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German Pages 306 Year 2014
Alina Gromova Generation »koscher light«
Kultur und soziale Praxis
Alina Gromova (Dr. phil.) ist akademische Mitarbeiterin und Guide im Jüdischen Museum Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Migration, Urbanität, Postsäkularisierung und Vergemeinschaftung.
Alina Gromova
Generation »koscher light« Urbane Räume und Praxen junger russischsprachiger Juden in Berlin
Die Verfassung und der Druck dieser Arbeit wurden gefördert durch die Hans-Böckler-Stiftung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt Danksagung | 7 Einleitung | 9
Begriffsbestimmung | 15 Das Schnittfeld zwischen jüdischen Studien, Migrationsforschung und Stadtforschung | 26 Der Forschungsprozess | 31 Aufbau der Arbeit | 38 Von (post-)sowjetischen Juden zu jüdischen Berlinern. Sechs Stadtbilder und Porträts | 41
Die Wunschstadt | 42 Sergej: Ein „normaler“ Ausländer oder Berlin ist tolerant und billig | 43 Die Konkurrenzstadt | 46 Stanislav: Ein „klassischer“ Berliner oder in Berlin lebt man „wie ein König“ | 49 Die Stadt mit Migrationshintergrund | 53 Pavel: Ein Israeli in Berlin oder die Stadt der Freiheit und der Kontraste | 55 Die Stadt mit Raum für Alle | 57 Dina: Eine Neuberlinerin oder Berlin ist für alle andockbar | 59 Die Stadt der Willkür | 63 Vlad: Ein „Vaterjude“ oder „in Berlin komme ich nicht an“ | 64 Die Stadt der Balance | 67 Mila: Eine russisch-orthodoxe Jüdin | 69 Die „neuen Juden“ von Charlottenburg | 73
In den Westen katapultiert | 78 Ein „jüdischer Bezirk“ per definitionem | 81 Von der Bedeutung, ein „richtiger Jude“ in Berlin zu sein | 87 Auf der Suche nach der „eigenen Religion“ | 92 Ein Raum russisch-russischer Grenzziehungen | 96
Mode und Wohneinrichtung: ein russisch-jüdischer Lebensstil? | 101 Zusammenfassung | 111 Die jüdischen Mental Maps und der Berliner Stadtraum | 115
Die Freiheit des Ostens und die israelisch-jüdische Erfahrung | 121 Von den Trabis und den Schwaben oder wo liegt der Weg zur jüdischen Gemeinschaft? | 131 „Berlin ist eine Anhäufung von Soziotopen“ | 139 Von dem Unwillen, in „rein jüdischen“ Gegenden zu wohnen | 143 Das jüdische „Sinnbasteln“ | 148 Über Religion, Alternativen und das Scheunenviertel | 151 Zusammenfassung | 157 Die jüdischen Treffs und Partys als urbane Räume der Wiedervergemeinschaftung | 161
Die Suche nach den vergangenen Zeiten oder braucht man heute einen jüdischen Studentenverband? | 169 Zwei-Phasen-Modell für die Entwicklung des jüdischen Lebens in Berlin seit den 1970er Jahren | 177 Jung und Jüdisch oder die Bedeutung des „symbolischen Kapitals“ | 180 Ein jüdischer Partnerclub bei Chabad Lubawitsch | 189 Familienclub Bambinim und die Macht der ethnischen Kategorien | 197 Über die Ästhetik des Zeichens oder die Konstruktion einer jüdischen Party | 208 Zusammenfassung | 218 Als Touristen in der eigenen Stadt: „Ghetto-Tours“ und kulinarische Geschmackslandschaften | 221
Im „Fremden“ liegt das „Eigene“: der jüdische Bildungshunger durch das Prisma von Kreuzberg | 227 Wenn „fremd“ zum Raum wird: Kreuzberg und Neukölln als Räume der Ein- und Ausgrenzung | 232 Kulinarische Geschmackslandschaften in der Open City Berlin | 238 Jüdische „Ghetto-Tours“ | 248 Die Reise nach Marzahn als nostalgic tourism | 257 Was ist an der Küchentradition noch traditionell? | 268 Zusammenfassung | 277 Fazit | 281 Quellenverzeichnis | 285
Danksagung
Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2012 unter dem Titel „Urbane Räume und Praxen. Junge russischsprachige jüdische Einwanderer in Berlin“ von der Philosophischen Fakultät I der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation angenommen. Für die Publikation wurde die Arbeit geringfügig überarbeitet. Mein Dank gilt an erster Stelle den Protagonisten dieser Studie, die mir Einblicke in ihre Alltage gewährt haben und mit ihrer Offenheit und Gesprächsbereitschaft mich an ihren verschiedenen Lebenswelten teilnehmen ließen. Für die finanzielle Unterstützung während der gesamten Promotion möchte ich mich herzlich bei der Hans-Böckler-Stiftung bedanken. Die vorbereitenden Arbeiten für die Studie und die Forschungsaufenthalte im Ausland wurden unter anderem von dem Evangelischen Studienwerk Villigst, der Stiftung Zurückgeben und der Ursula Lachnit-Fixson Stiftung ermöglicht. Ein ganz besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Wolfgang Kaschuba, dem Leiter des Instituts für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, der die Arbeit von der Entstehungsphase bis zum Abschluss begleitet hat. Ohne seiner intensiven wissenschaftlichen Betreuung, kritischen Anregungen und einer stets motivierenden Haltung wäre diese Arbeit niemals zustande gekommen. Seinen Betrachtungen verdanke ich es, hinter den Einsichten in die einzelnen Schicksale meiner Protagonisten meinen ethnographischen Blick für das Ganze geschärft zu haben. Michal Bodemann hat die erste Fassung der Arbeit gelesen und als Zweitgutachter mit seinen Anmerkungen und konstruktiver Kritik zur Endfassung beigetragen. Die Freundinnen und Kolleginnen am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität – Eszter Gantner, Victoria Bishop-Kendzia, Maria Scattone und Mareike Albers – haben die Arbeit durch anregende Diskussionen und Kommentare stark unterstützt. Die abschließende sorgfältige Bearbeitung des Manu-
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skripts verdanke ich meinen Freunden Alexander Hasgall, Marta Krüger, Juliane Sievert, Katharina Schubert und Gesa Wicke. Ich möchte an dieser Stelle auch meinem Lebenspartner Florian Fleischmann einen großen Dank aussprechen. Seine moralische Unterstützung, Geduld und stetige Anregungen zum Thema der Arbeit waren mir über die Jahre eine unschätzbare Hilfe. Ihm und meiner Tochter Elisha ist dieses Buch gewidmet. Berlin, im August 2013
Einleitung Meine Aufgabe, den urbanen Räumen und Praxen junger russischsprachiger Juden in Berlin näher zu kommen, machte mich am Anfang meiner Feldforschung ratlos. Zweifelsohne wollte ich dem Aufruf der Chicagoer Schule und ihrem qualitativen Paradigma der Stadtforschung folgen: Ich wollte in das Viertel gehen, das Gefühl für das Leben meiner Akteure bekommen, mich in ihren Alltag hineinversetzen. Nur, es gab kein Viertel, in das ich hingehen konnte; es gab nicht die Bank, auf die ich mich setzen konnte, um das Geschehen um mich herum zu beobachten. Das heutige Berlin lässt sich nicht mit dem Chicago beginnenden 20. Jahrhunderts vergleichen, einer Stadt, die Robert Park, der Begründer der Chicagoer Schule, als ein Mosaik aus räumlich klar verorteten Lebenswelten ethnischer Gruppen sah, die er als „cities within cities“ beschrieb, „of which the most interesting characteristic is that they are composed of persons of the same race […].“1 Vor allem in Bezug auf das jüdische Leben war Berlin ohnehin 1
Park/Burgess/McKenzie (1925): The City, 10. Als Chicagoer Schule wird ein von Robert Park in den 1920er Jahren ins Leben gerufene qualitative Forschungsparadigma bezeichnet, das zum ersten Mal Anthropologie und Stadtforschung kombinierte. Geleitet durch den humanökologischen und phänomenologischen Ansatz wurde der Mensch, im Gegenteil zu der im 19. Jahrhundert vorherrschenden „Moralsoziologie“ der christlich-dominierten Gesellschaft, nicht mehr als ein „Objekt“ begriffen, das es zu verbessern galt, sondern als ein „Subjekt“, dessen Wahrnehmungen und Handlungen es vor dem Hintergrund der Interaktion mit den Stadträumen zu verstehen galt. Dabei ließ sich Ethnizität als eine zentrale Kategorie in der Forschung der Chicagoer Schule identifizieren. Weil Chicago zu Parks Zeiten eine Stadt war, die zu 80 Prozent aus Migranten bestand und es segregierte ethnische Viertel gab, lag sein Forschungsschwerpunkt auf einzelnen Vierteln und den Beziehungen der Einwohner dieser Viertel untereinander. Zu den Anhängern der Chicagoer Schule gehörten neben Robert E. Park außerdem Ernest W. Burgess, Everett C. Hughes, Lois Wirth und zahlreiche andere Stadtforscher. Über die Hintergründe der Chicagoer Schule vgl.
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schon über Jahrhunderte hinweg eine landesweite Ausnahme gewesen, denn hier gab es seit der Neuzeit kein jüdisches Viertel, auch wenn es möglich war, mehrere Zentren des jüdischen Lebens zu identifizieren, an denen allerdings nie ausschließlich oder überwiegend Juden lebten, wo aber der jüdische Einfluss stark zu spüren war und immer noch ist. 2 Auch für heute bestätigt Victoria Hegner in ihrer vergleichenden Forschung über die russisch-jüdischen Lebenswelten in Chicago und Berlin, dass es in Berlin „keine territoriale ethnische Enklave, einen Ort an dem nach außen auch sichtbar die Praxis (russisch)-jüdischer Kultur und jüdischer Religion mit der Wohnadresse in eines fällt,“ existiert. 3 Die vorliegende Studie nähert sich den Räumen und Praktiken der jungen russischsprachigen Juden und den damit verbundenen Identifikationskonstruktionen aus der Perspektive der qualitativen Stadtforschung an. Im Unterschied zu der Community-Perspektive wird nicht primär nach jüdischen Räumen und Identifikationen gefragt, sondern danach, welche Verbindungen das Jüdische mit anderen Identifikationen in einem urbanen, berlinspezifischen Kontext eingeht und welchen Platz diese Verbindungen einnehmen, wenn Akteure ihre eigenen Räume in der Stadt konstruieren und gestalten. Die Annäherung an diese Prozesse geschieht mit Hilfe des raumtheoretischen Zugangs und lässt die Arbeit in dem Paradigma der „räumlichen Wende“ verorten. Die vorliegende Studie basiert auf 15 qualitativen Interviews und 15 Mental Mapping-Sitzungen, die ich im Jahr 2010 in Berlin mit jungen russischsprachigen Juden im Alter zwischen 18 und 35 Jahren führte. 4 Eine weitere Grundlange ausführlich Eckardt (2004): Soziologie der Stadt, 22f.; Eckel (1998): Individuum und Stadt-Raum, 11; Lindner (2004): Walks on the Wild Side, 111–117. 2
Vgl. Alexander (1995): Die jüdische Bevölkerung Berlins, 121.
3
Hegner (2008): Gelebte Selbstbilder, 126.
4
Die Altersspanne von 18 bis 35 wird von diversen Organisationen, die ihr Angebot an junge jüdische Erwachsene richten, als das Alter ihrer Mitglieder angegeben. Dazu gehören z.B. der bundesweit wirkende Jung und Jüdisch Deutschland e.V., der jüdische Jugend- und Studentenverband e.V. sowie die Organisation achtzehnplus. Die 18- bis 35-Jährigen, die im deutschsprachigen Raum seit den 1980er Jahren mit den Begriffen der „Postadoleszenten“ oder „Nachjugendlichen“ bezeichnet werden, stehen wegen ihrer noch weitgehend unerforschten Identifikationsprozesse in Hinblick auf ihr Jüdischsein im Fokus dieser Arbeit. In analytischer Hinsicht erscheint diese Altersgruppe besonders interessant, da ihre Mitglieder in der Gestaltung ihrer Räume Komponenten aus verschiedenen klassischen Lebensphasen vereinen: Einerseits sind sie wie Jugendliche in der Konstruktion dieser Räume noch weitgehend offen, flexibel und unbestimmt, andererseits sind sie wie Erwachsene weitgehend autonom
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für die Analyse bilden die Feldnotizen, die als Ergebnisse der Teilnehmenden Beobachtung und der Wahrnehmungsspaziergänge entstanden sind, auf denen ich meine Akteure ein Jahr lang durch ihren Alltag und ihre Stadt begleitet habe. Mit der Methode des Mental Mapping wurden mit Hilfe von Berlin-Zeichnungen mentale Stadtbilder der Akteure erhoben, die einen Zugang zu deren kulturellen Mustern, Symbolen, Stereotypen und Images vermitteln, die sich wiederum zu Stadtbildern verdichten. Die Teilnehmende Beobachtung, Interviews und die gemeinsamen Spaziergänge dienten dazu, über das eigentliche Vorstellungsbild hinaus Aufschluss über die alltäglichen praktischen und emotionalen Erfahrungen sowie Formen der individuellen Erinnerung und des „kulturellen Gedächtnisses“ zu erhalten, die solchen Stadtbildern strukturierend zugrunde liegen. Der für diese Studie gewählte Berlin-Fokus ist in erster Linie der großen Popularität der Stadt geschuldet, die diese bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts unter den russischsprachigen jüdischen Migranten genoss. Vor dem Hintergrund der Pogrome, die seit 1880 Juden im Russischen Reich den Besitz und oft das Leben kosteten, und der Schikanen, die jüdische Studenten an den russischen Universitäten erlitten, wurde Deutschland und vor allem Berlin mit seinen drei Hochschulen dank der liberalen Bildungspolitik und weit offenen, kaum kontrollierbaren Grenzen für russische Juden zum „gelobten Land der Wissenschaft und Kultur“5. Der Erste Weltkrieg und die Errichtung der bolschewistischen Diktatur trieben wiederholt mehrere hunderttausend Menschen Richtung Deutschland, so dass sich in Berlin Anfang bis Mitte der 1920er Jahre ca. 360.000 russische Flüchtlinge versammelten, darunter etwa zwanzig Prozent Juden.6 Sie gründeten zahlreiche russisch-, hebräisch- und jiddischsprachige Verlage, die Bücher nach Russland exportierten und Berlin dadurch zum Exilzentrum der russischsprachigen Elite im Westen machten.7 Die nächste Auswanderungswelle, die ein paar Tausend sowjetische Juden nach Berlin brachte, fand zwischen dem Anfang der 1970er und Anfang der 1980er Jahre statt, als die Sowjetische Regierung dank des kurzen Tauwetters in den Ost-West-Beziehungen den Eisernen Vorhang kurz lüftete. Dieser relativ kleinen Anzahl Einwanderer folgte eine Massenmigrationswelle, die seit dem Ende der 1980er Jahre bzw. seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ca. einund bedürfen keiner pädagogischen Betreuung mehr. Zum Begriff der „Postadoleszenz“ vgl. exemplarisch Gillis (1984): Geschichte der Jugend, 39f. 5 6
Schlögel (2012): Russische Juden im russischen Berlin, 106. Schlögel gibt an, dass 1925 etwa 63.500 Juden aus dem ehemaligen Russischen Reich in Berlin lebten. Vgl. Schlögel (2012): Russische Juden im russischen Berlin, 106.
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Vgl. Sorokina (Hg.) (2003): Russkij Berlin, 10; Mierau (Hg.) (1988): Russen in Berlin.
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einhalb Millionen russischsprachiger Juden aus dem auseinander-brechenden Staat bzw. seinen Nachfolgerepubliken brachte. Dabei avancierte Deutschland neben den USA und Israel zu den wichtigsten Zielländern der Juden, die sich aufgrund von Antisemitismus sowie anhaltender Staats- und Wirtschaftskrisen entschieden hatten, ihre Heimat zu verlassen. 8 Eine Wanderungsbewegung, die zwanzig Jahre lang andauerte, brachte über 200.000 Juden einschließlich ihrer nicht-jüdischen Familienangehörigen in ein Land, in dem das jüdische Leben fünfzig Jahre nach dem Holocaust vom Aussterben bedroht war.9 Diese letzte Einwanderungswelle verlieh Berlin eine besondere Qualität: Die jüdische Gemeinschaft in der deutschen Hauptstadt wurde zu der am schnellsten wachsenden auf der ganzen Welt, indem sich die Zahl ihrer Angehörigen vervierfachte. Während 1989 Berlin nur 6.000 Juden zählte, wird deren Zahl heute in der Hauptstadt auf über 25.000 geschätzt.10 Während den älteren jüdischen Flüchtlingen bei ihrer Einreise nach Deutschland der Einzug nach Berlin häufig auf der Grundlage des Bundesverteilungsschlüssels verweigert wurde,11 ist die
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Die Hintergründe sowie Parallelen und Unterschiede beider Einwanderungsbewegungen russischsprachiger Juden seit Anfang der 1970er Jahre werden ausführlich in Kapitel „Von (post)sowjetischen Juden zu jüdischen Berlinern. Sechs Stadtbilder und Porträits“ dieser Arbeit erläutert. Eine fundierte Einführung zu diesem Thema gibt außerdem Remennick (2007): Russian Jews on Three Continents, 36–41.
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Haug gibt die Zahl der jüdischen Einwanderer, die zwischen 1991 und 2006 nach Deutschland einreisten, mit 226.651 an. Diese Information basiert auf den Angaben des Bundesverwaltungsamtes bzw. des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. Vgl. Haug (2007): Soziodemographische Merkmale, Berufsstruktur und Verwandtschaftsnetzwerke jüdischer Zuwanderer, 9.
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Hegner (2008): Gelebte Selbstbilder, 124. Bodemann und Bagno gehen sogar von 40.000 jüdischen Immigranten in Berlin aus. Vgl. dazu Bodemann/Bagno (2010): In der ethnischen Dämmerung, 162.
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Zwischen 1991 und 2005 bildete das Kontingentflüchtlingsgesetz die Grundlage für die Einreise der Juden aus der GUS nach Deutschland. Dieses auf der Basis der Genfer Flüchtlingskonvention wirkende Gesetz verlieh den Einwanderern einen privilegierten ausländerrechtlichen Status, der neben einem unbefristeten Aufenthaltsrecht, eine Arbeitserlaubnis sowie besondere Ansprüche an den Sozialstaat mit sich brachte. Die vor 1991 eingereisten Juden wurden ex post als Kontingentflüchtlinge anerkannt, während die nach 2005 Eingereisten entsprechend den Regelungen des aktuellen Zuwanderungsgesetzes behandelt werden. Vor ihrer Einreise wurden die mehrheitlich auf staatliche Hilfeleistungen angewiesenen jüdischen Flüchtlinge vom
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Stadt für ihre Kinder heute zum „Mekka“ geworden: Zu einem Sehnsuchtsort, der sie aus dem gesamten Bundesgebiet zum Studium, Arbeiten oder auf ihrer Suche nach einem facettenreichen jüdischen Leben anzieht.12 Die Tatsache, dass Berlin trotz der radikalen Zäsur des Zweiten Weltkrieges, der alle in der Vorkriegszeit bestehenden Netzwerke ausradierte, an seiner Attraktivität für die russischsprachigen Juden nicht eingebüßt hat, lässt annehmen, dass diese Stadt in ihrer Funktion als Zentrum der russisch-jüdischen Diaspora in Westeuropa zu einem Mythos im Sinne von Jan Assmann geworden ist und in das „kulturelle Gedächtnis“ der russischsprachigen Juden übergegangen ist.13 Bundesverwaltungsamt auf einzelne Länder nach dem Asylverteilungsschlüssel, dem Königsteiner Schlüssel proportional der deutschen Bevölkerung verteilt. 12
Die Tatsache, dass Berlin sich heute zu einem Magnet für junge russischsprachige Juden entwickelte, ist kein neues Phänomen. So stellen Schoeps et al. mit Hilfe einer Analyse der Daten des Bundesverwaltungsamtes Köln aus dem Jahr 1998 fest, dass Berlin bereits für diejenigen, die vor 1991, also vor dem Inkrafttreten des Kontingentflüchtlingsgesetzes als „undokumentierte“ Personen einreisten, das populärste Ankunftsziel innerhalb Deutschlands war. Gefolgt von NordrheinWestfalen mit 1.810 Personen, beherbergte Berlin 4.006 jüdische Kontingentflüchtlinge und somit rund die Hälfte aller bis zu diesem Zeitpunkt angereisten sowjetischen Juden. Einen solchen „Ansturm“ von den auf staatliche Hilfeleistungen angewiesenen Migranten stellte für das finanziell stark geschwächte Berlin eine große Herausforderung dar, so dass bereits Mitte der 1990er Jahre der Zuzug nach Berlin auf der Grundlage des Königsteiner Schlüssels stark begrenzt wurde. Zwischen 1991 und 1998 nahm Berlin dann lediglich 521 von bundesweit 89.770 jüdischen Einwanderern auf. Eine solche Politik der „geschlossenen Stadt“ hinderte viele ex-sowjetische Juden allerdings nicht daran, im Rahmen von im Amtsdeutsch als „ungeregelt“ bezeichneten Umzügen aus anderen Bundesländern, die ihnen offiziell als Wohnort zugewiesen wurden, nach Berlin umzuziehen, so dass zum Beispiel von Juni 1994 bis Juni 1995 über 70 Prozent aller neuen Mitglieder der Berliner Jüdischen Gemeinde „ungeregelt“ nach Berlin kamen. Vgl. Schoeps/Jasper/Vogt (1999): Ein neues Judentum in Deutschland, 55f.; Kleff/Seidel (2009): Stadt der Vielfalt, 116f.
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Als „kulturelles Gedächtnis“ bezeichnet Assmann einen Bestand an Texten, Bildern und Riten, in dem sich das Wissen über die Vergangenheit einer Gesellschaft und Epoche konzentriert. Durch eine spezifische „kulturelle Formung“ bildet dieses Wissen eine Vergangenheit, auf der eine Gruppe ihr Bewusstsein von Einheit und Besonderheit gründet. Des Weiteren behauptet Assmann, „dass im kulturellen Gedächtnis faktische Geschichte in erinnerte und damit in Mythos transformiert wird“, die in ihrer Gesamtheit eine Basis für „kulturelle Identität“ bildet. Allerdings sind
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In Berlin angekommen, stehen junge russischsprachige Juden vor der Herausforderung, sich in der deutschlandweit in ihrer Vielfalt beispiellosen Landschaft an jüdischen Gemeinde- und gemeindeunabhängigen Einrichtungen zurechtzufinden. In einem weiteren Schritt konstruieren sie ihre eigenen Räume, die sie entsprechend ihrer kulturellen, religiösen und sozialen Bedürfnissen gestalten und sich wie ein Netz über die bestehenden Organisationsstrukturen und personelle Netzwerke spannen, ohne mit diesen komplett identisch zu sein. Dabei bilden die mindestens 25.000 jüdischen Berliner nur einen Teil des gesellschaftlichen Rahmens, in dem sich junge russischsprachige Juden bewegen. Ihr Spielraum wird außerdem von nicht-jüdischen Berlinern arabischer, türkischer, deutscher sowie russlanddeutscher Herkunft bestimmt, die auf der stark umkämpften Stadtfläche dicht nebeneinander leben und durch die gegenseitigen Begegnungen und Provokationen jeweils die eigenen Gruppenräume aushandeln. Angesichts dieser ethnischen und kulturellen Vielfalt, die Berlin ihnen geradezu aufzwingt sowie vor dem Hintergrund der deutschen und deutsch-jüdischen Geschichte werden die eigenen zahlreichen Identifikationen meiner Akteure als Juden, Russen, Ukrainer, Letten, aber auch Deutsche und postsowjetische Bürger neu ausgehandelt und im Kontext der deutschen und deutsch-jüdischen Geschichte interpretiert. Das Anliegen dieser Studie ist es, die Bedeutung der entsprechenden Kontakte und Konflikte, Zuordnungen und Abgrenzungen für die Räume, die junge russischsprachige Juden in der Stadt konstruieren und in denen sie sich bewegen, zu identifizieren und zu verstehen.
solche Mythen nicht losgelöst von dem gegenwärtigen Kontext und werden immer vor dem Hintergrund der aktuellen Bedürfnisse und Lebensumstände der Gruppenmitglieder neu ausgehandelt. Vgl. Assmann (1997): Das kulturelle Gedächtnis, 52, 76. Eine detaillierte Analyse der Rolle des „kulturellen Gedächtnisses“ für die Raumkonstruktions- und Identifikationsprozesse junger russischsprachiger Juden in Berlin erfolgt in Kapitel „Die jüdischen Mental Maps und der Berliner Stadtraum“ dieser Arbeit.
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B EGRIFFSBESTIMMUNG Der Raumbegriff und die jüdische Migrationserfahrung Die breite theoretische Grundlage für die vorliegende Arbeit bildet die sogenannte „räumliche Wende“, die zu Beginn der 1980er Jahre in die Geistes- und Sozialwissenschaften Einzug fand. Dieses innovative Forschungsparadigma basiert auf der Erkenntnis, dass die zeitliche Dimension allein die Entwicklung unserer Kultur nicht hinreichend erklären kann und fordert dazu auf, „die Lebenswelt in ihrer sinnlichen Konkretheit“14 ernst zu nehmen. Unter dem Einfluss von Globalisierung, Translokalisierung und Deterritorialisierung, aber auch dem gestiegenen Interesse für den menschlichen Körper sowie der allgegenwärtigen Präsenz des Internets als einem virtuellen Raum wird behauptet, dass es weder hinreichend sei, Diskurse über Räume zu analysieren noch Räume lediglich als einen Untersuchungsgegenstand zu betrachten. Vielmehr wird ein räumliches Denken bzw. Umdenken gefordert, der Raum zu einer analytischen Kategorie per se erhoben.15 Mit der neuen Bedeutungszuschreibung an den Raum ging auch eine Neukonzeptionalisierung des Raumes einher. Dieser wurde nicht mehr als ein dreidimensionaler Container im geometrischen Sinn verstanden der bloß eine Bühne für die Praxis der Menschen bildet.16 Stattdessen wird der Raum als von Menschen selbst konstruiert und in ständiger Veränderung begriffen. Basiert auf raumtheoretischen Erkenntnissen von Martina Löw, Pierre Bourdieu und Henri Lefebvre, die einen prozessualen Charakter des Raumes betonen,17 wird der Raum in der vorliegenden Studie aus seinem starren euklidischen Korsett herausgeholt und in Bewegung gesetzt. So wie die Menschen und die Kultur selbst,
14
Schlögel (2009): Im Raume lesen wir die Zeit, 38.
15
Zum Hintergrund der „räumlichen Wende“ vgl. ausführlich Dünne/Günzel (2006): Raumtheorie; Döring/ Thielmann (2008): Spatial Turn.
16
Löw kritisiert die Vorstellung, dass jedem Raumbildungsprozess ein dreidimensionaler euklidischer Raum vorausgehen muss, als absolutistisch. Für sie hat die Realität des Raumes unumgänglich mit dem menschlichen Handeln und menschlichen Körper zu tun, so dass im Ergebnis an einem Ort mehrere Räume existieren können, die von verschiedenen Gruppen von Menschen konstruiert werden. Vgl. Löw (2001): Raumsoziologie, 63.
17
Vgl. bspl. Löw (2007): Zwischen Handeln und Struktur; Bourdieu (2006): Sozialer Raum, symbolischer Raum; Lefebvre (1997): The Production of Space.
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entwickelt sich auch der Raum, von ihnen konstruiert, permanent weiter und möchte auch als Bedingung und Resultat dieser Prozessualität gedacht und erforscht werden. In dieser Arbeit werden Räume als „lokalisierte Kultur“ begriffen, als Kulturträger per se, die mit Bedeutung und Symbolik besetzt, mit kulturellen Codes und Weltbildern beladen werden. Dabei gehen die Raumbildung und die Identitätsbildung Hand in Hand, sie beeinflussen sich gegenseitig, tragen Spuren voneinander und sind nicht voneinander wegzudenken. Die Jüdischen Studien können in ihrer Forschungspraxis, den Raum als analytische Kategorie ernst zu nehmen, allerdings als „späte Nachzügler“ bezeichnet werden. Die jahrtausendelange diasporische Erfahrung des jüdischen Volkes sorgte mit ihrer Metaphorik der „Heimatlosigkeit“ und „Ortlosigkeit“ dafür, dass Juden, nicht zuletzt in der Forschung, als ein „Volk des Buches“ begriffen wurden. Es lag daher auf der Hand, die jüdische Erfahrung anhand von Texten, seien es talmudische Kommentare oder persönliche Erinnerungen, zu interpretieren und zu begreifen. Anstatt Juden eine Anhaftung an Räume und Territorien abzusprechen, wird die jüdische Erfahrung in dieser Arbeit in Anlehnung an Anna Lipphardt, Julia Brauch und Alexandra Nocke gerade angesichts der für das jüdische Volk charakteristischen hohen Mobilität und Multilokalität als eine räumliche und territoriale Erfahrung verstanden.18 Besonders die letzte Auswanderungswelle der Juden aus der ehemaligen Sowjetunion demonstriert deutlich, dass die sprichwörtliche „Heimatlosigkeit“ des jüdischen Volkes im Kontext konkreter territorialer Einheiten zu verorten ist. Seit der Gründung des Staates Israel im Jahre 1948 beschuldigte die sowjetische Regierung die jüdischen Bürger wiederholt der Illoyalität dem sowjetischen Staat gegenüber. Im Lichte der sowjetischen Ideologie der einzigen und gemeinsamen sozialistischen Heimat für alle Völker und Nationen wurde die Geburt einer de facto zweiten Heimat als ein kollektiver Verrat der Juden an der Sowjetunion dämonisiert.19 Die Entscheidung jüdischer Familien, die Sowjetunion zu verlassen, sobald sich der Eiserne Vorhang für eine kurze Zeit lüftete bzw. nachdem die Sowjetunion auseinander gefallen war wurde daher stark von dieser territorialen Dichotomie geprägt. Migration und Räume lassen sich nicht getrennt voneinander denken. Das Sich Zurechtfinden in der neuen Heimat lässt sich als ein Raumkonstruktionsprozess begreifen, im Laufe dessen die Einwanderer entsprechend ihren Bedürfnisse eigene Räume schaffen, die sich ggf. mit anderen, am selben Ort bereits bestehenden Räumen anderer Gruppen überschneiden oder für die sie nach ei18
Lipphardt/Brauch/Nocke (2008): Exploring Jewish Space, 3.
19
Pinkus (1988): The Jews of the Soviet Union.
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nem noch „unbesetzten“ Ort suchen. Besonders bei jungen russischsprachigen Juden scheinen ihre eigenen, jugendkulturellen Räume von besonderer Relevanz für die Aushandlung ihrer Identifikationen zu sein. Wie die Jugendlichen generell, sind auch sie von der Gestaltung des öffentlichen Raumes weitgehend ausgeschlossen.20 In der Öffentlichkeit sind Jugendliche oft nur dann ein Thema, wenn sie auffällig werden, und zwar in einer negativen Art und Weise. Bei der jungen Generation der jüdischen Einwanderer ist das nicht der Fall. Möchte man sich in Begriffen der „Integration“ ausdrücken, wird man sie als ein positives Beispiel für diesen gesellschaftlichen Prozess bezeichnen: Sie machen keine negativen Schlagzeilen in den Medien, etwa weil sie straffällig werden, die Mehrzahl von ihnen hat Abitur gemacht oder ein Studium absolviert, und nicht wenige würden Deutsch als ihre erste Sprache bezeichnen. Im Gegensatz zu jungen „Türken“ oder „Aussiedlerdeutschen“ wird der jungen Generation der jüdischen Einwanderer in der nicht-jüdischen Öffentlichkeit gar keine, in der jüdischen Öffentlichkeit kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Ihre Jugendkultur ruft also keinen Diskurs hervor, sondern produziert vielmehr eine Lebens- und Handlungspraxis, die für ihre Äußerungen per definitionem eines physischen, sozialen oder symbolischen Raums bedarf. Ihr Kampf um die Anerkennung und Förderung wird daher zum größten Teil in ihre eigenen Räume verlagert: Es sind diese jugendkulturellen Räume, wo sich die Kultur verdichtet und wo sich die gruppenbildenden Prozesse beobachten lassen, in denen die Jugend ihre Identifikationen aushandeln und ihre Ziele und Stile realisieren kann.21 Der Begriff der Jugend und die jüdische Migrationserfahrung Die klassisch-traditionelle Definition der Jugend als eine auf biologischen und entwicklungspsychologischen Kriterien basierende eigenständige Lebensphase, die mit dem Beginn der Pubertät um das 12. Lebensjahr anfängt und mit dem Eintritt in das Berufsleben und/oder mit der Heirat um das 25. Lebensjahr en20
Ferchhoff beobachtet eine wachsende Distanz der Jugendlichen und jungen Erwachsenen zum politischen Geschehen und eine allgemeine Entfremdung von den öffentlichen Organisationen wie Parteien, Verbänden oder Kirchen. Eine solche Vertrauenskrise hat zum Teil damit zu tun, dass die jungen Leute sich mit ihren Bedürfnissen, Sorgen und Hoffnungen von den Akteuren der Politik nicht ernstgenommen fühlen und nicht an der Gestaltung des öffentlichen Raumes beteiligt werden. Vgl. Ferchhoff (2011): Jugend und Jugendkulturen, 441–450.
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Siehe dazu Gromova (2011): Spezifika der jungen Generation jüdischer Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion in Berlin.
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det22 wurde im Laufe der letzten Jahrzehnte immer mehr in ihrer Bestimmung aufgeweicht. Die kulturellen und sozialen Kriterien, die inzwischen für die Klärung des Jugendbegriffes hinzugezogen wurden, lassen von der „Entstrukturierung“, „Destandardisierung“ und dem „Strukturwandel“ der Jugendphase sprechen.23 Durch die verlängerten Ausbildungszeiten, Diversifizierung der Berufsmöglichkeiten sowie veränderten Lebensbeziehungs- und Familiengründungsmustern wird die Suche des Individuums nach seiner persönlichen und sozialen Identität, die für die Jugendphase kennzeichnend ist, in zweierlei Hinsicht „destrukturiert“. Zum einen wird Jugend als Phase in mehrere Teilübergänge gegliedert, die sich unter anderem in rechtlichen und politischen Mündigkeitsgrenzen äußern,24 zum anderen wird die Grenze der Jugendphase immer weiter nach hinten ausgedehnt und je nach Standpunkt mit 27, 29 oder 35 Jahren definiert.25 Im Laufe der Ausdifferenzierung der Jugendphase hat sich mittlerweile in der Jugendforschung der Begriff der „Postadoleszenz“ oder der „Nachjugend“ fest etabliert. Diese zusätzliche Lebensphase, die sich in Begriffen der klassischen Jugendforschung zwischen der Jugend und der Erwachsenenphase befindet, weist auf die Tatsache hin, dass sich in der spätmodernen Gesellschaft mit der für sie kennzeichnenden Enttraditionalisierung, Pluralisierung und Individualisierung der kreative Prozess des „Selbstbastelns“, die wirtschaftliche Abhängigkeit und die Unbestimmtheit hinsichtlich der Formen partnerschaftlicher Beziehungen bis ins vierte Jahrzehnt hinein verlängert hat. In den neuesten For22
Ferchhoff (2011): Jugend und Jugendkulturen im 21. Jahrhundert, 94f.; Schäfers/
23
Heitmeyer/Olk (Hg.) (1990): Individualisierung von Jugend; Ferchhoff/Olk (Hg.)
Scherr (2005): Jugendsoziologie, 17–25. (1988): Jugend im internationalen Vergleich. 24
Mitterauer spricht von „entritualisierten Teilübergängen“ und von verschiedenen „Zäsuren der Jugendphase“, die sich nach juristischen und politischen, aber auch sexuellen, sozialen und kulturellen Kriterien aufsplittern. Vgl. Mitterauer (1992): Sozialgeschichte der Jugend, 92f., 44–46; Schäfers/Scherr unterteilen die Jugendphase in die „pubertäre“, „nachpubertäre“ und die „Phase der jungen Erwachsenen“. Vgl. Schäfers/Scherr (2005): Jugendsoziologie, 24.
25
Während das Kinder- und Jugendhilfegesetz einen 18- bis 27-Jährigen als einen „jungen Volljährigen“ definiert, ist in einer Repräsentativstudie von Gille/Krüger über die politische Orientierung Jugendlicher die Altersspane für diese Gruppe mit 12 bis 29 Jahren angesetzt. Das Jugendwerk der Deutschen Shell schließt in seine Definition von Jugendlichen alle im Alter von 13 bis 35 Jahren ein. Vgl. KJHG/SGB VIII, § 7; Gille/Krüger (2000): Unzufriedene Demokraten; Jugendwerk der Deutschen Shell (Hg.) (1992): Jugend ’92.
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schungen wird die Postadoleszenz als eine „Jugendverlängerungsphase“ betrachtet und bleibt in ihrer theoretischen Ausformung daher der Gegenstand der Jugendforschung.26 Wenn Jugendliche an ihren persönlichen Lebensentwürfen „basteln“, ziehen sie für diesen Prozess laut Dieter Baacke den von offiziellen Institutionen bereitgestellten Räumen ihre eigenen jugendkulturellen Räume vor. Denn es ist gerade das Kennzeichen der Jugendkultur, so Baacke, dass „sie mit den gesellschaftlich konfigurierten Zonen nicht deckungsgleich ist, [sondern] vielmehr eine Absetzbewegung darstellt“.27 Ob Jugendliche und junge Erwachsene sich in die speziell für sie geschaffenen Jugendclubs eingliedern, diverse Cafés und Discobars nutzen oder die bestehenden Räume für ihre eigenen Zwecke umdefinieren, all diese Prozesse wirken gemeinschaftsbildend: Indem die Jugend eigene Räume definiert, kämpft sie um Anerkennung und um Förderung der eigenen Gruppe durch bestimmte gesellschaftliche Akteure und durch die erwachsene Mehrheitsgesellschaft. Geht man mit Wolfgang Kaschuba davon aus, dass die meisten Konflikte in solchen Prozessen in Begriffen wie Herkunft und Kultur ausgetragen werden28, spielt gerade bei Jugend die Abgrenzung von anderen ethnischen, kulturellen und religiösen Gruppierungen eine zentrale Rolle bei der Konstruktion ihrer eigenen Gruppengemeinschaft. Die jungen russischsprachigen Juden, die als Kinder oder Jugendliche gemeinsam mit ihren Familien nach Deutschland eingewandert sind, befinden sich unter dem Einfluss mehrerer „Stammkulturen“, von denen sie sich in ihrer Suche nach der eigenen Form des Jüdischseins abzugrenzen suchen. Auf der einen Seite finden sie die Generation ihrer in der Sowjetunion sozialisierten Eltern und Großeltern vor, deren Verständnis des Jüdischseins unter dem Einfluss der religionsfeindlichen sowjetischen Politik in den meisten Fällen auf eine ethnische Komponente reduziert bzw. als Nationalität begriffen wird.29 Auf der anderen Seite treffen sie in Deutschland auf die „alteingesessene“ jüdische Gemeinschaft, deren Mitglieder ihr Jüdischsein, zumindest nominell, durch die Zugehörigkeit zum jüdisch-religiösen Glauben definieren und als eine ihrer Hauptaufgaben das 26
Zu diesen Ausführungen vgl. Gillis (1984): Geschichte der Jugend, 39f.; Ferchhoff (2011): Jugend und Jugendkulturen, 95–98; Schäfers/Scherr (2005): Jugendsoziologie, 25.
27
Baacke (2007): Jugend und Jugendkulturen, 170.
28
Kaschuba (2005): Urbane Identität: Einheit der Widersprüche? 25.
29
Die Bezeichnung „Jude“ wurde in den sowjetischen Pässen analog zum „Russen“, „Tataren“ oder „Deutschen“ unter der Rubrik nationalnost', „Nationalität“ vermerkt und galt offiziell nicht als Religionszugehörigkeit. Vgl. Gitelman (2009): Jewish Identity and Secularism in Post-Soviet Russia and Ukraine, 248, 252.
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Heranführen der Einwanderer an deren jüdische religiöse Wurzeln betrachten.30 Vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen Definitionskontexte handeln junge russischsprachige Juden ihre jüdischen, aber auch russischen, ukrainischen oder deutschen Identifikationen neu aus. Nicht zu vernachlässigen ist dabei die Tatsache, dass etwa die Hälfte der Kinder russischsprachiger jüdischer Einwanderer aus interkonfessionellen Ehen stammt, in denen ein Elternteil jüdisch und der andere russisch-orthodox ist. Daher spielt der Rückbezug auf die Pluralität der religiösen Weltanschauungen bei ihrer Suche nach einer eigenen Form des Jüdischseins eine bedeutende Rolle. Die Frage danach, welche Form des Jüdischseins junge russischsprachige Juden vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen kulturellen Kontexte für sich reklamieren, bildet den zentralen Teil der aktuellen akademischen Debatte über das „neue Judentum in Deutschland und Europa“. Dabei wird diskutiert, welche Gestalt die jüdische Existenz im Nachkriegsdeutschland im Unterschied zu der Zeit vor dem Holocaust annimmt. Als „neu“ wird dabei neben einem „Leben nach der Katastrophe“ außerdem die gegenwärtige Entwicklung einer europäisch-jüdischen Identität betrachtet sowie die Tatsache, dass die heute in Deutschland lebenden Juden im Vergleich zu ihren Glaubensbrüdern im Vorkriegsdeutschland mehrheitlich eine nicht-deutsche Herkunft haben.31 Den aktuellsten Beitrag zu dieser Debatte liefert Heinrich Olmer mit seinem bisweilen einzigartigen Werk „Wer ist Jude?“. Darin verknüpft er eine hermeneutische Analyse der biblischen Schriften und der Mischna 32 (Aufzeichnung der mündli30
Dieses Anliegen definiert der Zentralrat der Juden in Deutschland als eine der Hauptaufgaben der jüdischen Gemeinden in Bezug auf die Neueinwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion auf seiner Webseite.
31
Repräsentativ für die Debatte um das „neue Judentum“ steht ein Zitat von Salomon Korn, dem Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland: „Wir bauen etwas Neues auf, etwas, dessen Charakter wir nicht genau kennen, weil sich das Judentum in Deutschland verändert hat und stark verändert, und sich auch in Zukunft verändern wird. Es wird möglicherweise ein neues Judentum geben und die Symptome erkennen wir heute. […] Wie dieses Judentum in Zukunft aussehen wird, das kann niemand vorhersagen.“ Vgl. Korn (2007): Zukunft des Judentums in Deutschland. Weitere Beiträge zur Debatte über das „neue Judentum in Deutschland und Europa“ liefern Bodemann (2002): In den Wogen der Erinnerung; Aviv/Shneer (2005): New Jews; Peck (2006): Being Jewish in the New Germany.
32
In dieser Arbeit werden herbräische, russische und andere fremdsprachige Ausdrücke kursiv gesetzt. Auf die Kursivierung wird verzichtet, wenn die Begriffe in den allgemeinen Gebrauch der deutschen Sprache übergegangen sind.
EINLEITUNG | 21
chen Tora) hinsichtlich der geltenden Definition des Judeseins mit der Frage nach der Aktualität der Regelung des jüdischen Religionsgesetzes, der Halacha, wonach nur derjenige ein Jude ist, der von einer jüdischen Mutter abstammt oder zum Judentum konvertiert ist, für die heutige deutsche und europäische jüdische Gemeinschaft. Dabei ruft Olmer die aktuell sinkende demografische Entwicklung der europäischen Judenheit ins Bewusstsein, die mit einer wachsenden Zahl an interkonfessionellen Ehen zu tun hat, die unter den russischsprachigen Juden besonders hoch ist. Da etwa die Hälfte der Kinder russischsprachiger Einwanderer, die heute in Deutschland leben, aus den Ehen zwischen einer nicht-jüdischen Mutter und „lediglich“ einem jüdischen Vater stammen und nach der Halacha daher nicht als Juden gelten, plädiert Olmer dafür, die Patrilinearität als grundlegendes Merkmal der Zugehörigkeit zum Judentum mit der Matrilinearität gleichzusetzen, um die Zukunft der jüdischen Gemeinschaft zu sichern und den neuen Ausdrucksformen des Judentums gerecht zu werden.33 Olmers Plädoyer dafür, die neuen Ausdrucksformen des Judentums ernst zu nehmen, findet in dem Aufruf von dem Rabbiner Walter Jacob, einer führenden Persönlichkeit des Reformjudentums, der viele Jahre lang der Zentralkonferenz amerikanischer Rabbiner vorstand, seinen Widerhall, wenn dieser behauptet: „Da uns für unsere jüdische Identität eine Vielzahl von Optionen zur Verfügung steht, sollten wir uns nicht allzu sehr um die Zukunft oder unsere demografische Entwicklung sorgen. Einige mögen für immer verloren gehen, aber die meisten werden in Nordamerika, Israel und Europa neue Formen der Jüdischkeit und des Judentums schaffen.“ 34
Vor dem Hintergrund der großen Fülle an ethnischen, kulturellen und religiösen Identifikationen, die ihnen zur Verfügung stehen, bietet sich die Gruppe junger russischsprachiger Juden für die Untersuchung von neuen Formen des Judentums besonders an und lässt sich als ein Protobeispiel der „neuen Juden“ bezeichnen.
33
Olmer (2010): „Wer ist Jude?“
34
Jacob (2008): Optionen für eine jüdische Identität, 6.
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„Urbane Identität“ und die jüdische Migrationserfahrung Begreift man die Großstadt an sich mit Kevin Lynch als „das gewaltige Symbol einer komplizierten Gesellschaft“35, lässt sie sich nicht nur als ein Generator von unterschiedlichen Lebensstilen, Ideen und Wünschen verstehen, sondern auch als eine eigene „kulturelle Form“ auffassen. Eine Besonderheit dieser „kulturellen Form“ bildet die Vielfalt von Räumen und Verortungsmöglichkeiten, die Georg Simmel als eine Konsequenz der für das Großstadtleben charakteristischen Individualisierung, Rollendifferenzierung und Anonymität betrachtet.36 Diese, gepaart mit der sprichwörtlichen Widersprüchlichkeit, dem rasanten Tempo und dem Chaos des metropolitanen Lebens, bilden die allgemeinen Referenzkriterien, an denen sich die Stadtbewohner in ihren Wahrnehmungs- und Handlungspraxen und in der Konstruktion ihrer Räume orientieren. In Anbetracht dieser großstädtischen Lebensbedingungen entstehen in der Zeit der Zweiten Moderne im urbanen Raum laut Kaschuba „neue Formationen“ von Identifikationen, die als Folge der Auflösung herkömmlicher Gemeinschaften und Netzwerke sichtbar werden und die als eine „urbane Identität“ aufgefasst werden können.37 So leben in der postmodernen Großstadt noch mehr unterschiedliche Gruppen viel dichter und auf einem immer engeren Raum zusammen, als Louis Wirth es in seiner Definition der modernen Großstadt bereits im Jahr 1938 festhielt.38 Ihr Zusammenleben wird dabei durch die Dialektik von Auflösung von Traditionen einerseits, und Freisetzung von neuen Lebensweisen andererseits bestimmt. Die Vielfalt an unterschiedlichen Gruppen, die sich einen urbanen Raum miteinander teilen müssen, nimmt im Zeitalter der Migration besonders schnell 35 36
Lynch (2007), 14. Diese Charakterisierung macht Simmel am Beispiel von Entwicklungen von Leistungen und Erwerbsquellen bzw. Arbeitsteilung im urbanen Raum deutlich. Durch die Größe und Ausdehnung der Stadt entwickelt sich eine Vielfalt von Leistungen, die es für Individuen immer schwieriger macht, Kunden zu finden. Um aus der Menge hervorzuragen, müssen sie immer raffiniertere Kniffe entwickeln: „Die Notwendigkeit, die Leistung zu spezialisieren, um eine noch nicht ausgeschöpfte Erwerbsquellen, eine nicht leicht ersetzbare Funktion zu finden, drängt auf Differenzierung, Verfeinerung, Bereicherung der Bedürfnisse des Publikums, die ersichtlich zu wachsenden personalen Verschiedenheiten innerhalb dieses Publikums führen müssen.“ Simmel (2006): Die Großstädte und das Geistesleben, 36.
37
Kaschuba (2005): Urbane Identität: Einheit der Widersprüche? 21.
38
Wirth (2002): Urbanism As a Way of Life.
EINLEITUNG | 23
zu. Dabei handelt es sich um eine Vielfalt, die laut Kaschuba „weniger von innen, als vielmehr von außen kommt: Ohne Migration gibt es keine Großstadt und keine Urbanität. Historisch entstehen und wachsen die großen Städte allein durch den Zuzug fremder Menschen und fremder Ideen.“39 Je mehr unterschiedliche Gruppen mit ihren eigenartigen kulturell und religiös geprägten Sprechweisen, Kleidungsstilen und Geschmacksrichtungen in der Großstadt zusammenkommen, desto mehr Bedeutung erhalten bei der Aushandlung ihrer kollektiven Identifikationen die Differenzvorstellungen von dem „Eigenen“ und dem „Fremden“.40 Um in diese Vielschichtigkeit und das Chaos des urbanen Lebens eine gewisse Ordnung zu bringen, werden von Migranten die Strategien der Abgrenzung von den anderen Gruppen genutzt, um sich auf diese Art und Weise der eigenen Werte und Normen zu versichern.41 Möchte man die Raum- und Identitätskonstruktionen in einer Großstadt untersuchen, geraten in Anlehnung an Frederik Barth in erster Linie kulturelle und ethnische Grenzen zwischen unterschiedlichen Gruppen in den forschenden Blick. Barth betont, dass eine ethnische Gruppe weniger durch einen festen und unveränderbaren Kern von Kultur, Tradition und Religion gekennzeichnet ist, sondern vielmehr durch ethnische und kulturelle Grenzziehungen konstruiert wird, die entweder die Zugehörigkeit eines Mitglieds zu einer Gruppe oder dessen Ausschluss signalisieren. Zentral für Barths Begriff der „ethnischen Grenzen“ gilt die Behauptung, dass sowohl die Ethnizität als auch die ethnischen Grenzen nicht primordial vorgegeben sind, sondern sich in Interaktion mit anderen, ähnlich strukturierten Gruppen konstruieren.42 Auf die zentrale Bedeutung von „ethnischen Grenzen“ bei der Definition und Konstruktion von Ethnizität weist auch Zvi Gitelman in seiner Forschung über die Identität der post-sowjetischen Juden hin.43 Dabei stellt er fest, dass die Juden in Russland und der Ukraine eine relativ ungewöhnliche jüdische Gemeinschaft bilden. In Vergleich zu Juden im Rest der Welt, deren jüdische Gemein39
Kaschuba (2005): Urbane Identität: Einheit der Widersprüche? 13.
40
Ebd., 21.
41
Grundlegend für diese Ausführungen ist die Distinktionstheorie von Bourdieu, die zeigt, dass kulturelle Praktiken zur sozialen Abgrenzung zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen dienen und sich in solchen „feinen Unterschieden“ wie Geschmacksrichtungen, Kleidungsstilen, Intonation oder Gestik kenntlich machen. Vgl. Bourdieu (2010): Die feinen Unterschiede.
42
Vgl. Barth (1998): Introduction.
43
Vgl. Gitelman (2003): Thinking About Being Jewish in Russia and Ukraine; Gitelman (2009): Jewish Identity and Secularism in Post-Soviet Russia and Ukraine.
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schaft laut Gitelman zum größten Teil auf den jüdischen Inhalten basiert, wird das Jüdischsein der postsowjetischen Juden in erster Linie durch die Grenzziehungen zu anderen ethnischen Gruppen der ehemaligen Sowjetunion definiert: „If ethnicity consists of content and boundaries, then the ethnicity of Soviet Jews was defined since the 1930s much more by boundaries than by content. Neither language, nor religion, nor dress, nor foods, nor territory (despite the creation of the Jewish Autonomous Oblast’ in Birobidzhan) marked them off from other Soviet citizens. Rather, it was stateimposed identity and social perceptions.“44
Gitelmans Behauptung, dass die ex-sowjetischen Juden im Vergleich zu den anderen jüdischen Gemeinschaften weltweit deshalb eine Ausnahme bilden, weil sich ihr Jüdischsein in erster Linie durch Abgrenzungen von den anderen ethnischen Gruppen konstruiert und in keiner Weise auf die jüdischen Inhalte zurückzuführen ist, kann so nicht zugestimmt werden. Auch für die deutschen Juden in der Zeit des Kaiserreiches und der Weimarer Republik stellt Till van Rahden einen konstruierten Charakter des Jüdischen fest, der in erster Linie auf die Interaktion mit Mitgliedern anderer ethnischer Gruppen und somit auf die Aushandlung „ethnischer Grenzen“ zurückzuführen ist.45 Einzigartig für die post-sowjetischen Juden bleibt jedoch die Tatsache, dass ihr Verständnis des Jüdischseins ihnen seitens der sowjetischen Regierung auferlegt wurde, die Juden nicht als eine Glaubensgemeinschaft, sondern als eine Nationalität bzw. ethnische Gruppe klassifizierte und sie somit in eine Reihe mit über hundert anderen Nationalitäten des sowjetischen Vielvölkerstaates stellte. So mussten seit 1932 alle Stadtbewohner in der Sowjetunion einen Personalausweis besitzen, in dem die eigene Nationalität in der berühmt-berüchtigten „fünften Zeile“, p’ataja grafa, vermerkt war. Ein solcher Vermerk diente der Abgrenzung sowohl zwischen den einzelnen Individuen als auch zwischen den ganzen Völkern und konnte, wie im Falle der Juden, Diskriminierungen in der Schule, bei Vergabe von Studienplätzen und am Arbeitsplatz verursachen.46 Durch das Verbot der Gottesdienste, Ausübung der Glaubenstraditionen im Alltag und die nicht sanktionierte Lehre der jiddischen und hebräischen Sprachen wurde das Jüdischsein in der Sowjetunion seiner Inhalte beraubt. Juden, die zum größten Teil Großstadtbewohner waren, kon44
Gitelman (2009): Jewish Identity and Secularism in Post-Soviet Russia and Ukraine, 243.
45
Vgl. van Rahden (2000): Weder Milieu noch Konfession; van Rahden (2000): Juden und andere Breslauer.
46
Gitelman (2009): Introduction: Jewish Religion, Jewish Ethnicity, 1.
EINLEITUNG | 25
zentrierten sich stattdessen darauf, in der harten Realität des sowjetischen Alltages mit den anderen ethnischen Gruppen um den Zugang zum Studium und die Einnahmequellen zu konkurrieren, so dass diese Konkurrenz häufig zur einzigen Quelle wurde, aus der man die Definition seines Jüdischseins schöpfte. Die russischsprachigen Juden, die als Kinder und Jugendliche nach Deutschland einwanderten, müssen das ausschließlich ethnische und somit auf biologischen Merkmalen basierte Verständnis des Jüdischseins ihrer Eltern vor dem Hintergrund der deutschen und deutsch-jüdischen Geschichte und Kultur neu aushandeln. Während die meisten von ihnen mit Inhalten der jüdischen Religionslehre nicht vertraut sind, werden sie in Deutschland entsprechend der offiziellen Position des Zentralrates der Juden in Deutschland als Mitglieder einer Glaubensgemeinschaft betrachtet. Auf der Basis dieses unterschiedlichen Verständnisses des Judentums konstruieren sie eine neue Form des jüdischen Daseins, die ihren eigenen Bedürfnissen entspricht. Eine zentrale Rolle spielen dabei nicht nur Kontakte und Konflikte mit anderen Juden, sondern auch mit türkisch- und arabischstämmigen Gruppen, russischsprachigen Spätaussiedlern und nicht-jüdischen Deutschen. Die besonders hohe Dichte und Größe der Minderheitengruppen, die in Berlin dank des Hauptstadtcharakters zu beobachten ist, 47 trägt dazu bei, dass hier die gemeinschaftsbildenden Prozesse stärker als an den nichturbanen und weniger urbanen Orten durch Abgrenzungspraxen bestimmt sind, die sich schließlich in physischen, symbolischen und sozialen Räumen abbilden.
47
Nach den Angaben des Amtes für Statistik Berlin-Brandenburg leben in Berlin 872.000 Menschen mit Migrationshintergrund. Darunter rund 170.000 mit türkischen, 90.000 mit polnischen und 60.000 mit arabischen Wurzeln. Fast 100.000 Berliner stammen außerdem aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion, wobei die Bewohner der östlichen Bezirke hauptsächlich deutsche Aussiedler und die, der westlichen jüdische Kontingentflüchtlinge sind. Vgl. o.V. (2011): Zahlen mit Migrationshintergrund. Die entsprechenden Zahlenangaben stammen vom Amt für Statistik Berlin Brandenburg.
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D AS S CHNITTFELD ZWISCHEN JÜDISCHEN S TUDIEN , M IGRATIONSFORSCHUNG UND S TADTFORSCHUNG Mit der Masseneinwanderung der russischsprachigen Juden nach Deutschland seit Beginn der 1990er Jahre näherten sich Wissenschaftler diesem Phänomen zunächst mit Hilfe vom quantitativen Forschungsparadigmen an. Im Zentrum der ersten Untersuchungen standen neben den Auswanderungsgründen, die sozialen Merkmale der Migranten in Hinblick auf religiöse Orientierung, Herkunftsort, Bildungsabschluss und Berufsprofil. Die größtenteils durch standardisierte Fragebögen erhobenen Daten sollten vor allem der Verbesserung der „Integration“ der Neueinwanderer in die bestehenden jüdischen Gemeinden sowie in die allgemeine deutsche Gesellschaft dienen und lieferten eine Art Bestandsaufnahme über diese „neuen Juden“ Deutschlands. Als eine der ersten Forschergruppen widmeten sich dem Thema Julius Schoeps, Willi Jasper und Bernhard Vogt in ihren im Jahr 1996 und im Jahr 1999 erschienen Studien über „ein russisches Judentum in Deutschland“.48 Während sich die Verfasser in der Erforschung der Ausreisemotive auf die Erfahrung des Antisemitismus konzentrierten, stellten sie in Hinblick auf die sozio-religiösen Merkmale der Einwanderer eine Überproportionalität von akademischen Berufsabschlüssen und urbaner Herkunft sowie eine kaum existente religiöse jüdische Bindung fest. Ergänzt durch einen Überblick über die Verteilung der russischsprachigen Juden auf dem bundesdeutschen Gebiet sollte mit den erhobenen Daten eine „Planungsgrundlage für Integrationshilfen“ geschaffen werden, die den jüdischen Gemeinden bei ihrer Arbeit mit den Neueinwanderern zur Hilfe kommt. Auch die im Jahr 1996 abgeschlossene Studie von Judith Kessler „Jüdische Migration aus der ehemaligen Sowjetunion seit 1990“49 beinhaltet Empfehlungen, die zur Verbesserung der „Integration“ der Einwanderer beitragen sollen. Die sozialwissenschaftliche Studie konzentriert sich auf Berlin und bietet einen Überblick über die berufliche Situation, den Herkunftskontext und die „psychosoziale Lage“ der Einwanderer. Einen weiteren Schwerpunkt setzt Kessler auf den „Mentalitätsunterschied“ zwischen den „alteingesessenen“ und den eingewanderten Juden und mahnt bei den letzteren einen durch die sowjetische Sozialisation bedingten Mangel an Eigeninitiative und Verantwortung an, den sie für
48
Schoeps/Jasper/Vogt (1996): Russische Juden in Deutschland; Schoeps/Jasper/Vogt
49
Kessler (1996): Jüdische Migration aus der ehemaligen Sowjetunion seit 1990.
(1999): Ein neues Judentum in Deutschland.
EINLEITUNG | 27
die „Integrationsprobleme“ der Neuankömmlinge in die bestehenden jüdischen Gemeinden pauschal verantwortlich macht. Die Frage nach der „Integration“ spielt auch in der Studie von Jeroen Doomernik eine zentrale Rolle. In der im Jahr 1997 verfassten Arbeit mit dem Titel „Going West. Soviet Jewish Immigrants in Berlin since 1990“50 erarbeitet Doomernik eine soziologische Typenbildung in Bezug auf die Anpassungsstrategien der Migranten an die deutsche Gesellschaft. Mit Hilfe vom Bourdieu’schen Konzept des „sozialen Raumes“ erklärt er die unterschiedlichen „Integrationsformen“ der Einwanderer mit den Formen ihres in der Herkunftsgesellschaft erworbenen Habitus. Dabei bleibt die Aufnahmegesellschaft jedoch ein abstrakter Raum und die Akteure statische Figuren, die nach der Anpassungsfähigkeit ihres Habitus an die Ankunftsgesellschaft und nicht nach der Interaktion mit dieser beurteilt werden.51 Während diese ersten Forschungsarbeiten die Frage nach „Anpassungsfähigkeit“ und „Integrationsleistungen“ der Migranten in die bestehenden jüdischen Gemeinden und die allgemeine deutsche Gesellschaft ins Zentrum der Untersuchungen rücken, spiegeln sie den Blick der „alteingesessenen“ jüdischen Gemeinschaft auf die russischsprachigen Juden wider. Im Unterschied dazu zeichnen sich die nachfolgenden, mehrheitlich qualitativen Studien durch ihre Akteurszentriertheit aus, indem sie die Einwanderer selbst mit ihrem eigenen Verständnis des Jüdischseins, ihren Familien- und Verfolgungsgeschichten, Deutungs- und Handlungsmustern, Lebensentwürfen und Zukunftsvorstellungen in den Mittelpunkt der Untersuchungen rücken. Bereits im Jahr 1997 stellte Yvonne Schütze in ihrer migrationssoziologischen Analyse die Frage, wie junge russischsprachige Juden, die seit mehreren Jahren in Berlin leben, mit dem Dilemma umgehen, ins „Land des Holocaust“ ausgewandert zu sein.52 Sie analysiert die Interaktion zwischen den mitgebrachten Denkmustern und den moralischen Normen, die von der Ankunftsgesellschaft an die Einwanderer herangetragen werden und kommt zu dem Schluss, dass das Wissen um den Holocaust erst in Deutschland für die Einwanderer zu einem integralen Bestandteil ihrer jüdischen Identität wurde. 2006 veröffentlichte sie außerdem eine Langzeitstudie, die auf drei Interviewserien mit jungen russischsprachigen Juden basiert und nach der subjektiven Wahrnehmung des eignen Jüdischseins fragt. 53 In ihren Arbeiten lässt Schütze jedoch unklar, welche 50
Doomernik (1997): Going West.
51
Diese Kritik äußert Becker (2001): Ankommen in Deutschland, 14.
52
Schütze (1997): „Warum Deutschland und nicht Israel?“
53
Schütze (2006): Migration und Identität.
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Besonderheiten der städtischen Existenz und welche konkreten, berlinspezifischen institutionellen Zusammenhänge den Rahmen für die Interaktion zwischen dem mitgebrachten und neuerworbenen Wissen bilden. In der im Jahr 2001 veröffentlichten Studie widmet sich Franziska Becker den Wechselwirkungen zwischen der Identitätsentwicklung der Migranten und den diskursiven und politisch-rechtlichen Rahmenbedingungen ihrer Aufnahme in Deutschland.54 In ihrer biografisch-narrativen Analyse geht Becker anhand von drei Fällen der Frage nach, wie die Selbstverortungen der Einwanderer von den an sie herangetragenen Fremdbildern wie Stereotypen, Identitätserwartungen und Handlungsansprüchen beeinflusst werden. Sie kommt zu dem Schluss, dass Migranten in der Aushandlung ihrer Eigenbilder den Ansprüchen der Ankunftsgesellschaft gerecht sein wollen und sich daher in der Beschreibung ihrer jüdischen Identität und des Flüchtlingsschicksals der Kategorien wie „Echtheit“ und „Authentizität“ bedienen. Auch Karen Körber widmet sich in der im Jahr 2005 verfassten ethnografischen Analyse einer neu gegründeten jüdischen Gemeinde in Sachsen-Anhalt dem Spannungsfeld zwischen den Identitätskonstruktionen bei russischsprachigen jüdischen Einwanderern und den Erwartungen, die an sie von der Aufnahmegesellschaft herangetragen werden.55 Körbers Feldforschung findet mitten in der jüdischen Gemeinde statt und rückt die Folgen der Migrationspolitik sowie Erinnerungskultur für die Bedeutung einer jüdischen Identität für die Einwanderer in den Mittelpunkt. Sowohl bei Becker als auch bei Körber bleibt allerdings offen, wie unterschiedliche Altersgruppen der Einwanderer mit den an sie herangetragenen Zuschreibungen umgehen und welche Besonderheiten die Eigenbilder der Migranten im konkreten lokalen Kontext Deutschlands aufweisen. Ein direkter Bezug zu lokalen stadträumlichen, institutionellen und soziokulturellen Raumstrukturen in der Erforschung der jüdischen Eigenbilder und somit eine Wende zu dem „vor Ort gelebten Judentum“56 fand erst Mitte 2000 den Einzug in die Forschung. Dabei scheint Berlin als Untersuchungsort eine besondere Attraktivität zu besitzen. Der Aufruf von Antweiler, nicht bloß in der Stadt zu forschen, sondern dabei die Besonderheiten der spezifischen städtischen Existenz zu berücksichtigen,57 fällt in Berlin als einem in quantitativer und qualitativer Hinsicht wichtigsten Ort des jüdischen Lebens in Deutschland auf fruchtbaren Boden. 54
Becker (2001): Ankommen in Deutschland.
55
Körber (2005): Juden, Russen, Emigranten.
56
Hegner (2008): Gelebte Selbstbilder, 14.
57
Antweiler (2006): Stadtethnologie, 363.
EINLEITUNG | 29
Im Jahr 2007 lieferte Alexander Jungmann einen Überblick über die jüdischen Gruppenaktivitäten, die sich in Berlin seit 1990 jenseits oder am Rande der Jüdischen Gemeinde etablierten.58 Jungmann findet in Berlin eine Vielzahl an gemeindeunabhängigen Treffs vor und führt diese Tatsache auf die hohe Entwicklungsdynamik zurück, die nur in Berlin aufgrund von bestimmten politischhistorischen und geokulturellen Besonderheiten möglich wird. So spielt neben der hohen Quantität und der starken sprachlichen und kulturellen Heterogenität der Mitglieder der Berliner Jüdischen Gemeinde auch die Tatsache eine Rolle, dass Berlin die einzige deutsche Stadt ist, in der es im Zuge der Wiedervereinigung zur Verbindung zweier Stadthälften sowie zweier jüdischer Gemeinden kam. Die untersuchten Gruppenaktivitäten bezeichnet Jungmann als „neuere Formen der Generierung jüdischer Kultur und jüdischer Vergemeinschaftung im Sinne von an gegenwärtigen großstädtischen Lebensbedingungen ausgerichteten jüdischen Bedeutungsräumen“.59 Allerdings bleiben die Treffs und Gruppenaktivitäten russischsprachiger Juden in dieser Untersuchung unberücksichtigt, da dem Autor laut seinen eigenen Angaben der Zugang zu dieser Gruppe wegen der fehlenden Russischkenntnisse versperrt blieb. Den Zusammenhängen zwischen einer spezifischen urbanen Umgebung und der konkreten Ausformung jüdischer Lebenswelten widmete sich im Jahr 2008 auch Victoria Hegner in einer vergleichenden ethnografischen Studie „Gelebte Selbstbilder. Gemeinden russisch-jüdischer Migranten in Chicago und Berlin“.60 Hegner fragt danach, wie sich der besondere Stadtkontext in die wandelnden Selbstverständnisse der Einwanderer einschreibt und auf welche Art und Weise sich diese wiederum in dem physischen Stadtbild niederschlagen. Sie kommt dabei zum Schluss, dass während die „Topographie der russisch-jüdischen community“61 in Chicago von dem individuellen sowie kollektiven Migrationsprozess und der alltäglichen Lebenspraxis strukturiert wird, sie in Berlin hauptsächlich durch geschichtliche Erinnerung und intellektuelle Beschäftigung mit den historischen Brüchen wie der Zweite Weltkrieg und die Berliner Mauer geprägt wird. In diesem Zusammenhang spricht die Autorin von einer „lokalzentrierten Historisierung“62 der Selbstbilder. Zwar konstatiert Hegner, dass die russischsprachigen Juden in Berlin sich in ihrem jüdischen Selbstverständnis hauptsächlich im Kontext des Holocaust und des Zweiten Weltkrieges bewegen, jedoch 58
Jungmann (2007): Jüdisches Leben in Berlin.
59
Ebd., 25.
60
Hegner (2008): Gelebte Selbstbilder.
61
Ebd., 223.
62
Ebd., 225.
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gehören zu ihren Berliner Akteuren im Unterschied zu denen in Chicago ausschließlich Vertreter der älteren Generation der Einwanderer. Die jungen Juden waren in der Institution der Jüdischen Gemeinde, die Hegners Forschungsfeld darstellte, kaum anzutreffen. Dem Thema der Identitätsfindung bei der jungen Generation der Juden in Deutschland widmet sich Meron Mendel mit seiner im Jahr 2010 veröffentlichten Studie „Jüdische Jugendliche in Deutschland. Eine biographisch-narrative Analyse zur Identitätsfindung“.63 Anhand von 25 narrativen Interviews mit Jugendlichen im Alter von 16 bis 19 Jahren analysiert Mendel ihre in der Narration konstruierten Selbstdeutungen vor dem Hintergrund historischer und gesellschaftspolitischer Entwicklungen des jüdischen Lebens in Deutschland. Die Studie zeigt unter anderem, dass während bei den „alteingesessenen“ Jugendlichen die Erinnerung an den Holocaust heute immer noch eine zentrale Rolle in ihrem Identitätsfindungsprozess darstellt, sich das für die eingewanderten Jugendlichen nicht behaupten lässt. Zentral für deren Selbstfindung ist in erster Linie der Migrationsprozess und das damit verbundene Spannungsfeld zwischen den ethnischen, kulturellen, religiösen und nationalen Deutungsmustern. Unter der Berücksichtigung der dargestellten Forschungsergebnisse über die jungen und bzw. oder russischsprachigen Juden in Deutschland und Berlin wagt die vorliegende Studie einen disziplinären Blickwechsel. Dieser besteht darin, nicht allein nach jüdischen, sondern zugleich auch nach urbanen Selbstbildern junger russischsprachiger Juden in Berlin zu fragen. Das Hauptinteresse dient dabei den Verbindungen, die die jüdische Identifikation mit anderen ethnischen, kulturellen und religiösen Identifikationen in einem spezifischen urbanen Umfeld eingeht und den Räumen, die durch solche Interaktionen möglich und sichtbar werden. Durch den Blickwechsel von der Community- zur Stadtperspektive sollen neue Dimensionen entwickelt werden, die man in der Erforschung von Räumen und Praxen russischsprachiger Juden heute gemäß Anna Shternshis dringend braucht, und zwar „Dimensionen, die diese Zielgruppe selbst in Hinblick auf ihre Jüdischkeit festlegt“.64
63 64
Mendel (2010): Jüdische Jugendliche in Deutschland. Shternshis (2010): Material Culture and Ethnic Identity in the Post-Soviet Jewish Urban Community, 115.
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D ER F ORSCHUNGSPROZESS Wo fängt man an, wenn man über junge Juden in Berlin forschen möchte? Wie lassen sich Räume in der Stadt erkennen, die von Mitgliedern dieser Gruppe als Treffpunkte, Partylocations, Diskussionsforen, Restaurants oder Ausflugsorte favorisiert werden? Auf den ersten Blick lässt sich diese Frage einfach beantworten: In Deutschland sind Räume, die in der öffentlichen Wahrnehmung mit jüdischem Leben in Verbindung gebracht werden, nach außen durch permanente Polizeipräsenz markiert und sind dadurch leicht zu erkennen. Um in eine Synagoge, ins Innere einer jüdischen Gemeinde oder in ein jüdisches Museum zu gelangen muss man sich einer Sicherheitskontrolle unterziehen, die wie am Flughafen einem Ritual der Transformation von einer Realität in die andere ähnelt. Aus einigen Beschreibungen wusste ich, dass man junge Juden allerdings eher selten hinter solchen Sicherheitsschranken trifft. So gehörten zu Hegners Interviewpartnern, die sie im Rahmen ihrer Studie über communities russisch-jüdischer Migranten in Chicago und Berlin in der Jüdischen Gemeinde Berlins antraf, ausschließlich ältere Damen und Herren. 65 Auch Bodemann und Bagno beobachten, dass die meisten jungen russischsprachigen Juden den etablierten jüdischen Organisationen inzwischen den Rücken gekehrt und ihre Mitgliedschaft in der Jüdischen Gemeinde aufgegeben haben. Stattdessen bevorzugen sie alternative und gemeindeunabhängige Kreise, deren vorherrschenden Leitprinzipien weniger dogmatisch sind und ihnen einen Raum für die Entwicklung eigener Talente und die Erfüllung eigener Bedürfnisse bieten.66 Ein solches Verhalten junger Juden ist nicht außergewöhnlich, sondern lässt sich vor dem Hintergrund der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungen verstehen. In den postmodernen Zeiten bilden sowohl niedrige Eintritts- und Austrittsschwellen als auch eine starke Flexibilität der Inhalte eine zentrale Voraussetzung dafür, dass die Jugendlichen und jungen Erwachsenen sich bereit erklären, Teil einer Gemeinschaft zu werden. Denn sie wollen die Möglichkeit behalten, diese Gemeinschaft genauso schnell verlassen zu können wie sie ihr beigetreten sind, und dabei stellen die Sicherheitsschranken und offizielle Mitgliedschaften ein existenzielles Hindernis dar.67 Demnach müsste es in Berlin Räume geben, die jenseits der durch die Polizeipräsenz sichtbar markierten jüdischen Versammlungsorte liegen und von jungen russischsprachigen Juden frequentiert werden. 65
Hegner (2008): Gelebte Selbstbilder.
66
Bodemann/Bagno (2010): In der ethnischen Dämmerung, 166f.
67
Zu diesen Ausführungen vgl. Hitzler/Honer/Pfadenhauer (2008): Zur Einleitung: „Ärgerliche“ Gesellungsgebilde?
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Um diesen Räumen auf die Spur zu kommen, entschied ich mich, meine persönliche Mental Map, die Stadtabbildung in meinem Kopf, zu konsultieren und fragte, an welchen Orten auf meiner eigenen Berliner kognitiven Stadtkarte die Räume lagen, die sich bei russischsprachigen Juden einer großen Beliebtheit aber auch Unbeliebtheit erfreuen. Der Begriff des Mental Mapping, der in den 1960er Jahren von dem US-amerikanischen Stadtplaner Kevin Lynch geprägt wurde, hat sich mittlerweile auch in der kulturanthropologischen und soziologischen Forschung fest etabliert.68 Als Mental Maps werden kognitive Abbildungen des Stadtraums bezeichnet, die wir in unseren Köpfen im Laufe der Zeit abgespeichert haben und die uns bei der Orientierung in der Stadt und bei der Nutzung der Stadträume ähnlich den „echten“ Karten helfen. Solche Mental Maps sind Bedingung und Resultat unserer Wahrnehmungs- und Handlungspraxis und basieren auf unseren Erfahrungen, Erinnerungen aber auch auf „offiziellen“ und öffentlichen Bildern, die von uns kulturell verarbeitet werden und anschließend in unseren „privaten“ Besitz übergehen.69 Als ich mein eigenes mentales Bild vom jüdischen russischsprachigen Berlin nach den sich dort seit Jahren angesammelten Informationen durchscannte, ließ sich vor allem eine besondere Westberliner Gegend mehrfach innerlich mit einem roten Stift markieren: der zentrale Berliner Stadtteil Charlottenburg-Wilmersdorf. Dabei wurde dieses Bild sowohl von den mir bekannten wissenschaftlichen Studien und Medienberichten als auch von meinen persönlichen Erfahrungen geprägt. So schrieb bereits im Jahr 1999 die Soziologin Judith Kessler: „Charlottenburg wird in mancher Munde wieder ‚Charlottengrad‘ genannt, und dort – in der Gegend um die Kantstraße – konzentriert sich auch das Groß an jüdischen Restaurant und Geschäften. Über die Hälfte der jüdischen Immigranten hat sich in Charlottenburg und den angrenzenden Bezirken Wilmersdorf und Schöneberg niedergelassen. Viele von ihnen nahmen dafür zwei, drei oder auch vier Umzüge in Kauf […].“ 70
Außerdem ließ sich laut Zeitungsartikeln wie „Sie betreten den russischen Sektor“71 oder „Wladiwostok liegt gleich hinter Charlottenburg“ 72 das russischspra-
68
Lynch (2007): Das Bild der Stadt. Zum Mental Mapping als Methode in der Kulturanthropologie und Soziologie vgl. bspl. Ploch (1994): Vom illustrativen Schaubild zur Methode; Eckardt (2004): Soziologie der Stadt.
