu dem Glauben und Religionscultus gehört, beziehen“. Ebd., S. 250–252.
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in der Angst-Krankheit der Hypochondrie18 – übergroße „Furcht“ empfinden. Die Kranken fürchten also den „Zorn“ und die „Rache des Himmels“ bzw. des „Teufels“, aber eben auch „Ungerechtigkeiten der Regierung“.19 An diesem Punkt setzt nun das soziale bzw. politische Argument ein: „Die Regierungen“, so fährt Esquirol fort, „müssen zu andern Mitteln greifen, um sich der Gelehrigkeit des Volkes zu versichern und über deren Gehorsam zu wachen: die Polizei ist die Schutzwehr der öffentlichen Sicherheit, und bildet eine große Macht, deren oft verborgene Mittel die Störer und Unruhigen erreicht: aber je mehr ihre Thätigkeit geheim geschieht, desto stärker wirkt sie auf die schwachen und furchtsamen Gemüther“.20 Bemerkenswert an dieser Analyse ist, dass in den Augen Esquirols hinter beiden Varianten des Verfolgungswahns, dem religiösen wie dem weltlichen, die „Regierungen“ der jeweiligen Staaten stehen, die erst die Fiktion einer himmlischen oder dämonischen Strafe ersonnen haben, um sich des „Gehorsam[s]“ des Volkes zu versichern, und – als der Glaube nicht mehr stark genug war – die „Polizei“ als „Schutzwehr der öffentlichen Sicherheit“. Diese Polizei ist, so muss man Esquirol verstehen, im Gegensatz zur himmlischen Garantie der öffentlichen Sicherheit, nicht fiktiv, aber sie hat in seinen Augen eine stark imaginäre Dimension, zumindest für die „schwachen und furchtsamen Gemüther“; und zwar wegen ihrer „verborgene[n] Mittel“. Weil der Einzelne zwar weiß, dass die Polizei oder andere Staatsorgane etwas im Schilde führen, aber nicht was, können seine Gedanken bei entsprechender Prädisposition wahnhafte Züge annehmen. Diese grundsätzliche Tendenz wurde durch die Französische Revolution und die napoleonische Ära – darauf spielt Esquirol an, wenn er in den Zehnerjahren von „Zeiten der Unruhen und bürgerlichen Zwistigkeiten“ spricht; in einem anderen Zusammenhang erwähnt er auch das „Schaffot“21 – noch einmal verschärft. Die Überlegungen, die ich im Folgenden entwickeln werde, besagen, dass auf der Basis von Esquirols Ideen auch in der Literatur eine neue soziale oder sogar politische Dimension im Nachdenken über Verfolgungswahn Einzug hält. Mit diesem Paradigmenwechsel lässt sich präzise die Differenz zwischen Büchner und Autoren wie Goethe, Tieck oder Hoffmann beschreiben, die, wie bereits gesagt, vor allem die hereditäre und die metaphysische Dimension des dämonischen Verfolgungswahns in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen gestellt hatten. Die Vor-
18Vgl.
zur Geschichte der Hypochondrie als Furcht-Krankheit Esther Fischer-Homberger: Hypochondrie. Melancholie bis Neurose. Krankheiten und Zustandsbilder. Bern 1970. 19Esquirol:
Allgemeine und specielle Pathologie (wie Anm. 9), S. 208. S. 256. Ähnlich die folgende Passage: „Es ist schon lange her, daß man behauptete, die Seelenstörungen wären Krankheiten der Civilisation; man würde in gewisser Rücksicht der Wahrheit viel näher gekommen seyn, hätte man es von dieser Form gesagt: denn in der That, je weiter die Civilisation vorgeschrieben ist, um so häufiger findet man auch sie [die Seelenstörungen], die ihren Character und ihre Ursachen von und in den verschiedenen Graden der Civilisation entlehnt und findet.“ (ebd., S. 200 f.). 21Ebd., S. 208. 20Ebd.,
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stellung einer potenziellen Realität der eingebildeten metaphysischen Verfolger streicht nun Büchner genauso wie das Interesse an der hereditären Erwerbung der Krankheit und konzentriert sich stattdessen weitgehend, im Sinne Esquirols, auf deren sozialen Erwerb. Diese Differenz ist jedoch, wie ich darüber hinaus ausführen möchte, nicht so groß, als dass Büchner sich nicht doch an seinen literarischen Vorgängertexten orientieren könnte, insbesondere an Goethe und Tieck. Im Rahmen dieser distanzierten Bezugnahme auf die Romantik lässt sich zudem noch eine Binnendifferenzierung im Werk Büchners etablieren: Während nämlich – wir sprechen nun von der Zeitlinie zwischen 1835 und 1836 – Woyzecks Vorstellungen, von den Freimaurern etc. verfolgt zu werden,22 tendenziell eher dem weltlichen Verfolgungswahn und dessen politischen oder biopolitischen Ursachen zuzuordnen sind, ist Lenz’ Verfolgungswahn stärker dem Phänomen der Dämonomanie, also dem religiösen Verfolgungswahn, zuzurechnen. Aber auch hier gilt jedoch mit Esquirol, dass soziale Gründe für den Ausbruch der Krankheit verantwortlich zeichnen. Der Rekonstruktion der bei Büchner minutiös geschilderten sozialen ‚Erregung‘ der Dämonomanie aus der Prädisposition widmet sich dieser Aufsatz.
2 … und in Büchners Lenz Die Bezüge von Büchners Lenz zu Esquirols Monomanie-Lehre liegen auf der Hand und sind in der Forschung, wenn auch auf allgemeinerem Niveau, als ich das hier tun möchte, rekonstruiert worden:23 die Erwähnung der (für die Monomanie maßgeblichen) „fixe[n] Idee“ (MBA V, S. 42),24 der Hinweis auf Lenz‘ Zustand als „halb wahnsinnig“ (MBA V, S. 43),25 schließlich die Formulierung, dass die Bevölkerung ihn für einen „Besessenen“ (MBA V, S. 47) hält;26 all das weist in Richtung Esquirol und seiner deutschen Adepten. Hinzu kommt die Rede von den
22Hierzu
ausführlich Vf.: ‚Verborgene Mittel‘. Verfolgungswahn im Fall Woyzeck (Büchner/Clarus/Esquirol). Erscheint in: Rudolf Behrens, Carsten Zelle (Hrsg.): Causes célèbres. Tübingen 2020.
23Vgl.
Seling-Dietz: Büchners ‚Lenz‘ als Rekonstruktion eines Falls ‚religiöser Melancholie‘ (wie Anm. 15), S. 209 u. ö.; Wübben: Büchners ‚Lenz‘ (wie Anm. 15), S. 100–104. 24Vgl. Wübben: Büchners ‚Lenz‘ (wie Anm. 15), S. 102 f. Textstellen von Büchner werden hier und im Folgenden zit. nach der Marburger Büchner Ausgabe (Darmstadt 2000–2013) unter der Sigle MBA. Die Nachweise erscheinen direkt im Text. 25Ebd., S. 102; Esquirol: Allgemeine und specielle Pathologie (wie Anm. 9), S. 199: Also „ist die Monomanie […], oder der fixe Wahn, dasjenige fieberlose Delirium, welches bloß partiell, oder nur auf einen Gegenstand gerichtet ist“. 26Esquirol: Allgemeine und specielle Pathologie (wie Anm. 9), S. 258: „Giebt es auch keine Besessenen mehr, so giebt es doch noch einige Gestörte (monomaniaci), die in der Gewalt von Dämonen zu seyn glauben“. Die „Symptome“ von „Dämonomanien“ und denen, die glauben, „Besessene[ ]“ zu sein, sind „dieselben“ „und daher schließe ich, daß die Besessenen u. s.w. wirklich Gestörte […] gewesen sind“.
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„religiösen Quälereien“ (MBA V, S. 42), die eine religiöse Melancholie im Sinne Esquirols27 nahelegt. Was in der Forschung jedoch noch nicht berücksichtigt wurde, ist der Umstand, dass Esquirol die Monomanie wie gesagt auf dämonischen und weltlichen Verfolgungswahn zuspitzt. Man muss sich vor Augen führen, dass wegen dieser Zuspitzung kurze Zeit später die Monomanie, unter dem Terminus der Paranoia, nicht mehr als Fortsetzung der alten Melancholie- und Hypochondrielehre, sondern als ein eigenständiger Formenkreis psychischer Krankheiten, also jenseits von Melancholie und Hypochondrie einerseits und Manie andererseits, etabliert wird.28 Schauen wir uns vor diesem Hintergrund an, ob sich die psychische Entwicklung von Lenz als (Genese eines) Verfolgungswahn(s) lesen lässt, verstanden als die wahnhafte Angst vor verschiedenen Gegnern, Aggressoren oder Verfolgern, die jedoch nur die verschiedenen Figurationen des einen „innere[n] Feind[s]“29 darstellen: Auffällig ist vorderhand, dass Büchners Protagonist von seiner Reise ins Steintal an unter den von Esquirol für die Monomanie als typisch genannten Angst-Zuständen leidet (wie gesagt ist die Monomanie die ‚Erbin‘ der alten Angst-Krankheit Hypochondrie). Es beginnt mit der „Angst in diesem Nichts“ (MBA V, S. 32) und der „unnennbare[n] Angst“ (MBA V, S. 33), die Lenz auf seiner Reise zu Oberlin und in seiner ersten Nacht im Steintal spürt. Es setzt sich fort mit der „sonderbare[n] Angst“ (MBA V, S. 34), die ihn abends vor dem Einschlafen30 befällt, dem Zustand der „größten Angst“ (MBA V, S. 39), die sich vor bzw. anlässlich von Oberlins Abreise des Protagonisten der Erzählung bemächtigt, und der Steigerung „seine[r] Angst“ angesichts der Vorstellung, die „Sünde in den heiligen Geist“ stehe vor ihm (MBA V, S. 43). Gegen Ende taucht die „unbeschreibliche“ bzw. „unaussprechliche Angst“ (MBA V, S. 46) wieder auf, die sich zur „heftigsten“ bzw. „fürchterlichsten Angst“ steigert (MBA V, S. 47), zu einer „Angst“, die „nach Rettung dürstend[ ]“ ist (MBA V, S. 48), und sich beim Abtransport zu einer „dumpfe[n] Angst“ (MBA V, S. 49) wandelt. Diese Angstzustände sind jedoch nicht perennierend. Wie z. B. am Ende kann es Zustände
27Seling-Dietz:
Büchners ‚Lenz‘ als Rekonstruktion eines Falls ‚religiöser Melancholie‘ (wie Anm. 15), S. 215 f.; 225 u. ö. 28Vgl. zur Geschichte des Verfolgungswahns im Rahmen der Paranoia, also seit Mitte des 19. Jahrhunderts, Aubrey Lewis: Paranoia and Paranoid. A Historical Perspective. In: Psychological Medicine 1 (1970), S. 2–12; Udo Loll: Nicht-endogene Faktoren in endomorphen Psychosen. Anhang: Die Geschichte der Paranoia. Hamburg 1988, S. 136 f.; David Trotter: Paranoid Modernism. Literary Experiment, Psychosis and the Professionalization of English Society. Oxford 2001, S. 19–31. 29Johann Christian Reil: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttung. Halle 1803, S. 283. 30Die von Dämonomanie Ergriffenen, schreibt Esquirol, „schlafen fast gar nicht, essen wenig“ (Esquirol: Allgemeine und specielle Pathologie (wie Anm. 9), S. 270).
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geben, in denen Lenz „keine Angst“ fühlt (MBA V, S. 49); sie kommt jedoch in schöner bzw. besser unschöner Regelmäßigkeit wieder. Schon während der Reise ins Steintal und zu Beginn von Lenz’ Aufenthalt dort entwickelt sich die genannte Angst, wenn auch noch sehr dezent, in Richtung Nachstellung. Nehmen wir dafür die ersten beiden Nennungen. Das für die Beschreibung seiner Angst verwandte Verb ist beides Mal „faßte“ (MBA V, S. 32) bzw. „erfaßte“ (MBA V, S. 33). Die auf der wörtlichen Ebene mitlaufende Implikation, dass die Angst wie eine Person agiert, die den Menschen auf unheimliche Art und Weise (er)fassen kann, wird dadurch verstärkt, dass Lenz beide Male im Zusammenhang mit der Angst eine fluchtartige Bewegung ausführt: „er riß sich auf und flog den Abhang hinunter“ (MBA V, S. 32); „er sprang auf, er lief durchs Zimmer, die Treppe hinunter, vor’s Haus; aber umsonst“ (MBA V, S. 33). Dementsprechend verwundert es nicht, dass der Erzähler für Lenz – unmittelbar anschließend an die erste Angst-Nennung – ein Verfolgungsszenario beschreibt: „Es war als ginge ihm was nach, und als müsse ihn was Entsetzliches erreichen, etwas das Menschen nicht ertragen können, als jage der Wahnsinn auf Rossen hinter ihm“ (MBA V, S. 32).31 Die implizit evozierte Vorstellung, dass es die Angst der Verfolger ist, vor dem sich Lenz fürchtet, wird nun also auch auf Inhaltsebene gehoben. Die Tatsache, dass die Angst „namenlos[ ]“ ist, hat sich vorderhand in der Nennung einer unbestimmten Entität niedergeschlagen (erst ein reines „was“, dann ein „was Entsetzliches“, dann ein „etwas das Menschen nicht ertragen können“); in einem zweiten Schritt wählt der Erzähler zusätzlich einen sprachlichen Kunstgriff, nämlich indem er nicht nur die Angst als Teil oder Gegenstand der Krankheit, sondern die Angstkrankheit selbst zum Agenten der Verfolgung macht: „als jage der Wahnsinn auf Rossen hinter ihm“ (ebd., Hervorh. MB). Dieser Kunstgriff wird noch zweimal wiederholt,32 jedes Mal in einem Szenario, in dem die Krankheit selbst zur Bedrohung wird, jedes Mal verbunden mit der „Angst“; das nächste Mal, wenn der Erzähler davon spricht, dass sich bei Lenz „gegen Abend“, also vor dem Zubettgehen, eine Vorstellung entwickelt, die sich wie „die Angst“ bei „Kindern, die im Dunkeln schlafen“, anfühlt. Hier setzt sich nun „der Alp des Wahnsinns […] zu seinen Füßen“ (MBA V, S. 34). Eine Ähnlichkeit zum ebenfalls unter Verfolgungswahn leidenden Harfner aus Goethes Wilhelm Meister fällt hier deutlich ins Auge: Auch der Harfner leidet an aus der Verfolgungsvorstellung hervorgehendem Ambulationszwang, der ihm den Schlaf verleidet bzw. ihn im Schlaf heimsucht: „Flüchtig und unstet sollt ich sein, daß mein unglücklicher Genius mich nicht einholet, der mich nur langsam verfolgt, und nur dann sich merken läßt, wenn ich mein Haupt niederlegen und ruhen
31Vgl. zu den Tieck-Bezügen die Ausführungen der Herausgeber in MBA V, S. 379. Die Annahme, dass mit dieser Formulierung nur ein An-, aber noch nicht Ausbrechen der Krankheit beschrieben wird, scheint mir nicht ganz nachvollziehbar (so Seling-Dietz: Büchners ‚Lenz‘ als Rekonstruktion eines Falls ‚religiöser Melancholie‘ (wie Anm. 15), S. 207; 211). 32Vgl. Wübben: Büchners ‚Lenz‘ (wie Anm. 15), S. 91 (ohne Hinweis auf Verfolgungswahn).
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will“,33 sagt er zu Wilhelm. Insbesondere ist eine Ähnlichkeit in der räumlichen Position des Verfolgers festzustellen: Der Harfner gibt nämlich an, „daß bei seinem Erwachen, zu jeder Stunde der Nacht, ein schöner Knabe unten an seinem Bette stehe, und ihm mit einem blanken Messer drohe“,34 also auch, wie beim liegenden bzw. liegend vorgestellten Lenz, „zu seinen Füßen“ (s. o.). Ein drittes Mal wird die Krankheit als Platzhalter des angsteinflößen namenlosen Etwas kurz vor Ende aufgerufen, wenn es heißt, dass sich Lenz, wieder im Kontext des Schlafens, „in der heftigsten Angst“ (MBA V, S. 47) befindet, dass ein unbestimmtes und gerade in seiner Unbestimmtheit gefährliches Etwas – auch hier also wieder die Hilfsformulierung des Etwas, das dann in den Wahnsinn als Agenten übergeht – ihn anfasst: „er stieß an etwas Grauenhaftes, Entsetzliches, der Wahnsinn packte ihn“ (MBA V, S. 47). Damit wird zweierlei zur literarischen Darstellung gebracht: erstens eine, die Diskursgeschichte des Verfolgungswahns nachzeichnende, an Lenz noch einmal konkretisierte Entwicklung des Verfolgungswahns aus der Angst und zweitens eine Prädisposition Lenz’ zu dieser Krankheit, dergestalt, dass er unter diffusen, nicht ausgeprägten Vorstellungen von Bedrohung, Nachstellung, Angriffen etc. leidet, deren Agenten jedoch noch nicht bzw. nicht durchgehend nach außen projiziert werden. Während des Aufenthalts bei Oberlin werden die Verfolger, Bedroher etc. jedoch durchaus konkreter, tendieren also zu einer externen Existenz. Dies lässt sich an Formulierungen wie „dann jagte es ihn auf, hinaus in’s Gebirg“ (MBA V, S. 43; Hervorh. MB) ablesen. Man denke auch an die, auf Lenz’ Akrophobie anspielende, Rede vom „Abgrund, zu dem ihn eine unerbittliche Gewalt hinriß“ (MBA V, S. 41; Hervorh. MB), variiert in der Formulierung von der „Lust“, die „ihn trieb, immer wieder hineinzuschauen“ in den Abgrund (MBA V, S. 43; Hervorh. MB). Mal ist es ein „es“, mal die „Lust“, mal eine „Gewalt“, die durch die Wahl eines verfolgungsaffinen Verbs annähernd in die Rolle von eigenständigen Agenten kommen und somit den Anschein der geistigen Exterritorialität erwerben. Zugleich, beide Phänomene bauen nicht aufeinander auf, sondern überlappen sich, treten nun konkrete externe Verfolger bzw. bedrohende Figuren auf den Plan. In diesem Zusammenhang experimentiert Büchner (das einzige Mal im Übrigen) mit der romantischen Vorstellung, dass die genetischen Erzeuger in die Rolle des Verfolgers schlüpfen können. Es ist nämlich die Mutter, die – ähnlich wie der Vater in Tiecks Runenberg (ein Text, der bereits zu Beginn des Lenz35 zitiert wurde) – plötzlich auftaucht und eine gewisse Bedrohlichkeit ausstrahlt: Zwar hat Lenz bei ihrem ‚Anblick‘ „ein heimliches Weihnachtsgefühl“; das Gefühl stellt
33Johann
Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe in 40 Bänden. Hrsg. von Friedmar Apel und Dieter Borchmeyer. Bd. IX: Wilhelm Meisters Lehrjahre. ‚Wilhelm Meisters theatralische Sendung‘, die ‚Lehrjahre‘ und die ‚Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten‘, aus den Quellen ediert und neu kommentiert. Frankfurt a. M. 1992, S. 570. Hervorh. MB. 34Ebd., S. 972. Hervorh. MB. 35Vgl. den Kommentar der Herausgeber in MBA V, S. 373 f.