69
Hengartner (1999): Zur Wahrnehmung städtischer Umwelt, 20–22.
70
Kessler (1999): Identitätssuche und Subkultur, 159.
71
Boyes (2009): Sie betreten den russischen Sektor.
EINLEITUNG | 33
chige jüdische Leben in Berlin in der Gegend um Charlottenburg herum verorten. Auch meine privaten Erfahrungen bestätigten, dass Charlottenburg mit dem Etikett eines „jüdischen Viertels“ versehen war, da meine eigenen jüdischen Großeltern und andere Familienangehörige sowie befreundete Familien bereits seit vielen Jahren in Charlottenburg oder in den angrenzenden Gebieten wohnten. Gleichzeitig wusste ich, dass sich die Lebenswelten russischsprachiger Juden nicht ausschließlich im Westen Berlins verorten ließen. Immerhin hat sich in den letzten Jahren ausgerechnet im Ostberliner Stadtteil Prenzlauer Berg eine streng orthodoxe jüdische Gemeinschaft etabliert, die sich um die von der USamerikanischen Ronald S. Lauder Foundation finanzierten Einrichtungen wie Synagoge, Kindergarten sowie religiöse Schulen für junge Frauen und Männer, Midrascha und Jeschiwa, gebildet hat und deren Mitglieder sich zum größten Teil aus jungen russischsprachigen Juden rekrutieren. 73 Ich sah mich daher verpflichtet, die mediale Berichterstattung, die das russischsprachige jüdische Leben in Berlin ausschließlich in dem westlichen Stadtteil verortete, kritisch zu hinterfragen. Schließlich wollte ich mit meiner Studie etwas Neues herausfinden und nicht die Dinge wiederholen, die bereits über die russischsprachigen Juden in Berlin mehrmals gesagt wurden. Um die medialen Klischees nicht zu reproduzieren, entschied ich mich daher, mich den Lebenswelten meiner Akteure nicht vom Westen, sondern vom Osten Berlins anzunähern. Meine Feldforschung begann im Verein Jung und Jüdisch Berlin, der seine Räumlichkeiten in der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße, im historischen Osten Berlins hatte. Bei meinem ersten Besuch dort dachte ich an den geflügelten Satz „an allen jüdischen Orten in Berlin hört man hauptsächlich Russisch“ und erwartete, auch bei Jung und Jüdisch überwiegend russischsprachige Mitglieder anzutreffen. Der Vereinsraum war an einem hohen jüdischen Feiertag zwar sehr gut gefüllt, es wurde ausgiebig gegessen und traditionelle jüdische 72
Mühling (2003): Wladiwostok liegt gleich hinter Charlottenburg. Eine detaillierte Analyse des öffentlichen Bildes der russischsprachigen jüdischen community in Berlin erfolgt in Kapitel „Die neuen Juden von Charlottenburg“ dieser Arbeit.
73
Die streng-orthodoxe jüdische Gemeinschaft in Berlin-Prenzlauer Berg gehört nicht zum Gegenstand der vorliegenden Studie. Der Grund dafür liegt in dem strengreligiösen Ordnungssystem, das auf einem exklusiven jüdischen Identitätskonzept basiert und den Alltag der Mitglieder der Lauder-community durchgehend bestimmt. Indem sie die vorgeschriebenen Riten, Kleidungs- und Kochvorschriften reproduzieren, rückt der kreative Moment des ‚Selbstbastelns‘, der im Fokus der vorliegenden Studie steht, an die Peripherie. Zur Gemeinschaft um die Lauder Foundation vgl. Josties (2010): Gelebtes streng-orthodoxes Judentum in Berlin-Prenzlauer Berg.
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Lieder gesungen. Die Gespräche liefen aber entgegen meinen Erwartungen auf Englisch, Deutsch und Hebräisch und nur vereinzelt vernahm ich ab und an Russisch. Später erzählte mir die Erste Vereinsvorsitzende Michelle Piccirillo, dass in Berlin die meisten russischsprachigen Juden „im Westen und nicht im Osten“ sind, weil sie dort mehrheitlich leben und die dortigen jüdischen Einrichtungen favorisierten.74 Ich unternahm weitere Versuche, mich mit meinen Akteuren im Osten der Stadt zu verabreden, fragte, wo sie wohnten und ob sie ein Café in Prenzlauer Berg oder in Berlin-Mitte zum Treffen bevorzugten. Die Antworten, die ich erhielt, reichten von „im Osten wohnen nur die Zugezogenen, die echten Berliner sind in Charlottenburg“ und „Juden haben schon immer in Charlottenburg gewohnt“ bis „Prenzlauer Berg ist arrogant“ und „ich habe mich noch nie mit jemanden in Mitte verabredet“. Als eine jüdische Bekannte mich schließlich zum Essen nach „Charlottengrad, in die jüdische Gegend“ einlud, gab ich schließlich auf. Entgegen meinem ursprünglichen Vorhaben, die Feldforschung im Osten der Stadt zu beginnen, wurde ich in den Westen Berlins von meinen Akteuren zurückkatapultiert. Und so begann meine Feldforschung schließlich dort, wo ich anfangs nicht sein wollte: in Berlin-Charlottenburg. Auch wenn meine Akteure Charlottenburg als die „jüdische Gegend“ begriffen, war ihr Bewegungsradius keineswegs auf diesen Ortsteil und die angrenzenden Gebiete reduziert. Die jungen russischsprachigen Juden, die ich im Laufe der Feldforschung durch das Schneeballsystem kennenlernte, präsentierten sich als ein hoch mobiles Publikum, dem ich auf meinen Wahrnehmungsspaziergängen sowohl nach Kreuzberg und Wedding im Westen, als auch nach Berlin-Mitte und in den östlichen Berliner Randbezirk Marzahn-Hellersdorf folgte. Es stellte sich heraus, dass die Ost-West-Dichotomie ein zentrales Orientierungssystem meiner Akteure bildete, das ihren mentalen Berlinkarten zugrunde lag. Indem ich diese Karten einerseits während der gemeinsamen Mental Mapping-Sitzungen zu Papier bringen ließ, und andererseits meinen Akteuren an die von ihnen aufgezeichneten Orte folgte, gelang es mir, nicht nur die entsprechenden mentalen Bilder der Stadt zu erheben, sondern auch die Hinter-gründe deren Entstehung, das heißt die Praxis der Bilder zu dokumentieren. Nach der ernüchternden Erfahrung mit dem Startpunkt meiner Feldforschung und der Erkenntnis, dass sich der ursprünglich vorgenommene Forschungsablauf nicht immer reibungslos einhalten lässt, entschied ich mich, keine starren Theorien und Methodologien meinen Forschungsdaten von Anfang an überzustülpen. Vielmehr ließ ich mich von der Grounded Theory leiten und nahm die Aufforde74
Interview 7.3.2010.
EINLEITUNG | 35
rung von Anselm Strauss und Barney Glaser ernst, die Fragestellung aus dem Datenmaterial heraus zu entwickeln.75 Exemplarisch für dieses Anliegen steht die Entwicklung meines Leitfadens für die Mental Mapping-Sitzungen. Am Anfang der Forschung legte ich meinen Akteuren ein weißes Blatt Papier vor und bat sie, darauf eine Berlinskizze mit jüdischen Orten zu zeichnen, wobei ich eine Interpretation dessen, was man unter einem „jüdischen Ort“ versteht, den Zeichnenden selbst überließ. Als Ergebnis bekam ich immer wieder eine ähnliche Skizze mit verschiedenen Berliner Synagogen sowie einigen Denkmälern, die an die Vernichtung des jüdischen Lebens in der Zeit des Nationalsozialismus erinnerten. Ich stellte fest, dass mich eine solche Fragestellung nicht weiter brachte, denn bei einem näheren Nachfragen wurde deutlich, dass die Interviewten diese Orte in ihrem eigenen Alltag nicht regelmäßig frequentierten. Vielmehr handelte es sich um die „offiziellen“ Bilder des jüdischen Berlins, die in ihren „privaten“ Besitz übergegangen waren. Um Räume zu identifizieren, an denen sich meine Akteure in ihrem tagtäglichen Leben aufhielten und ihre unter anderem jüdische Identifikation aushandelten, musste ich schließlich das Wort „jüdisch“ aus meiner Befragung streichen. Stattdessen fragte ich nun nach „Räumen in der Stadt“, die man gerne oder nicht gerne aufsuchte. Erst als ich die Community-Perspektive durch die Stadtperspektive ersetzt habe, ließen sich Räume in Form von Kontakt- und Konfliktzonen identifizieren, an denen junge russischsprachige Juden durch Begegnungen mit anderen ethnischen und religiösen Gruppen und durch gegenseitige Abgrenzungen an ihrer eigenen Form des Jüdischseins „bastelten“. Als solche Räume ließen sich auch die eigentlichen Forschungssituationen wie Interviewbegegnungen und Mental Mapping-Sitzungen selbst interpretieren. So wurde ich von meinen Akteuren am Anfang der Interviews stets gefragt ob ich selbst jüdisch wäre. Ich bejahte. Max, ein 29-Jähriger Jude aus Czernowitz, reagierte auf mein Interesse für Orte, an denen er sich in Berlin mit anderen Juden trifft, mit folgendem Kommentar: „Es gibt in Berlin keinen ‚Grünen Salon‘, in dem sich junge Juden treffen. Es funktioniert so, dass, wie jetzt, du von einer Bekannten zufällig meine Telefonnummer bekommst. Und dann kommst du vorbei. Du bist jüdisch, ich bin jüdisch, du magst klassische Musik, ich mag klassische Musik, vielleicht verstehen wir uns ja.“76 Während ich die meisten meiner Akteure auf ihren Wegen durch Berlin im Laufe der Feldforschung mehrmals begleitete, musste zu einigen nach dem ersten Treffen der Kontakt leider abgebrochen werden, weil nach dem Interview die Anfrage nach einem date 75
Glaser/Strauss (2010): Grounded Theory.
76
Mental Mapping-Sitzung 17.6.2010.
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folgte, die von mir aus ethischen Gründen abgewiesen wurde. Die Tatsache, dass eine jüdische Forscherin von jüdischen Männern als eine potentielle Partnerin wahrgenommen wurde, deutete darauf, dass es in Berlin kaum die offiziell als „jüdisch“ etikettierten Räume gibt, die jungen Juden als Partnerbörse zur Verfügung stehen. Die Erkenntnis über das Fehlen solcher Räume bestätigte mich noch mehr in meiner Entscheidung, das Jüdische aus der Perspektive der Stadtforschung anzuschauen und die urbanen Praxen des „Fremden“ und des „Eigenen“ ins Zentrum der Untersuchung zu rücken. Der Spagat zwischen dem „Fremden“ und dem „Eigenen“ begleitete mich während der gesamten Feldforschung nicht nur in Hinblick auf die Praxis meiner Interviewpartner. Auch die Reflexion darüber, wie meine eigene kulturelle Rolle als jüdische russischsprachige Forscherin das Verhältnis zu den Akteuren meiner Studie und dementsprechend die Ergebnisse meiner Forschung beeinflusste, blieb immer ein untrennbarer Teil des Untersuchungsprozesses. Nicht nur durch die kulturelle Nähe zu anderen jungen russischsprachigen Juden, sondern auch durch die Tatsache, dass ich in der „eigenen“ Stadt forschte, machte meine Versuche, den Forschungsgegenstand zu greifen, leichter und schwerer zugleich. Ich begriff, was Ina-Maria Greverus meinte, wenn sie behauptete: „Wir leben in dieser Stadt, wir sehen, hören, fühlen und riechen sie täglich, wir erfahren sie in ihrer und unserer Bewegung, wir sind ein Teil dieser Stadt, wir prägen sie, wie sie uns prägt. Und diese Berührungsmomente lassen sich, das ist das Schwierige, nicht vom Selbst der Forschenden trennen.“77 Offenbar kam ich in meiner kulturellen Rolle als jüdische Berlinerin mit dem deutlich artikulierten Interesse an jüdischen Räumen bei meinen Interviewpartnern nicht weit. Die Reaktionen, die ich auf die Frage nach solchen Räumen am Anfang meiner Feldforschung erhielt, lassen sich in zwei Kategorien unterteilen: Entweder wurde mir entgegnet, dass ich selbst zur untersuchten Gruppe gehöre und deswegen alle entsprechenden Orte und Räume sicherlich bereits kenne. In solchen Fällen wich das Gespräch häufig vom eigentlichen Gegenstand ab. Oder die Interviewpartner äußerten mir gegenüber eine Befürchtung, etwas Falsches zu sagen und somit nicht den Anforderungen eines Interviews zu dieser Thematik zu genügen. In beiden Fällen wurde ich von jungen russischsprachigen Juden als eine „Expertin“ für jüdische Räume in Berlin wahrgenommen, der man lieber weniger verriet, als dass man sich als ein „Unwissender“ ihr gegenüber offenbarte. Ein solches vorsichtiges Verhalten meiner Interviewpartner brachte mich schließlich auf den Gedanken, meine Forschungsperspektive zu wechseln und
77
Greverus (1994): Was sucht der Anthropologe in der Stadt? 26.
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mich den Räumen meiner Akteure nicht von der Perspektive der jüdischen Community, sondern von der Stadtperspektive zu nähern. Indem ich sie nun nicht mehr nach „jüdischen“, sondern nach „Räumen in der Stadt“ fragte, hoffte ich, möglichst viele Leerstellen in meiner Forschung vermeiden zu können. Meine kulturelle Nähe zu russischsprachigen Juden äußerte sich auch in der auffälligen Leichtigkeit und Bereitwilligkeit meiner Interviewpartner, in Gesprächen mit mir ethnische Kategorien und Stereotype zu verwenden. So wurde offen und hemmungslos von „ungebildeten Türken“, „rückständigen Arabern“ und „gewaltbereiten Russlanddeutschen“ aber auch von „arroganten Russen“ und „kulturlosen marokkanischen Juden“ gesprochen. Zwar ist die Tatsache, dass ethnische Stereotypen in unseren Gesprächen eine zentrale Rolle spielten, an sich nicht verwunderlich, denn schließlich forschte ich über russischsprachige Juden und gab mit dieser Themenwahl Ethnizität als das strukturierende Gesprächsthema vor. Bemerkenswert ist allerdings, wie einfach es für mich war, ein Gespräch in ethnischen Kategorien zu führen und wie stark die ethnischen Codes in den Identifikationskarten und Identifikationspraktiken der Migranten am Werk waren. Eine solche Offenheit, die meine Interviewpartner mir entgegenbrachten, war unserer gemeinsamen russischen Muttersprache und der jüdischen Herkunft zu verdanken, aber auch der grundsätzlichen Tatsache, dass wir einen Migrationshintergrund hatten. So wurde in Interviews, unabhängig davon, ob auf Russisch oder Deutsch geführt, häufig das russische Wort nashi, auf Deutsch „die Unseren“ verwendet. Durch eine solche „nashi-zation“78 sowie durch Sätze wie, „du weißt schon wie das ist“ oder „das muss ich dir nicht erzählen“ behandelte man mich wie eine Komplizin, mit der zusammen es sich einfacher machte, Urteile und Vorurteile über andere Gruppen zu artikulieren. Wir waren somit nicht bloß die Forscherin und der Interviewpartner, sondern auch zwei Migranten, die sich nicht dem Codex der political correctness unterziehen mussten, wie dieser unter der einheimischen deutschen Bevölkerung gegenüber den sogenannten „Menschen mit Migrationshintergrund“ aufgrund von den dunkeln Kapiteln der deutschen Geschichte von Diskriminierung und Verfolgung von „Anderen“ geboten wird. Wenn Migranten mit Migranten über Migranten sprechen, bewegen sie sich nicht in dem entsprechenden „Täter-Opfer-Kontext“, sondern sind sich vor dem Hintergrund der einheimischen deutschen Gesellschaft als „Opfer“ ebenbürtig und nutzen diese Gleichstellung, um sich offen und ungehemmt durch ethnisierende Urteile von den anderen Gruppen abzugrenzen.
78
Bernstein (2010): Food for Thought, 16f.
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Die Beobachtung dessen, wie stark meine eigene Person den Forschungsverlauf beeinflusste, wurde zu einem der Leitfaden für die gesamten Studie. So wurden die Erzählungen und das Verhalten meiner Interviewpartner stets vor dem Hintergrund dessen interpretiert, wem gegenüber und in welchen Situationen sie ihre Aussagen oder Handlungen trafen. Ihre urbanen Identifikationskarten und -praxen sind daher weder statisch noch homogen, sondern können als segmentiert, konstruiert und dynamisch und daher lediglich als ein flüchtiges Ergebnis einer bestimmten Zeit begriffen werden.
AUFBAU
DER
ARBEIT
Die vorliegende Arbeit versteht sich als eine empirische Studie. Dem Einleitungskapitel folgen sechs charakteristische Porträts der ausgewählten Akteure der Studie und sechs diesen Porträts zugrundeliegenden Stadtbilder. Den Hauptkern der Arbeit bilden vier empirische Hauptkapitel, die mit einem Fazit abgeschlossen werden. In der Einleitung wird die theoretische Verortung der Arbeit im Kontext der Stadtforschung vorgenommen, die gewählte Untersuchungsgruppe näher erläutert und die Bedeutung Berlins als Migrationsziel für die russischsprachigen Juden in historischer Perspektive skizziert. Außerdem werden die gesellschaftlichpolitischen Hintergründe und Rahmenbedingungen der Einwanderung der Juden aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland und Berlin seit den 1970er Jahren umrissen. Des Weiteren werden drei für die Arbeit relevanten Begrifflichkeiten jeweils vor dem Hintergrund der jüdischen Migrationserfahrung bestimmt: der Raumbegriff, der Begriff der Jugend und der Begriff der „urbanen Identität“. Es folgt eine Übersicht über den relevanten Forschungsstand und eine Einführung in den Forschungsprozess. Die letztere legt die für die Analyse fruchtbar gemachte Methode des Mental Mapping nahe und schildert die Selbstreflexion der Forscherin in ihrer eigenen kulturellen Rolle und die Konsequenzen dieser Rolle für den Forschungsprozess. Im zweiten Kapitel werden sechs ausgewählte Akteure der Studie sowie die ihren Porträts jeweils zugrunde liegenden Berlinbilder vorgestellt. Durch die Verknüpfung zwischen den Images von Stadt und Mensch wird gezeigt, dass Stadtbilder nicht in einem luftleeren Raum entstehen sondern sich in einem engen Zusammenhang mit unseren Identifikationen, Werten und Zukunftsvorstellungen entwickeln. Diese sechs Portraits und Stadtbilder, die dem Leser im Laufe der Arbeit an mehreren Stellen in unterschiedlichen Zusammenhängen immer wieder begegnen, sollen den Einstieg in die Materie erleichtern.
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Das dritte Kapitel widmet sich dem Berliner Ortsteil Charlottenburg und seiner Bedeutung als „jüdischer Bezirk“ in der Wahrnehmung junger russischsprachiger Juden. Dabei wird Berlin-Charlottenburg zum einen in Anlehnung an Pierre Bourdieu als ein „sozialer Raum“ beschrieben an dessen Konstruktion unterschiedliche ethnische Gruppierungen durch die gegenseitige Abgrenzung beteiligt sind. Zweitens wird Charlottenburg als ein Raum identifiziert, in dem sich die Suche nach einem persönlichen und einzigartigen religiösen Selbstverständnis vollzieht, die ebenso durch eine Praxis der Distinktionen strukturiert wird. Im vierten Kapitel wird die Praxis des Mental Mapping analysiert und danach gefragt, wann sich mentale Stadtkarten in einer urbanen Umgebung als „jüdisch“ bestimmen lassen. Dabei werden zwei zentrale Orientierungssysteme identifiziert, die jungen russischsprachigen Juden in der Konstruktion ihrer Berlinbilder dienen: das „Ost-West-System“ und das „Kiez-System“. In den Vordergrund der Analyse treten dabei die Erfahrungen der Einwanderer, die sie in anderen Städten vor und nach der Migration gemacht haben und die ihre Berlinbilder entsprechend relativieren. Außerdem wird die Rolle des „kulturellen Gedächtnisses“ im Sinne von Jan Assmann bei der Konstruktion der mentalen Stadtbilder untersucht. Das fünfte Kapitel widmet sich den jüdischen Partys und Treffpunkten in ihrer Funktion als urbane Räume der Wiedervergemeinschaftung. In Rückgriff an Ronald Hitzlers Konzept der „posttraditionalen Vergemeinschaftung“ werden Merkmale der Clubs und Treffs evaluiert, die den Bedürfnissen junger russischsprachiger Juden in Berlin am Anfang des 21. Jahrhunderts entsprechen oder auch nicht entsprechen. Eine zentrale Rolle wird bei dieser Analyse dem Konkurrenzkampf zwischen verschiedenen jüdischen Einzelakteuren und Gruppierungen zugeteilt und deren Einfluss auf die Raumkonstruktionsprozesse junger russischsprachiger Juden berücksichtigt. Außerdem wird ein zwei-PhasenModell für die Entwicklung des jüdischen Lebens in Berlin seit den 1970er Jahren vorgestellt und in den allgemeinen Kontext der Postmoderne eingeordnet. Im sechsten und letzten empirischen Kapitel stehen touristische Ausflüge junger russischsprachiger Juden in verschiedene Berliner Ortsteile und deren Begegnungen mit den dort vorherrschenden kulturellen Mustern im Mittelpunkt. Anhand von Wahrnehmungsspaziergängen und Erfahrungen mit arabischen, türkischen und russlanddeutschen Küchentraditionen und Mentalitäten wird in Rückgriff auf Bernhard Waldenfels das „Eigene“ im Spiegel des „Fremden“ analysiert. Im Ergebnis werden kreative Wege junger russischsprachiger Juden im Umgang mit solchen essentialistischen Kategorien wie Religion und Ethnizität vorgestellt, die sie entsprechend ihren individuellen, durch die Urbanität be-
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stimmten Bedürfnissen entwickeln. Im Anschluss folgt eine kurze Zusammenfassung der gesamten Forschungsergebnisse.
Von (post-)sowjetischen Juden zu jüdischen Berlinern. Sechs Stadtbilder und Porträts
Die Protagonisten dieser Studie sind einzelne Persönlichkeiten, deren Biografien inklusive Herkunftskontexte, Sozialisationshintergründe und Migrationserfahrungen als charakteristisch für die Gruppe der jungen russischsprachigen Juden, die heute in Berlin leben, betrachtet werden. Ihre mentalen Berlin-Bilder stehen mit ihren kulturellen, sozialen und religiösen Erfahrungen in einem engen Zusammenhang. In dem folgenden Kapitel werden sechs charakteristische Porträts meiner Akteure sowie ihre kognitiven Berlin-Bilder skizziert, die dem Leser auf den Seiten dieser Arbeit immer wieder begegnen werden. Außerdem wird anhand von Einzelbeispielen verdeutlicht, dass Mental Maps nicht willkürlich in einem luftleeren Raum entstehen, sondern durch die geographischen Erfahrungen, Fremd- und Eigenimages, kulturelle Kontakte und Konflikte sowie Zukunftsvorstellungen einzelner Persönlichkeiten konstruiert, korrigiert und relativiert werden. Mit Hilfe einzelner Porträts wird Berlin außerdem als eine spezifische Landschaft im „kulturellen Gedächtnis“ der jungen russischsprachigen Juden präsentiert. In Anlehnung an Benedict Anderson und sein Konzept von „imagined communities“ wird Berlin als ein „vorgestellter“ Raum begriffen. „So wie die Mitglieder selbst der kleinsten Nation die meisten anderen niemals kennen […] werden, aber im Kopf eines jeden die Vorstellung ihrer Gemeinschaft existiert“1, so haben auch junge russischsprachige Juden, die als Gruppe die Vergangenheitsbilder, die Gegenwartssymbolik und die Zukunftsvorstellungen teilen, bestimmte Berlin-Images im Kopf, auf die sie heute sowohl in ihrer Konstruktion als auch in ihrer Nutzung des Berliner Stadtraumes wie auf einen Speicher zugreifen.
1
Anderson (1998): Die Erfindung der Nation, 14.
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D IE W UNSCHSTADT Viele jüdische Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, die bei der Einreise nach Deutschland ihren Wunschort Berlin ansteuerten, konnten diese Stadt nicht ohne Weiteres erreichen. Nicht wenige von ihnen mussten jahrelang bei den deutschen Behörden ihr Freizügigkeitsrecht erstreiten, um in einer Stadt leben zu können, die ihnen entweder aus den Erinnerungen voriger Familiengenerationen oder aus der historischer Reiseliteratur bekannt war: Denn bereits nach dem Ersten Weltkrieg war Berlin neben Paris zum berühmtesten russischen Exilzentrum im Westen geworden.2 So befanden sich Anfang der 1920er Jahre in Berlin etwa 360.000 russische Bürgerkriegsflüchtlinge, die entweder von den günstigen wirtschaftlichen Bedingungen infolge der Inflation profitierten oder die Stadt für ihren Nimbus der Vorkriegszeit als Zentrum der Wissenschaft und Kultur schätzten.3 Dieses durch die Literatur und die Narrative überlieferte Image von Berlin als Stadt der Sehnsüchte wurde in den 1990er Jahren dadurch reaktiviert, dass diese Stadt aufgrund der bundesdeutschen Verteilungspolitik der Einwanderer für viele Juden aus der ehemaligen Sowjetunion zum Teil jahrzehntelang unerreichbar blieb. Bereits 1992 hat Berlin seine im Bundesverteilungsschlüssel, dem Königsteiner Schlüssel, festgelegte Quote an auf staatliche Transferleistungen angewiesenen Migranten erreicht und galt ab diesem Zeitpunkt für alle anderen, die eine Einreise nach Berlin anstrebten, als „geschlossen“ und somit unzugänglich.4 Schafften die abgewiesenen Migrantenfamilien es später, ihren Wohnsitz aus anderen Gegenden Deutschlands nach Berlin zu verlegen, so war ihr Umgang mit dem Berliner Stadtraum von Wunschphantasien und idealisierende Mythen geprägt. Nach Berlin erreichten auch andere große Städte Deutschlands sukzessive ihre durch die bundesdeutsche Einwanderungspolitik vorgeschriebenen Quoten an sozialschwachen Migranten, so dass die russischsprachigen Juden bei ihrer Ankunft in Deutschland ihren Wohnsitz in den kleineren Städten und Dörfern neh-
2
Schlögel (2012): Russische Juden im russischen Berlin, 106.
3
Ebd.
4
Beetz/Kapphan geben an, dass Berlin im Jahr 1997 seine Aufnahmequote an Flüchtlingen um 145 „übererfüllt“ hatte, so dass weitere jüdische Einwanderer nur in Ausnahmefällen wie zum Beispiel bei Familienzusammenführungen, nach Berlin zugewiesen wurden. Vgl. Beetz/Kapphan (1997): Russischsprachige Zuwanderer in Berlin und Potsdam, 6.
VON (POST-)SOWJETISCHEN JUDEN ZU JÜDISCHEN BERLINERN | 43
men mussten.5 Hauptsächlich urbane Bewohner, wurden viele jüdische Einwanderer mit der Kleinstadt-Mentalität inklusive Fremdenfeindlichkeit konfrontiert.6 Auch fanden sie oft keine jüdischen Gemeinden vor Ort, die sie um eine erste Orientierungshilfe bitten konnten. Die meisten Familien russischsprachiger Juden, denen die Einreise in die deutschen Großstädte aufgrund der Quotenregelung verwehrt wurde, taten über Jahre hinweg alles Mögliche und Unmögliche, um ihren Wohnsitz in eine Großstadt zu verlegen. Berlin mit seiner deutschlandweit unvergleichbaren Vielfalt an russischen Kultureinrichtungen, Buchund Lebensmittelläden sowie jüdischen Organisationen gewann gerade durch seine Unerreichbarkeit für die Neueinwanderer eine noch höhere Attraktivität denn je. Schaffte es die erste Generation russischsprachiger jüdischer Migranten wegen ihrer prekären wirtschaftlichen Lage nicht, einen Umzug nach Berlin zu bewirken, gingen später ihre Kinder in die Hauptstadt, wo sie von den Netzwerken der dort bereits angesiedelten Verwandten und Bekannten profitierten.
S ERGEJ : E IN „ NORMALER “ AUSLÄNDER
ODER
B ERLIN
IST TOLERANT UND BILLIG Sergej wanderte zusammen mit seinen Eltern, Großeltern und seiner älteren Schwester 1993 im Alter von zwölf Jahren aus Moskau nach Deutschland ein. Als in der Sowjetunion Anfang der 1990er Jahre bekannt wurde, dass Deutschland bereit war, die ausreisewilligen sowjetischen Juden aufzunehmen, entschieden sich alle fünfundzwanzig Mitglieder der Großfamilie von Sergej, Russland in Richtung Deutschland zu verlassen. Der Zielort stand fest: Es sollte nach Berlin gehen. Bis 1992 schafften es alle Familienangehörigen, bis auf die Eltern und Großeltern von Sergej, sich in Berlin zusammenzufinden, ohne dass die Familiennetzwerke durch die großen geographischen Entfernungen zertrennt wurden. 5
Zu den Folgen der Verteilungspolitik nach dem Königsteiner Schlüssel und deren Konsequenzen für die russischsprachigen Juden vgl. ausführlich Schoeps/Jasper/Vogt (1999): Ein neues Judentum in Deutschland, 54–56.
6
Beetz beschreibt zum Beispiel einen Bürgerprotest, der sich 1992 in Bornstedt, einem dörflich geprägten Potsdamer Ortsteil, gegen die Pläne der Stadtverwaltung ereignete, Wohnheime für Spätaussiedler und für die jüdischen Kontingentflüchtlinge auf einem Gelände zu errichten. Begründet wurde der Protest u.a. mit dem Argument, die gemeinsame Unterbringung von deutschen Spätaussiedlern und den Asylbewerbern würde die Integration von den Ersteren erschweren. Vgl. Beetz (1997): Zündstoff Wohnheim, 261f.
44 | GENERATION „KOSCHER LIGHT“
Weil aber der Vater von Sergej in Russland in „geheimen Sachen“ auf dem Gebiet der Atomphysik gearbeitet hatte, verweigerte der russische Staat ihm und seinen engen Familienangehörigen die Ausreise. Diese mussten Russland daher heimlich verlassen, indem sie sich „über den gesamten Ostblock“ in Richtung Deutschland durchschlugen und ihnen „von den Leuten, die wiederum andere Leute kannten“ immer weiter geholfen wurde. Als Sergejs Familie schließlich 1993 in Deutschland ankam und sich den Verwandten in Berlin anschließen wollte, stellten die Familienmitglieder fest, dass sie „ein halbes Jahr zu spät waren und nicht mehr nach Berlin reingelassen wurden“. Die Familie wurde in ein Aufnahmelager in Unna Massen, Nordrhein-Westfalen geschickt. Nach ein paar Monaten Aufenthalt dort ging es weiter nach Stolberg, eine Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen mit ca. 60.000 Einwohnern, woran Sergej sich noch heute gut erinnert: „In Stolberg war es für mich sehr interessant, weil als ich dort zur Schule ging, hatte niemand von den Deutschen dort jemals einen Ausländer gesehen. Im besten Fall hatten sie etwas darüber in den Zeitungen gelesen oder in den Nachrichten gesehen, aber das Verständnis von Ausländern war für sie gleich den Außerirdischen.“7
In Stolberg, wo es weder eine jüdische Gemeinde noch eine Synagoge gab, wurde Sergej sowohl von seinen Nachbarn als auch von seinen Mitschülern der Eindruck vermittelt, jemand Außergewöhnliches und Fremdes zu sein. Das Gefühl von Normalität wurde außerdem dadurch untergraben, dass Sergejs Familie aus dem urbanen Moskau direkt in eine Kleinstadt „verpflanzt“ wurde, die für Sergej „wie eine andere Welt“ war: „ein Kurort, der an eine Forellenfarm an wilden Bächen grenzte, an die Golfspielplätze und eine Talsperre“. Auch wenn Sergej sich in Stolberg wie in einer Erholungsanstalt fühlte und die langen Spaziergänge genoss, ließen seine Eltern von dem Bestreben nicht ab, nach Berlin umzusiedeln, um sich dort zum einen mit den restlichen Familienmitgliedern zu vereinen und zum anderen das gewohnte urbane Leben mit den vielfältigen kulturellen Angeboten und jüdischen Einrichtungen zu genießen. Drei Jahre später gelang es der Familie, ihren Umzug nach Berlin zu verwirklichen. Wenn Sergej heute die Vorzüge seines Berliner Alltags beschreibt, fließt für ihn die Erfahrung, die er in den anderen deutschen Städten machte, in sein Berlin-Bild mit ein: „Ich habe verstanden, dass es in Deutschland gar nicht so viele Städte gibt, in denen ich wohnen wollen würde. Ich würde nicht gerne in München oder in Stuttgart wohnen, auch
7
Mental Mapping-Sitzung 23.6.2010. Übersetzung aus dem Russischen.
VON (POST-)SOWJETISCHEN JUDEN ZU JÜDISCHEN BERLINERN | 45
nicht in irgendeinem Dorf. Genau deswegen sind meine Eltern aus Stolberg weggezogen. […] Ich schätze Berlin sehr wegen seiner Vielfältigkeit, wegen seines hohen Toleranzniveaus, weil es so etwas in München zum Beispiel nicht gibt. In München schauen bis heute diese Opas und Omas dich schief an. In Berlin erschreckt man niemanden durch seine Fremdsprache, sei es Serbisch oder Kroatisch, Tschechisch oder Russisch schon seit Langem, bereits seit Anfang der 90er Jahre. In allen südlichen Bundesländern schaut man dich immer noch wie einen weißen Raben an, in der Regel begleitet mit ein paar Kommentaren, von wegen ein Ausländer. In Berlin gibt es das nicht, interessanterweise auch nicht auf Ämterniveau. Weil ich weiß, dass Ausländer hier, was den Kontakt mit Ämtern angeht, sowieso die Mehrheit bilden. Deswegen die Nase zu rümpfen über das Französische oder das Österreichische oder das Schweizerdeutsch ist für die Bewohner einfach fehl am Platz, weil nach diesen kommen die anderen und in diesem Sinn sind die Deutschen in jedem Fall in der Minderheit. Es gefällt mir, dass hier eine große Zahl ziemlich gebildeter Menschen lebt, dank denen ich leicht andere Menschen kennenlernen kann. Ich bin mir fast sicher, dass das gerade auf diesem hohen Toleranzniveau basiert ist. […] Das Wichtigste ist, man kann hier alles machen, was man will. Hier gibt es große, billige Konzertsäle, an den meisten Kulturveranstaltungen kann man entweder für wenig Geld oder komplett umsonst teilnehmen. Dafür verehre und respektiere ich Berlin. Auch für die religiöse Vielfalt natürlich.“8
In Berlin wird Sergej nicht tagtäglich von seiner Umgebung daran erinnert, ein Ausländer, ein Fremder zu sein. Seine russische Muttersprache und seine jüdische Abstammung werden von vielen Berlinern zwar weiterhin als etwas Besonderes wahrgenommen, gleichzeitig sind sie aber ein Teil jener Normalität, die sich aus verschiedenen Kulturen, Sprachen und Religionen zusammensetzt und das Berliner Leben ausmacht. Eine Stadt, in der Deutsche mancherorts lediglich eine Minderheit darstellen, schließt jemanden wie Sergej nicht aus, sondern lässt ihn als Teil des Ganzen existieren. Die starke Anziehungskraft Berlins liegt für Sergej sowohl in seinem eigenen Zugehörigkeitsgefühl begründet als auch in der grundsätzlichen Toleranzatmosphäre, die Berlin für viele gebildete Menschen attraktiv macht. Auch lebt Sergej gerne in Berlin, weil er sich hier für wenig Geld viel Kultur leisten kann: In einer Stadt, in der ein kulturell interessierter Mensch nicht viel zu verdienen braucht, ist es kein Vergehen, arm zu sein. Obgleich Sergej den vielzitierten Slogan des regierenden Bürgermeisters von Berlin, Klaus Wowereit, „Berlin ist arm, aber sexy“ 9 in seiner BerlinRhetorik mir gegenüber betont, hat er einen Beruf gewählt, der ihm eine zukünf8
Mental Mapping-Sitzung 23.6.2010. Übersetzung aus dem Russischen.
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o.V. (2006): Wowereits Berlin-Slogan „Arm, aber sexy“.
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tige finanzielle Sicherheit verspricht. Er hat Jura studiert und war zum Zeitpunkt unseres Interviews auf der Suche nach einer Stelle in einer Kanzlei. Durch sein Studium ist das Justizprüfungsamt am Bayerischen Platz für ihn zu einem Ort in Berlin geworden, an dem er sich jahrelang besonders häufig aufhielt. Interessant und angenehm findet Sergej, dass vor diesem Bauwerk „Schilder von der UBahn-Station bis zum Hauptgebäude hängen, die über die wachsende Diskriminierung der Juden seit 1933 berichten […] und auf die spezifische Rolle der Juristen als Schreibtischtäter in der Nazi-Zeit hinweisen“.10 Es sind auch andere Berliner Denkmäler und Ausstellungen, die sowohl an das Leben als auch an die Vernichtung der Juden in Deutschland erinnern, die Sergejs Interesse an seinem eigenen Jüdischsein weckten. Für einen hohen und für ihn sehr lehrreichen Informationsinhalt schätzt Sergej insbesondere die diversen Ausstellungen des Jüdischen Museums, die ihm helfen, seine Bildungslücken im Bereich der jüdischen Kultur und Geschichte zu schließen. Die Tatsache, dass Sergej sich neben dem historisch-kulturellen Aspekt des Judentums auch mit der jüdischen Religion auseinandersetzt, die weder seine Eltern noch seine Großeltern gelebt haben, ist der „religiösen Toleranz“ Berlins zu verdanken, wie er behauptet: „In Berlin kann ich es mir aussuchen, in welche Synagoge ich gehe, ob zum ultraorthodoxen Chabad, in eine Reformgemeinde oder in den egalitären Gottesdienst, wo die Rabbinerin eine Frau ist.“11
D IE K ONKURRENZSTADT Die Migration der sowjetischen und post-sowjetischen Juden nach Deutschland verlief in zwei Wellen. Die erste Migrationswelle begann Anfang der 1970er Jahre und dauerte bis in die 1980er Jahre hinein als Folge des kurzen Tauwetters in den Ost-West-Beziehungen, das den Eisernen Vorhang für ein paar Tausend Juden lüftete. Die Ausreisegenehmigungen, die die sowjetische Regierung ihren jüdischen Bürgern im Rahmen der „Familienzusammenführung“ erteilte, galten dabei ausschließlich für Israel. Da es zu dem Zeitpunkt aber keine direkten Flüge aus Moskau nach Tel Aviv gab, reisten die jüdischen Emigranten über Wien oder Rom aus, wo sich für sie die Möglichkeit ergab, die Reiseziele neu zu bestimmen.12 Während die amerikanischen jüdischen Hilfsorganisationen eine 10
Mental Mapping-Sitzung 23.6.2010. Übersetzung aus dem Russischen.
11
Ebd.
12
1975 unterzeichnete Generalsekretär Leonid Breschnew für die Sowjetunion in Helsinki die Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
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Weiterreise in die USA, Kanada oder Australien für die sowjetischen Juden ermöglichten, existierte für die Immigration nach Deutschland zu dem Zeitpunkt noch kein offizieller Weg. Mit Unterstützung von kommerziellen Schlepperorganisationen oder mit einem gefälschten Visum gelangten zwischen 1973 und 1980 2.100 Personen nach Berlin, die die Jüdische Gemeinde registrierte.13 Die meisten Juden, die in den genannten zehn Jahren die Sowjetunion verließen, kamen von der Peripherie der Sowjetunion wie den baltischen Republiken, Weißrussland, Moldawien sowie aus dem Kaukasus. In diesen Gegenden, die erst vor dem Zweiten Weltkrieg sowjetisch geworden waren, war die Russifizierung und die Sowjetisierung weniger stark fortgeschritten als in Russland oder der Ukraine, woher die meisten Einwanderer der zweiten Migrationswelle seit Anfang der 1990er Jahre stammten. Viele sowjetische Juden der ersten Auswanderungswelle achteten daher die jüdische Tradition, sprachen Jiddisch und waren häufig zionistisch orientiert. Sie begriffen ihre Auswanderung als ein politisches Statement und nahmen in Kauf, dass ein Ausreiseantrag sie zum outcast der sowjetischen Gesellschaft machte, ihnen ihren Arbeitsplatz kostete und einen Ausschluss aus der Partei oder aus dem Komsomol nach sich zog. 14 Als die zweite, wesentlich größere Auswanderungswelle der sowjetischen Juden Ende der 1980er bis Anfang der 1990er Jahre ansetzte, stand die Sowjetunion kurz vor dem Aus und als die Grenzen geöffnet wurden, konnten Minderheiten wie Juden, Deutsche oder Griechen ihre Wohnorte in Richtung Westen in der Regel frei verlassen. Zu den Gründen, die bei den Migrationsentscheidungen russischsprachiger Juden seit 1989 eine Rolle spielten, gehörte neben dem latenten Antisemitismus und der politischen Unstabilität auch die wirtschaftliche (KSZE). Im Rahmen der entsprechenden Verhandlungen wurde als Geste der Entspannung sowjetischen Juden Ausreisegenehmigungen im Rahmen der „Familienzusammenführung“ erteilt, die ausschließlich für Israel galten. Eine Voraussetzung war eine von den Familienangehörigen in Israel ausgesprochene Einladung. Vgl. Burchard (2002): Das russische Berlin, 36; Remennick (2007): Russian Jews on Three Continents, 37f.; Schlögel (2007): Das russische Berlin, 443f. 13 14
Vgl. Kessler (1997): Von Eisenberg bis Zeidelman, 14. Auf den Zusammenhang zwischen der geographischen Herkunft der Migranten und dem Grad ihrer Bindung an die jüdische Tradition verweist Zvi Gitelman in seiner Studie zur Bedeutung des geographischen Ursprungs der russischsprachigen Juden und der Wahl des Aufnahmelandes. Vgl. Gitelman (1977): Soviet Jewish Emigrants. Zum geographischen und sozialen Hintergrund der jüdischen Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion in den 1970er und 1980er Jahren siehe auch Remennick (2007): Russian Jews on Three Continents, 36–41.
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Not.15 Die neuen Migranten hofften auf eine bessere Zukunft für sich und ihre Kinder in einem europäischen Land mit einem stabilen politischen und ökonomischen System, das es ihnen dank der geographischen Nähe zu ihren Herkunftsorten ermöglichte, regelmäßig Kontakte zu den zurückgebliebenen Freunden und Familienmitgliedern zu pflegen.16 Für die wesentlich kleinere Gruppe russischsprachiger Juden, die bereits in den 1970er bis 1980er Jahren nach Berlin gekommen war, bedeutete die neue Masseneinwanderung der 1990er Jahre zum Teil dramatische Veränderungen in ihrem Alltagsleben. In den jüdischen Gemeinden trafen nun beide Einwanderergruppen aufeinander, die in der Wahrnehmung der „alteingesessenen“ Juden zwar pauschal als „Russen“ qualifiziert wurden, die dennoch sowohl im Hinblick auf ihr Russisch- als auch auf ihr Jüdischsein unterschiedlich sozialisiert waren und aus verschiedenen geographischen Gegenden der ehemaligen Sowjetunion stammten. Außerdem erklärten diejenigen, die „zuerst“ da gewesen waren, die russisch-jüdischen Netzwerke in den deutschen Städten aufgebaut zu haben, die von den späteren Einwanderern fertig vorgefunden und mit einer dreisten Selbstverständlichkeit genutzt wurden.17 In Berlin, wo die Zahl der russischsprachigen Juden sowohl der ersten, als auch der zweiten Einwanderungswelle bundesweit am höchsten ist, spiegelten sich soziale und räumliche Grenzziehungen zwischen den beiden Migrantengruppen in deren Wahrnehmung und Nutzung des Stadtraumes wider.
15
Kiesel bemerkt, dass die jüdische Bevölkerung besonders stark unter dem ökonomischen Einbruch und der Auflösung vieler staatlicher Institutionen im infrastrukturellen, wissenschaftlichen und kulturellen Bereich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion litt. Trotz aller restriktiven Maßnahmen waren die sowjetischen Juden in den Elite-Bereichen überrepräsentiert und wurden von Arbeitslosigkeit getroffen. Vgl. Kiesel (2011): Aufbruch – Zur Integration der jüdischen Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion in Deutschland, 171f.
16 17
Vgl. Schütze (2006): „Warum Deutschland und nicht Israel?“ In einem Interview berichtet Luba, die 1975 aus dem ukrainischen Kiev nach Berlin kam, über die Treffen russischsprachiger Juden, die bei den Sitzungen der Berliner jüdischen Logen in den 1970er und 1980er Jahren eine Austauschplattform fanden. In Lubas Augen verloren die Logen bald ihren philanthropischen Charakter, da sie von den später eingewanderten russischsprachigen Juden hauptsächlich für das kostenlose Buffetangebot geschätzt und in erster Linie als Wohltätigkeitseinrichtungen genutzt wurden. Interview mit Luba 10.8.2010.
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S TANISLAV : E IN „ KLASSISCHER “ B ERLINER IN B ERLIN LEBT MAN „ WIE EIN K ÖNIG “
ODER
Stanislav ist im Alter von einem Jahr zusammen mit seiner Familie aus der lettischen Hauptstadt Riga nach Berlin gekommen. Im Unterschied zum Gros der jüdischen Einwanderer, das seit den 1990er Jahren mit dem Status der Kontingentflüchtlinge aus der Sowjetunion nach Deutschland kam, verließ Stanislavs Familie bereits 1980 Riga in Richtung Berlin. Nach dem Abitur studierte Stanislav zunächst Politikwissenschaften im Mecklenburg-Vorpommerschen Greifswald, brach sein Studium ab und machte anschließend eine Ausbildung zum Werbetexter, ein Beruf, in dem er zum Zeitpunkt des Interviews bereits seit mehreren Jahren erfolgreich arbeitet. Heute leben Stanislav und seine gesamte Familie wieder in Berlin. Seine Großmutter ist eine gläubige Jüdin, „echt Schtetl“18, und spricht Jiddisch als ihre Muttersprache. Auch sein Großvater, der nicht mehr lebt, war ein gläubiger Jude gewesen, „ein frommer Mann, der hat auch wirklich jeden Tag gebetet“19, fasst Stanislav zusammen. Seine Eltern bezeichnet Stanislav dagegen als Atheisten und sich selbst als ungläubig. Das Judentum verbindet er nicht mit Gott, sondern mit einer besonderen Diskussionskultur und einem starken Bildungshunger, die sich wiederum in einem starken Interesse an anderen Kulturen und der gewaltfreien Lebenseinstellung äußern. Als Kind durchlief Stanislav in Berlin mehrere Etappen einer jüdischen Sozialisation: Er besuchte regelmäßig den jüdischen Jugendclub, fuhr in die jüdischen Ferienlager und zu den leadership-Seminaren. Als es allerdings in die nächste Altersstufe ging und man selbst die Leitungsaufgaben in den jüdischen Jugendeinrichtungen übernehmen sollte, distanzierte sich Stanislav von den jüdischen Institutionen und gleichzeitig auch von den informellen Netzwerken russischsprachiger Juden in Berlin. Die jüdische Kultur, die die meisten Neueinwanderer in den 1990er Jahren mitbrachten, unterschied sich in Stanislavs Augen wesentlich von dem genuinen, unverklärten Jüdischsein, das er von seinen Großeltern übernommen habe. In einem Interview berichtet er: „Die ganzen russischen Juden in Berlin sind zwar ungläubig, gehen aber in die Synagoge und feiern Schabbat. Das ist halt ’ne relativ naheliegende Geschichte. Wenn du auf diesem ‚Judentrip‘, auf diesem ‚Judenticket‘ nach Deutschland gekommen bist, dann ist das irgendwie immer als ’ne Überschrift über deiner Existenz hier in Deutschland. Also es ist vielleicht ’ne naheliegendere Sache, als jetzt vielleicht dem Sportverein beizutreten und da 18
Interview 31.7.2010.
19
Ebd.
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deine Zugehörigkeit zu suchen. Denn am Ende sind sie nicht besser als die Deutschen, sie werden auch im Gleichschritt marschieren, jeder marschiert gerne im Gleichschritt, und du suchst irgendwo ’ne Identität und das ist doch ’ne ganz wunderbare Sache im Sinne des Markenkennzeichens, wenn ich als Werber sprechen darf, wenn du dich sogar noch zum Judentum irgendwie so bekennen kannst weil das ’n Teil deiner Marke ist, deiner Identität, das ist am einfachsten für dich […]. Du kannst nicht erwarten, dass nach 70 Jahren Kommunismus die echte unverklärte, unverblümte Form vom Judentum da noch übergeblieben ist. Also, nicht bei der Generation. Wie gesagt, mein Großvater, der war echt Schtetl, meine Großmutter ist echt Schtetl, bei meinem Großvater ist die Familie auch komplett umgekommen.“20
Im Unterschied zum Gros der russischsprachigen Juden, das in den 1990er Jahren unter dem Status der jüdischen Kontingentflüchtlinge häufig aus wirtschaftlichen Gründen nach Berlin kam, betrachtet Stanislav seine eigene Familie, die noch zu Zeiten des Eisernen Vorhangs den Ostblock verließ, als politische Flüchtlinge. Diejenigen, die im Rahmen des Kontingentflüchtlingsgesetzes oder mit Stanislav gesprochen „auf dem Judenticket“ nach Deutschland einwanderten, mussten sich bei ihrer Ankunft mit ihrem Jüdischsein aktiv auseinandersetzen. Gerade weil bei den meisten von ihnen die jüdische Tradition in den Jahrzehnten des Realsozialismus in Vergessenheit geraten war, zwang sie ihr offizieller „jüdischer“ Einreisestatus nun dazu, die Bedeutung des Jüdischseins für ihr Leben neu auszuhandeln und für die Außenwelt sichtbar zu machen.21 Einen solchen Zwang, sich mit seinem Jüdischsein in einer Form auseinandersetzen zu müssen, die für alle anderen Juden und Nichtjuden sichtbar wird, verspürt Stanislav dagegen nicht. Denn durch seine gläubigen Großeltern hat er die Seiten der jüdischen Tradition miterlebt, die für die meisten späteren jüdischen Einwanderer seiner Generation unbekannt waren. Während in Russland und der Ukraine, den Hauptherkunftsländern jüdischer Migranten in den 1990er
20 21
Interview 31.7.2010. Während das Jüdischsein in der Sowjetunion eine Nationalität bezeichnete und in der Gesellschaft negativ konnotiert war, wurden die sowjetischen jüdischen Einwanderer in Deutschland zu Mitgliedern einer Religionsgemeinschaft erklärt – zwei unterschiedliche Zuschreibungen, die sich in der Identitätsarbeit der Einwanderer widerspiegelten. Zu den Wechselwirkungen zwischen den Selbstbildern und den politischen, rechtlichen und diskursiven Rahmenbedingungen der Aufnahme von jüdischen Einwanderern vgl. Becker (2001): Ankommen in Deutschland.
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Jahren,22 das jüdische Leben praktisch ausradiert wurde, konnte in Lettland zumindest bei der Generation der Großeltern Stanislavs noch eine ursprüngliche, „unverblümte“ Form des Judentums aufrechterhalten bleiben. Als eine genuin jüdische Erfahrung begreift Stanislav auch die Tatsache, dass die gesamte Familie seines Großvaters unter den Nazis umgekommen ist. Während Lettland, im Gegensatz zu Russland und einem Großteil der Ukraine, im Zweiten Weltkrieg von der Wehrmacht besetzt war und dort fast die komplette jüdische Bevölkerung durch die Nazis vernichtet wurde, können die meisten russischen und ukrainischen Juden an die kollektive Holocausterinnerung, die der europäischen Judenheit heute immer noch als ein substantieller Identitätsstifter dient, nicht anknüpfen.23 Somit bildet die Holocausterfahrung eine weitere Trennlinie, die Stanislav zwischen seinem eigenen Verständnis des Jüdischseins und dem der meisten jungen russischsprachigen Juden in Berlin zieht.24 In seiner offensichtlichen Abgrenzung von der Gruppe der russischsprachigen Juden begreift sich Stanislav nicht als Teil eines jüdischen Netzwerkes, das in Berlin existiert. Stattdessen beschreibt er sich als einen „typischen“ oder einen „ganz normalen Berliner“ mit seinem eigenen Kiez, der Stammkneipe und dem 22
Bodemann/Bagno geben an, dass mindestens 50 Prozent der nach 1990 nach Deutschland eingewanderten russischsprachigen Juden aus der Ukraine stammen, 35 Prozent aus Russland und nur 10 Prozent aus Litauen, Lettland und Estland. Die Schlusslichter bilden Buchara, Moldawien, Kasachstan und andere Teile der ehemaligen Sowjetunion mit insgesamt 5 Prozent. Diese Informationen basieren auf den Interviews, die die Autoren mit den Mitarbeitern der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland führten. Vgl. Bodemann/Bagno, In der ethnischen Dämmerung, 161f.
23
Exemplarisch für die Studien, die die Bedeutung des Holocaust für die kollektive Identität der deutschen Juden hervorheben, steht Lynn Rapaport. In einer Untersuchung aus dem Jahr 1997 fand sie heraus, dass auch nach der Wiedervereinigung die Katastrophe des jüdischen Volkes den stärksten Identifikationsmechanismus für die Mitglieder des jüdischen Kollektivs in Deutschland darstellte. Vgl. Rapaport (1997): Jews in Germany after the Holocaust.
24
Meron Mendel stellt in seiner Studie über die Identitäten jüdischer Jugendlicher in Deutschland fest, dass während der Holocaust für die „alteingesessenen“ jüdischen Jugendlichen heute immer noch ein zentrales Interpretation- und Wahrnehmungsmuster ihrer Umgebung ist, wird dieses traumatische Kapitel in der Geschichte des jüdischen Volkes von den jugendlichen Neueinwanderern in den Gesprächen über ihre Identitätsfindung kaum erwähnt. Vgl. Meron Mendel (2010): Jüdische Jugendliche in Deutschland, 201–224.
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Vietnamesen um die Ecke. In Stanislavs mentalem Berlin-Bild spielt die Einzigartigkeit der Stadt eine zentrale Rolle, wie er in dem Vergleich zwischen Berlin und anderen westlichen Metropolen schlussfolgert: „Also, ich will ja ungerne vergleichen mit anderen Großstädten. Tatsächlich wenn man es noch schneller haben möchte, wenn man noch mehr Kultur haben möchte, dann gibt’s auch andere Städte die da weitaus besser sind, vor allem in Europa, London oder Paris oder was ha’m wir, New York. Aber so in der Mischung finde ich das… 25 Vor allem wenn man es ganz gerne entspannt hat, finde ich und trotzdem in der Großstadt leben möchte, finde ich ganz gut hier. Das ist für mich so Berlin. Jede Stadt ist anders, und da ich einfach Stadtmensch bin, gehe ich davon aus, dass da das Land drumherum noch weniger was für mich ist. Und eben diese Mischung, diese Größe, diese kritische Masse, die wegen diesen vielen unterschiedlichen Kulturen erreicht wird, die kriegst du einfach nirgendwo anders, selbst in Hamburg wenn man ganz ehrlich ist fängt es schon an piefig zu werden. […] Berlin ist schon ’ne sehr einzigartige Stadt. Ich könnte mir zum Beispiel nirgendwo sonst eine Eigentumswohnung leisten. In New York zahlst du dich ja für ein kleines Fleckchen dumm und dusselig. Ich kann es mir nicht vorstellen, irgendwo anders zu leben. Hier lebst du wie ein König. Ich fühle mich in Deutschland nicht zu Hause, aber in Berlin ja.“ 26
In Berlin fühlt sich Stanislav zu Hause. Für ihn ist diese Stadt ein Ort, an dem er jüdisch und zugleich auch ein Berliner sein kann. Innerhalb Berlins hat Stanislav seinen eigenen Kiez, in dem sich ein großer Teil seines Lebens abspielt, den Mierendorff-Kiez in Charlottenburg. Dass man einen territorial überschaubaren Kiez zu dem Mikrokosmos des eigenen Alltags erklärt, sei, so glaubt Stanislav, „relativ repräsentativ für ’nen klassischen Berliner“. Trotz der Größe der Stadt, des Tempos der Metropole und der Vielfalt an kulturellen Facetten des Berliner Lebens lässt sich Stanislav von den Wahlmöglichkeiten, die ihm seine Stadt bietet, nicht verwirren. Er geht souverän mit diesen um und schafft es auch, in dem ganzen Großstadttrubel Ruhe und Gelassenheit zu bewahren. So sucht er für sich Orte heraus, an denen er sich entspannt zurücklehnen kann und „einfach so gammeln kann“. Seine Charlottenburger Stammkneipe nennt er auch sein „erweitertes Wohnzimmer“, von seiner Freundin wird Stanislav als „wahrscheinlich der einzige jüdische Junge in Berlin, der eine Stammkneipe hat“ beschrieben. Auch wenn dabei das Bild entsteht, als ob Stanislav den Großteil seines Alltags25 Auslassungspunkte ohne eckige Klammern werden in dieser Arbeit in direkter Rede verwendet, wenn vom Sprecher Teile des Satzes verschluckt werden oder um eine Pause im Rede- oder Gedankenfluss anzuzeigen. A.G. 26
Feldnotizen 14.6.2010.
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lebens in seinem Kiez verbringt, ist es nur ein Teil der Realität. Denn gleichzeitig ist Stanislavs Leben in Berlin und in Deutschland von einer außerordentlichen Mobilität gekennzeichnet. Als Werbetexter hält er sich durch die Aufträge diverser Firmen oft wochen- oder monatelang in München oder Frankfurt und auch in London oder Wien auf. Und in seiner Freizeit unternimmt er Ausflüge in die grünen Randgebiete Berlins wie Dahlem oder Grunewald, aber auch in das zentral gelegene Kreuzberg, die er zusammenfassend als „Naherholungsgebiete“ bezeichnet. Neben der Entspannung schätzt Stanislav an Berlin vor allem das Gefühl, sich hier alles leisten zu können. Man lebt in Berlin nicht, um schnell zu sein, pausenlos Kultur zu konsumieren oder reich zu werden. Man lebt hier, um keine Sorgen zu haben, sich zurückziehen zu können und sich eine Eigentumswohnung in Charlottenburg zu leisten, die Stanislav vor Kurzem erworben hat.
D IE S TADT
MIT
M IGRATIONSHINTERGRUND
Einen großen Einfluss auf unsere kognitiven Stadtkarten haben geographische Orte und Räume, mit denen wir im Laufe unseres Lebens in Kontakt kommen bzw. an denen wir eine längere Zeit verbracht haben. Besonders bei Migranten, die in mindestens zwei Ländern und in der Regel mehreren Ortschaften gelebt haben stellt sich die Frage, wie sich ihre räumlichen Vorerfahrungen in der Wahrnehmung und Nutzung des Berliner Stadtraumes widerspiegeln. Schaut man sich die Migrationsrouten der Juden, die aus der ehemaligen Sowjetunion nach Berlin gelangten, an, so lässt sich von Einwanderern mit einer einfachen und einer doppelten Migrationserfahrung sprechen. Die meisten russischsprachigen Juden, die heute in Berlin leben, wanderten direkt aus der Sowjetunion bzw. ihren Nachfolgestaaten zwischen 1991 und 2005 im Rahmen des Kontingentflüchtlingsgesetzes nach Deutschland ein. Dieser besondere Flüchtlingsstatus ermöglichte ihnen die Einwanderung außerhalb des regulären Asylverfahrens: Im Vergleich zu der sonst üblichen restriktiven Aufnahmepraxis in Hinsicht auf den Rechtsstatus wurden sie von den deutschen Behörden als „privilegiert“ behandelt, indem man ihnen bereits bei der Einreise eine unbefristete Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis sowie das Recht auf die staatlichen Transferleistungen einräumte.27
27
Eine solche „privilegierte“ Behandlung russischsprachiger jüdischer Migranten resultierte aus der besonderen Verantwortung Deutschlands angesichts der NSGeschichte sowie den damit zusammenhängenden Erwartungen, die kleinen und
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Ein anderer Weg, den die russischsprachigen Juden wählten, um nach Deutschland bzw. nach Berlin zu gelangen, führte gelegentlich über Israel. Zwar waren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion alle ehemaligen Sowjetbürger zumindest auf dem Papier frei, ihren Residenzort in Richtung ihrer Wahlheimat zu verlassen, jedoch gestaltete sich für die Juden die Einreise nach Israel grundsätzlich viel einfacher als nach Deutschland oder in die USA. Während man auf ein Einreisevisum für Deutschland ein bis zwei Jahre wartete und die USA seit Beginn der 1990er Jahre ihre Einreisebedingungen enorm verschärft hatten, brauchte man in der Regel höchstens sechs Monate, um die Einwanderung nach Israel zu organisieren.28 Von etwa einer Million russischsprachiger Juden, die in den letzten fünfundzwanzig Jahren in Israel ankamen, entschieden sich einige später für die Weiterwanderung nach Deutschland. Zwar sprechen verschiedene Medienberichte von etwa 15.000 Israelis, die heute in Berlin leben, die Angaben darüber, wie viele von ihnen ursprünglich aus der ehemaligen Sowjetunion stammen, fehlen allerdings bislang. Im Unterschied zu den israelischen Bürgern, die als Nachkommen deutscher, in den 1930er Jahren ausgebürgerter Juden, einen Anspruch auf die deutsche Staatsangehörigkeit haben, werden die russischsprachigen Israelis hierzulande wie alle anderen Einwanderer aus Drittstaaten behandelt. Da sie direkt aus einem „jüdischen Staat“ einreisen und nicht vor Antisemitismus flüchten müssen, werden sie auch nicht als „privilegierte“ Flüchtlinge behandelt. Zwar haben diese russischsprachigen Israelis die geistige Heimat ihrer Erzväter hinter sich gelassen, die israelische räumliche und kulturelle Erfahrung brachten sie, so wie auch die sowjetische, nach Berlin mit. Mit Hilfe dieser Erfahrungsperspektiven werden sowohl ihre Wahrnehmung als auch ihre Nutzung des Berliner Stadtraumes korrigiert, in Relation gesetzt und immer wieder neu ausgehandelt.
überalterten jüdischen Gemeinden wiederbeleben zu können. Vgl. dazu Jungmann (2007): Jüdisches Leben in Berlin, 15f. 28
Zu den Entscheidungshintergründen und Dilemmata bezüglich der Wahl des Migrationslandes bei russischsprachigen Juden nach 1990 siehe Remennick (2007): Russian Jews on Three Continents, 42–51.
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P AVEL : E IN I SRAELI IN B ERLIN ODER DER F REIHEIT UND DER K ONTRASTE
DIE
S TADT
Pavel ist 1997 als 17-Jähriger aus der Hafenstadt Archangelsk, einem der wichtigsten Industriezentren Nordrusslands, zunächst alleine nach Israel ausgewandert. In Jerusalem begann er ein Germanistikstudium und baute dabei auf seinen Deutsch-Grundkenntnissen auf, die er noch auf der Schule in Russland erworben hatte. An Ende seines Studiums traf Pavel die Entscheidung, es in Deutschland abzuschließen. Eine zentrale Rolle für seinen Entschluss, Israel zu verlassen, spielte die für ihn unattraktive Aussicht, nach dem Studienabschluss einen zweijährigen Dienst in der israelischen Armee leisten zu müssen, wie er mir in einem Interview gesteht: „Das will ich noch erzählen. Ich bin in Israel dienstpflichtig, ich habe den ‚Kurs des jungen Kämpfers‘ abgeschlossen, tiranut, und habe danach eine Aufschiebung für die Zeit des Studiums bekommen. Aber im Prinzip habe ich bisher meinen Armeedienst in Israel nicht absolviert. Im Prinzip warten sie darauf, dass ich zurückkomme und den Dienst antrete, aber ich will das nicht. Ich sage ehrlich, ich will nicht in der Armee dienen. Erstens ist es Zeit, zweitens sind das nicht meine Rahmen, einfach nur in der Armee zu dienen. Ich weiß, was das ist, ich habe dort bereits sechs Wochen verbracht. Man lässt einen wenig schlafen, dort befinden sich Menschen in einem solchen Zustand, in dem ich zwei Jahre lang nicht leben wollen würde, einfach so zu leben und zu existieren. Ich meine damit das Bildungsniveau oder so etwas Ähnliches. Man kann dort eine nicht schlechte Karriere machen, aber ich sehe mich nicht als Mensch, der in der israelischen Armee Karriere macht, sagen wir so. Deswegen machte ich mich auf den Weg, mich über Stipendien für das Studium in Deutschland zu erkundigen.“29
Heute, beinahe siebzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, mutet die Wanderungsroute Israel-Deutschland immer noch paradox an. Während Juden in den 1930er Jahren vor der Verfolgung der Nationalsozialisten aus Deutschland nach Palästina flüchteten, verlagern manche jüdische Israelis heute ihren Lebensmittelpunkt nach Deutschland, um dem Dienst bei den Israelischen Streitkräften und dem Druck der permanenten Kriegsbedrohung zu entkommen. Nachdem Pavels erste Migration aus Russland nach Israel sich für ihn als unbefriedigend erwies, ging er im Jahr 1999 mit einem Stipendium des Vereins der Freunde der Hebräischen Universität in Jerusalem in Baden-Württemberg zum Studium nach Tübingen. Zwei Jahre später wechselte er die Universität und die 29
Mental Mapping-Sitzung 20.06.2010. Übersetzung aus dem Russischen.
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Stadt und fand sich im Jahr 2001 an der Humboldt-Universität zu Berlin wieder. In Berlin entwickelte Pavel Interesse an der jüdischen Stadtgeschichte und begann neben dem Studium für eine Agentur Stadtführungen durch das jüdische Berlin anzubieten: „In Berlin gibt es sehr starke jüdische Traditionen, hier lebten verschiedene jüdische Handwerker, Kaufleute. Jetzt zum Beispiel kommen viele Israelis nach Berlin, ich kenne viele Israelis, die hierher gekommen sind und hier leben, irgendwelche Dinge hier machen, sich integrieren, lernen die Sprache und wollen von hier nicht weggehen. Sie meiden die israelische Armee und all das und kommen deswegen nach Berlin. Und ich denke, im Prinzip ist das normal, weil wenn du im 21. Jahrhundert in einer bestimmten Umgebung leben willst, dann hast du ein Recht darauf. Und ich will, dass noch mehr jüdische Jugend hierher kommt und überhaupt jüdische Menschen, und dass diese jüdische Traditionen irgendwie wiederbelebt werden. Aber ich bin dagegen, wenn diese Traditionen in extremen orthodoxen jüdischen Themen ihren Ausdruck finden, ich bin dagegen, ich bin selbst kein religiöser Mensch. […] Und für mich ist Berlin eine Stadt, aus der ich nicht wegziehen will und ich will, dass meine Kinder hier aufwachsen, wenn ich diese in Zukunft haben werde, und das ist eine Stadt, die allen die Freiheit gibt, inklusive der russischsprachigen Juden.“30
Für Pavel ist Berlin eine Stadt, die er zum einen mit der starken, historisch geprägten jüdischen Tradition verbindet, einer Tradition, die durch die jüdische Zuwanderung wiederbelebt werden muss. Zum anderen schätzt er Berlin dafür, dass man hier die Freiheit genießt, jüdisch und zugleich anders zu sein. Berlin ist für Pavel eine Stadt, in der er als Jude nicht in einer „jüdischen Enklave“, in einer jüdischen „Parallelgesellschaft“ leben muss, sondern „normal“ sein und mehrere Identifikationen gleichzeitig leben kann. Wie Pavel mir erzählt, besucht er mit seinem besten Freund häufig das Jüdische Museum und geht ab und zu in die Jüdische Gemeinde in der Charlottenburger Fasanenstraße, um sich den Gesang der russischen Barden, der Volksliedermacher, anzuhören – eine Vorliebe, die er hauptsächlich mit der Generation seiner Eltern teilt. Aber noch nie ist er bei einer Party oder einem Szene-Konzert gewesen, die in einem jüdischen Kontext stattfanden: „Nicht dass ich das nicht wollte, ich habe einfach nie darüber nachgedacht. Ich gehe oft zu regulären Partys oder Ausstellungen oder treffe mich mit Freunden zu Hause, um Filme zu schauen. Das heißt, nach drei Jahren
30
Mental Mapping-Sitzung 20.06.2010. Übersetzung aus dem Russischen.
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in Israel bin ich von der jüdischen Kultur übersättigt und Berlin zieht mich, sagen wir, mehr als etwas Neues an.“31 Pavels Wahrnehmung und Nutzung des Berliner Stadtraumes wird durch seine israelische Lebenserfahrung beeinflusst und relativiert. Wer wie er mehrere Jahre in einem Staat gelebt hat, in dem das Jüdische den Alltag dominiert, kommt nach Berlin, um einen frischen Wind zu spüren. Jüdische Partys, bei denen er sich mit anderen Juden sozialisieren kann, braucht und sucht Pavel in Berlin deswegen nicht. Was er sich wünscht, sind die Kontraste und Konflikte, die sich in Berlin daraus ergeben, dass hier „viele unterschiedliche Kulturen und Architekturstile aufeinander treffen“.32 Wenn Pavel über seine Vorliebe für Kontraste redet, kommt er auf die vielen Migranten zu sprechen, die in Berlin leben: „Was ich noch an Berlin mag ist, dass ich hier sehr viele Freunde habe, dabei aus verschiedenen Schichten und viele auch aus der Immigrantenschicht, so wie ich selbst. Aber auch viele Deutsche, die nach Berlin gezogen sind. Sie sind hierher gezogen und für sie ist Berlin auch etwas Neues, was ihnen den Ruck gibt sich weiter zu entwickeln. Und genau das eint die Menschen in Berlin. Die Migrationserfahrung und dass man Berlin für seine Toleranz sehr mag.“33
D IE S TADT
MIT
R AUM
FÜR
ALLE
Nicht nur denjenigen russischsprachigen Juden, die nach ihrer Ankunft in Deutschland in Kleinstädten und Dörfern ohne intakte jüdische Gemeinden landeten, fehlte die Gelegenheit, an die jüdischen Netzwerke und Traditionen anzuknüpfen. Auch die Situation in manchen jüdischen Großstadtgemeinden machte es den Einwanderern zuweilen nicht leicht, sich an den Aktivitäten dortiger jüdischer Einrichtungen zu beteiligen. Ein Beispiel dafür, wie kompliziert sich die Teilhabe am jüdischen Alltag für die russischsprachigen Juden an ihrem neuen Wohnort gestaltete, ist Hamburg. Die jüdische Bevölkerung der Hansestadt hat mittlerweile mit etwa 5.000 Personen ein Viertel der Gesamtzahl der Hamburger Juden am Anfang der 1930er Jahre erreicht, 34 sodass Hamburg in den Medienberichten heute in Anspielung an die Vorkriegszeit wieder als „Klein Jerusalem“
31
Wahrnehmungsspaziergang 8.6.2010.
32
Mental Mapping-Sitzung 20.06.2010. Übersetzung aus dem Russischen.
33
Ebd.
34
Vgl. Leytus (2004): Die neuen Mitglieder sollen sich hier Zuhause fühlen.
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apostrophiert wird.35 Als Hafenstadt war Hamburg seit dem 16. Jahrhundert besonders bei den spanischen und portugiesischen jüdischen Kaufleuten sehr beliebt, die ihre sefardische36 Tradition mit sich brachten. Seit Mitte des 17. Jahrhunderts durften schließlich auch die aschkenasischen Juden auf dem Hamburger Raum siedeln und trugen mit ihren eigenen Synagogenbauten zur Pluralität des religiösen jüdischen Lebens in der Hansestadt bei.37 Gegenwärtig präsentiert sich die Koexistenz der Sefarden und der Aschkenasen in Hamburg, bedingt durch die jüngsten Migrationsbewegungen, in einem neuen Licht. So wurde die sefardische Tradition Hamburgs durch die Einwanderung von ca. 150 Familien persischer Juden wiederbelebt, die in Folge der Islamischen Revolution von 1979 unmittelbar darauf aus dem Iran in die Hansestadt zogen.38 In Hamburg angekommen, mussten sie die einzige Synagoge der dort ansässigen jüdischen Gemeinde mit den deutschsprachigen aschkenasischen Juden teilen. Bedingt durch diese erzwungene gemeinsame Raumnutzung wandelte sich die einstige Pluralität der jüdisch-religiösen Traditionen in Hamburg zu einer Rivalität zwischen den Aschkenasim und den Mizrachim, den sogenannten orientalischen Juden. Während man in der Synagoge eine getrennte Sitzordnung etablierte, schaute man sich beim Beten mit gemischten Gefühlen von Fremdheit und Überlegenheit gegenseitig an. Als in den 1990er Jahren die Einwanderung russischsprachiger Juden nach Deutschland und Hamburg begann, schlossen sich die beiden einstigen rivalisierenden Gruppen in ihren religiösen und kulturellen Vorurteilen gegenüber den Neueinwanderern zusammen, indem sie in der Syna35
Lembke (2010): Juden in Hamburg; Zemmrich (o.A.): Hamburger Klein-Jerusalem erwacht wieder. Laut dem Online-Bericht des Museums für Hamburgische Geschichte geht die Bezeichnung „Klein-Jerusalem“ auf das Ende des 19. Jahrhunderts zurück, als im Zuge des Stadtanwachsens auf eine Millionenstadt im Grindelviertel eine Siedlungskonzentration der jüdischen Bevölkerung Hamburgs entstand. Vgl. o.V.: Juden in Hamburg. Wohngebiete und Wohnverhältnisse.
36
Die Weltjudenheit teilt sich heute hauptsächlich in sefardische und aschkenasische Juden. Die sefardischen Juden gelten als Nachkommen der im 15. Jh. aus Sefarad (hebr. für „Spanien“) vertriebenen Juden, die sich in ihrer Mehrzahl in arabischen Ländern angesiedelt haben und Judeo-Arabisch sprachen. Aschkenas ist seit der talmudischen Zeit die hebräische Bezeichnung für Deutschland. Die aschkenasischen Juden stammen aus Mittel- und Osteuropa und sprechen mancherorts heute immer noch Jiddisch. Neben der geokulturellen und sprachlichen Unterschiede weisen ihre Liturgien und alltägliche religiöse Praktiken bedeutende Differenzen auf.
37
Hollendung (o.A.): Die Aufteilung der jüdischen Dreigemeinde in Hamburg 1812.
38
Vgl. Lorenz (2006): Jüdische Gemeinde (1945-1989).
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goge auf eine Seite zusammenrückten und die gegenüberliegenden Bänke für die russischsprachigen Juden preisgaben, denen sie vorwarfen, nicht jüdisch genug zu sein.39 Kinder russischsprachiger Juden, die in Hamburg groß wurden, wuchsen daher mit gemischten Gefühlen zu ihrem eigenen Jüdischsein auf: Auf der einen Seite waren sie als jüdische Kontingentflüchtlinge nach Hamburg eingewandert, auf der anderen Seite wurden sie von den dortigen Juden mit distanzierter Ablehnung empfangen. Die jüdische Gemeinde verlor für die Jungen daher ihre Attraktivität als ein Ort, an dem sie ihr Jüdischsein ausleben konnten und wollten.40 Eine andere deutsche Großstadt, die die in Hamburg lebenden russischsprachigen Juden neben ihrer Residenzstadt gut kannten, war Berlin. Nahezu jede Familie hatte dort Freunde, Bekannte oder Familienangehörige, die, so wusste man von häufigen Gesprächen und Besuchen, sich ihre Synagoge und ihren Treffpunkt frei aussuchen konnten. Einerseits durch die eigenen Erfahrungen, andererseits durch die Narrativen, wurde Berlin somit zu einer spezifischen Landschaft im „kulturellen Gedächtnis“ junger russischsprachiger Juden stilisiert: Mit seinen zwölf Synagogen, mit seiner Vielfalt an religiösen und kulturellen, formellen und informellen jüdischen Einrichtungen wurde Berlin zu einem Raum der Freiheit und Wahlmöglichkeiten erklärt. Ging man nach Berlin, so tat man das in der Hoffnung, seinen persönlichen Lebensstil inklusive der individuellen Vorstellung des Jüdischseins zu finden und in dieser Stadt des Andersseins trotz aller seiner religiösen, kulturellen und menschlichen Eigenheiten dazu zu gehören.
D INA : E INE N EUBERLINERIN
ODER
B ERLIN IST
FÜR ALLE ANDOCKBAR Dina wanderte 1994 im Alter von zwölf Jahren zusammen mit ihren Eltern und ihrer jüngeren Schwester aus dem nordukrainischen Zhitomir, einem Industrieund Kulturzentrum mit ca. 300.000 Einwohnern, nach Norderstedt in SchleswigHolstein ein, einen Hamburger Vorort mit ca. 70.000 Einwohnern. Nach dem Abitur zog sie zum Medizinstudium nach Hamburg, schloss dort ihr Studium ab 39
Vortrag von Samira Lazarovic, einer Wirtschaftsjournalistin, die 1974 als Tochter jüdischer Eltern in Hamburg geboren wurde und dort aufwuchs. Lazarovic (2012): Jewish Life in Modern Germany.
40
Zum mangelnden Interesse der jungen Juden an den Aktivitäten der Hamburger Jüdischen Gemeinde vgl. Fenyes (2006): Jüdische Gemeinde nach 1989.
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und wechselte im Jahr 2009 nach Berlin, wo sie eine Anstellung zunächst als Lungenärztin in einem der Berliner Krankenhäuser bekam. Eine zentrale Erfahrung, die Dina mit Berlin verbindet, ist die Tatsache, dass sie in Berlin den Anschluss an das jüdische Leben fand, das ihr in Hamburg weitgehend fehlte. In Unterschied zu Pavel, der aufgrund seiner israelischen Erfahrung von dem Jüdischen „übersättigt“ ist und in Berlin daher auf jüdische Netzwerke im Allgemeinen verzichtet, konnte Dina während ihrer Kindheit und Jugend die jüdische Tradition kaum ausleben und möchte diese fehlende Erfahrung nun als junge Erwachsene in Berlin nachholen. Ihre ersten zwölf Lebensjahre in der Ukraine hinterließen bei Dina keine nennenswerten Erinnerungen an einen jüdischen Alltag. So erzählte sie mir, dass, während ihre jüngere Schwester in eine sogenannte „jüdische Klasse“ ging, wie Schulklassen an den regulären staatlichen Schulen mit vielen jüdischen Kindern im Volksmund hießen, gab es in Dinas Klasse außer ihr selbst nur noch ein anderes jüdisches Mädchen. Anstelle des lebendigen Judentums blieben Dina hauptsächlich antisemitische Äußerungen ihrer Lehrer sowie der Eltern ihrer Schulkameraden in Erinnerung. Verschwommene Erinnerungen an einige jüdische Hausnachbarn sowie an ihr jüdisches Kindermädchen, das ab und zu für sie „jüdisches Essen“ zubereitete, ersetzen für Dina Familienerinnerungen, denn in ihrer eigenen Familie war „das Jüdische nicht wichtig, es wurde nicht gelebt“.41 Beeinflusst von der Lebenserfahrung ihrer Mutter, die in der Ehe mit Dinas russisch-orthodoxem Vater unglücklich war und das fehlende Familienglück auf die Unterschiede zwischen dem jüdischen und dem russischen „Blut“ zurückführte, wünschte Dina sich schon früh einen jüdischen Lebenspartner und begann bald nach ihrer Einwanderung nach Deutschland den Anschluss an die jüdische Gemeinschaft zu suchen. In Norderstedt, wo außer Dinas Familie nur noch einige wenige Juden lebten und keine intakte jüdische Gemeinde existierte, blieb sie weiterhin von den jüdischen Netzwerken abgeschnitten. Auch in Hamburg blieben ihre sozialen und kulturellen Bezugspunkte hauptsächlich in der nichtjüdischen Umgebung verankert. Erst mit dem Umzug nach Berlin fand Dina die für sie akzeptable Form des jüdischen Lebens, die ihr in Hamburg aufgrund der sehr eingeschränkten Wahlmöglichkeiten verwehrt blieb: „In Berlin, wenn es um das jüdische Leben geht, ist eine Infrastruktur gegeben, und Berlin ist viel pluralistischer als Hamburg. In Hamburg hast du eine Richtung, eine Synagoge, da hast du nicht die Wahl, da hast du vielleicht eine Gruppe von jüdischen Menschen. Und in Berlin hast du ganz viele unterschiedliche Schattierungen des jüdischen Lebens und ganz
41
Feldnotizen 13.5.2010.
VON (POST-)SOWJETISCHEN JUDEN ZU JÜDISCHEN BERLINERN | 61
viele Möglichkeiten. Hier ist die Möglichkeit viel größer, dass man das findet was man will, oder dass man überhaupt die Möglichkeit hat zu gucken, was man will. In Hamburg gibt es insgesamt viel weniger jüdische Menschen und das jüdische Leben ist da einfach nicht so gegeben. Es gibt eine Gruppe und wenn du da nicht reinpasst oder wenn man das nicht sympathisch findet, was sie machen oder die Menschen an sich, dann kann man es gleich abschreiben. Und in Berlin kann man so lange gucken und suchen, bis man etwas findet, was zu einem selbst passt und wo man sich wohl fühlt. Das ist wirklich ein Riesenunterschied zwischen Berlin und Hamburg. In Berlin gibt es viele jüdische Menschen und viele unterschiedliche Charaktere, wo es in Hamburg alles eher gleich ist. Da gibt es zwei Gruppen, die iranischen Juden, die religiöser sind und sich ganz deutlich von den russischen Juden abgrenzen. Vielmehr gibt es da nicht. Wobei ich sagen muss, ich habe das nicht wirklich versucht, ich war ziemlich enttäuscht von dem Angebot das da war und deswegen habe ich mich zurückgezogen und nichts mit dem jüdischen Leben oder anderen Juden zu tun gehabt. Weil ich mich in der Synagoge nicht zugehörig und nicht wohl fühlte und nach zwei Mal bin ich da nicht mehr hingegangen.“ 42
Berlin ist für Dina eine Stadt, in der jeder die Form des jüdischen Lebens findet, die seinen eigenen Vorstellungen und Wünschen entspricht. Während in Hamburg „das jüdische Leben einfach nicht so gegeben“ sei, macht Berlin dank der hohen Zahl seiner jüdischen Bewohner und jüdischen Gruppierungen ein jüdisches Leben überhaupt erst denkbar. An Berlin schätzt Dina vor allem die Wahlmöglichkeit, den Pluralismus und die Vielfalt an Schattierungen jenseits des schwarz-weißen religiösen versus nicht-religiösen Judentums. Diese Stadt gibt ihr die Gelegenheit, ihren eigenen Platz in der jüdischen Landschaft zu finden und sich gleichzeitig von den anderen, für sie nicht akzeptablen Formen des jüdischen Lebens offen abgrenzen zu können. Ein Grund, der in Dinas Entscheidung, von Hamburg nach Berlin zu ziehen, eine zentrale Rolle spielte, war, dass in Berlin ihr jüdischer Freund lebt, mit dem sie bereits seit vier Jahren eine Fernbeziehung führte. Ihren Freund Stanislav lernte Dina im cyberspace auf der jüdischen online-Partnerbörse kennen; eine Suche, die sowohl für sie als auch für Stanislav zwei Jahre lang dauerte. Das online-Profil ihres heutigen Freundes beschrieb Dina mir gegenüber folgendermaßen: „Auf seinem Profil stand ‚jüdisch, aber säkular‘, und das gefiel mir, das war eine Gemeinsamkeit. Auch stand drauf, dass er viel liest. Das hat gepasst. Und es funktionierte sehr gut. Wir haben uns sofort gefunden und wussten, dass wir zueinander passen. Mich haben viele angeschrieben, aber er war der Einzige, mit
42
Mental Mapping-Sitzung 8.6.2010.
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dem ich mich dort unterhalten und dann getroffen habe.“43 Die Entscheidung, einen jüdischen Freund zu haben, begründet Dina wie folgt: „Ich wollte unbedingt einen jüdischen Jungen kennenlernen, um mit ihm zusammen eine Familie zu gründen. Ich hatte schon oft nicht-jüdische deutsche Freunde, aber es fehlte was, und ich konnte mich mit ihnen nicht gut verstehen. Die Kultur war unterschiedlich. Besonders wenn es um Israel und Palästina ging, sagten sie, Israelis seien böse. Mit einem jüdischen Jungen versteht man sich halt besser, man muss sich bei vielen Dingen gar nicht erklären, man weiß, was der andere denkt und wie er zu Themen wie Israel steht. Ich kann einfach natürlich jüdisch sein, ohne mich ständig erklären zu müssen. Stanislav und ich müssen oft gar nicht viel reden, weil wir einfach sehr gut uns gegenseitig kennen. Ihm muss ich nicht erklären, warum ich in die Synagoge gehe, obwohl ich nicht an Gott glaube. Ich muss nicht erklären, dass ich hingehe, weil es meine Kultur ist. Der gemeinsame Schmerz, die Katastrophen, das Leiden – das ist das Jüdische für mich. Und ich kann selbstverständlich zu Rosch ha-Schana kochen und zu Pessach Mazza kaufen, und wir beide wissen, was das bedeutet und dass wir kein Brot essen werden. […]. Früher habe ich das alles nicht gemacht, sonst wurde das immer ausdiskutiert und ich konnte gar nicht einfach nur mein Jüdischsein leben, so wie ich das wollte, ohne mich ständig erklären zu müssen.“44
Dass Dina ausgerechnet in Berlin ihre Sehnsucht nach einem jüdischen Familienleben verwirklichen konnte, ist kein Zufall. Die meisten Einträge auf der jüdischen online-Partnerbörse stammen von jüdischen Berlinern und Berlinerinnen. Dies ist zum einen der Tatsache zu verdanken, dass in Berlin bundesweit die meisten Juden leben, zum anderen spielt aber die Popularität Berlins bei den jungen jüdischen Nicht-Berlinern hier eine Rolle. Wie ich später erfuhr, haben einige junge Juden bei der online-Partnerbörse fake-Profile erstellt, um „Spaß zu haben“. Dabei gaben die Nicht-Berliner manchmal vor, in Berlin zu leben, um auf diese Art und Weise ihre Beliebtheit bei den potentiellen Partnerinnen und Partnern zu erhöhen. Auch für Dina war die Tatsache, dass Stanislav, mit dem sie sich zunächst online anfreundete, aus Berlin kam, nicht unbedeutend. Auch wenn sie zuvor noch nie dort gewesen war, kannte sie die Stadt aus Erzählungen ihrer Freunde und Verwandten und wusste, dass sie dort ein pluralistisches jüdisches Leben vorfindet, an das sie auch als eine säkulare Jüdin Anschluss bekommen kann.
43
Feldnotizen 6.4.2010.
44
Ebd.
VON (POST-)SOWJETISCHEN JUDEN ZU JÜDISCHEN BERLINERN | 63
D IE S TADT
DER
W ILLKÜR
Die sowjetischen Juden, so stellt einer der Experten für jüdisches Leben in der Sowjetunion, Zvi Gitelman, fest, unterschieden sich in ihrem Verständnis des Jüdischseins wesentlich von denjenigen Juden, die in Israel und in den meisten Diasporaländern lebten. Zu den wesentlichen Unterschieden gehörte laut Gitelman die Tatsache, dass die Mehrheit der sowjetischen Juden die Wahl eines nicht-jüdischen Ehepartners entgegen der jüdisch-traditionellen Auffassung nicht als problematisch begriff.45 In einem Staat, dessen politisch-gesellschaftliche Doktrin Internationalismus propagierte und jegliche religiösen Aspirationen als bürgerlich und daher staatsfeindlich dämonisierte, waren Heiraten zwischen Juden und Nicht-Juden eine gängige Praxis. Aus solchen „gemischten“ Ehen gingen Kinder hervor, die entweder „lediglich“ eine jüdische Mutter oder „nur“ einen jüdischen Vater hatten. War der Vater jüdisch, trug das Kind, entsprechend der patriarchalischen sowjetischen Gesellschaftskultur, meistens auch einen jüdischen Nachnamen, wurde in seinem sozialen Umfeld als Jude angesehen und begriff sich in der Regel selbst auch als einen solchen. 46 Dagegen wuchsen Kinder einer jüdischen Mutter und eines nicht-jüdischen Vaters in der Regel ohne eine starke Identifikation mit ihrem Jüdischsein auf, weil sich Frauen bereitwilliger an die Familientraditionen ihrer Ehemänner anpassten. In diesem Fall trug die Familie häufig einen russischen oder ukrainischen Nachnamen und die Kinder wurden in der Schule und in der Nachbarschaft nicht als Juden wahrgenommen.47 Mit ihrer Einwanderung nach Berlin und in andere deutsche Städte wurden die ex-sowjetischen Juden mit einer Neudefinition des Judeseins konfrontiert. Während die jüdische Zugehörigkeit in ihren Heimatländern mit nationaler, durch Patrilinearität bestimmter Zugehörigkeit gleichzusetzen war, wurden Juden in Deutschland als Mitglieder einer Religionsgemeinschaft begriffen. Dabei ist die Frage der Mitgliedschaft in den jüdischen Gemeinden Deutschlands nach 45
Gitelman (2009): Jewish Identity and Secularism in Post-Soviet Russia and Ukraine, 256. Hinter einem hohen Prozent der interkonfessionellen Ehen, die für die sowjetischen Juden kennzeichnend waren, vermutet Gitelman die Unkenntnis der jüdischen religiösen Gebote, zu denen sowohl das Gebot der Wahl eines jüdischen Ehepartner als auch die matrilineare Definition des Jüdischseins gehören. Da der sowjetische Staat das Jüdischsein als „eine ethnische Form ohne Inhalt“ definierte, wurden die genuinen Inhalte der jüdischen Religion und Tradition nicht von einer Generation zur anderen weitertransportiert, sondern gerieten in Vergessenheit.
46
Vgl. Remennick (2007): Russian Jews on Three Continents, 22.
47
Ebd.
64 | GENERATION „KOSCHER LIGHT“
dem jüdischen Religionsgesetz, der Halacha, geregelt, das nur denjenigen als Juden definiert, der entweder von einer jüdischen Mutter abstammt oder zum Judentum konvertierte. Eine solche Definition hat zur Folge, dass weder die nichtjüdischen Ehepartner noch die nicht-halachischen Kinder der aus den GUS-Staaten eingereisten Juden, die etwa 50 Prozent der Einwanderer ausmachen, in die jüdischen Gemeinden Deutschlands aufgenommen wurden. 48 Gerade Kinder jüdischer Väter, die in ihren Geburtsländern wie Ukraine oder Russland, Lettland oder Litauen häufig auf ihre jüdische Herkunft reduziert waren, wurden in Deutschland und in Berlin von der Teilhabe an dem jüdischen Gemeindeleben ausgeschlossen. Laut der Studie von Karen Körber erscheint den vielen Betroffenen das jüdische Religionsgesetz als ein „Akt der Willkür“: „Stellvertretend für viele unsere Interviewpartner/innen betonen die Befragten nicht nur die – in ihren Augen ungerechtfertigte – Ungleichbehandlung der nicht-halachischen Juden, sondern ein völliges Unverständnis, was den Sinn der Aufnahmeregel an sich angeht.“49
V LAD : E IN „V ATERJUDE “ NICHT AN “
ODER
„ IN B ERLIN
KOMME ICH
Vlad wanderte 1994 im Alter von zwölf Jahren zusammen mit seinen Eltern und seiner älteren Schwester aus der litauischen Hauptstadt Wilna nach Deutschland ein. Als Residenzort wurde seiner Familie von den deutschen Behörden Neustrelitz, eine Mittelstadt mit ca. 20.000 Einwohnern in Mecklenburg-Vorpommern, zugewiesen. Nach dem Abitur ging Vlad zum Jurastudium in das 100 Kilometer entfernte Greifswald. Nach dem Ende des Studiums zog er nach Berlin, um sein Rechtsreferendariat in Angriff zu nehmen und, wie er mir gegenüber mehrfach betonte, „nach dem jüdischen Leben zu suchen“. Zwar reisten nach Mecklenburg-Vorpommern seit 1991 mehrere Tausend Juden aus der ehemaligen Sowjetunion ein, den meisten von ihnen fehlte aber die Affinität zur jüdischen Tradition, so dass sich weder in Neustrelitz noch in Greifswald nach dem Ende des
48
Die Angabe von 50 Prozent geht zurück auf Remennick (2011): The Russian-Jewish Transnational Social Space, 4. Laut Tolts besteht die junge Generation russischsprachiger jüdischer Migranten zum größten Teil aus Kindern gemischter Ehen. Siehe Tolts (2003): Demography of the Jews in the Former Soviet Union.
49
Körber (2011): Synagoge, Samowarverein, Veteranenclub? 127f.
VON (POST-)SOWJETISCHEN JUDEN ZU JÜDISCHEN BERLINERN | 65
Zweiten Weltkrieges jüdische Gemeinden wieder etablieren konnten.50 Vlad dagegen identifizierte sich bereits während seiner Kindheit stark mit dem Judentum, was zum Teil der Zuschreibung von außen zu verdanken war: Da seine Großmutter väterlicherseits eine zentrale Position im kommunistischen Parteiapparat inne hatte und ihre jüdische Herkunft in der Stadt bekannt war, wurde Vlad trotz seiner nicht-jüdischen Mutter in der Schule und in der Nachbarschaft als Jude typisiert. Trotz der kommunistischen, anti-religiösen Erziehung seines Vaters legte dieser Wert darauf, seinem Sohn die zumindest kulturellen jüdischen Werte zu vermitteln. So sang Vlad eine Zeitlang in einem Wilnaer jiddischen Chor und besuchte die jüdischen Sommerferienlanger, die die Jewish Agency for Israel in allen größeren Städten der ehemaligen Sowjetunion organisierte. Als Vlad sich in Berlin bei der Jüdischen Gemeinde vorstellig machte, fand er heraus, dass er als Sohn „lediglich“ eines jüdischen Vaters nach der Halacha nicht als Jude galt und ihm die Gemeindemitgliedschaft daher verwehrt blieb. Auf der Suche nach einer jüdischen Gemeinschaft, in der er auch als „Vaterjude“ als gleichwertiges Mitglied akzeptiert werden konnte, stieß er auf Jung und Jüdisch e.V., einen Tochterverein der Union Progressiver Juden in Deutschland. Heute weiß Vlad allerdings, dass er spätestens mit 35 Jahren den Verein verlassen muss, denn auch die progressiven Juden akzeptieren in Deutschland keine Kinder „lediglich“ jüdischer Väter als Mitglieder ihrer Organisation. Stattdessen soll den jungen „Vaterjuden“ durch deren regelmäßige Teilnahme an religiösen und kulturellen Veranstaltungen des Jung und Jüdisch der Weg zum Gijur, dem Übertritt zum Judentum, geebnet werden. Bereits jetzt, mit Ende Zwanzig, beschäftigt Vlad die eventuelle Notwendigkeit eines Übertritts: „Ich bin extra nach Berlin gekommen, um aktiv am jüdischen Leben teilzunehmen. Ich lebe auch koscher, ich trenne zu Hause das Geschirr und esse kein Schweinefleisch. Auch denke ich über einen Gijur nach. Ich frage mich, was passiert, wenn ein Mann zuerst bei egalitären Juden übertritt, dann bei den Reformen und schließlich bei den Orthodoxen. Muss er dann dreimal beschnitten werden? Es wird doch letztendlich nichts mehr da bleiben!“51
50
Heute gehören zwei jüdische Gemeinden in Schwerin und Rostock zum Landesverband der jüdischen Gemeinden in Mecklenburg-Vorpommern. Die Mitgliederzahlen beliefen sich im Jahr 2011 respektive auf 914 und 671. Vgl. Mitgliederstatistik der jüdischen Gemeinden und Landesverbände in Deutschland für das Jahr 2011 der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland, 29.
51
Feldnotizen 2.5.2010.
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Auch wenn Vlad versucht, einen ironischen Umgang mit dem Übertritt zum Judentum und der damit verbundenen Beschneidungszeremonie zu finden, klingt darin eine Tragik an, die seine Versuche kennzeichnet, als Kind einer nichtjüdischen Mutter an das jüdische Leben in Berlin anzudocken. Bei keiner der jüdischen religiösen Strömungen fühlt er sich willkommen und als Jude akzeptiert. Zwar darf er bei dem egalitären Gottesdienst in der Oranienburger Straße, bei dem Männer und Frauen in ihrer Glaubensausübung als gleichberechtigt anerkannt sind, teilnehmen, darf jedoch als „Vaterjude“ nicht vor die Gemeinde treten und aus der Tora vorlesen und wird somit als ein Mitglied zweiten Ranges behandelt. Am stärksten äußert sich seine Verbitterung, als wir eines Tages das Bet- und Bildungszentrum von Chabad Lubawitsch, einer ultraorthodoxen jüdischen Gruppierung, besuchen und Vlad zu mir sagt: „Für die bin ich kein richtiger Jude. Sie würden mich sofort rausschmeißen, wenn sie erfahren, dass ich keine jüdische Mutter habe. Ich habe mir überlegt, bei Chabad den Gijur zu machen, aber deren Verständnis von Religion entspricht nicht meinem persönlichen. Wenn ich bei Chabad den Übertritt machen würde, dann nur um allen zu beweisen, dass, wenn ich etwas richtig will, dann bekomme ich es auch. Aber bei Chabad würde ich nicht bleiben. Ich kann es nicht leiden, wenn ich immer wieder fragen muss und immer wieder zurückgeschickt werde. So ist es bei den orthodoxen Rabbinern üblich, und dafür liebe ich mich selbst viel zu sehr.“52
Im Gegenzug dafür, dass Vlad von keiner jüdisch-religiösen Strömung wegen seiner nicht-jüdischen Mutter als ein vollwertiges Mitglied akzeptiert wird, lehnt er alle jeweiligen religiösen Praktiken ebenso ab. Bei Chabad gefällt es ihm nicht, dass Männer und Frauen in den Gottesdiensten und während der Mahlzeiten voneinander getrennt sitzen müssen, da es seiner Meinung nach bei der Partnersuche hinderlich ist. Als heuchlerisch empfindet Vlad auch die offensichtliche Diskrepanz zwischen den strikten religiösen Vorgaben der Chabadniks und dem lockeren Umgang mit diesen seitens der Gottesdienstbesucher, die während des Gebets zwar den Siddur, das jüdische Gebetsbuch, aufschlagen, zwischen den Seiten aber eine Zeitung hineinlegen, die sie anstatt des Gebetstextes studieren. Aber auch die gemischte Sitzordnung, die bei dem egalitären Gottesdienst gepflegt wird, findet Vlad nicht ansprechend. Die neben ihm sitzenden Frauen lenkten ihn, so behauptet er halb scherzhaft halb ernsthaft, von dem Dialog mit Gott ab. Auch der orthodoxe Schabbatgottesdienst trifft nicht ganz Vlads Geschmack: Er findet es lächerlich, wenn die erwachsenen Männer plötzlich „wie 52
Feldnotizen 2.5.2010.
VON (POST-)SOWJETISCHEN JUDEN ZU JÜDISCHEN BERLINERN | 67
auf Knopfdruck“ anfangen, fröhlich zu singen und im Kreis zu tanzen, „wie beim Karneval, etwas, was sie die ganze Woche lang nicht tun und nur am Freitag sich erlauben.“53 In seiner Ablehnung etablierter jüdisch-religiöser Strömungen kreiert Vlad sein „persönliches Verständnis“ des Judentums: Er thematisiert zum Beispiel wiederholt die Tatsache, dass das Judesein in der biblischen Zeit nicht nach der Mutter, sondern nach dem Vater festgelegt wurde und sich die Definition des Jüdischseins erst in den späteren Zeiten änderte. 54 Diese Praxis hilft ihm dabei, seine ständige, unterschwellige Abweisung mit der Begründung, kein „richtiger Jude“ zu sein, zu kompensieren, indem er darauf ebenfalls mit einer Ablehnung reagiert. Ein Jahr nachdem ich Vlad kennengelernt hatte, legte er auch sein Übertrittsvorhaben ab: Er betrachte sich selbst als Jude und halte es für falsch, den Übertritt allein deswegen zu vollziehen, um allen anderen sein Jüdischsein zu beweisen.
D IE S TADT
DER
B ALANCE
Nach Schätzungen verschiedener Medien leben in Berlin heute zwischen 30.000 und 300.000 russischsprachige Migranten aus der ehemaligen Sowjetunion. 55 Die Wahrheit über die tatsächliche Zahl der ex-sowjetischen Berliner, die in der öffentlichen Wahrnehmung oft als „Russen“ stilisiert werden, liegt vermutlich wie immer irgendwo dazwischen. Den größten Anteil an Russischsprachigen bilden dabei die ethnischen Deutschen, die seit 1991 als Spätaussiedler aus Russland, der Ukraine und Kasachstan in großer Zahl nach Deutschland einwanderten. Die zweitgrößte Gruppe bilden jüdische Migranten vorwiegend aus Russland und der Ukraine, aber auch aus den baltischen Ländern und aus dem Kaukasus. Die Lebenswelten dieser beiden ex-sowjetischen Einwanderergruppen sind durch eine kulturelle und häufig soziale Distanz gekennzeichnet: Die deutschstämmigen Spätaussiedler kommen überwiegend aus agrarisch-traditionell geprägten Gegenden, die jüdischen Einwanderer stammen in der Regel aus großstädtisch-intellektuellen Milieus.56 Während die beiden Gruppen aufgrund dieser Herkunftsdiskrepanz vor der Auswanderung selten miteinander in Kontakt ka53 54
Feldnotizen 13.8.2010. Diese ursprüngliche Definition des Jüdischseins behandelt ausführlich Olmer (2010): „Wer ist Jude?“
55
Vgl. bspl. Grüter (2008): Neues Leben aus tiefer Seele; o.V. (2008): Roter Platz Berlin.
56
Beetz (1997): Zündstoff Wohnheim, 270.
68 | GENERATION „KOSCHER LIGHT“
men, wurden sie in Deutschland unmittelbar nach ihrer Einreise häufig in den gleichen oder aneinander angrenzenden Wohnheimen untergebracht. Da die Mitglieder beider Gruppen vom deutschen Staat in Hinsicht auf die Einbürgerungsabläufe und soziale Eingliederungshilfen unterschiedlich behandelt wurden, schaffte eine räumliche Nähe eine Konkurrenzsituation, die für gegenseitige Ressentiments sorgte. So fand Stephan Beetz in seiner Analyse der benachbarten Heimunterbringung von russischsprachigen Juden und Russlanddeutschen im Potsdamer Ortsteil Bornstedt Folgendes heraus: „[…] engere Kontakte bestehen nur in Einzelfällen, weshalb es bislang zu keiner stabilen gruppenübergreifenden Verflechtung kam. Tatsächlich verstärkt die räumliche, aber segregierte Nähe die Wahrnehmung der sozialen Unterschiede, denn immerhin werden die beiden Zuwanderergruppen rechtlich und sozial unterschiedlich behandelt. Kleine oder große Erfolge von Mitgliedern der einen Gruppe werden von den anderen jeweils sehr kritikbereit kommentiert. […] Die Merkmale divergierender Lebensstile werden unter dem Eindruck der aktuellen Konkurrenzsituation in Deutschland nicht etwa weniger, sondern im Gegenteil noch schärfer wahrgenommen. […] Von jüdischer Seite werden die Spätaussiedler oft mit den gleichen Stereotypen belegt wie Russen: sie ‚trinken‘, sie ‚schlagen‘, sie sind ‚antisemitisch‘. Die Aussiedler dagegen bestreiten den Juden gerne überhaupt das Recht auf eine Ansiedlung in Deutschland.“ 57
In Berlin, wo sowohl Spätaussiedler als auch russischsprachige Juden bundesweit quantitativ am stärksten vertreten sind, sind die gegenseitigen Abgrenzungsprozesse besonders stark ausgeprägt. Zwar lebt heute kaum noch jemand von ihnen in Aufnahmewohnheimen, wie unmittelbar nach der Einwanderung, trotzdem gibt es in Berlin genügend Räume wie russische Lebensmittelläden, Konzertsäle, Buchläden oder Reisebüros, die die Vertreter beider Gruppen miteinander teilen und wo sie miteinander in Kontakt treten, auch wenn solche Kontakte in der Regel nur oberflächlich sind. In Bezug auf den Wohnraum haben sich allerdings mittlerweile ethnische Konzentrationen ergeben, die deutlich machen, dass die Vertreter beider Gruppen jeweils unterschiedliche Stadtgegenden favorisieren. So lassen sich die russischsprachigen Juden wegen ihrer großstädtisch geprägten Vorliebe für zentral gelegene, infrastrukturell gut angebundene Ortsteile überwiegend in den zentralen West-Berliner Stadtteilen wie Charlottenburg, Wilmersdorf und Schöneberg, zunehmend aber auch in den zentralen Ostberliner Gegenden wie Mitte bzw. Prenzlauer Berg nieder. Die in ihrem Le-
57
Beetz (1997): Zündstoff Wohnheim, 270f.
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bensstil eher ländlich geprägten Spätaussiedler bevorzugen dagegen Marzahn und Hellersdorf am östlichen oder Spandau am westlichen Stadtrand.58 Bei allen Unterschieden und gegenseitigen Abgrenzungen zwischen den Russlanddeutschen und russischsprachigen Juden lassen sich die russische Sprache und russische Kultur als ein potentielles verbindendes Element nicht wegdenken. Besonders bei der jungen Generation, die bezüglich ihrer kulturellen, ethnischen und religiösen Orientierung mehrere Identifikationen pflegt, kommt es ab und an dazu, dass sich Lebenspartnerschaften bilden, bei denen die Partner zu der jeweils anderen Gruppe gehören. In solchen Fällen wird die Beziehung zu einem Balanceakt, bei dem man versucht, vor dem Hintergrund der gruppendynamischen Abgrenzung die Loyalität zum Partner aufrechtzuerhalten.
M ILA: E INE RUSSISCH - ORTHODOXE J ÜDIN Mila ist 1998 im Alter von 18 Jahren zusammen mit ihren Eltern, ihrer Großmutter und der jüngeren Schwester aus dem ukrainischen Dnepropetrowsk nach Düsseldorf eingewandert. Dort machte sie Abitur und begann anschließend, Betriebswirtschaft zu studieren. Während ihrer Düsseldorfer Jahre besuchte Mila regelmäßig Berlin, wo viele Familienfreunde und Verwandte lebten. Durch eine Bekannte lernte Mila dort im Laufe der Zeit ihren späteren Lebenspartner Georg, ein Spätaussiedler aus Kasachstan, kennen. Bald darauf wechselte sie an die Humboldt-Universität zu Berlin und zog 2007 in Georgs Wohnung ein, die an der Grenze zwischen dem zentralen Westberliner Stadtteil Charlottenburg und dem westlichen Randbezirk Spandau liegt. Ihr Haus, wie sie mir gegenüber betonte, liegt zwar an der Grenze zwischen den beiden Stadtteilen, aber „noch in Charlottenburg“.59 Während Mila sich in ihren ersten Berliner Jahren hauptsächlich in der westlichen Stadthälfte bewegte, verlagerte sich nach dem Ende des Studiums ihre Arbeitswelt in den Berliner Osten, in ein Sushi-Restaurant am Hackeschen Markt, in dem sie für einen jüdischen Besitzer aus Russland als Buchhalterin arbeitete. Ihre Impressionen über den Berliner Stadtraum fasst sie wie folgt zusammen: „Mein Berlin war am Anfang der Westen. Ich mochte den Westen sehr. Als ich zum ersten Mal nach Berlin kam, kam ich am Zoo an. Ich kenne Zoo komplett, Ku’damm und alles 58
Vgl. Beetz/Kapphan (1997): Russischsprachige Zuwanderer in Berlin und Potsdam.
59
Feldnotizen 11.11.2009.
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dort. Als ich jetzt nach Berlin umgezogen bin – inzwischen sind acht Jahre seit meinem ersten Berlin-Besuch vergangen – jetzt mag ich den Osten mehr. Georg hat mir alles von dem Hackeschen Markt bis zum Alexanderplatz und weiter in diese Richtung gezeigt. Das ist für mich Berlin. Dort wird heute viel gebaut. Wenn man ein Geschäft aufmachen möchte, würde ich eher empfehlen, einen Laden in Ostberlin zu mieten. […] Durch meine Arbeit kenne ich einige Juden in Berlin, und sie leben alle im Westen. Schon die ersten Juden, die nach Berlin kamen, siedelten im Westen, Charlottenburg, Wilmersdorf, Schöneberg. Alle Unseren (nashi) sind im Westen, im Osten gibt es kaum Juden.“ 60
Milas Wahrnehmung von Berlin hängt zu einem gewissen Teil mit ihrer privaten Situation zusammen. Mila ist die Tochter eines jüdischen Vaters und einer ukrainischen Mutter, und die jüdische Tradition ist ihr von Zuhause gut bekannt. Auch begreift sie sich selbst als Jüdin, wenn sie von den „Unseren“, also den Juden spricht, die sie hauptsächlich im Westen Berlins verortet. Auch Mila selbst fühlte sich mit dem westlichen Teil Berlins stärker vertraut, als mit dem östlichen, allerdings nur bis zu dem Zeitpunkt, als sie ihren nicht-jüdischen Freund kennenlernte. Während sie früher die befreundeten jüdischen Familien ihrer Eltern und ihre eigenen Freunde in Charlottenburg und Wilmersdorf regelmäßig besuchte, wird ihr Umgang mit anderen Juden von ihrem Lebenspartner heute nicht erwünscht. Den Kontakt zu anderen Juden verlagerte Mila daher nahezu komplett auf die in Düsseldorf verbliebenen jüdischen Netzwerke. Als Mila Georg kennenlernt, wird ihr eigenes Berlin-Bild nach und nach durch das ihres Lebenspartners revidiert. Wenn Mila heute behauptet, dass „Juden oft viel Miete für wenig Wohnfläche bezahlen, Hauptsache sie wohnen in einem Prestige-Stadtteil wie Charlottenburg“61, teilt sie Georgs Ansicht, die sie mir gegenüber zitiert: „Juden sind anders als Russlanddeutsche. Sie wollen immer das Beste haben, sind arrogant und legen viel Wert auf Statussymbole.“ 62 Die Russlanddeutschen, so erzählt mir Mila weiter, seien es gewöhnt, hart zu arbeiten und gingen mit ihrem Geld sehr vorsichtig um. Sie würden sich deswegen niemals auf eine hohe Miete einlassen, mit der sie quasi das Viertel „mitbezahlen“. Aus diesem Grund seien viele Spätaussiedler von dem Osten Berlins angezogen: Dort bekäme man noch für wenig Geld große Wohnungen, auch gäbe es dort noch viele freie Flächen, auf denen man selbst bauen könne. Die Balance, die Mila zwischen der Gruppe der russischsprachigen Juden und der der Russlanddeutschen halten muss, spiegelt sich in ihrer Wahrnehmung 60
Interview 19.3.2010. Übersetzung aus dem Russischen.
61
Ebd.
62
Ebd.
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des Berliner Stadtraumes wider. Dabei übernimmt sie die Bilder ihres russlanddeutschen Freundes nicht kompromisslos, sondern nutzt ihre eigene Versiertheit, um zwischen den beiden Welten zu lavieren. Wie Mila selbst sagt, sucht sie in ihrem Partnerleben nach Kompromissen anstatt eine reine Anpassung oder Dominanz zu leben. Dabei grenzt sie sich von ihrer eigenen Mutter ab, die sich als eine russisch-orthodoxe Frau an die Familientradition ihres jüdischen Mannes komplett angepasst habe: „Ich glaube, dass man als Jude nicht geboren wird, sondern zu einem Juden wird. Meine Mutter hat nichts Jüdisches, aber meine Mutter ist jeder Jüdin überlegen, wenn es um die jüdischen Speisen und Ähnliches geht. Als meine Mutter anfing, mit meinem Vater zusammen zu leben, hat sie sich an ihn angepasst. So wie ich am Anfang auch versucht habe, mich an Georg anzupassen. Später habe ich begriffen, dass wir solche Kompromisse gefunden haben, dass mal er sich an mich anpasst, mal ich mich an ihn. Deswegen ist es für uns einfach. Ich habe nicht so etwas, dass ich etwas nicht möchte aber machen muss. Wenn ich etwas nicht mag, werde ich mich nicht dazu zwingen. Wenn ich russischorthodox bin, gehe ich in eine orthodoxe Kirche, wenn ich es will. Man kann mich nicht dazu zwingen, in eine evangelische Kirche zu gehen. Wenn Georg zum Beispiel die jüdische Küche nicht mag, werde ich es für ihn nicht nur deswegen kochen, damit er sich daran gewöhnt. Meine Mutter hat sich komplett an das Judentum angepasst. Meine Mutter kennt mehr jüdische Feiertage als ich, sie kann mehr über Juden erzählen als ich. Sie hat mit meinem Vater mehr darüber gesprochen. Deswegen sage ich ehrlich: Man wird nicht als Jude geboren, sondern zu einem Juden wird man erst im Laufe des Lebens.“63
Milas Fähigkeit, Kompromisse in einer Beziehung zu finden, die durch gegenseitige Vorurteile zwischen russischsprachigen Juden und deutschstämmigen Spätaussiedlern belastet wird, ist der Tatsache zu verdanken, dass Mila sich mehreren Gruppen gleichzeitig zuordnen kann. Während Milas eigene Mutter ihren russlanddeutschen Freund lange Zeit nicht akzeptieren konnte und umgekehrt auch die Familie von Georg Mila am Anfang als eine „Jiddin“, eine zhidovka bezeichnete, sieht Mila zwischen ihr und ihrem Freund viele Gemeinsamkeiten. Seitdem sie seit ein paar Jahren einen deutschen Ausweis besitzt, sei sie auch „deutsch“, so wie Georg, berichtet sie nicht ohne Stolz. Auch sei sie im Alter von einem Jahr durch ihre Mutter russisch-orthodox getauft worden, so dass der christliche Glaube sie mit der evangelischen Familie ihres Freundes verbindet. Und schließlich ist da die gemeinsame russische Sprache, die ihre Kinder „unbedingt sprechen müssen“. Bei allen diesen Gemeinsamkeiten verliert 63
Interview 19.3.2010. Übersetzung aus dem Russischen.
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Mila ihr Jüdischsein allerdings nicht aus den Augen, wenn sie gegenüber Georgs Familie halb im Scherz, halb im Ernst behauptet: „Wir leben in einem jüdischen Bezirk und ihr in einem russlanddeutschen.“64
64
Feldnotizen 11.11.2009.
Die „neuen Juden“ von Charlottenburg In diesem Kapitel will ich zeigen, dass zwischen der Wahrnehmung und Nutzung von Stadträumen einerseits, und der Aushandlung unserer kulturellen und religiösen Zuordnungen andererseits, ein enger Zusammenhang besteht. Am Beispiel von Berlin-Charlottenburg wird zuerst nachgezeichnet, auf welche Art und Weise sich der Raum in seiner Bedeutung als „jüdischer Bezirk“ in der Wahrnehmung junger jüdischer Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion konstruiert. Im nächsten Schritt werden Zuordnungspraxen analysiert, die die Wahrnehmung und Nutzung von diesem als „jüdisch“ konnotierten Stadtviertel definieren und konkretisieren. Es geht mir dabei nicht darum, das russischjüdische Leben in Berlin auf Charlottenburg zu reduzieren, vielmehr interessiert mich, welche Rolle spielt diese Gegend in der Identitätsarbeit junger russischsprachiger Juden. Aber hier vorweg: Wie wird Charlottenburg mit russischem oder russisch-jüdischem Leben in der Öffentlichkeit in Verbindung gebracht? In der Berliner Tagespresse wurde der Berliner Ortsteil Charlottenburg, der im Westen der Stadt liegt und aus einer ehemaligen gleichnamigen Provinzstadt hervorgegangen ist, schon längst zu einem „neuen russischen Berlin“ stilisiert. Möchte man sich als Außenstehender ein Bild über das Leben der russischsprachigen Community in Berlin machen, stolpert man über Zeitungsartikel mit Titeln wie „Wladiwostok liegt gleich hinter Charlottenburg“ 1, „Sie betreten den russischen Sektor“2 oder „Russkij Berlin 2008“3, in denen die Autoren das, was sie als „russisches Leben“ beschreiben, in Charlottenburg verorten. Dabei wird das Russische in erster Linie mit Konsumkultur, vor allem aber mit Esskultur und Gastronomie in Verbindung gebracht, wie der Tagesspiegel berichtet: „Natürlich sollte man dann besser in der Kantstraße in Charlottenburg shoppen ge1
Mühling (2003): Wladiwostok liegt gleich hinter Charlottenburg.
2
Boyes (2009): Sie betreten den russischen Sektor.
3
o.V. (2008): Russkij Berlin 2008.
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hen. Die Straße steht, seit ich mich erinnern kann, unter russischer Besatzung, da ist der russische Buchladen am Amtsgericht, die Import-Export-Läden, die Schneidereien aus Swerdlowsk, heute unter dem Namen Jekaterinburg bekannt. Die russischen Geschäfte expandieren. Der Obstladen unter der S-Bahn hat nun auch eine Pelmeni-und-Piroggi-Bar. Der Moskauer Lebensmittelladen in der Lewishamstraße läuft, in der Nähe steht mit ‚Prima‘ ein russischer Außenposten und ‚Die Marone‘ an der Ecke Kaiser-Friedrich-Straße macht gute Geschäfte mit lebenden Karpfen – es scheint, als würde es auf dem Stuttgarter Platz heißen: ‚Sie betreten jetzt den russischen Sektor‘.“4 Bilder, die durch solche mediale Berichte transportiert werden, prägen bestimmte Etiketten, die in der allgemeinen Wahrnehmung über den „Russen“ haften: Neureiche, Business, Pelmenivolk. Das Bild des „Russen“, der gerne auf großem Fuß lebt, wird durch die Betonung einer nicht ganz billigen Freizeitgestaltung fortgesetzt. Laut der vom Berliner Senat herausgebrachten Broschüre über Migranten in Berlin gehören auch die geräumigen Thermen des EuropaCenters zum „russischen Berlin“ – dort wo sich „die russische Szene zur schwitzenden Entspannung trifft.“ 5 Auch wird in der gleichen Broschüre die Charlottenburger Gegend rund um die Fasanenstraße und Kantstraße als „russisch geprägt“ bezeichnet.6 Während es an Darstellung der Räume, die die Medien als „russisch“ apostrophieren, nicht mangelt, wird man Berichte über den Alltag der russischsprachigen Juden in der Stadt vergeblich suchen. Für ein ungeübtes Auge sind sie in der ethnisch, religiös und sozial bunt gemischten Menge der Berliner ehemaligen Sowjetbürger, die wegen der gemeinsamen Sprache alle als „Russen“ wahrgenommen werden, nicht identifizierbar. In der Mischung aus deutschstämmigen Spätaussiedlern, jüdischen Migranten, russischen Studenten, „Au-Pair-Mädchen“, „Heiratsbräuten“ und den „neuen Reichen“, die für ein Wochenende nach Berlin zum Shoppen kommen, bleiben spezifische Räume, die jede dieser Gruppen für ihre eigenen Bedürfnisse in Berlin-Charlottenburg konstruiert, oft unsichtbar.7 Verborgen bleiben auch gegenseitige Stereotypen und Rivalitäten, die für das Miteinander der Mitglieder dieser Gruppen kennzeichnend sind. 4
Boyes (2009): Sie betreten den russischen Sektor. Weitere Artikel, die über das russische Leben im heutigen Berlin berichten: o.V. (2008): Ich bin ein Berliner; Ataman (2007): Berlin-Ekspress.
5
Kleff/Seidel (2009): Stadt der Vielfalt, 40.
6
Ebd.
7
Zur Vielfalt der Gruppierungen innerhalb der russischsprachigen Community in Berlin vgl. Schlögel (2007): Das russische Berlin.
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Die zahlreichen Reiseführer, die über das jüdische Leben in Berlin berichten, geben zwar Auskunft darüber, dass sich in Charlottenburg-Wilmersdorf fünf von den zwölf Berliner Synagogen befinden und zwar in der Pestalozzistraße, Münsterschen Straße, Joachimstaler Straße, Hüttenweg, Herbertstraße und Grolmanstraße. Somit weist dieser Bezirk die höchste Konzentration an Synagogen in der Stadt, gefolgt von Berlin-Mitte mit drei Synagogen in der Oranienburger Straße, Tucholskystraße und Brunnenstraße und den restlichen vier Synagogen, verteilt auf Kreuzberg, Schöneberg, Pankow und Zehlendorf. Welche Bedeutung diese Bethäuser für die russischsprachigen bzw. osteuropäischen Juden haben, wird darin allerdings höchstens in Verbindung mit der Vorkriegszeit beleuchtet, während die Kapitel über das gegenwärtige Leben der Berliner russischsprachigen Juden meistens mit einer halben Seite abgehandelt werden.8 Um das Leben russischsprachiger Juden im heutigen Berlin zu beschreiben, wird von einigen Beobachtern ein Vergleich zwischen dem Leben osteuropäischer Juden in Charlottenburg während der Vorkriegszeit und heute gezogen. So schreibt Willi Kramer, ein junger, in Israel geborener Berliner Schriftsteller und Sohn russisch-jüdischer Einwanderer, in einem für seine Arbeiten über Berlin typischen sarkastisch-resignierten Ton: „In den 1920er Jahren wurde der Bezirk Charlottenburg umgangssprachlich auch ‚Charlottengrad‘ genannt. Grund dafür waren die vielen Russen, die damals nach Berlin kamen. Bald könnte es wieder so sein. Denn aus allen Teilen der ehemaligen Sowjetunion kamen in den letzten Jahren Mitglieder der neo-sowjetischen Bauernbohème nach Berlin, um Freiheit, Wohlstand und die Handtaschenabteilung des KaDeWe zu erleben.“9
Die Anspielung auf Charlottengrad geht auf die 1920er und 1930er Jahre zurück, als Berlin zur Metropole der russischen Exil-Elite nach der Oktoberrevolution 1917 wurde. Rund um den Charlottenburger Kurfürstendamm wurden zwischen 1918 und 1928 über 185 russische Verlage registriert, die russischsprachige Bücher, Zeitungen und Zeitschriften verlegten. 10 In Dutzenden von Bibliotheken und Cafés trafen sich Künstler und Literaten, um über das neue Schicksal der 8
Vgl. exemplarisch Roth/Frajman (1999): Das jüdische Berlin heute; Rebiger (2010): Das jüdische Berlin; Eckhardt et al. (2005): Jüdische Orte in Berlin.
9
Kramer (2009): Charlottengrad, 95. Vgl. auch Kessler (2004): Charlottengrad oder Scheunenviertel.
10
Sorokina (Hg.) (2003): Russkij Berlin, 10; Zum kulturellen russischsprachigen Leben in Berlin der 1920er vgl. ausführlich auch Schlögel (2007): Das russische Berlin; Mierau (Hg.) (1988): Russen in Berlin.
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Welt zu diskutieren. Die leitende Rolle in dem Kulturleben der russischen Diaspora nahmen russischsprachige Juden ein.11 Dazu kam, dass der Kurfürstendamm und seine Fortsetzung, die Tauentzienstraße, bei den jüdischen etablierten Bankiers und Großkaufleuten als sehr lukrativ galt.12 Alles zusammen, kam es in Charlottenburg und dem benachbarten Wilmersdorf zu einer hohen Konzentration jüdischer Bevölkerung, so dass dort 1925 circa 30 Prozent der gesamten jüdischen Einwohnerschaft Groß-Berlins lebten, was Gabriel Alexander dazu veranlasste, diese Gegend als den „jüdischsten Bezirk in Groß-Berlin“ zu bezeichnen.13 Ein halbes Jahrhundert später wurde der westliche Teil Berlins erneut zum „Mekka“ für russischsprachige Juden. Als die Sowjetunion Anfang der 1970er Jahre dank des kurzen Tauwetters in den Ost-West-Beziehungen für einige Tausend sowjetische Juden den Eisernen Vorhang lüftete, erhielten ca. 3.000 von ihnen eine Aufenthaltserlaubnis für Westberlin. Auch dieses Mal wurde Westberlin wegen seines demokratischen und wirtschaftlich stabilen Existenzumfeldes von den Flüchtlingen bevorzugt, die diese Wahl mit ihrer sowjetischen Staatsangehörigkeit bezahlten.14 Kurz nachdem die weitere Einwanderungswelle der Juden aus den GUSStaaten Ende der 1980er Jahre eingesetzt hatte, war Berlin wieder eine vereinte Stadt, so dass im Unterschied zu den 1970er Jahren die jüdischen Kontingentflüchtlinge nun theoretisch in beiden Stadthälften siedeln konnten. Dass es auch dieses Mal zur hohen Konzentration jüdischer Einwanderer im Verwaltungsbezirk Charlottenburg-Wilmersdorf kam, erfährt man aus den Mitgliederstatistiken 11
Nach der Oktoberrevolution 1917 suchten 360.000 Angehörige vor allem der geistigen und künstlerischen russischsprachigen Elite Berlin wegen seiner weltoffenen Atmosphäre auf. Die Berliner Lebenswelt dieser liberalen, säkularen und russischjüdischen Intelligenzija war nicht nur sprachlich und kulturell, sondern auch räumlich von einem zweiten jüdischen Zentrum getrennt, das sich mittlerweile in Berlin entwickelte – dem Scheunenviertel. Dort, hinter dem Alexanderplatz, ließen sich überwiegend jiddischsprachige orthodoxe Juden nieder, die Ende des 19. Jahrhunderts aus Russland, Galizien und Rumänien nach Deutschland vor Pogromen geflüchtet waren und im Volksmund aber auch in der Forschung als „Ostjuden“ bezeichnet werden. Vgl. dazu Dohrn/Pickhan (Hg.) (2010): Transit und Transformation; Scheiger (1990): Juden in Berlin; Schlögel (2007): Das russische Berlin.
12
Alexander (1995): Die jüdische Bevölkerung Berlins in den ersten Jahrzehnten des
13
Ebd., 121.
20. Jahrhunderts. 14
Remennick (2007): Russian Jews on Three Continents, 37–41; Diekmann (2009): Juden in Berlin, 324; Schlögel (2007): Das russische Berlin, 443f.
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der Jüdischen Gemeinde.15 Diese geben Auskunft darüber, dass fast 30 Prozent der russisch-jüdischen Gemeindemitglieder in diesem Westberliner Bezirk ihr Zuhause haben, gefolgt von Schöneberg mit 15 Prozent, Kreuzberg, Neukölln und Wedding zusammen mit 10 Prozent und den ehemaligen Ostberliner Bezirken als Schlusslicht.16 Allerdings zeigen die Mitgliederstatistiken der jüdischen Gemeinden in Deutschland aus dem Jahr 2011, dass ca. 60 Prozent der Berliner Gemeindemitglieder über 50 Jahre alt sind. 17 Aus diesem Grund werfen die offiziellen Zahlen der Mitgliederstatistik der Jüdischen Gemeinde auf die räumliche Verteilung der jungen Generation in der Stadt wenig Licht. Die Gründe für die mangelnde Gemeindemitgliedschaft unter den jungen Juden in Berlin sind vielfältig. Generell bemerkt Baacke, dass offizielle Organisationen mit ihrer durchinstitutionalisierten und bürokratisierten Welt in den Orientierungswerten junger Leute ihr Gegenbild finden. Wie alle anderen Institutionen, hat auch die Jüdische Gemeinde ihre Regeln und Vorschriften, die durch ihre Inflexibilität auf die jungen Leute mit ihrem Experimentierungsbedarf befremdend wirken.18 Der Mangel junger Mitglieder in der Jüdischen Gemeinde hat aber auch mit der Tatsache zu tun, dass unter den jungen Juden, die heute in Berlin leben, viele aus anderen Gegenden Deutschlands zugezogen sind. Bekannterweise landeten viele jüdische Familien, in der Sowjetunion größtenteils Bewohner urbaner Zentren, aufgrund der bundesweiten Verteilungspolitik nach dem Königsteiner Schlüssel in ländlichen Gegenden oder kleineren Städten Deutschlands. Dort gab es in der Regel keine jüdischen Gemeinden, so dass man mit dieser Institutionsform, die auch in der Sowjetunion nicht existierte, nicht vertraut war. Heute kehren Kinder der damaligen Einwanderer in eine Millionenmetropole zurück, nachdem sie Schule oder Studium absolviert haben, zum Teil wegen beruflicher Perspektiven, zum Teil, um bewusst den Anschluss an das jüdische Leben zu suchen. Es gilt nun, die von ihnen zu einem großen Teil
15
Die beiden Berliner Verwaltungsbezirke Charlottenburg und Wilmersdorf wurden 2001 in einen Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf zusammengelegt. Im Folgenden verwende ich Charlottenburg synonym zu Charlottenburg-Wilmersdorf. Die Grenze zwischen den beiden Stadtteilen ist fließend, und sie werden nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Wahrnehmung meiner Akteure häufig als ein zusammenhängender Stadtteil gedacht.
16 17
Kessler (2004): Charlottengrad oder Scheunenviertel, 1. Mitgliederstatistik der jüdischen Gemeinden und Landesverbände in Deutschland für das Jahr 2011, 14.
18
Baacke (2007): Jugend und Jugendkulturen, 168.
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jenseits der Jüdischen Gemeinde konstruierten Räume und gelebte Raumpraxen in der Stadt zu untersuchen.
I N DEN W ESTEN
KATAPULTIERT
Ich erinnere mich noch sehr gut daran, als ich das allererste Mal mein Forschungsvorhaben im Doktorandenkolloquium des Kollegiums Jüdische Studien vorstellte. Damals, mit nicht mehr und nicht weniger als einer Exposéskizze bewaffnet, machte ich meine Zuhörer auf die historische Bedeutung des „Charlottengrades“ für die russische und russisch-jüdische Community aufmerksam und warf die Frage auf, ob diese Westberliner Gegend auch für die junge Generation der Einwanderer heute eine zentrale lebenspraktische Bedeutung habe. Daraufhin stellte einer der Teilnehmer die These auf, dass junge russischsprachige Juden, im Unterschied zu ihrer in Charlottenburg konzentrierten Elterngeneration, dem Trend der zugezogenen Berliner folgen und sich im neumodischen Ostberliner Prenzlauer Berg niederlassen. Immerhin habe sich die zahlenmäßig große jüdische Community der ultra-orthodoxe Lauder Foundation, die zu einem großen Teil aus jungen russischsprachigen Juden bestehe, ausgerechnet in BerlinPrenzlauer Berg gebildet. Diese These ging mir nicht aus dem Kopf. Schließlich wollte ich mich nicht von den vorgefertigten Bildern von Charlottenburg als Zentrum des russischjüdischen Lebens leiten lassen und hoffte, eine neue Tendenz in den räumlichen Praxen meiner Akteure zu entdecken. Umso mehr freute ich mich, als ein prominenter Vertreter der russisch-jüdischen Einwanderung mich in einem Gespräch auf den Verein Jung und Jüdisch aufmerksam machte, der im Osten Berlins lag: Dort würde ich sicherlich viele junge russischsprachige Juden antreffen, schließlich bestehe die jüdische Community in Berlin zu 85 Prozent aus Einwanderern aus den GUS-Staaten.19 Ich machte mich an die Recherche. Der Text auf der Webseite des Vereins verkündete in Deutsch, Hebräisch, Russisch und Englisch Folgendes: „Jung und Jüdisch Deutschland e.V. ist eine Vereinigung junger jüdischer Erwachsener zwischen 18 und 35 Jahren. Wir bieten ein Forum, in dem jüdisches Leben in Deutschland vielfältig erlebt, gelebt und selbstbestimmt gestaltet werden kann. Wir fühlen uns einem offenen, pluralistischen und progressiven Judentum verpflichtet.“20 Ebenda warb diese Tochtervereinigung der Union Pro19
Gespräch mit Sergej Lagodinsky, stellvertretender Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Berlin, 9.2.2010.
20
Webseite des Jung und Jüdisch Deutschland e.V.
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gressiver Juden in Deutschland mit dem Motto „Jung und Jüdisch ist anders“ mit der Erklärung, nicht Teil einer jüdischen Gemeinde Deutschlands und somit sowohl politisch, als auch ideologisch und religiös unabhängig zu sein. Seine Räumlichkeiten hatte der Verein im Gebäude der Stiftung Neue Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin-Mitte. Die Neue Synagoge, zu DDR-Zeiten der Sitz der Ostberliner Jüdischen Gemeinde, wurde auch nach der Wiedervereinigung beider Berliner Gemeinden zur zentralen Adresse des Gemeindevorstandes. Heute bildet sie eins der symbolischen, sozialen und kulturellen Mikrokosmen des jüdischen Lebens in Berlin.21 Ein paar Tage später war ich mit Michelle Piccirillo verabredet, der Ersten Vorsitzenden von Jung und Jüdisch Deutschland. Während ich auf Michelle wartete, schlug ich meinen Kalender im Adressenteil auf: Für die vielen Telefonnummern von russischsprachigen Juden, die ich von ihr zu erhalten hoffte, war darin noch genug Platz. Als Michelle eintraf, fragte ich, wie viele russischsprachige Mitglieder Jung und Jüdisch zählte, und bekam eine überraschende Antwort. Michelle erzählte, dass in München und Hannover – die beiden anderen Städte, wo Jung und Jüdisch aktiv ist, sehr viele russischsprachige Juden zu den Vereinsveranstaltungen kommen würden. Auch bei dem bundesweiten Treffen von jungen progressiven Juden in Bielefeld im Mai 2010 waren über 50 Prozent der Teilnehmer russischsprachig. Aber hier in Berlin sei es anders, hier kämen nur wenige russischsprachige Juden zu Jung und Jüdisch, fuhr Michelle fort. Als ich fragte, woran das liege, erklärte sie: „Das hat damit zu tun, dass wir in Berlin an die Neue Synagoge in der Oranienburger Straße angebunden sind, die im Osten der Stadt liegt. Für die russischen Juden, die mehrheitlich im westlichen Charlottenburg leben, bleiben die jüdischen Einrichtungen dort ein stärkerer Anziehungspunkt.“22 Ost und West als geographische Pole bildeten hier also nicht nur die Koordinaten der Wohnadresse, sie strukturierten auch die kulturelle und religiöse Praxis junger russischsprachiger Juden. Denn die Alternative zum progressiven Judentum, dessen liberale Grundsätze Jung und Jüdisch vertrat, bedeutete die jüdische Orthodoxie, deren Vertreter in Charlottenburg mit den orthodoxen Synagogen in 21
In ihrer Studie über die Selbstbilder russisch-jüdischer Migranten in Chicago und Berlin kommt Hegner zu dem Schluss, dass die Ostberliner Gegend um die Oranienburger Straße heute ein stärkeres Zentrum der „Jüdischkeit“ ist, als das „alte Westberlin“ um die Joachimstaler Straße. Allerdings zählen zu den Akteuren ihrer Berliner-Studie ausschließlich Juden der älteren Generationen. Vgl. Hegner (2008): Gelebte Selbstbilder, 133.
22
Interview 7.3.2010.
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der Joachimstaler Straße und in der Grolmanstraße sowie dem ultraorthodoxen Chabad-Zentrum in der Münsterschen Straße mehrere Etablissements haben. Wie sich später herausstellte, war die Lage von Jung und Jüdisch im Ostteil Berlins nicht der einzige Grund, warum nur wenige russischsprachige Juden an den Veranstaltungen dieses Vereins teilnahmen.23 Aber die Lage der Oranienburger Straße im Osten der Stadt wurde mir im Laufe meiner Feldforschung immer wieder als Erklärung dafür geboten, dass junge russischsprachige Juden die dort lokalisierten Veranstaltungen eher selten frequentierten. In einem Interview erzählte mir Max, 28, von seinem misslungenen Versuch, einen jüdischen Debattierclub für junge Leute zu starten: „Ich habe schon mehrmals versucht, einen jüdischen Debattierclub für junge Leute, Jewbating, auf die Beine zu stellen. Aber das erste Mal machte ich den Fehler, dass ich als Ort die Neue Synagoge in der Oranienburger Straße nannte, weil ich dachte, dass die Symbolik des Ortes auf die Leute anziehend wirkt. Nachdem ich die Einladung verschickt hatte, riefen mich viele meiner Freunde an und fragten, warum ich mir die Oranienburger Straße ausgesucht hätte. Das wäre für sie zu weit, ich sollte den Debattierclub in Charlottenburg machen, sonst würden sie nicht kommen. Der Club läuft seitdem in den Räumen der Jüdischen Gemeinde in der Fasanenstraße.“24
Max, der im Alter von sechs Jahren zusammen mit seiner Familie aus dem ukrainischen Czernowitz nach Berlin kam, lebt heute selbst in Charlottenburg. Obwohl er seine Kindheit und Jugend in der Ostberliner Mitte verbrachte, entschied er sich, seine erste und auch die weitere eigene Wohnung in Charlottenburg zu mieten. Schon als Kind verbrachte Max viel Zeit in Charlottenburg, wo die meisten seiner Freunde und die Freunde seiner Eltern lebten, und wo sich die Jüdische Gemeinde in der Fasanenstraße und der Jugendclub Olam in der Joachimstaler Straße befanden, die er für seine Jugendzeit als prägend ansieht. 25 Aus diesen Tagen ist ihm auch ein Bild fest in Erinnerung geblieben: „Einmal zeigte uns der Leiter des Jüdischen Jugendclubs eine Karte von Berlin, auf der er mit roten Fähnchen die Wohnorte von Kindern aus dem Club markierte. Charlottenburg war darauf ganz rot und in Berlin-Mitte, da wo ich wohnte, nur wenige Fähnchen. Man kann schon sagen, dass Charlottenburg ein jüdischer Bezirk ist.“ 26 Als 23
Zur näheren Betrachtung von Jung und Jüdisch Berlin vgl. Kapitel „Die jüdischen
24
Interview 14.5.2010.
25
Ebd.
26
Ebd.
Treffs und Partys als urbane Räume der Wiedervergemeinschaftung“ dieser Arbeit.
DIE NEUEN JUDEN VON CHARLOTTENBURG | 81
ich Max zuhörte, dachte ich an Kevin Lynch und den folgenden Ausspruch: „Jeder Stadtbewohner fühlt sich mit irgendeinem Teil seiner Stadt eng verbunden, und sein Bild malt sich in den Farben von Erinnerungen und Bedeutungen.“27 Natürlich lässt sich die Bedeutung, die Charlottenburg für Max hat, nicht auf die jüdische Komponente reduzieren. Damit wäre dem sehr komplexen geistigen Bild nicht genug Rechnung getragen, das sich nach Lynch jede Person von seiner Umgebung macht, um sich mit diesem strategischen Hilfsmittel in dieser Umgebung zurechtzufinden.28 Aber hätte ich die Suggestivfrage nach der Existenz eines jüdischen Viertels in Berlin meinem Fragenkatalog beigefügt, hätte ich von vielen meiner Akteure Charlottenburg als Antwort bekommen.
E IN „ JÜDISCHER B EZIRK “
PER DEFINITIONEM
Obwohl ich mich anfangs vom Klischee Charlottenburgs als russisch-jüdischen Bezirk distanzieren wollte, stellte ich im Verlauf der Feldforschung immer wieder fest, dass diese ehemals eigenständige bürgerliche Stadt im Westen von Berlin für meine Akteure eine zentrale Rolle in ihrer Nutzung und Wahrnehmung des Berliner Stadtraums spielte. Hier spiegelte sich die Überzeugung von Lynch wider, dass Bereiche (districts) zu den dominanten Elementen gehören, mit deren Hilfe die meisten Leute ihr mentales Bild einer Stadt strukturierten, wobei Lynch als Bereiche „relativ große Stadtbezirke, in die der Beobachter sich hineinversetzen kann – in die er eintreten kann und die irgendwie einheitlichen Charakter haben“ bezeichnet.29 Auch wenn solche Bilder individuell sind, kann man mit Lynch von der Existenz von „gemeinsamen geistigen Bildern, die eine große Anzahl der Einwohner einer Stadt in sich trägt“, sprechen, wobei hier „eine Übereinstimmung, die in den Wechselbeziehungen einer einzigen physischen Realität, einer gemeinsamen Kultur und einer die Grundlage bildenden physiologischen Natur in Erscheinung treten könnte.“30 Eine solche gemeinsame physische Realität bildete bei meinen Akteuren zum einen ihre Wohnadresse: Die meisten von ihnen haben sich Charlottenburg als ihr Zuhause ausgesucht. Zwar wohnten meine Gesprächspartner auch in Mitte, Neukölln oder Spandau, jedoch kamen wir während der gemeinsamen Treffen zum Feierabendbier oder einem Spaziergang nach dem Freitagsgebet stets auf Charlottenburg zu sprechen. Die 27
Lynch (2007): Das Bild der Stadt, 10.
28
Ebd., 13.
29
Ebd., 82.
30
Ebd., 17.
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Frage „Wo wohnst du?“ wurde auch mir immer wieder gestellt, wenn ich zu einer Gruppe neu dazukam. Dabei bedurfte meine Kreuzberger Wohnadresse im Gegensatz zu Charlottenburg stets einer Erklärung.31 Zur physischen Realität, die für die Entstehung kollektiver Bilder von Charlottenburg sorgte, gehörte auch die Tatsache, dass auch die Treffen selbst, bei denen ich mit meinen Akteuren in Kontakt kam, zum großen Teil in Charlottenburg-Wilmersdorf stattfanden: Zum Beispiel eine „Beer-Party“ in der Jüdischen Gemeinde in der Fasanenstraße, ein Filmabend im Familienclub Bambinim in der Uhlandstraße oder die Jüdische Parade mit Volksfest im jüdischen Bildungs- und Familienzentrum von Chabad Lubawitsch in der Münsterschen Straße – einer Gruppierung der Frommen innerhalb des orthodoxen Judentums. Zu den Interviews verabredete man sich in Charlottenburger Wohnungen, Parks oder Cafés. Es wurde mir klar, dass, so wie zu Max’ Jugendzeiten, Charlottenburg auch heute ein Raum ist, in dem junge russischsprachige Juden zusammenkommen, und den viele von ihnen wie Max als einen „jüdischen Bezirk“ bezeichnen. Welche Bedeutung aber schreiben die jungen russischsprachigen Einwanderer dem Jüdischen zu, wenn sie mit diesem Epitheton ein Berliner Stadtviertel versehen? Zwar sagt uns der Alltagssinn, dass das Jüdische an Charlottenburg mit Orten wie Wohnungen jüdischer Familien, Synagogen, Einrichtungen der Jüdischen Gemeinde und gemeindeunabhängigen Treffpunkten für jüdisches Publikum ausreichend erklärt wäre. Versteht man aber mit Lefebvre den Raum als „Produkt sozialer Praxis“, wäre das „Wahrgenommene“ [perçu], nämlich die konkreten Orte oder die materielle Seite des Raums, nicht mit der „Bedeutungsseite“ [conçu] dieser Orte gleichzusetzen. Das Erstere, das Lefebvre als „Raumpräsentation“ bezeichnet, geht in seiner stark marxistisch geprägten Überzeugung auf das Konto von Raumplanern, Strategien von diversen Institutionen oder politischen Akteuren. Die im Raum verorteten Dinge und das Reden [les discours] über den Raum sind nur Hinweise oder Zeugnisse dafür, dass eine Aushandlung von „Raumrepräsentationen“ bzw. Bedeutungen unter den eigentlichen Nutzern des Raums im Alltag stattfindet, und zwar durch den Einsatz von unseren Körpern und Sinnen.32 Die Bedeutung(en) von Charlottenburg als „jüdischen Bezirk“ und die (urbanen) Praxen junger russischsprachiger Juden, die Struktur und die Praxis also, gehen Hand in Hand. Entdeckt man die Komponenten, aus
31
Die Frage, welche Rolle die anderen Berliner Stadtteile für die Raumpraxis russischsprachiger Juden spielen, wird in Kapiteln 4 und 6 dieser Arbeit behandelt.
32
Dünne/Günzel (Hg.) (2006): Raumtheorie, 330–342.
DIE NEUEN JUDEN VON CHARLOTTENBURG | 83
denen das Jüdische Charlottenburgs besteht, lassen sich auf deren Basis Aussagen über die räumlichen Praxen der Beteiligten treffen. In ihrer Charlottenburger Wohnung malt Marina, die mit 15 Jahren aus dem ukrainischen Charkow nach Deutschland kam und mit 27 Jahren dabei ist, ihr Wirtschaftsstudium zu absolvieren, ihre Berlin-Bilder aus. Obwohl ich sie bitte, mir die für sie persönlich wichtigen Orte zu nennen, neigt sie immer wieder zu Generalisierungen und betont nachdrücklich: „In Charlottenburg und Wilmersdorf leben sehr viele Juden, diejenigen, die gut etabliert sind. In der Gegend um die Mecklenburgische Straße und die Uhlandstraße rum gibt es sogar ein jüdisches Karree aus Häusern, wo nur Juden wohnen.“33 In der Tat gibt es in Charlottenburg-Wilmersdorf Häuser, in denen mehrere jüdische Familien ihr Zuhause haben. Im Volksmund als „jüdische Karrees“ bezeichnet, wird diesen Häusern nachgesagt, das Eigentum der Jüdischen Gemeinde zu sein, weil eine große Zahl der dortigen Wohnungen von der Sozialabteilung der Jüdischen Gemeinde an bedürftige jüdische Familien vermittelt wird. In Marinas Vorstellung von den ausschließlich von Juden bewohnten Häusern gehen Imagination und Realität ineinander über: Charlottenburg verwandelt sich zum symbolischen Vorstellungsraum, der mit kulturellen Bedeutungen und Codierungen versehen wird. Imaginationen, Gerüchte und Mythen über die Wohnstruktur können ausschließlich in der urbanen Umgebung gedeihen, denn während auf dem Land jeder die Wohnadresse von jedem kennt, sind die Wohnkonstellationen wegen der großen Bewohnerzahl und starken Anonymität nicht transparent. Wie Mythen, können auch Imaginationen der Großstadt mit Sigmund Freud als die „Wunschphantasien […] der jungen Menschheit“ bezeichnet werden.34 Auf die Frage, welchen Wünschen und Zwecken die Imaginationen von dem jüdischen Charlottenburg dienen, werde ich weiter unten in diesem Kapitel noch zurückkommen. Es sind gerade die Imaginationen, die Lefebvre als konstitutiv für den dritten und für ihn bedeutendsten Aspekt des Raumbildungsprozesses identifiziert und die seine Konzeption von Struktur und Handeln ergänzen. Diesen dritten Aspekt nennt Lefebvre „Repräsentationsraum“, ein Raum der Bewohner und Benutzer, der diesen durch Bilder und Symbole vermittelt wird. 35 Solche „gelebten Räume” [espaces veçus] „need obay no rools of consistancy or cohesiveness. Redolent with imaginary and symbolic elements, they have their source in history – in the history of a people as well as in the history of each individual belonging to 33
Interview 15.2.2010. Übersetzung aus dem Russischen. Diese und alle folgenden Übersetzungen aus dem Russischen stammen von der Autorin.
34
Freud (1976): Der Dichter und das Phantasieren, 222.
35
Löw (2007): Zwischen Handeln und Struktur, 83.
84 | GENERATION „KOSCHER LIGHT“
that people.“36 Die Imaginationen sind somit ein nicht wegzudenkender Teil im Prozess der Konstruktion von Charlottenburg als einen „jüdischen Raum“. In ihren Imaginationen greifen russischsprachige Juden, wie Lefebvre oben treffend behauptet, oft auf die Vergangenheit zurück. Stellvertretend für viele ähnliche Aussagen meiner Interviewpartner sollen hier zwei Beschreibungen stehen: „Schon die ersten Juden in Berlin haben in Charlottenburg gewohnt, weil es das zentrale Westviertel Berlins war. Früher wohnten viele am Ku’damm. Noch 1998 war Ku’damm ein Viertel – das ja! Heute ist Ku’damm, mild ausgedrückt, ein Nichts. Alle ‚unsere‘ Leute wohnen im Westen, im Osten gibt es kaum Juden.“ 37
Oder: „Was für mich in Berlin das jüdische Leben ausmacht, ist wiederum auch Charlottenburg und auch Wilmersdorf, weil ich weiß, dass da früher sehr viele jüdische Bewohner lebten, vor dem Krieg. Jetzt ist aber Charlottenburg wieder zu einem Kern von jüdischem Leben in Berlin geworden. Wobei ich das nicht ganz mit der Religion zusammenbringen kann, das ist einfach das Lebensgefühl, dass ich weiß, dass dort viele Juden gelebt haben.“38
Zwar bemerkt Karl Schlögel, dass Vergleiche zwischen dem früheren russischjüdischen Leben in Berlin, vor allem dem Berlin der 1920er Jahre und dem von heute, in die Irre führen. Damals flüchteten Juden, weil sich das sowjetische System neu konstituiert hatte, heute, weil es auseinander gebrochen ist. 39 Aber wenn 36
Lefebvre (1997): The Production of Space, 41.
37
Feldnotizen 6.4.2010.
38
Mental Mapping-Sitzung 8.6.2010. Alexander konstatiert in Bezug auf das Wohnverhalten der Berliner Juden im 19. Jahrhundert: „Auch wenn Juden innerhalb von Berlin wohnen konnten, wo sie wollten, zeigt doch eine genauere Betrachtung der Verteilung jüdischer Bevölkerung über die Stadtfläche, daß man bevorzugt in enger Nachbarschaft miteinander wohnte. So zogen selbst Juden in schwachen wirtschaftlichen Verhältnissen nahezu nicht in die ausdrücklich proletarischen Stadtviertel wie Wedding oder Neukölln; auch wenn Juden in industriellen Bereichen erwerbstätig waren, wohnten sie kaum in Spandau. Daraus ergibt sich, daß Juden im Gegensatz zur allgemeinen Bevölkerung bevorzugt in gemeinsamer Nachbarschaft wohnten und ihrer Erwerbstätigkeit oft in entsprechender Entfernung vom Wohnort nachgingen.“ Alexander (1995): Die jüdische Bevölkerung Berlins, 121.