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sich jedoch bei der Vorstellung ein, da die Mutter hinter den Bäumen ‚hervortritt‘, die Lenz zuvor, sie in „Flächen und Linien“ abstrahierend, als eine eigene bedrohliche Entität wahrgenommen hat, die ihn mit „gewaltigen Tönen anrede[t]“. Die darauffolgende Formulierung, dass ihm die Mutter „dies Alles bescheert“ habe (MBA V, S. 34), ist insofern mindestens als ambivalent zu bewerten. Dass die Mutter explizit als „groß“ wahrgenommen wird, weist in eine ähnliche (bedrohliche) Richtung. Hier sei daran erinnert, dass in Tiecks Runenberg die mutterähnliche Figur der Verfolgerin, die Frau vom Berge, ebenfalls mehrfach als „groß“;36 und in dieser Größe als ambivalent dargestellt wird (letztlich eine Reminiszenz an Moritz’ Reflexion über Erinnerungstäuschungen die früheste Wahrnehmung betreffend).37 Auch bei Tieck ist der landschaftliche Kontext übrigens ein Gebirge. Doch diese romantische Option lässt Büchner im weiteren Verlauf der Erzählung fallen. Stattdessen konzentriert sich – und hier kommen wir, um noch einmal mit Esquirol zu sprechen, von den „prädisponirende[n]“ zu den „erregende Ursachen“ (s. o.) – die Handlung auf den „Mann“, der „vor langer Zeit in die Gegend gekommen“ war und „im Rufe eines Heiligen“, der „Geister beschwören“ könne, steht. Diesen Mann hat die Forschung als einen Magnetiseur identifiziert.38
36Ludwig
Tieck: Schriften in zwölf Bänden. Hrsg. von Manfred Franck et al. Bd. VI: Phantasus. Frankfurt a. M. 1985, S. 191. 37Christian sieht in der Entkleidungsszene „eine große weibliche Gestalt“. Und der Erzähler unterstreicht diese Wahrnehmung noch einmal mit folgenden Worten: „sie schien nicht den Sterblichen anzugehören, so groß, so mächtig waren ihre Glieder“ (ebd., S. 191; Hervorh. MB). Die Vorstellung von der Übergröße der schwarzhaarigen Schönheit hat sich auch bis in die Fantasmagorie beim zweiten Gebirgsbesuch gehalten: „Schreiten die großen Glieder nicht aus den Bergen auf mich zu?“ (ebd., S. 197; Hervorh. MB), rief Christian zum damaligen Zeitpunkt. Man denke auch an den Abgang des Waldweibs als Schöne vom Berg, bei dem Christian „den hohen Gang, den mächtigen Bau der Glieder“ (ebd., S. 204; Hervorh. MB) zu sehen vermeint. Und auch am Schluss nennt Christian die Frau „die Gewaltige“ (ebd., S. 208; Hervorh. MB). Hierzu Vf.: Verfolgungswahn und Vererbung (wie Anm. 1), S. 221–229. Lenz hatte ganz am Anfang bereits die Natur personal mit genau diesem Wortlaut beschrieben: die „gewaltigen Glieder“. Gleich darauf erfolgt ein „Es drängte in ihm“ (MBA V, S. 31). 38Vgl. Wübben: Büchners ‚Lenz‘ (wie Anm. 15), S. 92–99. Nicht auszuschließen ist, dass sich, wie Wübben argumentiert, Lenz’ Dämonomanie durch den möglichen somnambulen Rapport im Haus des kranken Mädchens verstärkt hat. Dass sich jedoch Lenz bereits seit seiner Predigt in einem magnetischen Zustand bzw. Rapport mit der Gemeinde befunden habe (so Martus: Animalischer Magnetismus, Pathographie und Kunst in Büchners ‚Lenz‘ (wie Anm. 15), S. 151–158; Gideon Stiening: Literatur und Wissen in Büchners Werk. Studien zu seinen wissenschaftlichen, politischen und literarischen Texten. Berlin u. a. voraussichtlich 2019), scheint mir etwas zu weit zu gehen, schon allein deswegen, weil eine solche Lesart den pietistisch-mystischen Charakter der Predigt-Szene negiert (s. Anm. 57). Wichtiger für die Entwicklung von Lenz’ religiösem Verfolgungswahn ist vielmehr die – vom Magnetismus ursprünglich unabhängige, dann jedoch von ihm verstärkte – Vorstellung eines real in die Welt eingreifenden Gottes. Dieser Idee leisten Oberlin und der Magnetiseur Vorschub, mit dem Effekt, dass Lenz sie zu seinem Wahnsystem eines verfolgenden bzw. verfeindeten Gott ausbaut. Nur in dieser Hinsicht, nicht aber in Bezug auf die Details der spezifisch elsässischen Verbindung von Magnetismus und Spiritismus scheinen mir die beiden Figuren auf Lenz bezogen.
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Als Lenz von der Hütte weggeht, wo der Genannte möglicherweise das kranke Mädchen in Rapport gesetzt hat, heißt es: „es war ihm jetzt unheimlich mit dem gewaltigen Menschen, von dem es ihm manchmal war, als rede er in entsetzlichen Tönen“ (MBA V, S. 41). Aus der Natur, die ihn mit „gewaltigen Tönen“ (s. o.) anredet, ist also ein Mensch geworden, wiewohl er als Verfolger noch keineswegs stabil ist.39 Im Zuge von Lenz’ Auseinandersetzung mit dieser Figur und seinen Worten findet eine Konkretisierung der bisher vagen Verfolgung- bzw. Bedrohungsvorstellungen statt. Zu dieser Konkretisierung hat in erster Instanz (also vor dieser Episode) niemand geringeres als Oberlin selbst beigetragen, der sich – in diesem Punkt ist der Erzähler sehr eindeutig –, obwohl sich sein Einfluss durchaus auch heilend auf Lenz auswirkt, für die Aggravation der Krankheit verantwortlich zeichnet. Beginnen wir mit der heilenden Wirkung der Anwesenheit Oberlins, bevor wir auf dessen krankmachenden Einfluss (und damit seinen Zusammenhang zum Magnetiseur) zu sprechen kommen: Wenn Kaufmann zu Besuch kommt, ist Lenz nämlich – und das ist ein deutlicher Unterschied zum Beginn seines Besuchs – „wieder in guter Stimmung“ (MBA V, S. 37) und kann daher auch seine Position bei einem Kunstgespräch behaupten.40 Lenz selbst führt die, zumindest vorläufige, Verbesserung seines Zustandes auf seinen Besuch bei Oberlin zurück: „Du weißt, ich kann es nirgends aushalten, als da herum, in der Gegend, wenn ich nicht manchmal auf einen Berg könnte und die Gegend sehen könnte; und dann wieder herunter in’s Haus, durch den Garten gehn, und zum Fenster hineinsehen. Ich würde toll! toll! Laßt mich doch in Ruhe! Nur ein bischen Ruhe, jetzt wo es mir ein wenig wohl wird!“ (MBA V, S. 39). Wenn man sich fragt, welchen Anteil Oberlin an dieser Heilung hat, dann ließe sich vorderhand der, den Quellen entnommene,41 liebevolle Umgang gegenüber Lenz nennen: „er liebte ihn herzlich“ (MBA V, S. 37). Später wird die „Nähe Oberlins“ explizit als Bestandteil der zwischenzeitlichen Heilung beschrieben (MBA V, S. 46). Auch Oberlins „einfache[r] Art“ (MBA V, S. 36) wird im Text dahingehend gedacht, dass der Pfarrer Lenz von naturphilosophischen Spekulationen abbringt, die eine gewisse Nähe zu seinen krankhaften Vorstellungen aufweisen. Vor allem ließe sich seine Tendenz zum „praktische[n] Leben“ anführen, also die Tatsache, dass er – hier zitiert Büchner einen der „Topoi der 39Schon
im nächsten Satz wird Lenz selbst als ein gefühlter Aggressor (für sich selbst) beschrieben: „Auch fürchtete er sich vor sich selbst in der Einsamkeit“ (MBA V, S. 41). 40Die wichtigsten Positionen der Forschungsliteratur zum Kunstgespräch, die hier nicht detailliert wiedergegeben werden können, werden bei Sebastian Kaufmann: Ästhetik des Leidens? Zur antiidealistischen Kunstkonzeption in Georg Büchners ‚Lenz‘. In: Georg Büchner Jahrbuch 13 (2013–2015), S. 177–206, referiert. Harald Neumeyer: Vom melancholischen Reden über eine ‚Kunst des Lebens‘. Georg Büchners ‚Lenz‘ und das medizinisch-psychiatrische Wissen um Seelenstörungen. In: Gustav Frank (Hrsg.): Wissenskulturen des Vormärz. Bielefeld 2012, S. 315–340, hier S. 320–340, untersuchte das Kunstgespräch mit Blick auf die Melancholie bzw. den Wahnsinn des einen Sprechers – und führt damit die wichtigsten beiden Forschungsstränge zu Büchners Erzählung zusammen. 41Oberlin: Herr L…, MBA V, S. 239: „daß ich ihn liebte“.
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Oberlin-Biographik“42 – „unermüdlich“ ist und hilft bzw. plant, dass „Wege angelegt, Kanäle gegraben“ werden etc. Lenz, der „fortwährend sein Begleiter“ ist (MBA V, S. 33), wird in diese Tätigkeit einbezogen. Was Büchner in den Quellen zu Oberlin eruieren konnte, deckt sich mit einem seiner literarischen Bezugstexte: die – wie in Lenz’ Falle: vorläufige (also gerade nicht nachhaltige) – Heilung des (wie Lenz) dämonomanisch erkrankten Harfners aus Goethes Wilhelm Meister. Der Landgeistliche (auch hier ein theologischer Arzt wie Oberlin),43 zu dem Wilhelm den Harfner in die Kur gibt, verfolgt als Therapieansatz die Rückführung seiner Patienten in die „Wirksamkeit“ oder das „tätige[ ] Leben“;44 Letzteres gemäß der damaligen psychologischen Meinung, dass „Arbeitsamkeit“ und „Bewegung“45 das entscheidende Mittel sind, psychische Krankheiten, die durch Ausschweifung der Leidenschaften entstanden sind, zu heilen bzw. zu verhindern. In diese Richtung geht auch Oberlin und hat damit Erfolg: „jemehr er [Lenz] sich in das Leben hineinlebte, ward er ruhiger“ (MBA V, S. 34).46 Im gleichen Absatz, in dem zum ersten Mal von Lenz’ Rückführung ins „praktische Leben“ gehandelt wird, wird jedoch – und damit kommen wir zu den krankmachenden Aspekten47 – auch Oberlins Hang, theologische Überlegungen mit magnetischen und/oder spiritistischen Erfahrungen zu mischen, Erwähnung getan: „Die Leute erzählten Träume, Ahnungen“ (MBA V, S. 33).48 Und Oberlin ermutigt nicht nur andere, davon zu erzählen, sondern tut es auch selbst. Unmittelbar an den eben gebrachten Hinweis auf die vorläufige Besserung von Lenz’ Zustand („er wurde ruhiger“) anschließend, heißt es, dass (hier zitiert Büchner aus Vie de J. F. Oberlin)49 „Oberlin ihm erzählte, wie ihn eine unaufhaltsame Hand auf der Brücke gehalten hätte, wie auf der Höhe ein Glanz seine Augen geblendet hätte, wie er eine Stimme gehört hätte, wie es in der Nacht mit ihm gesprochen, und wie Gott so ganz bei ihm eingekehrt“ sei (MBA V, S. 34).
42So
die Herausgeber in MBA V, S. 390. Georg Reuchlein: ‚… als jage der Wahnsinn auf Rossen hinter ihm‘. Zur Geschichtlichkeit von Georg Büchners Modernität: Eine Archäologie der Darstellung seelischen Leidens im ‚Lenz‘. In: Jahrbuch für internationale Germanistik 28/1 (1996), S. 59–111, hier S. 66 f. 44Goethe: Sämtliche Werke (wie Anm. 33), S. 716. 45Johann Friedrich Zückert: Medicinisch-moralische Abhandlung von den Leidenschaften. Berlin 41784, S. 123. 46Seling-Dietz: Büchners ‚Lenz‘ als Rekonstruktion eines Falls ‚religiöser Melancholie‘ (wie Anm. 15), S. 212 f., erwägt einen Heinroth-Bezug. 47Die hier geschilderte Ambivalenz in Bezug auf Oberlin entgeht meines Erachtens Kubik: Krankheit und Medizin im literarischen Werk Georg Büchners (wie Anm. 15), S. 120–137, die ein klares und eindeutiges Verschulden Oberlins konstatiert; eine Position, die dann zu Büchners Position in den psychiatrischen Diskursen seiner Zeit hochgerechnet wird, der zum eindeutigen Gegner der psychischen Schule Heinroths etc. erklärt wird. Vgl. zur Kritik an Kubik auch Reuchlein: ‚… als jage der Wahnsinn auf Rossen hinter ihm‘ (wie Anm. 43), S. 71 f. 48Die Herausgeber verweisen in MBA V, S. 389 als mögliche Quelle auf Schuberts Berichte eines Visionärs. 49Vgl. den Kommentar der Herausgeber in MBA V, S. 396. 43Hierzu
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Zwar beschreibt Oberlin keine Verfolgung oder Bedrohung, wohl aber eine (und das ist nach Esquirol wie gesagt eine wichtige Voraussetzung für Dämonomanie; s. o.) ins Körperliche gehende Epiphanie. Auf diese Weise gibt er Lenz Stoff für die Konkretisierung und Ausgestaltung seiner monomanischen Prädisposition: „Lenz faßte das auf, er spann die Sache weiter, kam in ängstliche Träume“ (MBA V, S. 36), heißt es über Oberlins diesbezüglichen Einfluss. In dieser Aneignung hat sich, geformt durch die zuvor bereits existente Angst vor einem unbestimmten, aber feindlich gesinnten Verfolger, nur das Vorzeichen geändert. Statt der von Oberlin genannten haltenden Hand auf der Brücke, erfährt Lenz etwas, das ihn zu und in diesen „Abgrund“ treibt. Dieser Transfer vom guten zum bösen, real in die Schöpfung eingreifenden Gott wird nun, zumindest in Lenz’ Kopf, in der Berghütten-Episode weiter vorangetrieben, wenn der Magnetiseur bei seiner Behandlung des kranken Mädchens erzählt, „wie er eine Stimme im Gebirge gehört, und dann über den Thälern ein Wetterleuchten gesehen habe, auch habe es ihn angefaßt und er habe damit gerungen wie Jakob“ (MBA V, S. 40). Bekanntlich ist es Gott, mit dem Jakob ringt (1 Mos 32,25) – aber dieser Gott ist nun nicht mehr der liebende Gott, von dem Oberlin erzählt hat, sondern ein Gott, der den Menschen angreifen kann. Die Möglichkeit, dass Gott zu Ungunsten von Lenz real in der Welt agiert, realisiert sich für Letzteren (ich spreche im Folgenden fast ausnahmslos von der figural erzählten dritten und der psychiatrisch informierten, aber noch nicht intern fokalisierten zweiten Entwurfsstufe)50 nun darin, dass er diesen Gott sehen und vor allem hören kann, also in der Verstärkung der bisher eher unauffälligen Fehlwahrnehmungen. Zu Anfang hatte Lenz nur – und zwar bevor er zu Oberlin gekommen war – „Stimmen an den Felsen“ gehört und im „Nebel“ „gewaltige[ ] Glieder“ gesehen (MBA V, S. 31). Die Formulierung ist so gewählt, das hier ein Übergang von einer durchschauten in eine nicht mehr durchschaute Wahrnehmungstäuschung stattfindet; ähnlich wie in der Walpurgisnacht-Szene in Goethes Faust,51 wo ebenfalls Landschaftswahrnehmung52 zu halb reflektier-
50Vgl.
ebd., S. 145–161 sowie (zur internen Fokalisierung) Burghard Dedner: Zur Entwurfshaftigkeit von Büchners ‚Lenz‘. Eine Replik. In: Norbert Otto Eke (Hrsg.): Vormärz und Exil – Vormärz im Exil. Bielefeld 2005, S. 445–467. Vgl. zur Funktion der internen Fokalisierung Rüdiger Campe: Von Fall zu Fall. Goethes ‚Werther‘, Büchners ‚Lenz‘. In: Inka Mülder-Bach (Hrsg.): Was der Fall ist. Casus und Lapsus. Paderborn 2014, S. 33–55, hier S. 48–55. 51So schon die Herausgeber in MBA V, S. 373. 52Vgl. zur Spiegelung von psychischer Krankheit und Landschaft in Büchners Lenz Gerd Michels: Landschaft in Georg Büchners ‚Lenz‘. In: Ders.: Textanalyse und Textverstehen. Heidelberg 1981, S. 12–33; Harald Schmidt: Melancholie und Landschaft. Die psychotische und ästhetische Struktur der Naturschilderungen in Georg Büchners ‚Lenz‘. Opladen 1994; Ingrid Oesterle: ‚Ach die Kunst‘ – ‚Ach die erbärmliche Wirklichkeit‘. Ästhetische Modellierung des Lebens und ihre Dekomposition in Georg Büchners ‚Lenz‘. In: Bernhard Spies (Hrsg.): Ideologie und Utopie in der deutschen Literatur der Neuzeit. Würzburg 1995, S. 58–67, hier S. 63 f.; Bernhard Greiner: ‚Lenz’‘ Doppelgesicht. Büchners Spaltung der Figur als Bedingung der Kohärenz der Erzählung. In: Patrick Fortmann (Hrsg.): Commitment and compassion. Essays on Georg Büchner. Amsterdam 2012, S. 91–111, hier S. 93–98.
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baren, halb nicht mehr intellektuell einholbaren visuellen und auditiven Fehlwahrnehmungen führt – und zwar ebenfalls am Beispiel eines Felsen in Dunkel und Nebel: Seh’ die Bäume hinter Bäumen, Wie sie schnell vorüber rücken, Und die Klippen, die sich bücken, Und die langen Felsennasen, Wie sie schnarchen, wie sie blasen! (Faust I, VV. 3876 ff.)