39
Schlögel (2007): Das russische Berlin, 425.
DIE NEUEN JUDEN VON CHARLOTTENBURG | 85
solche Parallelen die Wahrnehmung des Raumes durch die Akteure mitbestimmen, lassen sie sich unmöglich ignorieren. In diesem Zusammenhang behauptet Aleida Assmann, dass, wenn Migranten ihre Räume konstruieren, diese hauptsächlich durch Erinnerung und historische Interpretationen bestimmt sind, wobei Gruppenerinnerung und Gruppenidentität untrennbar miteinander verbunden sind.40 Demnach lässt sich die Gruppe der russischsprachigen Juden als eine Erinnerungsgemeinschaft bezeichnen, die mit ihrer Vergangenheit ihre Unterschiedlichkeit zu anderen Gruppen begründet, das heißt, dass sie nach außen die Differenz betont und nach innen den Zusammenhalt zwischen den Gruppenmitgliedern stärkt.41 Dabei wird die Erinnerung stets in die gegenwärtigen Sinnbezüge eingebettet, vor deren Hintergrund sie von den Gruppenmitgliedern immer wieder neu definiert und ausgelegt wird. Deshalb möchte ich im folgenden Analysebeispiel auf die aktuellen Verhältnisse eingehen, die für das augenblickliche Leben in Berlin-Charlottenburg charakteristisch sind. Eines Tages rief mich ein Bekannter an. Er hätte während eines Workshops, in dessen Verlauf junge Juden aus Deutschland gemeinsam über die jüdische Identität in Europa diskutierten, einen spannenden, in Moskau geborenen jungen Mann kennengelernt und ihm von meiner Forschung erzählt. Ich sollte ihn unbedingt anrufen und ein Interview mit ihm führen. Am Telefon sagte mir Sergej in perfektem Russisch – immerhin war er schon 14 Jahre alt, als er mit seiner Familie nach Deutschland einwanderte – dass er bereit sei, an meiner Studie teilzunehmen. Es würde ihm im Moment auch zeitlich gut passen, da er nun als 33jähriger Volljurist auf der Suche nach einer Stelle und an keine Arbeitszeiten gebunden sei. Während einer Mental Mapping-Sitzung zeichnet mir Sergej die Orte in Berlin, welche in seinem Alltag eine Rolle spielen: „Hier ist Charlottenburg. Nu, erstens, wohnt in Charlottenburg meine Schwester Rita mit Familie sowie meine Mutter und mein Vater. Dann, hier wohne ich. Das ist sehr interessant, weil im geographischen Sinne bilden wir ein… Meine Rita wohnt in Halensee, deswegen bewegen wir uns fast die ganze Zeit in diesem Dreieck: dorthin, hierhin und zurück. Meine Freundin Anja und ich gehen viel zu Fuß, entweder zu den Eltern oder zu Rita, oder entlang der analogischen Routen.“42 (Vgl. Abbildung 1)
40
Assmann (2009): Erinnerungsräume.
41
Zunehmend beschäftigen sich auch ethnologische Studien mit dem Zusammenhang zwischen Räumen, Erinnerung und sich wandelnden Identitätskonstruktionen, vgl. Bender/Winer (Hg.) (2001): Contested Landscapes; Stewart/Strathern (Hg.) (2003): Landscape, Memory and History; Dürr (2005): Identitäten und Sinnbezüge in der Stadt.
42
Mental Mapping-Sitzung 23.6.2010. Übersetzung aus dem Russischen.
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Abbildung 1: Mental Map von Sergej
Sergejs Familie spielt für sein mentales Bild von Charlottenburg die wichtigste Rolle. Die Form des Dreiecks, mit dem er die gegenseitigen familiären Beziehungen ausdrückt, bilden nach Martina Löw einen klassischen Fall von „Synthese“ und „Spacing“ – zwei Prozesse, die der Raumkonstruktion immanent sind. Löw definiert den Raum als „eine relationale (An-) Ordnung sozialer Güter und Lebewesen“, welche zunächst durch die „Syntheseleistungen“ in Beziehung zueinander gesetzt und als nächstes an bestimmte Orte „platziert“ werden.43 Dabei hebt Löw die handlungstheoretische Dimension des Raums hervor: Eine der Möglichkeiten, die Dinge oder Menschen in Relation zueinander zu setzen, geschieht durch den Einsatz unserer Körper, in dem wir spüren, riechen, tasten, oder eben durch die physische Bewegung, die Verbindung zwischen Dingen im Raum erfahren und wahrnehmen.44 Die Spaziergänge zwischen den Wohnungen seiner Familie und seiner eigenen bestimmen die Beziehungen zwischen Menschen und Orten, die für Sergej und sein Bild von Charlottenburg zentral sind. Das jüdische Charlottenburg ist für ihn somit ein Raum der Nahbeziehungen. Wie ich weiter unten zeigen werde, wird Sergejs Bild von Charlottenburg nicht 43
Löw (2004): Raum – die topologischen Dimensionen der Kultur, 57f.
44
Löw (2007): Zwischen Handeln und Struktur, 81.
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nur durch Familienangehörige und Freunde, sondern vor allem durch deren Anbindung an die, in der Nähe gelegenen, jüdischen Einrichtungen bestimmt. Es sind Imaginationen, historische Bilder und Nahbeziehungen mit ihrem leiblich-körperlichen Aspekt, die an der Herstellung des mentalen Bildes vom jüdischen Charlottenburg mitwirken. Der physische Raum wird hier in das symbolische System einer Kultur integriert und geht aus dieser neuen sinnbildlichen Besetzung als identitätsstiftend wieder hervor. Bestimmte Identifikationspraxen, die mit dieser Symbolik einhergehen, werden im folgenden Abschnitt beschrieben. Dabei wird auf unterschiedliche Verständnisse des Jüdischseins eingegangen, die die Selbstbilder junger russischsprachiger Juden prägen.
V ON DER B EDEUTUNG , IN B ERLIN ZU SEIN
EIN
„ RICHTIGER J UDE “
Die erste Generation der russisch-jüdischen Einwanderer brachte ein Verständnis des Judentums mit, das sich grundlegend von der in Deutschland verbreiteten Auffassung des Jüdischseins unterschied. Während die Bezeichnung „Jude“ in Deutschland sowohl für die jüdischen als auch für die nicht-jüdischen Kreise in erster Linie Religionszugehörigkeit bedeutete, begriffen die meisten jüdischen Einwanderer aus der GUS sich weniger als Teil einer Glaubensgemeinschaft, sondern viel mehr als Teil einer gemeinsamen Ethnie.45 Ein Jude zu sein bedeutete in der Sowjetunion die Zugehörigkeit zu einer Nationalität, und in den sowjetischen Pässen wurde in der berühmt-berüchtigten „fünften Zeile“ unter nationalnost’ „Jude“ in Analogie zu „Russe“, „Ukrainer“, „Deutscher“ oder „Tatar“ vermerkt. Siebzig Jahre der religionsfeindlichen Sowjetherrschaft trugen dazu bei, dass bei dem überwiegenden Teil der sowjetischen Juden das religiöse Verständnis des Judentums gänzlich durch das ethnische ersetzt wurde. Wie jegliche ethnische Zuschreibung, ging auch das Jüdische unter den sowjetischen Juden mit einem passiven Zugehörigkeitsverständnis einher, das auf der biologischen Abstammung beruhte. Das Jude-Sein wurde weder mit einer aktiven Ausübung der Religionsgesetze noch mit einer bestimmten geistigen Einstellung assoziiert, die die Mitgliedschaft in einer Religionsgemeinschaft stets voraussetzt. Vielmehr 45
Auf die Diskrepanz zwischen dem ethnischen Verständnis des Jüdischseins in der Sowjetunion und dem religiösen in Deutschland wird mittlerweile beinahe in jeder Studie über die russischsprachigen jüdischen Migranten hingewiesen. Vgl. exempl. Lagodinsky (2011): Zur politischen Positionierung der Juden in Deutschland, 185; Gotzman/Kiesel/Körber (2008): Im gelobten Land? 8f.
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war es mit einer solchen physisch-konkreten Eigenschaft wie „Blut“ verbunden, die man durch die Geburt erworben hat und sein ganzes Leben lang unabhängig von eigenen Leistungen besaß.46 Nach ihrer Einwanderung nach Deutschland trafen die meisten russischsprachigen Juden auf ein ihnen gänzlich unbekanntes und in der Sowjetunion längst verlorengegangenes Verständnis des Jüdischseins. In ihrem ethnischen und kulturellen Selbstverständnis des Jüdischen fanden sie sich als Teil einer jüdischen Gemeinde wieder, die es als ihre Aufgabe betrachtet, „jedem Juden in Berlin eine religiöse Heimat [zu] bieten.“47 Auch beschreibt der Zentralrat der Juden in Deutschland als eins seiner Hauptanliegen, die Neueinwanderer in die Gemeinde zu integrieren, indem „die Menschen an ihre jüdischen Wurzeln und ihren jüdischen Glauben, den sie in ihren Heimatländern nicht ausüben konnten, herangeführt werden […].“48 Zugleich gilt in Deutschland die halachische Auslegung des Jüdischseins, nach der nur derjenige ein Jude ist, der von einer jüdischen Mutter abstammt oder zum Judentum konvertierte. Im ethnischen Verständnis des Jüdischseins der ex-sowjetischen Juden wird dagegen derjenige als Jude betrachtet bei dem mindestens ein Elternteil, ob Vater oder Mutter, jüdisch ist. Wie entwickelte sich aber das Selbstverständnis des Jüdischseins bei der jungen Generation der Einwanderer, die sowohl mit dem Ethnischen der Eltern, als auch mit dem Religiösen der Residenzgesellschaft aufgewachsen sind? An dem Tag, an dem ich Sergej auf Empfehlung eines Bekannten anrief, zeigte er sich an meiner Studie stark interessiert. Wie er sagte, wollte er jede Gelegenheit nutzen, um sich über die jüdische Identität zu unterhalten, da ihn dieses Thema momentan sehr beschäftige. Wir verabredeten uns am U-Bahnhof Charlottenburg: Sergej schlug diesen Ort vor, weil er zehn Minuten von dort entfernt wohnt. Er bot an, in den ruhigen Lietzenseepark unweit der Wilmersdorfer Straße zu gehen, den er als seinen „karmannyj park“ (portativen Park) bezeichnete. Ich zeigte mich wegen seiner Wahl des Ortes etwas besorgt und deutete auf meine blaue DIN A3 Mappe, in der mehrere weiße Papierblätter darauf warteten, mit Sergejs mentalen Stadtkarten bemalt zu werden und definitiv nach einem Tisch verlangten. Sergej beruhigte mich: Es gebe in diesem Park einen Tisch, immerhin würde er öfters dort joggen gehen und den Park mittlerweile wie seine fünf Finger kennen.
46
Vgl. Gitelman (2009): Jewish Identity and Secularism in Post-Soviet Russia and Ukraine, 248, 252.
47
Webseite der Berliner Jüdischen Gemeinde.
48
Webseite des Zentralrats der Juden in Deutschland.
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Als ich die Blätter ausbreitete, bat ich Sergej, darauf die Orte in Berlin zu zeichnen, die in seinem tagtäglichen Leben eine Rolle spielten. Sergej schaute mich fragend an: „Alle Orte? Sicherlich interessieren dich besonders Orte mit religiöser Anbindung?“ Ich zögerte. Sergej wusste von meinem Forschungsvorhaben und wollte mir mit seinem Vorschlag in diesem Moment entgegenkommen. Hätte ich jetzt seine Frage bejaht, hätte ich suggeriert, dass seine mentale BerlinKarte überwiegend aus Orten jüdischen religiösen Lebens bestünde. Also entgegnete ich mit Nachdruck, dass mich alle Orte interessierten, an denen er sich in seinem Alltag aufhält. Sergej aber ließ nicht locker und betonte, dass als er vor zwei Jahren zum ersten Mal Israel besuchte, dort eine Verpflichtung verspürt hatte, sich mit religiösen Fragen auseinanderzusetzen.49 Spätestens jetzt begriff ich, dass er unsere Mental Mapping-Sitzung als eine Gelegenheit betrachtete, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. Das Zeichnen seiner Berlin-Karte beginnt Sergej in Charlottenburg. Nachdem er als Erstes die Wohnorte seiner Familie markiert hatte, kommen Synagogen hinzu: Nacheinander werden fünf Synagogen auf seiner Berlin-Karte verteilt, von denen zwei in Charlottenburg liegen. Bei diesen beiden Synagogen fällt mir auf, dass deren Verortungen auf Sergejs Karte nicht den tatsächlichen geographischen Koordinaten entsprechen. Das streng-orthodoxe Chabad-Zentrum in der Münsterschen Straße platziert Sergej am Adenauerplatz und auch die Synagoge in der Joachimstaler Straße landet auf seiner Zeichnung in der Fasanenstraße: In Wirklichkeit befindet sich dort zwar das Gebäude der Jüdischen Gemeinde, aber kein Betraum. Ich hake nach und frage, wie oft er in diese Synagogen gehe. Daraufhin gibt Sergej zu, er selbst sei bei Chabad bloß ein paarmal gewesen, und die Fasanenstraße kenne er hauptsächlich aus den Erzählungen seiner Eltern, die dort öfters Konzerte oder Diskussionsabende besuchen. Die Synagogen gehören also nicht zu den Orten, die Sergej in seinem Berliner Alltag frequentiert, werden aber trotzdem von ihm in unserem Gespräch mit einer großen Gewichtung versehen. Warum tut er das? Hätte Sergejs Zeichnung anders ausgesehen, wenn an meiner Stelle eine andere Person gewesen wäre? Hätte Sergej einer nicht-jüdischen Forscherin mit einem deutschen Hintergrund womöglich andere Orte als „seine jüdischen Orte“ in Berlin aufgezeigt? In unserem Gespräch macht Sergej deutlich, dass ihm unser gemeinsamer Hintergrund als russischsprachige Juden stets bewusst ist und, dass er mich in dieser Hinsicht für eine „Expertin“ für jüdisches Leben in Berlin hält. Wenn er über bestimmte russischsprachige Personen spricht, die in seiner Biografie eine Rolle spielen, deutet er mit Nebensätzen wie, „die kennst du bestimmt“ darauf 49
Feldnotizen 23.6.2010.
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hin, dass er mir gewisse Zusammenhänge nicht erläutern muss. Auch werden gewisse Problematiken im Verhältnis zwischen den „Alteingesessenen“ und „Neuankömmlingen“ mit Sätzen wie „du weißt ja selbst, wie das ist“ begleitet. Nach Sergejs Auffassung, kann er mich mit Erzählungen aus dem Alltag russischsprachiger Juden nicht beeindrucken. Um mich zu überraschen und mir die in seinen Augen neuen und frischen Informationen zu liefern, wählt er eine „jüdisch-religiöse Identitätsstrategie“ und bietet mir ein eher ungewöhnliches Bild eines jungen russischsprachigen Juden an, der sich für die religiöse Seite seines Jüdischseins interessiert. Im Laufe des Interviews fällt mir auf, dass es weniger Synagogen, sondern viel mehr Wohnungen von Freunden, Bekannten oder Verwandten sind, die Sergej mit seinen religiösen Überzeugungen in Verbindung bringt. Als er auf seiner Berlin-Karte die Chabad-Synagoge markiert, schreibt er daneben die Namen seiner Freunde auf, die er mit diesem Ort verbindet: Doron und Hanna. Dabei erklärt er, dass er Schabbat viel lieber bei ihnen zu Hause verbringt, als in der Synagoge: „Hier, am Adenauerplatz, wohnt Doron, ein Bekannter von mir, den ich in den Referendariatszeiten kennengelernt habe. Er ist ein orthodoxer Jude und geht in die Synagoge am Adenauerplatz. Er ist ein Deutscher, der lange Zeit in Israel lebte, dann aber zurückkehrte, weil er der Meinung ist, dass man als Jude in Deutschland ein viel ruhigeres Leben führen kann. Aber wir wollen hier nicht die Frage eröffnen, wer ein Patriot ist und wer nicht, und wer die Tora richtig befolgt und wer nicht…“50
Was Sergej hier andeutet, ist die Tatsache, dass er mit Doron Diskussionen darüber führt, was es bedeutet, „ein richtiger Jude“ zu sein. Die Loyalität zu Israel und die jüdische religiöse Praxis sind dabei zwei zentrale Themen, die den beiden jungen Männern als Grundlage für die Diskussionen über Identitätsfragen dienen. Für Doron, der wie viele andere junge Israelis die ehemalige „NaziStadt“ Berlin für sich entdeckte und sich deswegen mit Illoyalitätsvorwürfen in Bezug auf seine jüdische Heimat auseinandersetzen muss, empfindet Sergej eine geistige Nähe. Denn nicht nur Dorons, sondern Sergejs eigenes Verhalten als „richtiger Jude“ wird von anderen Juden in Frage gestellt: „Ich fühle mich weder an die eine noch an die andere Synagogengemeinde gebunden und ich bin froh darüber, dass ich hier und dort zum Schabbatgottesdienst gehen kann. Aber es ist mir unangenehm, wenn an manchen Orten zu mir Leute kommen, mich gönnerhaft auf
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die Schulter klopfen und sagen: ‚Na, Sergej, wann fängst du an koscher zu leben?‘ Oder: ‚Wann lässt du endlich alle deine komischen Witze und wirst ein richtiger Jude?‘ Was ich eigentlich möchte, ist, mir die Lehre, die Tora selbst beizubringen. Aber es ist sehr problematisch, ein Selbsthilfebuch zu Tora zu finden, weil man die Gesetze in der Regel mit den anderen diskutieren muss. Eine solche Diskussionsgruppe habe ich noch nicht gefunden, aber das wünschte ich mir sehr. Ich spüre die Verantwortung, mich mit der Religion zu beschäftigen, Grundlagen zu kennen, manchmal Schabbatgottesdienste zu besuchen und mit anderen Menschen mich über religiöse Themen, wenn auch nur über kleinere unbedeutende Traktierungen von bestimmten Toraabschnitten, um die Vorstellung von meinem Glauben zu haben, weil ich diesen in mir fühle und weiß, dass ich ihn repräsentiere.“51
Sergej interessiert sich wenig für die praktizierende Seite des Judentums, die in der Regel mit Synagogen verbunden wird. Die täglichen Vorschriften der koscheren Küche sowie das Arbeitsverbot an den Feiertagen empfindet er, wie er mir weiter erzählt, als einengend. Um mit Vorwürfen wegen seiner mangelnden Praxis nicht konfrontiert zu werden, stattet er Synagogen nur gelegentlich Besuche ab. Es ist ausschließlich die philosophische Seite des jüdischen Glaubensgesetzes, die ihn interessiert, wobei er auch hier auf tradierte Auslegungen der Tora verzichtet und sich die Lehre durch das Selbststudium anzueignen versucht. Auch hier entwickelt Sergej seine eigene Identitätsstrategie, die es ihm ermöglicht, die praktizierende, philosophische und ethnische Seite des Jüdischseins miteinander zu vereinbaren. Somit gibt er sich nicht mit den existierenden Identitätszuschreibungen wie „jüdisch-religiös“ oder „jüdisch-kulturell“ zufrieden, sondern ordnet sich selbst in die einzig und allein von ihm geschaffenen Kategorien des Jüdischseins ein und macht es somit notwendig, anstatt von Identitätszuschreibungen von Identitätszuordnungen zu sprechen. Dass Sergej sich nicht gerne in die vorgefertigten Kategorien hineinstecken lässt, macht auch eine Szene deutlich, die unserem Interview vorhergeht. Als ich Sergej bitte, auf einem weißen Blatt Papier seine Berlin-Karte zu zeichnen, lege ich mehrere bunte Stifte vor ihm auf den Tisch. Daraufhin zieht er einen Kugelschreiber aus seiner Brusttasche mit der Bemerkung, er habe stets sein eigenes Werkzeug parat, das er viel lieber benutze. Im Laufe meiner Feldforschung wurde deutlich, dass Sergej keinesfalls der einzige unter meinen Akteuren war, der nach einer eigenen Identitätsform für sein Jüdischsein suchte.
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AUF
DER
S UCHE
NACH DER
„ EIGENEN R ELIGION “
Es ist die starke symbolische Kraft der sechs Synagogen in Verbindung mit einer Großzahl an privaten Wohnungen und nicht-religiösen Treffpunkten, die sich gerade in Charlottenburg-Wilmersdorf als fruchtbar für die Suche nach einer eigenen Form des jüdischen Selbstverständnisses erweist. Und es ist die Möglichkeit, sich nach den Gottesdiensten in die Wohnungen von Freunden und Bekannten oder in die Räumlichkeiten der Jüdischen Gemeinde in der Fasanenstraße oder des Familienclubs Bambinim in der Uhlandstraße zurückzuziehen, um sich über die Bedeutung von Gebeten oder Ansprachen von Rabbinern auszutauschen. Wie an jenem Freitagabend, als eine kleine Gruppe russischsprachiger Juden, unter anderem auch Anton und Vlad, sich nach dem Schabbatgottesdienst bei Chabad Lubawitsch in die Charlottenburger Wohnung von Anton nahe der Konstanzer Straße zurückzogen. Anton und Vlad habe ich am Pessach Sederabend einige Wochen vorher kennengelernt. Anton, heute 24 Jahre alt, kam mit sechzehn Jahren mit seiner Familie aus Moskau direkt nach Berlin. Vlad, heute 28 Jahre alt, kam mit 12 Jahren aus dem litauischen Wilna zunächst in eine Kleinstadt in Mecklenburg-Vorpommern, studierte dann in Greifswald und zog vor einem Jahr nach Berlin um. In Antons Wohnung fand folgende Diskussion statt, die sich aus der Frage nach der Stellung der Frau im Judentum entwickelte: Vlad:
„Ich finde nicht, dass Frau in der Tora unterdrückt wird. Wenn man die Geschichten liest, so steht hinter jedem großen Mann eine Frau.“
Anton: „Das ist deine persönliche Art der Auslegung. Wenn du liest, wie über die Frauen geschrieben wird, heißt es immer, sie sind das Eigentum des Mannes. Auch in den zehn Geboten: du sollst das Haus des Nachbarn nicht wünschen, sein Vieh und seine Frau - die Frau wird in eine Reihe mit Gegenständen gestellt. Hast du schon mal Talmud gelesen, wo die Tora ausgelegt wird?“ Vlad:
„Nein, ich lese grundsätzlich keine Kommentare. Dafür habe ich meinen eigenen Kopf. Aber trotzdem habe ich sehr viele Bücher über jüdische Religion gelesen und weiß viel darüber. Ich habe auch gelesen, dass die jüdische Abstammung früher nach dem Vater ging. Das hat man zu Zeiten der Kreuzzüge geändert, weil damals sehr viele Kinder geboren wurden und es sehr schwierig war, den Vater zu identifizieren.“
Anton: „Bist du dir da sicher? Ich weiß, dass es noch zu Zeiten des Babylonischen Exils geändert wurde, weil die Gelehrten damals eine klare Ansage gemacht haben, Juden sollen sich nicht mit den anderen Völkern vermischen. Das, was du erzählst, Vlad, ist nicht die traditionelle Auslegung. Du hast dir Auslegungen rausgesucht, die für dich passend und akzeptabel sind, aber alles andere hast du einfach ver-
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worfen. Ich bin ja schon sehr demokratisch, aber auch mir stehen Haare zu Berge, wenn ich dir zuhöre. Stell dir vor, an meiner Stelle wird irgendein Orthodoxer sitzen! Eins verstehe ich nicht: Wenn du keine Kommentare liest, dann musst du ja alles, was in der Tora steht, wortwörtlich hinnehmen. Und da gibt es so viele Stellen, wo es steht ‚töte, töte, töte‘ – denjenigen, der das und jenes getan hat. Wie legst du das denn aus? Was ist, wenn du bestimmte Dinge nicht verstehst?“ Vlad: „Dinge, die ich nicht verstehe, schiebe ich erst mal zur Seite und warte, bis ich jemanden gefunden habe, der mir das erklären kann. Sonst habe ich meinen eigenen Kopf, der besser als alle Kommentare ist.“ Anton: „Das ist kein Judentum, Vlad, was du da betreibst. Tora ist kein Judaismus. Ich gehe ja jetzt im Sommer nach Jerusalem an die Jeschiwa und wenn ich mir meinen Stundenplan dort angucke – sind 12 Stunden am Tag Unterricht und alles Kommentare, Kommentare, Kommentare. Tora wird nicht gelesen. Du hast für dich eine besondere Religion geschaffen, deine eigene, die für dich passt. Für dich hat das Judentum mit Emotionen zu tun und nicht mit dem Wissen. Wenn dir irgendwas nicht gefällt, dann ist es falsch. Du erinnerst mich sehr an meine Mutter. Wenn ich sie frage, warum sie heute nicht beim Gottesdienst war, sagt sie, ihre Freundin war nicht mitgekommen, oder sie findet den Rabbiner doof. Ihr müsst euch echt mal treffen.“ 52
Dieses Gespräch ist aus mehreren Gründen signifikant. Ähnlich wie Sergej, weigert sich auch Vlad tradierte Kommentare zur Tora – den Talmud in seinen diversen Varianten – für seine Auseinandersetzung mit der jüdischen Religion heranzuziehen. In seinem Gespräch mit Anton, der schon als Kleinkind in Moskau mit seinem Großvater regelmäßig in die Synagoge ging und das Gebetsbuch, Siddur, nahezu auswendig kannte, wirken seine Repliken eher als Lebensweisheiten und nicht als religiöse Kommentare. In diesem Gespräch, das sich wie eine Vernehmung anhört, ist Vlad derjenige, der sich gegen seinen Vernehmer verteidigen muss und dabei seine Unsicherheit durch eine reservierte Zurückhaltung zu kaschieren versucht. Auf dem Weg zur U-Bahn, als Vlad und ich zu zweit sind, sagt er nachdenklich zu mir: „Vielleicht hat Anton Recht mit dem, was er über die ‚eigene Religion‘ sagt. Aber wenn man wie ich jahrelang in einer mecklenburgischen Kleinstadt lebte, wo es keine Gemeinden und keine Juden gibt, bleibt einem nichts anderes übrig, als seine eigene Religion zu entwickeln.“ Bei unseren späteren Treffen erzählte mir Vlad immer wieder, dass er nach Berlin mit der Absicht gekommen war, das jüdische Leben zu finden. Ähnlich wie Sergej, der mit seiner Fami52
Feldnotizen 25.4.2010.
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lie im westfälischen Stolberg landete, obwohl die gesamte Verwandtschaft, die früher eingewandert war, es nach Berlin geschafft hatte, 53 war auch für Vlads Familie Berlin bei ihrer Ankunft schon eine „geschlossene“ Stadt, die ihre Aufnahmequote an Einwanderern erreicht hatte. Viele Familien landeten deswegen in den Kleinstädten oder sogar Dörfern, wo es, wie Vlad berichtet, keine Juden und keine Gemeinden gab. Zwar hielten die Einwanderer in den meisten Fällen zueinander engen Kontakt, aber an traditionelle Einrichtungen des jüdischen Lebens wie Gemeindezentren, Synagogen, Mikwaot (rituelle Tauchbäder) oder koschere Lebensmittelläden war nicht zu denken. Im Laufe meiner Feldforschung entdeckte ich zwei verschiedene Gruppen von jungen russischsprachigen Juden, die sich entlang der Form des Torastudiums spalteten. Die erste Gruppe bildeten jene Juden, die vor 1992 nach Berlin gekommen waren und auf ihrer religiösen Suche regelmäßig die Schiurim (Lerntreffen), den Unterricht der Rabbiner an den Jeschiwot (Talmudhochschulen) oder Synagogen besuchten und sich mit den traditionellen Auslegungsformen der Tora, wenn nur in groben Zügen, auskannten. Sie mussten sich das hebräische Alphabet aneignen, sei es nur um während ihrer Bar Mizwa oder Bat Mizwa einen Toraabschnitt im Original vorlesen zu können. Die zweite Gruppe bildeten jene die erst später, schon als junge Erwachsene, nach Berlin kamen. Sie waren weder in den jüdischen Jugendclubs sozialisiert, noch sind sie in die Machanot (jüdische Ferienlager) gefahren – beides Angebote, die die Jüdische Gemeinde jüdischen Kindern zur Verfügung stellt. Ihre Auseinandersetzung mit der jüdischen Religion geschah nicht im Rahmen der Sozialisation, sondern vielmehr in Form einer bewussten Debatte während ihrer postadoleszenten Jugendphase. Ihr Umgang mit Angeboten der jüdischen Glaubenspraxis, Bildung und Freizeit, die sie in Berlin vorfanden, war daher weder durch Naivität noch durch Selbstverständlichkeit gekennzeichnet, wie dies für Menschen charakteristisch ist, die bestimmte Orientierungs- und Handlungsgrundlagen bereits in ihrer Kindheit verinnerlicht haben. Sicherlich lässt sich das jüdische Selbstverständnis der russischsprachigen Einwanderer nicht auf die religiöse Komponente reduzieren. Vielmehr wird es durch eine Heterogenität gekennzeichnet, die sich im Spannungsfeld zwischen den Eigenbildern, welche die Einwanderer mitbringen, und den Erwartungen, mit denen sie im deutsch-jüdischen Kontext konfrontiert werden, entwickelt. Ein großer Teil der jungen russischsprachigen Juden definiert ihr Jüdischsein nicht 53
Die Geschichte der Einwanderung von Sergejs Familie wird in Kapitel „Urbane Treffs und Partys als urbane Räume der Wiedervergemeinschaftung“ dieser Arbeit ausführlich erzählt.
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durch Religion, sondern bringt es vor allem mit Kultur, Geschichte, Humor und Abstammung in Verbindung, was häufig von einer ablehnenden Haltung gegenüber der religiösen Seite des Judentums begleitet wird. Nicht wenige distanzieren sich außerdem gänzlich von ihrem Jüdischsein und würden sich weder selbst, noch von den anderen, als jüdisch bezeichnen lassen. Eine weitere Variante des jüdischen Lebensentwurfes ist eine komplette Hingabe zur Religion, so wie sich diese in der streng-orthodoxen jüdischen Gemeinschaft, die sich Berlin-Prenzlauer Berg um die Lauder Foundation gebildet hat, beobachten lässt. Im Gegensatz zu der oben beschriebenen radikalen Verneinung, ist hier die radikale Hinwendung zum Judentum zu beobachten, gekennzeichnet durch ein enges soziales Netzwerk und nicht selten einen Bruch mit dem Elternhaus, wenn das gemeinsame Beisammensein unter anderem durch unterschiedliche Speisegesetze unmöglich wird.54 Rückt man allerdings den Raum Berlin-Charlottenburg ins Zentrum der Untersuchung, wird besonders die kreative Suche nach einer eigenen Auslegung des Judentums unter jungen russischsprachigen Juden deutlich. Durch die hohe Konzentration jüdischer Bewohner und jüdischer Einrichtungen in Berlin-Charlottenburg lässt sich dieser Stadtteil als ein „jüdisches Viertel“ und ein „sozialer Raum“ zugleich begreifen, in dem das jüdische religiöse Selbstverständnis ausgehandelt wird. Die Freiheit und Individualität der Großstadt erlauben dabei, dass das traditionelle Verständnis vom Judentum hinterfragt wird und dass mehrere Selbstverständnisse der jüdischen Religion und Eigenzuordnungen zum Judentums, auch jenseits des Religiösen, nebeneinander existieren können. Als Folge der hohen Ausdifferenzierung der großstädtischen Gesellschaft muss ein Kampf um Anerkennung geführt werden, der zur Individualisierung führt. Dort „[w]o die quantitative Steigerung von Bedeutung und Energie an ihre Grenzen kommen, greift man zu qualitativer Besonderung, um so, durch Erregung der Unterschiedsempfindlichkeit, das Bewusstsein des sozialen Kreises irgendwie für sich zu gewinnen […].“55 In Berlin, mit einer großen Zahl an Synagogen und sonstigen jüdischen Vereinigungen mit religiösem Inhalt, ist das Streben nach eigener Form des religiösen Ausdrucks besonders hoch. Der Kampf um gesellschaftliche Anerkennung, der dabei im Mittelpunkt steht, ist bei jungen Leuten besonders stark ausgeprägt. Bei den Zugezogenen wird dieser Druck erhöht: Nicht nur die Anerkennung in der jüdischen Gesellschaft, sondern auch der Status als Berliner muss ausgefochten werden. Hier gewinnt die individuelle Image-Variante besonders an Bedeutung: Man erhofft, 54
Gespräch mit Lara Dämmig, Mitarbeiterin der Lauder Yeshurun in BerlinPrenzlauer Berg, 10.6.2010.
55
Simmel (2006): Die Großstädte und das Geistesleben, 37.
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durch ein spezifisches Verhalten das Interesse der Gruppenmitglieder zu gewinnen, um letztendlich in die bestehende Gruppe aufgenommen oder Mitglied einer neuen „sozialen Gruppe“ im Sinne der Vergesellschaftung zu werden. 56 Diese Zuordnungen werden mit Hilfe von Distinktionen ausgehandelt, denn „Individualität kann sich nur in einer sozialen Beziehung äußern, und sie bedarf einer bestimmten Nähe und Distanz zugleich. Wir brauchen Distanz, um unsere Individualität auch tatsächlich als Differenz bemerkbar zu machen.“57
E IN R AUM
RUSSISCH - RUSSISCHER
G RENZZIEHUNGEN
Wie oben gezeigt wurde, sind religiöse Selbstentwürfe junger russischsprachiger Juden in Berlin alles andere als homogen. Religion ist aber nicht der einzige Faktor, entlang dessen eine Ausdifferenzierung der Zuordnungsoptionen innerhalb dieser Gruppe verläuft. Die spezifische kulturelle Bedeutung des Jüdischseins, die unter den russischsprachigen Juden neben der religiösen stark verbreitet ist, lässt zu, dass sowohl die kulturellen als auch besonderen jugendkulturellen Momente wie Mode und Kleidung eine Rolle bei der Gruppenbildung bzw. Abgrenzung spielen. In Berlin, das eine große ethnisch, kulturell und religiös stark ausdifferenzierte Gruppe der Russischsprachigen beherbergt, gewinnt das Russischsein als kulturelle Option bei diesen Abgrenzungen jeweils eine andere Bedeutung. In Charlottenburg lokalisieren sich diese Distinktionen und werden zu sozialen Positionierungen. Bei einem Wahrnehmungsspaziergang zeigt mir Mila ihre Wohngegend. Mila ist heute 29 Jahre alt, sie ist mit 17 Jahren mit ihrer Familie aus dem ukrainischen Dnepropetrowsk zunächst nach Dortmund eingewandert und zog vor zwei Jahren zu ihrem Freund nach Berlin um. Von der Station der U-Bahnlinie 7 Siemensdamm im Berliner Bezirk Spandau nehmen wir eine schmale Abbiegung zu Milas Haus, als sich eine große zugeschneite Wiese vor uns ausbreitet. Am Ende der Wiese ist eine lange Reihe von gleichen grauen Gebäuden, die mich an Flüchtlingswohnheime oder Militärkasernen erinnern. Durch die Wiese führt ein 56
Simmel behauptet, dass jede Individualisierung der Bildung von neuen Gruppen und Kreisen dient. Seine Theorie der Vergesellschaftung, die den Übergang von der vormodernen zur modernen Gesellschaft kennzeichnet, geht in einer postmodernen Gesellschaft mit einer noch höheren Ausdifferenzierung und Verfeinerung der Qualitäten einher, was eine besonders große Zahl an individuellen Entwürfen verlangt. Vgl. Simmel (2006): Die Großstädte und das Geistesleben.
57
Abels (2006): Identität, 175.
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schmaler Weg Richtung Häuser. „Dort wohne ich“, klärt mich Mila auf. Es ist Februar, und bei jedem Tritt knirscht der Schnee unter unseren Füßen. Am Anfang denke ich, dass wir direkt auf einen zentralen Hauseingang zulaufen, aber als wir näher kommen, wird eine Unterführung zwischen den Häusern sichtbar, auf die wir direkt zusteuern. Als wir den Tunnel erreichen, zeigt Mila auf das Graffito auf der linken Seite des Tunnels: „Siemensstadt“ (vgl. Abbildung 2). Abbildung 2: Die Unterführung in Milas Haus
Quelle: Foto Alina Gromova
Dieser Tunnel, erzählt sie, trenne das Haus in zwei Teile, die jeweils zu Charlottenburg und zu Spandau mit seiner Siemensfabrik gehören. Für Mila ist es von großer Bedeutung, dass ihr Haus noch im Charlottenburger Teil liegt, wie aus ihrer weiteren Erzählung deutlich wird: „Alle denken, diese Gegend hier wäre Spandau, aber ich wohne ja eigentlich nicht in Spandau, sondern noch in Charlottenburg. Genau an der Grenze zwischen den beiden Bezirken. Mein Haus ist das letzte Haus in Charlottenburg. Danach beginnt schon Spandau. So steht es auch bei mir im Pass: Berlin-Charlottenburg. Als ich zum BezirksamtCharlottenburg ging, um mich dort polizeilich anzumelden, wunderte sich der Beamte:
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‚Was machen Sie hier? Sie sollen zum Bezirksamt-Spandau gehen‘. Als ich ihm erklärte, dass mein Haus noch zu Charlottenburg gehörte, schaute er im Computer nach und sagte: ‚Stimmt, Ihr Haus ist tatsächlich noch in Charlottenburg‘. Ich bin ja mit einem Russlanddeutschen zusammen, und seine ganze Familie wohnt in Spandau. Und wenn wir dort zu Besuch sind, sage ich zu ihnen: Wir wohnen im jüdischen Bezirk, und ihr in dem russlanddeutschen. Und dann sind sie jedes Mal beleidigt.“58
Die russischsprachigen Spätaussiedler, zu denen Milas Freund und seine Familie zählen, und die in Berlin den Großteil der russischsprachigen Community bilden, gehören zu den 20.000 Russlanddeutschen, die in Berlin-Spandau leben.59 Die Verwaltungsgrenze zwischen Spandau und Charlottenburg materialisiert sich für Mila in einem Tunnel, der ihr eigenes Haus spaltet und dabei ihre Wohnung in den Charlottenburger Teil dieses Hauses platziert. Milas Imagination von Charlottenburg als jüdischen Bezirk wird von ihr benutzt, um sich durch Abgrenzung vom „russlanddeutschen“ Spandau ihrer eigenen Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft zu versichern. Jeden Tag, wenn Mila nach Hause kommt, vollzieht 58
Feldnotizen 11.11.2009.
59
Die russischsprachigen Spätaussiedler bilden in Berlin eine weitere Gruppe, die neben den ex-sowjetischen Juden in den letzten zwanzig Jahren aus der ehemaligen UdSSR in großer Zahl nach Deutschland eingewandert sind. Diese beiden Gruppen kommen durch zwei unterschiedliche Migrationstore: Während Spätaussiedler als Repatrianten betrachtet und schon nach einem halben Jahr eingebürgert werden, müssen Juden im Schnitt sieben Jahre auf ihre deutsche Staatsangehörigkeit warten. Diese unterschiedlichen Migrationsbedingungen, welche die einen als „Deutsche“ und die anderen als „Fremde“ etikettieren, tragen dazu bei, dass sich Gruppenzugehörigkeiten in gegenseitiger Abgrenzung entwickeln, die in der Sowjetunion in dieser Form nicht vorhanden war. Während Juden in der Sowjetunion hauptsächlich urbane Regionen bewohnten, waren Spätaussiedler in den ländlichen Regionen vorzufinden, so dass es in der Regel nicht zu einem engen Kontakt zwischen den beiden Gruppen kam. In Berlin leben die beiden Einwanderergruppen nun auf einer dicht bewohnten Stadtfläche zusammen. Während Juden weiterhin die zentral gelegenen Bezirke bevorzugen, leben Spätaussiedler, von denen viele traditionell am Zusammenleben mehrerer Generationen festhalten, konzentriert in den Randbezirken der Stadt, wo für geräumige Wohnflächen niedrige Mieten verlangt werden. Neben Spandau gilt vor allem Marzahn-Hellersdorf mit rund 25.000 Russlanddeutschen als beliebter Wohnbezirk der Berliner Spätaussiedler. Vgl. Skrabania (2011): Die Zentrale Aufnahmestelle für Aussiedler in Berlin-Marienfelde; Häußermann/Gornig/ Kronauer (2009): Berlin: Wandel, Milieus und Lebenslagen, 27.
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sich ein Ritual: Sie taucht in den Tunnel ein, in dem sich Nähe und Distanz, welche für die Aushandlung unserer Identifizierungen unabdingbar sind, materialisiert haben. Die Grenze als Ort wird zur „lokalisierten Kultur“.60 Wenn Mila eine Grenzziehung zwischen den Gruppen der Juden und der Spätaussiedler auf der topografischen Ebene vollzieht, vernachlässigt sie zunächst deren gemeinsame Zugehörigkeit zu den „Russischsprachigen“. Bereits bei meiner nächsten Bemerkung im Laufe unseres Gesprächs wird aber deutlich, dass das Russische, neben dem Jüdischen, ein fester Bestandteil in Milas Repertoire an Zuordnungsoptionen ist. Als ich andeute, dass sie die erste Jüdin sei, die ich kenne, die einen Russlanddeutschen als Lebenspartner hat, antwortet sie lachend: „Ach, was sind wir bloß für Juden, wir sind ja russische Juden. Ich habe viele jüdische Freunde, aber ich halte sie nicht für Juden. Sie wurden in der Ukraine geboren, und das sind schon andere Juden. Ein Jude, der Schweinefleisch ist, ist kein Jude mehr, so denke ich. Und bei uns essen alle Schweinefleisch. Ein Türke zum Beispiel wird nie Schweinefleisch essen, weil er ein Moslem ist. Und ein Jude… Er hat zwar eine Kippa an – na und? Wenn er Schweinefleisch ist und Schabbat nicht einhält, dann ist er ein russischer Jude.“61
Plötzlich stellt Mila ihr eigenes Jüdischsein in Frage und rückt stattdessen das Russischsein in den Vordergrund. Sie benutzt meine Zuhörerschaft dafür, um nicht nur mir, sondern vor allem sich selbst gegenüber das Gemeinsame zwischen ihr und ihrem Freund zu betonen. Auch wenn Mila über ihre in der Ukraine geborenen Freunde spricht, bezeichnet sie diese nicht als ukrainisch, sondern als russisch – ein Zeichen dafür, dass das Russische für sie den Platz einer übergreifenden kulturellen Option einnimmt.62 Die Grenzen zwischen dem Jüdischen, Russischen und Ukrainischen verschwimmen, gehen ineinander über, werden aufgehoben, so dass sich klar definierte und abgesteckte ethnische und 60
Mit der sinnstiftenden Bedeutung des Raumes für die Konstruktion von „kollektiven Identitäten“ im städtischen Kontext befasst sich auch Eveline Dürr. Am Beispiel von Hispanics im Südwesten der USA beschreibt sie wie Individuen ihre Zugehörigkeit durch geographische Räume definieren, in dem sie diese gegen andere Gruppen verteidigen. Vgl. Dürr (2005): Identitäten und Sinnbezüge in der Stadt.
61
Interview 19.3.2010. Übersetzung aus dem Russischen.
62
Darieva stellt in ihrer Studie über die russischsprachige Presse in Berlin und London auch für die späten 1990er Jahre fest, dass das „Russische“ auf der medialen Ebene zur übergreifenden Identitätsoption wurde, wobei sie das nicht mit dem „kulturellen Gepäck“ eines Russen, sondern als strategische Option der Medien entziffert, vgl. Darieva (2002): Russkij Berlin, 261–266.
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kulturelle Kategorien als nicht existierend erweisen. Auch Michal Bodemann und Olena Bagno stellen in ihrer Forschung über russischsprachige Juden in Deutschland fest, dass die Übergänge zwischen dem Jüdischen, Russischen und Deutschen in den meisten Fällen nicht greifbar sind. Während sie die russischsprachigen Juden, als „Jussen“, und somit als eine Gruppe mit eigens für sie charakteristischen Merkmalen beschreiben, werfen die Autoren die an dieser Stelle berechtigte Frage auf, ob ethnische Kategorien als analytisches Konzept heute überhaupt noch brauchbar seien.63 Jedoch ist die Praxis, die jüdischen Orientierungs- und Handlungsmuster mit Hilfe eines an die amerikanische ethnicity-Forschung angelehnten Konzeptes begrifflich zu erfassen, alles andere als überholt. So beschreibt van Rahden in seiner Studie über die Breslauer Juden in den Zeiten des Kaiserreiches und der Weimarer Republik diese als eine besondere ethnische Gruppe, die sich in ihren Denkweisen von den anderen Gruppen der Juden unterscheidet. Um die Herausbildung eines solchen eigenartigen Selbstverständnisses zu verstehen bzw. zu erklären, benutzt er den Begriff der „situativen Ethnizität“. 64 Anhand von Analysen von unter anderem Vereinszugehörigkeiten und Pressekonsum stellt er fest, dass sich Juden häufiger als Katholiken sowohl in jüdischen als auch in nichtjüdischen Gesellschaftskreisen bewegten.65 Ein solches situatives Verhalten ist van Rahden zufolge dem Umstand geschuldet, dass die jüdische Identität in Deutschland in den Zeiten des Kaiserreiches und der Weimarer Republik „nicht allumfassend, sondern situativ und [als] Teil einer Pluralität von Identitäten“ 66 gelebt wurde. Wie Jongleure spielen auch meine Akteure mit verschiedenen Zugehörigkeitsoptionen, die ihnen je nach Situation zur Verfügung stehen und ziehen immer das hervor, was ihnen gerade am Vorteilhaftesten zu sein erscheint. Zum Beispiel berichtet Lena, 25 Jahre: „Ich habe zu Hause einen Davidstern und einen Kreuz. Wenn ich in eine jüdische Clique gehe, ziehe ich den Davidstern an, sonst den Kreuz. Mein Vater – meine Mutter ist Ukrainerin mit russischem Blut – mein Vater war Jude. Er sagte, man muss sich immer anpas-
63
Bodemann/Bagno (2010): In der ethnischen Dämmerung, 171. Die Autoren verwenden die Bezeichnung „Jussen“ ausdrücklich nicht im Sinne von „hybrider Identität“ von Bhabha, sondern als eine Gruppe „sui generis“.
64
van Rahden (2000): Juden und andere Breslauer.
65
van Rahden (2000): Weder Milieu noch Konfession.
66
van Rahden (2000): Juden und andere Breslauer, 133.
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sen: wenn die Roten kommen, rote Epauletten, wenn die Weißen, die weißen. Wichtig ist, nicht zu verwechseln. So ist auch bei mir.“67
Je nach Situation, schlüpft man in verschiedene Zuordnungsangebote. Im Falle der russischsprachigen Juden wird ein solches situatives Verhaltensmuster besonders vor dem Hintergrund der sowjetischen Erfahrung mit den häufigen Machtwechseln, einem jahrzehntelangen diktatorischen Regime und dem daraus resultierenden politischen und gesellschaftlichen Opportunismus vieler Gesellschaftsmitglieder deutlich. Weiterhin wird ein solches situationsabhängiges Verhalten von Baacke vor dem Hintergrund der jugendkulturellen Spezifik mit Drang nach Selbsterprobung und Experimentierung erklärt. Es sind besonders junge Menschen, die die starren Handlungs- und Orientierungszuweisungen ablehnen und durch Ausprobieren nach kreativen und alternativen Formen von Zugehörigkeit suchen.68 Ein solches situatives Verhalten wird durch den Charakter der Großstadt besonders gefördert. Durch eine sehr hohe Bevölkerungszahl, die für eine Großstadt charakteristisch ist, wird die soziale Kontrolle stark reduziert sowie Anonymität gewährleistet. Weil die Wahrscheinlichkeit einer zufälligen Begegnung in der Großstadt mehr als gering ist, nutzen die Einwanderer die Möglichkeit, mehreren sozialen, religiösen und kulturellen Kreisen gleichzeitig anzugehören. Junge russischsprachige Berliner, die einen jüdischen und einen russisch-orthodoxen Elternteil haben, greifen daher nicht selten auf beide Zuordnungsangebote zu, ohne darin einen Widerspruch zu sehen bzw. davon verunsichert zu werden.
M ODE UND W OHNEINRICHTUNG : EIN RUSSISCH - JÜDISCHER L EBENSSTIL ? Möchte man der Spezifik der jugendkulturellen Zuordnungsmechanismen näher nachgehen, rücken besonders Mode und Kleidung in den Vordergrund. Wilfried Ferchhoff weist darauf hin, dass Kleidung und andere Modeaccessoires heute ideal dazu geeignet sind, einen Status zu erreichen, über den junge Leute Zugehörigkeit und Anerkennung, aber auch Ablehnung und Abhängigkeit erfahren.69 Durch Kleidung, von Terence Turner auch als „soziale Haut“ bezeichnet, wird unser Kontakt zur Umwelt inszeniert und gestaltet. Sie zeigt, dass ein Zusam67
Feldnotizen 17.10.2010.
68
Baacke (2007): Jugend und Jugendkulturen, 169.
69
Ferchhoff (2011): Jugend und Jugendkulturen im 21. Jahrhundert, 293–298.
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menhang besteht zwischen dem, wie wir die Person, die in der Kleidung steckt, wahrnehmen und dem, wie die Person selbst wahrgenommen werden will. 70 Insofern ist die Kleidung dafür prädestiniert, die Spannung zwischen zwei kulturellen Gruppen sichtbar zu machen. Wenn Mila versucht, mir die Unterschiede zwischen russischsprachigen Juden und Spätaussiedlern zu erklären, greift sie auf ihre Erfahrungen mit dem sich Schickmachen für den Diskobesuch im Charlottenburger Club The Home zurück, den sie einmal zusammen mit ihrem Freund, der als Spätaussiedler nach Deutschland kam, besuchte: „Für Georg ist es sehr schwierig, auf eine jüdische Disko zu gehen. Du musst dort perfekt aussehen. Wenn du ein Rock von Gucci anhast, kannst du nicht ein Oberteil von Chanel dazu anziehen. Es passt sonst nicht zusammen, und man wird dir sagen: Das geht so nicht. Du musst also alles von vorne bis hinten durchdenken. Einmal sind wir zusammen zu The Home am Ku’damm gegangen und ich habe ihm vorher erklärt was er anziehen soll. Das, das und das. Weil man das muss. Das versteht er nicht. Aber… hat er gemacht. Für mich war es auch schwierig, mich an seine Gesellschaft zu gewöhnen, sie unterscheiden sich auch von uns.“71
Das Jüdische wird von Mila mit einem starken Bewusstsein für Markenkleidung in Verbindung gebracht. Geht man mit Bourdieu davon aus, dass der Kleidungsgeschmack zu den „feinen Unterschieden“ gehört, die das „symbolische Kapital“ einer sozialen Klasse bilden, so ist die Art sich zu kleiden ein maßgeblicher Bestandteil des Habitus russischsprachiger Juden, unter dem Bourdieu „ein System verinnerlichter Muster“ versteht, „die es erlauben, alle typischen Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen einer Kultur zu erzeugen – und nur diese“.72 Ein solches habituelles Verhalten ist für Mila direkt mit der symbolischen Aufwertung ihrer eigenen Individualität und der der eigenen Gruppe verbunden und wird durch symbolische Abwertung der anderen, in diesem Fall der Gruppe der Spätaussiedler, hergestellt. Durch Distinktion bleibt ihr symbolisches, das heißt auch „kulturelles“ und „soziales Kapital“ exklusiv und unangreifbar.73 Einer ähnlichen Annahme, allerdings nicht bezogen auf soziale, sondern auf ethnische Gruppen, folgt Fredrik Barth, der mit seinem Konzept der „ethnischen Grenzen“
70
Turner (1980): The Social Skin.
71
Interview 19.3.2010. Übersetzung aus dem Russischen.
72
Bourdieu (2003): Zur Soziologie der symbolischen Formen, 143.
73
Vgl. Abels (2006): Identität, 212–215.
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behauptet, dass für die Bildung ethnischer Identitäten eine Abgrenzung von Akteuren anderer ähnlich strukturierter Gruppen zentral sei. 74 Der Charlottenburger Tanzclub wird somit im Sinne Bourdieus zum „sozialen Raum“, in dem Kleidung als „kulturelles“ und auch „ökonomisches Kapital“ für die sozialen Positionierungen sorgt. Indem man sich an den bestimmten Kleidungsstil hält und diesen provokativ und zuweilen auch aggressiv gegen alle, die sich nicht daran halten, verteidigt, schützt und kämpft man für den eigenen Raum. Allerdings wird dieser Raum nicht im Sinne von Territorialität verteidigt – denn dieser Club wird, wie auch viele anderen von russischsprachigen Juden genutzten Clubs, an jedem Wochentag von einer anderen Gruppe in Anspruch genommen. Wenn man bei dem Beispiel der Juden und Spätaussiedler bleibt, wird man feststellen, dass in der Großstadt Vorurteile von den „arroganten“ und „markenfetischistischen“ Juden auf der einen Seite und den „einfach gestrickten“ und sich „unmodisch kleidenden“ Aussiedlern auf der anderen Seite gedeihen. 75 Während Kleidungsstile nicht selten die Grundlage für gegenseitige Stereotypen und Vorurteile bilden, werden diese von den Einwanderern nicht nur zwecks Abgrenzung von der jeweils anderen Gruppe verwendet, sondern dienen nicht selten als Reflexionsfolie für die Hervorhebung eigener Individualität innerhalb der eigenen Gruppe. Beispielhaft dafür kann folgender Dialog zwischen mir und Pavel, einem jungen russischsprachigen Juden, stehen: Pavel: „Hier in Charlottenburg sieht man sehr viele Russen auf der Straße. Einen Russen kann man sofort erkennen: an der dunkelblauen Jeans und einer Lederjacke. Das sind Statussymbole. Ich finde, das sieht total dämlich aus.“ Ich:
„Was meinst du mit ‚Russen‘? Es gibt ja auch die Russlanddeutschen.“
Pavel: „Nein, sie meine ich nicht. Die Russlanddeutschen sind irgendwie außerhalb des Geschehens, oni vne. Sie haben nicht viele Ansprüche und sind irgendwie nicht sichtbar, unauffällig. Und unter den Russen, die in Charlottenburg leben, sind die meisten schon Juden.“76
74
Barth (1998): Introduction.
75
Baerwolf zeigte in ihrer Vergleichsstudie über die jungen russischsprachigen Juden und Aussiedler, dass solche Verallgemeinerungen nicht zuletzt durch die Medien aufgenommen und reproduziert werden. Vgl. Baerwolf (2006): Identitätsstrategien von jungen „Russen“ in Berlin.
76
Feldnotizen 17.6.2010.
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Ich schaue mir Pavels Kleidung genauer an: dunkelblaue Jeans, schwarzes TShirt. Es fehlt nur die Lederjacke. Aber bei den warmen Temperaturen mitten im Juni könnte man ihn wohl gemäß seiner Beschreibung für einen „Russen“ halten. Hier wird nochmals deutlich, dass die Kleidung oft eine Differenz zwischen dem Wahrgenommenen und dem Wahrnehmenden widerspiegelt. Sicherlich schaut auch Pavel meine Kleidung an: Ein Rock über die immerhin graue Jeans gezogen – eine Kombination, die zwar schon seit mehreren Jahren nicht mehr „in“ ist, die aber bei einigen Interviewpartnern immer noch ein „Du siehst gar nicht russisch aus“ hervorlockt, wenn sie von meiner ukrainischen Herkunft erfahren. Wenn ich als junge, nicht „typisch russisch“ aussehende Forscherin mich für ihren Alltag interessiere, ist die Situation eine ganz andere, als wenn eine ältere Dame direkt aus Leningrad gekommen wäre, um eine Feldstudie vor Ort zu machen. Wahrscheinlich wären in diesem Fall Sätze wie: „Die meisten russischen Juden kleiden sich unerträglich. Sie sind so flach und dumm, interessieren sich nur für Geld oder für Markenkleidung“77 nicht gefallen. Die symbolische Abgrenzung, die meine Interviewpartner gegenüber anderen Mitgliedern ihrer Gruppe vollziehen, macht deutlich, dass man nicht von einer homogenen Gruppe junger russisch-sprachiger Juden reden kann. Wie das Jüdische, wird auch das Russische als Zugehörigkeitsoption situativ verwendet und dient mal der Herstellung der Komplizenschaft, mal der Abgrenzung von anderen Mitgliedern der Gemeinschaft, die nur in den Archiven der Einwanderungsbehörden als eine mehr oder weniger holistische Gruppe existiert. Indem das Russische mit der Kleidung in Verbindung gebracht, mehr noch, in abwertend gemeinten Sätzen wie „sie kleidet sich wie eine echte Russin, mit Stöckelschuhen und Minirock“78 festgemacht wird, wird eine sonst in Bezug auf ihre Hautfarbe und Gesichtszüge „unsichtbare“ Gruppe als „sichtbar“ markiert. 79 Eine solche Abgrenzungsstrategie von der eigenen Gruppe ist ein typisches Phänomen, das man unter den Zugezogenen beobachten kann, weil sie sich mit deren Hilfe eine bessere und schnellere Integration erhoffen. Nimmt man seine eigene Herkunftsgruppe als „sichtbar“ war, wird die Wahrscheinlichkeit, mit dieser Gruppe der „Fremden“ in Zusammenhang gebracht zu werden, oft als größtes 77
Spaziergang mit Dina. Feldnotizen 5.6.2010.
78
Interview mit Marina 15.2.2010. Übersetzung aus dem Russischen.
79
Der Begriff „sichtbare Minderheit“ wurde in Kanada im Rahmen des Gesetzes für Gleichbehandlung am Arbeitsplatz (Employment Equity Act) von 1996 geprägt. Darin werden die sogenannten „sichtbaren Minderheiten“ als „Personen, die weder Ureinwohner noch von kaukasischer Abstammung oder weißer Hautfarbe sind“, bezeichnet. Vgl. dazu: Jennifer (o.A.): Länderprofil 8: Kanada. Ethnische Zugehörigkeit.
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Hindernis auf dem Weg zur Anerkennung in der Ankunftsgesellschaft angesehen, so dass es auf jegliche Auffälligkeiten zu verzichten gilt. An dem Ausdruck „echte Russin“, wird deutlich, dass das zugrundeliegende Bild der „Russen“ und somit auch das entsprechende Selbstbild einer „Nicht-Russin“ durch die Vorstellung beeinflusst wird, dass es einen „deutschen“ Kleidungsstil gibt, der sich von dem „russischen“ radikal unterscheidet. Dieses Beispiel zeigt, dass der Aushandlungsprozess der Eigenbilder nicht nur die Frage „Wer bin ich?“, sondern vor allem die Frage „Wer bin ich im Unterschied zu den Anderen?“ beinhaltet. Das Russische fungiert dabei wie ein Bumerang, der sich an dem Deutschen wie an einer Gegenwand abstößt und dabei seine Form von „Wir-Gruppe“ zu den „Anderen“ ändert. Versteht man den Bourdieu’schen Habitus-Begriff, der auf unseren Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen basiert, als ein Konzept, das unseren Lebensstil definiert, so gewinnen in Bezug darauf neben der Kleidung auch das Wohnumfeld und die Wohneinrichtung an Bedeutung. Am frühen Abend eile ich zu meiner nächsten Verabredung. Max, ein 28-jähriger Einwanderer aus dem ukrainischen Czernowitz, lud mich zu einem Interview in seine Charlottenburger Wohnung in der Nähe der Konstanzer Straße ein. Von der lauten Konstanzer Straße biege ich in eine ruhige, breite Seitenstraße ein. Ich habe den Eindruck, in einem, wenn auch urbanen, Erholungsgebiet zu sein: Links von mir bilden die alten, hohen Bäume eine saftige grüne Mauer, auf der das Auge ruht und die gleichzeitig als Schalldämpfer dient, so dass kaum Stadtgeräusche bis zu mir vordringen. Die Straßen sind menschenleer, keine Kinderstimmen sind zu hören, obwohl die Schule schon längst vorbei ist. Eine Koreanerin sitzt gelangweilt vor ihrem geräumigen Imbiss und raucht, um sich die Zeit zu vertreiben. Sonst gibt es keine anderen Lokale, nur die Eingangstüren von Wohnhäusern schauen mich mit ihren stolzen Fassaden an, während ich nach der richtigen Nummer suche. Später wird Max mir über Charlottenburg Folgendes erzählen: „Hier ist es ganz gut zu wohnen, aber hier gibt es gar nichts. Nichts. Das ist eine biedere, langweilige Gegend. Es ist wirklich so, wenn du wie ich in Charlottenburg oder Wilmersdorf aufgewachsen bist, dann tut’s mir leid. Es ist wirklich super zum Wohnen, es ist gesunde Infrastruktur, du hast halt keine Gangs von Jugendlichen, die Stress machen oder so. Du hast es auch nicht so laut, du hast bestimmte andere Konflikte auch nicht, aber natürlich, wenn man zum Beispiel essen gehen will, dann muss man woanders hin.“ 80
80
Interview 31.5.2010.
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Während ich durch die Straßen laufe, geht es mir ähnlich, seine Beschreibung trifft, wie ich finde, gut zu. Endlich finde ich Max’ Haus. Der Eingang sieht unauffällig aus, auch wenn sehr breit, so dass ich gleich erwarte, dass mir ein fetter Jeep entgegen rollt. Als nächstes stehe ich im Treppenhaus und staune: Ich bin in einem Palais. Eine Wendeltreppe führt nach oben und ich schaue hoch, bis mir schwindlig wird. Zwei Meter hohe Spiegel schmücken die Wände, Stuck, riesige Kristalllampen hängen von der Decke herunter. Aus dem Aufzug steigt ein Nachbar aus und schließt die Aufzugstür vorsichtig hinter sich mit dem Schlüssel ab. Die Gäste müssen hier also Treppen steigen, und so mache ich mich auf den Weg nach oben. Ich bin im dritten Obergeschoss und stehe vor Max’ Wohnung. Ich muss kein Namensschild lesen, ich weiß es. Ich bin kurz davor, einen „jüdischen Raum“ zu betreten, der deutlich als solcher markiert ist. Ich stehe vor der Wohnungstür und muss an alle möglichen Definitionen des „jüdischen Raumes“ denken, die mir bisher durch den Kopf gegangen sind: Ein „jüdischer Raum“ ist ein Raum, an dem jüdische Identität ausgehandelt wird; ein „jüdischer Raum“ ist ein Raum, der durch die Kraft der historischen Bilder als solcher wahrgenommen wird. Aber es ist viel simpler. Eine Mesusa hängt schräg rechts an dem Türpfosten, ein kleines Röhrchen, das ein zusammengerolltes Gebet als Schutz für das Zuhause beinhaltet. Durch eine Mesusa wird ein Raum unverkennbar als „jüdisch“ markiert. In Berlin ist es aber eher ein ungewöhnlicher Anblick, da viele Juden in Deutschland eine solche Markierung für zu gefährlich erachten. Später wird mir Max stolz erzählen, dass direkt über ihn Stephan Kramer, der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland wohnt, der auch eine Mesusa an seinem Türpfosten hängen hat, ein „jüdisches Haus“ also, meint Max. Als Max mir die Tür aufmacht und ich hineintrete, tauche ich in eine lichtdurchflutete Wohnung ein. Wir nehmen in einem übergroßen, frisch gestrichenen Wohnzimmer mit hohen Decken, Stuck, breiten Fenstern und Parkettboden Platz. Der Fernseher läuft und ich werde von einem zwei Meter breiten Flachbildschirm hypnotisiert, der den Raum dominiert. Max setzt sich direkt davor auf den Boden und entschuldigt sich: Er müsse das Playstation-Fußballspiel zu Ende spielen, sonst wird er, wie er mir erklärt, aus dem imaginären Fußballteam rausgeschmissen. Ich muss warten und nutze die Zeit, um Max’ Wohnung genauer zu betrachten. Die Wohnungseinrichtung ist sehr individuell. Ein großer Schreibtisch mit einer luftig wirkenden Glasplatte ragt seitwärts in den Raum. Ebenso mitten im Raum und nicht an der Wand, wie man es aus Ikea-Katalogen gewöhnt ist, steht eine weiße Ledercouch, die definitiv nicht ebendiesem IkeaKatalog entspringt, sondern einem nicht gerade günstigen Designer Möbelhaus. Diese Luxus-Zimmereinrichtung wird durch die wie zufällig in einer Ecke abge-
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stellte Sporttasche, aus der ein Golfschläger herausschaut, ergänzt. Irgendetwas passt hier nicht zusammen: Max, von Luxusgegenständen umgeben, der wie ein kleiner Junge auf dem Boden Playstation spielt – eine Show? Während ich auf Max’ kühler Ledercouch sitze, denke ich an eine andere Charlottenburger Wohnung, in der ich Stanislav zu Hause besucht habe. So wie jetzt bei Max, so wurde ich auch bei Stanislav den Eindruck nicht los, dass man viel Zeit darin investiert hatte, alle Möbel- und Dekorationsstücke perfekt aufeinander abzustimmen. In Stanislavs Wohnung waren nicht nur das Sofa und der Schreibtisch in dem 50er Jahre Retrostil gehalten, sondern auch die grüne Couchlampe, ein kleines braun lackiertes Telefonregal und das schwarz-weiß gestreifte Kuhfell, das im Unterschied zu einem kuscheligen Ikea-Schafsfell von Individualität zeugte. Stanislav gab mir gegenüber sogar zu, dass seine Wohnung von seiner Mutter, die ein Modeboutique am Kurfürstendamm führt, gestaltet wurde. Letztlich werden meine Tagträume von Max unterbrochen, weil er sein Playstation-Spiel beendet hat und wir nun mit unserer Mental Mapping-Sitzung beginnen können. Während Max an seinem Bleistift knabbert und ab und an einen kleinen Handstaubsauger bedient, um den imaginären Staub einzusaugen, macht er sich Gedanken darüber, welche Orte in Berlin er mit dem Judentum verbindet. Dabei kommt er auf den Charlottenburger Raum zu sprechen: „Wenn ich jüdische Orte in Berlin zeichnen sollte, dann gehört dazu eigentlich auch das KaDeWe. Obwohl da würden wir uns ein bisschen zu weit bewegen und diesen Vorurteilen von russischen Juden folgen. Die russischen Juden sind ein bisschen komplexbehaftet was so Statussymbole angeht, weil in der Sowjetunion konnte man sich nicht großartig differenzieren und hier haben selbst Leute die in der Kantstraße im Neubau wohnen eine Nanny und fahren teure Autos und tragen teure Designerkleidung, deswegen wäre das ein bisschen schablonenhaft. Meine Eltern sind Gott sei Dank überhaupt nicht so drauf, meine Schwester auch nicht. Sie sagt sogar, ich sei zu sehr fixiert auf Marken. Ich würde sagen, ich bin auf Qualität fixiert bei meinen Sachen. Auf keinem meiner Hemden oder Krawatten steht so ’ne Marke drauf, so innen vielleicht irgendwo. Irgendjemand hat es so schön gesagt: Das ist ein Komplex, der durch sowjetische Uniformität entstanden ist.“ 81
Tsypylma Darieva spricht von verschiedenen „Semantiken des Russischen“, welche sie in ihrer Analyse der kulturellen Praxis der russischsprachigen Migrantenzeitungen in Berlin der 1990er Jahre identifiziert. Als gemeinsamer Nenner für alle Zuwanderer aus der Ex-UdSSR gehört neben der Identifikation mit
81
Mental Mapping-Sitzung 17.6.2010.
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der russischen Sprache auch die Bedeutung der sowjetischen Vergangenheit.82 Entlang dieser letzteren Konnotation des Russischen zieht Max die symbolische Grenze zwischen sich selbst und seiner Herkunftsgruppe. Dabei ist diese Grenze weniger eine kulturelle, sondern vielmehr eine soziale: „Das Russische ist definitiv ein Teil von mir, es ist das wo ich herkomme. Wobei die Familie meines Vaters war eine etwas elitäre deutsche Familie mit österreichischem Ursprung, die sogar back in the days nicht mal Jiddisch, sondern straight Deutsch gesprochen hat.“83 Indem Max sich von der angeblichen „sowjetischen Uniformität“ abgrenzt, hebt er die westeuropäische Herkunft seiner eigenen Familie hervor und wertet dadurch sein „soziales“ und „kulturelles Kapital“ auf. Nicht nur bei Max, sondern auch bei Einwanderern, die aus den Baltikum-Ländern stammten, konnte ich die Tendenz beobachten, an die europäische, hauptsächlich deutsche jüdische Familientradition anzuknüpfen, indem sie sich von der sowjetisch-jüdischen Nicht-Tradition ihrer Einwanderungsgenossen aus Russland und dem östlichen Teil der Ukraine distanzierten. Diese Beobachtung ruft die These von Dolores Augustin in Erinnerung, die sie in ihrer Studie über das soziale Leben jüdischer Wirtschaftsleute im wilhelminischen Berlin aufstellt, indem sie diese Gruppe durch „soziale Exklusivität“ charakterisiert. Laut Augustin bildete sich damals das sogenannte „jüdische Patriziat“ aus, zu dem jüdische Familien gehörten, die seit mehreren Generationen Großbesitzer waren. Sie versuchten sich im gesellschaftlichen Verkehr von den sogenannten „Neuen Reichen Juden“ abzugrenzen, die erst vor Kurzem zum Reichtum gekommen waren.84 Max’ herablassende Beschreibung jüdischer Familien, die in den Neubauten in der Kantstraße wohnen, steht in einem starken Gegensatz zu seiner eigenen, wahrhaftig luxuriösen Altbauwohnung und macht deutlich, dass in seinen Distinktionspraxen neben dem „sozialen“ auch das „ökonomische Kapital“ eine zentrale Rolle spielt. Bevor ich gehe, entdecke ich im Flur eine KaDeWe-Tüte – noch ein Charlottenburger Ort an dem sich russischsprachige Juden verschiedener sozialer Schichten begegnen. Die Anonymität der Großstadt erlaubt es, einen Ort zwar zu Einkaufszwecken zu nutzen, sich aber in einer anderen Situation davon abzugrenzen. Max und Stanislav gehören zu der Gruppe der russischsprachigen Juden, die im Volksmund „das jüdische Establishment“ genannt werden. Es sind Juden, die in Berlin aufgewachsen sind und die jüdische Sozialisation inklusive des jüdischen Jugendclubs und jüdischer Ferienlager im Kindesalter durchlaufen haben. Da die für die Organisation von Machanot zuständige Zentralwohlfahrtsstelle 82
Darieva (2002): Russkij Berlin.
83
Mental Mapping-Sitzung 29.8.2010.
84
Augustine (1995): Die jüdische Wirtschaftselite im wilhelminischen Berlin, 105f.
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der Juden in Deutschland nur halachische Juden für die Teilnahme an Ferienlagern zulässt,85 gehören fast ausschließlich matrilineare oder in sehr wenigen Fällen konvertierte Juden dazu. Zum „jüdischen Establishment“ gehört auch Mihail, der mit acht Jahren aus dem estnischen Tallin nach Berlin einwanderte, und heute 29 ist. In seiner Wohnung dominiert seine jüdische Kindheit die Einrichtungsatmosphäre. In einem Bücherregal, in dem russische, englische und deutsche Titel versammelt sind, ist der zentrale Teil der Wand für eine Fotokollage mit Bildern aus dem jüdischen Jugendclub reserviert. Fotos von fröhlichen Kindern und Jugendlichen um einen großen Davidstern im Zentrum gruppiert. Über dieser Fotokollage stapeln sich diverse jüdische rituelle Accessoires: zwei Gebetsbücher, eine Menora, Ständer für Schabbatkerzen. Außerdem bilden ungefähr zehn Kippot aufeinandergestapelt ein buntes Türmchen. Eine Israelfahne fehlt auch nicht. Der Gedanke, dass diese Ansammlung von jüdischen rituellen und nationalen Attributen aus den Jugendzeiten Michails stammt, liegt nahe, denn alle diese Gegenstände erwecken nicht den Eindruck, heute oft genutzt zu werden. Die Gebetsbücher liegen nicht, wie es ihre Verwendung erfordert, aufgeschlagen auf dem Tisch, sondern stehen akkurat im Regal aneinander gelehnt. Auch die zehn etwas verstaubten Kippot – zu viele, um sie regelmäßig zu tragen – wirken eher wie eine Sammlung, die für jüdische Atmosphäre in der Wohnung sorgen soll. Michails Wohnung wirkt jugendlich-luxuriös, aber sie ist nicht die Wohnung eines religiösen Juden, trotz der darin versammelten jüdischen Attribute (vgl. Abbildung 3).
85
Über die Praxis der Zulassung zu den Ferienlagern vgl. Interview mit der Leiterin des Jugendclubs Olam, Xenia Fuchs, 7.6.2010. Frau Fuchs erzählte, dass dieses Verfahren zum ersten Mal im Jahr 2010 aufgelockert wurde, indem man wenige Ausnahmen für diejenigen Juden machte, die nur einen jüdischen Vater und keine jüdische Mutter haben, die aber regelmäßig den Jugendclub besuchen und zu Hause nachweisbar jüdisch erzogen werden.
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Abbildung 3: Das Regal in der Wohnung von Michail
Quelle: Foto Alina Gromova
„Mitten uffm Ku’Damm, im Cafe Caras, dem inoffiziellen Szenentreff der intellektuell Verstümmelten, der aber leider auch gleichzeitig über hervorragenden Kaffee verfügt, konnte ich neulich ein Gespräch zwischen zwei Damen aus der neo-sowjetischen Bauernbohème belauschen. Beide Frauen hatten eines gemeinsam: Sie mochten es gerne, wenn die Namen französischer Designer ihre Kleidung schmückten. Ruhig etwas größer sollten die Label zu sehen sein. Und wer mag es ihnen verdenken, schließlich benutzen Gucci, Yves Saint Laurent und Chanel nur die chinesischen Waisenkinder zur Produktion ihrer Textilien, die vorher einige schwierige Tests in Wissen, Geographie und Politik bestanden haben – nicht irgendwelche dahergelaufenen, wie H&M es sicherlich tut. […] Sie tragen ‚richtige‘ Kleidung, wie ihre Vorbilder aus der Pariser Oberschicht, doch sie können nicht das verstecken, was sie sind: Bauersfrauen, die etwas Glück hatten, weil ihre Männer zur richtigen Zeit die Schweine und Kühe gegen Handfeuerwaffen und Ölaktien eingetauscht haben.“86 86
Kramer (2007): Berlin Fucking City, 152f.
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Diese Passagen haben eine nicht zu übersehende Ähnlichkeit mit dem weiter oben zitierten Statement, das Max über den Markenfetischismus der russischsprachigen Juden liefert. Welchen Einfluss die Texte von dem 29-jährigen Essayisten Kramer auf das Berliner „jüdische Establishment“ haben, wird mir klar, als ich an einem Abend mit Max und seinem Freund, einem jungen, angehenden Rabbiner in einem Kreuzberger Lokal sitze. Max wählt auf seinem Handy eine Nummer: „Hi Willi, hi Bruder. Wir sitzen hier in Kreuzberg, bei dir um die Ecke, komm rüber, Bruder. Was, keine Zeit? Schade. Dann mach’s gut, Bruder, mach’s gut.“ Immer wieder sagte man zu mir, dass, wenn ich über die russischsprachigen Juden in Berlin schreibe, unbedingt Willi Kramer kennenlernen muss. Willi hat unter meinen Akteuren quasi einen doppelten Posten inne: Einerseits repräsentiert er die lokale Machtfigur, die auf die jungen russischsprachigen Juden einen großen Einfluss hat, was die Annahme von Ute Luig und Johen Seebode bestätigt, dass jugendliche Lebenswelten immer in Beziehungen von Macht eingebettet sind.87 Andererseits ist er einer von ihnen, der „Bruder“, was seinen literarischen Texten eine besondere Deutungshoheit verleiht.