Zurück zu Lenz: Während seines Aufenthalts im Steintal kommt es nun zu den oben genannten, nicht mehr nur illudierten, sondern bereits halluzinierten Tönen aus der Natur und vom Magnetiseur. Und wenn Oberlin und der Magnetiseur von einer personalen göttlichen „Stimme“ sprechen (MBA V, S. 34; 36; 40), dauert es nicht mehr lange, bis Lenz in einem Selbstgespräch ebenfalls eine „fremde Stimme“ (MBA V, S. 46) hört, die mit einem „es war ihm“ eingeleitet wird; eine Formulierung, die die damit verbundene Einbildung sprachlich manifest macht.53 Der durch Oberlin und den Magnetiseur initiierte Übergang von den illudierten Tönen zur halluzinierten Stimme macht Lenz’ Fall nun zu einem der reinen Monomanie, zu der die „Täuschungen der Empfindungen“54 notwendig dazugehören, während bei anderen, melancholischen Formen dies definitionsgemäß nicht der Fall sein muss.55 Dementsprechend verwundert es nicht, dass mit Auftreten dieser Stimme die zwischenzeitlich eingetretene Periode der Besserung definitiv für beendet erklärt wird: „Sein Zustand war indessen immer trostloser geworden, alles was er an Ruhe aus der Nähe Oberlins und aus der Stille des Thals geschöpft hatte, war weg“ (MBA V, S. 46). Oberlins Einfluss in Bezug auf übersinnliche Erfahrungen – zu dem auch eine gewisse Farb-Kabbalistik gehört (die Lenz dazu bringt „wie Stilling die Apocalypse zu lesen“ [MBA V, S. 36]) – hat also den Boden bereitet für die Erfahrungen, die Lenz mit dem Magnetiseur und Wunderheiler macht. Diese Erfahrung hat, wie der Erzähler berichtet, „einen gewaltigen Eindruck auf ihn gemacht“ (MBA V, S. 41). Mit Oberlins, vor allem aber des Magnetiseurs Einfluss wird aus einer Prädisposition zum Verfolgungswahn eine spezifisch dämonomanische Ausprägung dieses Krankheitsbildes – und das bei einem Menschen, der in gutem Zustand die
53Vgl.
zur Funktion der irrealen Vergleichssätze bei der Beschreibung psychischer Krankheit im Lenz Olivetta Gentilin: ‚es war ihm, als‘. Irreale Vergleichssätze als Darstellungsmodus des Wahnsinns in Georg Büchners Erzählung ‚Lenz‘. In: Diegesis. Interdisziplinäres E-Journal für Erzählforschung 6/2 (2017), S. 52–70, hier S. 58 f.; 62–66. 54Esquirol: Allgemeine und specielle Pathologie (wie Anm. 9), S. 271. 55Ebd., S. 202, unterscheidet eine „Monomanie im engeren Sinne des Wortes, oder die Verrücktheit und in die Melancholie“. Zur unscharfen Abgrenzung von Melancholie und Wahnsinn in Esquirols Dämonomanie-Lehre vgl. Neumeyer: Vom melancholischen Reden über eine ‚Kunst des Lebens‘ (wie Anm. 40), S. 317 f. Vgl. zur Halluzination als integralem Bestandteil von Esquirols Monomanie-Lehre Wübben: Büchners ‚Lenz‘ (wie Anm. 15), S. 104–110.
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besten Argumente aus der „idealistische[n] Periode“ (MBA V, S. 37), gemeint ist wohl insbesondere Goethes Schreibweise nach dem Sturm und Drang,56 zugunsten einer realistischen Wahrnehmungs- und Darstellungsweise zerpflücken kann. Die Vorstellungen, die der Magnetiseur bei Lenz evoziert, haben zufolge, dass dieser selbst als gegnerische Figur aus dem Blickfeld Lenz’ gerät. Diese Übergangsstellung wird an der gescheiterten Wiedererweckung des „Kind[s] in Fouday“ deutlich, mit der Lenz den Magnetiseur im Erfolgsfall als (imaginierten) Heiler des Mädchens aus der Waldhütte überboten hätte. Aber um ihn geht es nun gar nicht mehr: Lenz hofft vielmehr, „daß Gott ein Zeichen an ihm thue“ (MBA V, S. 42). Da dies nicht möglich ist, stellt sich die durch Oberlin und den Magnetiseur angestoßene ‚Umarbeitung‘ Gottes vom Begleiter zum Verfolger des Menschen so dar, dass Lenz sich die Schuld dafür gibt, dass er das Mädchen nicht „erwecken“ konnte (MBA V, S. 45), also mit einem „Mörder“ gleichzusetzen sei (MBA V, S. 45) – und glaubt, dass ihn Gott dafür strafe. Damit richtet sich Lenz Aufmerksamkeit mehr und mehr auf einen göttlichen Gegner und Verfolger. Denn nun geriert sich der Protagonist der Erzählung als Gottes teuflischer Widersacher, also als ein Antichrist im Sinne der Apokalypse. Gott ist in dieser Wahnvorstellung sein Gegner,57 der mit ihm einen Kampf auf Leben und Tod ausficht. In diese Richtung geht der Rekurs auf den Mythos vom „ewige[n] Juden“ (MBA V, S. 43). Doch nicht nur das: Die Vorstellungswelt von Goethes Prometheus-Hymne aufnehmend58 und radikalisierend heißt es: „In seiner Brust war ein Triumph-Gesang der Hölle. Der Wind klang wie ein Titanenlied“ – Prometheus ist ja ein Titan – „es war ihm, als könne er eine ungeheure Faust hinauf in den Himmel ballen und Gott herbei reißen und zwischen seinen Wolken schleifen; als könnte er die Welt mit den Zähnen zermalmen und sie dem Schöpfer in’s Gesicht speien; er schwur, er lästerte“ (MBA V, S. 43). Auf dieser Basis kann der religiöse Verfolgungswahn schließlich weitgehend ausbuchstabiert werden: Lenz hat sich mit dem Teufel eingelassen, ja ist der „Satan“ (MBA V, S. 47) selbst – und dementsprechend steht jetzt, kein Dämon, wie beim Harfner, sondern christlich gedeutet, „die Sünde in den heiligen Geist […] vor ihm“ (MBA V, S. 43), um diese Auflehnung gegenüber Gott zu rächen.
56Vgl.
ebd., S. 418 f. ist insofern bemerkenswert, als Lenz unmittelbar nach seiner pietistischen Predigt ein Gefühl der mystischen Einheit mit Gott zu erleben glaubt: „Jetzt, ein anderes Seyn, göttliche, zuckende Lippen bückten sich über ihm aus, und sogen sich an seine Lippen […], es zuckten seine Glieder, es war ihm als müsse er sich auflösen, er konnte kein Ende finden der Wollust“ (MBA V, S. 35; vgl. hierzu die instruktiven Ausführungen von Ikumi Waragai: Die Funktion des pietistischen Sprachgebrauchs in Büchners ‚Lenz‘. In: Josef Fürnkäs (Hrsg.): Zwischenzeiten – Zwischenwelten. Festschrift für Kozo Hirao. Frankfurt a. M. 2002, S. 421–430, hier S. 423–425, sowie den Beitrag von Andrea Polaschegg in diesem Band). Sei es, weil die Unio scheitert, sei es, weil sie nicht anhält, von dieser Geisteshaltung ausgehend, entwickelt sich Lenz im Folgenden von einem Gott liebenden, ja eine Vereinigung mit ihm anstrebenden Menschen zu einem Gegner Gottes. 58In diese Richtung argumentieren auch die Herausgeber in MBA V, S. 456. 57Dies
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Eine Sünde wider oder in den Heiligen Geist59 ist eine Sünde, bei der das Wirken des Heiligen Geistes fälschlicherweise dem Teufel zugerechnet wird. Die einschlägige Referenzstelle ist Math 12,22 ff. Jesus heilt einen Besessenen, der blind und stumm ist; die Pharisäer bezichtigen ihn daraufhin der Kollaboration mit Belzebub als dem obersten der Teufel. Diesen Vorwurf, nämlich dass er den Teufel durch den Belzebub ausgetrieben habe, obwohl es der Heilige Geist war, bezeichnet Jesus in V. 30 als „Lesterung wider den Geist“ (nach Luther 1545). Lenz übernimmt dieses Szenario, tauscht aber die Aktanten aus. Er glaubt ja selber „Satan“ zu sein (MBA V, S. 47). Als ein solcher hat er eine der Heilung des Besessenen durch Jesus bzw. den Heiligen Geist ähnliche Leistung versucht, nämlich eine Tote zu erwecken. Seine Sünde ist dadurch sogar noch größer als die der Pharisäer, weil er nicht das Wirken des Heiligen Geistes dem Teufel zugerechnet, sondern sich, als vom Teufel Besessener, eine Leistung des Heiligen Geistes angemaßt hat. Gott selbst bzw. der Heilige Geist als seine himmlische „Polizei“ im Sinne Esquirols60 ist jetzt also der einzige Verfolger.
3 Moralisches „Contagium“ und „Aufseher“ Fassen wir das bisher Gesagte zusammen: Auf der Handlungsebene lassen sich in Bezug auf die literarische Ausgestaltung von Lenz’ Verfolgungswahn Anleihen bei Tieck und Goethe nachweisen. Dies bietet sich in diesem Falle deswegen an, weil auch Goethe und die Romantiker die dämonische Variante des Verfolgungswahns bevorzugten. Tiecks Vorstellung einer hereditären Selbstreflexivität des Verfolgungswahns, dergestalt dass die für die Krankheit verantwortlichen Eltern selbst in die Rolle des Verfolgers schlüpfen, wird erwogen (Mutter-Episode), aber nicht weitergeführt. Die psychologisch-realistische Ebene des dämonologisch organisierten Verfolgungswahns des Harfners aus Goethes Wilhelm Meister wird hingegen ausführlich zitiert, allerdings ohne die hereditäre und metaphysische Dimension des Textes. Dieses romantische Erbe schlägt Büchner zugunsten einer sozialen Aggravation der Krankheit aus. Lediglich den Gedanken der Selbstreflexivität des Verfolgungswahns übernimmt Büchner auf der formalen Ebene, füllt ihn aber im Sinne der genannten Sozial-These. Was im Lenz beschrieben wird, ist die Genese und Entwicklung einer psychischen Krankheit: Der Übergang von der Prädisposition zum
59Von
der Formulierung („in den Heiligen Geist“) und dem Gedanken her ein Rekurs auf Goethe, Dichtung und Wahrheit, B. VII; vgl. die Kommentare der Herausgeber in MBA V, S. 258. 60Vgl. Esquirol: Allgemeine und specielle Pathologie (wie Anm. 9), S. 256. Ähnlich die folgende Passage: „Es ist schon lange her, daß man behauptete, die Seelenstörungen wären Krankheiten der Civilisation; man würde in gewisser Rücksicht der Wahrheit viel näher gekommen seyn, hätte man es von dieser Form gesagt: denn in der That, je weiter die Civilisation vorgeschrieben ist, um so häufiger findet man auch sie [die Seelenstörungen], die ihren Character und ihre Ursachen von und in den verschiedenen Graden der Civilisation entlehnt und findet.“ (ebd., S. 200 f.).
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eigentlichen Verfolgungswahn wird durch diskursive ‚Ansteckung‘ – Esquirol spricht vom „moralischen Contagium[ ]“61 – insbesondere von Seiten Oberlins, aber auch des in der Waldhütte agierenden Magnetiseurs beschrieben. Von besonderer Bedeutung ist hierbei Oberlins zwischen epiphanischem und abergläubischem Denken angesiedelte Vorstellung von der quasikörperlichen Anwesenheit Gottes, die auf Lenz dergestalt einwirken, dass seine bis dato noch psychointernen, aber von Gewalt geprägten monomanischen Vorstellungen nach außen im Sinne eines rachesuchenden metaphysischen Verfolgers zu verlagern. Obwohl Oberlins Einfluss nicht nur in den Quellen, sondern auch bei Büchner teilweise als heilsam beschrieben wird, lässt sich von einem Anschluss an Esquirols Theorie des planvollen, im Verborgenen stattfindenden Vorgehens ‚offizieller‘ Organe, die den Verfolgungswahn prädisponierter Individuen zumindest billigend in Kauf nehmen (s. o.), sprechen. Es ist nämlich alles andere als ein Zufall, dass im Text ausführlich die Überwachung beschrieben wird, die Lenz erfährt, wenn ihm bei seinen Gängen durch das Steintal mehrere „Aufseher“ nachgeschickt werden, deren „Absicht“ Lenz zumindest „errathen“ kann (MBA V, S. 45). Auch kurz vor Lenz’ Abfahrt aus dem Steintal überlegt Oberlin noch einmal, ob er „ihm Jemand nachschicken“ (MBA V, S. 48) solle. Die Figur Oberlin wird also bei Büchner ambivalent beschrieben: Einerseits führt seine Philanthropie zu einer vorläufigen Besserung von Lenz’ psychopathologischen Zuständen. Andererseits erregt sein Gottesbild Angst bei dem für Monomanie prädisponierten Lenz; eine Angst, die durch die im Verborgenen vorgehenden „Aufseher“, deren Intentionen Lenz nur erraten, nicht aber durchschauen kann, noch einmal verstärkt wird. Die Entwicklung von Lenz’ Dämonomanie wird bei Büchner also nicht nur als psychointernes Geschehen, sondern auch als wahnhafte Überformungen der Rezeption von und Reaktion auf soziale(n) Außeneinflüsse(n) dargestellt; Überformungen, in denen sich gleichwohl sehr genau die Theologie und das psychologische Konzept Oberlins spiegeln. Auch das ist durchaus im Sinne Esquirols, der behauptet hatte, dass man die Geschichte der Religion und Politik detailgetreu anhand der „Geschichte einiger gestörten [sic] geben“, im Sinne von ‚nachzeichnen‘, „könnte“.62
61Ebd.,
S. 276. Auch Wübben: Büchners ‚Lenz‘ (wie Anm. 15), S. 99 argumentiert in diese Richtung, weist dem Wunderheiler jedoch mehr Macht als Oberlin zu. 62Esquirol: Allgemeine und specielle Pathologie (wie Anm. 9), S. 54.
Georg Büchners Teleologiekritik im Kontext der romantischen Naturphilosophie Georg Toepfer
Georg Büchner hat sich wiederholt ausdrücklich zur Teleologie des Lebendigen geäußert. Am ausführlichsten und in programmatischer Weise in seiner Probevorlesung Über Schädelnerven, die er am 5. November 1836 in Zürich gehalten hat. Dort heißt es ganz zu Anfang: [Die Betrachtung] vom teleologischen Standpunkt aus […] findet die Lösung des Räthsels [der Erscheinungen des organischen Lebens] in dem Zweck der Wirkung, in dem Nutzen der Verrichtung eines Organs. Sie [d. i. die Betrachtung vom teleologischen Standpunkt] kennt das Individuum nur als etwas, das einen Zweck außer sich erreichen soll, und nur in seiner Bestrebung, sich der Außenwelt gegenüber theils als Individuum, theils als Art zu behaupten. Jeder Organismus ist für sie eine verwickelte Maschine, mit den künstlichen Mitteln versehen, sich bis auf einen gewissen Punkt zu erhalten. […] Die Natur handelt nicht nach Zwecken, sie reibt sich nicht in einer unendlichen Reihe von Zwecken auf, von denen der eine den anderen bedingt; sondern sie ist in allen ihren Aeußerungen sich unmittelbar selbst genug. Alles, was ist, ist um seiner selbst willen da. Das Gesetz dieses Seins zu suchen, ist das Ziel der, der teleologischen gegenüberstehenden Ansicht, die ich die philosophische nennen will. (MBA 8, S. 153)1
In dieser bekannten, viel zitierten Passage werden unterschiedliche Arten von Teleologie angesprochen. Dies beginnt im ersten Satz mit einer organismusinternen Teleologie: den Zwecken von Organen innerhalb eines Organismus. Im zweiten Satz, der in keinem erkennbaren logischen Verhältnis zum ersten steht, geht es dann nicht mehr um die Teile, sondern um den ganzen Organismus,
1Textstellen von Büchner werden hier und im Folgenden zit. nach der Marburger Büchner Ausgabe (Darmstadt 2000–2013) unter der Sigle MBA. Die Nachweise erscheinen direkt im Text.
G. Toepfer (*) Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 R. Borgards und B. Dedner (Hrsg.), Georg Büchner und die Romantik, Abhandlungen zur Literaturwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05100-4_13
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das Individuum, und sein Verhältnis zur Außenwelt, in der es bestehen und fortbestehen soll. Es ist von einem Sich-Behaupten und einem Sich-Erhalten – zumindest bis zu einem gewissen Punkt – die Rede. Und die Sache ist normativ formuliert: Die Einnahme des teleologischen Standpunktes impliziert, dass das Sich-Behaupten und Sich-Erhalten geschehen soll. Dieser Standpunkt enthält also nicht nur eine deskriptive Einstellung, sondern er stellt Forderungen auf. Demgegenüber verhält sich die von Büchner philosophisch genannte Ansicht rein deskriptiv und verwirft es außerdem, der Natur Zwecke zuzuschreiben. Dieses Handeln nach Zwecken wird als ein mühsames Geschäft beschrieben, als eine „unendliche Reihe“, über die vielleicht das menschliche Treiben beschrieben werden könne, nicht aber das der Natur, die die Dinge um ihrer selbst willen geschehen lasse. Um die hier angesprochenen verschiedenen Formen der Teleologie voneinander zu unterscheiden, will ich differenzierende Begriffe für sie einführen: Es ist hier die Rede erstens von einer organismusinternen Teleologie der Organe, zweitens einer Erhaltungsteleologie des Organismus, drittens einer Reihen-Teleologie der äußerlichen Zweckverknüpfungen und schließlich viertens einer allgemeinen reflexiven Teleologie alles Seienden und besonders des Lebendigen. In meinem Beitrag werde ich diese verschiedenen, von Büchner in dieser Passage angesprochen Formen der Teleologie jeweils für sich behandeln. Bevor ich mit der zuletzt genannten Form, der reflexiven Teleologie des Lebens beginne, noch eine allgemeine Bemerkung zu diesen Formen der Teleologie bei Büchner: Auffallend ist, dass keine von ihnen Intentionalität beinhaltet. Damit wurde die Teleologie aber in der Vergangenheit meist und wird bis in die Gegenwart häufig verbunden mit der Vorstellung einer absichtsvollen Zwecksetzung, einer mentalen Antizipation eines Zielzustandes, der dann in einer folgenden Realisation durch Handlungen verwirklicht wird.2 Davon kann hier nicht die Rede sein: Die reflexive Teleologie des Lebens, die Teleologie der Organe, die Erhaltungsteleologie des Organismus und die Reihen-Teleologie der äußeren Zweckverknüpfungen kommen alle ohne Zwecksetzung aus. Das weist die Einbindung dieser Formen der Teleologie in eine Philosophie der Natur aus, in der es nicht um Zwecksetzungen und Handlungen geht, sondern um Verknüpfungen von Zuständen und Ereignissen, denen keine mentalen Antizipationen vorausgehen. Und eine zweite Bemerkung möchte ich vorwegschicken: Büchner nimmt eine deutliche epistemologische Einschätzung der Teleologie vor, wenn er von einem teleologischen Standpunkt spricht: Hierbei liegt die Teleologie nicht allein im betrachteten Objekt, sondern immer auch im Betrachter selbst. In der Teleologie Büchners ist eine Relativierung auf die Perspektive eines Erkenntnissubjekts enthalten. Auch dies ist ein klarer Bezug zur naturphilosophischen Debatte um die Teleologie, wie sie seit 1790, seit dem Erscheinen von Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft, geführt wird. 2Vgl.