Z USAMMENFASSUNG Die Analyse der in der Wahrnehmung und Nutzung inbegriffenen Raumpraxen junger russischsprachiger Juden hat gezeigt, dass sie Charlottenburg als den „jüdischen Bezirk“ definieren und dass diese Definition mit der Aushandlung eigener sozialer und religiöser Selbstbilder in einer engen Verbindung steht. Es ist die symbolische Bedeutung und die Struktur der Nahbeziehungen, Kraft der historischen Bilder und Resultat von Imaginationen, die Charlottenburg zum Aushandlungsraum von Eigenzuordnungen junger russischsprachiger Juden machen. Dabei ist Charlottenburg zum einen ein physischer Raum, in dem sich die Suche nach dem eigenen religiösen Selbstverständnis vollzieht, zum anderen ist es ein „sozialer Raum“ im Bourdieu’schen Sinne, in dem soziale Positionierungen junger russischsprachiger Juden entlang der kulturellen und ethnischen Grenzziehungen ausgehandelt werden. In dieser Hinsicht kann Charlottenburg als ein räumliches Konstrukt betrachtet werden, in dem mehrere Gruppierungen junger russischsprachiger Juden verschieden geartete „Soziosphären“ im Sinne von Martin Albrow und seiner Überlegungen zur Erforschbarkeit lokaler Räume im postmodernen Zeitalter bilden, die sich zwar gegenseitig streifen, aber nicht miteinander in Austausch kommen 87
Luig/Seebode (Hg.) (2003): Ethnologie der Jugend, 16.
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und somit die Vorstellung einer klassischen „Wir-Gemeinschaft“ auflösen.88 Zu diesen Gruppierungen gehören zum einen die sogenannten „Altberliner“, die schon als Kinder nach Berlin eingewandert sind und dank der Vielfalt hiesiger jüdischer Organisationen jüdisch sozialisiert wurden. In deren Selbstverständnis als „richtige Juden“ grenzen sie sich von den Neuhinzugezogenen ab, die erst als junge Erwachsene aus anderen Städten Deutschlands nach Berlin kommen und bewusst den Anschluss an die jüdischen Inhalte suchen, zumal sie diese wiederum in eine eigene Form des Jüdischseins umwandeln. Nicht selten weisen die jüdischen „Altberliner“ den Habitus des sogenannten „jüdischen Establishments“ auf, den sie durch eine lange Familientradition des europäischen Judentums begründen und sich damit von der sowjetischen jüdischen Nicht-Tradition abzugrenzen suchen. Als „Soziosphären“ lassen sich zum anderen die Gruppe der russischsprachigen Juden und die der deutschstämmigen Spätaussiedler begreifen, wobei die Verwaltungsgrenze zwischen den Berliner Stadtteilen Charlottenburg und Spandau, die eine starke Konzentration der jeweiligen Gruppen aufweisen, als russisch-russische Grenze bezeichnet werden kann. Während das Russische stets einen Berührungspunkt beider Migrantengruppen darstellt, werden deren Eigenbilder durch die Abgrenzung von der jeweils anderen Gruppe konstruiert, so wie zum Beispiel das Bild eines „urbanen und modebewussten Juden“ im Unterschied zu einem „ländlichen und rückständigen Spätaussiedler“, oder das Bild eines „ehrlichen und arbeitsamen Spätaussiedlers“ im Unterschied zu einem „arroganten und gewieften Juden“. Zwar verkehren die Mitglieder der oben genannten Gruppen häufig an gleichen Orten wie Lebensmittelgeschäften, Clubs, Cafés, sowie im Falle der Juden in den Synagogen oder Einrichtungen der Jüdischen Gemeinde, dennoch lässt sich zwischen diesen Gruppierungen, obwohl sie ein und dasselbe Angebot wahrnehmen, oft keine Interaktion beobachten. Die Aushandlungen der religiösen und der sozialen Identitätszuordnungen, die in Charlottenburg stattfinden, haben somit gemeinsam, dass sie sich in Bezug auf die Raumnutzung als Praxis der Distinktionen gestalten. Das bedeutet, dass die eigene Individualität oder Gruppenzugehörigkeit in Abgrenzung zu den anderen hergestellt wird, und dieser Prozess zum Teil im spezifischen jugendkulturellen Kontext geschieht. Hier äußert sich die allseitige Notwendigkeit, Differenz zu erzeugen, die Homi Bhabha als die einzige unüberwindbare Gemeinsamkeiten des Individuums in der Postmoderne postuliert, und den damit einhergehenden Bedeutungsverlust als Chance für die Kreierung einer neuen, „hybriden Identität“ betrachtet.89 88
Vgl. Albrow (1997): Auf Reisen jenseits der Heimat.
89
Bhabha (2010): The location of culture.
DIE NEUEN JUDEN VON CHARLOTTENBURG | 113
Der Kontext für den Aushandlungsprozess der Selbstzuordnungen junger russischsprachiger Juden wird von der deutschen Einwanderungspolitik und ihren Auswirkungen auf die spezifische Einwanderungssituation in Berlin mitgestaltet. Wegen der einstigen Einreisebeschränkungen, denen die deutsche Hauptstadt aufgrund von den durch den Königsteiner Schlüssel geregelten Aufnahmebedingungen unterlag, entstand eine große Gruppe russischsprachiger Juden, die ihren Umzug nach Berlin jahrelang nicht verwirklichen konnte. Ihre Kinder, die heute ihren Lebensschwerpunkt nach Berlin verlagern und somit das nachholen, was ihre Eltern damals nicht geschafft haben, sorgen dafür, dass sich die Berliner russischsprachige Judenheit in Gruppen der „Altberliner“ und der „Neuzugezogenen“ spaltet, deren Lebens- und Migrationswege den Aushandlungsprozess der Zuordnungen mit beeinflussen. Die enge Verknüpfung zwischen dem raumbildenden und dem identitätsbildenden Prozess, der hier am Beispiel von Berlin-Charlottenburg dargestellt wurde, wird stark durch den urbanen Charakter von Berlin geprägt. Dabei lässt sich eine Vielfalt und Heterogenität von Identifizierungen beobachten, die durch Situativität geprägt sind und die der Freiheit und Anonymität der Großstadt, aber vor allem der zunehmenden gesellschaftlichen Individualisierung zu verdanken bzw. geschuldet sind.
Die jüdischen Mental Maps und der Berliner Stadtraum
Als Mental Maps werden kognitive Abbildungen des Stadtraumes bezeichnet, die wir in unsren Köpfen im Laufe der Zeit abgespeichert haben und die uns bei der Orientierung in der Stadt und bei der Nutzung der Stadträume helfen sollen. Auch wenn solche mentalen Stadtkarten zunächst wie eine reine Vorstellungsmetapher klingen, sind sie in erster Linie Produkte unser Handlungspraxis, weil sie durch Erlebnisse, Erinnerungen und Ortskenntnisse bestimmt werden und daher eine zentrale Praxisfunktion besitzen. In dieser Funktion sind sie für das soziale Handeln bestimmend und geben Aufschluss über Ideen, Symbole und Images sowie über die historische und emotionale Erfahrung, die sich zu Stadtkarten verdichten, und zwar tatsächlichen Karten, die wir im Kopf tragen, auch wenn die Proportionen dabei nicht immer stimmen. Was kann aber damit gemeint sein, wenn man von „jüdischen Mental Maps“ spricht? Worauf bezieht sich das Jüdische bei den kognitiven Stadtbildern? Von einer „jüdischen Orientierung“ lässt sich nur schwer sprechen, und auch ein „jüdischer (Stadt)Raum“ zieht einen komplexen Definitionsprozess nach sich. Versteht man das kognitive Kartieren allerdings als einen aktiven Handlungsprozess, tritt die Wechselwirkung zwischen Mensch und Raum in den Mittelpunkt der Orientierungspraxis.1 Der physische Raum wird zum Identitätsraum, in dem Imaginationen sowie Selbst- und Fremdbilder aus dem „kulturellen Gedächtnis“ wie aus einem Speicher hervorgehen. In diesem Kapitel soll der Prozess des „jüdischen Mental Mapping“ als ein Raumkonstruktionsprozess, der der Befriedigung unserer Bedürfnisse und der Aushandlung unserer Zuordnungen dient, verstanden und vor dem Hintergrund des „kulturellen Gedächtnisses“ analysiert werden. Dabei wird
1
Ein solches ethnologisches Verständnis der Raumorientierung geht auf Greverus und ihr kulturökologisches Raumorientierungsmodell zurück. Vgl. Greverus (1994): Menschen und Räume.
116 | GENERATION „KOSCHER LIGHT“
die Frage diskutiert, wann und auf welche Art und Weise die jüdische Identifikation bei dem kognitiven Kartieren reflektiert wird bzw. welche Verbindungen die jüdische Zuordnung mit anderen Zuordnungen in einer urbanen Umgebung eingeht. Der Pionier des Mental Mapping-Ansatzes in der Stadtplanung, Kevin Lynch, betont, dass einer kollektiven Raumvorstellung unterschiedliche Orientierungssysteme zugrunde liegen, die sich je nach Kultur und Landschaft unterscheiden und von Stadt zu Stadt beträchtlich variieren. 2 Als ein Beispiel für die möglichen „Orientierungssysteme“ nennt Lynch die sibirischen Chukchee, die in ihrem Vorstellungsbild der Umgebung 22 dreidimensionale Himmelsrichtungen unterscheiden, die sich auf den Sonnenstand zu verschiedenen Tages- und Nachtzeiten je nach Jahreszeit beziehen.3 An dieses von Lynch gezeichnete Bild musste ich immer wieder denken, als ich den Entstehungsprozess kognitiver Stadtbilder meiner Akteure verfolgte, wenn diese in Form einer Skizze auf Papier gebracht oder in Erzählungen verdichtet wurden. Regelmäßig geschah es, dass meine Interviewpartner am Anfang einer Mental Mapping-Sitzung entschieden nach dem Stift griffen und eine sichtbare Trennlinie in der Mitte der imaginären Stadt zogen, die die Teilung Berlins in Ost und West markierte. Manchmal wurde eine solche Trennlinie erst im Nachhinein einer bereits fertigen Skizze hinzugefügt. Zwar waren es bei den jungen russischsprachigen Juden keine zweiundzwanzig wie bei den sibirischen Chukchee, aber immerhin zwei „politische Himmelsrichtungen“, die als geokulturelle Pole in ihre Vorstellungsbilder des Stadtraumes eingeschrieben waren. Die Tatsache, dass Berlin heute immer noch als eine geteilte Stadt wahrgenommen wird, und dass seine Ost- und Westhälften nicht nur in geographischer Hinsicht, sondern auch in Bezug auf soziale und kulturelle Bevölkerungsstruktur, politische Einstellungen und architektonisches Erscheinungsbild als unterschiedlich empfunden werden, ist sicherlich nicht allein für die Gruppe russischsprachiger Juden charakteristisch. Für die meisten Berlinbewohner dient eine solche Wahrnehmung heute als eine Verortungsstrategie, die die Komplexität des gesamten stadtspezifischen Kontextes reduzieren soll. Greverus bemerkt, dass eine solche Komplexitätsreduktion uns hilft, uns in der Vielfalt der kulturellen Muster zurechtzufinden, die unsere Lebenswelten gestalten.4 Die Mauer als Symbol des Berliner Stadtraumes, ob durch eigene Erfahrung geprägt oder durch Erzählungen von Zeitzeugen verinnerlicht, gehört zum kollektiven Gedächtnis 2
Lynch (2007): Das Bild der Stadt, 17f.
3
Ebd., 17f., 148.
4
Greverus (1994): Menschen und Räume.
DIE JÜDISCHEN MENTAL MAPS | 117
aller Bewohner Berlins und funktioniert heute wie ein Bindeglied, das auf der topographischen Ebene die vielfältigen ethnischen, religiösen und kulturellen Zuordnungen zusammenführt. Man ist eben nicht nur ein Jude oder ein Russe, sondern auch ein Berliner, je nach spezifischem Kontext, in dem gerade agiert wird. Allerdings ist eine Wahrnehmung Berlins, die auf Gegensätzen zwischen Ost und West basiert, mit Vorsicht zu genießen, denn solche Gegensätze dürfen nicht allzu schnell für selbstverständlich erklärt werden. Wie die Berlin-Studie der Hertie-Stiftung im Jahr 2009 behauptet, besteht „in der öffentlichen Meinung […] offensichtlich das Bedürfnis nach West-Ost-Unterschieden. Man hat bisher zu viel darüber geredet und geschrieben und will Bestätigung dafür sehen.“5 Eine solche Stellungnahme deutet darauf hin, dass man nicht pauschal über die Differenzen zwischen Ost und West sprechen soll, sondern nach Bereichen differenzieren muss, in denen sich kulturelle Verschiedenheiten heute immer noch deutlich zeigen. So stellt Thomas Gensicke im Rahmen der erwähnten Hertie-BerlinStudie fest, dass man in Bezug auf Kategorien wie Zufriedenheit und Lebensgefühl mittlerweile keine Gegensätze zwischen den Bewohnern Ost- und Westberlins feststellen kann.6 Gleichzeitig hebt Gensicke hervor, dass zwanzig Jahre nach dem Mauerfall noch immer Unterschiede in der politischen Kultur der West- und Ostberliner bestehen. So würden Ostberliner mehr „soziale Aktivität“ und „Umverteilung“ vom Staat verlangen als die Westberliner. In derer Bestrebung nach einem demokratischen und marktwirtschaftlichen System mit einer starken sozial-humanen Ausrichtung unterstützten die meisten Ostberliner die skandinavische Variante des Wohlfahrtsstaates, die auf einer ausgebauten Kinderbetreuung, einem auf Chancengleichheit basierenden Bildungssystem sowie der Gleichberechtigung der Frauen beruht. In Bezug auf den Westen behauptet Gensicke, dass man Skandinavien zwar auch sympathisch findet, die dortigen Umstände möchte man im praktischen Leben aber nicht haben. Diese Unterschiede im politischen Denken und Fühlen werden auf die kulturelle Prägung zurückgeführt, die die Ostdeutschen aufgrund einer vergleichsweise kurzen Erfahrung mit dem bundesdeutschen System eher nach Alternativen suchen lässt als die Westdeutschen.7 Die Tatsache, dass Berlin auch zwei Jahrzehnte nach dem Mauerfall immer noch als „geteilt“ wahrgenommen wird, macht vor allem die Beharrlichkeit alter Stereotype deutlich. Dabei wird ein typischer „Wessi“ als reich, oberflächlich 5
Gensicke (2009): Wie lebt sich’s in Berlin? 109.
6
Ebd., 98–110.
7
Ebd., 108f.
118 | GENERATION „KOSCHER LIGHT“
und materialistisch beurteilt, während ein typischer „Ossi“ zwar ärmlich, aber dafür sozial und natürlich empfunden wird. In den Augen der Westberliner gelten Ostberliner als leistungsschwache Nutznießer, denen es an eigener Initiative fehlt und die undankbar gegenüber der westlichen Aufbauhilfe sind. Andersherum dagegen werden die „Wessis“ für ihren Ellenbogencharakter und Arroganz kritisiert.8 Blickt man auf die Situation der jüdischen Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion in Deutschland, fällt auf, dass die Stereotype, mit denen die Westdeutschen die Ostdeutschen versehen, sehr den Vorurteilen der deutschsprachigen Juden gegenüber den russischsprachigen Juden in Deutschland ähneln. Die „Russen“ werden dabei häufig als diejenigen bezeichnet, die nur nehmen und nichts zurückgeben, die nicht dankbar für die finanzielle und soziale Unterstützung der jüdischen Gemeinden hierzulande seien und keine Initiative ergreifen, um bezahlte Arbeit zu finden oder die Arbeit der jüdischen Gemeinden in ihrer Freizeit zu unterstützen. 9 Welche Vorurteile seitens der „Neuankömmlinge“ gegenüber den „alteingesessenen“ Juden bestehen, wurde bisher allerdings kaum untersucht. Aber auch wenn sich bis heute „die Vergangenheit im Stadtbild, in den Straßennamen, in der Infrastruktur, im Konsumangebot – und auch in den Köpfen vieler Bewohner“10 widerspiegelt, wurde doch der Mauerfall zu einem einschneidenden Ereignis, das den Prozessen der Raum- und Identitätsbildung eine neue, vorher nicht dagewesene Qualität verlieh. Nicht nur entstand damit eine hohe Anzahl an Freiräumen, die durch eine ständige Veränderung ihrer Strukturen und eine nicht selten konkurrierende Mehrdeutigkeit gekennzeichnet sind, sondern der gesamte Stadtraum musste in seiner Bedeutung neu ausgehandelt werden. Kaschuba bemerkt, dass in einem solchen Kontext die Räume besonders unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu Symbolen in ihren Kämpfen um die gesellschaftliche Akzeptanz werden: „Berlin ist ein Ort, an dem solche Repräsentationskämpfe um Öffentlichkeit und Anerkennung gegenwärtig besonders gut inszeniert ausgetragen werden. Denn hier bedarf der städtische Raum noch seiner endgültigen symbolischen Ordnung, weil die lange Teilung zwischen Ost und West ihn noch vielfach offen erhalten hat. Deswegen kann man hier noch mit den unterschiedlichsten Argumenten wirksame ‚Identitätspolitik‘ betreiben: mit
8
Benz (2006): Stereotype des Ost-West-Gegensatzes.
9
Zu den Spannungen zwischen den „Alteingesessenen“ und den Neueinwanderern in den jüdischen Gemeinden vgl. exempl. Kessler (2008): Homo Sovieticus in Disneyland.
10
Häußermann/Gornig/Kronauer: Berlin: Wandel, Milieus und Lebenslagen, 16.
DIE JÜDISCHEN MENTAL MAPS | 119
östlicher oder westlicher, mit ethnischer oder religiöser, mit politischer oder künstlerischer Logik.“11
Eine solche Bedeutungs- und Interpretationsoffenheit der Stadträume bietet vor allem der ständig wachsenden Zahl von Migranten die Gelegenheit, ihre eigenen Orientierungs- und Handlungsmuster in die Struktur dieser Räume einflechten zu lassen – ein Prozess, den die bildende Künstlerin und Kunstwissenschaftlerin Stefanie Bürkle als „Migration von Räumen“ bezeichnet und damit betont, dass nicht nur Menschen, sondern auch Räume migrieren können.12 Um die gegenseitige stadträumliche Wahrnehmung der Akteursgruppen mit verschiedenen kulturellen Hintergründen zu beschreiben, verwendet Bürkle den Begriff placemaking.13 In ihrem Kunstprojekt, das in Form einer multimedialen Installation „Placemaking. Mapping, Migration und Mauerfall“ im Jahr 2009 in den Räumen der Schering Stiftung in Berlin gezeigt wurde, arbeitet Bürkle mit der Methode des Mental Mapping. Anhand von Erzählungen, Videomaterial und Kartierungen zeigt sie, dass der Mauerfall eine Vielzahl an freien und beweglichen Räumen schuf und, dass Migranten an dem sich permanent veränderbaren Raummosaik Berlins heute verstärkt teilnehmen: „Berlin selbst ist kein statischer Raum, sondern stellt eine Vielzahl von sich verändernden Räumen dar. Diese zahlreichen Bewegungen und Veränderungen haben sich seit dem Mauerfall beschleunigt. Wie selbstverständlich docken die mitgebrachten Heimaträume (rurale, urbane) an die wechselhaften urbanen Texturen an und finden im schnellen Stadtwandel seit 1989 immer neue Plätze.“ 14
11
Kaschuba (2005): Urbane Identität: Einheit der Widersprüche? 25.
12
Bürkle (2009): Die Migration von Räumen.
13
Der Begriff placemaking stammt ursprünglich aus der englischen Planungstheorie und wurde in den 1970er Jahren geprägt. In seiner ursprünglichen Bedeutung bezeichnet er die Verbesserung der Nutzungsqualität eines Raumes für seine Bewohner in Hinblick auf die planerischen und architektonischen Aspekte. Später wurde der Begriff von Soziologen, Anthropologen und Kulturwissenschaftlern aufgegriffen, um damit den Prozess des community building zu beschreiben, bei dem die raum- und ortsbezogenen Identitätsverläufe eine zentrale Rolle spielen und die Frage der „Verwendung von kulturell kodierten Ortsattributen in Stadtentwicklungsprozessen“ im Mittelpunkt steht. Vgl. dazu Bürkner (2005): Placemaking und Milieuentwicklungen.
14
Bürkle (2009): Die Migration von Räumen.
120 | GENERATION „KOSCHER LIGHT“
An dieser Stelle lässt sich eindeutig behaupten, dass die Wahrnehmung des Stadtraumes als eines geteilten Raumes allein nicht ausreicht, um im Sinne einer topographischen Hermeneutik die Zuordnungen und Selbstbilder der Akteure aus ihren Raummetaphern herauslesen zu können. Ein weiterer Fokus muss auf die Wahrnehmung einzelner Räume und die Form ihrer Verflechtung innerhalb des spezifischen stadträumlichen Kontextes gerichtet werden. Denn obwohl die Mauer immer noch „in den Köpfen existiert“ und „die Wahrnehmung zwischen der eigenen Gruppe und den anderen“15 strukturiert, gibt es sie heute in ihrer physischen Realität nicht mehr. Die Bewegungsfreiheit schafft Wissen und Erfahrungen, die sich auf das gesamte Stadtgebiet beziehen, und auf die wir uns wiederum in unserer Raumwahrnehmung verlassen.16 So schreiben vor allem die Verfechter der Idee einer spezifischen „Stadtlogik“ der Hauptstadt eine bestimmte Bevölkerungsstruktur und einen spezifischen Lebensstil zu, die sich deutlich von denen anderer Städte unterscheiden. In ihrem Städtevergleich charakterisiert Martina Löw Berlin als eine Stadt der Beamten und Immigranten und hebt hervor, dass sich in Berlin aufgrund von vielen historischen Brüchen und Widersprüchen kein traditionelles und selbstbewusstes Bürgertum wie zum Beispiel in Hamburg oder München herausbilden konnte. 17 Gerade das Fehlen eines Bürgertums sorgte dafür, dass Berlin sich zur „Hauptstadt der Subkulturen“18 entwickelte mit einem „alternativen“ Lebensstil, der durch eine grundsätzliche Lässigkeit im Umgang miteinander sowie im Kleidungs- und Wohnungseinrichtungsstil charakterisiert werden kann. Die historisch gewachsene Bevölkerungsstruktur Berlins führt zu einer bestimmten Form von Raumbildungs- und Raumwahrnehmungsprozessen und ruft einzigartige Typen von Niederlassungseinheiten hervor. So hat die Tatsache, dass das heutige Berlin im Laufe der Zeit aus vielen verschiedenen Städten mit kulturell unterschiedlich geprägten Einwohnergruppen zusammengewürfelt wurde, unweigerlich zu einer felhlenden Zentralität der heutigen Berliner Stadtkultur geführt, die man etwa in München oder Frankfurt am Main vorfindet. Hartmut 15
Häußermann/Kapphan (2002): Berlin: von der geteilten zur gespaltenen Stadt? 240.
16
In diesem Zusammenhang spricht Beatrice Ploch von einem „relationalen Raumbegriff“. In menschlicher Wahrnehmung entspricht der Raum niemals seinem physischen Erscheinungsbild, sondern wird gemäß unseren im Laufe der Zeit gesammelten Erfahrungen und Wissen in Relation gesetzt und abgebildet. Vgl. Ploch (1994): Vom illustrativen Schaubild zur Methode.
17
Löw (2008): Soziologie der Städte, 210; vgl. auch Schiffauer (1997): Zur Logik von kulturellen Strömungen in Großstädten, 120–124.
18
Häußermann/Gornig/Kronauer (2009): Berlin: Wandel, Milieus und Lebenslagen, 19.
DIE JÜDISCHEN MENTAL MAPS | 121
Häußermann, Martin Gornig und Martin Kronauer merken an, dass diese Dezentralität die Identifikation mit einem bestimmten Bild der Stadt erschwert und dafür sorgt, dass man nicht in der ganzen Stadt, sondern in seinem Bezirk lebt: „Berlins ‚mental map‘ ist wahrscheinlich so vielfältig wie in keiner anderen deutschen Stadt.“19 Auch spricht man von einer typischen Berliner „Kiezkultur“, die eine noch kleinteiligere Orientierungsfolie darstellt und es den Stadtbewohnern ermöglicht, durch die Bindungen an ihr ganz unmittelbares Lebensumfeld mit einem unüberschaubaren Stadtbild zurechtzukommen.20 Im Folgenden möchte ich auf die oben erwähnten Elemente der räumlichen Wahrnehmung und Nutzung des Stadtraumes eingehen und dabei die kulturellen Spezifika der Gruppe junger russischsprachiger Juden in diesen Prozessen herausarbeiten.
D IE F REIHEIT
DES O STENS UND DIE ISRAELISCH - JÜDISCHE E RFAHRUNG Wenn ich mich mit meinen Akteuren zu den Mental Mapping-Sitzungen verabredete, zeigten sich die meisten überrascht, wenn ich sie um die Zeichnung einer Berlinskizze und die Kennzeichnung der Orte bat, die in ihrem Alltagsleben eine Rolle spielten. Nach einer kurzen Phase des Innehaltens waren es nicht selten die Grenzen, die viele als Erstes auf ihren Zeichnungen markierten oder auch in Erzählungen zur Sprache brachten, und die als Raster für die weiteren Ausführungen dienen sollten. Das war auch der Fall, als ich mich mit Dina zu einer Mental Mapping-Sitzung traf. Nach einem kurzen Moment der Unsicherheit griff sie entschlossen zum Stift und verewigte als allererstes auf dem noch gänzlich unberührten Blatt eine schwarze Linie: „Ok, hier war die Mauer. Sie trennte Berlin in zwei Teile, Ost und West.“21 (Vgl. Abbildung 4)
19
Häußermann/Gornig/Kronauer (2009): Berlin: Wandel, Milieus und Lebenslagen, 20.
20
Gensicke (2009): Das Typische an Berlin, 112, 124.
21
Mental Mapping-Sitzung 8.6.2010.
122 | GENERATION „KOSCHER LIGHT“
Abbildung 4: Mental Map von Dina
Ebenso beginnt Stanislav seine Schilderung über die Stadt mit folgenden Worten: „Ich muss erst mal polemisch sagen, dass ich Osten hasse, um dann wieder realistischerweise gleich wieder einzustecken, dass es gar nicht so ist, ne. Also, ich bin ja ein altes Frontstadtkind. Ich bin ja aufgewachsen zwischen Selbstschussanlagen und bösen grimmigen Kommunistenarschlöschern, nein… Das ist für mich einfach, das war meine Kindheit, ja? Also, drumherum die Mauer, ja, und Leute mit Kalaschnikows und Stacheldraht. Und das absurde ist, ich fand das heimlich, ich fand das ja schön, es war total warm. Weil drumherum war die Mauer, es war alles total sicher, ja.“22
Stanislav ist im Gegensatz zu allen anderen Akteuren meiner Studie noch vor dem Mauerfall nach Berlin gekommen. Im Alter von eineinhalb Jahren wanderte er schon 1980 mit seinen Eltern und Großeltern aus dem lettischen Riga nach Berlin aus. Im Gegensatz zum Gros der russischsprachigen jüdischen Einwanderer ist Stanislav im geteilten Berlin und mit der Mauer als persönlicher Erfahrung aufgewachsen. Dass seine Mental Map von Berlin eine Teilung der Stadt in Ost und West aufweist, beruht auf persönlichen Erlebnissen, die Spuren in seiner 22
Interview 31.7.2010.
DIE JÜDISCHEN MENTAL MAPS | 123
heutigen Wahrnehmung der wiedervereinigten Stadt hinterlassen haben. Mit den nach 1990 eingewanderten jungen Juden verbindet ihn, dass sie die heute physisch nicht mehr existente Mauer weiterhin als Raster in der Wahrnehmung und Nutzung des Stadtraumes verwenden. Anders als Stanislav können meine restlichen Akteure allerdings nicht von einer Kindheit „im Schatten“ oder „Schutz der Mauer“ sprechen, da sie diese nicht persönlich erlebt haben. Vielmehr ist hier das kollektive Gedächtnis am Werk, das die Teilung in medialen Diskursen und Alltagsgesprächen weiter tradiert, wobei sich das Vergangene und das Gegenwärtige in deren Bedeutung wechselseitig beeinflussen. In diesem Zusammenhang spricht Michael Mayerfeld Bell auch von „the ghosts of place“. Gemeint sind damit Menschen oder Artefakte, die zwar physisch nicht mehr präsent sind, aber einen erkennbaren Aspekt der Phänomenologie des Ortes und des Raumes darstellen, der in der Erfahrung dieses Raumes reflektiert wird. 23 Auch demonstriert die Wahrnehmung Berlins als geteilte Stadt deutlich, dass der Raum nicht per se existiert, sondern in erster Linie gemäß unserer Interpretation. Wir finden keinen vorgefertigten Raum vor, sondern dieser wird erst in Relation zu unseren Erfahrungen und unserem Wissen von uns selbst konstruiert. Die Wahrnehmung der Stadt als geteilter Raum wurde während meiner Feldforschung häufig anhand von bestimmten Orten offensichtlich, die meine Interviewpartner als Treffpunkte für unser Gespräch vorschlugen. Eines Tages schlug Pavel vor, dass wir uns am U-Bahnhof Oranienburger Tor treffen könnten, der im östlichen Stadtteil Berlin-Mitte liegt. Nachdem all meine bisherigen Treffen mit Interviewpartnern auf ihren eigenen Wunsch hin ausschließlich im westlichen Charlottenburg stattgefunden hatten, war ich nun sehr darauf gespannt, ob der vorgeschlagene Treffpunkt im alten Ostberlin auch eine übergreifende Bedeutung für die topographischen Orientierungsmuster Pavels haben würde. Letztendlich hatte ich ursprünglich vor, den Osten von Berlin als Sprungbrett für mein Feld zu nutzen, ehe mich meine Akteure in den Westen katapultierten. Nun brachte mich Pavel wieder an den Ausgangspunkt meiner Forschungssehnsüchte zurück. Pavels Telefonnummer bekam ich von einem Berliner Institutskollegen, der von meiner Studie wusste. Damals suchte ich nach Interviewpartnern, die eine doppelte Migration erfahren hatten und die, ehe sie nach Deutschland kamen, schon eine Weile in Israel gelebt hatten. Da sich in Berlin momentan eine ständig wachsende Anzahl von Israelis – darunter viele Russischsprachige – nieder-
23
Bell (1997): The Ghosts of Place.
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lässt, schien es mir wichtig, die Charakteristika dieser Gruppe zu beschreiben.24 Auch Pavel wanderte im Alter von 17 Jahren aus dem russischen Archangelsk nach Israel aus, zog drei Jahre später nach Tübingen und einige Jahre später nach Berlin um, wo er seit 2001 lebt. Für ein Treffen zeigte sich Pavel offen. Ähnlich wie Sergej begründete auch er seine schnelle Bereitschaft für ein Interview damit, dass er gerade erst sein Studium abgeschlossen habe, noch auf der Arbeitssuche sei und daher Zeit für ein Interview hätte. Als ich mit der U6 am Oranienburger Tor ankomme, wartet Pavel schon an der Haltestelle auf mich. Er schlägt vor, in das Café Buchhandlung zu gehen, das hier um die Ecke, in der Tucholskystraße, sein soll. Wir laufen durch die Oranienburger Straße, eine der bekanntesten Flaniermeilen Berlins, an zahlreichen großzügig geschnittenen Restaurants und Cafés mit beigen Ledercouchgarnituren vorbei. Obwohl es Dienstag und noch früh am Abend ist, sind die Lokale schon ordentlich gefüllt. Einzelne Pärchen und größere Gruppen von Gästen aller Altersstufen wirken gelassen und haben, oft halb liegend, in den breiten Sesseln draußen Platz genommen. In der Luft hallt ein buntes Durcheinander aus Deutsch, Französisch und Englisch, manchmal mischen sich Italienisch und Spanisch darunter. Wir biegen in die etwas ruhigere Tucholskystraße ein und bleiben vor der Buchhandlung stehen. An der Wand vor dem Eingang fällt mir ein Bild auf, das eine Straßenkreuzung zeigt, die Menschen jeder Couleur in Eile oder entspannt überqueren. Draußen empfängt uns eine bunt gewürfelte Kollektion aus gemütlichen alten Stoffsesseln, die einen deutlichen Kontrast zu den stilvollen Ledercouchgarnituren in der Oranienburger Straße bilden, die wir gerade hinter uns gelassen haben. Wir gehen hinein und setzten uns an einen kleinen Ecktisch am Fenster. Als Pavel sich zur Theke umdreht, freut sich die bunt geschminkte Dame mit einer hochgesteckter Frisur. Sie hätte ihn länger nicht mehr gesehen, wo sei er abgeblieben gewesen? Habe er mittlerweile einen neuen Job und sei vielleicht gar aus Berlin weggezogen? Pavel lächelt zurück und lässt sich in ein Gespräch verwickeln. Nein, einen Job habe er immer noch nicht und in Berlin sei er auch noch, aber es hätte sehr viel zu tun gegeben in den letzten Monaten. Schließlich winkt uns die Dame noch einmal und gibt ein paar begrüßende Sätze auf Polnisch von sich. Sie sei Tschechin, erklärt sie mir später, und sei gerade dabei, Polnisch zu lernen. Anscheinend verwechselt sie Pavel mit ei24
Ca. 100.000 Israelis besitzen heute die deutsche Staatsangehörigkeit. Dabei ziehen immer mehr von ihnen nach Deutschland. Die Zahl der heute in Berlin lebenden Israelis mit oder ohne deutsche Staatsangehörigkeit wird auf ca. 9.000 bis 12.000 geschätzt. Vgl. o.V. (2009): Papiere für den Notfall; Reichert (2011): Junge Israelis in Berlin; o.V. (2010): Young Israelis are Moving to Berlin in Droves.
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nem Polen. Die slawische Seelenverwandtschaft macht da eben keinen großen Unterschied. Ich schaue mich um. Außer uns hat noch ein Pärchen in der gegenüberliegenden Ecke Platz genommen, direkt neben einer Kunstinstallation, die zusammen mit mehreren abstrakten Bildern den Raum schmückt. Das Café sei gleichzeitig auch ein „Art“-Lokal, hier werden verschiedene Kunstwerke kleinerer Künstler aus der Gegend ausgestellt, erklärt Pavel. Mit einer weit ausholenden Armbewegung zeichnet er einen Bogen durch den Raum: „Das hier ist praktisch mein Zuhause, den Ort mag ich gerne. Wenn ich mit meinem Laptop und meinen Büchern hierher komme und hier arbeite, dann komme ich sehr gut voran.“25 Er wirkt sicher und entspannt, so wie man sich eben zu Hause fühlt. Die Trennung der Lebenswelten in öffentliche und private, die lange als stadtspezifisch galt, wird hier endgültig gesprengt: Pavel wohnt nicht mehr in seinen vier Wänden, sondern im Stadtraum. Der Wohn-, Arbeits- und Freizeitraum fließt ineinander über und wird von jedem Einzelnen individuell im Einklang mit den eigenen Wünschen und Phantasien modelliert. Als wir uns hingesetzt und bestellt haben, lege ich Pavel ein weißes Blatt Papier vor und bitte ihn, mir etwas über Berlin zu erzählen. Er setzt bereitwillig an: „Nu, in erster Linie ist Berlin eine Stadt, die ich nicht verlassen will. Im Moment stellt sich die Frage, vielleicht lohnt es sich für mich jetzt irgendwohin anders zu fahren, nach München zum Beispiel, wo ich Freunde habe, bei denen ich wohnen und nach Arbeit suchen könnte. Aber ich will hier nicht weg. Warum, nu, wahrscheinlich deswegen, weil Berlin eine Stadt ist, in der viele verschiedene Dinge miteinander vermischt sind, und sicherlich bin ich nicht der Einzige, der darüber spricht. Vieles kommt hier zusammen: verschiedene Kulturen, verschiedene Völker, Nationen und, weiß nicht, politische und sexuelle Orientierungen, sagen wir alles alles alles. Und ich mag die Alternativen, welche die Stadt mir gibt. Da wo es Alternativen gibt, da wo es Wahlfreiheit gibt, da gibt es eine Entwicklung. Ich bin nach Berlin gekommen mit der israelischen Einstellung: Man fühlt sich in Israel eingeengt, abgeschnitten von der Welt. Deswegen gehen so viele Israelis heute nach Berlin, weil sie die Freiheit suchen. Aber Westberlin mag ich nicht besonders. Ich kenne es nicht sehr gut und mag es nicht. Ich mag Kurfürstendamm nicht, ich mag es nicht, dort spazieren zu gehen, ich denke, dass es keine Straße für Spaziergänge ist. Es gibt dort ständig irgendwelches Getümmel, Menschen mit verrückten Augen oder Menschen, die arbeiten, oder Menschen, die Stress abbauen und deswegen gerade Geld ausgeben müssen, oder lokale Bewohner, die das Ganze schon seit Jahrzehnten beobachten. Es ist für mich viel zu kapitalistisch. Auch war ich zu meiner Beschämung noch kein einziges Mal im Zoo, obwohl ich Tiere sehr mag. Die Tatsache, dass ich Westberlin nicht mag,
25
Feldnotizen 20.6.2010.
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hängt vermutlich damit zusammen, dass ich hier, im Osten, lebe. Im Zentrum, aber im Ostteil der Stadt. Westberlin ist sehr eng, mehr abgesperrt, es gibt dort weniger Parks, weniger weite Räume wie, sagen wir, Ahrensfelde oder Marzahn, dort irgendwo. Es sind zwar nicht meine Lieblingsgegenden, aber mit dem Platz ist dort alles in Ordnung. Und alles ist sehr abgesperrt, viele eingezäunte Bereiche, viele Hinterhöfe, die sehr alt und sehr dreckig sind, irgendwelche Industrieorte. Und hier, klar, jetzt wird alles neu gebaut und verändert sich stark, und allein das freut mich schon. Ostberlin ist vielvölkerischer, internationaler, und ich, ein Ausländer der in Deutschland lebt, finde es wichtig. Was kann man noch über Westberlin sagen: Kreuzberg, habe ich nichts dagegen, ein sehr guter Bezirk, auch Schöneberg, aber Wilmersdorf und Charlottenburg, das ist schon, naja…“26
Die Enge, die Pavel für den Westteil Berlins als charakteristisch empfindet, kommt dem Gefühl sehr nahe, das viele junge Israelis in ihrem Herkunftsland verspüren und als Grund für ihren Umzug nach Berlin erwähnen. Von den feindlich gestimmten arabischen Staaten eingeschlossen, fühlt man sich oft von der Außenwelt isoliert. Auch das Bild der „verbarrikadierten Straßen“, das Pavel in seiner Erzählung über Westberlin verwendet, erinnert an die vielen Checkpoints, aber auch an die Mauer, die sich in Israel mitten durch Jerusalem zieht und mittlerweile abgebaut wird. Dazu prägen viele Hochhäuser das Bild israelischer Großstädte und schaffen somit eine Stadtlandschaft, die junge Israelis auf der Suche nach „space and freedom“ nach Berlin treibt. 27 Auch die Beschreibung von Menschen „mit verrückten Augen“, die Pavel in Westberlin vorfindet, kommt dem Bild der sehr hektischen israelischen Gesellschaft nahe: Einer Gesellschaft, die immer unterwegs und immer erreichbar ist und in der man nicht selten zwei oder drei Handys besitzt. Einer Gesellschaft, die es sich angewöhnt hat, den heutigen Tag ganz intensiv zu leben, denn durch die permanente Lebensbedrohung könnte es ein Morgen nicht mehr geben. Im Osten Berlins findet Pavel genau das, wovor er aus Israel geflüchtet ist: Die Freiheit, wobei damit sowohl die Bewegungs- als auch die Denkfreiheit gemeint sein könnte. Zwar ist Israel ein demokratischer Staat, in dem Meinungsfreiheit eine Selbstverständlichkeit ist. Jedoch sind viele soziale und religiöse Konflikte so stark politisch aufgeladen, dass sie von den Bürgern des Landes ei26
Mental Mapping-Sitzung 20.6.2010. Übersetzung aus dem Russischen.
27
Vgl. dazu exemplarisch: o.V. (2010): Young Israelis are Moving to Berlin in Droves; Halser (2010): Sie mögen Deutschland. Das Bild Israels als das „verbarrikadierte Land“ ist mittlerweile auch zum Motiv mehrerer Spiel- und Dokumentarfilme geworden wie zum Beispiel „Checkpoint“ von Yoav Shamir, 2003; „Route 181“ von Michael Khleifi und Eyal Sivan, 2003; „Mauer“ von Simone Bitton, 2004.
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ne klare Positionierung abverlangen und oft keine Grauzonen und daher wenig Raum für Diskussionen lassen. Die Konflikte zwischen Juden und Arabern, orthodoxen und säkularen Bürgern, halachischen und nicht-halachischen Juden, Juden und nicht-jüdischen Fremdarbeitern bilden mit ihrer Alltagsbrisanz einen klar abgesteckten Diskursrahmen. Als Folge bleibt wenig Raum für andere existenzielle Fragen, wie zum Beispiel die Frage der Selbstfindung, übrig, die für die Jugendlichen und jungen Erwachsenen – und in den Zeiten der Zweiten Moderne generell – eine zentrale Position einnehmen. Im Vergleich zu einer so stark konfliktgeladenen gesellschaftlichen Situation erscheint Berlin als ein Paradies der Möglichkeiten, in dem alle Sehnsüchte erfüllt werden und alle Talente ihre Verwendung finden. Während Pavel die Freiheit des Ostens der Enge des Westens gegenüberstellt, löst er sich aus dem Korsett der hegemonialen Denkschemata. Dadurch gewinnt er die „Wahlfreiheit“ und die „Alternative“ des Denkens und Handelns, die, wie er bemerkt, für seine persönliche Entwicklung grundlegend seien. Pavels Bild von Berlin entsteht, indem er dieses mit Bildern israelischer Städte vergleicht und Berlin auf Grundlage seiner israelischen Erfahrungen bewertet. Pavels Mental Map von Berlin kann man daher als Relation bezeichnen, weil sie sich vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen in anderen Städten konstruiert und relativiert. Zwar wird unser Vorstellungsbild vom Stadtraum, in dem die Erfahrung, das Wissen und Gedächtnis mit der physischen Natur des Raumes in Beziehung tritt, auf der kognitiven Ebene konstruiert und ist daher von abstrakter Natur. Jedoch ist es kein luftleerer Raum, der unseren mentalen Stadtkarten zugrunde liegt. In diesem Zusammenhang begreift Martina Löw den Wahrnehmungsprozess von Räumen als einen „Aspekt des Handelns“ und behauptet, dass im alltäglichen Handeln die „Synthese“ von Orten immer von Wahrnehmungsprozessen begleitet wird: „In der Wahrnehmung verdichten sich die Eindrücke zu einem Prozess, einem Spüren der Umgebung, in der man sich befindet, bei dem die sozialen Güter eben nicht nur platzierte Objekt sind, sondern durch ihre Außenwirkung das Spüren der Betroffenen beeinflussen. Diese Ausstrahlung geht nicht nur von sozialen Gütern, sondern auch von anderen Menschen aus und beeinflußt die Wahrnehmung.“28
Die Löw’sche Behauptung, dass sowohl Menschen als auch Dinge auf die Wahrnehmung der Umgebung einen zentralen Einfluss haben, bestätigt Pavel im weiteren Verlauf des Interviews: 28
Löw (2001): Raumsoziologie, 195.
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„Menschen im Westen, so scheint es mir, sind irgendwie angespannt und mir fremd, sagen wir, nicht so nah wie die, die im Ostteil der Stadt leben. Vielleicht habe ich es mir auch eingebildet, aber es scheint mir, dass Menschen, die hier leben, kommunikationsfreudiger sind, als die aus dem Westen. Von Menschen hängt sehr viel ab. Berlin ist generell eine Kontraststadt: Hier gibt es viele Diskussionen, verschiedene Demonstrationen und so, das gefällt mir. Was mir in Berlin noch gefällt, ist, dass hier im Unterschied zu anderen Städten Deutschlands Menschen direkter und dadurch offener sind. Das bedeutet, dass Menschen es bevorzugen, das Problem direkt auf den Tisch zu legen. Wenn es irgendeinen Konflikt gibt oder sonst etwas, erzählen sie direkt, was sie bedrückt und wie kann man es… und wie sie die Lösung des Ganzen sehen, und dann beginnt auch schon das Gespräch. Das heißt es gibt keine Andeutungen, Auslassungen oder so was ähnliches, das ist typisch für Berlin. Und das gefällt mir auch, mir gefällt diese direkte Kommunikation. Es gibt diesen Terminus, die ‚Berliner Schnauze‘, genau darüber rede ich gerade: direkt seine Meinung sagen. Das klingt nicht immer gut und das ist auch nicht immer korrekt, aber das Prinzip an sich gefällt mir. Auch wenn ich an meine russischen Landsleute denke, sind sie auch irgendwie angespannt. Die russischen Menschen sind ja generell nicht geduldig. Sie haben siebzig Jahre lang beigebracht bekommen, dass sie auf dem gesamten Planeten ganz vorne stehen mit ihrem Bolschoi-Theater29 und den Kosmonauten. Und wenn Russen heute nach Deutschland kommen, werden sie mit einer ganz anderen Realität konfrontiert. Wenn sie hierher kommen, heißt es, dass sie genau im Gegenteil, in ihrem Fortschritt ganz hinten sind, und überhaupt, dass wir für unsere Rechte nicht einstehen und im Großen und Ganzen nicht frei denken können. In Deutschland leben sie in einer anderen Realität, hier wird viel über Russland geschimpft und man spricht darüber, dass es dort keine Demokratie gibt, und das stimmt ja auch, was für eine Demokratie gibt es dort schon? Und Menschen, die hier leben, werden damit konfrontiert, sie werden ja eher als ‚Russen‘ wahrgenommen, sogar die Juden, weil ihre Muttersprache Russisch ist, und basta. Und wenn du ein Russe bist, dann kannst du für deine Rechte nicht einstehen und begreifst die demokratischen Werte nicht ganz und hast keine eigene Position und Meinung. Wir sind es ge-
29
Das Bolschoi-Theater (dt.: Großes Theater) in Moskau ist das bekannteste und wichtigste Schauspielhaus für Oper und Ballett in Russland. Um die Vorzüge des Sozialismus zu unterstreichen und den kapitalistischen Westen zu dämonisieren, wurde in der Sowjetunion jahrzehntelang die Ansicht verbreitet, dass die sowjetische Bühnenausbildung sowie das Bildungs- und Erziehungssystem generell das fortschrittlichste weltweit sei. Das Gleiche wurde auch in Bezug auf Wissenschaft, Sport, Film und in vielen anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens propagiert. Klaus Helge Donath bezeichnet die sowjetische Mentalität in diesem Zusammenhang als „Sputnikmentalität“ in Anspielung auf den Raumfahrttriumph der UdSSR in den 1950er Jahren. Vgl. Donath (2011): Das Bildungssystem Russlands.
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wöhnt, dass irgendjemand für uns was tut und dass von uns selbst nichts abhängt. Nu, teilweise ist es wirklich so, weil wir so gelebt haben. Wenn du heute aus Russland nach Deutschland kommst, spürst du diese Konfrontation, diesen Zusammenprall. Die Russen sind es gewöhnt, dass alle sie mögen, aber dann kommen sie hierher und man mag sie hier nicht. Und dann gibt es hier auch noch verschiedene Installationen wie die Mauer und so, und dass die Sowjetunion Menschen tötete und all das. Die Russen sind ja generell sehr intolerant und dann mag man sie hier auch noch nicht, und anstatt zu kommunizieren oder zu klären oder einfach auch nur in Dialog zu treten, wie die Deutschen es gerne tun, ziehen die russischen Leute beleidigt ab und sagen: Nein, wir fahren zurück nach Hause, in unsere Küche oder so was ähnliches. Und mit den jüdischen Zuwanderern ist es nicht anders.“30
Die Kommunikationsfreudigkeit und Konfliktfähigkeit, die Pavel als charakteristisch für Berlin empfindet, wobei er diese wiederum nur den Ostberlinern zu eigen macht, bringt er mit seinen eigenen russischen Landsleuten in Verbindung, die, wie er an einer anderen Stelle bemerkt, mehrheitlich in Charlottenburg und Wilmersdorf, also im Westen wohnen. Indem Pavel die Intoleranz und Konfliktunfähigkeit der „Russen“ mit der Diskussionsfreudigkeit und Offenheit der (Ost)Deutschen kontrastiert, treten hier Fremdbilder und Images auf, die in Pavels „persönlichen Besitz“ übergegangen sind und somit zu Eigenbildern wurden. Obgleich ihrer symbolischen Natur, können sie als kulturelle Bilder der Wirklichkeit gesehen werden. In seiner Analyse der deutschen „Wir-Bilder“ nach 1945 nimmt Kaschuba an, dass die deutschen Selbstbilder dank ihrer historischen Dynamik stärker als andere nationale Selbstbilder dazu tendieren, ihre Gruppenzugehörigkeit durch die Abgrenzung von den „Fremden“ auszuhandeln. Bei Migranten, einer Gruppe, die als die stärkste Bedrohung der deutschen „Wir-Gemeinschaft“ gesehen wird, bleibt die sprachliche Andersartigkeit die wichtigste Differenzierungsgrundlage.31 Das würde die Aussage von Pavel erklären, dass alle Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion unabhängig von ihrem ethnischen Hintergrund in Deutschland auf ihre Sprache als den gemeinsamen Nenner gebracht und als „Russen“ wahrgenommen werden. Aber warum ist es für Pavel überhaupt wichtig, von dem Bild der „intoleranten“, „konfliktunfähigen“ und „meinungslosen Russen“, das in Deutschland existiert, zu sprechen? In meinen Überlegungen bin ich bislang davon ausgegangen, dass die Entstehung von Feindbildern und Gegenentwürfen eine notwendige kulturelle Maß30
Mental Mapping-Sitzung 20.6.2010. Übersetzung aus dem Russischen.
31
Kaschuba (2008): Deutsche Wir-Bilder nach 1945.
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nahme ist, die es uns ermöglicht, uns durch Abgrenzung unserer eigenen Gruppenzugehörigkeit zu versichern. Zwar streitet Pavel seine Zugehörigkeit zu der „Russen“-Gemeinschaft nicht ab, indem er von einem „Wir“ spricht, übernimmt aber die Fremdbilder, die in Deutschland von den „Russen“ existieren und macht sie zu seinen eigenen. In einem weiteren Schritt distanziert er sich selbst von solchen Images, indem er das Bild der (Ost-)Deutschen als eine Konstruktion in Anspruch nimmt, die seiner Selbstidentifizierung mehr entspricht: offen und direkt, diskussionsfreudig und kommunikationsbegeistert. Die ursprüngliche „WirGemeinschaft“ wird somit zur „Gegen-Gemeinschaft“. Darin spiegelt sich der gängige Integrationsmechanismus der Migranten wider, der in der Abgrenzung von der eigenen Herkunftsgruppe besteht und die Identifikation mit der Ankunftsgesellschaft forcieren soll. Der hier beschriebene Prozess verdeutlicht, dass die Zuschreibungen von außen für die Produktion einer kulturellen oder ethnischen Identität von zentraler Bedeutung sind, diese aber von den Angehörigen der betroffenen Gruppe nicht notwendigerweise eins zu eins übernommen werden. Die Fremd- und Eigenbilder bezeichnet Jan Assmann als klassische Teilaspekte des „kulturellen Gedächtnisses“. In ihnen erhält die Tradition ihre „kulturelle Form“. Zuerst in der alltäglichen Kommunikation mit anderen Gesellschaftsmitgliedern ausgehandelt, finden diese ihren Weg in den Speicher des „kulturellen Gedächtnisses“ einer Gruppe und werden dort zum allgemeingültigen Vorrat, auf den man jederzeit in der Gegenwart zugreifen kann. 32 Sicherlich werden solche durch Fremdwahrnehmung bestimmten Bilder nicht von allen Mitgliedern der Gemeinschaft akzeptiert und in deren „Privatbesitz“ übernommen. Assmann weist allerdings darauf hin, dass gerade die Umstrittenheit und Alternativität solcher Bilder darauf hindeuten, dass diese in das „kulturelle Gedächtnis“ übergegangen sind.33 Pavels Mental Maps zeigen, dass in seiner Wahrnehmung der Stadt mehrere Speicher angezapft werden und mehrere Zuordnungen miteinander in Verbindung treten: Er ist ein Berliner, ein Russe und ein jüdischer Israeli gleichzeitig.
32
Assmann (1997): Das kulturelle Gedächtnis.
33
Ebd.
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V ON DEN T RABIS UND DEN S CHWABEN ODER WO LIEGT DER W EG ZUR JÜDISCHEN G EMEINSCHAFT ? Während in Pavels Wahrnehmung von Ostberlin die Aspekte der Freiheit, Vielfalt und Offenheit durch seine relativierenden israelischen Erfahrungen in den Vordergrund rücken, so lässt sich für meine Akteure ohne eine solche Erfahrung nicht dasselbe behaupten. In vielen Gesprächen über die beliebten und unbeliebten Gegenden brachte kaum ein Viertel heftigere Reaktionen hervor als Prenzlauer Berg, der ehemals einer der ärmsten Ostberliner Stadtteile war und heute als ein Musterbeispiel der Gentrifizierung gilt. Wenn es um dieses Gründerzeitviertel ging, waren meine Akteure stets verschiedener Meinungen: Entweder liebte man es bedingungslos oder man hasste es von ganzem Herzen. So wie an jenem sommerlichen Freitagabend, an dem Vlad, Dina und ich den Gottesdienst in der Synagoge in der Prenzlauer Berger Rykestraße auf Anregung von Vlad besuchen. Unser Ausflug ist ein Teil des sogenannten „Synagogen-hopping“, eine Bezeichnung, die von Vlad stammt. Noch nicht sehr lange in Berlin, will er die Gottesdienste aller Berliner Synagogen anschauen, um sich einen Überblick über die religiöse Landschaft der Hauptstadt zu verschaffen. In einer Synagoge, die für 2.000 Menschen Platz bietet, sind an diesem Schabbat vielleicht insgesamt 30 Menschen versammelt. Eine große Leere mit ein paar gefüllten vorderen Reihen lässt die Stimme des Kantors so sehr im Raum hallen, dass die Worte kaum zu verstehen sind. Als der Gottesdienst vorbei ist, mischen sich Männer und Frauen, die während des Gebets gemäß der religiösen Vorschrift der Geschlechtertrennung auf verschiedenen Seiten des Raumes Platz genommen hatten, wieder untereinander. Einige Besucher kommen auf uns zu, um uns „Schabbat Schalom“, einen friedlichen und guten Feiertag, zu wünschen. Wieder an der frischen Luft, laufen wir die Kollwitzstraße entlang. Die Schaufenster der Designer Boutiquen und Kunstgalerien blicken uns entgegen. Nach oben versperren großzügig geschnittene Balkone den Himmel, und unsere Blicke wandern zwangsläufig durch die breiten beleuchteten Fenster in die geräumigen Wohnzimmer hinein. Immer wieder kommen uns elegant und modisch gekleidete junge Paare entgegen. Sehr gepflegt. „So viele gut aussehende Menschen“, bemerkt Vlad, „wo gehen sie wohl alle hin? Es lohnt sich also doch, lange zu studieren, um sich danach eine Wohnung hier in der Ecke leisten zu können.“34 Mittlerweile haben wir eine Runde gedreht und sind wieder an der Synagoge angekommen. An einer gegenüberliegenden Ecke, in der Knaackstraße, entdecken wir ein Restaurant und ein Café nebeneinander: Die beiden Lokale sind nach bedeutenden 34
Feldnotizen 19.9.2010.
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russischen Persönlichkeiten genannt: Boris Pasternak und Juri Gagarin. Ein Pärchen raucht davor und unterhält sich gemütlich auf Russisch, verstummt aber, als wir uns nähern und unsere eigenen russischen Gesprächsfetzen hörbar werden. Als Dina vorschlägt, auf einen Tee hinein zu gehen, bemerkt Vlad etwas verlegen, dass er leider kein Geld dabei habe, weil man am Schabbat gemäß dem religiösen Arbeitsverbot kein mit sich tragen und auch nicht bezahlen darf, um dadurch die Arbeit der anderen nicht zu vergüten. An diese Vorschrift hält sich Dina nicht und bietet an, Vlad auf einen Tee einzuladen. Im Innenraum sind wir von den Bildern Juri Gagarins, der erste Mensch im Weltall, umgeben. Der Tee wird aus Gläsern mit Teeglashaltern aus Aluminium serviert, die mich an die Chai-Zeremonie in den osteuropäischen Zügen erinnern. Das Klappergeräusch des Metalls gegen das Glas bei dieser eigenartigen Konstruktion werde ich für immer mit den tagelangen Zugfahrten durch die sowjetischen und postsowjetischen unermesslichen Breiten assoziieren. Während ich meinen eigenen Erinnerungen nachsinne, sind Dina und Vlad von dem Menü fasziniert: Im Angebot sind Bliny und Vareniki, Pelmeni und Borschtsch – alles uns dreien seit der Kindheit bekannte Speisen. Auf der Karte entdeckt Vlad ein Brunch mit russischen Speisen, der sonntags angeboten wird, und schlägt vor, am nächsten Sonntag wieder zusammen hierher zu kommen. Er merkt an, dass er die Gegend hier sehr mag und sie mehr entdecken möchte, woraufhin sich ein Gespräch zwischen ihm und Dina entwickelt: Vlad:
„In Prenzlauer Berg gefällt es mir ganz gut, die ganzen kleinen Läden, Cafés, Restaurants und so…“
Dina:
„Ich finde Charlottenburg aber viel besser.“
Vlad:
„Charlottenburg? Das ist doch total spießig. Ich will nach Prenzlauer Berg ziehen.“
Dina:
„Ich finde Prenzlberg unerträglich, hier leben nur Schwaben, und die ganzen Muttis mit Kindern sind dermaßen militant. Prenzlberg gilt unter den Zugezogenen als hipp, aber die richtigen Berliner wohnen woanders. Auch sind die Menschen hier Heuchler. Sie sagen, dass sie sehr offen sind und nichts gegen Ausländer haben, wollen aber in Prenzlberg unter sich bleiben und ziehen nicht zum Beispiel nach Kreuzberg oder Neukölln. Aber ich sage direkt, dass ich nicht mit Türken zusammen leben will, aber ich tue ja auch nicht so, als ob ich total offen wäre, ich sage, dass ich konservativ bin. Ich finde Charlottenburg ganz toll. Es ist flippig dort. Der Park und die Spree, und viele ältere Menschen, die meisten sind um die sechzig und männlich. Ich komme mit älteren Menschen sehr gut klar. Wilmersdorf ist spießig, aber Charlottenburg nicht.“
DIE JÜDISCHEN MENTAL MAPS | 133
Vlad:
„Ich wohne momentan im Wedding, aber ich will nach Prenzlberg ziehen, weil ich in den Osten will. Ich komme eben aus dem Osten und ich merke, dass ich im Westen nicht ankomme. Ich werde dort nicht angenommen. Wenn ich über Trabis rede, verstehen Leute mich nicht. Wenn man nicht einen BMW fährt, ist man dort nicht willkommen. Generell komme ich in Berlin nur sehr langsam an. Hier braucht man überall Beziehungen. Wenn ich zum Beispiel Tango tanzen gehe: das erste halbe Jahr durfte ich nur diejenigen zum Tanz auffordern, die entweder ganz Anfänger sind und sich darüber freuen, dass überhaupt jemand auf sie zukommt, oder Touristen eben. Obwohl ich schon seit dem dritten Semester meines Studiums tanze, und so was sieht man ja, wie lange einer tanzt und was man drauf hat, wie man sich bewegt und so, dass man eben kein Anfänger ist. Aber in Berlin dauert es sehr, sehr lange bis man akzeptiert wird. Das ist schon komisch: Einerseits ist es eine Großstadt und alle und alles sind so offen, andererseits ist man hier so engstirnig.“
Dina:
„Stimmt, das ist mir in Berlin auch aufgefallen. Vor allem bei den Russen, s 35
naschimi . Man legt sehr viel Wert darauf, mit wem du dich blicken lässt und was du anhast, Markenklamotten und so.“
36
Ähnlich wie Pavel empfindet auch Vlad Seelenverwandtschaft mit Menschen, die im Osten Berlins leben. Die Gründe für diese Zuneigung sind allerdings bei beiden unterschiedlich. Während Pavel sich im Osten deswegen wohlfühlt, weil er den Westen bewusst ablehnt, sympathisiert Vlad mit dem Osten aufgrund der Tatsache, dass der Westen ihn abzulehnen scheint. Somit steht für Vlad Westberlin repräsentativ für die gesamte Stadt: In Berlin fühlt er sich generell nicht angekommen und nicht akzeptiert, weder als „Ossi“ noch als Tangotänzer. Auch Vlad benutzt seine Erfahrungen, die er in anderen Städten gesammelt hat, um sein mentales Bild von Berlin zu konstruieren, indem er vergleicht, bewertet und mit folgendem Satz relativiert: „Ich komme eben aus dem Osten und ich merke, dass ich im Westen nicht angekommen bin.“ Ähnlich wie bei Pavel, kann auch seine Mental Map von Berlin daher als eine Relation bezeichnet werden.
35
S naschimi (dt.: mit den „Unseren“). Das ganze Gespräch findet zwar auf Deutsch statt, ab und zu werden aber russische Worte verwendet. Bei unseren wiederholten Treffen behauptete Dina immer wieder, das Russische nicht gut genug zu beherrschen, und zog daher Deutsch als Kommunikationssprache vor. Mit Vlad sprach ich unter vier Augen zwar Russisch, in dieser Dreier-Konstellation setzte sich allerdings stets Deutsch als gemeinsame Sprache durch.
36
Feldnotizen 19.9.2010.
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Der Widerspruch, den Vlad in Bezug auf Berlin bemerkt: die Freiheit auf der einen Seite und die Engstirnigkeit auf der anderen, wird auch von Dina beobachtet. Auch sie findet es schwer, in Berlin dazuzugehören. Allerdings hat sie diese Beobachtungen vor allem in Bezug auf die eigenen Landsleute, die „Unseren“, gemacht. Dieser von ihr in einem sarkastischen Ton benutzte Ausdruck deutet darauf hin, dass in ihren Augen die eigene Zugehörigkeit zu den russischsprachigen Juden weniger wert ist als ihr Wunsch, sich von der Gruppe ihrer Landsleute zu distanzieren. Dem „Versnobten“ und „Markenbewussten“ setzt Dina das „Kultivierte“ und „Dezente“ entgegen und bedient sich in ihrer Distanzierung von der eigenen Herkunftsgruppe eines unter den Zugezogenen beliebten Mechanismus. Aber es sind nicht allein ihre Landsleute, mit denen Dina nicht in Verbindung gebracht werden möchte, sondern vielmehr die „Ausländer“ insgesamt. Die Gegenden mit hoher Konzentration an türkischen Bewohnern wie Kreuzberg oder Neukölln bezeichnet sie als „Ausländergegenden“, in denen sie eindeutig nicht wohnen will. Charlottenburg hingegen, wo sich nach ihren eigenen Aussagen heute die meisten russischsprachigen Juden niedergelassen haben, betrachtet sie nicht als solch eine Gegend, und auch sich selbst nicht als Ausländerin, wofür auch ihre Vorliebe für Deutsch als Kommunikationssprache gegenüber dem Russischen spricht. Auch Dinas heftige Ablehnung von Prenzlauer Berg liegt in dem Wunsch nach Zugehörigkeit begründet: In Prenzlauer Berg, behauptet sie, würden allein die Zugezogenen leben, während das westliche Charlottenburg die Gegend der „echten“ Berliner sei. Selbst eine Zugezogene, legt Dina viel Wert darauf, mit der Gruppe der „neuen“ Berliner und der Migranten nicht in Verbindung gebracht zu werden, sondern als „wahre“ Berlinerin akzeptiert und respektiert zu werden. Zwar zieht Dina den Westen Berlins vor, während Vlad den Osten Berlins bevorzugt, aber das Ziel einer solchen geographischen Verortung ist bei beiden, mit Bourdieu betrachtet, gleich: sie suchen ihr „kulturelles“ und „symbolisches Kapital“ zu steigern, indem sie in der Berliner Gesellschaft endlich „ankommen“ und sich Anerkennung von deren Gesellschaftsmitgliedern verschaffen. Wenn Vlad den sozio-kulturellen Gegensatz zwischen Ost und West deutlich machen will, greift er zu den Bildern von „Trabi“ und „BMW“, die für ihn symbolisch für die beiden „politischen Himmelsrichtungen“ stehen. Jan Assmann behauptet, dass in dem Moment, in dem die Sachen einen „kulturellen Sinn“ erhalten, diese kodifiziert und somit zum festen Bestandteil des „kulturellen Gedächtnisses“ werden, was nun ihre metaphorische Verwendung erlaubt.37 In seiner Identifikation mit dem Osten greift Vlad auf solche Bilder zurück. Auch Di37
Assmann (1997): Das kulturelle Gedächtnis.
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na macht sich in ihrer Beschreibung vom Ostberliner Stadtteil Prenzlauer Berg ein Bild zunutze, das man als kollektiv bezeichnen kann. Die „Schwaben“, über die sie abwertend als „arrogant“ spricht, prägen in den letzten etwa fünfundzwanzig Jahren den stadträumlichen Diskurs in Berlin. In den Medien wird die Verdrängung der ursprünglichen Einwohner der ehemals ärmeren Viertel durch die Zuzügler aus dem Westen häufig mit „Invasion“ oder „Plage“ der Schwaben bezeichnet, wobei damit die West-Provinzler generell gemeint sind.38 Dass dieses Bild in sozialer Kommunikation produziert wird, wird deutlich, wenn man sich die Worte von Dinas Freund vor Augen führt. Im Unterschied zu Dina, die erst vor einem Jahr nach Berlin zog, ist Stanislav schon im Alter von einem Jahr mit seiner Familie aus Riga nach Berlin gekommen. Wenn man seiner Erzählung lauscht, stellt man fest, dass Dina ihre Rhetorik über die Schwaben und die Zugezogenen von Stanislav übernimmt: „Ich würde niemals in den Osten ziehen. Also, Prenzlauer Berg geht gar nicht. Es ist halt nicht Berlin, ist halt so ’n exterritoriales Gebiet. Genau wie Mitte und immer mehr auch Friedrichshain. Also, richtige Berliner hast du da kaum noch, na was heißt kaum noch, wenn wir jetzt von Prozentzahlen ausgehen würden wahrscheinlich immer noch die Hälfte oder so was, aber die fallen nicht mehr ins Gewicht durch die ganzen Schwaben und Bayern, die dahin gezogen sind. Und ich kann auch mit dieser Oberflächlichkeit nichts anfangen, die vorgibt, tiefsinnig zu sein. Einfach nur dieses Vorgeben wie: Ich bin wer, so wichtig tun, vor allem auf so ’ner intellektuellen Ebene, und das kommt da so oft vor. Jetzt nicht nur politisch, ja, die ganzen Idioten, die bio kaufen und links wählen und am Ende trotzdem einfach nur persönlich Arschlöcher sind, damit kann ich mich nicht arrangieren, davon rennt da so viel rum, das ist keine Verallgemeinerung, die pure Wahrheit.“39
Bis zu diesem Punkt ließen die Mental Maps von Vlad und Dina den Rückschluss zu, dass bei ihnen auf der topographischen Ebene die Zuordnungen als „Berliner“, „Zugezogene“, „Ossi“ oder „Wessi“ ineinander übergehen. Eine solche Kombination lässt sich allerdings nicht einzig und allein für die Gruppe der russischsprachigen Juden als charakteristisch feststellen. Der Kampf um Anerkennung, der oben beschrieben wurde, ist kennzeichnend für jeden, der wie Dina und Vlad aus kleineren Städten in eine Großstadt zieht. Bei der ganzen Diversität von Angeboten und der Offenheit der Bewohner wird hier die von Simmel paradigmatisch beschriebene nervenaufreibende Mannigfaltigkeit sowie das Tempo
38
Wenderoth (2010): Die Invasion der „Schwaben“.
39
Interview 31.7.2010.
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des Stadtlebens deutlich,40 die dazu führen, dass es ziemlich lange dauern kann, bis man sich in Berlin mit seinem eigenen Lebensentwurf durchgesetzt hat und als gleichwertig akzeptiert wird. Kein Mensch kann bei diesem „Kampf um Anerkennung“ dem Prozess der Neuaushandlung eigener Zuschreibungen, der oft sehr schmerzhaft und konfliktreich verläuft, entkommen. Christine Riegel und Thomas Geisen weisen jedoch darauf hin, dass die Auseinandersetzung mit Zugehörigkeiten zwar bei allen Menschen zentral ist, sich jedoch bei jungen Menschen mit Migrationshintergrund besonders komplex gestaltet, da deren Zugehörigkeit auch grundsätzlich umstritten ist oder abgelehnt wird. Die vielfältigen ethnischen, religiösen und kulturellen Identitätsbezüge, die junge Einwanderer mitbringen, werden im nationalen oder ethnischen Kontext der Aufnahmegesellschaft als „anders“ und „fremd“ konnotiert. Dadurch begleitet die Frage der Zuordnungen die jungen Migranten permanent in ihrem Alltag und zwingt sie dazu, sich zu positionieren.41 Im klassischen Sinn wird ein solcher Prozess in der Migrationsforschung mit den Problemen der Aufnahme in die Mehrheitsgesellschaft in Verbindung gebracht. Allerdings scheinen Dina und Vlad, so wie die meisten jungen russischsprachigen Juden, in dieser Hinsicht keine Integrationsprobleme zu haben. Ihre perfekten Deutschkenntnisse und hohen Bildungsabschlüsse in Medizin und Jura, die eine hervorragende Qualifikation für den Arbeitsmarkt mit sich bringen, ist ein nicht zu verkennendes Beispiel für die Verfechter der Integrationsdebatte für eine völlig gelungene „Eingliederung“ in die Mittelschicht der deutschen Gesellschaft. Für den „Anerkennungskampf“, den russischsprachige jüdische Zuwanderer in Berlin führen, muss es deswegen andere Gründe geben, als ihre von der deutschen Gesellschaft wahrgenommene Andersartigkeit. Während meiner häufigen Gespräche, Spaziergänge und Ausflüge mit Dina und Vlad stellte ich fest, dass beide große Schwierigkeiten haben, den Anschluss an die jüdische Gemeinschaft in Berlin zu finden. Beispielhaft dafür ist ein Abend, an dem eine Gruppe junger Juden einen Ausflug in das Lieblingstanzlokal von Vlad, Clärchens Ballhaus in der Auguststraße in Berlin-Mitte, unternimmt. Auf dem Weg dorthin, der an der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße, dem offiziellen Sitz der Berliner Jüdischen Gemeinde, vorbei führt, bemerkt Vlad: „Ich habe schon darüber nachgedacht, die Jüdische Gemeinde nach einem Raum zu fragen um dort Tangounterricht anzubieten. Es gibt ja in der Gemeinde viele verschiedene Clubs, und an den Räumen mangelt es nicht. Gut, es muss ein Bezug zum Jüdischen da sein, dann
40
Simmel (2006): Die Großstädte und das Geistesleben, 9f.
41
Riegel/Geisen (2010): Zugehörigkeit(en) im Kontext von Jugend und Migration, 7f.
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nennen wir ihn halt den jüdisch-argentinischen Tango. Aber wer wird mir schon einen Raum geben. Gemeinde arbeitet ja nur mit ihren eigenen Leuten zusammen, und ich bin ja gar kein Gemeindemitglied, da meine Mutter nicht jüdisch ist, sondern nur mein Vater. Hier in Deutschland wollte man nach dem Krieg jüdischer sein als die Juden selbst, deswegen wird auf die Halacha einen so großen Wert gelegt. Und für mich gibt es Juden und es gibt Goim. Goi ist derjenige, der Juden nur aus dem Fernsehen kennt. Alles, was dazwischen ist, ist Quatsch. Jude ist für mich jeder, der von einem Juden abstammt, egal ob Vater oder Mutter. Die Abstammung nach der Mutter hat man ja erst in den Zeiten des Babylonischen Exils eingeführt, weil man damals oft nicht wusste, wer der Vater war. Heute kann man aber leicht feststellen, wer der Vater ist. Als ich in Wilna in die Ferienlager der Sochnut42 gefahren bin, hat mich niemand gefragt, wer von meinen Eltern jüdisch sei. Auch für Israel ist es egal, sie nehmen nach dem Rückkehrrecht jeden auf.“43
Die Tatsache, dass Vlad als geübter Tänzer in Berlin nicht akzeptiert wird, geht für ihn eine enge Verbindung mit dem Bestreiten seines Jüdischseins durch die Jüdische Gemeinde ein. In einem urbanen Kontext gehen die Aushandlungen der kulturellen und professionellen Zuschreibungen Hand in Hand. Vlad, der mir gegenüber mehrfach behauptete, dass er nach Berlin gekommen sei, um hier nach dem jüdischen Leben zu suchen und auch als Jude zu leben, was für ihn weder in Neustrelitz noch in Greifswald wegen einer fehlenden jüdischen Gemeinschaft möglich war, sieht sich in Berlin vor eine schwierige Aufgabe gestellt, sein Jüdischsein beweisen zu müssen. Sein ethnisches Verständnis des Jüdischseins kontrastiert mit der halachischen Definition der Zugehörigkeit zum Judentum.44 Um diesen Konflikt zu lösen, ist er im Laufe unserer einjährigen Bekanntschaft mehrere Varianten im Kopf durchgegangen, die der Jüdischen 42
Sochnut, The Jewish Agency for Israel ist die offizielle Einwanderungsorganisation des Staates Israel, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs als eine der ersten jüdischen outreach-Organisationen in der Sowjetunion jüdische Jugendclubs und Ferienlager eröffnete, um die jüdischen Kinder und Jugendlichen durch den Unterricht in die Geschichte des jüdischen Volkes und des Staates Israel sowie durch Hebräischkurse auf die Auswanderung nach Israel vorzubereiten.
43
Feldnotizen 16.5.2010.
44
Die Jüdische Gemeinde in Deutschland definiert sich als eine Religionsgemeinschaft und stellt an ihre Mitglieder halachische Anforderungen. Nur diejenigen, die entweder eine jüdische Mutter haben oder zum Judentum konvertiert sind, gelten nach der Halacha, dem jüdischen Religionsgesetz, als Juden und können daher Gemeindemitglieder werden. Den Kindern mit „lediglich“ jüdischen Vätern bleibt die Gemeindemitgliedschaft verwehrt.