Vf.: Zweckbegriff und Organismus. Über die teleologische Beurteilung biologischer Systeme. Würzburg 2004, S. 46–75; Zweckmäßigkeit. In: Ders.: Historisches Wörterbuch der Biologie. Bd. 3. Stuttgart 2011, S. 790 ff.
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1 Die reflexive Teleologie des Lebens Über die Teleologie des Lebens ganz allgemein äußert sich Büchner bereits 1831 in einem Schulaufsatz, der „Recension eines Mitschüleraufsatzes über den Selbstmord“. Dort schreibt er: ich glaube […], daß das Leben selbst Zweck sey [und nicht bloß Mittel], denn: Entwicklung ist der Zweck des Lebens, das Leben selbst ist Entwicklung, also ist das Leben selbst Zweck. (MBA 1.1, S. 127)
Büchner leitet aus diesem Schluss eine Ablehnung des Selbstmords ab: Dieser Einwand der teleologischen Selbstbezüglichkeit des Lebens enthalte den „einzigen, fast allgemein gültigen Vorwurf“, den man dem Selbstmord machen könne, wie Büchner schreibt. Der Selbstmord widerspreche „unserm Zwecke und somit der Natur“, indem er „die von der Natur uns gegebne, unserm Zweck angemessne Form des Lebens vor der Zeit zerstört“ (ebd.). Diese Vorstellung vom Leben als einem Selbstzweck steht primär in einem moralphilosophischen Kontext; sie ist noch keine im engeren Sinne naturphilosophische Position. Beides ist aber bei Büchner eng miteinander verbunden. Insbesondere besteht ein Zusammenhang von dieser Rede vom Selbstzweck des Lebens mit der Beschreibung von Lebewesen als in sich geschlossene Ganzheiten, die aus harmonisch ineinandergreifenden Gliedern bestehen. Eine besondere Konjunktur erfährt diese Beschreibung von Lebewesen im Anschluss an Immanuel Kants Behandlung der Naturteleologie in seiner Kritik der Urteilskraft. Weil Kants Perspektive auf die Teleologie für das Folgende von Bedeutung ist, will ich auf sie kurz eingehen. Sehr knapp ausgedrückt und unter Vernachlässigung der epistemologischen Relativierung der Teleologie als einer bloß reflektierenden Einstellung besteht die Leistung Kants darin, eine Verbindung zwischen zwei Konzepten herzustellen, die in physiologischen Lehren vor ihm für sich genommen gut etabliert waren – aber eben nicht in einen Zusammenhang gestellt wurden: einerseits die physiologische Praxis, organische Prozesse und Teile ausgehend von ihren Wirkungen im Organismus zu konzipieren. In dieser Konzeption von Prozessen ausgehend von Wirkungen liegt ja zunächst das Wesen der teleologischen Betrachtung: Beschreiben Physiologen den Blutkreislauf eines Wirbeltiers und entdecken darin einen Teil, der den Kreislauf antreibt, so konzipieren und benennen sie diesen Teil aufgrund seiner Wirkung im System als ein Herz. Diese Wirkungsorientierung der Teleologie verknüpft Kant mit der Konzeption eines Lebewesens als Einheit aus wechselseitig voneinander abhängigen Teilen, aus interdependenten Komponenten. Das Ergebnis ist Kants Begriff von Naturteleologie, nach dem natürliche Zwecke Elemente in Systemen interdependenter Teile sind: Das Herz hat den Zweck, das Blut anzutreiben, weil es diese Wirkung ist, die auf das Herz selbst zurückwirkt und seine zukünftige Aktivität ermöglicht.
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In der Beschreibung von Organismen ist die Konzeption der Teile ausgehend von ihren Wirkungen, also die teleologische Einstellung, in besonderer Weise gerechtfertigt, weil in diesen Systemen den Wirkungen von Teilen eine große Relevanz zukommt: Sie sind es, die in ihrer Wechselseitigkeit das System begründen. Der Organismus besteht ja nur aus den wechselseitigen Wirkungen seiner Teile und auch nur durch diese. Der Teleologie, also der Konzeptualisierung von Dingen ausgehend von ihren Wirkungen, kommt damit insgesamt eine systembegründende Funktion zu. In teleologischer Perspektive werden verschiedene kausale Prozesse zu einer Einheit in einem organisierten System zusammengefasst. Die Teleologie begründet ein Systemdenken, für das der Kreislauf ein Modell sein kann. In einer zentralen Passage seiner Kritik der Urteilskraft bringt Kant diese Konzeption auf die bekannte Formel: Zu einem Körper […], der an sich und seiner innern Möglichkeit nach als Naturzweck beurtheilt werden soll, wird erfordert, daß die Theile desselben einander insgesammt ihrer Form sowohl als Verbindung nach wechselseitig und so ein Ganzes aus eigener Causalität hervorbringen.3
Die Interaktion der Teile bringt ein Ganzes aus eigener Kausalität hervor – Selbstorganisation, wie es in der unmittelbaren Nachfolge Kants auch genannt wurde.4 Diese teleologische Selbstbezüglichkeit des Organischen findet im Anschluss an die Darstellungen Kants vielfachen Ausdruck. So denkt sich Goethe 1795 unter dem Einfluss der von ihm geschätzten Kritik der Urteilskraft „das abgeschlossene Tier als eine kleine Welt, die um ihrer selbst willen und durch sich selbst da ist“, und er konstatiert: „So ist auch jedes Geschöpf Zweck seiner selbst“.5 Goethe führt diese Selbstzweckhaftigkeit – wie Kant, der allerdings den Begriff des Selbstzwecks für den Menschen reserviert, – auf die Wechselwirkungen der organischen Teile zurück, die zusammen einen „Kreis des Lebens“ bilden und „immer erneuern“.6 In einem Brief ein Jahr später, 1796, bringt Goethe diese Verhältnisse in der Sentenz zum Ausdruck: „Der Zweck des Lebens ist das Leben selbst“.7
3Immanuel
Kant: Kritik der Urtheilskraft (1790/1793). In: Kant’s gesammelte Schriften. Hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. V. Berlin 1913, S. 165–485, hier S. 373 (§ 65). 4Johann Gottlieb Buhle: Entwurf der Transcendentalphilosophie. Göttingen 1798, S. 334 f. 5Johann Wolfgang von Goethe: Erster Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie, ausgehend von der Osteologie (1795). In: Die Schriften zur Naturwissenschaft. Hrsg. von der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina. Bd. I/9. Morphologische Hefte. Weimar 1954, S. 119–151, hier S. 125. 6Ebd. 7Johann Wolfgang von Goethe: [Brief an H.J. Meyer vom 8. Februar 1796]. In: Weimarer Ausgabe IV. Abt. Bd. 11. Weimar 1892, S. 21–25, hier S. 22.
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Der „Organismus als Selbstzweck“ ist die komprimierte Formel von Kantianern an der Wende vom 18. ins 19. Jahrhundert.8 Für Kant selbst ist allerdings allein der Mensch und mit ihm jedes andere vernünftige Wesen ein „Zweck an sich selbst“;9 das zweckmäßige Verhältnis seiner Teile macht für Kant noch nicht jeden Organismus zu einem Selbstzweck, weil diese Kategorie für ihn moralphilosophische Bedeutung hat. Seit der Jahrhundertwende ist die Formel von der Selbstzweckhaftigkeit des Lebens aber fest verankert. Autoren, die der romantischen Naturphilosophie nahestehen, wie der Anatom und Physiologe Karl Friedrich Burdach, können daher den Begriff des Lebens selbst durch diese Selbstzweckhaftigkeit bestimmen: Unter Leben verstehen wir die Reihe von Erscheinungen an einem von seiner Entstehung an, aus mannichfaltigen, vermöge ihrer Zusammensetzung harmonisirenden Theilen bestehenden, und seinen Zweck in sich selbst findenden (also organischen) Körper.10
Typisch für die romantische Naturphilosophie ist es dabei, dass die Kant’schen epistemischen Relativierungen der Teleologie auf eine bloß reflektierende Einstellung hier verschwunden sind: Die Teleologie wird von Burdach und anderen für konstitutiv für das Lebendige genommen. Einiges spricht dafür, in diesem Schritt fort von Kant hin zur konstitutiven Teleologie und einem an dieser Teleologie hängenden System von organischen Gesetzen den Beginn der Biologie als autonomer Wissenschaft zu sehen.11 Von besonderer Bedeutung ist es im Kontext von Büchners Teleologie, dass in den Vorstellungen von der Selbstbezüglichkeit des Lebendigen die innere Selbstzweckhaftigkeit in Abhebung von einer äußeren Nützlichkeit und Verwertbarkeit konfiguriert wird. Dafür liefert wieder Goethe in einem Fragment eine programmatische Maxime, die lautet: Die Art die Naturprodukte in sich selbst zu betrachten ohne Beziehung auf Nutzen oder Zweckmäßigkeit, ohne Verhältnis zu ihrem ersten Urheber, bloß als lebendiges Ganze, das
8Vgl. u. a. Christian Garve: Uebersicht der vornehmsten Principien der Sittenlehre. Breslau 1798, S. 330; Carl Christian Erhard Schmid: Physiologie, philosophisch bearbeitet. Bd. 2. Jena 1799, S. 620; Christoph Heinrich Pfaff: Grundriss einer allgemeinen Physiologie und Pathologie des menschlichen Körpers. Bd. 1. Kopenhagen 1801, S. 24; Johann Carl Wezel: System der empirischen Anthropologie oder der ganzen Erfahrungsmenschenlehre. Bd. 1. Anthropo logisch-physiologische Somatologie oder Naturlehre des thierisch-menschlichen Körpers und Lebens. Leipzig 1803, S. 296 f. 9Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785). In: Kant’s gesammelte Schriften. Hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. IV. Berlin 1911, S. 385–463, hier S. 428; Ders.: Kritik der praktischen Vernunft (1788). In: Kant’s gesammelte Schriften (wie Anm. 3), S. 1–163, hier S. 87. 10Karl Friedrich Burdach: Propädeutik zum Studium der gesammten Heilkunst. Leipzig 1800, S. 10 (§ 24). 11Dafür plädiert Andrea Gambarotto: Vital Forces, Teleology and Organization. Philosophy of Nature and the Rise of Biology in Germany. Cham 2018.
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eben, weil es lebendig ist, schon Ursache und Wirkung in sich schließt, an das wir also hintreten und von ihm selbst Rechenschaft fordern können, dem wir zutrauen können, daß es uns Auskunft über die Art seines Daseins geben werde.12
Diese auf das Einzelobjekt fokussierende Einstellung, die absieht von allem, was über dieses hinausweist – insbesondere eine externe Teleologie: „Nutzen oder Zweckmäßigkeit“ – ist offenbar auch für Büchner leitend gewesen. Allerdings stellt eine solche Einstellung, die eher in die deskriptive Naturgeschichte des 18. Jahrhunderts als in die explanative Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts zu weisen scheint, für das Programm der vergleichenden Anatomie, das ja auch den theoretischen Rahmen von Büchners empirischen Forschungen bildete, ein Problem dar. Denn auch der vergleichende Anatom arbeitet mit Reihen und Ketten; er vergleicht und ordnet die Formen seriell. Die zentralen Begriffe des Typus und der Metamorphose können gar nicht anders verstanden werden als über den einzelnen Gegenstand hinausweisend. Auch Goethe und der ihm in diesen Dingen nachfolgende Büchner können also in ihren Untersuchungen nicht beim Einzelobjekt verharren. Allerdings kann das Programm der Vergleichenden Anatomie so verstanden werden, dass der Vergleich der Formen und Baupläne allein ein Mittel ist, um das Wesen des Einzeldinges als eine Manifestation des Typus zu begreifen. Anders als in der teleologischen Kettenbildung führt also die morphologische Reihenbildung zum Ausgangsobjekt zurück; der Umweg über die morphologischen Reihen ist nur ein Instrument, um den einen Organismus mit genetisch-morphologischem Wissen in seinem jeweiligen Sosein genauer zu verstehen. Sie identifiziert ein dem einzelnen Organismus inhärentes Gesetz – wie Goethe und Büchner auch sagen. Die These von der organischen Selbstzweckhaftigkeit und Büchners Ablehnung jeder Form der externen Teleologie kann damit als ein Plädoyer für das Erklärungsprogramm der vergleichenden Anatomie gewertet werden: Es geht dabei in ihr um ein Verständnis des Einzeldinges in seinen Konstitutions- und Bildungsprinzipien. Allerdings geht Büchner weiter und wendet sich auch gegen eine teleologische Konzeption der organischen Teile, der Organe.
2 Teleologie der Organe Büchner erläutert seine Ablehnung einer teleologischen Betrachtung der Organe an einem schönen Beispiel: Die teleologische Methode bewegt sich in einem ewigen Zirkel, indem sie die Wirkungen der Organe als Zwecke voraussetzt. Sie sagt zum Beispiel: soll das Auge seine Funktion
12Johann
Wolfgang von Goethe: Fragment. In: Aphorismen und Fragmente. Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. Bd. 17. Naturwissenschaftliche Schriften, Zweiter Teil. Hrsg. von Ernst Beutler. Zürich 1949, S. 687–781, hier S. 719 f.
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versehen, so muß die Hornhaut feucht erhalten werden, und somit ist eine Thränendrüse nöthig. Diese ist also vorhanden, damit das Auge feucht erhalten werde, und somit ist das Auftreten dieses Organs erklärt; es gibt nichts weiter zu fragen, die entgegengesetzte Ansicht sagt dagegen: die Thränendrüse ist nicht da, damit das Auge feucht werde, sondern das Auge wird feucht, weil eine Thränendrüse da ist. (MBA. Bd. 8, S. 153)
Um Beispiele dieser Art und wie sie am besten nahe am biologischen Verständnis zu rekonstruieren sind, dreht sich eine der am intensivsten geführten Debatten der Philosophie der Biologie der letzten fünfzig Jahre. Vieles in dieser Debatte ist kontrovers. Nicht kontrovers ist aber, dass die Teleologie tief in der Beschreibungssprache der Biologie verankert ist. Das scheint Büchner hier zu kritisieren – wie schon mehrfach bemerkt in direkter Adaptation von Formulierungen bei Johannes Müller, die sich in dessen Bonner Antrittsvorlesung von 1824 finden.13 Bereits im Titel dieser Antrittsvorlesung zeigt sich die Konstellation, die Büchner aufnimmt. Der Titel lautet: Von dem Bedürfnis der Physiologie nach einer philosophischen Naturbetrachtung. Müller stellt ebenso wie später Büchner die teleologische einer philosophischen Betrachtung gegenüber. Diese bloß „teleologische“ Physiologie charakterisiert Müller darüber, dass sie sich „nur in den Schranken der Erfahrung“ bewege. Weiter erläutert er die teleologische Physiologie in der Antrittsvorlesung von 1824, die Büchner sehr wahrscheinlich kannte: Diese [teleologische] Physiologie spricht nur von Funktionen der Organe, von ihren Zwecken, von ihrer Nützlichkeit. Sie bemüht sich zu zeigen, daß eine gewisse Einrichtung die beste sei. In der Natur hat nichts, was einer physiologischen Untersuchung unterworfen ist, einen Zweck. Alles ist um seiner selbst willen da.14
Der teleologischen, „falschen Physiologie“ stellt Müller eine zweckfreie, philosophisch fundierte richtige Physiologie gegenüber. In dieser Ablehnung der Teleologie und Zweckbeurteilung ist die Physiologie bis in die Gegenwart allerdings nicht Müller und Büchner gefolgt: Die von Büchner im Anschluss an Müller inkriminierte Formulierung „soll das Auge seine Funktion versehen, so muß die Hornhaut feucht erhalten werden, und somit ist eine Thränendrüse nöthig“ ist eine bis in die Gegenwart biologisch einwandfreie funktionale Beschreibung. Sie ist ein Beispiel für die teleologische Konzeption von Organen, wie sie seit Aristoteles bis in die Gegenwart Praxis biologischen Denkens und Sprechens ist. Die von Büchner empfohlene Alterative: „die Thränendrüse ist nicht da, damit das Auge feucht 13Vgl. Otto Döhner: Neuere Erkenntnisse zu Georg Büchners Naturauffassung und Naturforschung. In: Georg Büchner Jahrbuch 2 (1982), S. 126–132, hier S. 130; Maike Arz: Literatur und Lebenskraft. Vitalistische Naturforschung und bürgerliche Literatur um 1800. Stuttgart 1996, S. 83; Peter Ludwig: „Es gibt eine Revolution in der Wissenschaft“. Naturwissenschaft und Dichtung bei Georg Büchner. St. Ingbert 1998, S. 132; Sarah Miriam Pritz: Biopolitik im Werk Georg Büchners. Möglichkeiten und Grenzen einer modernen Form der Macht. Saarbrücken 2012, S. 35. 14Johannes Müller: Von dem Bedürfnis der Physiologie nach einer philosophischen Naturbetrachtung (1824). In: Adolf Meyer-Abich (Hrsg.): Biologie der Goethezeit. Stuttgart 1949, S. 252–281, hier S. 267.
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werde, sondern das Auge wird feucht, weil eine Thränendrüse da ist“ ist dagegen eine rein mechanistische, unphysiologische Beschreibung, die die Phänomene aus nichts als ihren Ursachen erklärt und keine Einsicht in die Interdependenz der Wirkungen in einem organisierten System zeigt. In dieser Ablehnung physiologischen Denkens manifestiert sich nach meinem Eindruck Büchners einseitige Verankerung im Forschungsprogramm der Vergleichenden Anatomie. Gegenstand seiner empirischen Arbeiten waren Homologisierungsprobleme. Es ging um Fragen nach der morphologischen Gleichheit von Organen im Körperbauplan von Tieren verschiedener Arten. Zeigen konnte er in seinen Untersuchungen u. a. die Innervation der Schwimmblase der Fische durch einen Ast des Nervus vagus. Dieser Nachweis ermöglichte die Homologisierung der Schwimmblase mit der Lunge der Landwirbeltiere.15 Lorenz Okens Vorstellung vom Ohr als umgewandelter Kiemenhöhle bestätigte Büchner mit dem Nachweis, dass der Nerv, der bei Fischen die Kiemenregion versorgt, bei den Landwirbeltieren die Versorgung des Ohrs leistet, der Nervus facialis. Die Methode war, „komplizierte Dinge auf einfache, primitive Typen zurückzuführen“, wie es der Schweizer Zoologe Jean Strohl 1936 in seiner Monographie zu Georg Büchner als „Gestalt aus der Übergangszeit von Naturphilosophie zu Naturwissenschaft“ formulierte.16 Diese Methode kommt zwar ganz ohne funktionale Perspektive aus; sie verliert damit aber doch einen wesentlichen Aspekt biologischer Systeme. Sie denkt die Körper der Lebewesen rein als morphologische Konstruktionen und nicht als funktionale Gefüge. Verloren geht dabei die die Biologie eigentlich erst begründende Einsicht in die funktionale Rolle der Teile im Ganzen. Büchner schießt mit seiner Teleologiekritik für meine Begriffe also übers Ziel hinaus. Wenn er auch die Organe nicht mehr teleologisch beurteilen will in Bezug auf ihren Nutzen für ein System, dann verliert er überhaupt den Gegenstand des funktionalen Systems – und damit auch den Begriff einer funktional geschlossenen Einheit, auf den seine Teleologiekritik letztlich gemünzt zu sein scheint (vgl. Abschn. 5).
3 Erhaltungsteleologie des Organismus In dem eingangs gegebenen Zitat aus dem Anfang von Büchners Probevorlesung wird der teleologische Standpunkt dafür kritisiert, dass er Lebewesen lediglich als „verwickelte Maschinen“ versteht, die auf ihre Erhaltung oder Behauptung in der Außenwelt ausgerichtet sind. Es ist nicht ganz klar, was genau Büchners Kritik an dieser Auffassung ist. Zwei Punkte scheinen ihn an der Erhaltungsteleologie zu
15Vgl.
Wilhelm Doerr: Georg Büchner als Naturforscher. In: Georg Büchner. 1813–1837. Revolutionär, Dichter, Wissenschaftler. Basel 1987, S. 286–291. 16Jean Strohl: Lorenz Oken und Georg Büchner. Zwei Gestalten aus der Übergangszeit von Naturphilosophie zu Naturwissenschaft. Zürich 1936, S. 50.
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stören: einerseits die dadurch angeblich implizierte Reduktion des Lebewesens auf eine „verwickelte Maschine“, andererseits die Äußerlichkeit dieser Selbsterhaltung gegenüber dem Inneren des Individuums. Beide Kritikpunkte sind angesichts der Stellung der Teleologie in der romantischen Naturphilosophie erklärungsbedürftig. Bevor ich aber auf diese beiden Punkte komme, will ich zur Illustration des Selbsterhaltungsdenkens und zur Bestätigung, dass dieses sich nicht nur in England und Frankreich findet, wie Büchner schreibt, auf Gottfried Reinhold Treviranus, einen Vertreter der romantischen Naturphilosophie, verweisen. Er schreibt 1831, also drei Jahrzehnte nach Erscheinen seiner sechsbändigen Biologie: Ein Character alles Lebendigen ist Zweckmäßigkeit. […] Ein zweiter Character ist Zweckmäßigkeit für sich selber. Wir sehen nur da Leben, wo wir eine Kette von Ursachen und Wirkungen in einer gewissen Form des Daseins wahrnehmen, die sich auf sich selber bezieht. Diese Kette kann noch einen hohen Zweck außer sich haben. Aber der erste ist immer ihre eigene Erhaltung und Ausbildung. Hierin unterscheidet sich die mechanische Thätigkeit von der organischen. Der Mechanismus zerstört sich selber, indem er für den Zweck, für den er bestimmt ist, arbeitet; hingegen der Organismus hat sein Bestehen durch die ihm eigene Wirksamkeit.17
Diese Argumentation bewegt sich in klassischen Kant’schen Bahnen, abgesehen von dem konstitutiven Charakter der Zweckmäßigkeit. Klassisch ist sowohl die Gegenüberstellung von Teleologie und Mechanismus als auch das Verständnis der Erhaltungsteleologie als Verhältnis, das ein Organismus zu sich selbst und nicht zu etwas ihm Äußerlichen hätte. – Vor diesem Hintergrund dieses Denkens ist es aber nicht klar, was Büchner damit meint, wenn er dem teleologischen Standpunkt unterstellt, er laufe darauf hinaus, das Lebewesen auf eine „verwickelte Maschine“ zu reduzieren, und die Erhaltungsteleologie weise über das Selbst eines Individuums hinaus. Was er damit gemeint haben könnte, wird vielleicht in einer anderen Passage der Probevorlesung deutlicher: Wo die teleologische Schule mit ihrer Antwort fertig ist, fängt die Frage für die philosophische an. Diese Frage, die uns auf allen Punkten anredet, kann ihre Antwort nur in einem Grundgesetze für die gesammte Organisation finden, und so wird für die philosophische Methode das ganze körperliche Dasein des Individuums nicht zu seiner eigenen Erhaltung aufgebracht, sondern es wird die Manifestation eines Urgesetzes, eines Gesetzes der Schönheit, das nach den einfachsten Rissen und Linien die höchsten und reinsten Formen hervorbringt. Alles, Form und Stoff, ist für sie an dies Gesetz gebunden. (MBA 8, S. 153; 155)
Grundgesetz für die gesamte Organisation, Urgesetz, Gesetz der Schönheit – dies sind Begriffe aus dem Arsenal der vergleichenden Anatomie Goethe’scher Provenienz. Sie werden hier gegen Erhaltung in Stellung gebracht.18 Schönheit 17Gottfried
Reinhold Treviranus: Die Erscheinungen und Gesetze des organischen Lebens. Bd. 1. Bremen 1831, S. 8. 18Vgl. dazu auch Gideon Stiening: Schönheit und Ökonomieprinzip. Zum Verhältnis von Naturwissenschaft und Philosophiegeschichte bei Georg Büchner. In: Scientia Poetica 3 (1999), S. 95–121.
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versus Erhaltung lautet das Begriffspaar, das sich 1795 bei Schiller findet, wenn er im Gegensatz zu den festgelegten Funktionen der Selbsterhaltung und Fortpflanzung der Organismen auf ein „physisches Spiel“ der Natur schon im Wachstum der Bäume verweist, in dem sich eine „verschwenderische Fülle“, eine „freye Bewegung, die sich selbst Zweck und Mittel ist“, zeige.19 Diese Opposition zieht sich über Schleiermachers Antagonismus von Selbstmanifestation und Selbsterhaltung aus den 1830er Jahren20 bis ins 20. Jahrhundert zu dem Basler Biologen Adolf Portmann, der dem biologisch universalen Prinzip der Selbsterhaltung das seiner Ansicht nach für die Biologie ebenso fundamentale der Selbstdarstellung an die Seite stellen möchte21 – damit aber zumindest unter zeitgenössischen Biologen auf nicht viel Zustimmung stößt.22 Um etwas Ähnliches geht es offenbar auch Büchner. Die vergleichende Anatomie mit ihrer Suche nach Typen und Grundbauplänen, „Rissen und Linien“, enthält als integrales Moment, als ihre Methode, ästhetische Prinzipien, die es erst erlauben, die Typen zu erkennen. Mir erscheint es allerdings als eine Überspitzung – wiederum als eine déformation professionelle des praktizierenden vergleichenden Anatomen Georg Büchner –, diese ästhetisch vermittelte Suche nach Typen gegen die organische Selbsterhaltungsteleologie zu lesen. Denn beides, Teleologie und Morphologie, ist doch gut miteinander vereinbar. Die Absage an eine rein auf Erhaltung gerichtete Teleologie erklärt sich für Büchner vielleicht auch aus seinem eher theoriefernen, empirischen Ansatz, für den die „Gesetze“, von denen er spricht, keinen apriorischen Charakter haben und nicht aus dem reinen Denken zu deduzieren sind. Entschieden lehnt Büchner ja die spekulative Metaphysik der romantischen Naturphilosophie ab; Erkenntnis durch reines Denken scheint es bei ihm nicht zu geben.23 Büchners „Gesetz“ ist daher keine deduzierte Gewissheit, sondern eher im Sinne einer Hypothese zu verstehen, einer versuchsweisen Verallgemeinerung, die auch widerlegt werden kann. Treffend erscheint es, wenn Otto Döhner von einem „Bedeutungswandel des Gesetzes-Begriffs, der sich bei Büchner ankündigt“, spricht.24 Gegenüber dieser offenen, jedem deduktiven, von ersten Prinzipien ausgehenden Argumentieren gegenüber skeptischen Haltung könnte die Erhaltungsteleologie Büchner als ein Dogma erschienen sein. Büchner geht in seiner genetischen Methode des
19Friedrich
Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795). In: Nationalausgabe. Bd. 20. Weimar 1962, S. 309–412, hier S. 406. 20Vgl. Friedrich Schleiermacher: Psychologie (1830). In: Sämmtliche Werke. 3. Abth. Zur Philosophie. Bd. 6. Berlin 1862, S. 245. 21Vgl. Adolf Portmann: Die Erscheinung der lebendigen Gestalten im Lichtfelde. In: Klaus Ziegler (Hrsg.): Wesen und Wirklichkeit des Menschen. Festschrift für Helmuth Plessner. Göttingen 1957, S. 29–41, hier S. 40. 22Vgl. Adolf Remane: Begrüßungsansprache. In: Verhandlungen der Deutschen Zoologischen Gesellschaft 1963, S. 35–36, hier S. 36. 23Vgl. Otto Döhner: Georg Büchners Naturauffassung. Marburg 1967, S. 224. 24Ebd., S. 227 f.
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Vergleichens von der konkreten Anschauung der Tierkörper aus, um von ihr aus die auf Gesetzen beruhende Einheit, den Typus, in der Mannigfaltigkeit der Strukturen und Lebensprozesse sichtbar machen zu können.25
4 Reihen-Teleologie der äußeren Zweckverknüpfungen Die Reihen-Teleologie der äußeren Zweckverknüpfungen betrifft vielleicht den entscheidenden Punkt von Büchners Teleologiekritik. Denn diese Kritik ist in erster Linie gegen die äußere Zweckmäßigkeit gerichtet, gegen die Vorstellung einer externen Beziehung der Dinge zu anderem, letztlich zu einem allmächtigen Gott, und damit gegen die englische Physikotheologie und darüber hinaus gegen jede teleologische Stufenordnung des Lebendigen. Eingeschlossen in diese Ablehnung ist auch die romantische Ausweitung des organismischen Denkens vom Individuum auf die ganze Natur, die Totalisierung der Teleologie zur universalen Zweck-Mittel-Verknüpfung im „allgemeinen Organismus“. Die Postulierung eines derartigen teleologisch geordneten allgemeinen Organismus war ein zentrales Motiv romantischer Naturphilosophie. Sie findet sich in Schellings Weltseele von 1798 mit der Behauptung, die ganze Natur sei zu einem „allgemeinen Organismus“ verknüpft.26 Einige Jahre später findet sie sich in Treviranus’ Biologie, in der festgestellt wird, daß das ganze Reich der lebenden Organismen ein Glied des allgemeinen Organismus ausmacht, und daß jedes lebende Individuum zur Erhaltung dieses Gliedes das Seinige beytragen muß.27
An dieser von den Individuen aus gesehen externen Teleologie stößt sich Büchner, weil sie eine instrumentelle Einstellung gegenüber den Individuen befördert und damit in Bezug auf den Menschen potenziell inhuman erscheint. Ausgangsund Referenzpunkt für Büchners empirische Untersuchungen – und damit auch für seine theoretische Einstellung – bleibt der individuelle Organismus. Von daher erschließt sich die zu Beginn der Probevorlesung so deutlich formulierte Absage an eine Reihenteleologie: Die Natur handelt nicht nach Zwecken, sie reibt sich nicht in einer unendlichen Reihe von Zwecken auf, von denen der eine den anderen bedingt; sondern sie ist in allen ihren Äußerungen sich unmittelbar selbst genug. (MBA 8, S. 153)
25Vgl. Arz:
Literatur und Lebenskraft (wie Anm. 13), S. 90. Wilhelm Joseph Schelling: Von der Weltseele. Eine Hypothese der höheren Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus (1798). In: Jörg Jantzen (Hrsg.): Historisch-Kritische Ausgabe. Bd. I/6. Stuttgart 2000, S. 257. 27Gottfried Reinhold Treviranus: Biologie oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Aerzte. Bd. 1. Göttingen 1802, S. 68. 26Friedrich
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5 Teleologie des menschlichen Individuums Büchners Teleologiekritik in seinen naturwissenschaftlichen Schriften ist sicher nicht allein aus innerwissenschaftlichen Gründen heraus motiviert. Die zahlreichen zugespitzten Sentenzen im Sinne der Devise: „Alles, was ist, ist um seiner selbst willen da“ sprechen in ihrer Allgemeinheit dagegen. Diese Thesen haben „unmittelbare anthropologische Implikationen“, wie Nicolas Pethes schreibt.28 Sie sind nicht nur gegen eine wissenschaftliche oder naturphilosophische Ansicht – den teleologischen „Standpunkt“ – gerichtet, sondern in ihnen spiegelt sich auch Gesellschaftskritik. Es spiegelt sich eine Kritik an Instrumentalisierungen von Individuen zu ihnen äußerlichen Zwecken – besonders eindrucksvoll in der Benutzung von Woyzeck zu den wissenschaftlichen Ernährungsexperimenten seines sogenannten ‚Doktors‘. Übertragen auf menschliche Verhältnisse würde die Teleologiekritik sich also dagegen richten, das Individuum durch seine Einbettung in einen universalen Mittel-Zweck-Zusammenhang als ein „unfreies Glied in einer unendlichen teleologischen Kette“ zu verstehen, wie Burghard Dedner es formuliert,29 denn Büchner lehnt mit der teleologischen Betrachtung eine Dezentrierung des Lebensprinzips ab. Gegen die Vorstellung einer potenziell unendlichen Kette von Zweckbezügen hält er an der Idee eines autonomen Individuums als selbstbezüglicher Einheit fest. Es besteht bei Büchner damit eine Parallelität in der Konstitution von autonomen Individuen in seinen biotheoretischen Schriften und in seinen literarischen Figuren.30 In beiden Fällen fordert er eine Darstellung aus der Perspektive des Individuums, seiner Selbstbezüglichkeit, seines körperlichen Daseins, das nicht in Bezügen seiner Nutzung – und sei diese bloß die eigene „Erhaltung“ – dargestellt oder „aufgebracht“ wird, wie Büchner es nennt, sondern das allenfalls insofern über sich hinausweist, als sich etwas in ihm manifestiert, ein „Urgesetz“ oder ein „Gesetz der Schönheit“. Gefunden wird dieses Gesetz, naturwissenschaftlich, in vergleichenden, typologischen Studien. Die Zentrierung der Fragestellung um das Individuum scheint aber nicht primär naturwissenschaftlich motiviert zu sein. Es lässt sich vielleicht von einer Modellfunktion des biologischen Individuums für das autonome Subjekt sprechen31 (in Analogie zu Büchners formalem
28Nicolas
Pethes: Poetik/Wissen. Konzeptionen eines problematischen Transfers. In: Gabriele Brandstetter und Gerhard Neumann (Hrsg.): Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800. Würzburg 2004, S. 341–372, hier S. 360. 29Burghard Dedner: Bildsysteme und Gattungsunterschiede in Leonce und Lena, Dantons Tod und Lenz. In: Ders. (Hrsg.): Georg Büchner: Leonce und Lena. Kritische Studienausgabe. Beiträge zu Text und Quellen. Frankfurt a. M. 1987, S. 156–218, hier S. 209. 30Vgl. Arz: Literatur und Lebenskraft (wie Anm. 13), S. 188 ff. 31Ich danke Roland Borgards für den Vorschlag, die Sache so zu formulieren.
Georg Büchners Teleologiekritik
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„naturwissenschaftlichen Verfahren innerhalb seiner Poesie“).32 So wie Büchner als vergleichender Anatom eine Beschreibung von Organismen, die auf äußere Zweckbeurteilungen verzichtet, für die einzig biologisch adäquate hält, lehnt er auch die Indienstnahme von Subjekten für ihnen äußerliche Zwecke ab. Allerdings können Bedenken gegen diese Parallelisierung von Organismus und Subjekt – die auch in der umgekehrten Richtung wirksam sind: mit der Vorstellung des autonomen Subjekts als Modell für die Konstitution des biologischen Organismus – u. a. insofern vorgebracht werden, als das soziale Instrumentalisierungsverbot sich nicht immer und nicht auf allen Ebenen fruchtbar in ein Teleologieverbot übersetzen lässt. Es gibt Felder biologischen Denkens, in denen Büchner nicht so verwurzelt war wie in der vergleichenden Anatomie, für die die Teleologie essenzielle Bedeutung hat. Die Frage, was eigentlich ein organisches Individuum ist, wie es sich aus der Interaktion seiner funktionalen Komponenten konstituiert und wie es in den biologischen Wissenschaften beschrieben wird, gehört dazu.
32Walter
Müller-Seidel: Natur und Naturwissenschaft im Werk Georg Büchners. In: Eckehard Catholy und Winfried Hellmann (Hrsg.): Festschrift für Klaus Ziegler. Tübingen 1968, S. 205– 232, hier S. 215.
Georg Büchners Semiotik des Lebens und die romantische Transzendenz Hubert Thüring
1 Lesbarkeit der Natur Georg Büchners Texte sind durchsetzt von Szenen, die man unter den Titel der Lesbarkeit der Natur stellen könnte. In der Rezeption zum vielfältig beanspruchten locus classicus geronnen ist jene Szene, in der Woyzeck dem Doctor gegenüber auf die „Figuren“ hindeutet, in denen die „Schwämme auf dem Boden wachsen“: „Da, da steckts. […] Wer das lesen könnt.“ Was da steckt und zu lesen wäre, wenn man es vermöchte, sagt Woyzeck in der Folge nicht, denn der Doctor wechselt auf die Metaebene der psychiatrischen Diagnostik: „aberratio, mentalis partialis der zweiten Species“, „fixe Idee, mit allgemein vernünftigem Zustand“. Mit dem, was Woyzeck zufolge da steckt, hat das weniger zu tun als mit dem Umstand, dass er überhaupt auf die Idee kommt, dass sich da etwas lesen lassen könnte. Diese „fixe Idee“, so legen die darauffolgenden Fragen des Doctors nahe, wird von diesem als Begleiterscheinung der Erbsendiät betrachtet, welcher der Soldat Woyzeck im Rahmen eines Ernährungsexperiments für eine bestimmte Phase unterzogen wird. Die erste Frage („er thut noch Alles wie sonst, rasirt seinen Hauptmann!“) zielt darauf ab, festzustellen, ob Woyzeck trotz der diätinduzierten „aberratio“ in der Lage ist, seine elementaren Aufgaben zu erfüllen; mit der zweiten Frage („Ißt seine Erbsen?“), versichert sich der Doctor der Regularität des Experiments.1
1Büchner wird hier und im Folgenden zit. nach der Marburger Büchner Ausgabe (Darmstadt 2000–2013) unter der Sigle MBA. Georg Büchner: Woyzeck (1836/1837), H4,8. MBA 7.2, S. 27.