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Gemeinde zu Berlin Beweise für sein Jüdischsein liefern sollten. Während er anfangs über die Frage einer offiziellen Konversion zum Judentum nachdachte, ließ er ein halbes Jahr später Gedanken über eine eventuelle Papierfälschung, wenn auch im Scherz, verlauten. Seine Überzeugung, dass auch er als Kind „lediglich“ eines jüdischen Vaters ein Angehöriger des jüdischen Volkes sei, hat sich im Laufe der Zeit nur verstärkt. Hier wird nochmals seine schon im vorigen Kapitel diskutierte Einstellung deutlich, mit dem eigenen Kopf zu denken anstatt sich auf die religiösen Autoritäten zu verlassen. In Vlads zitierten Überlegungen zur Zugehörigkeit zum Judentum ist das „kulturelle Gedächtnis“ mehrfach am Werk. So greift er im Zusammenhang mit der halachischen Regelung der Matrilinearität auf die Zeiten des Babylonischen Exils zurück – nach Assmann ein klarer Bestandteil des „kulturellen Gedächtnisses“, das auf die urhistorische Zeit und die mythischen Geschichten zurück geht. Ebenso ist hier Vlads eigene Erinnerung an die Zeiten im sowjetischen Wilna, wo er als Kind „lediglich“ eines jüdischen Vaters fraglos als Jude betrachtet wurde, als Teil des „kulturellen Gedächtnisses“ am Werk. Last but not least, ist sein Bezug auf den Zweiten Weltkrieg ein Produkt des Meinungsaustauschs, den ich häufig in Gesprächen der jungen russischsprachigen Juden verfolgte. So wurde immer wieder die Ansicht geäußert, dass die jüdische Gemeinschaft in Deutschland nach der schrecklichen Katastrophe so stark traumatisiert war, dass man sich heute aus Angst vor einer weiteren Zerstörung mit einem metaphorischen „Schutzzaun“ umgibt, indem man keinen Deut von den Buchstaben des Religionsgesetzes abweichen will. Im Falle derjenigen, die „lediglich“ einen jüdischen Vater haben, hat dies zur Folge, dass sie von den jüdischen Gemeinden nicht als Juden anerkannt werden. Mit einer solchen Interpretation der jüdischen Nachkriegshaltung in Deutschland, werden Handlungsstrategien geschaffen, die den Umgang mit der eigenen Ausgrenzung aus dem „jüdischen Volk“ erleichtern. Alle oben erwähnten Vergangenheitsbilder werden von Vlad zu einer Konstellation verknüpft, die er in den gegenwärtigen zeithistorischen Kontext einbettet. Dabei richtet sich diese einzigartige Zusammensetzung aus mehreren Bildern des „kulturellen Gedächtnisses“ nach dem Sinn, der sich aus der konkreten Situation ergibt. In einer Erinnerungspraxis wird die Vergangenheit somit neukonsolidiert und lebendig gemacht, was die Aktualität des kulturellen Speichers immer wieder bestätigt. Auch für Dina haben die oben beschriebenen Erlebnisse, in Berlin nicht angekommen zu sein, mit der Suche nach dem Anschluss an die jüdische Gemeinschaft zu tun. So erzählt sie mir immer wieder von ihren negativen Erfahrungen, die sie in Berlin mit der Jüdischen Gemeinde gemacht hat:
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„Als ich nach Berlin kam, ging ich zunächst zur Jüdischen Gemeinde. Ich wollte sehen, wie es hier so ist. Ich bin ja Ärztin und dann habe ich an einem Treffen der Vereinigung jüdischer Ärzte in der Joachimstaler teilgenommen. Aber sie waren alle unglaublich arrogant. Es ging gar nicht darum, gemeinsam das Judentum auszuleben und sich gegenseitig zu unterstützen, sondern darum, die beste Werbung für seine Arztpraxis zu machen und nach Informationen zu fischen. Danach bin ich nicht mehr hingegangen.“45
Auch für Dina war es nicht leicht, ihren Platz in der Berliner jüdischen Gemeinschaft zu finden. So wie sie in ihrer topographischen Verortung nach den „echten“ Berlinern sucht, sucht sie in den jüdischen Netzwerken nach einer „echten“ jüdischen Erfahrung und verurteilt dabei die soziale Praxis der Mitglieder, ihre Treffen als eine Arbeits- und Kommunikationsbörse zu nutzen. Der „Kampf um Anerkennung“, den die zugezogenen jungen russischsprachigen Juden in Berlin führen, wird somit durch ihre Bestrebungen bestimmt, in der jüdischen Gemeinschaft der Stadt Fuß zu fassen und geht, wie Riegel und Geisen korrekt behaupten, zum Teil auf die kulturellen und religiösen Identifizierungen zurück.
„B ERLIN IST
EINE
ANHÄUFUNG VON S OZIOTOPEN “
Wieder einmal kommt Stanislav auf sein Bild von Berlin zu sprechen: „Berlin ist für mich eigentlich ’ne Häufung von ganz ganz vielen interessanten Dörfern, Weilern, Städten, also an sich keine klassische Stadt, keine klassische Metropole mit einem gewachsenen Zentrum, wo man genau weiß: Aha, da muss man hingehen, wenn man was erleben möchte. Für mich ist Berlin wirklich ’ne Anhäufung von unterschiedlichen Lebensstilen, Kulturen, wirklich auch geographisch gemeinten Städten, ja, also abgetrennten… In Berlin sagt man gerne: ‚Kiez‘, ich sage immer ‚Soziotop‘ dazu. Also, wirklich abgeschlossene Bereiche, die geographisch dann aber so nah sind, dass man sich eigentlich…, was ich in Berlin immer sehr sehr mag, ist: Jeder wird nach seiner Fasson hier glücklich, du kannst es dir aussuchen. Und das finde ich eigentlich gut an Berlin, es ist total modular. Wohingegen… Also, ich will ja ungerne vergleichen mit anderen Großstädten. Tatsächlich wenn man es noch schneller haben möchte, wenn man noch mehr Kultur haben möchte, dann gibt’s auch andere Städte die da weitaus besser sind, vor allem in Europa London oder Paris oder was haben wir, New York. Aber so in der Mischung finde
45
Feldnotizen 6.4.2010.
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ich das… Vor allem wenn man es ganz gerne entspannt hat und trotzdem in der Großstadt leben möchte, finde ich es ganz gut hier. Das ist für mich so Berlin.“ 46
Ein wesentliches Element in Stanislavs Vorstellungsbild von Berlin ist die Ansammlung von verschiedenen Bereichen, Kiezen oder „Soziotopen“, wie er sie bezeichnet, die sich in ihrer kulturellen Prägung und spezifischen Lebensqualität unterscheiden. Dabei hebt er nicht den Zusammenhang dieser Bereiche hervor, sondern im Gegenteil deren Einmaligkeit und Unabhängigkeit voneinander. Sie bieten einem die Gelegenheit, die verschiedenen Kieze beliebig miteinander zu kombinieren und den Stadtraum immer wieder neu zu modulieren. Gerade in dieser Modularität besteht für Stanislav der besondere Reiz von Berlin: In Berlin orientiert man sich in seinem Wohn- und Arbeitsumfeld oder seiner Freizeit nicht an größeren Verwaltungsbezirken, sondern an kleineren Kiezen. Das macht es möglich, je nach familiären, kulturellen und sozialen Bedürfnissen, die Wohnorte zu wechseln und sich auch relativ schnell in dem neuen „Soziotop“ zurechtzufinden. Man könnte in diesem Zusammenhang von einem „nachbarschaftsbezogenen Orientierungssystem“ sprechen. Als Kiez wird umgangssprachlich ein lokaler Bereich mit der dazugehörigen Community bezeichnet, der eine besondere soziale Bewohnerstruktur aufweist. Räumlich ist ein Kiez in der Regel etwas größer als ein paar Blocks und liegt dabei in seiner Größenordnung irgendwo zwischen den englischen neighbourhood und district. Besonders in Berlin ist eine Aufteilung der Bezirke und Stadtteile in kleinere Einheiten, den Kiezen, sowohl im alltagssprachlichen als auch im medialen Gebrauch sehr üblich.47 Dies hängt möglicherweise damit zusammen, dass sich in Berlin im Vergleich zu Hamburg oder München kein stabiles Bürgertum herausbilden konnte. Denn eine Gegend, die für die Mittelschichtbewohner reserviert ist, würde man in der Regel nicht als „Kiez“, sondern als „Gemeinde“ oder „Kommune“ bezeichnen. An sich hat der Begriff Kiez etwas von Straßenecke, Arbeitermilieu, Migranten und somit auch etwas Rebellisches, was auch mit dem sprichwörtlichen barschen Ton und Humor der Berliner zusammen geht. Auch Werner Schiffauer spricht von den „Kiezbewohnern“ wenn er die Berliner „urbane kulturelle Ordnung“ analysiert und als kennzeichnend dafür den „Berliner Regionalismus“ nennt:
46
Interview 31.7.2010.
47
Vgl. Lorenz (2001): Local Socio-Economic Profile for „Soldiner Kiez“.
DIE JÜDISCHEN MENTAL MAPS | 141
„Berlin selbst ist, wie die deutsche Stadtlandschaft insgesamt, multipolar: Geschäfts- und Verwaltungszentrum fallen auseinander, und es gibt ein starkes Selbstbewußtsein der eingemeindeten Dörfer: Im sogenannten ‚Kiez‘ entfaltet sich urbanes und gleichzeitig übersichtliches Leben. In einem Essay über die Debatte um das Berliner Schloß beschreibt Klaus Hartung die Unlust der Stadt daran, Zentrum zu sein. ‚…Berlins Bevölkerung setzt sich aus dreieinhalb Millionen Kiezbewohnern zusammen, Ostkiezlern und Westkiezlern. Was bislang fehlte, das war der Stadtbürger selbst‘.“48
Das Bild von Berlin als einer „multipolaren Stadt“, auf die auch Stanislav in seiner Berlinbeschreibung eingeht, erlaubt es einem, die Metropole nicht als einen Organismus, sondern als eine Ansammlung von mehreren lebendigen Organismen zu sehen. Thomas Krämer-Badoni und Klaus Kuhm bringen in ihrem Essay über den Abschied von der europäischen Stadt die Veränderungen der Stadträume zur Sprache. Sie diskutieren die Beobachtung, dass in der modernen Großstadt die innerstädtischen Zentren an Bedeutung verlieren und stattdessen mehrere Zentren und Drehpunkte entstehen, die sich über den gesamten Stadtraum verteilen.49 Solche durch eine Vielzahl von nebeneinander existierenden Räumen hervorgerufenen Eigendynamiken spiegeln sich in der Wahrnehmung dieser Räume durch die Stadtbewohner wider und erinnern noch einmal an den Ausspruch von Martina Löw, dass „Raum kein fixes und starres Gebilde ist, sondern Räume gesellschafts- und kulturspezifisch hervorgebracht werden.“50 Als eins der Grundelemente unserer Stadtraumwahrnehmung nennt Kevin Lynch district, wohin sich der Beobachter hineinversetzen kann und der für ihn, in manchen Städten mehr, in anderen weniger, eine strukturierende Funktion seiner Vorstellungsbilder der Stadt besitzt. Im Berliner Kontext wird diese Funktion von verschiedenen Kiezen geleistet. Lynch nennt drei Charakteristika, die Stadtbereiche besitzen müssen, um als Grundelemente für unsere Orientierung in der Stadt zu dienen. Analog dazu muss ein Kiez erstens eine Identität im Sinne von „Individualität“ aufweisen, die ihn von den anderen Wohngegenden unterscheidet. Als Zweites muss eine „Struktur“ bzw. eine räumliche oder strukturelle Beziehung zwischen dem geographischen Raum und dem Individuum gegeben sein. Und schließlich spricht Lynch von der „Bedeutung des Wohnumfelds“, das für den Beobachter einen entweder praktischen oder gefühlsmäßigen Sinn haben 48
Schiffauer (1997): Zur Logik von kulturellen Strömungen in Großstädten, 123. Das Zitat im Zitat stammt von Klaus Hartung (1993): Laudatio auf eine Hülle. In: ZEITMagazin, 46/1993, 52.
49
Krämer-Badoni/Kuhm (2000): Mobilität.
50
Löw (2004): Raum – die topologische Dimension der Kultur, 48.
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soll.51 Im Folgenden möchte ich die mentalen Stadtkarten junger russischsprachiger Juden in Berlin nach diesen drei Komponenten untersuchen, um auf diese Art und Weise die kiezbasierten Orientierungsmuster plastischer und greifbarer zu machen. An die eben dargelegte Definition von Lynch muss ich auch an jenem Augustnachmittag denken, an dem ich mit Stanislav am S-Bahnhof Jungfernheide in Charlottenburg verabredet bin. Für ein Interview hat er mir seine Stammstrandbar am Spreeufer vorgeschlagen, weil der Tag zu heiß ist, um in der Wohnung zu sitzen. Auf dem Weg zur Bar nimmt Stanislav mich auf Umwegen auf einen kleinen Spaziergang durch seine Gegend mit. Wir laufen durch die fast menschenleeren Straßen. Es sind hauptsächlich Wohnhäuser, nur ab und zu drängt sich ein „Späti“ in eine Lücke zwischen zwei grauen und balkonlosen Altbauten, oder ein Schlüsselmacher hat seinen Betrieb an einer der Ecken eingerichtet. Zwischendurch kommt man an den klotzartigen Neubauten vorbei, in denen sich Aldi und Lidl niedergelassen haben. Stanislav zeigt beim Laufen nach rechts und links: „Hier ist das Rathaus, dort haben die Bomben im Zweiten Weltkrieg eine Lücke hinterlassen, die nun mit den Langweilerbauten aus den 60er und 70er Jahren geschmückt sind“. Seine Gegend kenne er gut, er habe viel über die Geschichte gelesen und sich mit den Menschen, die hier leben, auseinander gesetzt: „Das ist der sogenannte Mierendorff-Kiez, der ist fast komplett umschlossen vom Wasser, was eine relative Ausnahme ist in Berlin, zu Charlottenburg-Nord gehörig, also dem Teil von Charlottenburg, der eigentlich eher so klassischeres, na, Arbeiterviertel ist vielleicht ein Tick zu viel gesagt, aber so eher kleinbürgerlich bis kleinstbürgerlich, also wirklich das klassische Busfahrer bis Taxifahrer, Siemensianer, Fließbandarbeiter, die paar die es noch gibt in Berlin, leben hier, viele Genossenschaftsbauten und Genossenschaftswohnungen. Und hat alles was man an Infrastruktur braucht, ehm, hat auch ’ne ziemlich gute Anbindung, ich habe ja direkt S-Bahn und U-Bahn was für mich sehr, sehr entscheidend ist. Und der Menschenschlag hier ist halt so richtig noch klassisch Westberlin, erinnert mich in vielen Bereichen an das, wo ich herkomme, so Wedding, aber auch nicht mit hohen Ausländeranteilen und daraus resultierenden Auswirkungen auf die kleine Gesellschaft hier in dem Kiez. Also es ist wirklich noch so ja… ja, relativ gewachsener Kiez, auch wenn er unspektakulär ist. Es gibt hier kaum was, was heraussticht. Es gibt hier ’nen netten Wochenmarkt auf’m Mierendorffplatz selbst, es gibt hier meine Stammkneipe, das Z, da müssen wir mal hingehen. Das ist wie so ’ne Institution hier halt. Dann gibt’s ’n paar ziemlich erstaunlich gute Restaurants hier in der Gegend, aber nicht wirklich was, was
51
Lynch (2007): Das Bild der Stadt, 18.
DIE JÜDISCHEN MENTAL MAPS | 143
herausstechen würde. Und ich wohne hier eigentlich schon über meiner Zeit, ich müsste hier schon längst weggezogen sein, weil es so meine erste eigene Wohnung ist, in der ich immer noch wohne, obwohl ich mehr Platz bräuchte und mir Platz auch leisten könnte, und ich könnte mir auch ’ne bessere Gegend leisten.“52
Wenn Stanislav von seiner Gegend spricht, redet er nicht von dem Stadtteil Charlottenburg, sondern permanent von seinem Kiez. Wendet man die Überlegungen von Lynch auf Stanislavs Erzählung an, so kann man Folgendes herauslesen: Durch den spezifischen Westberliner Menschenschlag, dessen Erwähnung gleichzeitig als Verweis auf die imaginäre Teilung Berlins in Ost und West dient, erhält die Gegend in Stanislavs Augen ihre Individualität; die gute Infrastruktur bietet eine gute Identifikationsmöglichkeit der Kiezbewohnern mit dem geographischen Raum; schließlich spiegelt sich in der beobachteten Unspektakularität des Kiezes seine gefühlsmäßige Bedeutung für die Einwohner wider. Somit stellt der Kiez die Identifizierungsmöglichkeiten für die Einwohner der Stadt dar und kann als Grundelement ihrer Stadtwahrnehmung bezeichnet werden. An dieser Stelle kommt die Frage auf, welche Rolle in einem solchen kiezbasierten Orientierungssystem die jüdische bzw. die russisch-jüdische Zuordnung der Migranten spielt. Denn wo genau die Grenzen und Bereiche verlaufen, die das Stadtbild einer Gruppe bestimmen, hängt nicht allein von dem spezifischen Charakter der Stadt, sondern auch von den kulturellen, religiösen und sozialen Eigenschaften der Gruppe ab.
V ON DEM U NWILLEN , IN „ REIN JÜDISCHEN “ G EGENDEN ZU WOHNEN Als ich Mila zum wiederholten Male zu Hause besuche, komme ich der Antwort auf die Frage nach dem Zusammenhang zwischen den Orientierungsmustern und den kulturellen Zuordnungen näher. Als unser Gespräch zu Ende ist, frage ich sie, ob ihr am Schluss noch etwas einfällt, was sie über Berlin hinzufügen möchte, weil es im Interview eventuell nicht zur Sprache kam: Mila:
„Es gibt in Berlin rein jüdische Viertel.“
Ich:
„Was meinst du mit ‚rein jüdische‘?“
Mila:
„Dort wohnen nur Juden. So wie man sagt, Kreuzberg ist türkisch. Warum sagt man das, weil dort sehr viele Türken wohnen. Wilmersdorf, da wo der Lebensmit-
52
Feldnotizen 19.8.2010.
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telladen Rossia ist, der 24 Stunden offen hat, kennst du doch. Das ist grob gesagt der Anfang von Wilmersdorf beziehungsweise das Ende von Charlottenburg. Dort hört man nur Russisch. Und dann Richtung Adenauerplatz, Konstanzer Straße, Fehrbelliner Platz und bis zum Bundesplatz, das alles ist jüdisch. Es gibt Häuser, in denen fünf bis sechs Familien russische Juden sind. Die Hälfte der Berliner Straße zum Beispiel, beginnend von der russischen Kirche. Dann Landsberger Chaussee – komplett. Olivaer Platz – definitiv. Auch in Schöneberg einige Straßen. Das heißt, Schöneberg ist an sich kein jüdischer Bezirk, aber es gibt dort jüdische Straßen. Die Gegend um den Kleistpark – dort sind Juden.“53
Während Mila die Türken in Berlin im gesamten Verwaltungsbezirk Kreuzberg verortet, indem sie ganz Kreuzberg als „türkisch“ bezeichnet, kann sie nur bestimmte Straßen in Charlottenburg, Wilmersdorf und Schöneberg als „jüdisch“ identifizieren. Der Lebensraum um den Olivaer Platz, wo man „nur russisch hört“, kann mit Stanislavs Worten treffend als „Soziotop“ beschrieben werden. Dadurch, dass man dort Russisch hört und auf den Türklingeln russische und jüdische Namen zu lesen sind, lässt sich die Gegend als „jüdisch“ identifizieren, was ihr eine Identität und Individualität verleiht. Neben Identität ist auch die Struktur – die zweite Komponente, die Lynch als charakteristisch für unser Wahrnehmungsbild einer Stadt bezeichnet – das heißt die räumliche Beziehung zwischen dem Individuum und dem Bereich, vorhanden. Mila erzählt, dass sie manchmal in der Gegend ist, um einige der Bekannten und Freunde ihrer Eltern zu besuchen: „Manchmal bin ich auch dort, in dieser jüdischen Gegend, weil ich sehr viele Bekannte habe, die dort wohnen. Ich habe sehr viele Bekannte dort, die Bekannte meiner Mutter oder meines Vaters sind. Volljuden. Ich finde es sehr schwierig, mich mit ihnen zu unterhalten, manchmal denke ich, dass es einfacher ist, mit Russlanddeutschen aus Kasachstan zu reden, du musst nicht darüber nachdenken, was du sagst. Ich kann auch scho54 sagen, und wenn ich mit Juden rede, muss ich immer sehr aufpassen, wie ich was sage, besonders mit Volljuden. Deswegen ist es für Georg, meinen Freund, schwer, mit russischen Juden zu kommunizieren. Er kann nicht spielen. Die Deutschen sind es nicht gewöhnt, zu schau-
53
Interview 19.3.2010. Übersetzung aus dem Russischen.
54
Scho (ukr.) (dt.: was) wird in vielen russischsprachigen Gebieten der Ukraine anstelle der korrekten russischen Aussprache chto umgangssprachlich verwendet. Wenn jemand im Russischen scho anstatt chto sagt, wird ihm von seinen Gesprächspartnern, die auf die korrekte Aussprache achten, oft ein sozial niedrigerer Status zugeschrieben.
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spielern. Wenn die Unseren einen Monat lang hungern werden, um sich ein Oberteil von Chanel zu kaufen und sich einmal in der Disko zu zeigen, werden die Deutschen so etwas hundert Prozent nicht tun.“55
Die „jüdischen“ Straßen assoziiert Mila mit der Kommunikationsschwierigkeit, die sie empfindet, wenn sie die russischsprachigen jüdischen Bewohner dieser Gegend besucht. Indem sie sich von den dortigen Bewohnern, den „Volljuden“56, wie sie sie beschreibt, distanziert, grenzt sie sich indirekt auch von deren Wohngegend ab. Im Unterschied zu Menschen, bei denen beide Elternteile jüdisch sind, ist nur Milas Vater ein Jude, während sie ihre Mutter als eine „Ukrainerin mit russischem Blut“ bezeichnet, die russisch-orthodox erzogen wurde. Wenn Mila ihre Umgangsprobleme mit russischsprachigen Juden hervorhebt, identifiziert sie sich mit ihrem Freund, der als Spätaussiedler aus Kasachstan nach Berlin kam und das „Schauspielern“ nicht gewöhnt ist, sondern viel Wert auf eine anständige Arbeit legt, wie Mila an einer anderen Stelle betont. Mit den Russlanddeutschen gestalte sich der Umgang dank derer einfachen Natur unkompliziert, während Juden nichts als Farce und Schaulust kennen würden. Während Mila sich zur gleichen Zeit von den Spätaussiedlern abgrenzt, weil diese im Unterschied zu Juden „grob“ und „kulturlos“ seien und kein Gefühl für Kleidung und Stil haben, werden die gleichen Qualitäten je nach Situation mal positiv, mal negativ gewertet und rufen manchmal Verachtung, manchmal Respekt hervor. Ein solches situatives Verhalten gibt Mila die Möglichkeit, je nach Bedarf in verschiedene Rollen zu schlüpfen und sich verschiedene Zuordnungen anzulegen. In Milas Unwillen, sich mit den Bewohnern der „jüdischen“ Straßen und somit auch mit der Gegend an sich zu identifizieren, kommt die dritte Kompo55
Interview 19.3.2010. Übersetzung aus dem Russischen.
56
Chlenov weist darauf hin, dass der Begriff „Volljude“ zur Terminologie gehörte, die sich in der Sowjetunion in den späten 1980er Jahren entwickelte. Während vor dieser Zeit jeder, der von einem jüdischen Elternteil geboren wurde bzw. mit einem Juden verheiratet war, sowohl von Juden als auch von Nicht-Juden als jüdisch wahrgenommen wurde, brachte die große Migrationswelle nach Israel Ende der 1980er Jahre die halachische Regelung der Matrilinearität zum ersten Mal ins Bewusstsein der sowjetischen Juden. Als Folge dessen hat sich eine neue Terminologie entwickelt: halachischer Jude für Kinder der jüdischen Mütter, nicht-halachischer Jude für Kinder der jüdischen Väter und Volljude für Kinder, deren beiden Elternteile jüdisch sind. Vgl. Chlenov (1994): Jewish Communities and Jewish Identities in the Former Soviet Union, 132f.
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nente zum Vorschein, die Kevin Lynch als charakteristisch für unsere Mental Maps bezeichnet: Es ist die Bedeutung bzw. der praktische oder emotionale Sinn der beobachteten Gegend. Nicht nur nimmt Mila den Umgang mit den Bewohnern der „jüdischen“ Straßen als problematisch wahr. Sie empfindet auch die bloße Existenz einer solchen Konzentration von Juden in der Gegend um den Olivaer Platz für die eigene Integration als bedrohlich. Für sie ist es sogar ein Muss, nicht in einer Gegend mit hoher Konzentration an russischsprachigen Juden zu wohnen, was sie deutlich macht, indem sie eine Parallele zwischen den „jüdischen“ und den „türkischen“ Gegenden zieht: Mila:
„Kreuzberg und Neukölln mag ich nicht. Es gibt dort viele Türken. Und ich habe von meinen eigenen Türken schon genug. Meine Schwester ist ja mit einem Türken verheiratet. Ich mag Türken sehr, aber ich würde es nicht wollen, in diesen Gegenden zu wohnen. Nicht weil ich so schlecht bin, sondern weil der Türke selbst in einem türkischen Viertel nicht wohnen möchte, weil er versteht, dass es blöd ist, wenn es viele Türken gibt. Genau so würde ich es nicht wollen, in einem Haus zu wohnen, in dem sonst nur Juden wohnen oder nur Kasachstandeutsche. Wir müssen dort sein, wo es weniger von uns gibt.“
Ich:
„Und warum?“
Mila:
„Kannst du es dir vorstellen, was für einen Klatsch und Tratsch es sonst gibt, das ist ja eine Katastrophe! Der eine hat den gesehen, der andere hat diesen gesehen, wer braucht das schon. Nimm zum Beispiel die jüdischen Wohnheime. Meine Familie hat nicht in einem solchen Wohnheim gewohnt, als wir nach Deutschland kamen. Wir haben vorher alles so organisiert, dass wir direkt bei der Ankunft die Schlüssel von einer Wohnung bekamen, weil wir schon vorher wussten: Wir wollen da nicht hin. Das hat uns zwar einiges gekostet, aber das ist unwichtig. Als ich zum ersten Mal eine Freundin von mir im jüdischen Wohnheim besuchte, stand dort im Aufzug in großen Buchstaben geschrieben: ‚Versucht nicht, uns zu veraschen, hier wohnen nur Juden‘. Deswegen habe ich schon damals verstanden, dass es dort sehr lustig sein kann. Aber Gott hat uns davor bewahrt, wir haben dort nicht wohnen müssen. Obwohl man heute erzählt, dass es sehr interessant gewesen war.“57
Die „jüdischen Wohnheime“, die Mila anspricht, waren Übergangsheime, in denen jüdische Kontingentflüchtlinge in der ersten Zeit nach ihrer Einreise untergebracht waren und wo sie teilweise mehrere Jahre lang unter sich lebten. Mittlerweile haben sich viele Geschichten und Mythen über das Leben in solchen 57
Interview 19.3.2010. Übersetzung aus dem Russischen.
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Heimen gebildet, die heute zum kulturellen Gedächtnis der russischsprachigen Juden in Deutschland gehören, und zwar unabhängig davon, ob man selbst in solchen Wohnheimen untergebracht war oder ob man das Leben dort nur vom „Hörensagen“ oder von gelegentlichen Besuchen kannte. Milas Hinweis darauf, dass man es sich nicht vorstellen kann, an einem Ort zu wohnen, an dem sich viele Juden niedergelassen haben, ist auch ein gängiges Argument vieler russischsprachiger jüdischer Familien, mit dem sie ihre Entscheidung begründen, nicht nach Israel, sondern nach Deutschland ausgewandert zu sein. Das Bild, das hinter dieser Ablehnung steht, und das heute auch viele junge Israelis mit und ohne den russischsprachigen Hintergrund nach Berlin treibt, wird durch eine extrem starke soziale Kontrolle bestimmt, die Mila mit „Klatsch und Tratsch“ übersetzt. In seiner schonungslosen Beschreibung seiner Vorstellung einer prototypischen jüdischen Familie gibt Pavel dieses Bild zuweilen sehr makaber wieder: „In der Regel ist eine jüdische Familie eine Familie mit vielen Kindern, eine Familie, die starke familiäre Bindungen hat. Es sind Menschen, die in der Regel sehr oft miteinander streiten und nicht selten auch einander hassen irgendwo tief in ihrer Seele. Aber da die Familie die Familie ist, und außerdem gibt es noch viele andere Familien, die mit dieser einen Familie einen sehr engen Kontakt haben, sitzen in der Regel alle auf einem Haufen und bilden ein einziges Netzwerk. Warum das so ist, verstehen wir alle. Wir kennen ja alle wunderbar die Geschichte des jüdischen Volkes und verstehen wunderbar, warum die Juden sich so stark aneinander halten und so durchsetzungsfähig sind.“58
Die zahlreichen historischen Leidensmomente in der Geschichte des jüdischen Volkes, in denen sich Juden nur auf ihre eigenen Religionsbrüder und -schwestern verlassen konnten, werden als Grund für einen beispiellosen Zusammenhalt der Juden heute untereinander erkannt. Das kollektive Gedächtnis bildet hier eine erkennbare Grundlage für eine Entwicklung, die im modernen Kontext als ein „Aufeinanderhocken“ und als unangenehm empfundene soziale Kontrolle wahrgenommen wird. In Milas Fall wird eine derartige Wahrnehmung, die zur Abgrenzung von der eigenen Herkunftsgruppe führt, auf der topographischen Ebene sichtbar. Zwar ist es für Mila auf einer abstrakten Ebene wichtig, wie im vorigen Kapitel gezeigt wurde, in einem „jüdischen Bezirk“, in Berlin-Charlottenburg, zu wohnen, um sich dadurch von dem „russlanddeutschen“ Spandau abgrenzen zu können. Jedoch hört auf der Mikroebene der Nachbarschaften bzw. „Soziotope“ ihre Identifikation mit der „jüdischen“ Gegend auf. In dem Moment, in dem die eigene Herkunftsgruppe in einer bestimmten Wohngegend sichtbar und nicht 58
Interview 14.7.2010. Übersetzung aus dem Russischen.
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vorrangig durch die Assoziation mit dem russischen bzw. russisch-jüdischen „Charlottengrad“ der 1920er Jahre definiert wird, greifen die migrantischen Abgrenzungs- und Integrationsmechanismen häufiger durch.
D AS
JÜDISCHE
„S INNBASTELN “
Aber nicht immer ist die Wahrnehmung eines „Soziotops“ als „jüdisch“ auf die große Zahl der dort lebenden Juden bzw. deren Sichtbarkeit als Gruppe zurückzuführen. Als Lena mir über ihre jüdischen und anderen Lieblingsorte in Berlin berichtet, kommt sie auf die Gegend um die Oranienburger Straße zu sprechen: „Ein jüdischer Ort ist für mich natürlich Hackescher Markt, Oranienburger Straße. Dort war meine Schule, also meine jüdische Oberschule, ab der neunten Klasse war ich dort. Ansonsten ist für mich die Oranienburger Straße, der Ort, wo ich auf der jüdischen Oberschule war, der Ort, wo ich bis heute eben sehr gerne bin, mich mit Freunden treffe, wo ich die Gegend sehr gerne mag. Mitte ist einfach schön, und ja… dort gibt es sehr viele verschiedene Bars und Restaurants wo immer mal wieder hingegangen wird mit mehreren Schulfreunden. Die Oranienburger akzeptiere ich momentan nicht als Jüdische Gemeinde, also ich akzeptiere es schon, aber es ist für mich noch nicht so ein Ort, der… einfach weil es nie früher war, weil es nie war. Wenn ich an die Gemeinde denke, denke ich halt an die Joachimstaler Straße und Fasanenstraße. Heute ist es eben Oranienburger Straße, wobei ich nicht weiß, ob die nicht doch einige Abteilungen wieder in die Joachimstaler verlegt haben.“59
Wie die meisten russischsprachigen Juden, ist auch Lena in Westberlin aufgewachsen und bringt deswegen die Jüdische Gemeinde mit der Charlottenburger Gegend und nicht mit der Oranienburger Straße in Verbindung. Auch zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung ist für sie dieses ehemalige Verwaltungszentrum des jüdischen Lebens in Ostberlin, in das der Berliner Gemeindevorstand 2006 umgezogen war, als Vertretung für ihre Belange als Jüdin nicht repräsentativ. Trotzdem ist der westliche Teil der Spandauer Vorstadt, die Gegend um die Oranienburger Straße und den Hackeschen Markt, für Lena als jüdisch konnotiert. Und zwar wegen ihrer jüdischen Oberschule und der Cafés und Restaurants, die sie zusammen mit ihren jüdischen Schulfreunden besuchte. Hier greifen die Überlegungen von Lefebvre zur Überwindung der Widersprüche zwischen Alltag und Planungsräumen auf der Ebene des „Gelebten“, des espace 59
Mental Mapping-Sitzung 18.9.2010.
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vecu. Der „gelebte“ jüdische Raum in der Gegend um die Oranienburger Straße wird nicht durch die sichtbaren Symbole des jüdischen Lebens hervorgebracht. Es sind eher die nicht-jüdischen Cafés und Restaurants, die Lena und ihre jüdischen Schulfreunde durch den Einsatz der eigenen Körper und die alltäglichen routinierten Handlungen zu jüdischen Räumen machen.60 Der „Soziotop“ Oranienburger Straße ist aber nicht die einzige Gegend, die Lena für ihre kulinarischen Ausflüge und Spaziergänge mit Freunden bevorzugt: „In der Oranienburger Straße gibt es das indische Restaurant Amrit, was mich zur nächsten Gegend führt, die ich sehr gerne mag, den Nollendorfplatz. Ich zeichne hier den Nollendorfplatz und eine kleine Straße, die Schwerinstraße, wo ich aufgewachsen bin, da lebe ich seit ich… lebte ich, ich wohne ja nicht mehr zu Hause. Da ist meine Mutter und mein Bruder, wohnen da immer noch, und auch meine Oma wohnt dort in der Nähe. Ich bin da zwar nicht zur Schule gegangen aber zum Kindergarten auch in unmittelbarer Nähe. Und ich hab’ viele jüdische Freunde dort in der Straße gehabt, viele Erinnerungen. Und deswegen gehe ich bis heute auch sehr gerne in die Cafés dort, in verschiedene Bars. Essen ist sehr wichtig, fast nur auswärts essen, weil ich selber nicht koche, und deswegen sind auch die Orte wo ich aufgewachsen bin und wo ich sehr positive Erinnerungen habe diejenigen, wo ich gerne essen gehe auch, so. Halt Oranienburger Straße, Nollendorfplatz.“61
An dieser Beschreibung ist interessant, dass Lena das Quartier um den Nollendorfplatz, das im Berliner stadträumlichen Diskurs auch als Nollendorf-Kiez bezeichnet wird, mit der Oranienburger Straße assoziiert. Während sie ihre Mental Map zeichnet und narrativ schildert, bringt sie mehrere „Soziotope“ miteinander in Verbindung, die geographisch nicht aneinander grenzen. In Lenas Raumpraxis spiegelt sich auch Stanislavs Wahrnehmung des Berliner Stadtraumes wider, in der er die ausgesprochene Modularität des Stadtraumes als charakteristisch für Berlin hervorhebt. Man sucht sich eben nicht nur eine Gegend aus, in der man sich bewegt. Stattdessen werden die Mental Maps, darunter auch die jüdischen, je nach Interessen und Bedürfnissen aus verschiedenen „Soziotopen“ wie ein Mosaik zusammengesetzt. Dabei wird die Entgegensetzung der beiden „politischen Himmelsrichtungen“ Berlins aufgehoben. Zwar bezeichnet sich Lena selbst mir gegenüber als „Wessi“, vor einem Jahr zog sie aber vom NollendorfKiez in den östlichen Berliner Stadtteil Friedrichshain um, wo auch die meisten ihrer Freunde aus der Uni leben. Deshalb, sagt sie, „hat sich jetzt mein Schwerpunkt von extrem Westen sehr nach, oder ein bisschen in den Osten geneigt, so60
Lefebvre (1997): The Production of Space.
61
Mental Mapping-Sitzung 18.9.2010.
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zusagen. Weil die Leute, mit denen ich befreundet bin und meine Familie ziemlich zerstreut in Berlin leben, mal ist es der Westen, mal ist es der Osten, es ist generell alles sehr variabel.“62 (vgl. Abbildung 5) Abbildung 5: Mental Map von Lena
Der für die Jugendphase charakteristische Wunsch, sich von der eigenen Familie abzugrenzen und nach einem eigenen Lebensentwurf und Wohnort zu streben, steht in einem engen Zusammenhang mit der Vielfalt an „Soziotopen“, die Berlin für die Befriedigung unterschiedlichster Bedürfnisse seinen Bewohnern bietet. Mit dieser Diversität schafft die Großstadt die perfekten Bedingungen dafür, dass nicht die traditionellen Familienbindungen, sondern man selbst zum Zentrum eigener Lebensführung und Lebensplanung wird. In diesem Zusammenhang sprechen Ronald Hitzler und Anne Hohner von dem „Sinnbastler“, der mehrere Orte und Teilaktivitäten in seinem Lebensganzen integriert und dabei mehr einem Vagabunden ähnelt als jemandem, der in einem stimmigen einheitlichen Kosmos zu Hause ist.63 Dabei sorgt nicht nur die Vielfalt der geographi62
Interview 18.9.2010.
63
Hitzler/Honer (2004): Bastelexistenz, 311.
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schen Räume, sondern auch der Reichtum an möglichen Zuordnungen für die Schwierigkeit, an der von Simmel beschriebenen Reizflut des städtischen Lebens nicht verrückt zu werden.64 Trotz des wechselnden Wohnortes hat Lena für sich eine Klammer entdeckt, die ihr dabei hilft, ihre Sehnsucht nach Rast zu befriedigen. Diese Klammer, die für sie die vielen Seiten ihrer Persönlichkeit, aber auch ihrer Stadt, zusammenhält, kommt zum Vorschein, wenn Lena behauptet: „Ich bin ein bisschen deutsch, ein bisschen russisch. Aber das Jüdische färbt auf alles ab.“ Und als ob sie dieser Behauptung Nachdruck verleihen wolle, zeichnet sie unterhalb ihrer Berlinkarte eine symbolische Abbildung ihrer Worte nach, die das Variable und das Modulare an ihren Orientierungsmustern noch einmal hervorhebt.
Ü BER R ELIGION , ALTERNATIVEN DAS S CHEUNENVIERTEL
UND
Auch wenn das historische Verwaltungsgebäude in der Oranienburger Straße von manchen nicht als die Jüdische Gemeinde wahrgenommen wird, befindet sich doch dort eine der zwölf Berliner Synagogen, die den Anlass für einen gelegentlichen Besuch bietet. Eines Freitagabends verabrede ich mich mit Anton und Vlad, die regelmäßig den egalitären Gottesdienst in der Oranienburger Straße besuchen, nach dem Gebet in einem Café. Ich hatte die beiden bei dem PessachSederabend des Vereins Jung und Jüdisch auf die Möglichkeit eines Interviews angesprochen, und sie hatten sich für ein Gespräch mit mir bereit erklärt. Zu dritt gehen wir in das Café Orange, das sich ein paar Häuser entfernt von der Neuen Synagoge befindet. Nachdem wir uns etwas versteckt in einer Nische hingesetzt haben, gehen Anton und Vlad die Karte aufmerksam durch: „Am Pessach muss man die Essensvorschriften besonders beachten“, sagt Vlad. Salat mit Speck kommt für ihn nicht in Frage, auch Putenbrust mit Sahnesauce darf nicht bestellt werden. Wir entscheiden uns für den griechischen Salat mit Fetakäse und Balsamicosauce, und eine Pilzcremesuppe. Als die Kellnerin uns das Essen serviert, stellt sie auch ein Körbchen mit frischem Baguette auf den Tisch. Vlad bedankt sich für das Essen, bemerkt aber, dass sie das Brot ruhig wieder mitnehmen kann. Die Kellnerin wirkt überrascht: Keiner von euch möchte Brot essen? Wieso das denn? Als ich scherzhaft antworte, dass wir alle gerade eine Diät machen, gibt sie nach und nimmt das wohlriechende Gebäck wieder mit. „Es ist sehr ungewöhnlich, dass es Brot hier einfach so gibt“, bemerkt Vlad. „In Deutschland 64
Simmel (2006): Die Großstädte und das Geistesleben.
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muss man Brot sonst immer extra bestellen. Und auch dafür extra zahlen, weil es eine eigene Portion ist. Und gerade an Pessach, wenn man kein Brot essen darf,65 bekommt man es vorgesetzt.“66 Nach dem Essen breite ich weiße Papierblätter auf dem Tisch aus und bitte dabei die beiden, mir ihre Berlinkarten darauf zu zeichnen. Vlad bemerkt, dass man am Schabbat nichts schreiben und zeichnen darf, weil dabei etwas Neues geschaffen wird und man damit das Ruhegebot bricht. Anton aber willigt ein: „Schließlich hast du die Blätter extra für uns heute mitgebracht und damit auch das Trageverbot gebrochen.67 Ich würde es ausnahmsweise tun“, entgegnet er und greift enthusiastisch zum Stift. Das Erste, was Anton auf Papier bringt, ist die Gegend, in der wir uns gerade befinden: die Oranienburger Straße und die Umgebung. Hier wohnt er und hier geht er praktischerweise auch in die Synagoge zum Beten (vgl. Abbildung 6). Diese Gegend sei ja vor dem Zweiten Weltkrieg auch als Scheunenviertel bekannt gewesen, in dem sich ostjüdische Einwanderer niederließen, bemerkt Anton bedeutungsvoll. An dieser Stelle werde ich hellhörig. Zwar hatte auch schon Lena den jüdischen Charakter der Oranienburger Straße und der Umgebung betont, doch der Hinweis auf das historische Scheunenviertel blieb bislang aus. So wie Charlottengrad in den 1920er Jahren als das „russische Berlin“ apostrophiert wurde, wo sich die russischsprachige Exilelite, unter ihnen viele Juden, niederließ, entwickelte sich das Scheunenviertel ungefähr zur gleichen Zeit zum Armenviertel, in dem die eingewanderten traditionsbewussten und jiddischsprachigen osteuropäischen Juden vor allem aus Galizien und Kongresspolen, neben anderen gesellschaftlich marginalisierten Bevölkerungsgruppen ihr Quartier fanden.68
65
Das Pessachfest wird in Erinnerung an den Auszug der Juden aus Ägypten und die Befreiung der Israeliten aus der dortigen Sklaverei gefeiert. Während der Pessachfeiertage darf man eine Woche lang nur ungesäuertes Brot, Mazza, essen. Diese Tradition soll an die biblische Überlieferung erinnern, nach der die Israeliten so rasch aus Ägypten ausziehen mussten, dass zum Säuern und Gären der Brote als Reisenahrung keine Zeit mehr blieb.
66
Feldnotizen 3.4.2010.
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Auch das Tragen der Sachen gilt als Arbeit und ist am Schabbat daher nicht erlaubt.
68
Zum Begriff Scheunenviertel vgl. exempl. Saß (2012): Das Scheunenviertel.
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Abbildung 6: Mental Map von Anton
Oft genug wurde ich von Freunden und Kollegen, die von meiner Arbeit wussten, gefragt, ob die Erinnerung an diese verlorengegangene Welt des ostjüdischen Schtetls für die jungen russischsprachigen Juden heute eine Bedeutung hat, wenn sie ihre jüdische mentale Stadtkarte von Berlin beschreiben. Bisher fehlte mir allerdings jeder Hinweis darauf, so dass ich diese Frage negieren bzw. offen lassen musste. Nun saß Anton direkt vor mir und erzählte, dass er die Gegend um die Oranienburger Straße unter anderem deswegen schätze, weil sich hier früher das Scheunenviertel befand. Zwar sei er nicht in erster Linie deswegen hierher gezogen, sondern weil „hier die Mieten vor zwei Jahren noch niedriger als in Prenzlauer Berg“ waren, aber die Geschichte des Viertels spiele für ihn eine große Rolle. Dass er als der Einziger unter meinen Akteuren dem historischen Scheunenviertel in Bezug auf seine heutige Stadtwahrnehmung und -nutzung eine Bedeutung zuschreibt, liegt womöglich an seiner Biographie. Als wir uns zum ersten Mal getroffen haben, erzählte mir Anton: „Mein Großvater war ein gläubiger Jude. Er hat sein Judentum während der gesamten Sowjetzeit praktiziert und noch als ich klein war, hat er mich in die Synagoge mitgenommen. Bei seinen Geschwistern war das aber anders. Deren Kinder, meine Tanten und Onkels, sind später alle zum Christentum konvertiert. Aber sie bezeichnen sich immer noch
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als Juden, was mich sehr ärgert. Für sie ist das Judentum eine Nationalität, eine Abstammung, ein Geburtsrecht eben. Ich finde, ein richtiger Jude soll die religiöse Praxis kennen. Deswegen gehe ich im Sommer nach Jerusalem, um dort zwei Monate lang an der Jeschiwa zu lernen. Dort werde ich auch Hebräisch besser lernen. Siddur kann ich auf Hebräisch lesen, weil mein Opa es mir beigebracht hat. Aber sprechen kann ich noch nicht.“69
Anton, der im Unterschied zu den meisten russischsprachigen Juden das Judentum in erster Linie mit jüdischer Religion verbindet, gehört zu den wenigen jungen Einwanderern, die die religiöse Praxis noch von klein auf durch ihre gläubigen Großeltern miterlebt haben. In ihrer quantitativen Pilotstudie über die russisch-jüdischen Einwanderer, die 1999 durchgeführt wurde, erwähnen Schoeps, Jasper und Vogt, dass nur etwa ein Achtel aller nach Deutschland eingewanderten russischsprachigen Juden eine eindeutig jüdisch-religiöse Identität für sich in Anspruch nimmt und über Hebräisch- bzw. Jiddischkenntnisse verfügt. Wegen des systematischen Verbots der Religionsausübung in der Sowjetunion war die religiöse Praxis jahrzehntelang gar nicht oder nur in einem sehr eingeschränkten Maße möglich, so dass sich die meisten jüdischen Familien im Laufe der Zeit immer stärker akkulturierten und seit mindestens zwei Generationen keinen Zugang mehr zur jüdischen Religion hatten.70 Dass Anton schon als Kind in Moskau jüdisch-religiös sozialisiert wurde, merkt man auch daran, dass er im Vergleich zu Vlad viel freier in seiner Auslegung von religiösen Vorschriften ist. Jemandem, der sich in der Religion „zu Hause“ fühlt, fällt es in der Regel leichter, eine Ausnahme zu machen und das Schreibverbot am Schabbat zu brechen, wenn es, wie Anton bemerkt, „gerade der Wissenschaft dient“. Vlad dagegen, der erst im Erwachsenenalter durch seinen Umzug nach Berlin die Möglichkeit für sich entdeckt hat, das Religiöse zu praktizieren und daher noch nicht über genügend Selbstsicherheit im Umgang mit den Regeln verfügt, fühlt sich auf der sicheren Seite, wenn er sich haargenau an die Gebote und Verbote der jüdischen Glaubenspraxis hält. Im Laufe unserer einjährigen Bekanntschaft konnte ich allerdings beobachten, wie sich auch sein Umgang mit diesen Regeln gelockert hat. Der Begriff Scheunenviertel, der Antons Mental Map mitstrukturiert, steht heute in Reiseführern und historischen Bildbänden metaphorisch für die orthodoxe und jiddischsprachige Welt der osteuropäischen Juden im Berlin der Vorkriegszeit. Interessant ist, dass die Gegend um die Oranienburger Straße – der westliche Teil der Spandauer Vorstadt – die Anton als „Scheunenviertel“ be69
Feldnotizen 29.3.2010.
70
Schoeps/Jasper/Vogt (Hg.) (1999): Ein neues Judentum in Deutschland, 33.
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zeichnet, nicht mit der tatsächlichen historischen Lage des Scheunenviertels übereinstimmt. Dieses befand sich im östlichen Teil der Spandauer Vorstadt, zwischen Rosa-Luxemburg-Platz und Alter Schönhauser Straße. In dem westlichen Teil lebten zwar in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg auch viele Juden, die Gegend war aber als bürgerliches Viertel und nicht als Armenquartier bekannt.71 Weil heute keine Spuren des historischen Scheunenviertels nordwestlich des Alexanderplatzes übriggeblieben sind, hat die Erinnerung die Geschichte dorthin verlegt, wo heute Zeugnisse des jüdischen Lebens wie die Neue Synagoge und die Israelitische Synagogen-Gemeinde Adass Jisroel, koschere Lebensmittelläden und Restaurants, der ehemalige jüdische Friedhof und die jüdische Oberschule existieren, das heißt in die westliche Spandauer Vorstadt. Jan Assmann behauptet, dass es nicht die faktische, sondern gerade die erinnerte Geschichte ist, die für das „kulturelle Gedächtnis“ zählt: „Man könnte auch sagen, daß im kulturellen Gedächtnis faktische Geschichte in erinnerte und damit in Mythos transformiert wird, um eine Gegenwart vom Ursprung her zu erhellen.“72 Wenn die Geschichte in Erinnerung zum Mythos wird, wird sie aber nicht unwirklich, „sondern im Gegenteil erst Wirklichkeit im Sinne einer fortdauernden normativen und formativen Kraft“.73 Dass der Mythos Scheunenviertel für Anton heute eine Wirklichkeit ist, wird in dessen zentralen Rolle für seine jüdische Mental Map des heutigen Berlins deutlich. Die erinnerungstechnische Verlegung des Scheunenviertels aus der östlichen in die westliche Spandauer Vorstadt dient heute nicht zuletzt den touristischen Zwecken. Die nach der Wiedervereinigung zunehmend inflationär benutzte Bezeichnung „Scheunenviertel“ für die Gegend um die Oranienburger Straße findet sich auch in den zahlreichen Reiseführern zur Spandauer Vorstadt mit dem Zweck, das Bild eines ostjüdischen Schtetls zu reproduzieren74 – ein Prozess, den Cilly Kugelmann als „sentimentale Idealisierung“ bezeichnet75. Eine Sightseeing-Tour durch die Hackeschen Höfe mit dem Verweis auf das Scheunenviertel gehört heute zum obligatorischen Programm von Berlin-Besuchern. Diesen Erinnerungsmythos scheint auch Anton übernommen zu haben.
71
Krajewski (2006): Stadterneuerung und Aufwertungsprozesse in der „neuen Mitte“
72
Assmann (1997): Das kulturelle Gedächtnis, 52.
73
Ebd.
von Berlin, 81.
74
Vgl. Krajewski (2006): Stadterneuerung und Aufwertungsprozesse in der „neuen Mitte“ von Berlin, 102.
75
Kugelmann (2012): Grußwort, 10.
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Auch Victoria Hegner findet heraus, dass die russischsprachigen Juden die Spandauer Vorstadt als ihre „historische Heimat“ betrachten, während die „Alteingesessenen“ der Gegend um die Oranienburger Straße „schon längst ihre Authentizität aberkannt und zum Jewish Disneyland erklärt“ hätten.76 Insbesondere die jiddischen Klezmer-Abende, die über viele Jahre in dem mittlerweile geschlossenen Hackeschen Hoftheater veranstaltet wurden und sich heute in die Kneipen wie Zosch oder Jazzkeller 69 verlagerten, werden von dem russischsprachigen Publikum gut besucht, während sie von den deutschsprachigen Juden als „Exotisierung“ abgetan werden.77 Allerdings lässt sich diese Gegenüberstellung beider Gruppen, die Hegner in ihrer Studie in Bezug auf die älteren Juden macht, für die junge Generation nicht ohne Weiteres aufrechterhalten. Vielmehr kann man sagen, dass der Mythos „Scheunenviertel“ heute bei den Jüngeren für ihre Wahrnehmung des jüdischen Berlins dann eine Rolle spielt, wenn sie, wie Anton, auf die eigene jüdisch-religiöse Familientradition zugreifen können. Ein charakteristisches Gegenbeispiel liefert in diesem Zusammenhang Max, der seine eigenen Großeltern als „Kommunisten“ bezeichnet. In einem Gespräch über die jüdischen Orte Berlins betont er: „Die jüdischen Orte definiert jeder Jude für sich selbst. Das ist eine individuelle Reflexion. Das sind vielleicht Orte, an denen große jüdische Menschen gelebt haben, Orte, wo jüdische Kultur heute immer noch blüht, und da wären wir vielleicht nicht bei den Synagogen, sondern in Charlottenburg. Ich meine, in den 20er Jahren haben sie das Charlottengrad genannt, weil so viele nach der Revolution geflohen sind. Aber heute wohnen wieder viele Juden dort. Und ich denke mal, ich weiß es nicht… ich bin der Ansicht, dass das Scheunenviertel nicht unbedingt zum jüdischen Berlin gehört, sondern zum touristischen Berlin, wo es mal… Das ist anders als in Frankfurt mit der Judengasse zum Beispiel. Damit meine ich, dass unsere heutige Geschichte eine genau so gravierende Rolle spielt wie die Vergangenheit. Mehr ‚Charlottenburg‘, weniger ‚Scheunenviertel‘, um es vielleicht etwas plakativ darzustellen.“78
Für Max spielt die jüdische Geschichte einer Gegend vor allem dann eine Rolle, wenn diese Gegend auch heute von Juden bewohnt und bei ihnen beliebt ist. Diese Definition trifft in Max’ Wahrnehmung auf die Spandauer Vorstadt nicht zu, was ihn dazu veranlasst, diesem Quartier aktuell seinen jüdischen Charakter abzusprechen und auf dessen touristische Funktion zu verweisen. Das Scheu76
Hegner (2008): Gelebte Selbstbilder, 146.
77
Ebd.
78
Interview 28.6.2010.
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nenviertel als Teil des „kulturellen Gedächtnisses“ findet auf der jüdischen Mental Map von Max einen Platz ex negationem. Der nostalgische Mythos des osteuropäischen Schtetls wird für ihn zur Abgrenzungsfolie, die dem konkurrierenden Bild von Charlottengrad mit seiner russisch-jüdischen Bildungselite gegenübersteht. Auffällig ist dabei, dass, wenn Max dem Scheunenviertel seinen jüdischen Charakter abspricht, das Scheunenviertel kein statisches Element bleibt. Vielmehr ist es eine instabile und bewegliche Vorstellung, die sich durch Erfahrung ständig verändert und durch Diskurse, Narrative und Rhythmen konstruiert wird, die in die Mental Maps mit hineinfließen.
Z USAMMENFASSUNG In ihrer Wahrnehmung und Nutzung des Berliner Stadtraumes lassen sich bei jungen russischsprachigen Juden mehrere „Orientierungssysteme“ feststellen. Zum einen sind Ost und West als geokulturelle Pole in ihre kognitiven Stadtkarten fest eingeschrieben. Zum anderen sind es kleine territoriale Bereiche wie Kieze oder „Soziotope“ mit ihrer spezifischen Bewohnerstruktur, die meinen Akteuren als ein Grundelement für das kognitive Kartieren dienen. Je nach individuellen Nutzungsbedürfnissen und Situationen werden verschiedene Stadträume wie ein Mosaik zusammengestellt und der Stadtraum dabei in seiner Zusammensetzung frei moduliert. Dabei lässt sich im Zusammenhang mit den Berliner Mental Maps von Relationen sprechen, weil diese häufig auf Grundlage von Erfahrungen junger russischsprachiger Juden konstruiert werden, die sie in anderen Städten machten. Es lassen sich dabei unterschiedliche Bedeutungen der Stadträume für junge Juden feststellen. So steht das alte Ostberlin einerseits für Freiheit, Vielfalt und Offenheit sowie für das Zuhause und das Verstandenwerden, andererseits für die Arroganz seiner heute mehrheitlich aus den westlichen Bundesländern zugezogenen Bewohner. Der alte Westen wird dabei im Gegenzug auf einer Seite mit Eingeschlossenheit und Enge sowie mit dem Sich-Nicht-Akzeptiert-Fühlen, auf der anderen Seite mit Authentizität in Verbindung gebracht. Gemeinsam bei diesen unterschiedlichen und oft widersprüchlichen Bedeutungszuschreibungen ist der Wunsch, in der Berliner Gesellschaft generell und in der jüdischen Gemeinschaft im Besonderen anzukommen und akzeptiert zu werden. Als „Ausländer“ mit israelischer Erfahrung, als „Ossi“ und „Vaterjude“ oder als „Zugezogener“ ist man auf der Suche nach einer Gemeinschaft, in der man unprätentiös sein Jüdischsein ausleben kann.
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Dabei wird die Orientierung an kleinere Kieze anstatt an größere Bezirke im Alltag praktiziert, wobei man sich in seiner Raumwahrnehmung auf den praktischen und emotionalen Sinn verlässt. Die Wahrnehmung einiger Straßen um den Olivaer Platz als „rein jüdisch“ oder der Gegend um die Oranienburger Straße als das „Scheunenviertel“ stützen sich auf die Eigenbilder, die durch die vielfältigen Abgrenzungsmechanismen mal gegen die eigene Gruppe, mal gegen die „Anderen“ ausgehandelt werden. Es scheint, dass das Konzept des Kiezes besonders für die Jüngeren attraktiv ist, weil sie mit einer solchen territorialkulturellen Einteilung ihrer Lebensbezüge eine Normalisierung erleben. In einem Kiez lebt man jüdisch, aber gleichzeitig auch gemischt, so dass im Gegensatz zu einem „jüdischen Viertel“ nicht alle in die Synagoge gehen, aber es trotzdem einige gibt, die es tun. Wenn junge Juden an einer Stelle mit Stolz betonen, dass sie in einer Gegend mit vielen Juden leben, an einer anderen Stelle aber sagen, dass sie dort nicht wohnen wollen, wo viele Juden hausen, behaupten sie, dass sie normal sein wollen. Zu dieser Normalität gehört, dass ihr Verhältnis zum Jüdischsein in Berlin immer ambivalent ist. Ein Zeichen der Ambivalenz ist auch, dass sich keine typischen Bedeutungsbilder hinter der Wahrnehmung verschiedener Gegenden erkennen lassen. Vielmehr ruft die Wechselwirkung zwischen Mensch und Raum komplexe kulturelle Strömungsmuster hervor, welche ineinander wirken und auf eine bestimmte Logik hinter diesem Prozess schließen lassen. So lassen sich in Bezug auf die raumbildenden Prozesse zwei Modi der treibenden Kraft erkennen. In Anlehnung an Hannerz und seine Überlegungen zur „städtischen Kultur“ wird der Kommunikationsprozess als die treibende Kraft hinter den raumbildenden Prozessen erkannt. Es sind Menschen, die im Raum interagieren, während durch den Kontakt miteinander kulturelle Deutungen und Symbole zustande kommen.79 Erst in Kommunikation mit und über die Einwohner Berlins, seine Ost- und Westspezifik sowie Regionalität werden Zuordnungen ausgehandelt und Bedeutungen gebildet. Gleichzeitig wird in Anlehnung an Bourdieu die Macht als treibende Kraft hinter der Raumbildung erkannt.80 Die Deutungshoheit der Jüdischen Gemeinde in Bezug darauf, wer als Jude zu bezeichnen sei; die etablierten Mitglieder der Vereinigung der jüdischen Ärzte, die unter dem „jüdischen Mäntelchen“ eine professionelle Kontaktbörse pflegen; aber auch die „Unseren“, die „Russen“ mit ihrer Markenkleidung sowie die Berliner mit ihrer Arroganz gegenüber den Zugezogenen sorgen mit ihrem „symbolischen Kapital“ dafür, dass
79
Hannerz (1980): Exploring the City.
80
Bourdieu (2007): Die feinen Unterschiede.
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bestimmte Einschluss- und Ausschlusskriterien geschaffen werden, die sich wiederum in ungleichen Machtpositionen im sozialen Raum widerspiegeln.81 Dabei werden sowohl die Kommunikations- als auch die Machtprozesse hinter den Raumkonstruktionen zu einem großen Teil durch die Inhalte des „kulturellen Gedächtnisses“ strukturiert und gesteuert. Dazu gehören sowohl die konservierten Mythenbilder aus der urhistorischen Zeit wie das Scheunenviertel, Charlottengrad oder das Babylonische Exil, als auch die selbsterlebte oder durch Zeitzeugen erfahrene Vergangenheit wie die Zeit in jüdischen Ferienlagern vor der Emigration, die israelischen Erfahrungen der physischen und mentalen Enge oder die „jüdischen“ Wohnheime in Berlin – Erlebnisse, die in Kommunikation mit anderen Gruppenmitgliedern heute ausgehandelt werden. Bei diesen vielfältigen Bildern wird deutlich, dass kein, wie oft irrtümlicherweise angenommen, ultimatives „kulturelles Gedächtnis“ einer Gruppe existiert, sondern die Mitglieder einer Gruppe auf mehrere Gedächtnisspeicher zugreifen, die ihnen zur Verfügung stehen.82 Dabei können Individuen „Bestandteile“ verschiedener Kollektive sein, solange sie sich mit bestimmten Erfahrungen, Erwartungen, Werten, Regeln und Orientierungen identifizieren. In einer urbanen Umgebung geht das „jüdische kulturelle Gedächtnis“ analog zur „jüdischen Zuordnung“ mit anderen „kulturellen Gedächtnissen“ vielfältige Verbindungen ein. Es sind solche Mental Maps, auf denen sich diese Konstruktionen widerspiegeln, die als „jüdisch“ bezeichnet werden können. Je komplexer und anonymer die Stadt ist, umso freier und ungezwungener können sich diese Konstruktionsprozesse entfalten.
81
Schiffauer spricht in diesem Zusammenhang anstatt von Kommunikation und Macht von Erfahrung und Interesse. Die Verbindung zwischen Hannerz, der seine Definitionsarbeit der städtischen Kultur auf der Entfaltung der Kultur in der kommunikativen Tätigkeit aufbaut, und Bourdieu, der sein Augenmerk auf die Macht und Kultur richtet, sieht Schiffauer in der Tatsache, dass beide Prozesse nicht im luftleeren Raum stattfinden, sondern eine Interaktion zwischen Menschen im sozialen Raum darstellen. Bei dieser Interaktion hat Hannerz die horizontalen Strömungen im Auge, während Bourdieu auf die vertikalen Strömungen der Hierarchiebildung abzielt. Die beiden Strömungsprozesse überlagern sich und ergeben einen komplexen Fluss von kultureller Symbolik, Deutungen und Alltagserfahrungen. Vgl. Schiffauer (1997): Zur Logik von kulturellen Strömungen in Großstädten, 97.
82
Vgl. Assmann (2006): Thomas Mann und Ägypten, 69.
Die jüdischen Treffs und Partys als urbane Räume der Wiedervergemeinschaftung
Während die Erste Moderne die Befreiung des Einzelnen aus den gesellschaftlichen Zwängen propagierte, hat der Mensch in der Zweiten Moderne mit den Folgen dieser Emanzipation zu kämpfen. In einer fast unübersichtlich gewordenen Vielzahl an Identifizierungsangeboten sucht man dabei nach einer neuen Form von Vergemeinschaftung, die es einem ermöglicht, einerseits frei, spontan und individuell, anderseits aber nicht allein zu sein. Im Unterschied zu den herkömmlichen Gemeinschaften werden die Mitglieder dieser neuen Verbindungen nicht mehr durch die existenziellen Solidaritäten und Loyalitäten zusammengehalten, sondern durch die auf (Teil-)Interessen basierende „Komplizenschaft“ gegenüber einer gemeinsamen Außenseite, einer „Komplizenschaft“, die durch einen ähnlichen Lebensstil, ein Hobby oder eine geteilte Leidenschaft entsteht. Im folgenden Kapitel werden mehrere jugendkulturelle Vergemeinschaftungsräume junger russischsprachiger Juden in Berlin mit Rückgriff auf Ronald Hitzlers Konzept der „posttraditionalen Vergemeinschaftung“ analysiert. Im Zentrum steht dabei die Frage, wie der Konkurrenzkampf zwischen verschiedenen jüdischen Akteuren und Gruppierungen, der sich in Berlin dank der besonderen Heterogenität des jüdischen Lebens verdichtet, die Raumkonstruktionsund Vergemeinschaftungsprozesse junger Einwanderer strukturiert. Sowohl in den touristischen und literarischen Wegweisern zum jüdischen Berlin als auch in der einschlägigen Forschungsliteratur wird Berlin als die bundesweit einzigartige Herberge vielfältiger jüdischer Aktivitäten beschrieben, die nicht nur in religiösen, sondern auch in kulturellen und soziokulturellen Kernbereichen angesiedelt sind.1 In seiner Untersuchung des aktuellen Wandels des jü-
1
Vgl. Rebiger (2010): Das jüdische Berlin; Jungmann (2007): Jüdisches Leben in Berlin; Peck (2006): Being Jewish in the New Germany; Eckhardt et al. (2005): Jüdische Orte in Berlin.
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dischen Lebens in Berlin bezeichnet Alexander Jungmann die deutsche Hauptstadt wegen der dort angesiedelten jüdischen Einrichtungen und Gruppierungen als ein „Novum im Deutschland nach 1945 […]. Bisher ist dieses Angebot in inhaltlicher und organisatorischer Hinsicht noch einmalig und existiert zur Zeit noch nirgends sonst hierzulande, auch nicht in den anderen Orten mit sog. jüdischen Großgemeinden wie München, Düsseldorf oder Frankfurt.“ 2 Mit der größten jüdischen Gemeinschaft Deutschlands stellt Berlin somit sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Beziehung einen Raum dar, in dem viele Entwicklungen innerhalb des jüdischen Lebens erst möglich werden. Im bundesweiten Vergleich lässt sich das jüdische Leben in Berlin in zwei Richtungen charakterisieren. Einerseits sticht seine Einzigartigkeit hervor, die aus dem Hauptstadtcharakter resultiert. So haben sich in Berlin viele Institutionen niedergelassen, die bundesweit agieren: der Zentralrat der Juden in Deutschland, die Israelische Botschaft, the American Jewish Committee, die Jüdische Allgemeine sowie das kürzlich errichtete Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg. Nicht nur deutschlandweit, sondern auch weltweit ist Berlin dabei außerdem die einzige Stadt, in der es im Zuge der Wiedervereinigung zur Fusion zweier Stadthälften sowie zweier jüdischer Gemeinden kam und wo die Einwanderung der Juden aus der Sowjetunion nach Deutschland ihren Anfang nahm. Auch wird die Jüdische Gemeinde Berlins in ihrer Zusammensetzung als eine der heterogensten Deutschlands bezeichnet, in der neben zwei Drittel Zuwanderern aus den GUS-Staaten eine relativ große Zahl deutschstämmiger sowie aus anderen Ländern stammende Gemeindemitglieder leben. 3 Neben der Einzigartigkeit des jüdischen Lebens in Berlin tragen diese Qualitäten außerdem dazu bei, dass sich in Berlin viele Prozesse verdichten und auf die gesamte Bundesrepublik als emblematisch übertragen lassen. So beherbergt Berlin neben den obengenannten Einrichtungen außerdem zwölf Synagogen, deren religiöse Orientierungen von ultraorthodox über sephardisch bis egalitär reichen. Auch andere Einrichtungen der jüdischen religiösen Praxis wie Friedhöfe, Jeschiwot, Mikwe und Midrascha sind in einer Fülle vorhanden, die sonst nirgends in Deutschland erreicht wird. Auch diverse soziale und Bildungseinrichtungen haben hier ihr Zuhause gefunden, wie Schulen, Volkshochschule, Jugendzentrum, diverse akademische Institute, Bibliotheken sowie Seniorenheime.
2
Jungmann (2007): Jüdisches Leben in Berlin, 20.
3
Ebd., 169f.
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Inmitten dieser „jüdischen Renaissance“4 finden meine Akteure trotz einer solchen eindrucksvollen Vielfalt an jüdischen Aktivitäten für sich häufig keinen Platz. Denn viele von ihnen müssen sehr lange und zum Teil erfolglos in Berlin nach Räumen suchen, die speziell auf die Bedürfnisse der jungen Generation zugeschnitten sind. Die Jüdische Oberschule und das Jüdische Jugendzentrum, in dem die Mitgliedschaft mit spätestens 19 Jahren endet,5 stellen die letzten Anlaufstationen für die Vertreter der jungen Generation dar, die sich eine Sozialisation im jüdischen Kontext wünschen. Danach klafft eine große Lücke, die erst mit den Clubs für die Generation „50 plus“ wieder aufgehoben wird. Ein Thema, das sich während meiner Feldforschung als zentral für junge Juden herausstellte, verleiht dieser Leerstelle besondere Aufmerksamkeit: Das Problem der jüdischen Partnersuche wurde von meinen Akteuren im Rahmen ihrer Auseinandersetzung mit dem Judentum äußerst häufig zur Sprache gebracht. Hat man in der Jüdischen Oberschule keinen festen Freund oder Freundin gefunden oder ist die Beziehung später in die Brüche gegangen, hatte man in Berlin in der Regel große Schwierigkeiten, einen jüdischen Partner bzw. eine jüdische Partnerin zu finden. Ausgesprochen kompliziert gestaltet sich eine solche Suche für diejenigen, die keine jüdischen Sozialisationseinrichtungen wie die Schule, das Jugendzentrum oder die jüdischen Ferienlager durchlaufen haben. Die Gründe dafür sind vielfältig: Entweder ist man in der Sowjetunion bzw. in kleineren Städten Deutschlands ohne eine Anbindung an das jüdische Netzwerk aufgewachsen oder die Mitgliedschaft im Jugendzentrum sowie die Teilnahme an den Ferienlagern blieb einem verwehrt, da „lediglich“ der Vater und nicht die Mutter jüdisch war.6 Ein Mangel an jüdischen Sozialisationsangeboten für die junge Generation ist nicht allein in Berlin zu beobachten. Es handelt sich hier vielmehr um eine deutschlandweite Erscheinung. In diesem Zusammenhang sieht auch Dieter 4
Der Begriff „Renaissance“ bezogen auf das jüdische Leben in Deutschland wird von manchen in Zusammenhang mit der Einwanderung russischsprachiger Juden nach 1990 verwendet, vgl. u.a. Bodemann (2002): In den Wogen der Erinnerung, 185; Peduto (2006): Rabbiner-Ausbildung.
5
Interview mit Xenia Fuchs, Leiterin des Jüdischen Jugendzentrums Olam, 7.6.2010.
6
Xenia Fuchs erzählte mir in einem Interview am 7.6.2010, dass die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland erst im Jahr 2010 begonnen hatte, die Kinder der „nur“ jüdischen Väter in Ausnahmefällen für die Teilnahme an den jüdischen Ferienlagern zuzulassen. Während dieses Ausnahmeprinzip in den anderen jüdischen Gemeinden Deutschlands, wenn auch nicht offiziell, schon seit längerer Zeit immer wieder praktiziert wurde, hielt sich Berlin bisher diesbezüglich strikt an die traditionellen Regeln.
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Graumann, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, die Aufgabe der jüdischen Gemeinden darin, die neue Generation der Juden zu werben und „vor allem die Jugendarbeit so [zu] gestalten, dass die junge Generation gern in die Gemeinde geht.“7 Polina Lisserman, eine der Mitbegründerinnen des Vereins Jewish Experience in Frankfurt am Main, bemerkt, dass vor allem die jungen Erwachsenen, Studenten und Berufseinsteiger – eine Altersgruppe, die nicht mehr zum Jugendzentrum aber auch noch nicht zum „Seniorenclub“ gehört – keine Räume hat, um sich über ihr Jüdischsein auszutauschen: „Irgendwo zwischen diesen Stationen scheinen die Leute den Kontakt zur Gemeinde zu verlieren.“8 Auch wenn eine solche Situation an sich nicht Berlin-spezifisch ist, wird der Umgang meiner Akteure mit dieser Problematik durch den einzigartigen lokalen Kontext der Hauptstadt strukturiert. Denn die Vielfalt an jüdischen Angeboten in Berlin, die bundesweit keinen Vergleich findet, hat auch ihre Kehrseite – ob positiv oder negativ betrachtet. In der Regel zieht ein solcher Pluralismus einen Konkurrenzkampf zwischen den jüdischen Organisationen und Gruppierungen nach sich. Im Kontext der sozialen Positionierungen und Machtverhältnisse sind die Räume eingebettet, die die Jugendlichen und jungen Erwachsenen für ihre Bedürfnisse in Berlin konstruieren und nutzen. Diese Räume werden somit zu „sozialen Feldern“, in denen, Bourdieu paraphrasierend, ein Habitat durch den Habitus strukturiert wird.9 Erkennt man die zentrale Bedeutung der im „symbolischen Kapital“ begründeten Machtverhältnisse verschiedener sozialer Akteure für die Raumkonstruktionsprozesse der Jugend, trägt man damit der Aufforderung von Luig und Seebode Rechnung, die die beiden Autoren in ihrer „Ethnologie der Jugend“ äußern: Um die jugendlichen Lebenswelten zu verstehen, müssen diese demnach immer als in „Beziehungen zur Macht eingebettet“ betrachtet werden. Die Rekonstruktion des jugendlichen Wertediskurses erfordert dabei „neben der sorgfältigen Kontextualisierung und Historisierung diskursiver Selbstdarstellungen auch die Verknüpfung mit der sozialen Praxis Jugendlicher. Wie sich die soziale Interaktion in den lokal geprägten Kontexten der sozialen Nahwelt äußert, welche ästhetische Form der Inszenierung und Repräsentation gewählt wird, und wie diese Form mit der jeweiligen ‚Stammkultur‘ zusammenhängt“.10 Es hilft, an dieser Stelle verschiedene Konfliktpotenziale anzudeuten, die sich auf dem stark umkämpften Feld der Berliner jüdischen religiösen, kulturel7
Gessler (2010): Gedenken reicht nicht als Kitt.
8
Majic (2010): Zu jung für den Seniorenklub.
9
Bourdieu (2010): Die feinen Unterschiede.
10
Luig/Seebode (Hg.) (2003): Ethnologie der Jugend, 16.
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len und soziokulturellen Landschaft abzeichnen. Denn laut Baacke werden Widersprüche zwischen Wertproklamation und Wertverwirklichung, zu denen die Konflikte zwischen jüdischen Gruppierungen zwangsläufig führen, von den Jugendlichen als „gestörte Konnexität“ zwischen vertrauten Sphären der Lebensbereiche erlebt.11 Um diese verlorengegangene „Konnexität“ wiederherzustellen, basiert das Selbstverständnis der jugendkulturellen Gruppierungen häufig auf der Abgrenzung von den jeweiligen konfligierenden „Stammeskulturen“. Richtet man das Augenmerk auf die Jüdische Einheitsgemeinde, die bislang als alleiniger Ansprechpartner des deutschen Staates in Belangen der Juden in Deutschland fungiert und dadurch im öffentlichen Bewusstsein am stärksten verankert ist, muss an den generellen Rückzug der Jugend aus der bürokratisierten und institutionalisierten Welt gedacht werden.12 In Berlin, der größten jüdischen Gemeinschaft Deutschlands, verdichten sich Konflikte zwischen den Gemeindefunktionären und den Vertretern der jungen Generation. Während die Ersteren den Letzteren vorwerfen, keine Initiative zu ergreifen und sich nicht für die altersspezifischen Angebote stark zu machen, 13 werfen die jungen Juden der Gemeinde vor, ihnen im wörtlichen Sinn keinen Raum für ihre Bedürfnisse zur Verfügung zu stellen. Diesen Konflikt, den die Berliner Rabbinerin Gesa Ederberg für ein viel „heißeres“ Thema erachtet als einige den jüdischen Ritus betreffende Fragen, 14 hat auch der 24-jährige Veranstalter der jüdischen SababbaPartyreihe Vernen Liebermann formuliert. In seiner Ansprache an die jungen Juden, sich mehr in das Gemeindeleben einzubringen, hat er die Rolle des Vermittlers zwischen den beiden Parteien eingenommen: „Ich kenne leider auch kaum jemanden aus meiner Generation, der in die Gemeindearbeit involviert ist und damit die Interessen und den Gestaltungswillen der jüngeren Generation vertritt. Ich bin mir sicher, dass es in unserer Stadt genug junge, schlaue Köpfe mit Interesse und Talent gibt. Die Gemeinde muss diese ‚jungen Wilden‘ fördern […]. Schließlich sind die jungen Menschen die Zukunft der Gemeinde – es wäre schade, wenn sie irgendwann einfach ‚keine Lust mehr‘ haben oder nur ihr ‚eigenes Ding‘ machen. Wir haben viele Potentiale. Mein Appell ist es also, sich mehr einzubringen und die Gemeinde für Projekte und Ideen zu nutzen, was voraussetzt, dass die Gemeindeverantwortliche offen
11
Baacke (2007): Jugend und Jugendkulturen, 166.