H. Thüring (*) Deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft, Universität Basel, Basel, Schweiz E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 R. Borgards und B. Dedner (Hrsg.), Georg Büchner und die Romantik, Abhandlungen zur Literaturwissenschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05100-4_14
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Die Frage nach der Lesbarkeit der Schwämme (Pilze) ist jedoch der Schlusspunkt einer in dieser Szene von Woyzeck entwickelten Quasi-Argumentation darüber, was da steckt und was man sollte lesen können: Als der Doctor Woyzeck für das irreguläre Pissen schilt und dazwischen einen Schwall von Erklärungen zum Experiment in teils (historisch) gebräuchlichen, teils verballhornten Termini absondert, verteidigt sich Woyzeck zunächst mit der „Natur“, die einem einfach komme. Dieser emphatisierten Natur hält der Doctor seinen Nachweis entgegen, dass der „musculus constrictor vesicae dem Willen unterworfen“ sei, worauf Woyzeck mit einer Unterscheidung argumentiert: „Sehn Sie Herr Doctor, manchmal hat man so n’en Charakter, so n’e Structur. – Aber mit der Natur ist’s was anders, sehn sie mit der Natur (er kracht mit den Fingern) das ist so was, wie soll ich doch sagen, z. B.“ „Woyzeck, er philosophirt wieder“, so fällt der Doctor Woyzeck ins Wort, doch dieser fährt in vertraulichem Ton weiter mit der Frage fort, ob der Doctor „schon was von der doppelten Natur gesehn“ habe. Er schildert ein apokalyptisches Szenario mit Gesichts- und Gehörswahrnehmungen, „als ging die Welt im Feuer auf“, und es habe „schon eine fürchterliche Stimme zu […] [ihm] geredt“, was den Doctor zur besagten Diagnose veranlasst.2 Die Kommentare verorten die Szene – die analogen Szenen der anderen Handschriften miteingeschlossen3 – in verschiedenen, miteinander vernetzten oder sich überlagernden Diskursen, die Woyzecks ‚Lektüre‘ der Natur, das heißt seine eigentümliche Wahrnehmungs- und Ausdrucksweise und deren ‚Erklärung‘ durch den Doctor unterschiedlich perspektivieren. Es können hier vier Diskursbereiche genannt werden: 1. Aus dem psychiatrischen Komplex sind neben Lehrbüchern vor allem die Gutachten von Johann Christian August Clarus über die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck (1825) relevant, auf die der Text mit wörtlichen oder sinngemäßen Übernahmen direkt wie auch indirekt bezogen werden kann. Das Gutachten berichtet von „phantastischen und abergläubigen Einbildungen“ des historischen Johann Christian Woyzeck, von seiner Neigung, Naturphänomene als „Wirkungen geheimer Künste“ und „Zeichen der Freimaurer“ aufzufassen, „Träume“ auf ihre „Erfüllung“ hin zu „lesen“, und von seinem „Glaube[n] an die Möglichkeit materieller Wirkungen der Geisterwelt“.4 2. Das Ernährungsexperiment,5 das die Erläuterungen zu den entsprechenden Reden des Doctors verständlich machen, erscheint als mögliche Erklärung für
2Ebd. 3Die
früher entstandene, sich mit H4,8 (MBA 7.2, S. 26 f.) überschneidende Szene H2,6 (S. 16 f.) sowie die Szene H3,1 (S. 20) sind hier miteinbezogen; vgl. Erläuterungen zu Woyzeck. MBA 7.2, S. 474–479 (zu H2,6), S. 484–487 (zu H3,1) und S. 509–514 (zu H4,8). 4Quellendokumentation zu Woyzeck: Gutachten von Clarus. MBA 7.2, S. 281–283, vgl. S. 277 f. 5Vgl. Harald Neumeyer: „Hat er schon seine Erbsen gegessen?“ Georg Büchners ‚Woyzeck‘ und die Ernährungsexperimente im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 83/2 (2009), S. 218–245.
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die halluzinative Wahrnehmung auch diesseits einer psychiatrisch manifesten Krankheit. Doch die begeisterte Diagnose der „aberratio“, für die der Doctor dem Exploranden „Zulage“ verspricht, lässt die These zu, dass das Experiment auch Aufschlüsse über die psychophysische (somatisch-psychische) Interaktion geben könnte. 3. Weniger direkt sind die Ausführungen zu den philosophisch-wissenschaftlichen Natur- und Lebensauffassungen, welche die Reden des Doctors und des Professors artikulieren: Zum einen wird die „um 1835 als überholt“ qualifizierte Kombination von „naturkundlich-klassifikatorische[n] Interessen“ des 18. Jahrhunderts „mit dem spekulativen Interesse der romantischen Naturphilosophie“ und entsprechenden idealistischen Problematisierungen des Subjekt-Objekt-Verhältnisses angeführt, zum anderen die zeitgenössische Konzeption der medizinisch angewandten „organischen Chemie“ mit „gezielte[m] Eingreifen in biologische Prozesse“,6 die im Ernährungsexperiment zum Zug kommt und auch die psychophysische Interaktion betreffen kann.7 4. Schließlich führen die Kommentare im direkten Zusammenhang mit der Pilzlektüre und den Gesichts- und Gehörsvorstellungen philosophische, literarische und volkskundliche Quellen bzw. topische Felder an, von der Bibel über Klopstock, Novalis, Schlegel, Tieck, Hoffmann, Hebel bis zu den Märchen, in denen es in vielfältiger Weise um die Wahrnehmung und Deutung übersinnlicher Phänomene und magischer Naturzeichen geht.8 Die Lesbarkeit der Natur bildet die allen Diskursbereichen gemeinsame Fluchtlinie der Erkenntnis,9 in der sich eine Objekt- und eine Subjektdimension schneiden: In der objektiven Dimension richtet sich die Frage an die äußere Natur, die organische und anorganische, ob diese von sich aus zeichenhaft spricht und man, um sie zu verstehen, lediglich den Code kennen muss. Diese Frage setzt eine
6Erläuterungen
zu Woyzeck. MBA 7.2, S. 474. ebd., insbes. S. 476 zu S. 16,19 f. 8Vgl. ebd., S. 478. 9Hans Blumenberg (Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt a.M. 1986, S. 58 f.) hat die Konstellation des Gesprächs zwischen einem Laien und einem Gelehrten aus dem Dialog Idiota de sapientia (1450) von Nikolaus von Kues, wo der Laie sich gegen die vermittelnde Schriftauslegung des Buches der Bücher mit der unmittelbar anschauenden Lektüre des Buches der Natur behauptet, als Remodellierung der platonisch-dialektischen Erkenntnismethode auf der Schwelle zur Neuzeit näher bestimmt: An der Schwelle des Buchdrucks galt es, die Problematik der Unmittelbarkeit oder Vermitteltheit von Erkenntnis, die Platons Dialoge entfaltet hatten, in die neuen diskurspraktischen Bedingungen zu überführen, die auch diejenigen der neuen Wissenschaften des Novum Organum von Francis Bacon sein würden. Die These, dass gerade an den h istorischen Bruch- und Brückenstellen die Frage nach der Adäquatheit der Entsprechung von Zeichen und Körper als Fluchtpunkt der Erkenntnisproblematik stärker akzentuiert wird, liegt auch diesen Überlegungen zugrunde. 7Vgl.
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durchgehend beseelte Natur voraus, wie sie Friedrich Joseph Wilhelm Schelling in der Weltseele postuliert, sowie die Motiviertheit der Sprache in Bezug auf ihre Referenz, die ihrerseits so etwas wie eine onomaturgische Intention impliziert. In der Subjektdimension richtet sich die Frage nach innen, an die Prozesse des Denkens, Erkennens, Wahrnehmens, Empfindens und weiter hinein an die organischneuronalen Prozesse der Ernährung, Umwandlung, Übertragung und Äußerung von Materie und Reizen. Den Fluchtpunkt bildet hier nicht die hermeneutische Frage nach dem Code, sondern die Frage nach der psychophysisch-semiotischen Schwelle, das heißt nach der Zone und dem Modus, wo und wie organisch-physische Prozesse als codierte Zeichen psychisch-mental perzipiert werden und wo und wie semiotisch codierte Signale in physisch-organische Prozesse transformiert werden. Beide Fragen münden in die Aporie, dass Körper nicht in Zeichen ‚sprechen‘, aber ‚gelesen‘ werden müssen und dass Zeichen (auch physische) nicht als Zeichen, sondern als Reize ‚verarbeitet‘ werden. Diesen Zusammenhang werde ich zunächst theoretisch und historisch bis zu seiner romantischen Transzendierung verfolgen, gegenüber der sich Büchner, indem er die Aporie der ‚Unübersetzbarkeit‘ von Körper und Zeichen, Leben und Sprache, ausschreibt und offenhält, zugleich als Hypo- und Hyperromantiker verhält (2). Eine zweite Leseszene aus Danton’s Tod (1835), welche diese Haltung artikuliert, legt eine direkte Spur zu Pierre Jean Georges Cabanis. Mit dessen Werk Ueber die Verbindung des Physischen und Moralischen in dem Menschen (1802/1804) kann eine in der Büchner-Forschung zwar bereits erwähnte, aber bislang nie überzeugend verknüpfte Referenz aktiviert werden, welche die Problematisierung der psychophysisch-semiotischen Schwelle im Diskurs der Zeit verankert (3). Vor diesem diskurshistorischen Hintergrund kann die Leistung von Büchners Arbeit neu erwogen werden. Das erfordert einen kritischen Blick in die neuere spezifische Forschung, in der noch Reflexe der romantischen Transzendierung und (integrierenden) Schließung zu finden sind (4). Dagegen soll mit einer knappen Lektüre einiger Stellen der Probevorlesung (1836) angezeigt werden, dass und wie Büchner die Aporien im Schreiben des Lebens als Quelle der Erkenntnis und der poetisch-rhetorischen Kreativität offenzuhalten bestrebt ist (5).
2 Aporetik und Transzendierung der Körper/ZeichenSchwelle Der Zusammenhang der beiden Dimensionen ist theoretisch durchaus fragwürdig, und tatsächlich wurden die beiden Fragestellungen auch größtenteils separat verhandelt: die objektive als Frage nach dem Sprachursprung, die subjektive als Frage nach dem commercium mentis et corporis. Ursprünglich verknüpft finden sie sich in der kratylischen sema/soma-Paronomasie. Die Akzente liegen dort zwar zum einen auf dem, wie Gérard Genette das nennt, eponymischen Nachweis der Richtigkeit der Bezeichnungen und zum anderen in der Behauptung der fundamentalen Dualität von Körper und Seele, doch durch die Verknüpfung der Sprachursprungsfrage mit dem Körper/Zeichen-Komplex ist die Möglichkeit der
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Problematisierung eröffnet. Der dritte Weg, der die beiden Fragestellungen verbindet, indem er sie in den Bereich der Anschauung überführt und die psychophysisch-semiotische Problematik performativ exponiert oder auch überformt, ist die Mimesis mit ihren rhetorisch-poetischen Theorien und Praktiken. Erst Herder hat die beiden Dimensionen in erkenntnisproduktiver Weise zusammengeführt, indem er die Sprachursprungsfrage in jenen „Abgrunde des Rei zes“ versenkte, aus dem Reiz und Zeichen als zwei gleich ursprüngliche Momente einer differenziellen Einheit hervorgehen, wie Natalie Binczek gezeigt hat.10 Doch die Frage nach dem Moment und dem Modus des Umschlagens, Übergehens, Umprägens von physisch-quantitativen Regungen in psychisch-qualitative Äußerungen kehrt umso zugespitzter wieder. Herder begegnete der Unbestimmbarkeit der psychophysisch-semiotischen Schwelle und der evidenten Heterogenität von Leben und Zeichen mit einer programmatischen Biologisierung der Sprache und Rhetorisierung des Lebens mittels stilistisch-mimetischer Analogisierungen und Parallelisierungen und gegenseitiger Inkludierungen. Demnach wird Sprache von einer organisch-vitalistischen Kraft generiert, wie umgekehrt das organische Leben semiotisch prozediert. Die Sprachursprungsfrage nach der adaequatio von Zeichen und Sache wird in die genetische Korrespondenz von Reiz und „Merkwort“ als Widerspiel von Naturnotwendigkeit und Geistesfreiheit integriert: Und waren bei dem beständigen Zusammenstrom aller Sinne, in dessen Mittelpunkt immer der innere Sinn wachte, nicht immer neue Merkmale, Ordnungen, Gesichtspunkte, schnelle Schlußarten gegenwärtig, und also immer neue Bereicherungen der Sprache? Und empfing also zu dieser, (wenn man nicht auf acht partes Orationis rechnen will,) die menschliche Seele nicht ihre besten Eingebungen, so lange sie noch ohne alle Anreizungen der Gesellschaft sich nur selbst desto mächtiger anreizte, sich alle die Tätigkeit der Empfindung und des Gedankens gab, die sie sich nach innerm Drang und äußern Erfordernissen geben mußte – da gebar sich Sprache mit der ganzen Entwicklung der menschlichen Kräfte.11
Wenn man davon ausgehen kann, dass die Frage nach dem Verhältnis von Zeichen und Welt an epistemologischen Brüchen und Schwellen wiederkehrt, so kehrt sie aus dem Herderschen Abgrund des Reizes deshalb wieder, weil sie Herder dort mit der neuen Kategorie des Lebens verknüpft hat, die den Leib/Seele-Dualismus auflöst. Nicht mehr der tote Buchstabe und der lebendige Geist stehen sich gegenüber, sondern Zeichen und Körper sind beides Produkte des Lebens als Formkraft, in einer Weise, die keinen stabilen Dualismus mehr erlaubt. Anders als der mechanistische
10Vgl.
Natalie Binczek: „Im Abgrunde des Reizes“. Zu Herders Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. In: Maximilian Bergengruen, Johannes F. Lehmann, Vf. (Hrsg.): Sexualität, Recht, Leben. Die Entstehung eines Dispositivs um 1800. München 2005, S. 91–111. 11Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1770/1772). In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Bd. 1: Frühe Schriften, 1764–1772. Hrsg. von Ulrich Gaier. Frankfurt a.M. 1985, S. 695–810, hier S. 782; vgl. Vf.: Sprache als Rhetorik des Lebens. Zu den Anfängen einer fundamentalen Differenz von Herder und Kant. In: Ralf Simon (Hrsg.): Herders Rhetoriken im Kontext des 18. Jahrhunderts. Heidelberg 2014, S. 157–173.
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Dualismus, der die Sprache als äußerliches Instrument der Vernunft analog zur Körpermaschine als Instrument der Seele konzipieren kann, entspringen seit Herder die Zeichen dem Leben selbst, das als irreduzibles Tertium Körper und Seele ebenso hervorbringt, wie es seinerseits aus deren Verbindung hervorgeht. Das Problem der Sprachursprungsfrage hat Herder insofern gelöst, als von nun an Sprache nur noch als Genese in onto- und phylogenetischer und in synchroner und diachroner sowie komparatistischer Hinsicht erforscht werden konnte, wollte man wissenschaftlich ernst genommen werden.12 Wer einen essenziellen Zusammenhang zwischen der zeichenhaften Welt der Erscheinungen und einer Welt als solcher, sei sie materiell und real oder spirituell und transzendent, wahrnehmen wollte, zog ein Mystik-Verdikt oder (wie Woyzeck) eine pathologische Diagnose auf sich.13 Umso interessanter ist es seither für die Dichtung, unter dem Vorbehalt der Fiktion, mit der Referenzialität zu experimentieren, sie (selbstreferenziell) zu thematisieren, zu reflektieren und zu performieren. Wohl die letzte programmatische Kampagne zur Verknüpfung der Sprachursprungsfrage mit der Körper/Zeichen-Problematik, die noch im Namen vernünftiger, wenn auch die Vernunft überschreitender oder erweiternder Erkenntnis laufen konnte, hat die Romantik mit der „progressive[n] Universalpoesie“ und der idealistischen Naturphilosophie lanciert. Die Universalpoesie erscheint dabei als in die Zukunft projizierter Ursprung und potenzielles Supermedium: Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennte [sic!] Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen, und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will, und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig, und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisieren, und die Formen der Kunst mit gediegnem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen, und durch die Schwingungen des Humors beseelen. Sie umfaßt alles, was nur poetisch ist, vom größten wieder mehre Systeme in sich enthaltenden Systeme der Kunst, bis zu dem Seufzer, dem Kuß, den das dichtende Kind aushaucht in kunstlosen Gesang. Sie kann sich so in das Dargestellte verlieren, daß man glauben möchte, poetische Individuen jeder Art zu charakterisieren, sei ihr Eins und Alles […]. […] Sie kann durch keine Theorie erschöpft werden, und nur eine divinatorische Kritik dürfte es wagen, ihr Ideal charakterisieren zu wollen. Sie allein ist unendlich, wie sie allein frei ist […].14 12Die
„Société de Linguistique“ von Paris verbot bei ihrer Gründung 1868 sogar, Berichte über den Ursprung der Sprache einzusenden; vgl. Kommentar zu Jean-Pierre Brisset: La Science de Dieu ou la Création de l’Homme (1900). In: Ders.: Œuvres Complètes. Préface et édition de Marc Décimo. Paris 2001, S. 702, Anm. 3. 13Vgl. Vf.: Die Sprache im Bann, im Bann der Sprache. Zur Genealogie des Sprachdeliriums um 1900 (Gottfried Benn, Heymann Steinthal, Paul Emil Flechsig). In: Maximilian Bergengruen, Roland Borgards (Hrsg.): Bann der Gewalt. Studien zur Literatur- und Wissensgeschichte. Göttingen 2009, S. 469–504. 14Friedrich Schlegel: Fragmente [Athenäums-Fragmente] [116]. In: Ders.: Kritische Ausgabe. Hrsg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Erste Abteilung. Kritische Neuausgabe. Bd. 2: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801). Hrsg. und eingeleitet von Hans Eichner. München u. a. 1967, S. 165–255, hier S. 182 f.
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Genauer kann man bei August Wilhelm Schlegel verfolgen, wie sich die von seinem Bruder Friedrich und Novalis maßgeblich formulierte „Universalpoesie“ zwar von den Herderschen Bedingungen herschreibt, jedoch ohne dass sie die dort einsehbaren Aporien der psychophysisch-semiotischen Schwelle mittransportiert. Ausgehend von der These der ursprünglichen Poetizität und sinnlich-geistigen Einheit der Sprache schreibt A. W. Schlegel die Kunstpoesie als differenziertes Renaturalisierungsprogramm der Sprache als Sprechen um des Sprechens willen (statt zu prosaischen Zwecken) aus.15 Erweist sich die romantische Sprachphilosophie dieser Spielart als desinteressiert an den psychophysischen Bedingungen von Erkenntnis und Sprache, so wendet sich die Naturphilosophie ihrerseits ab von den sprachlich-semiotischen Bedingungen der Erkenntnis der Lebensprozesse.16 In den Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797) und in Von der Weltseele (1798) greift Schelling seinerseits die biophysiologischen Bedingungen noch einmal explizit auf, um die materialistisch-mechanistische Erklärung des Lebens als „Zusammenstimmung“ von Irritabilität und Sensibilität, Reiz und Reaktion sowie freier Bewegung in ein „höheres Prinzip“ zu transzendieren: „Geist, als Prinzip des Lebens gedacht, heißt Seele“,17 und schließlich „Weltseele“ als „ein und dasselbe Prinzip“, das „die anorganische und die organische Natur verbindet“.18 Die psychophysisch-semiotischen Implikationen der Genese und Artikulation werden nirgendwo problematisiert, und Sprache erscheint lediglich als transzendentale Gegebenheit und Kraft göttlich-universaler Poiesis, die alle Antithesen aufhebt. Sprache und Leben sind mithin die beiden in den exponierten Perspektiven erscheinenden Pole des romantischen Transzendenzbegehrens. Beide sparen
15Vgl.
Jochen Bär: Sprachreflexion der deutschen Frühromantik. Konzepte zwischen Universalpoesie und Grammatischem Kosmopolitismus. Berlin, New York 1999, S. 100–142. 16Zum Zusammenhang von Universalpoesie und Naturphilosophie vgl. Schlegel: Fragmente [Athenäums-Fragmente] [304] (wie Anm. 14), S. 216: „Auch die Philosophie ist das Resultat zwei streitender Kräfte, der Poesie und Praxis. Wo diese sich ganz durchdringen und in eins schmelzen, da entsteht Philosophie; wenn sie sich wieder zersetzt, wird sie Mythologie, oder wirft sich ins Leben zurück. Aus Dichtung und Gesetzgebung bildete sich die griechische Weisheit. Die höchste Philosophie, vermuten einige, dürfte wieder Poesie werden; und es ist sogar eine bekannte Erfahrung, daß gemeine Naturen erst nach ihrer Art zu philosophieren anfangen, wenn sie zu leben aufhören. – Diesen chemischen Prozeß des Philosophierens besser darzustellen, wo möglich die dynamischen Gesetze desselben ganz ins reine zu bringen, und die Philosophie, welche sich immer von neuem organisieren und desorganisieren muß, in ihre lebendigen Grundkräfte zu scheiden, und zu ihrem Ursprung zurückzuführen, das halte ich für Schellings eigentliche Bestimmung.“ 17Friedrich Joseph Wilhelm Schelling: Ideen zu einer Philosophie der Natur als Einleitung in das Studium dieser Wissenschaft (1797). In: Ders.: Werke. Auswahl in drei Bänden. Hrsg. und eingeleitet von Otto Weiß. Leipzig 1907. Bd. 1, S. 97–439, hier S. 145–147. 18Friedrich Joseph Wilhelm Schelling: Von der Weltseele. Eine Hypothese der höheren Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus nebst einer Abhandlung über das Verhältnis des Realen und Idealen in der Natur oder Entwicklung der ersten Grundsätze der Naturphilosophie an den Prinzipien der Schwere und des Lichts (1798). In: Ders.: Werke. Bd. 1 (wie Anm. 17), S. 441–679, hier S. 446.
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jeweils eine Seite der von Herder formulierten psychophysisch-semiotischen Implikationen aus. Denn Sprache und Leben jeweils in die Immanenz der Erkenntnisbedingungen und die poetische Praxis (im weitesten Sinn) zurückzubinden, würde die Transzendierung verhindern. Büchner, so meine These, verschränkt diese beiden romantischen Perspektiven in der Woyzeckschen Leseszene und anderswo, um die erkenntnistheoretischen Aporien sichtbar zu machen, sie auszuloten und die heuristische und kreative Leistung der rhetorisch-poetischen Performanz experimentell auszutesten. Wenn Woyzeck die Sprache der Schwämme zu lesen begehrt und den Nexus zwischen seiner inneren Natur, dem Körper, und der zeichenhaften Struktur bzw. dem Charakter problematisiert, dann verschränkt er, dies- und jenseits aller partikularen psychophysiologischen Experimental- und Geheimlogenthesen, die beiden Dimensionen nach außen und nach innen und formuliert die Frage nach ihrem Zusammenhang, den ich hier als psychophysisch-semiotische Schwelle angeschrieben habe. Woyzeck erscheint mit seinem in beide Dimensionen gerichteten Erkenntnisbegehren als ein Hyper- und zugleich Hyporomantiker, und er ist damit natürlich nicht allein im Büchnerschen Werk. Man könnte die These in eine poetisch-rhetorische Richtung erweitern: Büchners Texte schwingen sich immer dort zu besonderer poetischer Virtuosität auf, wo sie die Schwelle, die Grenze, den Riss zwischen Körper und Zeichen, Leben und Sprache thematisieren, performieren und reflektieren. Das würde bedeuten, dass man diese Szenen und Passagen gleichzeitig auch mit besonderer poetik- und rhetorikanalytischer Aufmerksamkeit betrachten sollte. Ich möchte daher anregen, die bereits in den 1980er Jahren eröffneten, dann aber nicht weiter entwickelten Ansätze der Sprachkritik und der Rhetorik im Licht einer diskursorientierten Semiotik des Lebens neu zu lancieren. Silvio Vietta hat die Texte unter dem Aspekt der Phrasenkritik und Gerhard Schaub vor allem unter dem Aspekt der Persuasionsrhetorik untersucht.19 Erst im Büchner-Handbuch (2009) hat Anke von Kempen die Bedeutung der Rhetorik für die poetische und sprachkritische Praxis und Selbstreflexion in der gesamten Erkenntnisdimension formuliert, wo die „Leistungsfähigkeit“ und „Erkenntnisfähigkeit“ der „Rede allgemein und der poetischen im Besonderen“ experimentell erprobt und erforscht wird.20 Wie Büchner die Sprache rhetorisch an die Grenze der Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit treibt, zeigt sie vor allem in Bezug auf Macht und Gewalt und nur am Rand in Bezug auf die Un-/Möglichkeit des Ausdrucks und der Erkenntnis von Selbst und Welt. Spezifische Forschungsarbeiten zur Un-/Darstellbarkeit bzw. Un-/Lesbarkeit des Lebens im Wechselblick von Naturwissenschaft (Anatomie, Physiologie) und Rhetorik (im weitesten Sinn) haben meines Wissens bislang nur Daniel Müller Nielaba und Helmut Müller-Sievers vorgelegt, auf die ich noch zurückkommen
19Silvio Vietta: Sprachkritik bei Büchner. In: Georg Büchner Jahrbuch 2 (1982), S. 145–156, und Gerhard Schaub: Georg Büchner: ‚Poeta rhetor‘. Eine Forschungsperspektive. Ebd., S. 170–195. 20Anke von Kempen: Rhetorik und Antirhetorik. In: Büchner-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hrsg. von Roland Borgards und Harald Neumeyer. Stuttgart, Weimar 2009, S. 288–293, hier S. 288.
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werde. Zunächst werde ich jedoch darlegen, wo und wie sich der Anspruch, den Körper/Zeichen-Komplex zu erkunden und darzustellen im diskurshistorischen Kontext fassen und untersuchen lässt. Das möchte ich anhand einer anderen Leseszene unternehmen, die maßgeblich von Danton, einem weiteren Büchnerschen Hyper- und zugleich Hyporomantiker, betrieben wird.
3 Dantons Hirnfaser-Gedanken und Cabanis’ wahre Seele der Bewegungen In der Eröffnungsszene von Danton’s Tod lässt sich die Aktivierung der psychophysisch-semiotischen Schwelle schon in der erotischen Codierung erkennen: Die Kartensymbole „coeur“ und „carreau“, auch hier ein Innen und ein Außen, verweisen auf eine vorverbale Bilder- oder Symbolsprache, die seit der Aufklärung und natürlich auch romantischerweise in den sprachgenetischen Theorien verhandelt und immer wieder als Möglichkeit unmittelbarerer Kommunikation propagiert wird. Diese Lesart lässt sich kaum abweisen angesichts des fließenden Übergangs zur Problematisierung des zwischenmenschlichen Glaubens, Wissens und Kennens, die über die Tierallegorie („Wir sind Dickhäuter“) und die Begrenztheit der gebräuchlichen Erkenntnismittel zur Vision führt, „[w]ir müßten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren“.21 Diese inhaltliche und performative Zuspitzung der Kommunikationssituation kann aufgrund des Kartenvorspiels nun ihrerseits als Szene der psychophysisch-semiotischen Problematisierung verstanden werden. Nimmt man die anatomisch-physiologische Redeweise ernst und nicht als besondere Einkleidung des Topos von der Unausdrückbarkeit der Seele, dann formuliert Danton, nach der Skepsis gegenüber der Ausdrucks- und Erkenntnisfähigkeit mittels der äußeren Sinne, mit dem möglichen Griff ins Gehirn die Möglichkeit, dass sich durch die Anatomisierung des Gehirns Aufschluss über das psychische Wesen des Menschen oder gar die Persönlichkeit des Individuums gewinnen lasse. Danton scheint die Möglichkeit einer unmittelbaren Kommunikation von physischer Form und tropischem Wort skeptisch zu beurteilen, spricht er davon doch im Konjunktiv II: „Wir müßten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren.“22 Es ist übrigens derselbe Konjunktiv, den Woyzeck für das Lesen der Schwämme („Wer das lesen könnt“) benutzt und den Lenz im Kunstgespräch hören lässt, wenn er das sich ständig wandelnde Kunstwerk der beiden Mädchen in der Landschaft als Gegenstand der Betrachtung erwägt: „Man möchte manchmal ein Medusenhaupt seyn, um so eine Gruppe in Stein verwandeln zu können, und den Leuten zurufen.“23 Diese Leseszene lässt
21Georg
Büchner: Danton’s Tod. Ein Drama (1835) I 1. MBA 3.2, S. 4. (Hervorh. H. Th.). 23Georg Büchner: Lenz (1835/1839). MBA 5, S. 37. 22Ebd.
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sich nun im zeitgenössischen Diskurs selbst verorten, und zwar ist sie dort als Frage nach der psychophysisch-semiotischen Schwelle konturiert. Der Diskursort befindet sich im Milieu der Revolutionäre selbst und zwar beim französischen Mediziner, Physiologen und Philosophen Pierre Jean Georges Cabanis (1757–1808). Cabanis war während der Terreur in Robespierres Ungnade gefallen und lebte zurückgezogen, saß dann aber von 1795 bis 1799 im Conseil des Cinq-Cents und spielte, wie man auch von Michel Foucault weiß, eine wichtige Rolle in der Klinik-Reform.24 Sein Werk wurde schon 1964 von Walter L. von Brunn als mögliche Quelle von Büchners Schaffen genannt,25 doch seitdem ist die Möglichkeit von Büchners Beziehungen zu ihm nie eingehend untersucht worden. Tatsächlich ist aufgrund des zeitlichen Abstandes der direkte Bezug für die wissenschaftlichen Arbeiten eher unwahrscheinlich. Anstöße von der materialistisch-monistischen und zugleich vitalistischen Grundhaltung Cabanis’ könnte Büchner dennoch erfahren haben. Der Übersetzer von einem der Hauptwerke Cabanis’, Ueber die Verbindung des Physischen und Moralischen in dem Menschen (1802/1804)26 – Ludwig Heinrich Jakob – macht in seiner vorangestellten „Abhandlung über die Grenzen der Physiologie und Anthropologie“ unmissverständlich klar, dass er den vitalistischen Monismus von Cabanis nicht teilt: Vorstellung und Bewegung sind zwey verschiedene Grunderscheinungen, die nie auf einander zurück geführt werden können. Sie können wie Ursache und Wirkung miteinander verknüpft werden und ein ganzes, Thier oder Mensch, bilden, aber sie lassen sich nie ineinander verwandeln.27
Cabanis weiß um die Aporetik seiner Unternehmung, doch er scheut sich nicht, die Widersprüche der Grundthese begrifflich und argumentativ auszuhalten und bis ins Paradoxe zu steigern und als Oxymoron auszubuchstabieren: Von der materiellen
24Vgl.
Michel Foucault: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks (1963). Aus dem Französischen übersetzt von Walter Seitter. Frankfurt a.M. u. a. 1984. 25Vgl. Walter L. von Brunn: Georg Büchner. Sonderdruck aus: Deutsche Medizinische Wochenschrift 28 (1964), S. 1356–1360, hier (Sonderdruck) S. 5. Von Brunns Beitrag ist zwar von den Kommentaren registriert, aber − auch das ist mitregistriert − von der Forschung kaum weiter verfolgt worden; vgl. Günter Oesterle: Das Komischwerden der Philosophie in der Poesie. Literatur-, philosophie- und gesellschaftsgeschichtliche Konsequenzen der „voie physiologique“ in Georg Büchners „Woyzeck“. In: Georg Büchner Jahrbuch 3 (1983), S. 200–239, Peter Ludwig: „Es gibt eine Revolution in der Wissenschaft“. Naturwissenschaft und Dichtung bei Georg Büchner. St. Ingbert 1999, S. 37, 64, 104 f., 114, 118, 223, Kommentar zu Woyzeck. MBA 7.2, S. 590, Quellen zu Woyzeck. P I, S. 732, und etwas ausführlicher, allerdings ohne analytischen Gewinn für die hier behandelten Belange, Dorothy James: Georg Büchner’s Dantons Tod. A Reappraisal. London 1982. 26P[ierre] J[ean] G[eorges] Cabanis: Ueber die Verbindung des Physischen und Moralischen in dem Menschen (1802). Aus dem Französischen übersetzt und mit einer Abhandlung über die Grenzen der Physiologie und Anthropologie versehen von Ludwig Heinrich Jakob. 2 Bde. Halle und Leipzig 1804. Bd. 1. 27Ludwig Heinrich Jakob: Abhandlung über die Grenzen der Physiologie und Anthropologie. In: Cabanis: Ueber die Verbindung (wie Anm. 26), S. XXXI − LVI, hier S. LVI.
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Einheit physischer und psychischer Erscheinungen ausgehend, versucht er Sensibilität und Irritabilität, Empfindung und Bewegung als zweieinige oder als in sich geteilte eine Eigenschaft der Nerven zu fassen: Die Nerven „vermischen“, ja „identificiren“ „gänzlich sich mit den Muskel-Fibern“ und sind die „wahre Seele der Bewegungen“, so die katachretische Formulierung.28 Über verschiedene Beispiele zur Abhängigkeit körperlicher Vorgänge von Wahrnehmungen und Empfindungen aus den Bereichen des Wahnsinns, der Ernährung oder auch des Instinkts versucht er etwa nutritive und kognitive Prozesse engzuführen: Das eigenthümliche Geschäft des einen Organs [des Gehirns, H. Th.] ist, Bilder von jedem besonderen Eindrucke zu formiren, sie untereinander zu vergleichen, und Urtheile, Schlüsse und Willensbestimmungen daraus zu ziehen; so wie das eigenthümliche Geschäft des andern Organs [des Magens, H. Th.], in der Einwirkung auf die ernährenden Substanzen besteht, deren Gegenwart dasselbe reitzt, sie aufzulösen und sie den übrigen Theilen unsrer Natur zu assimiliren.29
Mangels der Identifizierung und Lokalisierung eines physischen Organs zur Übersetzung von physischen und psychischen Prozessen der Semiose setzt Cabanis das Gedächtnis als Vermögen der Nerven, mit „Impressionen“ materieller wie semiotischer Art zu arbeiten. Für die Manifestation des Zusammenspiels muss er Zuflucht nehmen zur Bewegung von „pantomimischen Zeichen“ mit Verweis auf Rousseau: „Die Pantomimen sind die wahre Universal-Sprache und gehen vor der Erkenntnis der Wortsprache vorher.“30 In schöner Entsprechung unterhalten sich in der zitierten ersten Danton-Szene Hérault und die Dame kartenspielend über die Möglichkeit von „Liebeserklärungen“ „mit den Fingern“: „Ey warum nicht? Man will sogar behaupten gerade die würden am Leichtesten verstanden“,31 so kommentiert Hérault. Neben der argumentativen und stilistischen Paradoxierung und der metaphorisch-begrifflichen Überhöhung ist diese Art der vergleichenden Verschiebung ein dritter Modus des Umgangs mit der psychophysisch-semiotischen Aporie, die sich bei Cabanis findet und die Büchner dramatisch exponiert und reflektiert. Diese Operationen setzen bei Cabanis erst an jenem epizentrischen, von Anfang an gesetzten Punkt aus, der die Einheit begründet, ohne sie zu erklären, nämlich der Begründung des Lebens:
28Cabanis: 29Ebd.,
Ueber die Verbindung (wie Anm. 26), S. 61.
S. 119 f. 30Ebd., S. 40. 31Büchner: Danton’s Tod I 1. MBA 3.2, S. 5. Zum Anti-Rousseauismus von Büchners Dantonisten vgl. Manfred Schneider: Herzensschrift oder Hirnphysiologie. Anmerkungen zu Georg Büchners Drama „Dantons Tod“. In: Programmheft zur Neuinszenierung „Dantons Tod“ von Gottfried von Einem am 2. April 1990 im Nationaltheater München. Bayerische Staatsoper München 1990, S. 72–79.
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Man mag nun eine Meinung über die Natur der Ursache, welche die Organisation der Pflanzen und Thiere bestimmt, oder über die zu ihrer Erzeugung und Entwicklung nothwendig gehörigen Zustände, annehmen, welche man will; so kann man nicht umhin, ein lebendes Princip oder eine Leben ertheilende Fähigkeit*) zuzulassen, welche die Natur in die Keime der Pflanzen gelegt, oder in dem [sic!] Samenfeuchtigkeiten der Thiere ausgebreitet hat.32
Der Begriff der „Fähigkeit“ ist mit einem Asteriskus-Verweis auf eine Fußnote versehen, in der das Problem der Zeichen auf der Metaebene prompt wiederkehrt: *) Princip und Fähigkeit sind freylich Worte, die keinen ganz bestimmten Sinn haben. Ich verstehe übrigens nichts weiter darunter, als die Bedingung ohne welche die den verschiedenen organischen Körpern eigenthümlichen Phänomene gar nicht Statt haben könnten. Ich bin weit davon entfernt, aus diesen Phänomenen auf die Existenz eines besonderen Wesens zu schließen, welches die Functionen eines Princips, indem es den Körpern die Eigenschaft mittheilt, woraus ihre Functionen entstehen [sic!]. Die Sprache der Metaphysik bedarf fast einer ganz neuen Umschaffung; aber freylich haben wir ihr System noch nicht deutlich genug aufgeklärt, um eine solche Reform mit Glück wagen zu können. Wir wollen uns wenigstens bemühen uns wechselseitig so selten als möglich mit bloßen Worten zu bezahlen.