12
Ferchhoff (2011): Jugend und Jugendkulturen im 21. Jahrhundert, 441–450.
13
Gespräch mit der damaligen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Lala Süsskind, 25.11.2010.
14
Ederberg, (2010): Eine Momentaufnahme zur Situation, 109.
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sind für innovative Konzepte. ‚Events‘ oder ‚junge‘ Ideen dürfen nicht als Beiwerk abgetan werden, das bei ‚wichtigeren Themen‘ stört.“15
Die hier äußerst vorsichtig in dem offiziellen Nachrichtenblatt der Jüdischen Gemeinde formulierten Kooperationsproblematiken lassen nur erahnen, welche grundsätzlichen und zum Teil heftigen Konfliktpotenziale sich hinter der ablehnenden Reaktion der jungen Generation gegenüber der Arbeit der Jüdischen Gemeinde verbergen. So gehört zu den von Liebermann als „wichtigere Themen“ euphemisierten Bereichen neben dem andauernden Streit zwischen den Gemeindefunktionären über die Besetzung der Leitungsposten auch Diskussionen über die Geldveruntreuung sowie die Gemeindeinsolvenz. 16 Bemerkt wird von meinen Akteuren auch, dass der mehrheitlich aus eingesessenen Mitgliedern bestehende Gemeindevorstand die Interessen der russischsprachigen Neueinwanderer in Berlin nicht berücksichtigt.17 Konfliktpotenzial birgt außerdem die rigorose Gemeindepolitik in Bezug auf die Aufnahme von ausschließlich halachischen Juden. Ein weiteres Konfliktpotenzial, das die Raumkonstruktionsprozesse der jungen Generation beeinflusst, ergibt sich aus der Tatsache, dass sich in Berlin auf einem engen Raum verschiedenste religiöse Richtungen zusammengefunden haben. Seit der Wiederetablierung der jüdischen Reformbewegung in Deutschland 15
Liebermann (2010): Die „jungen Wilden“ fördern.
16
Vgl. Herzinger (2007): Eine Reise zu Deutschlands neuen Juden; Keller (2007): Wahlkampf mit Tora und Tacheles; Keller (2005): Am Rand der Spaltung.
17
Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch Bodemann in seiner soziologischen Studie über die russischsprachigen Juden in Deutschland, wenn er behauptet: „Die Gründe für diese Abkehr der Mehrzahl der Immigranten vom organisierten jüdischen Leben sind komplex und umstritten. Befragte, die tatsächlich ihre Mitgliedschaft aufgegeben haben, gaben an, dass ihre Gemeinden sie, am Maßstab länger bestehenden Mitgliedschaften gemessen, nicht gerecht behandelt haben; jüngere Befragte sprechen von Diskriminierung und Feindseligkeit seitens offizieller Vertreter der Gemeinde; darüber hinaus fanden sie die Angebote ihrer Jugendclubs ‚langweilig’. Und anstatt sie bei der Integration in ihr neues Umfeld wie auch bei der Entwicklung ihrer Talente zu unterstützen, war die Leitungsebene eher damit befasst, ihnen religiöse und dogmatische Praktiken aufzuerlegen. Jüdische Funktionäre andererseits werfen den Neuankömmlingen vor, zu passiv zu sein und es nur auf die Vorzüge abgesehen zu haben, die ihnen die Gemeinschaft zu bieten hat. Die Wahrheit findet sich, wie so oft, irgendwo dazwischen.“ Bodemann/Bagno (2010): In der ethnischen Dämmerung, 166f.
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im Jahr 1997, die sich als eine Alternative zum orthodoxen Judentum versteht, ist die Jüdische Gemeinde Berlin unter den Großgemeinden Deutschlands die einzige jüdische Gemeinde mit orthodoxen und liberalen Rabbinern zugleich.18 Die Kooperation zwischen den jüdischen religiösen Gruppierungen ist in der Hauptstadt, laut Hartmut Bomhoff, dem Mitarbeiter des in Berlin ansässigen liberalen Abraham Geiger Kollegs für die Rabbinerausbildung, durch eine starke Konkurrenz untereinander geprägt.19 Die russischsprachigen Juden, die in Berlin die Mehrheit bilden, dienen dabei verschiedenen religiösen Gruppierungen als Hauptzielgruppe. Der Konkurrenzkampf um die russischsprachigen Mitglieder verschärfte sich noch mehr, seitdem die chassidische Chabad-Lubawitsch-Bewegung im Jahr 2007 in Berlin ein neues Bildungs- und Familienzentrum sowie eine Synagoge nach ultraorthodoxem Ritus eröffnete.20 Diese, eine Art geistige Erweckungsbewegung, die die emotionale und die intellektuelle Seite des Judentums in Einklang zu bringen versucht, und deren Anfänge in das 18. Jahrhundert zurückreichen, gilt unter vielen Juden als „Sekte“. Der Grund dafür liegt in der von Chabad verfolgten innerjüdischen Mission sowie in der Verehrung der Zaddiken, der geistigen Chabad-Lehrer, auch post mortem. Da beides, sowohl die Missionierung, als auch der Personenkult dem rabbinischen Judentum fremd sind, stößt die Bewegung der Lubawitscher Chassiden wegen dieses „christlichen Gedankens“ bei vielen Juden auf Ablehnung. 21 In Berlin hat sich Chabad mittlerweile unter den russischsprachigen Juden als besonders erfolgreich erwiesen. Seinen Ruf als ein „weltweiter Sozialverein“, der einem das Gefühl von „Heymischkeit“ gibt22, haben die Lubawitscher Chassiden durch ihre aufgeschlossene Einstellung verdient, die der Rabbiner Teichtal in einem Interview wie folgt zum Ausdruck bringt: „Chabad ist für alle Menschen offen, jeder Mensch ist uns wichtig. Für uns ist ohne Bedeutung, ob je18
Jungmann (2007): Jüdisches Leben in Berlin, 169.
19
Gespräch mit Hartmut Bomhoff 14.6.2010.
20
Chassid bedeutet „der Fromme“. Der Chassidismus bezeichnet eine mystischreligiöse Bewegung, die sich in der Neuzeit in Osteuropa verbreitete. Die Chassidim unterstellten sich einem charismatischen Oberhaupt, dem Zaddik (Gerechten), und zeigten ihre religiöse Ergebenheit in tiefer Ergriffenheit und ekstatischer Freude im Gottesdienst. Zu chassidischen Gruppierungen gehört auch Chabad, dessen Zentrum ursprünglich in Lubawitsch, einer belorussischen Kleinstadt nahe Smolensk war.
21
Brumlik (2010): Der christliche Gedanke; Hirschfeld (2010): Sagt dem Nathan leise Servus.
22
Runge (2010): „Think Positive!“ 127.
168 | GENERATION „KOSCHER LIGHT“
mand zur orthodoxen oder liberalen Strömung gehört oder gar ungläubig ist. Ein Jude ist immer ein Jude: ein Volk, eine Tradition, ein Gott“23. Demnach werden diejenigen Juden, die eine, auch nur lose, Anbindung an die religiöse Praxis suchen, ohne viel Grundkenntnis davon zu besitzen, von Chabad vorbehaltlos empfangen und ohne Fragen in der Gemeinschaft aufgenommen. Nicht zufällig hat Chabad als Standort für sein neues Zentrum Charlottenburg-Wilmersdorf, die beliebteste Wohngegend russischsprachiger Juden, ausgesucht. Vom Gedanken der innerjüdischen Mission geleitet, sind die Chabadniks in der Regel als die erste jüdische Gruppierung immer dort vor Ort, wo es viele Juden gibt, die sich keiner konkreten Richtung innerhalb des Judentums zugehörig fühlen. Das war auch der Fall nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Als der Eiserne Vorhang sich lüftete und der Weg für die jüdischen outreachOrganisationen in die sowjetischen Republiken frei wurde, war Chabad als eine der ersten jüdischen Strömungen vor Ort, um die sowjetischen Juden zu ihren religiösen Wurzeln „zurückzuführen“. Zur Popularität der Lubawitsch-Bewegung unter den russischsprachigen Juden in Berlin trägt somit auch die Tatsache bei, dass vielen von ihnen Chabad noch aus den sowjetischen Zeiten bekannt war. Wenn junge russischsprachige Juden in ihrer Raumpraxis an verschiedene jüdische Institutionen oder Gruppierungen in Berlin anknüpfen, sich dazwischen verorten oder sich am Rande dieser positionieren, spiegeln sich die entsprechenden Konkurrenzkämpfe in dieser Praxis wider. Die durch viele Brüche und Widersprüche gestörte Kohärenz der „großen Erzählung“ 24 der jüdischen Tradition lässt sie Abstand von den traditionellen „Stammeskulturen“ innerhalb dieser Tradition nehmen. Um ihre Raumkonstruktionen vor diesem Hintergrund zu charakterisieren, erweist sich das Konzept der „posttraditionalen Vergemeinschaftungsprozesse“ von Hitzler als hilfreich.25 Hitzlers einschlägige These besagt, dass das postmoderne Subjekt den Weg zur Emanzipation aus der „selbstverschuldeten Mündigkeit“26 sucht, indem er der Enttraditionalisierung und 23
o.V. (2011): „Wir möchten keine Auseinandersetzung mit der Gemeinde“.
24
Dieser Begriff stammt von Jean-François Lyotard. Vgl. Lyotard (2009): Das postmoderne Wissen.
25
Der Begriff der „posttraditionalen Gemeinschaften“ stammt ursprünglich von Axel Honneth und wird von ihm im Kontext der Kommunitarismus-Debatte verwendet. Hitzler distanziert sich jedoch von einer solchen, auf dem normativen Inhalt liberaldemokratischer Gesellschaften ausgerichteten Definition und wendet sich der phänomenologischen Seite der Erscheinung zu. Vgl. Hitzler/Honer/Pfadenhauer (2008): Zur Einleitung: „Ärgerliche“ Gesellungsgebilde? 13–15.
26
Hitzler (1998): Posttraditionale Vergemeinschaftung, 82.
DIE JÜDISCHEN TREFFS UND PARTYS | 169
Anonymisierung der Moderne durch Gründung einer neuen Form von Gemeinschaften entgegenwirkt. Trotz Individualisierung besteht ein Streben nach Zugehörigkeit, das zu einer „Wiedervergemeinschaftung“27 jenseits der Sozialmoral führt. Dabei unterscheiden sich die „posttraditionalen Gemeinschaften“ von den herkömmlichen Gemeinschaftsformen erheblich und lassen sich durch folgende Merkmale charakterisieren: Die Teilnahme an den Gemeinschaftsaktivitäten setzt keine feste Mitgliedschaft voraus, sie ist freiwillig und hat oft einen temporären Charakter; die Ein- und Austrittsschwellen bleiben niedrig, so dass man zu jeder Zeit die Gemeinschaft verlassen oder ihr beitreten kann; die Aktivitäten sind in der Regel thematisch klar gegliedert, so dass gleichzeitige Teilnahme an mehreren Gemeinschaften charakteristisch ist. Dabei wird nicht mehr an den „großen Erzählungen“ der Religionen und Traditionen festgehalten, sondern, kennzeichnend für die postmoderne fragmentiert-individualistische Gesellschaft, nur Teilaspekte davon herausgesucht; das Leitprinzip, nach dem man sich für die Teilnahme entscheidet, beruht besonders im Falle der Jugendkulturen auf dem gemeinsamen hohen Erlebniswert, der mit Spaß und Aktion verbunden ist.28 Solche Prozesse werden durch den Großstadtcharakter besonders gefördert, weil in einer urbanen Umgebung die Gruppierungen besonders leicht entstehen, sich kreuzen, sich aber auch genauso schnell auflösen.29 Unter Rückgriff auf Hitzlers „posttraditionale Vergemeinschaftungsprozesse“ sollen nun die Konstruktionen der jugendkulturellen Räume russischsprachiger Juden in Berlin untersucht werden.
D IE S UCHE NACH DEN VERGANGENEN Z EITEN ODER BRAUCHT MAN HEUTE EINEN JÜDISCHEN S TUDENTENVERBAND ? Wenn ich mir meine eigene Rolle als Forscherin im Feld vor Augen führe, so trifft darauf weniger die Bezeichnung der teilnehmenden Beobachterin, sondern vielmehr die der teilnehmenden Begleiterin zu. Nach der ersten Kontaktaufnahme und einem Interview bzw. einer Mental Mapping-Sitzung legte ich viel Wert darauf, mit meinen Akteuren in Kontakt zu bleiben, um ihnen immer wieder auf ihren Wegen durch die Stadt zu folgen. Neben den flanierenden Spaziergängen durch verschiedene Stadtgegenden waren wir gemeinsam oft mit einem konkre27
Hitzler (1998): Posttraditionale Vergemeinschaftung, 82.
28
Vgl. Hitzler/Honer/Pfadenhauer (2008): Zur Einleitung: „Ärgerliche“ Gesellungsge-
29
Prisching (2011): Ronald Hitzler, 268.
bilde?; Prisching (2008): Paradoxien der Vergemeinschaftung.
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ten Ziel unterwegs: Wir suchten nach Treffs junger Juden in Berlin, nach Orten und Räumen der Vergemeinschaftung. Besonders aktuell war diese Suche für diejenigen, die neu nach Berlin gezogen waren. Vlad, der nach seinem Studium im vorpommerschen Greifswald vor einem Jahr nach Berlin kam, ließ mir gegenüber wiederholt den Satz fallen, er sei nach Berlin gezogen, um hier nach dem jüdischen Leben zu suchen. Obwohl er sich anfangs meinem Forschungsvorhaben gegenüber sehr distanziert verhielt und mir ein Interview mit dem Aufnahmegerät verweigerte, nahm er unsere Bekanntschaft bald gerne als Gelegenheit wahr, in meiner Begleitung nach Treffs junger Juden in Berlin zu fahnden. An einem verregneten Juniabend kehrten wir von einer Party im jüdischen Gemeindehaus in der Fasanenstraße Richtung U-Bahn zurück, als Vlad resigniert bemerkte: „Ich bin nach Berlin gekommen, um hier nach dem jüdischen Leben zu suchen. Aber ich bin mir immer noch nicht sicher, ob es in Berlin ein jüdisches Leben gibt. Es gibt hier doch so viele junge Juden, die ganzen Mittzwanziger, sie müssen sich doch irgendwo treffen. Und die ganzen Israelis, die in der Stadt sind, wo hängen sie ab? Es gibt bestimmt Orte. Das müssen wir unbedingt rauskriegen.“30
Die Einladung zu der als „Beer-Party“ angekündigten Veranstaltung im jüdischen Gemeindehaus, erreichte mich über den Verteiler des Jüdische Studentenverbandes (JSB). Seit 2005 existiert der JSB allerdings nur auf dem Papier. Eine Organisation, die sich über mehrere Jahre in Berlin der Vergemeinschaftung junger jüdischer Erwachsener widmete und hunderte von Angehörigen zählte, kann heute auf ihrer Facebook-Seite nur 29 Mitglieder vorweisen, und wird dort mit folgender Beschreibung vorgestellt: „Der jüdische Jugend- und Studentenverband Berlin e.V. ist eine Jugendorganisation, die Interessen und Belange junger jüdischer Erwachsener im Alter zwischen 18-35 Jahren vertritt. Die Arbeit des JSB erstreckt sich auf die Förderung der jüdischen Identität jedes einzelnen sowie Schaffung von Kontakten zwischen den Teilnehmern. Außerdem befasst sich der JSB im Rahmen seiner Veranstaltungen mit Israel und dem jüdischen Leben in Deutschland und in der Welt. Der JSB fördert das junge jüdische Leben in Deutschland und trägt mit seinen Aktivitäten zu seiner Vielfalt bei.“31 Auch wenn der JSB heute praktisch nicht-existent ist, wird sein E-MailVerteiler gerne von anderen jüdischen Gruppierungen genutzt, um die jungen Juden für die eigenen Veranstaltungen zu gewinnen. Der umfangreiche Verteiler 30
Feldnotizen 6.6.2010.
31
Facebook-Seite des Jüdischen Studentenverbandes.
DIE JÜDISCHEN TREFFS UND PARTYS | 171
zeugt von der einstigen großen Popularität des JSB unter jungen jüdischen Erwachsenen. In seiner Betrachtung des jüdischen Lebens in Berlin schrieb Jungmann dieser Studentenorganisation einen hohen Stellenwert in Bezug auf ihre Rolle im Prozess der Gemeinschaftsbildung unter jungen Juden in der Hauptstadt zu: „Die studentische Gruppe erfüllte über die letzten Jahre hinweg zweifelsohne eine bedeutsame generationsspezifische Vergemeinschaftungs-Aufgabe im jüdischen Berlin. Diese Bedeutung für die jüdische Gemeinschaftsbildung in der Metropole kann m. E. gar nicht hoch genug eingeschätzt werden: Eine Auflösung der Gruppe würde daher eine nicht zu schließende Lücke innerhalb der jüdischen Angebote der Stadt bedeuten, zumal kaum andere jüdische Aktivitäten in Berlin (oder gar andernorts in Deutschland) für diese spezifische Altersgruppe jüdischer Twens bis Mittdreißiger existieren.“32
Fünf Jahre nach der Auflösung des JSB war die einstige Popularität des Jüdischen Studentenverbandes auch während meiner eigenen Feldforschung im Jahr 2010 nicht zu übersehen. Diese wurde besonders vor dem Hintergrund deutlich, dass bis heute keine Alternative zum JSB in Berlin entstanden ist. Geleitet von meinem Interesse an Vergemeinschaftungsräumen war eine der Fragen, die ich meinen Akteuren gerne stellte, ob es Orte in Berlin gäbe, an denen sie sich mit anderen jungen Juden treffen würden. Die Antworten darauf fielen den meisten in der Regel nicht leicht und ließen sich mit dem folgenden Satz zusammenfassen: „Junge Juden? Das ist schwer, so aus dem Stand komme ich nicht drauf“. Häufig wurde dabei auf die Vergangenheit zurückgegriffen: Während man sich aus der Situation mit der Antwort à la „früher war in Berlin alles besser“ gerne rettete, verkörperte der JSB dabei die „besseren Zeiten“ wobei man sich hauptsächlich an die ausschweifenden Partys erinnerte, die regelmäßig im „Studentenkeller“ der Joachimstaler Straße organisiert wurden: „Heute finde ich in Berlin keine Treffs, wo junge Juden zusammenkommen. Aber es ist ja nicht so, dass es das nie gab. Vor sieben, acht Jahren war ich auf tollen Partys in Berlin, die der JSB gemacht hat. Und sie haben es echt geschafft, in dem Keller in der Joachimstaler Straße richtig coole Partys zu schmeißen und viele Leute da reinzukriegen. Ich würde gerne wissen, warum das aufgehört hat.“33
32
Jungmann (2007): Jüdisches Leben in Berlin, 481.
33
Feldnotizen 18.9.2010.
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Dieser Frage nach den Auflösungsgründen des JSB, die Dan, ein 26-Jähriger aus dem estnischen Tallinn hier aufwirft, geht auch Jungmann in seiner Medien- und Interviewanalyse nach und kommt zu dem Schluss, dass verantwortlich für die Auflösung ein Streit zwischen den russischsprachigen und nicht-russischsprachigen Mitgliedern der Studentenorganisation gewesen sei. Durch die Zweidrittelmehrheit der russischsprachigen JSB-Anhänger bekam der Studentenverband unter den nicht-russischsprachigen Juden den Ruf eines „Russenladens“ und ließ viele von ihnen den Verein meiden.34 Meine eigenen Nachforschungen ergaben allerdings ein anderes Bild: Der Grund für die Auflösung des JSB war vielmehr Geldveruntreuung gewesen. Als die Jüdische Gemeinde, die die Finanzierung des Vereins sicherte, davon erfuhr, stellte sie die Geldhilfe allmählich ein.35 Es scheint, als ob die in die Öffentlichkeit getragene Begründung eines Streits zwischen den russischsprachigen und nicht-russischsprachigen Vereinsmitgliedern die wahre Ursache der Schließung decken sollte. Dans Frage, warum die Arbeit des JSB aufgehört hat, geht mit der für diese Untersuchung zentralen Frage einher, warum bis heute kein Nachfolger des Jüdischen Studentenbundes entstanden ist. Ich möchte mich an dieser Stelle dem Auflösungsprozess des JSB, aber vor allem der Frage, warum bis heute keine Nachfolgeorganisation den Staffelstab übernommen hat, vor dem Hintergrund der „posttraditionalen Vergemeinschaftung“ nähern. Als Tochterorganisation der Jüdischen Gemeinde war der Studentenverein sowohl durch die Lage seiner Räumlichkeiten als auch durch die Finanzierung diverser Aktivitäten von dem Budget der Jüdischen Gemeinde abhängig und musste sich somit auch an die institutionellen Vorgaben der Gemeindeverantwortlichen halten. Beachtet man die kritische Einstellung meiner Akteure zur Jüdischen Gemeinde und die generelle „Vertrauenskrise“36 junger Menschen gegenüber bürokratischen Großorganisationen im 21. Jahrhundert, so erscheint es nur logisch, dass es heute keine zentralisierte, von „oben“ gesteuerte Organisation mehr geben kann, die für die junge Generation attraktiv ist. Denn die Attraktivität hat in der Postmoderne die Pflicht der Zugehörigkeit abgelöst. In Zeiten der „posttraditionalen Vergemeinschaftung“ wird man nicht mehr in eine Gemeinschaft hineingeboren, sondern muss zu der Mitgliedschaft „ver34
Jungmann (2007): Jüdisches Leben in Berlin, 481.
35
Interview mit Renat Fischbach, einem Mitglied des Jugend- und Erziehungsausschusses der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, 23.6.2010; Gespräch mit Eva Schafberg, der Vorsitzenden der Berliner Regionalgruppe der bundesweiten Vereinigung Jung und Jüdisch e.V., 13.6.2010.
36
Ferchhoff (2011): Jugend und Jugendkulturen im 21. Jahrhundert, 441.
DIE JÜDISCHEN TREFFS UND PARTYS | 173
führt“ werden.37 Besonders in einer Großstadt ist aber die Vielfalt an verführerischen Angeboten und individuellen Teilnahmeoptionen so groß, dass deren Koordination für den Einzelnen schwierig wird. Umso wichtiger ist es, dass die Ein- und Austrittsschwellen solcher neuartigen Gemeinschaften niedrig gehalten werden, damit die Mitgliedschaft jederzeit eingegangen und ohne besonderen zeitlichen und emotionalen Aufwand kündbar wird.38 Schaut man sich die physischen Eingangsbedingungen in den Studentenkeller des JSB an, wird deutlich, dass diese für die Jugend am Anfang des 21. Jahrhunderts nicht mehr attraktiv sein können: „So ist die Örtlichkeit des Gruppentreffs im Souterrain unter der im Hinterhof gelegenen Synagoge Joachimstaler Straße zugleich auch mit einem schwerwiegenden Manko verbunden: Im Gegensatz zu unzähligen anderen studentischen Initiativen in Berlin sind die Räume des JSB-Treffs nicht frei zugänglich, denn sie sind nur durch ein mit Sicherheitskräften bewachtes Vorderhaus zu erreichen. Der Schutzraum Gemeinde gegenüber möglichen antisemitischen Übergriffen erweist sich damit umgekehrt als eine gewisse Abgeschottenheit. Ein ‚Reinschnuppern‘ oder flüchtiges ‚Vorbeischauen‘ wie bei vielen anderen studentischen Gruppen, aber auch den meisten der untersuchten jüdischen Gruppenaktivitäten, erscheint hier gar nicht möglich.“ 39
Ein schwellenfreier Ein- und Austritt spielt auch für Vlad eine zentrale Rolle, wenn er in seinen Phantasien einen jüdischen Jugendtreff in Berlin imaginiert: „Man braucht heute einen jüdischen Studentenkeller, wo es Partys gibt. Man hat es ja vor ein paar Jahren mit diesem Café in der Fasanenstraße versucht, aber das ist jetzt zu, das hat nicht funktioniert. Man ist nicht gerne dorthin gegangen, weil man durch diesen Sicherheitstrakt muss. Man braucht eine Location, die unabhängig von der Gemeinde ist und wo sich junge Juden treffen können. Ich verstehe es nicht. In Berlin leben doch tausende Juden. Warum hat noch niemand die Idee gehabt, etwas für die Jungen zu eröffnen, einen Tanzladen oder Treffpunkt? Damit kann man doch Kohle machen. In den USA gibt es das, in Mengen, aber hier gar nichts.“40
Dass ein Treff im Rahmen der Jüdischen Gemeinde für die jungen Erwachsenen heute nicht mehr attraktiv ist, lässt sich nicht nur in Verbindung mit den physi37
Hitzler (1999): Verführung statt Verpflichtung.
38
Hitzler (1998): Posttraditionale Vergemeinschaftung, 85.
39
Jungmann (2007): Jüdisches Leben in Berlin, 478.
40
Feldnotizen 5.6.2010.
174 | GENERATION „KOSCHER LIGHT“
schen Sicherheitsbarrieren behaupten. Auch die kulturelle und religiöse Zugehörigkeit der Teilnehmer muss offener gefasst werden. Wenn Stanislav über einen neuen jüdischen Club für junge Leute in Berlin nachdenkt, müsse dessen Programm zwar auf jüdischen Inhalten basieren, aber am liebsten sollte dieser Treff den Namen „deutsch-jüdische Begegnungen“ tragen und somit auch den nichtjüdischen Partnern und Freunden der jüdischen Mitglieder offen stehen.41 Dieser Wunsch beruht auf Stanislavs persönlicher Erfahrung, die er in den 1990er Jahren in Berlin machte: Die große kulturelle Diskrepanz, die er zwischen seiner eigenen Familie beobachtete, die schon 1980 aus Riga nach Berlin eingewandert war, und der großen Migrationswelle sowjetischer Juden, die zehn Jahre später folgte, ließ ihn mehr oder weniger bewusst den Abstand von der „jüdischen Parallelgesellschaft“ suchen: „Als Kind bin ich viel auf Machanes gefahren, irgendwann mal nicht mehr mit zwölf. Als es dann darum ging, die nächste Altersstufe zu erreichen, Sobernheim 42 und diese ganzen Nummern, wollte ich irgendwann nicht mehr. Ich denke viel darüber nach, warum eigentlich, ich kann das schwer nachvollziehen heute. Ich glaub’, das war so genau 1990 rum, als viele ‚Russkis‘ dazugekommen sind, die so ’ne andere Form von Kultur reingebracht haben, und ich glaube, dass ich für diese Großmachtsucht einfach damals schon zu sensibel war, auch für dieses, dass 12-Jährige und 13-Jährige rumgerannt sind und schon versucht haben, die Mädels zu pimpern, Gleichaltrige, da war ich einfach so, ich meine, ich hab’ noch mit Soldaten gespielt in dem Alter und die machen dann solche Sachen. Es war mir alles zu suspekt, arrogant, zu breitspurig und zu laut. Im Nachhinein denke ich, es hätte dir ganz gut getan, kleiner Mann, wenn du da mitgemacht hättest, weil im Nachhinein es hätte mir weniger Sorgen bereitet, ich hätte dann quasi meine Peergroup gehabt und die ganzen Probleme durch Schule oder dass ich da umgezogen bin, keine Freunde hatte, die wären weggeblasen gewesen. Aber das so ’ne Zeitlang, weil mittlerweile denke ich: um Gotteswillen, Gott sei Dank, ja, weil ich sehe einfach diese jüdischen Parallelgesellschaften, damit meine ich gar nicht so die Russen unbedingt, ich meine wirklich so junge Juden, dass du nur jüdische Freunde hast und dass du immer die israelische Frage hisst und dass du auch Schabbes feierst, obwohl du gar nicht an Gott glaubst, wenn du mal ganz ehrlich bist, und weißt du, ohh, und immer aufeinander hocken, ich meine, ich bin ja noch auf Facebook und mein ältester Freund gehört da quasi zu diesen Leutchen und seine kleine Schwester ist auch aktiv in der Jüdischen Gemeinde und ihr Freund ist auch bei der is-
41 42
Feldnotizen 12.12.2010. Bad Sobernheim ist der zentrale Veranstaltungsort, an dem die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland traditionell Seminare und jüdische leadershipProgramme für Jugendliche organisiert.
DIE JÜDISCHEN TREFFS UND PARTYS | 175
raelischen Tourismusbehörde, es ist alles nur so eine Scheiße, so eine Mischpoche, was ich einfach nur traurig finde, dass sie mit Deutschen gar nicht abhängen oder mit anderen.“43
Wenn Stanislav sich von der Kultur der „Russkis“ und den „jüdischen Parallelgesellschaften“ distanziert, artikuliert er somit das Bedürfnis nach niedrigen Einund Austrittsschwellen sowie fließenden Übergängen, die die Grenzen der neuen Gemeinschaften als diffus begreifen lassen. Dabei ist die thematische Fokussierung meist klar geregelt: Es sind nicht mehr die „großen Erzählungen“ der Religionen oder Traditionen, die mit einer essentialistischen Idee für den Zusammenhalt der Mitglieder sorgen, sondern vielmehr einzelne Interessen, die bestimmte Ideen des Lebenskonzepts repräsentieren, die nun als Teile großer Traditionen einzelne Vergemeinschaftungsbereiche bilden.44 Schaut man sich im Hinblick auf eine solche Interessen-Segmentierung das Programm des JSB aus den Jahren 2001 bis 2005 an, fällt auf, dass das einschlägige Angebot sich nicht auf einen bestimmten Themen- oder Interessenbereich innerhalb des jüdischen Lebens beschränken lässt, sondern das Programm im Gegenteil möglichst breit angelegt war. So wurden neben den regelmäßigen Partys auch zahlreiche Vorträge, Lesungen und Museumsbesuche angeboten, jeden letzten Freitag im Monat fand eine Kabbalat Schabbat-Feier statt, zahlreiche jüdische Feste wurden gemeinsam begangen sowie religiöse Lerngruppen, Kochkurse und Hebräischkurse organisiert. Zudem wurden politische Diskussionsabende mit Schwerpunkt Israelpolitik oder Rechtsradikalismus geführt und gemeinsame Sportaktivitäten veranstaltet.45 Es lässt sich also eine ganze Breite an religiösen und kulturellen, politischen und unpolitischen, niedrigschwelligen und hochkulturellen Aktivitäten beobachten, die im Rahmen der JSB-Tätigkeit jüdischen Studenten in Berlin zur Verfügung stand. Vor dem Hintergrund einer solchen Buntheit an Formen und Inhalten ist allerdings bemerkenswert, dass meine Akteure sich in ihren nostalgischen Erinnerungen an die JSB-Zeiten ausschließlich an die ausschweifenden Partys und Singlepartys erinnern, die einem die perfekte Möglichkeit boten, soziale Kontakte und intime Beziehungen mit anderen jungen Juden zu knüpfen. Eine solche „Party-zentrierte“ Wahrnehmung liegt sicherlich zu einem großen Teil in der Tatsache begründet, dass Leitsprüche wie „Spaß haben“, „den Augenblick leben“ oder „Aktion suchen“ heute als Kitt für die einzelnen Ereignisse und Ab-
43
Interview 31.7.2010.
44
Prisching (2011): Ronald Hitzler, 267f.
45
Webseite des Bundesverbands Jüdischer Studierender in Deutschland.
176 | GENERATION „KOSCHER LIGHT“
läufe fungieren, in die das moderne Alltagsleben zersplittert ist. 46 Eine solche Fragmentierung, die Simmel im Zusammenhang mit dem Großstadtleben besonders hervorhebt, hat zur Folge, dass man sich nur noch durch die extrem starken Erlebnisse seiner selbst versichern kann und sich selbst in der Fülle der Angebote überhaupt noch spüren kann.47 Dennoch lassen solche „Party-zentrierten“ Erinnerungen meiner Akteure an die JSB-Zeiten die Vermutung zu, dass die jungen russischsprachigen Juden am Anfang des 21. Jahrhunderts im Vergleich zu der Zeit davor differenziertere Bedürfnisse hinsichtlich ihrer Teilhabe am jüdischen Leben in Berlin aufweisen. In einer Fokussierung auf einzelne Teilbereiche, die sich laut Hitzler besonders gut bei Jugendkulturen beobachten lässt, 48 fühlt man sich nicht mehr der jüdischen Tradition im Großen und Ganzen verpflichtet, sondern wählt für sich einen Themenbereich aus diesem Zusammenhang aus, der einem in der konkreten Situation attraktiv erscheint. Die Auflösung des JSB kann somit als Ausdruck des „posttraditionalen Vergemeinschaftungsprozesses“ gedeutet werden. An dieser Stelle ist die Frage interessant, was die Auflösung des JSB insbesondere und die fehlenden jüdischen Treffs im Allgemeinen mit dem spezifischen Charakter Berlins zu tun haben. Während die „Neuberliner“ sich wie Vlad oder Dina über das Fehlen von Treffpunkten für junge jüdische Leute in Berlin wundern und auf der Suche nach diesen sind, stellen die Angehörigen des sogenannten „jüdischen Establishments“, die bereits seit ihrer Kindheit in Berlin leben, wie Stanislav oder Max, fest, dass man solche spezifischen jüdischen Orte in Berlin gar nicht braucht, weil sonst die Gefahr der „jüdischen Parallelgesellschaften“ bestehe. Zwar haben einerseits diese beiden Gruppen im Hinblick auf die jüdischen Treffs verschiedene Bedürfnisse, andererseits spricht aber die Tatsache, dass es in Berlin im Vergleich zum Beispiel zu New York nicht viele Treffs für junge jüdische Leute gibt, dafür, dass in Berlin keine „jüdischen Enklaven“ oder „jüdischen Parallelgesellschaften“ existieren und man die Stadt als „offen und gemischt“ bezeichnen kann.
46
Baacke (2007): Jugend und Jugendkulturen, 166.
47
Vgl. Hitzler (2008): Brutstätten posttraditionaler Vergemeinschaftung.
48
Ebd.
DIE JÜDISCHEN TREFFS UND PARTYS | 177
Z WEI -P HASEN -M ODELL FÜR DIE E NTWICKLUNG DES JÜDISCHEN L EBENS IN B ERLIN SEIT DEN 1970 ER J AHREN Die These, dass die Schließung des JSB in dem Bestreben junger Juden nach einer neuartigen Form der „Wiedervergemeinschaftung“ begründet liegt, kann man allerdings nicht ohne Weiteres im Raum stehen lassen. Denn die Grundlagendebatte darüber, ob wir unsere Epoche und die entsprechende Denk- und Handlungsweise in Abgrenzung zur Eindimensionalität der Moderne als postmodern diagnostizieren, hat bereits vor mindestens dreißig Jahren mit JeanFrançois Lyotard begonnen.49 Trotzdem möchte ich behaupten, dass der für die Postmoderne charakteristische Wandel im Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft in Bezug auf das jüdische Leben in Berlin erst am Beginn des 21. Jahrhunderts posttraditionale Züge aufweist. Grundlegend für diese These ist der spezifische Hintergrund des jüdischen Lebens in Berlin und Deutschland nach dem Beginn der Einwanderung der Juden aus der ehemaligen Sowjetunion, den ich im Folgenden mit einigen Sätzen skizzieren möchte. Dabei werde ich meine Überlegungen zu einem zwei-Phasen-Model vorstellen, das sich aus den im Laufe meiner Forschung gesammelten Daten ableiten lässt, um anhand dieses anschließend den relativ späten Einzug der postmodernen Qualitäten in den Entwicklungsprozess des jüdischen Lebens in Berlin zu erläutern. Mit dem beginnenden, zunächst undokumentierten Zuzug der Juden aus der UdSSR nach Deutschland Ende der 1970er Jahre war in Berlin eine Euphorie zu bemerken, die sich auf den erwarteten Zuwachs der jüdischen Gemeinschaft richtete. Diese hoffnungsvolle Stimmung wurde durch die zehn Jahre später begonnene, nun durch das Kontingentflüchtlingsgesetz legitimierte Masseneinwanderung auf ihren Höhepunkt gebracht und durch das Ereignis der deutschdeutschen Wiedervereinigung und die Zusammenlegung beider Berliner jüdischen Gemeinden noch verstärkt. In dieser Anfangszeit sprossen diverse jüdische Gruppierungen wie Pilze aus dem Boden und baten den nach jüdischen religiösen und kulturellen Inhalten ausgehungerten jüngeren und älteren Juden die Möglichkeit, ihre Jüdischkeit auszuleben. Kleinere und größere Grüppchen trafen sich zu Hause, um gemeinsam Schabbat zu feiern. Mehrere jüdische Logen nahmen ihre humanistisch-philanthropische Arbeit auf, die den Neueinwande-
49
Den Anstoß zur kritischen Debatte über die Postmoderne gab Lyotard, indem er die philosophischen Systeme der Moderne für gescheitert erklärte. Vgl. Lyotard (2009): Das postmoderne Wissen.
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rern soziale Netzwerke boten und häufig zu ihrer zweiten Familie wurden. 50 Für die Juden aus der UdSSR, denen eine Anbindung an das lebendige Judentum über viele Jahrzehnte verwehrt geblieben war, galt es jetzt, sich mit jüdischen Inhalten neu auseinandersetzen zu können. Ein Sich-Herantasten an die jüdische Tradition konnte allerdings zunächst nur durch eine Verallgemeinerung der Inhalte im Sinne eines studium generale geschehen. Für die jüdischen Gruppierungen, die damals ihre Arbeit aufnahmen, galt daher, dass sie sich nicht auf ein bestimmtes Thema innerhalb der jüdischen Praxis und Philosophie spezialisierten, sondern es ging darum, durch eine Generalisierung der Inhalte zunächst dafür zu sorgen, dass ein Embryo des jüdischen Lebens in Deutschland überhaupt wieder entstehen und sich die jüdische Gemeinschaft neu konsolidieren konnte. Zentral waren dabei solche existenziellen identitätsstiftenden Fragen wie: Was bedeutet es, als Jude in Deutschland zu leben? Und: Was heißt es, der auf der gesamten Welt am schnellsten wachsenden jüdischen Gemeinschaft anzugehören? Diese erste Phase des jüdischen Lebens in Berlin nach dem Beginn der Einwanderung aus der UdSSR möchte ich daher als die Orientierungsphase bezeichnen. Es handelt sich um einen Zeitabschnitt von etwa dreißig Jahren, der durch das SichHerantasten und eine Verallgemeinerung der jüdischen Inhalte gekennzeichnet ist. Heute, vierzig Jahre nach dem Beginn der Einwanderung, haben sich viele der in den 1970ern bis 1990ern entstandenen Gruppierungen aufgelöst. Daran erinnert sich auch Stas, den ich auf einer Party im Berliner Felix-Club kennenlernte. Im Zusammenhang mit dem jüdischen Leben in Berlin fällt ihm ein: „Heute ist das alles anders, als das früher war. Ich war zwischen 1995 und 1999 bei Bnej Brit51 und wir waren sehr aktiv in jüdischen Sachen. Es gab früher so vier unterschiedliche jüdische Gruppen, die sich regelmäßig trafen. Aber heute gibt es das alles nicht mehr. Das jüdische Leben in Berlin früher war viel lebendiger. Viele sind heute aus Berlin weggegangen, in die USA und so. Die Generation gibt es nicht mehr. Wenn wir das wieder hier haben wollen, sollen wir von den Kleinen anfangen, im Kindergarten.“52
50
Für diese Informationen danke ich Lara Dämmig, der Mitbegründerin der jüdischen Fraueninitiative Bet Deborah, sowie Luba Frumermann, die 1975 im Alter von 30 Jahren aus Kiev nach Berlin einwanderte.
51
Bnej Brit (hebr.) bedeutet „die Söhne des Bundes“. Die Organisation Bnej Brit wurde 1843 in New York von deutschen Einwandern als geheime Loge gegründet und widmet sich laut Selbstdarstellung der Förderung von Toleranz, Humanität und Wohlfahrt. Weitere Ziele sind Aufklärung über das Judentum und die Erziehung innerhalb des Judentums. Vgl. Webseite der Bnej Brit.
52
Feldnotizen 19.5.2010.
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Das Aufgabenspektrum der jüdischen Loge Bnej Brit, die sich neben der Förderung der Toleranz und Humanität den allgemeinen Zielen der Aufklärung über das Judentum und die Erziehung innerhalb des Judentums widmet, weist in Hinsicht auf einen solchen Allgemeincharakter ihrer Inhalte gewisse Parallelen zu dem Aufgabenbereich des JSB auf. Wie Bnej Brit war auch der JSB eine Zulaufsorganisation für alle jungen Juden zwischen 18 bis 35 unabhängig von ihrem Verhältnis zum Glauben, ihrer Herkunft oder ihrem sozialen Status gewesen, für jeden eben, „der sich mit dem Judentum irgendwie auseinandersetzen möchte von sich aus oder auch mit jüdischen Leuten zusammensein will.“53 Die Bnej Brit und der JSB sind nur zwei Beispiele für jüdische Vereine allgemeiner Natur, die sich zur Jahrhundertwende, also etwa dreißig Jahre nach Beginn der Einwanderung, aufgelöst haben. Diese Reihe ließe sich mit vielen anderen Beispielen fortsetzen. Nach der ersten Phase der Orientierung folgt nun die Phase der Ausdifferenzierung und Spezialisierung. Besonders bei der jungen Generation der Juden lässt sich die Tendenz nach einer thematischen Fokussierung und einem teilzeitlichen Charakter erkennen, die für ihre Teilnahme an neuen Gemeinschaftskonstruktionen typisch sind. Kennzeichnend für diese zweite Phase des jüdischen Lebens, in der man nach einer Spezialisierung der Angebote strebt, ist die Ablösung von der „Stammeskultur“. Diesbezüglich bemerkt Hitzler, dass „das postmoderne Gemeinschaftsmitglied typischerweise durchaus nicht in der Totalität einer Stammeskultur aufgeht, sondern dass es sich (eher über kurz als über lang) als Mitglied verschiedener, zum Teil konkurrierender, grundsätzlich instabiler Stämme erlebt. Solidaritäten und Loyalitäten entstehen dementsprechend weniger aus existentiellen Notwendigkeiten heraus, denn aus – eher emotional als rational motiviert – situativen Entscheidungen dafür, (wiederum situativ) prosozial zu (inter-) agieren“.54
Welche Gestalt diese Besonderheiten der „posttraditionalen Gemeinschaften“ in den konkreten Raumpraxen junger russischsprachiger Juden annehmen, soll im Folgenden an einigen charakteristischen Beispielen der Raumkonstruktionen gezeigt werden.
53
Zitat einer ehemaligen JSB-Aktivistin in: Jungmann (2007): Jüdisches Leben in Berlin, 480.
54
Hitzler/Honer/Pfadenhauer (2008): Zur Einleitung: „Ärgerliche“ Gesellungsgebilde? 12f.
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J UNG UND J ÜDISCH ODER DIE B EDEUTUNG DES „ SYMBOLISCHEN K APITALS “ Als ich am Anfang meiner Feldforschung die Suche nach Treffs junger jüdischer Erwachsener begann, existierte in Berlin nur eine einzige Gruppierung, die sich gezielt an junge Leute jüdischen Glaubens bzw. jüdischer Herkunft im Alter zwischen 18 und 35 Jahren wandte. Der Verein Jung und Jüdisch Berlin, die Tochtervereinigung der Union Progressiver Juden, veranstaltet gelegentlich Ausflüge und organisiert gemeinsame Feiern während der großen jüdischen Feiertage. Zwar nutzt Jung und Jüdisch für seine Aktivitäten den Mifgasch-Raum im Gebäude der Jüdischen Gemeinde in der Oranienburger Straße, legt aber viel Wert darauf, sich als gemeindeunabhängig zu präsentieren, was seiner Homepage zu entnehmen ist: „Jung und Jüdisch ist anders. Jung und Jüdisch ist nicht Teil einer jüdischen Gemeinde in Deutschland. Der Verein ist politisch, ideologisch und religiös unabhängig.“55 In seinen Standpunkten unterscheidet sich der Verein von der Jüdischen Gemeinde auch darin, dass er sowohl matrilineare als auch patrilineare Juden zu seinen Veranstaltungen willkommen heißt. 56 In seiner programmatischen Orientierung bezeichnet man sich als für alle Strömungen des Judentums offen, räumt aber sogleich ein, „sich aber in der Tradition des progressiven Judentums“ zu verorten.57 Zwar sind die Veranstaltungen ihrer Form nach sehr divers, thematisch haben sie aber einen religionszentrierten Charakter. So bietet Jung und Jüdisch neben den regulären Schabbatfeiern zum Beispiel auch einen Zoobesuch mit der Führung über die biblischen Tiere an sowie Kinooder Theaterbesuche mit Vorführungen, die an die religiöse Thematik anknüpfen. Bei den Veranstaltungen von Jung und Jüdisch, die ich seit Beginn meiner Feldforschung regelmäßig besuchte, stellte ich fest, dass dabei rund ein Viertel aller Teilnehmer russischsprachig waren, wobei ich es bei jeder Veranstaltung mit immer wechselnden Gesichtern zu tun hatte. Während russischsprachige Juden in der Hauptstadt ca. 85 Prozent aller in Berlin lebenden Juden ausmachen, sind sie unter den Mitgliedern von Jung und Jüdisch im Vergleich zu den deutsch- und englischsprachigen Teilnehmern unterrepräsentiert – ein Phänomen, das Michelle Piccirillo, die Erste Vorsitzende von Jung und Jüdisch Deutschland, auf die Tatsache zurückführt, dass die russischsprachigen Juden sich mehrheitlich im Westen der Stadt verorten, der Verein seinen Sitz aber in
55
Webseite des Jung und Jüdisch Deutschland e.V.
56
Ebd.
57
Ebd.
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der Ostberliner Oranienburger Straße hat. 58 Allerdings erwies sich gerade diese für Berlin eher untypische Zusammensetzung der Teilnehmer für meine Beobachtungen der Vergemeinschaftungs- und Raumkonstruktionsprozesse im Nachhinein als sehr günstig. Denn hier sorgte der Minderheitenstatus russischsprachiger Juden dafür, dass ihre Positionierungs- und Abgrenzungsprozesse gegenüber anderen Herkunftsgruppen in einer besonders konzentrierten Form zur Schau kamen. Meine erste Begegnung mit Jung und Jüdisch findet am Sederabend des Pessach-Festes im März 2010 statt. Als ich in den Mifgasch (hebr. für „Treffen“)-Raum hereinkomme, begrüßen mich Julia und Ben. Beide sind amerikanische Studenten, die nach Berlin als Volontäre gekommen sind, um bei Masorti, dem Verein zur Förderung der jüdischen Bildung und des jüdischen Lebens, ein Jahr lang mitzuarbeiten. Ich erzähle ihnen, warum ich hier bin und frage, ob sie mir einige russischsprachige Juden vorstellen können. Julia deutet auf zwei junge Männer in der Ecke des Zimmers: „Die beiden kommen aus der ehemaligen Sowjetunion. Vlad aus Litauen, Anton aus Russland. Mit ihnen kannst du dich sicherlich unterhalten.“59 Als ich mich in Richtung der beiden jungen Männer umdrehe, muss ich zunächst den Impuls unterdrücken, sofort auf sie zuzugehen und mich ihnen auf Russisch vorzustellen. Ich entscheide mich aber, die Situation zunächst aus der Ferne zu beobachten. Ich möchte unsere gemeinsame Muttersprache und Herkunft ihnen nicht „aufzwingen“, sondern vielmehr herausfinden, ob es zu einer Situation kommt, in der diese vergemeinschaftend wirken. Inzwischen haben zwei junge Frauen und zwei andere Männer an dem Tisch neben Vlad und Anton Platz genommen. Ich entscheide mich für einen Tisch gegenüber, von dem ich einen guten Blick auf den ganzen Saal habe und von dem ich jetzt ihre russischen Gesprächsfetzen wahrnehme. Im Raum herrscht ein angenehmes babylonisches Sprachgemisch: Englisch, Hebräisch, Deutsch und Russisch werden durcheinander geredet. Mir fällt auf, dass im Unterschied zu vielen anderen jüdischen Treffpunkten in Berlin, hier nicht Russisch sondern Englisch und Deutsch den Raum dominieren. Ich frage mich, wie viele von den hier versammelten jungen Leuten wohl aus der ehemaligen Sowjetunion stammen, aber außer den vier Männern und zwei Frauen am Tisch gegenüber, kann ich niemanden mehr als russischsprachig identifizieren. Als der feierliche Teil des Abends beginnt, kündigen die Organisatoren an, dass alle gemeinsam für die Gestaltung des Ablaufs verantwortlich seien. Ein Rabbiner oder eine Rabbinerin seien nicht anwesend, alles wird in eigener Regie durchgeführt. Hier wird viel 58
Interview mit Michelle Piccirillo 7.3.2010.
59
Diese und die folgenden Absätze basieren auf meinen Feldnotizen 29.3.2010.
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Wert auf Mitbeteiligung gelegt. Was danach folgt, scheint eine Lösung für meine Frage nach der Herkunft der Teilnehmer zu versprechen. An dem Sederabend, dem Vorabend des Passachfestes, wird traditionell die Haggada, die Erzählung über den Auszug der Juden aus Ägypten, laut vorgelesen, wobei jeder der am Tisch sitzenden eine Strophe daraus laut aufsagt. Als das Vorlesen beginnt, hoffe ich, an den Akzenten der Lesenden ihre Muttersprache erkennen zu können. Und tatsächlich kann ich jetzt hören, dass auch an den anderen Tischen junge Frauen und Männer sitzen, die deutsche Sätze mal mit einem stärkeren, mal mit einem kaum wahrnehmbaren russischen Akzent vorlesen. Von den circa vierzig jungen Teilnehmern, die sich heute hier versammelt haben, sind ungefähr zehn Russisch-Muttersprachler. Hier wird die Sprachlichkeit zu einem wesentlichen Element, das an der Konstruktion des Raumes Mifgasch gestalterisch mitwirkt. Als der offizielle Teil des Abends, das Vorlesen und die Gebete vorbei sind, stehen einige auf, und ein Platz neben Vlad am Tisch gegenüber wird frei. Für mich eine gute Gelegenheit, die ich nicht verpassen möchte. Mittlerweile wird am Tisch Deutsch gesprochen: Ein paar deutsche Juden, die kein Russisch verstehen, haben sich hinzu gesellt. Als ich mich dazu setze, stelle ich mich Vlad und Anton auf Deutsch vor: Julia habe mir gesagt, dass sie aus der ehemaligen Sowjetunion kämen, und da ich eine Doktorarbeit über die jungen russischsprachigen Juden in Berlin schreibe, wäre ich an einem Interview mit ihnen sehr interessiert. Als Erster reagiert Vlad sehr skeptisch auf meine Anfrage: „Ach so. Neulich war schon eine Frau hier, die auch ihre Doktorarbeit über die russischen Juden schreibt. Sie hatte mich um ein Interview gebeten, aber ich wollte nicht. Ich habe keine Lust, persönliche Dinge über mich zu erzählen. Ich habe nicht einmal der Deutschen Welle ein Interview gegeben, als sie mich neulich fragten.“ Lächelnd entgegne ich, dass ich in diesem Fall vermutlich keine Chance habe, ihn für ein Interview zu gewinnen. Wie denn die Frau hieß, die schon vor mir hier war, möchte ich gerne wissen. Vlad: „An den Namen erinnere ich mich nicht mehr, aber das war eine Amerikanerin, glaube ich.“ Inzwischen ist Vlad kurz davor, nach Hause zu gehen. Als ich sehe, dass er seine Sachen packt und beginnt, sich von den anderen Gästen zu verabschieden, überlege ich verzweifelt, wie ich ihn aufhalten und doch noch zu einem Interview bewegen könnte. Als er sich zu Anton umdreht und ihm auf Russisch auf Wiedersehen sagt, lasse ich auch ein paar Worte auf Russisch fallen. Vlad schaut mich erstaunt an: „Dein Russisch ist aber sehr gut. Wo hast du es gelernt?“ Als ich mich als „Russin“ oute, schaut jetzt auch Anton verwundert zu: „Ach so, wir dachten, du wärst Amerikanerin. Du hast dich ja auch als eine Freundin von Julia vorgestellt, und dein Name klang auch so, Alin. Die andere Frau, die damals hier war und mit uns reden wollte,
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war auch Amerikanerin.“ Nun fließt das Gespräch weiter auf Russisch, wobei Vlad seinen schwarzen breitrandigen Hut wieder ablegt und mir bereitwillig seine Telefonnummer und die E-Mail-Adresse diktiert. Auch Anton ist dabei und verspricht, dass er gerne helfen würde. Die russische Sprache wirkt verbindend und – gleichzeitig wird auch die Kehrseite dieser vergemeinschaftenden Wirkung deutlich – ausschließend. Denn je länger ich an dem „russischen“ Tisch verweile, desto stärker wird das latente Ressentiment spürbar, das die russischsprachigen Juden den amerikanischen Teilnehmern entgegenbringen. So bemerkt ein anderer Endzwanziger neben mir, man höre heute viel zu viel Englisch im Raum. Sein Englisch sei zwar perfekt, aber das Ganze sei ihm trotzdem „nicht ganz koscher“. Später erfahre ich von meinen Nachbarn auch den Namen der „Amerikanerin“, die schon vor mir hier nach Interviewpartnern gesucht hatte. Mit Verwunderung muss ich feststellen, dass es sich um eine Kollegin von mir handelt, die allerdings keine Amerikanerin, sondern eine deutsche Jüdin mit israelischen Wurzeln ist. Somit wird die ablehnende Haltung gegenüber einer Frau, für deren Studie man ein Forschungsobjekt darstellt, mit der Abneigung gegenüber den im Raum anwesenden Amerikanern in Verbindung gebracht und auf die Frau übertragen. Denn auch von den amerikanischen Volontären fühlt man sich als Zielobjekt behandelt, dem diese etwas beibringen sollen: Zum Auftrag der amerikanischen Freiwilligen gehört unter anderem die Aufgabe, die russischsprachigen Juden in Deutschland an das Judentum heranzuführen. Im Raum gelten sie daher als „Experten“ für das jüdische Leben – junge Männer und Frauen, die locker jüdische liturgische Lieder vor sich hin summen, die ihnen schon seit dem Kleinkindalter vertraut sind. Ihr jüdisches „symbolisches Kapital“ wird hier höher eingestuft als das meiner russischsprachigen Nachbarn, die nur in seltenen Fällen bereits im Kindesalter mit den Elementen der jüdischen Religionspraxis vertraut waren, sondern diese erst im Erwachsenenalter in Deutschland erlernten. Das anfänglich von mir als harmonisch und friedlich wahrgenommene Miteinander zwischen den russischsprachigen, deutschen, amerikanischen und israelischen Juden erwies sich im Nachhinein als trügerisch. Am Ort Mifgasch wird, mit Bourdieu gesprochen, ein „sozialer Raum“ konstruiert, dessen Struktur sich nach dem „kulturellen“ und „symbolischen Kapital“ verschiedener Akteure und Akteursgruppen richtet und dadurch zu einer klaren hierarchischen Verteilung von Machtpositionen im Raum führt. Dabei betrachtet Bourdieu die Struktur des „sozialen Raums“ für die soziale Ordnung der Gesellschaft im Ganzen als repräsentativ – eine Ordnung, die ihrerseits als ein fortdauernder Kampf um soziale
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Distinktion zu verstehen ist.60 Am Ort Mifgasch, an dem die Pessach-Feier von Jung und Jüdisch stattfindet, wird somit nicht bloß ein Raum konstruiert, sondern ein „Kräftefeld, das sich durch Relationen zwischen nach Abgrenzung voneinander strebenden habitualisierten Handlungsformen eröffnet.“61 Die Abgrenzung, die das Handlungsfeld im Mifgasch strukturiert, wird seitens russischsprachiger Juden nicht nur gegenüber den Amerikanern deutlich. Eine unterschwellige Ablehnungshaltung herrscht auch einer anderen Gruppe gegenüber, den deutschen oder „einheimischen“ Juden, deren Eltern seit mehreren Generationen in Deutschland leben. Später wurde in meiner Gegenwart immer wieder betont, dass einige von ihnen – auch die Vorstandsmitglieder von Jung und Jüdisch – nicht von Geburt Juden seien, sondern zum Judentum konvertiert seien. Dina, die ich auch an diesem Abend kennenlerne, antwortet mir bei einem unserer späteren Treffen als ich den Namen eines Mitglieds von Jung und Jüdisch beiläufig erwähne: „Ach, der, den mag ich nicht so. Er wirkt so unnatürlich. Er ist ja ein konvertierter Jude, wusstest du das? Nicht, dass es für mich einen Unterschied macht, aber ich finde es irgendwie komisch, wenn Deutsche zum Judentum konvertieren. In der Gemeinde von Gesa62 sind sehr viele konvertiert, Gesa selbst ja auch. Und das merkst du sehr stark. Da steht eine deutsche Frau und hält eine Predigt und es ist wie in der Kirche. Es sind alles Protestanten. Das merkt man sofort an der Atmosphäre. Sie sind so höflich und vorsichtig miteinander: ‚Guten Tag. Wie geht es Ihnen?‘ Juden sind nicht vorsichtig. Deswegen gehe ich zum Gottesdienst in der Oranienburger Straße nicht gerne hin. Ich war neulich mit einer Freundin in der Joachimstaler Straße und da ist es ganz anders. Du hast einen Rabbiner und wenn er spricht, dann ist er wie mein Großvater. Ein jiddischer Akzent, jüdische Witze, die ganze Trauer des jüdischen Volkes spricht aus ihm heraus. So wird Gesa niemals reden können. Aber in der Joachimstaler Straße gefällt es mir nicht, dass Frauen ganz hinten hinter diesem Gitter sitzen müssen. Ich habe mit Eva vom Vorstand von Jung und Jüdisch mal darüber gesprochen, sie hat sehr viele Philosemiten getroffen und sie sagte, dass sehr viele Deutsche sich zur Konversion entscheiden, um von der Seite der Täter auf die Seite der Opfer zu wechseln. Und sie sind dann mehr Juden, das heißt religiös, als wir es sind. Aber es fehlt ihnen diese gemeinsame Geschichte, die Erfahrung der Generationen der Juden, die vertrieben und verfolgt wurden. Sie werden sie niemals haben und das merkt man. Mich persönlich stört es nicht, wenn Menschen konvertieren, aber neulich war
60
Bourdieu (2010): Die feinen Unterschiede.
61
Dünne/Günzel (2006): Raumtheorie, 301.
62
Gesa Ederberg ist Rabbinerin und leitet den egalitären Gottesdienst in der Oranienburger Straße.
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ich mit einer älteren, 70-jährigen Bekannten in der Synagoge zusammen und sie findet das furchtbar, dass jemand, der vielleicht ihre Familie ermordet hat, sich jetzt auch Jude nennt. Und ich kann sehr gut nachvollziehen aus ihrer Position, wenn sie so denkt.“ 63
Wenn Dina die zum Judentum konvertierten christlichen Deutschen als „Protestanten“ bezeichnet, die in ihren Augen die Synagoge zu einer Kirche machen, wertet sie ihren Habitus somit als nicht-jüdisch ab. Dabei geht sie auf die Charakteristiken ein, die Bourdieu als „feine Unterschiede“ beschreibt: Gestik, Intonation, ein jiddischer Akzent sind auf den ersten Blick Kleinigkeiten, die in ihrer Gemeinsamkeit allerdings eine „jüdische Atmosphäre“ kreieren und als Voraussetzung für einen „genuin jüdischen Habitus“ fungieren. In Dinas Augen kann keine auch noch so intensive Auseinandersetzung mit religiösen Inhalten des Judentums, die für die Konversion unabdingbar ist, das Geburtsrecht in eine Gemeinschaft ersetzen, zu deren kollektiven Gedächtnis viele Jahrhunderte der Verfolgung, Vertreibung und des Leidens gehören. Die starke Wirkung des Jiddischen als Teil des „kulturellen Gedächtnisses“ auf die russischsprachigen Juden wird auch dadurch deutlich, dass es zum Pflichtprogramm der Rabbinerausbildung am Abraham Geiger Kolleg gehört, dass die angehenden Rabbinerinnen und Rabbiner üben, in ihre deutschen Gebete jiddische Worte einzubauen, um dadurch authentischer zu wirken.64 Wenn Dina die gemeinsame Abstammung im Vergleich zum religiösen Eifer der konvertierten Juden aufwertet, erscheint diese Praxis besonders vor dem Hintergrund der eigenen niedrigen symbolischen Machtposition in Hinsicht auf die Jüdischkeit als notwendig. Denn nicht nur im Vergleich zu den amerikanischen Juden bei Jung und Jüdisch, sondern auch generell werden russischsprachige Juden in Deutschland hauptsächlich durch ihre Entfremdung von der jüdischen Religionspraxis wahrgenommen. Mit den Worten des Zentralrats der Juden in Deutschland haben die jüdischen Gemeinden hierzulande die Aufgabe, die Neueinwanderer an ihre jüdischen Wurzeln heranzuführen.65 Bei Dina kommt hinzu, dass sie, wie die Hälfte aller russischsprachigen jüdischen Einwanderer in Deutschland, aus einer interkonfessionellen Ehe stammt: Während ihre Mutter jüdisch ist, ist ihr Vater russisch-orthodox. Ihr Jüdischsein musste sie schon früh in ihrer eigenen Familie durchsetzen:
63
Feldnotizen 13.5.2010.
64
Gespräch mit Hartmut Bomhoff, dem Mitarbeiter des Abraham Geiger Kollegs,
65
Vgl. die Webseite des Zentralrats der Juden in Deutschland.
14.6.2010.
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„Und dann hatte ich auch eine Oma, die immer zu mir sagte: ‚Du bist ja keine richtige Jüdin, weil dein Vater russisch-orthodox ist. Warum tust du dann so, als ob du eine Oberjüdin wärst?‘ Ich habe mich aber schon immer jüdisch gefühlt, was konnte ich denn tun? Ich bin überhaupt nicht gläubig. Kein Gott kann mir vorschreiben, was zu tun und zu denken ist. Aber die gemeinsame Geschichte, die Kultur, die Bildung – das verbindet mich mit dem Judentum.“66
Indem Dina die konvertierten Juden auf der Leiter der sozialen und kulturellen Machthierarchie symbolisch herabstuft, schafft sie es, ihre eigene „Entmachtung“ hinsichtlich des jüdischen „symbolischen Kapitals“ auf diese Art und Weise zu kompensieren. Das Abstammungsrecht wird besonders dann relevant, wenn man, anders als Dina, „lediglich“ einen jüdischen Vater und keine jüdische Mutter hat und nach dem jüdischen Religionsgesetz daher nicht als Jude gilt. Die sogenannten „Vaterjuden“, die von den jüdischen Gemeinden in Deutschland lange ignoriert und erst in der letzten Zeit im Zuge des demografischen Rückgangs der Mitgliederzahlen der jüdischen Gemeinden sowie wegen der vielen Austritte als „potentielle“ Juden entdeckt werden, werden bei den Veranstaltungen des liberalen Jung und Jüdisch bereits seit der Vereinsgründung im Jahr 2003 willkommen geheißen.67 Die selektive Praxis der gemeindenahen jüdischen Jugendorganisationen einerseits, und die liberale Praxis der Tochtervereinigung der Union Progressiver Juden in Hinblick auf die Mitgliedschaft andererseits, führt häufig zu Rivalitäten und offenen Konfliktsituationen im Kampf um die Mitglieder. Dieser Konflikt wird in der Erzählung von Michelle Piccirillo deutlich, wenn sie mir über eine neue, im Jahr 2010 von der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) gegründete Organisation achtzehnplus berichtet:
66
Mental Mapping-Sitzung 6.6.2010.
67
In den Jahren 2010 und 2011 konnte ich in den Medienberichten verfolgen, wie das Interesse der jüdischen Gemeinden sowie der allgemeinen jüdischen Öffentlichkeit an den sog. „Vaterjuden“ wuchs. Vgl. Brumlik (2011): Papa ante Portas; Lagodinsky: In Vaters Namen. Auch startete im November 2010 das Pilotprojekt mit dem Ziel, die jungen Menschen im Alter zwischen 18 und 35 Jahren, die einen jüdischen Vater haben, gezielt auf Konversion vorzubereiten. Vgl. Goldmann (2011): „Vaterjuden“ im Visier; Angebot für Gijurinteressierte, deren Väter jüdisch sind. Eine Anzeige in der Jüdischen Allgemeine, Nr. 41, 14.10.2010. Zum Rückgang der Mitgliederzahlen der jüdischen Gemeinden deutschlandweit siehe Mitgliederstatistik der jüdischen Gemeinden und Landesverbände in Deutschland für das Jahr 2011.
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„Es gibt noch die Organisation achtzehnplus von der ZWST, aber sie machen bloß vereinzelte Aktionen wie Ferienlager. Sie haben sich einmal an mich gewandt, ob ich eine Ankündigung, eine Reise nach Italien, durch meinen Jung und Jüdisch-Verteiler verbreiten könnte. Zuerst hatte ich nichts dagegen. Aber dann fragten sie mich, wer so alles in unserem Verteiler drin wäre. Ich wusste, was gemeint war: ob das alles halachische Juden sind. Nein, wir haben nicht nur halachische Juden dabei, sondern alle, die zu unseren Veranstaltungen kommen, meinte ich. Und dann fragte man mich, ob ich die Information, die von der ZWST stammt, nur an die halachischen Juden schicken kann. Das hat mich sehr geärgert. Ich sagte dann, dass ich meinen Verteiler nicht nach halachisch und nicht-halachisch durchforsten werde. Bei Jung und Jüdisch können alle mitmachen. Die meisten Juden auf der Welt sind liberal und akzeptieren auch Patrilinearität. Daraufhin sagte er zu mir, dass das zwar stimmt, aber dass diese Einstellung, die ich vertrete, falsch sei. Und ich sagte, dass ich eine Pluralität der Glaubensrichtungen und Denkweisen gut und bereichernd finde. Das war ein sehr verbohrter und indoktrinierter, engstirniger Typ. Das finde ich sehr schade.“68
Durch ihren offenen und alternativen Charakter zieht Jung und Jüdisch nicht nur patrilineare, sondern auch viele schwule und lesbische junge Juden an, aber auch solche, die mit der Jüdischen Gemeinde negative Erfahrungen gemacht haben. Für viele, die an den Aktivitäten von Jung und Jüdisch teilnehmen, stellt dabei die Jüdische Gemeinde wie im Falle von Dina die Abgrenzungsfolie dar, die ein jüdisches „Wir-Bewusstsein“ erst ermöglicht: „Die Jüdische Gemeinde mag ich nicht. Dort sind alle so arrogant, reden nur über Autos und Markenklamotten. Und wenn man nicht aus einer reichen Familie kommt, schauen sie auf einen herab. Ich bin sehr froh, dass es in Berlin Jung und Jüdisch gibt, weil es dort um intellektuelle Themen geht. Ich finde es toll, wenn man sich darüber unterhalten kann, was die Philharmoniker gerade in Berlin spielen, oder zusammen in die Oper geht. Die Leute bei Jung und Jüdisch finde ich sehr angenehm, sie sind sehr unterschiedlich. Sie sind intelligent, haben andere Werte und andere Interessen. Ich denke, ein solcher Mix an Menschen ist nur in Berlin möglich.“69
Wie Hitzler für die „posttraditionale Gemeinschaftsbildung“ festhält, wird hier die Gemeinschaft durch ein „distinktives Wir-Bewusstsein“ stabilisiert, das wesentlich aus der Konstruktion einer „gemeinsamen Außenseite“ besteht. Erst in Abgrenzung zu einem „Dritten“ kann aus der kulturell und sozial heterogenen 68
Interview 7.3.2010.
69
Feldnotizen 13.5.2010.
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Akteursgruppe ein „Wir“ entstehen. Im Gegensatz zum alternativen Jung und Jüdisch, wo die Mitgliedschaft auf Attraktivität und nicht auf Zwang beruht, scheint die Jüdische Gemeinde „ihren Mitgliedern vielerlei Verhaltensweisen aufzuerlegen, scheint sie insbesondere in bestimmte, großteils verselbstverständlichte Verkehrsregeln im Umgang mit anderen hineinzuzwingen […].“70 Während innerhalb des Treffs kulturelle Codes wie Sprache oder Intonation sowie das „kulturelle Gedächtnis“ vergemeinschaftend und zugleich abgrenzend zwischen russisch-, englisch- und deutschsprachigen Juden wirken, wird ein alle Teilnehmer umfassendes „Wir-Gefühl“ durch die Möglichkeit, Spaß zu haben und etwas gemeinsam zu erleben kreiert, wobei die Grenzen nach innen ebenso wie nach außen als fließend, variabel, instabil und der jeweiligen Situation angepasst betrachtet werden müssen. Dies macht die Feststellung von Irina, einer anderen Teilnehmerin der Jung und Jüdisch-Events deutlich: „Ich habe neulich eine Rabbinatstudentin kennengelernt, Lea, die gerade in London studiert. Und ich kann mir gut vorstellen, dass, wenn sie Gottesdienste in der Oranienburger Straße übernimmt, würde ich dahin gehen. Sie erzählte, dass sie Gottesdienste interessant gestalten will, wie ein Entertainment. Und das ist das, was ich brauche, obwohl ich es noch nie gewagt habe, darüber nachzudenken, dass ich so etwas brauche. Warum gehe ich eigentlich nicht regelmäßig in die Synagoge? Ich will nicht irgendwohin gehen, weil ich es muss, sondern weil es mir dort gefällt. Ich glaube ja nicht an Gott, und so sind die meisten von uns: Atheisten, die zufällig Juden sind. Ich will eine Synagoge, in der ich mich frei fühle.“71
Die Gemeinschaftsform, die Irina anstrebt, beruht auf der Mitgliedschaft, zu der man durch einen hohen Erlebniswert „verführt“ werden muss. In eine solche „posttraditionale Gemeinschaft“ wird man nicht mehr hinein sozialisiert, sondern man entscheidet sich für die Teilnahme freiwillig. Dadurch verlieren „posttraditionale Gemeinschaften“ ihre existentielle Bedeutung und sind, im Gegensatz zu ihren herkömmlichen Vorgängern, „lediglich imaginäre Gebilde derer […], die sich – wie auch immer – auf sie beziehen.“72
70
Hitzler/Honer/Pfadenhauer (2008): Zur Einleitung: „Ärgerliche“ Gesellungsgebilde? 16.
71
Feldnotizen 18.10.2010.
72
Hitzler/Honer/Pfadenhauer (2008): Zur Einleitung: „Ärgerliche“ Gesellungsgebilde? 12.
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E IN JÜDISCHER P ARTNERCLUB BEI C HABAD L UBAWITSCH In seiner Studie „Jugend und Jugendkulturen“ spricht Baacke von verschiedenen Möglichkeiten der Raumkonstruktion, die der Jugend zur Verfügung stehen, um ihre eigenen Fähigkeiten zu erproben und ihre Wünsche und Sehnsüchte auszudrücken. Neben der Gelegenheit, speziell für sie geschaffene Räume wie Jung und Jüdisch zu nutzen, passiert es nicht selten, dass, wenn solche altersentsprechenden Projekte fehlen, die jungen Leute sich in die vorhandenen Räume eingliedern, die von den anderen Akteursgruppen bereits besetzt sind und mit denen man sich arrangieren muss.73 Eine entsprechende Raumpraxis konnte ich während meiner Ausflüge zum jüdischen Bildungs-, Bet- und Familienzentrum der ultraorthodoxen Bewegung von Chabad Lubawitsch in der Münsterschen Straße in Charlottenburg-Wilmersdorf beobachten. Auf einer Veranstaltung im jüdischen Gemeindehaus in der Fasanenstraße lerne ich im Sommer 2010 Julia kennen. Bei der angekündigten „Beer-Party“ (vgl. Abbildung 7) sind im großen Saal des Gemeindehauses mehrere Stehtische aufgebaut, um die sich mehrere kleine Gruppen versammelt haben. Von einem zum anderen Tisch flanierend, bleibe ich schließlich neben einer Gruppe junger Leute stehen, die sich miteinander lebhaft auf Russisch unterhalten. Das Gespräch dreht sich gerade darum, dass Julia als einzige Frau am Tisch die fünf jungen Männer auf deren Kochkünste scherzhaft prüft und sich von einigen die Einladungen für einen Teller koscheren Borschtsch einholt. Diese Szene kommt mir wie aus dem Schweizer Dokumentarfilm „Matchmaker“ geschnitten vor, in dem die Regisseurin Gabrielle Antosiewicz nach einem „richtigen“ jüdischen Mann sucht, indem sie Männer zu sich nach Hause einlädt und sie traditionelle jüdische Speisen vorbereiten lässt. 74 Dass es an diesem Tisch allerdings nicht um Chalot, die Schabbat-Zopfbrote wie bei Antosiewicz, sondern um Borschtsch, eine Speise aus der russischen Küche geht, lässt auf einen kulturellen Code schließen, der von allen Gruppenangehörigen geteilt wird und die Gruppe als solche überhaupt erst entstehen lässt. Auch für mich bietet dieser Code eine Anknüpfungsgelegenheit an das Gespräch, so dass ich mich durch ein paar Witze daran schnell mitbeteiligen kann. Der deutliche Mangel am weiblichen Geschlecht am Tisch wirkt sich auf meine schnelle Aufnahme in die Gruppe dabei günstig aus. Nach einer Namensrunde und dem obligatorischen small talk über die Herkunfts- und Wohnorte folgt der Austausch von FacebookProfilen und eine Einladung, am nächsten Freitag bei Chabad vorbeizuschauen. 73
Baacke (2007): Jugend und Jugendkulturen, 170.
74
„Matchmaker“, Schweiz 2005. Regie: Gabrielle Antosiewicz.