Im Fließtext heißt es dann weiter: So wie dieses [die Zeugung von Leben, H. Th.] die erstaunenswürdigste Operation von allen ist, welche das Studium des Universums darbietet; so sind auch die dabey vorkommenden Umstände ungemein fein und verwickelt; sie bleiben mit einem geheimnißvollen Schleyer bedeckt; und man hat bisher nichts als nur die gröbsten Aussenseiten [!] davon entdecken können.33
Dass auch noch die Sexualität sich dazu gesellt – der Titel der hier zitierten „Vierte[n] Abhandlung“ lautet „Von dem Einfluß des verschiedenen Alters auf die Begriffe und Begierden“ – macht die Stelle strukturell zu einem überraschenden wissenschaftlichen Pendant der Dantonschen Revolutionsszene, was den Zusammenhang von Zeichen, Körper, Leben und Liebe angeht. In Cabanis’ Wendung von den „gröbsten Außenseiten“ kann man, auch wenn es sich lediglich um den konventionellen Innen-Außen-Topos handelt, Dantons „Dickhäuter“, die „nur das grobe Leder aneinander ab[reiben]“,34 präfiguriert sehen. Für die Argumentation entscheidend ist nicht der Beleg, dass Büchner Cabanis gelesen hat, sondern dass es einen eminenten diskursiven Referenzpunkt gibt, an dem die psychophysisch-semiotische Schwelle im direkten biologischen Zusammenhang so ausführlich und dicht traktiert wird, wie das auch bei Büchner der Fall ist. Dass es sich um einen zeitlich etwas entfernten Punkt handelt (nicht natürlich für die Zeit im Drama von Danton’s Tod) schränkt die Geltung des
32Cabanis:
Ueber die Verbindung (wie Anm. 26), S. 217 f.
33Ebd. 34Büchner:
Danton’s Tod I 1. MBA 3.2, S. 4.
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Arguments nicht ein: Büchner scheint gerade die Extraterritorialität zur Gegenwart zu suchen, um sowohl die verschiedenen Transzendierungen und Reduktionismen kritisch zu bezeichnen und die dabei aufgedeckten Aporien der psychophysischsemiotischen Schwelle produktiv werden zu lassen. Büchner setzt sich – den zeitlichen Abstand und die neuen Forschungserkenntnisse eingerechnet – differenziert und subtil ebenso von Cabanis’ monistisch-vitalistischen Begehren ab wie von den spiritualistisch-holistischen Transzendenzbegehren und dem universalpoetischen Ursprungsbegehren sowie von den neomechanistischen Funktionalismen. Sehr wohl lassen sich auch in der Probevorlesung und in einzelnen Figurenreden oder anderweitig perspektivierten Redeformen monistische und holistische Momente ausmachen. Doch werden sie, wie anhand von Woyzeck und Danton’s Tod hier bereits dargelegt worden ist und anhand der naturwissenschaftlichen Texte noch kurz gezeigt werden soll, jeweils argumentativ, dialogisch, wortspielerisch, polysemisch konterkariert, so dass die psychophysisch-semiotische Aporie als Quelle der Erkenntnis und der poetisch-rhetorischen Kreativität offen bleibt. Während Cabanis im Verhältnis zum romantischen Transzendenzbegehren der Titel eines Pararomantiker gebührt, agieren Büchner und seine Figuren, indem sie diese Schwelle nicht preisgeben, bald als Hypo-, bald als Hyperromantiker.
4 Romantische Reflexe und szientistische Aporien in der neueren Forschung Reflexe des romantischen Begehrens zur Transzendierung der Körper/ Zeichen-Aporetik in eine ‚unmittelbarere‘ Sprache des Lebens lassen sich auch noch in den differenzierten Analysen von Büchners Semiotik des Lebens ausmachen, wie sie in der bereits erwähnten dekonstruktiv grundierten Lektüre von Daniel Müller Nielaba vorliegen. Büchners Bezeichnung des Gesetzes der organischen Entwicklung der Nerven als ein „Gesetz[ ] der Schönheit“35 und andere entsprechende Indizien nimmt Müller Nielaba zum Ausgangspunkt, um in Büchners konzeptioneller Deskription der Entwicklung der Schädelnerven durchgehend eine ästhetische bzw. rhetorisch-poetologische Betrachtungs- und Vorgehensweise am Werk zu sehen. Er analogisiert Büchners Funktionsdefinition der „‚eigentliche[n] Hirnnerven‘“ als Nerven, die im Unterschied zu den Sinnesnerven keine ihnen eigentümliche Bedeutung übermitteln würden, mit der uneigentlichen Übertragung der rhetorischen „Trope“.36 Die sprachliche Beschreibung der Nervengenese, die einem von der einfachsten bis zur komplexesten Form geltenden ‚Urgesetz‘ organischer Bildung folge, versteht er somit selbst als Vermittlung des Nervs in seiner „allerhöchsten ‚Potenz‘“, in der dieser seinerseits „als Medium von ‚Empfindung‘
35Büchner:
Probevorlesung (1836). MBA 8, S. 155. Müller Nielaba: „Das Auge […] ruht mit Wohlgefallen“. Georg Büchners NervenLektüre. In: Weimarer Beiträge 46 (2000), S. 325–345, hier S. 327. 36Daniel
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seine eigene Medialität […] zu vermitteln“ vermöge.37 Die Wissenschaft könne dagegen immer nur ein ‚totes‘ Objekt oder stillgestelltes Bild und einzelne Stellen oder Ausschnitte erkennen. Ein solches „morphologisches Lesen“, das, wie der „Nerv“ selbst, die Schönheit und Dynamik des physischen Bildungsprozesses von Subjekt, Objekt und Medium ästhetisch vermittelt,38 überwindet Müller Nielaba zufolge auch die Erkenntnisaporie der Übersetzung, „wie Zeichen physisch werden“ und „wie Physis zum Zeichen wird“.39 Büchner greife hier weder zur „zynisch-verzweifelten Fiktion“ des Risses wie in Lenz noch zur „physiologische[n] Brachialhermeneutik“ der „Danton-Figur“,40 und es handle sich auch „nicht einfach um die rhetorische Verhüllung einer wissenschaftlichen Erkenntnislücke, sondern um die Ausgestaltung der sprachlichen Konsequenz einer darstellungstheoretischen Reflexion des physiologischen Erkenntnisproblems“.41 Ohne Zweifel betreibt Büchner in der Probevorlesung eine erkenntnisfördernde gegenseitige Übertragung physiologischer und ästhetischer Register, die Müller Nielaba dann auch in einer virtuosen Lektüre des Identitätsspiels in Leonce und Lena erprobt. Doch die Schlüsse, die er aus den wenigen (dafür intensiv bearbeiteten) Stellen zur Erkenntnis der psychophysisch-semiotischen Übertragung zieht, reduzieren die in der Probevorlesung entfaltete Problemlage stark und verdanken sich nicht wenig der rhetorisch-dekonstruktiven Selbstüberzeugung. Diese unterstellt dem Text den Anspruch, eine Selbstemanation der Nerven und so etwas wie eine transformatio mystica von soma und sema als Ideal einer ästhetischen Wissenschaft anzustreben und gleichsam schon zu vollziehen. Dagegen gilt es für Büchner vielmehr, auch und gerade die expliziten und impliziten Lücken und Grenzen des Wissens und Sagens in ihrer argumentativen und stilistischen Bedeutung miteinzubeziehen. Nicht vor allem rhetorisch-dekonstruktiv, sondern mehr auch erkenntniskritisch erkundet Müller-Sievers im Mémoire Büchners Bemühungen um die materielle Erkenntnis und semiotische Vermittlung des lebendigen Zusammenhangs, der die Erkenntnis und Vermittlung selbst bedingt. Die morphologische Entwicklung des Gehirns aus dem Rückenmark müsste in einer „natürlichen Metaphorologie“42 der Zeichenschrift aufgehen. Umgekehrt sollte die „anatomische Beschreibung“ in ihrer metonymischen Folge der Zeichen „in einem Bild kulminieren“, das den lebendigen Zusammenhang materialisiert.43 Die Relation zwischen der morphé
37Ebd.,
S. 328. S. 329. 39Ebd., S. 335. 40Ebd., S. 331. 41Ebd., S. 329. 42Helmut Müller-Sievers: Über die Nervenstränge. Hirnanatomie und Rhetorik bei Georg Büchner. In: Michael Hagner (Hrsg.): Ecce Cortex. Beiträge zur Geschichte des modernen Gehirns. Göttingen 1999, S. 26–49, hier S. 41. 43Ebd., S. 45. 38Ebd.,
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und der tropé (zwischen Gestalt und Zeichen) müsste demnach nicht nur analogisch, das heißt metaphorisch, sondern metonymisch und eigentlich materiell gedacht werden. Müller-Sievers legt dar, dass in der konkreten Ausführung des Mémoire, insbesondere auch in der Aufteilung in einen beschreibenden und einen interpretierenden Teil, das an Goethe und Schelling orientierte Bestreben der wechselseitigen Transzendierung von Zeichen und Körper gerade deren Aporie offenbart: Ob dies ein passives Zerbrechen im Sinne eines Unvermögens ist, oder eine aktive Zerstörung, mag dahingestellt bleiben. Wichtiger für Büchners Werk ist der Umstand, daß damit ein rhetorisches Modell in die Brüche geht, nach dem sich die literarischen Überzeugungen der „Wolfgang Goetheschen Kunstperiode“ [Heine, H. Th.] gerichtet hatten. Dieses Modell basierte auf der Überzeugung, die Natur selbst sei poetisch und metaphorisch tätig und bewirke so selbst den Übergang von der mechanischen Basis zur organischen Einheit, von der Metonymie zur Metapher.44
Mit der Bildlichkeit des Bruches und in der Abgrenzung von Goethe, scheint Müller-Sievers Büchner ein (enttäuschtes) idealisierendes Begehren zu unterstellen. Diese latente Unterstellung lenkt dann auch die Interpretationen von „Büchners Dichtung“,45 ohne dass dabei die Register der Wissenschaft und der Dichtung in Bezug auf die Aporien bzw. auf die Körper/Zeichen-Grenze konsequent enggeführt werden. Dies wäre, wie Müller Nielaba zeigt, sowohl in der Dichtung als auch in der Probevorlesung durchaus möglich. Doch merkwürdigerweise überspringt Müller-Sievers gerade die Probevorlesung, vermutlich weil sich seine Lektüre zu sehr mit derjenigen von Müller Nielaba überschnitten und eine aufwendige kritische Auseinandersetzung erfordert hätte.46 Natürlich lassen sich in den poetischen wie in den wissenschaftlichen Texten unzählige romantisch-idealistische Momente in Bezug auf die Zeichen/KörperKommunikation ausmachen, bei deren Deutung es schwierig ist, die Aporien zwischen den integrierenden oder transzendierenden Interpretationen offenzuhalten. Wie dies aber möglich ist, möchte ich abschließend in einer kurzen Lektüre einer Passage der Probevorlesung andeuten: Es soll gezeigt werden, wie der Text argumentativ mittels differenzierender Überschreitung und Unterwanderung von Grenzen die Einordnung in eine systemische Ästhetik vermeidet und wie er stilistisch mittels ironischer Selbstreferenz des Rhetorischen die poetische Transzendierung sabotiert.
44Ebd.,
S. 47. Müller-Sievers: Desorientierung. Anatomie und Dichtung bei Georg Büchner. Göttingen 2003, S. 101–171; der Kern der Auseinandersetzung mit „Büchners Wissenschaft“ deckt sich mit dem zitierten Aufsatz „Über die Nervenstränge“ (wie Anm. 42). 46Diesen Schluss legt eine entsprechende Fußnote nahe; vgl. Müller-Sievers: Desorientierung (wie Anm. 45), S. 52, Anm. 3. 45Helmut
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5 Un-/Schreibbarkeit des Lebens Neben der expliziten Unterscheidung zwischen der teleologischen und der philosophischen Ansicht der Natur unternimmt Büchner in der Probevorlesung auch, teils explizit, teils implizit, mehrere Binnendifferenzierungen der philosophischen Ansicht.47 Erstens setzt er sich mit der nachdrücklichen Rede von einem ‚Grund‘oder ‚Urgesetz‘ als „Antwort“ auf die „Frage“, „die uns auf allen Punkten anredet“,48 von der zuvor einbezogenen Kantschen Erkenntniskritik insofern ab, als er – sich an Johannes Müller orientierend49 – einen Anschauen und Denken verbindenden Erkenntnismodus fordert. Zweitens überschreitet er auch mit der Qualifizierung des Gesetzes der Entwicklung als „Gesetz[ ] der Schönheit“ eine Kantsche Grenze, nämlich diejenige zwischen ästhetischem und teleologischem Urteil. Hier greift er drittens die Analogisierung von Kunstwerk und Organismus auf, die insbesondere Goethe als gestaltorientierte biologisch-ästhetische Stufenfolge entwickelt hat,50 grenzt sich jedoch ab gegen die hierarchische Wertung – je höher desto schöner desto wertvoller –, indem er diese Schönheit als dem Gesetz wesentlich und inhärent bezeichnet und sie von den „einfachsten Rissen und Linien“ bis zu den „höchsten und reinsten Formen“ walten sieht.51 Diese Binnendifferenzierungen deuten darauf hin, dass Büchner in dieser ersten expliziten Absetzung von der teleologischen Ansicht eine möglichst reine und offene, aber dennoch nicht leere Idee des Lebens zu konturieren versucht. Wobei Konturierung ganz buchstäblich zu verstehen ist, scheint doch auch die Anbindung ans Ästhetische vom Bestreben motiviert zu sein, die Potenzialität des Lebens, die umfassende Idee des Lebendigen nicht nur in Form eines ideellen Urtyps oder Urgesetzes intelligibel zu machen, sondern sinnlich sichtbar und semiotisch lesbar. Zum einen gilt es, Carl Gustav Carus, Lorenz Oken und Johannes Müller folgend, die umfassende Idee des biologischen Lebens mit den Systematisierungen empirischer Befunde zu verbinden, zum andern aber auch eine physiologische Konzeption zu formulieren, welche dieser Ganzheit nicht gleich wieder einen Dualismus unterlegt. Die Bestrebung konkretisiert sich in der Forschungsthese einer „allgemeinen Form der Sensibilität“ (eines psychophysischen sensus communis), von der „die sogenannten einzelnen Sinne […] nichts als Modificationen“ „in einer höheren Potenz“ sind (Potenz hier im Sinn von Schelling als Seinsstufe).52 Auf
47Vgl. Vf.:
Leben. In: Büchner-Handbuch (wie Anm. 20), S. 209–217. Probevorlesung. MBA 8, S. 155. 49Vgl. Udo Roth: Georg Büchners naturwissenschaftliche Schriften. Ein Beitrag zur Geschichte der Wissenschaften vom Lebendigen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Tübingen 2004, S. 251. 50Vgl. Johann Wolfgang Goethe: In wiefern die Idee: Schönheit sei Vollkommenheit mit Freiheit, auf organische Naturen angewendet werden könne (1794). In: Ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hrsg. von Karl Richter u. a. München 1985–1998. Bd. 4.2, S. 185–188. 51Büchner: Probevorlesung. MBA 8, S. 155. 52Ebd., S. 159. 48Büchner:
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diese Weise kann sich für Büchner (wiederum mit Johannes Müller) die Idee oder das Gesetz des Lebens als Ganzes in jeder organischen Form und Äußerung manifestieren. Diesen Zugeständnissen an die romantische Idealisierung und Systematisierung seiner philosophischen und wissenschaftlichen Referenzen setzt Büchner in den letzten beiden Abschnitten der methodischen Einleitung jedoch eine kritische Betrachtung entgegen, indem er die empirischen und argumentativen Lücken bezeichnet: Zwischen den beiden „Quellen der Erkenntniß“ dieses Gesetzes, „aus denen der Enthusiasmus des absoluten Wissens sich von je berauscht hat, der Anschauung des Mystikers und dem Dogmatismus des Vernunftphilosophen“, erkennt die „Kritik“ „bis jetzt“ „keine Brücke“. Wiederum im Gegenzug zu dieser nüchternen Einschätzung der philosophischen Erkenntnismöglichkeiten des Lebens als Lebendiges resümiert Büchner im letzten einleitenden Abschnitt die „Bestrebungen“ der jüngeren Vergangenheit, „dem Naturstudium eine andere Gestalt zu geben“. Auffallend bildlich beschreibt er sie als sich selbst vollziehende Bewegungen vom Ungeordneten („ungeheuren […] Material“, „Gewirr seltsamster Formen unter den abenteuerlichsten Namen“; „weit auseinanderliegende facta“) zum Geordneten („natürliche Gruppen“, „im schönsten Ebenmaaß“). Man fand nicht die „Quelle“, aber „hörte“ den „Strom in der Tiefe rauschen und an manchen Stellen sprang das Wasser frisch und hell auf“; man erreichte „nichts Ganzes“, dafür aber „zusammenhängende Strecken“ und „schöne[ ] Stellen“.53 Im Sog der vitalistisch-organischen Bildlichkeit scheint Büchner die empirischen Leistungen der historischen wie aktuellen mechanistisch-teleologischen Forschung in die philosophische Perspektive heuristisch zu integrieren, ohne die Diskrepanzen und Dissonanzen zu verbergen. Aber auch dieser integrative Impetus wird allein schon durch die Übertreibung ironisch gebrochen. Eine stilistisch listige Durchbrechung erfährt auch die nächste idealistisch-integrative These der „allgemeinen Form der Sensibilität“, von der die „sogenannten einzelnen Sinne“, „Sehen, Hören, Riechen, Schmecken“, „nichts als Modificationen“, „feinere Blüthen“ seien:54 Die Blüten-Metapher kann gewiss gutgläubig als integrative Metapher der Medialität der Sinne und des Textes und der ‚Übergängigkeit‘ vom Körperlichen zum Geistigen gedeutet werden. Gleichzeitig aber markieren die ‚feinen Blüten‘ als topische Metapher des Rhetorischen (Metapher der Metapher) mit nicht einmal so feiner Ironie das fundamental Rhetorische, Uneigentliche und Leere der Sprache und akzentuieren damit die Alterität von Körper und Zeichen, Sprache und Leben. Demonstration des Empirischen, philosophische Argumentation und rhetorische Stilistik agieren in der Probevorlesung genregemäß zusammen im Dienst der Erforschung des Lebendigen. Doch in der Performanz betreiben diese Register gleichzeitig ein Widerspiel, welches das prekäre Verhältnis der Implikation und der Alterität zwischen dem Gegenstand und der eigenen Medialität zur Geltung bringt und die Zone zwischen Leben und Sprache gegen das Transzendenzbegehren als Quelle der Erkenntnis und der Kreativität offenhält. 53Ebd., 54Ebd.,
S. 155. S. 159.