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Abbildung 7: Ankündigungsflyer für die „Beer-Party“ im Haus der Jüdischen Gemeinde in der Fasanenstraße am 6.6.2010
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Diese Einladung wiederholt Julia zwei Tage später per Facebook, auch soll ich gerne noch mehr Leute mitbringen, schreibt sie mir. Vlad und Dina, die mich in diesen Tagen ebenfalls fragen, ob wir gemeinsam in einen Gottesdienst gehen wollen, schlage ich vor, zum Chabad mitzukommen. Und so kommt es, dass wir drei eine Woche später mit Julia an der U-Bahn-Station Jungfernheide in Charlottenburg verabredet sind, um gemeinsam zum Chabad-Zentrum zu fahren. In der U-Bahn erklärt Julia, warum sie trotz ihres zeitaufwendigen Chemiestudiums jeden Freitag eine 40-Minuten-lange Fahrt von ihrer Wohnung in Berlin-Spandau nach Charlottenburg-Wilmersdorf zum Chabad auf sich nimmt: „Als ich aus Augsburg nach Berlin kam, suchte ich nach einem Club oder einem Ort, wo ich mich mit anderen Juden treffen kann. Ich war ziemlich lange damit erfolglos. Überall, wo ich gefragt habe, wusste niemand von einem solchen Ort etwas. Bis mir letztes Jahr ein Bekannter von einer Chanukka-Feier bei Chabad erzählte und mich dorthin einlud. Seitdem komme ich regelmäßig hierher. Wir sind jetzt ein ganz schönes Grüppchen geworden. Jetzt ist es tatsächlich wie in einem Club, in den letzten Monaten hat es sich so entwickelt, dass alle regelmäßig kommen: Slava, Dima, Tima, Lönja, noch ein Dima.”75
Wie Julia mir später erzählte, wanderte sie mit 17 Jahren aus dem turkmenischen Ashgabat zunächst alleine nach Israel aus, wo sie zwei Jahre lang zur Schule ging und einen Gijur, die Konversion zum Judentum, absolvierte. Ihr Großvater väterlicherseits sei zwar ein Jude gewesen, aber ihre Mutter ist nicht-jüdisch, so dass Julia vor dem Übertritt nach der Halacha nicht als jüdisch galt. Mit 19 Jahren kehrte sie nach Ashgabat zurück, um zusammen mit ihrer Familie nach Deutschland auszuwandern. Zunächst in einer Kleinstadt in Sachsen-Anhalt gestrandet, zog Julia später zum Studium nach Würzburg, dann nach Augsburg und schließlich nach Berlin, wo sie ein Chemiestudium an der TU aufnahm. Sie ist heute 25 Jahre alt. Auf dem Weg von der-U-Bahn Station Konstanzer Straße zum Chabad-Haus wirkt Julia sehr aufgeregt. Als ob ihr plötzlich Flügel gewachsen wären, eilt sie, rennt fast uns dreien voraus, schafft es aber, uns dabei über alles zu briefen, was heute Abend passieren wird: Julia:
„Wir werden heute ganz viele sein: Slava wird kommen und Leo und Dima und Tima. Ich habe allen schon geschrieben, dass zwei neue Frauen dabei sind. Ich werde gleich die Kerzen anzünden, ihr könnt zuschauen, wenn ihr wollt. Ich bin gerade ganz außer Atem, ich weiß auch nicht, warum ich so renne. Eigentlich ha-
75
Feldnotizen13.8.2010.
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ben wir noch massig Zeit. Seitdem wir hier ein kleines Grüppchen sind, ist es viel lustiger geworden, werdet ihr gleich sehen. Alle Männer hier, sie haben eigentlich überhaupt kein Problem, eine Frau zu finden. Sie sind schlau, sehen gut aus und haben keine finanziellen Sorgen. Aber sie wollen eine jüdische Frau und deswegen kommen sie hierher. Sie werden sich riesig freuen, wenn sie euch gleich sehen.“ Dina:
„Leider haben wir keinen Bedarf mehr. Wir haben schon Partner.“
Julia starrt Dina einen Augenblick verständnislos und ungläubig an. Dann hebt sie verwundert die Stimme: „Das ist nicht wahr! Tatsächlich?! Oh, das dürft ihr ihnen aber nicht erzählen, sonst sind sie enttäuscht, sehr enttäuscht sogar. Sagt einfach gar nichts dazu, ok?“ Dina:
„Und warum hast du immer noch keinen Freund?“
Julia:
„Ich bin gerade wieder Single. Ich suche mir einen Mann, der kochen kann. Ich kann das selbst nicht. Ich bin eine richtige jüdische Frau: sehr wählerisch. Aber alle Jungs hier oder besser gesagt Männer, sie sind wirklich keine Jungs mehr, Slava ist zum Beispiel schon 35, sie haben tolle Berufe. Sie sind Ärzte oder Rechtsanwälte.“76
Spätestens jetzt wird mir klar, dass Julia die Räume des Chabad-Zentrums als Partnerbörse für die jungen Juden umdefiniert hat. Ihre Aufgabe, „eine richtige jüdische Frau“ zu sein, nimmt sie sehr ernst, indem sie der Familie als eine der zentralen Säulen der jüdischen Lebenspraxis die höchste Aufmerksamkeit schenkt. Passend zum Ziel ihres Vorhabens hat Julia auch ihre Kleidung gewählt: Ein schickes Minikleid, das sie, als der Rabbiner an uns im Flur vorbeikommt, etwas unbeholfen versucht nach unten zu ziehen um ihre nackten Knie zu bedecken. Der Rabbiner selbst sowie die meisten Besucher sind an diesem Abend gemäß der jüdischen ultraorthodoxen Tradition gekleidet, die es vorschreibt, die Knie und die Ellenbogen bedeckt zu halten. Nicht nur ignoriert Julia die vorgeschriebenen Regeln des Anstandes, sie hat auch dann ihren eigenen Kopf, wenn es um die ritualisierte Gebetszeremonie geht. Am Eingang des Frauengebetsraums berichtet sie Dina und mir zutraulich: Julia:
„Die Frauen hier schauen mich immer unfreundlich an. Sie lassen ihre Augen von oben nach unten an mir gleiten, als ob sie mich bewerten würden.“
Dina:
76
„Liegt es vielleicht daran, dass deine Kleidung zu viel Haut zeigt?“
Feldnotizen 13.8.2010.
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Julia:
„Glaube ich nicht, streng ist es hier überhaupt nicht. Wenn ihr wollt, könntet ihr euch aus diesem Schrank hier Siddurim (Gebetsbücher) rausnehmen. Ich habe zu Hause zwei Siddurim auf Russisch. Aber hier lese ich nicht, ich höre einfach nur zu. Es gibt hier viele, die den Siddur einmal aufschlagen und den ganzen Gottesdienst lang keine einzige Seite umblättern. Ich bin, was das angeht, zumindest ehrlich. Diese Dame dort in der Ecke ist übrigens die Einzige, die mich hier freundlich begrüßt. Alle anderen schauen nur unfreundlich. Wenn ich alleine komme, setze ich mich ganz hinten.“77
Dieses Mal will Julia nicht ganz hinten sitzen. Sie ist heute nicht alleine und sucht sich demonstrativ einen Platz in der zweiten Reihe aus, wobei sie ihre Jacke zusammen faltet und mit dieser beim Hinsetzen ihre Knie bedeckt. Beim Gottesdienst schaut sie die ganze Zeit nach rechts und links und mustert die Frauen, die um uns herum sitzen, und ihre Augen in die Gebetsbücher versunken haben. Zwar schafft Julia sich hier einen Raum für ihre eigenen Zwecke, sie muss aber trotzdem den Weg finden, mit den anderen Teilnehmerinnen des Gottesdienstes zurechtzukommen. Hier äußert sich das Bedürfnis der postmodernen Zeiten, frei, aber dennoch nicht allein zu sein. Einerseits braucht man andere Mitglieder als Publikum für die eigene Show, andererseits gilt dabei das Leitprinzip „nur das zu akzeptieren oder zu tun, was einem selbst gerade zusagt, [was] zur Missachtung der in der Gesellschaft als richtig, wahr, angemessen oder akzeptabel geltenden Ordnungsprinzipien und Verhaltensforderungen [führt].“ 78 Die Rolle der Partnervermittlerin, die Julia für sich ausgesucht hat, erlaubt es ihr, jene Aufregung zu spüren, die in den Zeiten der Reflexiven Moderne benötigt wird, um bei einem Überangebot an individuellen Handlungs- und Orientierungsoptionen den Kontakt zu sich selbst nicht zu verlieren. 79 Dabei geht man mit den Angeboten frei und flexibel um. Während Chabad seinen Besuchern ein essentialistisches Modell der Teilhabe am jüdischen Leben anbietet, das alles von der jüdisch-religiösen Bildung und den Gottesdiensten bis zu den Kinderund Familienfesten umfasst, hat Julia im Chabad-Haus ihren eigenen Raum konstruiert der dem Zweck der Partnervermittlung dient und zwar speziell unter den 77
Feldnotizen 13.8.2010.
78
Prisching (2011): Ronald Hitzler, 266.
79
Der Begriff der „reflexiven Modernisierung“ stammt in der hier gemeinten Bedeutung von Ulrich Beck. Damit wird die Tendenz angesprochen, dass sich das Wissen um unser Nichtwissen verbreitet. Das führt dazu, dass eine allgemeine Desorientierung um sich greift und wir zunehmend heimat- und hilflos werden. Vgl. Beck (1996): Wissen oder Nicht-Wissen?
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russischsprachigen Männern und Frauen. Eine solche inhaltliche Fokussierung ist für die von Maffesoli auch als „Neo-Tribes“ bezeichneten neuartigen Vergemeinschaftungen charakteristisch.80 Das postmoderne Gemeinschaftsmitglied geht in der Regel nicht in der Totalität einer „Stammeskultur“ auf, sondern sucht sich situativ Teilaspekte aus diesen heraus. Typisch für eine solche Konstruktion, die sicherlich auf Stuart Halls grundlegenden Gedanken zur Segmentierung und Fragmentierung der „kulturellen Identität“ basiert81, ist auch ein temporäres Verweilen in der Gemeinschaft: Hat ein Mitglied aus Julias Gruppe eine Partnerin oder einen Partner gefunden, kündigt er oder sie die Teilnahme an dem Angebot zwangsläufig auf. Trotz Julias Eigenwilligkeit bezüglich ihres Verhaltens den anderen Besuchern gegenüber und trotz ihres flexiblen Umgangs mit dem Angebot des Chabad-Hauses, offenbart sich an diesem Abend auch ihre Sehnsucht nach Wärme und Zusammenhalt. Mitten im Gottesdienst schlägt Julia vor, aus dem Betraum herauszugehen und im Foyer draußen zu plaudern. Dina und ich folgen ihr und machen es uns auf den Marmorstufen im Vorraum bequem. In ihrem schicken beigen Kleid und einem modischen Jäckchen darüber wirkt Julia auf mich in der leeren und dadurch noch größer erscheinenden Lobby wie eine Ballkönigin. Wie ihre Untergebenen schauen Dina und ich von den unteren Stufen der kleinen Treppe auf sie hinauf, während sie sich einen halben Meter über uns platziert hat. Hier draußen wirkt Julia wieder viel sicherer, fast so, als ob dieser Raum ihr eigenes Zuhause wäre in dem sie uns nun empfängt, ihr privates Reich, in dem sie nach Belieben schalten und walten kann. Wie schon auf dem Weg von der U-Bahn Station verwandelt sie sich in eine Gastgeberin und erklärt uns, was nach dem Gottesdienst passieren wird: Wir werden gleich gemeinsam in den Speisesaal gehen, davor dürfen wir aber die rituelle Handreinigung nicht vergessen. Wenn wir das Gebet nicht kennen, können wir dieses ihr einfach nachsprechen. Dina wundert sich darüber, woher Julia sich mit den Ritualen so gut auskennt: Dina:
„Hat deine Familie in Ashgabat eigentlich jüdisch gelebt?“
Julia:
„Nein, überhaupt nicht. Als ich klein war, sind wir oft zur Kirche gegangen und haben alle christlichen Feste zu Hause gefeiert. Man durfte ja sehr lange nicht darüber reden, dass man jüdisch war. Die Freundinnen meiner Mutter wussten gar nicht, dass sie jüdisch war. Sie haben es erst dann erfahren, als wir uns auf die
80
Maffesoli (1996): The Time of the Tribes.
81
Hall (1994): Rassismus und kulturelle Identität, 26, 70, 182f.
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Auswanderung nach Deutschland vorbereitet haben. Und als man darüber reden durfte, hat man es langsam zugegeben und war sogar stolz darauf.“ Dina:
„Warst du zwischendurch zurück in Turkmenistan gewesen?“
Julia:
„Nein, und ich will das auch nicht. Nicht wegen Antisemitismus, das habe ich nicht erlebt. Aber die Russischsprachigen dort wurden immer stärker unterdrückt. Alle russischen Schulen wurden geschlossen. Ich hatte noch Glück, dass ich auf die russischsprachige Schule gehen durfte. Man hat deutlich gemacht, dass wir dort, die Russischsprachigen, nicht willkommen sind. Ich mag dieses Land nicht.“
Dina:
„Mir geht es ähnlich. Seitdem wir nach Deutschland gekommen sind, bin ich noch nie wieder in Zhitomir gewesen. Ich habe dort viel Antisemitismus erfahren von den Lehrern und von den Schülern. Als ich zehn Jahre alt war, hat mich die Leiterin der Theater AG aus der Truppe rausgeschmissen, weil ich angeblich nicht spielen konnte. Mit zehn Jahren! Das muss man sich vorstellen. Und über meine Mutter wurde immer bei den Elternabenden getuschelt, dass sie eine Jüdin sei. In Berlin fühle ich mich sehr wohl. Und wie gefällt es dir in Berlin?“
Julia:
„Sehr gut. Ich habe mich hier gut eingelebt, ich habe viele Freunde hier. In Würzburg, Bayern, war das anders. Dort konnte ich mich nie wirklich zu Hause füllen. In Berlin ist es anders.“82
Dass Julia sich in Berlin heimisch fühlt, ist zu einem großen Teil der Tatsache zu verdanken, dass sie sich bei Chabad ein Zuhause schaffen konnte. Die Rabbiner der Chabad-Lubawitsch-Bewegung, denen es ihrer eigenen Aussage nach weniger auf die religiöse Praxis, als vielmehr auf „die Menschen, auf jeden einzelnen Menschen“ ankommt83, sorgen mit einer solchen Offenheit für Freiräume, die junge Juden entsprechend ihrer eigenen Wünsche definieren und gestalten können. Insbesondere für die russischsprachigen Juden, die sich in ihren Auswanderungsländern – sei es aufgrund der Diskriminierung von Russischsprachigen oder aufgrund von Antisemitismus – nicht willkommen fühlten, finden durch den warmen Empfang bei Chabad in Berlin das Zuhause, nach dem sie auch in anderen Städten Deutschlands vorher zum Teil erfolglos gesucht hatten. Eine familiäre Atmosphäre zeichnet auch das Geschehen nach dem Gottesdienst aus. In einem großen Speisesaal sind lange Tischreihen mit Chalot und Wein aufgebaut, später werden Salate, warme Speisen und sogar Wodka serviert, eher symbolisch mit kleinen Alkoholresten auf den Flaschenböden. Obwohl bei den Mahlzeiten der Lubawitscher so wie auch bei den Gottesdiensten strenge re82 83
Feldnotizen 13.8.2010. Hier wird der Rabbiner Yehuda Teichtal zitiert in: Herzinger (2010): Eine Reise zu Deutschlands neuen Juden.
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ligiöse Regeln herrschen und Frauen von den Männern separiert an den Tischen sitzen, steuert Julia selbstbewusst die Männerseite des Tisches an und lädt uns ein, die Plätze neben ihr zu nehmen. Auf meine etwas verwunderte Anfrage erwidert sie, dass sie hier ihre eigenen Regeln geschaffen und die traditionelle Geschlechtertrennung aufgehoben hätten. Auch diese Freiheit wird bei Chabad toleriert. Die strengen Regeln der Ultraorthodoxie, die für die Chabadniks selbst gelten, werden den Gästen nicht aufgezwungen. Vielmehr wehrt sich der Rabbiner Teichtal gegenüber der Öffentlichkeit vehement gegen die Etikettierung seiner Bewegung als „ultraorthodox“.84 Auch Julia betrachtet eine solche Wahrnehmung von Chabad wie ein Vorurteil und versucht Dina und Vlad von dem Gegenteil zu überzeugen: Dina:
„Ich mag Chabad nicht sonderlich, weil sie streng sind.“
Julia:
„Das stimmt gar nicht, sie sind überhaupt nicht streng.“
Vlad:
„Aber sie sind doch ultraorthodox, sie sind Chassiden, und Chassiden sind streng.“
Julia:
„Ok, sie sind vielleicht Chassiden, aber Chabad ist Chabad. Sie sind sehr eigen, sie sind für alle offen.“
Vlad:
„Einer der Gründe, warum ich Chabad nicht besonders mag ist: Ihr Zentrum war früher in Riga gewesen und ich komme aus Wilna, dem Zentrum der Mitnagdim. Wir sind also Rivalen.“85
Die Bilder des „kulturellen Gedächtnisses“, die Vlad in seiner Argumentation aufgreift, gehen auf das 18. Jahrhundert zurück. Während sich der Chassidismus auf der Grundlage des wachsenden Aberglaubens und messianischer Erwartungen als Folge antisemitischer Pogrome im 17. und 18. Jahrhundert in den folgenden Jahrzehnten in vielen Gegenden Osteuropas verbreitete, blieb Litauen von dessen Ideen unbeeinflusst. Der dort damals ansässige Gaon von Wilna führte einen aktiven rabbinischen Widerstand gegen die Verbreitung des Chassidismus. Seine Vertreter wurden daher Mitnagdim, die „Gegner“ genannt. Nachdem der chassidische Chabad aus dem belorussischen Städtchen Lubawitsch während des Ersten Weltkrieges evakuiert worden war, wurde Riga zu einem der Hauptsitze des Chabad-Rebbes.86 Vlads Verweis auf diese Gegebenheiten zeigt, dass die Rivalität zwischen den Juden aus Riga und aus Wilna in den „kulturellen Speicher“ der osteuropäischen Juden übergegangen ist und ihre heutigen 84
Vgl. Herzinger (2010): Eine Reise zu Deutschlands neuen Juden.
85
Feldnotizen 13.8.2010.
86
Dan (2007): Die Kabbala, 121–124.
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Wahrnehmungen und Erfahrungen mitstrukturiert. Signifikant für die junge Generation ist allerdings auch, dass man solche verinnerlichten Bilder nach Lust und Laune, das heißt auch je nach dem situativen Kontext, beliebig einsetzt. Während Vlad in einem Gespräch mit mir eine Frau in der Rolle der Rabbinerin als Leiterin des egalitären Gottesdienstes in der Oranienburger Straße nicht akzeptiert, weil dies seinem traditionellen Verständnis von jüdischer Praxis nicht entspricht, lehnt er nach unserem Besuch des Chabad-Zentrums, die mit dem orthodoxen Judentum fest verankerten Bilder des fröhlichen Gotteslobs wiederum ab, indem er behauptet: „Also, wegen der Leute kann man wieder hierher kommen, sie sind ganz lustig. Aber der Gottesdienst gefällt mir in der Oranienburger besser. Dort wird er zumindest ernst genommen. Ich habe kein Problem damit, wenn man sich währenddessen unterhält, aber wenn man Siddur aufmacht und eine Zeitung darin legt und sie liest – das verstehe ich nicht. Und ich finde es lächerlich, wenn erwachsene Männer plötzlich auf Knopfdruck fröhlich werden und im Kreis tanzen und laut singen – etwas, was sie die ganze Woche nicht tun, wie beim Karneval.“87
In jeder Gemeinschaft sucht man für sich den passenden Aspekt aus, der einen zur Teilnahme an den gemeinsamen Aktivitäten verführt. Ein freiwilliges, zeitweiliges und situativ abgestimmtes Verweilen in verschiedenen Gemeinschaften gehört dabei zu den augenfälligsten Indikatoren der Postmoderne und kennzeichnet somit den „posttraditionalen Vergemeinschaftungsprozess“ schlechthin. Dabei wird dem Jüdischen seine essentialistische Bedeutung genommen, so dass dieses zu einem lediglich imaginären Gebilde derer wird, die sich – in welcher Form auch immer – darauf beziehen.
F AMILIENCLUB B AMBINIM UND DIE M ACHT ETHNISCHEN K ATEGORIEN
DER
Die Beobachtung, dass eine Gemeinschaft in postmodernen Zeiten auf dem gemeinsamen Erleben, auf Aktion beruht, steht für Hitzler im Zusammenhang damit, dass man heute nicht mehr in eine Gemeinschaft hineingeboren und hinein sozialisiert wird, sondern sich vielmehr freiwillig für die Teilnahme daran entscheidet.88 Diese These scheint im Fall junger russischsprachiger Juden in Berlin 87
Feldnotizen 13.8.2010.
88
Hitzler/Honer/Pfadenhauer (2008): Zur Einleitung: „Ärgerliche“ Gesellungsgebilde?
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besonders zuzutreffen. In der Sowjetunion mehrheitlich ohne jeglichen Kontakt zur Religion aufgewachsen und ihr Jüdischsein als ethnische Abstammung definierend, werden die meisten von ihnen erst in Deutschland mit der Bedeutung des Judentums als Religionsgemeinschaft konfrontiert. Auch hier gilt, dass ihre Auseinandersetzung mit dieser Bedeutungsebene nicht durch Zwang und Verpflichtung, sondern allein auf freiwilliger Basis geschehen kann, denn zur Teilnahme muss man verführt sein. Charakteristisch für eine solche auf freiwilliger Basis beruhende Auseinandersetzung steht die Geschichte von Sergej. Ein Bekannter, der mir den Kontakt zu Sergej vermittelt, merkt an, dass Sergej ein aufgeweckter junger Mann sei, der sich im Moment intensiv mit seiner jüdischen Identität auseinandersetze. Als ich Sergej am Telefon von meiner Forschung erzähle und ihn um ein Interview bitte, willigt er sofort und sogar, wie mir scheint, freudig ein, sich mit mir zu treffen. Bei unserem Treffen kündigt er mir als erstes an, dass er vor einiger Zeit eine Reise nach Israel mit dem Programm Taglit mitgemacht hat, das von der israelischen Regierung für junge Juden veranstaltet wird, die außerhalb Israels leben. Während dieser Reise wurde ihm die religiöse Seite seines Jüdischseins zum ersten Mal bewusst: „Mein Leben hat sich radikal verändert, nachdem ich im Jahr 2008 am Taglit-Programm teilgenommen hatte. Danach habe ich begriffen, dass ich eine Pflicht, eine Verantwortung sogar habe, mich mit Judaismus zu beschäftigen, um eine Vorstellung von meinem Glauben zu haben, weil ich ihn in mir spüre und weiß, dass ich ihn repräsentiere. Das heißt, ich bin nicht einfach so ein Junge, der zum Spazieren rausgegangen ist und auf dieses Ganze schaut und Israel einfach so besucht, um sich die Kirchen, Moscheen und Synagogen anzusehen.“89
Um die jungen Juden zur Teilnahme am Taglit-Programm zu bewegen, scheint es nicht verlockend genug zu sein, dass die Fahrt nach Israel, in das historische Land der Juden führt. Daher werden solche Reisen erlebnisreich gestaltet, wobei man sich in der Definition dessen, was als ein Erlebnis zu verstehen ist, an den Werten und Bedürfnissen der zutreffenden Altersgruppe orientiert. Dies wird mir in einer Situation deutlich, als ich höre, in welcher Vlad seine Taglit-Erfahrung für Fedja, einen Anfangdreißiger aus Minsk, schmackhaft macht: Fedja: „Ich will in Israel nicht unbedingt leben, aber ich würde gerne mal hinfahren. Ich war noch nie dort.“
89
Mental Mapping-Sitzung 23.6.2010. Übersetzung aus dem Russischen.
DIE JÜDISCHEN TREFFS UND PARTYS | 199
Vlad:
„Du kannst mit Taglit fahren, das habe ich auch gemacht. Du kannst umsonst zehn Tage lang in Israel sein und hast danach ganz viel gesehen.“
Fedja: „Taglit? Was ist das? Ist das dieses Programm, wo man eine Woche lang in den Kasernen arbeiten muss und dann umsonst eine Tour machen kann? Ich würde gerne mit Taglit hinfahren, aber dann muss ich ja auch alles mitmachen, was die Gruppe macht. Und ich will mich ab und zu bei den Verwandten absetzen. Dann ist es wahrscheinlich besser, zu den Verwandten direkt zu fahren.“ Vlad:
„Taglit ist schon cool. Du lernst viele neue Leute kennen, du feierst die ganze Zeit, schläfst kaum. Tagsüber ist ein Programm, nachts saufen. Darauf musst du dich einstellen, dass du kaum schläfst. Und dann ist diese eine Party, wo sich alle Taglit-Gruppen treffen, die gerade im Land sind, und das sind einige tausend Menschen. Das ist schon eine einmalige Erfahrung, dort kommst du sonst nie hin.“90
Charakteristisch für junge russischsprachige Juden, die nicht schon seit dem Kindesalter die Sozialisation in jüdischen Einrichtungen durchlaufen haben, sondern sich erst im Erwachsenenalter zu ihrem Jüdischsein „verführen“ ließen, ist, dass sie sich in ihrem Interesse an jüdischer Religion nicht mit einer bestimmten religiösen Strömung identifizieren, sondern sich vielmehr entweder außerhalb dieser verorten oder dazwischen, ohne sich fest zu binden, so dass man jederzeit die Möglichkeit hat, seine Mitgliedschaft bei der einen oder anderen Gemeinschaft zu kündigen. So distanziert Sergej sich sowohl von der Jüdischen Gemeinde, als auch von den gemeindeunabhängigen religiösen Gruppierungen mit einer häufigen Erklärung, dass diese ein stark durch die Konkurrenz bestimmtes Verhalten aufweisen: „Ich fühle mich nicht an bestimmte Orte fest gebunden, das heißt, diese Sache, die mit meiner Verantwortung gegenüber der Religion zu tun hat, man kann es Tradition nennen, obwohl Tradition für mich schon fast ein orthodoxes Verständnis der Religion bedeutet. Ich bringe es nicht mit der Jüdischen Gemeinde in Verbindung. Mit der Gemeinde bringe ich das eher an allerletzter Stelle in Verbindung. Mit der Jüdischen Gemeinde in Berlin, meine ich. Ich bringe es eher mit einzelnen Orten in Berlin in Verbindung wie die Synagoge in der Rykestraße oder der Adenauerplatz. Und genau das gefällt mir an Berlin, dass hier eine religiöse Gesichtsvielfalt herrscht. Ich kann mal zu den Liberalen, mal zu den Orthodoxen zum Schabbat hingehen, ich kann es mir aussuchen. In der Rykestraße, wo auch die Synagoge ist, wohnt Ljonia Schames mit seiner Frau – das sind Madrichim, die ich in Israel kennenlernte und mit denen ich versuche hier Kontakt zu pflegen. Sie sind or-
90
Feldnotizen 6.6.2010.
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thodox, gehören der Lauder-Gemeinschaft an. Ich will mich jetzt nicht in diese Interpolaritäten hineinbegeben zwischen Lauder und Chabad, ich weiß, dass zwischen ihnen ständig eine Konkurrenz gibt. Aber diese Konkurrenz betrifft auch die Jüdische Gemeinde und den Zentralrat, weil jeder denkt, dass er allein Recht hat und die Tora richtig auslegt und dass die anderen das sowieso nicht verstehen werden. Das kann man immer zwischen den Zeilen hören, wenn man anfängt, etwas mehr mit Leuten zu kommunizieren. Tatsächlich fühle ich mich weder an einen noch an den anderen Ort gebunden, ich bin froh, dass ich die Möglichkeit habe, Schabbat hier und dort besuchen zu können.“91
Im postmodernen Zeitalter lösen sich die Zuständigkeiten der Autoritäten auf. Besonders die Jugend, die den Konkurrenzkampf zwischen ihnen als „gestörte Konnexität“ zwischen vertrauten Lebensbereichen empfindet, ergreift dabei die Gelegenheit, die jeweiligen Logiken der Autoritäten frei zu interpretieren. Entgegen den Vorhersagen der Modernekritiker ist die Religiosität in dem postmodernen Zeitalter allerdings nicht gänzlich verschwunden. Diese wird heute vielmehr außerhalb der Gemeinden und oft auch außerhalb der Synagogen praktiziert. Dabei ist die Kombination der auf den ersten Blick sich widersprechenden Glaubensinhalte laut Sabine Haustein und Victoria Hegner geradezu ein entscheidendes Charakteristikum der postmodernen Wandlungen religiöser Traditionen, die in ihrem Synkretismus und Eklektizismus Ergebnisse der Ablösung von Hierarchien und Traditionen sind.92 Gerade die Jugend und ihre kulturelle Praxis ist ein Musterbeispiel dafür, dass neue Vergemeinschaftungsformen mit ihrer durch Labilität und Situativität gekennzeichneten Struktur als Lösung dafür dienen, dass trotz der Auflösung von Gemeinschaften eine „Gemeinschaftssehnsucht besteht“.93 Die für die Jugendkulturen typische Ablösung von der „Stammeskultur“ führt dazu, dass sich die religiöse Praxis nach Hause, in die Freundeskreise und andere informelle Netzwerke verlagert. Sprichwörtlich für eine solche Ablösung von der Tradition steht auch die oben zitierte Aussage von Sergej: Wenn man den Begriff „Tradition“ auf die jüdische religiöse Praxis anwendet, käme für ihn eine solche Definition dem orthodoxen Verständnis der jüdischen Religion gleich. In der folgenden Erzählung von Sergej wird deutlich, dass die jüdisch-orthodoxe Praxis im Zusammenhang mit der Jüdischen Gemeinde für ihn besonders dann zu jenem „Dritten“ wird, gegenüber dem man sich abgrenzt, 91
Mental Mapping-Sitzung 23.6.2010. Übersetzung aus dem Russischen.
92
Haustein/Hegner (2010): Zur Einleitung, 7.
93
Von dem Wechselverhältnis zwischen dem Drang nach Freiheit und der Sehnsucht nach einer Gemeinschaft spricht auch Bauman. Vgl. Bauman (1995): Ansichten der Postmoderne.
DIE JÜDISCHEN TREFFS UND PARTYS | 201
um eine eigene Gemeinschaft zu schaffen, wenn diese Gemeinschaft auf einem „Wir-Bewusstsein“ basiert, das Sergej mit seinen Landsleuten teilt: „Ich bin mit einem älteren Ehepaar befreundet, das in Berlin der Jüdischen Wissenschaftsgesellschaft vorsteht. Es ist so gekommen, dass ich viele Jahre ehrenamtlich für sie gearbeitet hatte, ich hatte ihnen immer etwas geholfen, weil während ich noch in die Schule gegangen war, bin ich dorthin zu Physik- und Chemieunterricht gegangen. Später habe ich dort selbst Nachhilfe für Schüler gegeben oder Arbeitsgemeinschaften in Englisch, Politik- oder Rechtswissenschaften. Die Atmosphäre dort ist sehr angenehm. Sie halten ständig Kontakt mit Studenten und Abiturienten, mit Schülern. An sich ist es eine Organisation, die Wissenschaftler zusammenbringt, die in der Sowjetunion Anstellungen am Institut der Atomphysik hatten oder so was ähnliches, was hier überhaupt niemand braucht. Aber sie haben ihre eigene Liga gegründet und versuchen sich selbst zu organisieren, und zusammen haben sie die Möglichkeit, sich mit der Wissenschaft zu beschäftigen, zu publizieren. Es gibt sie schon seit 1995, sie sind eine offizielle Organisation in der Gemeinde und haben ziemlich viel Arbeit hineingesteckt, damit auch in anderen, kleineren jüdischen Gemeinden in Deutschland solche Gesellschaften entstehen können, weil Menschen dieser Art, diese Akademiker-Schicht im Alter unserer Eltern, die gibt es überall, weil sie damals durch ganz Deutschland verstreut wurden. Interessant ist, dass sie sich immer an den Judaismus hielten, auf keinen Fall an den orthodoxen, das ist, was schon immer interessant war. Es sind immer Leute, die genau wissen, was Tora bedeutet, sich mit Feiertagen auskennen, halten sich an sie, gratulieren ihren Freunden und Bekannten. Aber die trotzdem auch am Schabbat arbeiten und sowohl koscher, als auch nicht koscher essen. Früher hatten sie einen Raum in der Oranienburger Straße, auch ich hatte dort meinen Seminarraum zum Unterrichten, so einen schicken. Aber solange ich sie kenne, hat die Jüdische Gemeinde ihnen immer entgegengewirkt. Alles, was sie hatten, irgendwelche Räume, Orte, Zimmer, das mussten sie immer für sich erkämpfen – entweder durch den Zentralrat oder durch irgendwelche höher gestellten Menschen. Die Gemeinde ließ sie nie ruhig leben. In der Tat brauchten sie keine Ressorcen wie Geld, sondern nur die Möglichkeit, ihre Landsleute kontaktieren zu können, das heißt einen Tisch, Stühle, Telefon, so dass es bloß irgendein repräsentatives Element gab. Aber später fing man an zu sagen, dass es angeblich keine Räume gibt und dass sie für die Gemeinde nichts Produktives machen. Dann musste man eine Beschwerde an die höheren Instanzen schreiben, um das Ganze zu stoppen. Und nochmal, von der Jüdischen Gemeinde sehe ich ehrlich gesagt außer desm Gemeindeblatt nichts mehr. Meine Kommunikation mit der Gemeinde geschah in der Regel im Rahmen irgendwelcher Streitereien, weil, es scheint ja, die Menschen arbeiten vollkommen ehrenamtlich für sich und für die anderen und man tritt sie mit den Füßen und versucht ihre Arbeit entweder abzuwerten oder ganz zu unterbinden. Aber lass uns uns nicht mehr von der
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Jüdischen Gemeinde sprechen, das ist eher ein Thema für sich, was die Politik angeht, die Korruption. Und das ist ja auch kein US-Kongress, daher…“ 94
Der Umgang der Jüdischen Gemeinde mit der ausschließlich aus russischsprachigen Juden bestehenden Wissenschaftsgesellschaft, den Sergej als benachteiligend erlebt, knüpft direkt an die Diskriminierungen an, mit denen seine eigene Familie noch in Russland und später in Deutschland zu kämpfen hatte. Seinem eigenen Vater, der als Physiker mit geheimen Abläufen atomarer Entwicklung in der Sowjetunion zu tun hatte, wurde die Ausreise zunächst verweigert. Als die Familie endlich emigrieren durfte, waren alle Verwandten und Bekannten schon längst in Berlin. Allerdings war Berlin mittlerweile für weitere Aufnahmen wegen der „Überlastung“ des städtischen Haushalts geschlossen, so dass Sergejs Familie nach Stolberg, eine Kleinstadt im Rheinland, geschickt wurde. Für seine Familie, so wie auch für die meisten anderen jüdischen Familien, mit denen Sergejs Eltern lebenslange Freundschaften schlossen und die entweder aus Moskau oder aus Leningrad kamen und in der Sowjetunion als Künstler oder Wissenschaftler tätig waren, blieb der Transfer aus einem urbanen Milieu in ein kleinstädtisches Dasein jahrelang ein Schock. Das jüdische religiöse Leben war laut Sergej dabei „gleich Null“, da die nächste jüdische Gemeinde in Aachen und der Weg dorthin relativ weit war. Wenn Sergej sich heute als junger Erwachsener mit seinem Judentum auseinandersetzt, sucht er nach einer Gemeinschaft, die zwei zentrale Rahmenbedingungen erfüllen muss: Als Erstes möchte er eine Gruppe von gleichaltrigen Juden finden, mit denen er über die Bedeutung des eigenen Jüdischseins ohne professionelle Anleitung diskutieren kann. Als Zweites kommt hinzu, dass ein solches Treffen außerhalb des institutionellen Rahmens einer jüdischen Organisation ablaufen soll. In diesem Zusammenhang erzählt mir Sergej von seinem Vorhaben, einen Filmclub für die jungen Juden zu gründen. Angedacht sind Treffen im Turnus von sechs bis acht Wochen, wobei Sergej viel Wert darauf legt, dass die Teilnahme daran unverbindlich bleibt und die Beteiligten über den Tag und den Filmtitel gemeinsam entscheiden. Auch einen Raum hat Sergej dafür schon im Visier: Der jüdische Familienclub Bambinim in der Wilmersdorfer Uhlandstraße, der seit 2009 von dem American Jewish Joint Distribution Committee (JDC), der Hilfsorganisation US-amerikanischer Juden, in Berlin betrieben wird. Der Familienclub Bambinim, der sich auf Angebote für jüdische Kleinkinder spezialisiert hat, ist durch seinen unabhängigen Sponsor JDC nicht an die Vorgaben der Jüdischen Einheitsgemeinden in Deutschland gebunden und erlaubt somit mehr 94
Mental Mapping-Sitzung 23.6.2010. Übersetzung aus dem Russischen.
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Freiheit in Hinblick auf die Raumgestaltung und Raumnutzung. Über Bambinim, deren Räumlichkeiten Sergej neulich kennenlernte, erzählt er begeistert: „Neulich habe ich mit Flora, der Direktorin von Bambinim, über diese Idee gesprochen. Damals hatten wir mit Marcello dieses Projekt dort, eine klasse Sache. Es hat mir tatsächlich sehr gut gefallen, dass man einfach so dorthin kommen konnte, ohne vorher irgendwo Mitglied werden zu müssen. Und es sind gar nicht so viele Leute dorthin gekommen, so acht Leute ungefähr, früher kannte ich sie alle nicht. Die Hälfte von ihnen war russischsprachig, das heißt, mit dem russischen Migrationshintergrund. Und wir haben dort so etwas wie einen kleineren Workshop veranstaltet. Marcello hat uns über unsere Selbsteinschätzung der jüdischen Tradition, der jüdischen Kultur gefragt, was bedeutet diese für uns, wie ist sie mit uns in diesem Moment verbunden. Es war sehr interessant, sowohl Einsichten als auch Berührungspunkte von den Deutschen und den Russen zu hören. Wir hatten eine sehr freundliche und offene Atmosphäre. Und neulich bin ich noch mal bei Bambinim vorbeigekommen, und Flora hat vorgeschlagen eine Aktion zu starten und bei Leuten rumzufragen, ob jemand im Rahmen von solchen Treffen so etwas wie eine Fortsetzung organisieren möchte, so Treffen von jungen Leuten so zwischen 20 und 35 Jahren, bei denen es um genau die gleichen Themen geht: Wie nehmen sich die Juden in Deutschland wahr, in Europa, wovor haben sie Angst, was wünschen sie sich, was bedeutet für sie das Wort Tradition oder der Begriff Israel. Die meisten Menschen nehmen sich selbst ganz unterschiedlich wahr. Für die deutschen Juden gehört das Leben in Deutschland zu absolut standardmäßigen, alltäglichen Dingen. Während diejenigen, die aus Russland hierher kamen, eine sehr gute Gelegenheit haben, zwischen dem damaligen Regime und dem Lebenskomfort, den man in Deutschland hat, zu vergleichen. Und Flora und ich haben uns überlegt, das Auditorium in Bambinim zu nutzen, weil Flora uns schon von Anfang an vorschlug, diesen Ort für alle möglichen Zwecke zu gebrauchen. Und wir haben einfach überlegt, ob wir dort nicht eine Filmreihe veranstalten oder Diskussionsreihe, um ein wenig fast all die Dinge zu diskutieren, die du und ich hier zusammen diskutiert haben, über das Selbstverständnis, darüber, wie wir uns gegenseitig sehen. Dann kann man sich regelmäßig Filme zu jüdischen Themen anschauen, die mit dem Judaismus zusammenhängen entweder in Europa, mit einer historischen Anbindung, oder in Israel, oder irgendwelche israelischen Filme.“ 95
Die Idee, einen Raum, der ursprünglich für kleine Kinder und ihre Eltern gedacht war, und dessen Atmosphäre und Einrichtung einem Kindergarten ähnelt, für abendliche Treffs junger jüdischer Erwachsener zu nutzen, trifft bei Sergej auf große Zustimmung. Der Film wird dabei als ein Medium gewählt, das den 95
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Informationsgehalt mit einem hohen Erlebniswert vereinbart und durch die Emotionalisierung der Zuschauer diesen eine perfekte Identifikationsmöglichkeit bietet. Bald wird die Veranstaltung auch angekündigt, und zwar als eine „Filmreihe zu jüdischen Themen und jüdischer Kultur in modernen internationalen Filmen“ (vgl. Abbildung 8). Abbildung 8: Ankündigungsflyer für die Filmreihe „Jüdische Themen und jüdische Kultur in modernen internationalen Filmen“ im Familienclub Bambinim, Herbst 2010
Dieses Mal wird „Le Tango des Rashevski“ angeschaut – die Geschichte einer französischen Familie, deren jüdische und nicht-jüdische Angehörige sich nach dem Tod der Großmutter auf die Suche nach der religiös-jüdischen Selbstfindung vor dem Hintergrund des modernen Wertewandels begeben. Am Abend der ersten Filmvorstellung mache ich mich auf meinem Fahrrad auf den Weg in die Wilmersdorfer Uhlandstraße. Als Kreuzbergerin kenne ich mich in dieser Gegend nicht besonders gut aus, so dass ich mich unterwegs regelmäßig verfahre. Im Straßennetz verfangen, werden die Bilder und Karten lebendig, die meine Interviewpartner mir in ihren Erzählungen und Zeichnungen gemalt hatten. Ich fahre die Berliner Straße entlang, biege in die Konstanzer Straße und komme plötzlich am Olivaer Platz raus. Die Straßen und Plätze, in denen ich mich mit meinem Rad soeben verirrt habe, sind reale Orte, in deren Gestalt die Imaginationen meiner Akteure, die ich selbst mittlerweile verinner-
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licht habe, mit hineinfließen. Ich fühle mich in Milas Mental Map von „rein jüdischen Straßen“ hineinversetzt und spitze instinktiv die Ohren in Erwartung, aus den Cafés und von den Balkons russische Sätze zu hören und vermute in jedem Fußgänger einen russischsprachigen Juden. Ich muss an die geflügelten Worte von James Baldwin denken: „Imagination creates the situation and, then, the situation creates imagination“96 ehe ich feststelle, dass sich alle „Russen“ gerade versteckt zu haben scheinen. Die Tatsache, dass ich gerade kein Russisch hören kann, zeigt, wie sehr unsere mentalen Stadtkarten von Bildern bestimmt werden, die allein in unserer Vorstellung existieren. Endlich mache ich neben der gesuchten Hausnummer in der Uhlandstraße halt. Der Familienclub Bambinim ist eine gewöhnliche Altbauwohnung, die von außen weder durch Polizeipräsenz, die in Deutschland in der Regel alle jüdischen Einrichtungen kennzeichnet, noch durch einen Sicherheitstrakt, den man sonst passieren muss, als ein jüdischer Treffpunkt erkennbar ist. Als ich die Wohnungstür öffne, strahlt mir eine kindgerechte Atmosphäre förmlich entgegen: Der frischgeputzte Parkettboden glänzt, die Kinderfotos schauen mich von den Wänden an, auf dem Regal im Flur stapeln sich selbstgemachte hebräische Buchstaben. Bunt und warm, glitzernd und gemütlich ist es hier. In einem Raum, in dem sich sonst junge Mütter und Väter mit ihren kleinen Kindern zum Hebräischunterricht, gemeinsamen Musizieren oder Schabbatfeiern treffen, haben sich mittlerweile um die fünfzehn junge Frauen und Männer zwischen Anfang zwanzig und Mitte dreißig versammelt. Vor meinen Augen wird der Raum nach eigenen Bedürfnissen nicht nur gestaltet, sondern überhaupt erst hergestellt: Die Matratzen und Decken, vorher akkurat aneinander gestapelt, werden nun durcheinander auf dem Boden verteilt. Auf den kleinen Kindertischen wird neben Cola und Knabbergebäck auch Wein und Bier serviert. In der Buntheit der Kinderzeichnungen und Basteleien entsteht nach und nach ein Reich, in dem junge Erwachsene nicht für das kindliche, sondern für ihr eigenes Wohlergehen sorgen. Eine Weile sitze ich nur da und beobachte die Transformation, die vor meinen Augen geschieht. Dabei lausche ich dem babylonischen Sprachengemisch im Raum. Eine junge Frau kommt auf mich zu und spricht mich auf Englisch an: Sie heißt Molly, kommt aus den USA und ist vor einem Monat nach Berlin gekommen, um als Freiwillige bei Bambinim zu arbeiten. Während wir uns unterhalten, dreht sich Sergej, der gerade in einer Ecke am Beamer bastelt, zu uns um: „Ach, ihr habt euch schon kennengelernt? Das ist Alina, ich kenne sie über Marcello. Ein jüdisches Netzwerk eben, jeder kennt jeden“ 97, wirft er scherzhaft in 96
Zitiert in: Hall (1994): Rassismus und kulturelle Identität, 5.
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den Raum. Eine Sekunde später wird er von einer anderen Frau abgelenkt, die auf ihn zukommt und ihn auf Russisch anspricht. Molly schaut mich an: „Sprichst du auch Russisch? Ich muss bald einen Russischkurs machen. Alle sprechen hier Russisch“98, sagt sie zu mir lächelnd. Ich frage mich, was sich hinter diesem Lächeln wohl alles verbergen mag. Denn aus dem Gespräch mit einer befreundeten JDC-Mitarbeiterin weiß ich, dass die frühere Leiterin von Bambinim eine Jüdin aus der ehemaligen Sowjetunion war, so dass Russisch schnell zur lingua franca im Club wurde. Weil die israelischen, amerikanischen und deutschen Mütter und Väter sich dabei ausgegrenzt fühlten und immer seltener kamen, wurde die Leitung mittlerweile der in Deutschland geborenen Jüdin amerikanisch-israelischer Abstammung, Flora Hirschfeld, übertragen. Während die JDC-Leitung hofft, durch die Einführung von Deutsch als gemeinsame Sprache die Ausgrenzungserfahrungen junger Eltern einzudämmen, scheint sich das Publikum, das sich heute in Bambinim versammelte, sich für diese Vorsätze nicht zu interessieren. Die russischsprachigen Besucher, die rund fünfzig Prozent aller Teilnehmer des heutigen Filmclubs ausmachen, haben mittlerweile eigene Grüppchen gebildet und sich auf zwei Sitzecken im Raum verteilt. Dass man zusammen mit deutsch-, hebräisch- und englischsprachigen Juden gegenüber der nicht-jüdischen Welt zwar ein gemeinsames „Wir-Bewusstsein“ bildet, innerhalb dieses Zusammenschlusses Russisch aber eine starke vergemeinschaftende Wirkung besitzt, gibt Sergej am besten wieder, wenn er mir eines Tages gesteht: „Ich kann mich ja auf Deutsch mittlerweile viel präziser und geschickter ausdrücken als auf Russisch. Trotzdem komme ich mit Russischsprachigen schneller in Kontakt. Mit unseren deutschen Brüdern verstehen wir uns ja nicht besonders gut, sie denken eben anders.“ 99 Mittlerweile ist der Film vorbei und die Hälfte der Zuschauer hat sich verabschiedet. An der regen Diskussion, die sich nach dem Film ergibt und ca. eine Stunde dauert, beteiligen sich sechs Russischsprachige und zwei Amerikanerinnen, die sich am Ende nur mit Mühe auf Sergejs Hinweis auf die späte Stunde von der Diskussion losreißen können. Viele Konflikte, mit denen die fiktive Rashevski-Familie aus dem Film zu kämpfen hat, werden auf Englisch ausführlich besprochen und in Verbindung mit der eigenen Situation gebracht. Besonders intensiv werden die Episoden diskutiert, in denen es um Akzeptanz der nichtjüdischen Familienangehörigen sowie der Kinder „lediglich“ jüdischer Väter geht:
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Feldnotizen 2.9.2010.
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Feldnotizen 15.8.2010.
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Vadim (Ukraine):
„Mich beschäftigt sehr das Thema, wie behandelt man die Leute, die zur Familie gehören, aber nicht jüdisch sind. Das ist schwierig. Aber das ist heutzutage ein sehr verbreitetes Phänomen.“
Lea (USA):
„Mein Vater ist Deutscher und nicht jüdisch, in der Familie meiner Mutter wurde er nie richtig akzeptiert. Meine Mutter ist zwar jüdisch, aber ich finde es nicht fair, dass man heute nur die Kinder jüdischer Mütter akzeptiert. Man sollte das Gesetz ändern. Heute kann man ja Tests machen und die Vaterschaft ganz leicht feststellen.“
David (Russland):
„Man hatte das Gesetz mit der Mutter erst zu Zeiten des babylonischen Exils eingeführt als es viele Vergewaltigungen gab und Männer mit mehreren Frauen schliefen. Stimmt das, Lea?“
Oleg (Turkmenistan): „Ich glaube nicht, dass wir Gesetzte, die schon seit zweieinhalbtausend Jahren gelten, heute verändern können. Ich bin persönlich auch für Liberalisierung, aber ich kann auch die Orthodoxen verstehen. Man will etwas haben, woran man sich festhalten kann. Die Orthodoxie wird heutzutage immer populärer, weil es viele Konflikte und Krisen gibt und Menschen in solchen Zeiten sich an die Religion erinnern.“ Sergej (Russland):
„Aber es gibt ja heute Frauen als Rabbinerinnen, und das gab es früher auch nicht. Wir brauchen einfach eine neue Richtung, die das Gesetz modernisiert. Lea, weißt du, ob es in der Tora irgendwo drin steht, dass Frau nicht Rabbinerin sein darf?“100
Es ist auffällig, dass die russischsprachigen Juden in dieser Diskussion häufig als Fragende fungieren. Wie schon bei Jung und Jüdisch sind es auch im Bambinim hauptsächlich die amerikanischen Juden, die dank ihrer jüdischen Sozialisation als „Experten“ in Fragen der religiösen Auslegung gelten. Gänzlich ohne Expertenwissen, wie Sergej es sich ursprünglich gewünscht hatte, kommt man bei der Diskussion also nicht aus. Das Ungleichgewicht in Hinblick auf das jüdische „symbolische Kapital“ zeichnet auch den Wahlablauf des Filmtitels für das nächste Treffen aus. Nachdem im Anschluss an Leas Vorschlag entschieden wird, einen Film über die Homosexualität unter den ultraorthodoxen Juden in Jerusalem mit dem Titel „Einaym petuhot“ (deutscher Titel: „Du sollst nicht lieben“) zu sehen, bemerkt Viktor, der während der gesamten Diskussion kaum etwas sagte, später enttäuscht zu mir, dass er viel lieber „Eis am Stiel“ gesehen hätte, sich aber wegen seiner unzureichenden Englisch-Kenntnisse nicht getraut hätte, sich an der Diskussion über die nächste Filmvorführung zu beteiligen. 100 Feldnotizen 2.9.2010.
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Die Internationalität, die als Motto des Filmclubs fungiert, scheint unter den Gruppenteilnehmern in Vergleich zur gemeinsamen Sprache und Herkunft in den Hintergrund zu treten, wenn es um Vergemeinschaftung geht. Denn nicht nur taucht Viktor bei der nächsten Vorführung nicht mehr auf, sondern es kommen insgesamt deutlich weniger Russischsprachige. Bei dem dritten Treffen hat sich das Publikum komplett ausgetauscht: Die meisten Besucher sind Amerikaner und Israelis, nur ein paar „Russen“ haben sich verirrt. Auch Sergej kommt während einer Filmvorführung auf das Sofa zu, auf dem ich neben einer anderen russischsprachigen Frau sitze: „Ich komme jetzt zu euch, hier ist es interessanter, sie machen dort hinten ihr eigenes Ding.“ Die niedrige Ein- und Austrittsschwelle, die keine feste Mitgliedschaft verlangt, macht es möglich, die Gemeinschaft, die sich in Bambinim gebildet hat, nur kurzweilig zu nutzen. Sobald das Angebot den eigenen Bedürfnissen nicht mehr entspricht, tritt man wieder aus, ohne große emotionale, zeitliche und finanzielle Verluste davonzutragen. In Berlin, wo die jüdische Gemeinschaft von den Russischsprachigen zwar dominiert wird, aber hinsichtlich der Herkunft ihrer Mitglieder trotzdem extrem heterogen ist, sorgen unterschiedliche kulturelle Machtpositionen dafür, dass die Mitgliedschaften in Gemeinschaften besonders schnell eingegangen, aber genauso schnell auch gekündigt werden.
Ü BER DIE ÄSTHETIK DES Z EICHENS ODER DIE K ONSTRUKTION EINER JÜDISCHEN P ARTY Eine besondere Form der posttraditionalen Vergemeinschaftungsräume sind Partys. An den verschiedensten Orten, an denen jüdische Partys stattfinden, werden Räume konstruiert, in denen sich das Netzwerk immer wieder zu emotional erregten „Event-Gemeinschaften“ verdichtet. Bei den Partys ist der hohe Erlebniswert, der für die Jugend heute als besonders erstrebenswert gilt, nicht bloß ein Nebeneffekt, sondern das erklärte Hauptziel der Organisatoren, das der Herstellung eines alle Teilnehmer umfassenden „Wir-Gefühls“ und damit der Bildung einer situativen Gemeinschaft dienen soll.101 In den letzten Jahren avancierte Berlin in der medialen Darstellung der jüdischen und nicht-jüdischen Presse zum Standort des jüdischen Partylebens par excellence. Zeitungen berichten über die israelische Szene, die mit den schwulen DJs 101 Diese Definition von Partys ist an die Definition des Begriffes „Event“ angelehnt, die Ronald Hitzler in seiner Analyse des Phänomens „Szene“ vorschlägt. Vgl. Hitzler (2008): Brutstätten posttraditionaler Vergemeinschaftung, 63.
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Meschugge zunächst in den Berliner Gay-Lokalen Ackerkeller in der Bergstraße, im Lorely in der Karl-Liebknecht-Straße und seit Kurzem in der Zurmöbelfabrik in der Brunnenstraße eine neue Tradition an Unterhaltung dem jüdischen, aber vor allem dem nicht-jüdischen Publikum bieten, indem sie mit Ankündigungen wie „the Unkosher Jewqueer Night“ Grenzen überschreiten102 (vgl. Abbildung 9). Abbildung 9: Ankündigungsflyer der DJs Berlin Meschugge für die „Unkosher Jewqueer Night“ am 20.6.2009
102 Vgl. dazu Lanzke (2010): Nonstop Meschugge.
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Jedes Jahr wird außerdem von Vernen Liebermann und Daniel Stern für einen Chanukka-Ball und von der Jüdischen Gemeinde für eine Chanukka-Party groß geworben. (vgl. Abbildung 10) Abbildung 10: Ankündigungsflyer für die „Chanukka Party“ am 12.12.2009
Dazu finden in Berlin ein bis zwei Mal jährlich eine Sababba-Party sowie eine Mesiba-Party statt.103 Während sich die beiden letzteren Party-Reihen sowie Chanukka-Bälle in ihrer Musikwahl und dem Dresscode an das sogenannte „jüdische Establishment“ orientieren, betrachten sich die Meschugge-DJs als Alternativprogramm zu den jüdischen Mainstream-Events. Auf die unterschiedlichen Ansatzpunkte beider Veranstaltungsreihen weist auch der junge Showbusinessman Vernen Liebermann hin: „Die Meshugge-Partys werden oft von Israelis und interessierten Nicht-Juden besucht, es wird viel House gespielt, gepaart mit israelischer Musik. Gemeindemitglieder und deren Freunde und Bekannte versammeln sich wiederum eher bei den Sababba-Partys. Sababba ist mehr Mainstream, die Musik ist vielseitiger, es werden auch mal israelische Evergreens
103 Die Namen beider Partyreihen sind an die hebräischen Worte für „super, toll“ (Sababba) und „Party“ (Mesiba) angelehnt. Vgl. auch folgende Zeitungsartikel: Molin (2008): Partynacht aus Tel Aviv importiert; o.V. (2010): Gediegen feiern; o.V. (2008): Sababba wird 1 Jahr alt und feiert ohne Grenzen.
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gespielt (die man so in israelischen Clubs nicht hören wird, die aber Erinnerungen an die guten alten Machane-Zeiten wecken). Für die hier ansässigen Israelis ist das in etwa so, als wenn wir in einem Club Udo Jürgens & Co. hören würden.“ 104
Die jüdische Partylandschaft in Berlin hat sich im Jahr 2010 entlang zweier Extreme orientiert: Auf der einen Seite feiert das „jüdische Establishment“, auf der anderen Seite bieten die Meschugge mit ihren Schwulen- und Queerpartys ein Alternativprogramm in Berlin-Mitte an, das man auch als „Provokation“ gegen den jüdischen Mainstream bezeichnen kann. Wenn man sich allerdings wie viele meiner Akteure weder in dem einen noch in dem anderen Spektrum verortet, sondern nach einer Form des „Dazwischens“ sucht, wird das mangelnde Angebot an jüdischen Partys in Berlin beklagt, so wie es auch Vernen Liebermann tut: „[…] wo es früher selbstverständlich war, an Gemeindeveranstaltungen teilzunehmen, Machanot zu besuchen und ein Teil des Ganzen zu sein, ist das heute anscheinend ziemlich ‚uncool‘. Auf den ersten Blick betrachtet, passiert auf der jüdischen Ebene in keiner Stadt so viel wie Berlin. Und in der Presse ist immer häufiger von Berlin als dem Standort für das moderne jüdische Leben zu lesen. Berlin soll die Hochburg des jüdischen (Party-) Lebens in Deutschland sein, und wenn ich ehrlich bin, ist Berlin das auch, und um noch ehrlicher zu sein, ist das aber nicht die ganze Wahrheit.“105
Vlad, der sich fest vorgenommen hat, nach dem jüdischen Party-Leben in Berlin zu suchen, lädt mich eines Tages ein, mich ihm auf dem Weg zur Sababba-Party im Felix-Club in der Behrenstraße anzuschließen. Eine Ankündigung der Party, die auch mich per E-Mail erreicht, wird wieder einmal über den Verteiler des nicht mehr existenten Jüdischen Studentenverbandes verschickt und hört sich wie eine Abenteuerwerbung an: „Das ‚Felix‘ ist der wohl beliebteste und bekannteste Club Berlins. Umso erfreulicher ist es, daß ‚Sababba‘ dort eine Party steigen läßt! Wir sind also angekommen im Berliner Nachtleben!!! Diese Sensation darf auf gar keinen Fall verpasst werden…“106 Der bunte Flyer wirbt mit Slogans wie „Moscow and Tel Aviv celebrating Berlin“ oder „2 PartyMetropolen feiern im Berliner Felix“ (vgl. Abbildung 11). In diesen Leitsprüchen wird die These von Gupta und Ferguson lebendig, die behaupten, dass eine Stadt nicht an sich und für sich existiert, sondern erst im Verhältnis zu Hierarchien und Differenzen zu den anderen Metropolen charakterisiert werden 104 Liebermann (2010): Die „jungen Wilden“ fördern. 105 Ebd., Hervorhebungen im Original. 106 E-Mail am 14.6.2010.
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kann.107 Berlin mit seinen durch viele Restrukturierungsprozesse entstandenen Freiräumen, die entweder noch auf ihre symbolische Besetzung warten oder aber eine mehrfache und widersprüchliche Besetzung erlauben, ist geradezu dafür prädestiniert als Treffpunkt und Bindeglied zwischen zwei Weltmetropolen zu fungieren, in denen viele Juden faktisch und historisch ihr Zuhause haben. Abbildung 11: Ankündigungsflyer für die „Sababba-Party“ in FelixClubrestaurant am 19.6.2010
107 Gupta/Ferguson (1992): Beyond „Culture“.
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Als wir den riesigen Saal betreten und von der Balustrade herunter auf die noch ganz leere Tanzfläche blicken, wird die russische Präsenz sofort deutlich. Ein großes leuchtendes „R“ schmückt als übergroße Projektion alle Wände des Veranstaltungsraums. Das Zeichen, das auch auf den T-Shirts der beiden DJs zu sehen ist, steht für Rendezvous-Events, einen russischsprachigen Veranstalter, der seine Party-Reihen abwechselnd in verschiedenen Berliner Clubs organisiert. Neben den Rendezvous-Events haben mittlerweile auch andere russische und russisch-jüdische Veranstalter wie Vitamin D oder Sternennacht-Party den Bedarf am Tanzangebot für das russischsprachige Publikum in Berlin entdeckt und laden ihre Gäste in die Glamour-Clubs wie Felix, Divas oder Adagio regelmäßig ein. Neben den Live-Events auf der Tanzfläche kann man sich auf deren Webseiten auch in einer russischsprachigen Singlebörse bedienen. Später am Abend wird das Logo von Rendezvous-Events durch die Projektion des israelischen Kultfilms „Eis am Stiel“ abgelöst, in dem sich Strandbilder mit ausschweifenden Party- und Sexszenen in Tel Aviv Ende der 1950er Jahre vermischen. Dieser Raum unterscheidet sich deutlich von den folkloristischen Konzerten und Restaurants, in denen sich die ältere Generation russischsprachiger Juden in Berlin versammelt, die Max, einer meiner Interviewpartner, im Unterschied zu der jüngeren Generation als eine „Subgruppe“ bezeichnet, „die ähnliche Restaurants, ähnliche Bars frequentieren, wo ausschließlich russische Musik läuft.“108 Denn russische Lieder sind an diesem Abend gar nicht zu hören, auch ist das hebräische Musikprogramm nach zwei, drei Songs beendet. Danach wird ausschließlich Techno und House gespielt. Hier wird nicht nostalgisch und allumfassend auf Russland und Israel Bezug genommen, sondern sehr selektiv und konkret. Zum einen zielt eine solche Identifizierung – durch die Filmbilder von Tel Aviv und das Motto auf dem Flyer ermöglicht – ausschließlich auf urbane Metropolen und Schauplätze ab, was bedeutet, dass sich die räumlichen Referenzen nicht auf Russland und Israel als einen kulturellen Raum beziehen, sondern die beiden Länder als urbane Räume darstellen.109 Zum anderen bleibt der Bezug zum Jüdischsein und Russischsein stark auf die visuellen Repräsentationen wie Symbole und Ikonen fixiert. Ein solcher ästhetischer und prinzipiell vorläufiger Rückbezug ist laut Hitzler symptomatisch für die Mitgliedschaften in „posttraditionalen Gemeinschaften“. Dadurch werden gemeinsame Interessen
108 Interview 28.6.2010. 109 Eine ähnliche Entwicklung stellt auch Çağlar für die türkischen jugendkulturellen Räume in Berlin in Bezug auf die Türkei fest. Vgl. Çağlar (2001): Stigmatisierende Metaphern und die Transnationalisierung sozialer Räume in Berlin, 342.
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und Neigungen stilisiert und mythisiert, und die Gemeinschaft wird lediglich zum „imaginären Gebilde“ derer, die sich, temporär und situativ, auf sie beziehen.110 Ich bin neugierig herauszufinden, wer sich heute Abend hier im Raum versammelt hat. Nachdem ich mehrmals gehört hatte, dass auf den Sababba-Partys etwa achtzig Prozent der Gäste jüdisch seien, will ich nun meine eigenen Beobachtungen mit diesen Informationen vergleichen. Allerdings kann ich bei diesem Vorhaben bei den Betrachtungen allein nicht bleiben, denn auch wenn viele Gäste heute Abend Russisch miteinander reden, kann man Juden von den nichtjüdischen Russischsprachigen nicht unterscheiden. Ich entscheide mich, mit einem Grüppchen, das sich an der Bar versammelt hat und sich auf Russisch unterhält, das Gespräch zu suchen und nähere mich den jungen Leuten. Mit einer kurzen Namensvorstellung und ein paar Sätzen über meine Forschung weise ich auf den jüdisch-israelischen Veranstaltungsrahmen dieser Party hin und frage, ob sie auch Juden seien. Ein Anfangdreißiger, der sich als Juriy vorstellt, ist sehr gesprächsbereit. Nein, sie seien keine Juden. Diese Partys seien ja generell keine ausdrücklich jüdischen Partys, sondern für alle russischsprachigen und überhaupt für alle Leute offen, es gebe hier Juden und Nicht-Juden. Dann blickt Juriy auf meine Fotokamera, die ich mir umgehängt habe: Sie seien zwar keine Juden, aber ein Foto von ihnen dürfte ich trotzdem gerne machen, sagt er mit einem breitem Lächeln. Ich setze meine Suche fort und begebe mich zur nächsten Gruppe ein paar Meter weiter an der Bar entlang. Nach einer kurzen Vorstellung dort werde ich allerdings weniger enthusiastisch empfangen. Ob ich von der Jüdischen Gemeinde komme? Mit der Ansage, dass man nicht fotografiert werden möchte, drehen sich alle fünf jungen Leute von mir weg. Nein, ich komme nicht von der Jüdischen Gemeinde. Haben sie selbst mit der Gemeinde was zu tun? Immer noch mit dem Rücken zu mir wirft einer aus der Gruppe mir zu: „Nein, mit der Gemeinde haben wir gar nichts zu tun. In die Gemeinde will heutzutage niemand mehr hingehen.“ Die gesamte Körperhaltung der vier Männer und der einen Frau ist darauf ausgerichtet, mir zu vermitteln, dass das Gespräch nun beendet sei. Trotzdem bleibe ich weiter an der Theke stehen in der Hoffnung, dass sich die Stimmung etwas entspannt. Tatsächlich siegt nach ein paar Minuten die Neugier und nach und nach drehen sich einer nach dem anderen zu mir um. Was ich denn genau wissen möchte? „Der da“, – zeigen sie auf den Jüngsten in der Gruppe, einen Mittzwanziger, der sich mir später als Marek vorstellt – „kann dir alles erzählen“. Tatsächlich zeigt sich Marek plötzlich offen und gesprächsbereit. Er kommt regelmäßig hierher, ungefähr drei Mal die Woche. Ja, es gibt hier viele 110 Hitzler/Honer/Pfadenhauer (2008): Zur Einleitung: „Ärgerliche“ Gesellungsgebilde?
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Juden. Das Grüppchen dort zum Beispiel und dort und dort – das sind alles Juden. Man kenne sich flüchtig, gebe sich die Hand, aber mehr Kontakt ist nicht wirklich da. Ich deute auf sein T-Shirt, auf dem in hebräischen Buchstaben „Zava Hagana Leisrael“ steht, was mit „Israelische Streitkräfte“ übersetzt wird. Auch sein Kapuzenpulli trägt das Logo der israelischen Armee und das Akronym „Z.H.L“ darunter. Nein, er komme nicht gerade von der Armee, erwidert er auf meine Frage, die Kleider habe er geschenkt bekommen, als er in Israel neulich zu Besuch war. Ein weiteres Symbol fällt mir auf – die hebräischen Buchstaben sind dieses Mal direkt in Mareks Handgelenk eintätowiert: „Azma“. Das bedeute Kraft oder Macht, erklärt er mir stolz. Und an welche Kraft denke er dabei? Zum einen habe das natürlich auch mit der israelischen Armee zu tun, die das Land und somit auch das Recht aller Juden auf eigenes Land verteidige. Er wollte auch in der israelischen Armee kämpfen, aber seine Eltern haben ihn nicht gelassen. Und zum anderen denke er bei diesem Zeichen an seinem Handgelenk an die Kraft Gottes. Und das Handgelenk sei ja genau die Stelle, an die man als gläubiger Jude beim Gebet die Tefillin, die Gebetskapseln mit eingeschriebenen Toraversen mit einem Riemen befestige. Und weil man die Tefillin links anlegt, habe er für seine Tätowierung das rechte Handgelenk ausgesucht, damit die linke Hand für die Worte Gottes frei bliebe. Er selbst sei nicht besonders religiös, aber manchmal würde er die Tefillin anlegen, wenn er zum Chabad oder in die orthodoxe Synagoge in der Joachimstaler Straße ginge, zu den sogenannten Studentengottesdiensten. Indem Marek die Macht Gottes mit der Kraft der israelischen Armee symbolhaft an seinem eigenen Körper in Verbindung bringt, wird deutlich, dass die Individuen in der Postmoderne nicht mehr von selbst in eine nicht hinterfragbare Wirklichkeit oder Religiosität hinein driften. Auch tragen die Städte entgegen der Prognose von Max Weber nicht zum Verschwinden der Religion durch ihren „Rationalisierungseffekt“ bei. Vielmehr erlaubt die Stadt durch die Offenheit und Vielfalt an Identitäts- und Raummustern, sich für die Form, in der das Religiöse praktiziert wird, selbst zu entscheiden.111 Wie die Stadt selbst, sind auch die Zeichen, die man für das eigene Bekenntnis zu Gemeinschaften und Gemeinsamkeiten wählt, in ihrer Bedeutung offen und erlauben mehrfache Auslegungsmöglichkeiten. Mal als religiöses Symbol, mal als Solidaritätsbekundung mit den israelischen Streitkräften interpretiert, kann sich Mareks je nach Situation unter Juden mal als ein Gläubiger, mal als ein israelischer Patriot und unter Nicht-Juden als ein „Exote“ mit hebräischen Buchstaben am Handgelenk präsen111 Zum Wandel religiöser Traditionen und der Bedeutung individueller Erfahrung in der postmodernen Stadt vgl. Haustein/Hegner (Hg.) (2010): Stadt, Religion, Geschlecht.
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tieren. Hier finden die Gedanken von Stuart Hall nochmals ihren Widerhall, der die Identität nicht als etwas Festes und Unbewegliches, sondern als eine Konstruktion begreift, die sich zu verschiedenen Zeiten aus verschiedenen, oft widersprüchlichen Zuordnungen zusammensetzt.112 Aber auch ein weiteres Merkmal des spätmodernen Lebensstils wird anhand Mareks Äußerem deutlich. Seine mit der Symbolik der israelischen Armee bedruckte Kleidung zeigt, dass die Phänomene der ästhetischen Gestaltung des Lebens und der Konsumkultur ineinander gehen, das bedeutet, dass Kommerz und Spaß sowie Identität und Mode in die posttraditionalen Lebensformen integriert werden. Noch bevor Vlad und ich die Party-Räume betreten, wird offensichtlich, dass hier auf Kleidung besonderer Wert gelegt wird. Am Eingang werden die Besucher von zwei Türstehern auf ihren Dresscode überprüft: Mit Turnschuhen und Schlabberhosen kommt hier niemand rein. Auch auf der Webseite www.bartime.de wird verkündet: „Im FELIX ClubRestaurant möchte man sehen und gesehen werden. Elegant und ausgelassen im Zentrum des pulsierenden Nachtlebens Berlins feiern, das ist im FELIX Club garantiert!“ Vlad bemerkt, dass er heute seine besten Kleider angezogen habe. Allerdings würde er sich wegen seiner Schuhe Sorgen machen: Seine schwarzen Halbschuhe, die er zum Tangotanzen trägt, sehen zwar ordentlich aus, seien aber für den Geschmack der Türsteher möglicherweise zu sportlich. Auch sein Kapuzenpulli sei das Beste, was er für den heutigen Abend auftreiben konnte. Als wir endlich hinein gewunken werden, atmen wir beide erleichtert auf. An diese Situation muss ich einige Monate später denken, an einem Abend, an dem Lena und ich im Caras Café am Kurfürstendamm sitzen und sie mir von den Feierzeremonien junger Juden in Berlin erzählt: „Heutzutage hab ich durch die Jüdische Oberschule sehr viele jüdische Bekannte. Und wenn man weggeht zu bestimmten Feiern, Geburtstagen, Hochzeiten, treffen sich da immer die gleichen Leute. Es ist ganz witzig, in der Jüdischen Gemeinde sind ja immer die gleichen Leute, die man trifft. Und da geht man in so Schickimicki Clubs, da gibt’s sehr viele Juden die ich eben von der Jüdischen Oberschule kenne, die sehr wohlhabend sind: Felix, Puro. Es kommt halt immer auf die Party an, auf den Veranstalter. […] Ich bin ja selbst absolut nicht wohlhabend aufgewachsen, das ist also absolut nicht mein Problem. Ich interessiere mich aber sehr für Mode und für diesen ganzen Kram und achte so drauf und wenn man ehrlich ist, gefällt es mir einfach, ich find es schön wie die Leute aussehen. Vielleicht ist es so, wenn man schon weggeht, dann ist es eher alles oberflächlich, deswegen mag ich es nicht so gerne. Wenn man weggeht, ist es entweder gesehen werden, oder
112 Hall (1994): Rassismus und kulturelle Identität, 30, 182f.
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man möchte feiern und wirklich Spaß haben. Aber dann gehe ich nicht in die schicken Clubs, dann gehe ich irgendwohin, wo die Musik richtig gut ist, irgendwo im Osten. Wenn ich aber in den Club gehe, wo ich Leute sehe, die mich sehen und wo man sich zeigen will, dann geht man in so schicke Clubs. Es ist sehr klischeehaft. Und man kann es wirklich, leider, aber man kann es bewusst in Schubladen einteilen, hab’ ich jetzt auch festgestellt durch die vielen anderen Freundeskreise, die ich kennengelernt hab’ durch die Uni. Ich habe zwar einige jüdische Freunde, aber mit ihnen verbinde ich nicht das Judentum, das sind nicht die Leute mit denen ich in die Synagoge gehe. Das ist wirklich mein Freund, meine Familie und Aviva, das ist ziemlich beschränkt momentan das Judentum bei mir was Leute angeht. Alle anderen kenn’ ich und die gehen auch alle in die Synagoge und ich hab’ jetzt am Jom Kippur wieder viele getroffen in der Fraenkelufer, die ich schon lange nicht gesehen habe. Man freut sich natürlich, aber es ist jetzt nichts Seriöses.“113
Lenas Verhältnis zu den schicken Partys, bei denen sich ihre jüdischen Bekannten versammeln, ist durch eine ambivalente Haltung geprägt. Auf der einen Seite distanziert sie sich von dem Materialismus und seinem oberflächlichen Charakter, den sie bei solchen Events beobachtet. Auf der anderen Seite gibt sie zu, sich für Mode zu interessieren und aus diesem Grund auch ihren Spaß bei den russisch-jüdischen Partys zu haben. Auch wenn die jüdischen Bekannte aus der Schule oder von der Jüdischen Gemeinde, die Lena auf diversen Events trifft, keine richtigen Freunde für sie sind, braucht Lena sie als Publikum, dem sie ihren individuellen Kleiderstil präsentieren kann. Hier wird der Wunsch des postmodernen Individuums deutlich, zwar frei, aber nicht allein zu sein. Dabei werden die anderen Menschen einerseits dafür gebraucht, um selbstbestimmte Spontanität ausüben zu können, andererseits fühlt man sich ihnen gegenüber nicht verpflichtet, so dass man die Gemeinschaft jederzeit verlassen kann. Die Kleidung wird dabei zu einem Code, der es ermöglicht, trotz der unterschiedlichen Praxen und Bedeutungen des eigenen Jüdischseins eine gemeinsame Grundlage zu finden und eine Gemeinschaft auf diese Art und Weise jenseits der essentiellen Solidaritäten und Loyalitäten zu imaginieren. Ein ambivalentes Verhalten zu den „Schickimiki-Partys“ zeigt auch Dina. Als wir uns eines Abends bei ihr zu Hause für die Rendezvous-Party im AdagioClub am Potsdamer Platz fertig machen, holt Dina ihre ganze Garderobe heraus, um für mich und für sich ein geeignetes Outfit zusammenzustellen. Nachdem wir rund zwei Stunden mit dem Anprobieren von Miniröcken und hochhackigen Stiefeln sowie mit exzessiven Schminken verbracht hatten, bemerkte Dina zu mir während der Party: 113 Mental Mapping-Sitzung 18.9.2010.
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„Ich finde es schade, dass es heute niemanden gibt, der jüdische Partys veranstaltet. Zu diesen komischen Rendezvous-Partys gehen nur so richtige ‚Russen‘ hin mit Stöckelschuhen und Miniröcken. Solche Clubs wie Adagio, wo alle aufgetakelt sind, mag ich nicht. Es wirkt alles unnatürlich und erinnert mich an die Dorfdisco dort, wo ich im Norden Deutschlands aufgewachsen bin. Dort tragen Männer auch alle weiße Hemden. Und Frauen sehen alle nuttig und dumm aus. Sie können auch gar nicht ausgelassen tanzen, weil sie auf ihre Kleider und Frisuren die ganze Zeit achten müssen. Aber in Berlin legt man generell besonders viel Wert auf Markenklamotten, besonders nashi (‚die Unseren‘).“114
Das russische Wort nashi, das Dina in unseren sonst stets auf Deutsch geführten Gesprächen häufig verwendet, deutet auf die Komplexität und Widersprüchlichkeit der posttraditionalen Zuordnungsprozesse. Die häufige Verwendung dieses Pronomens stellt auch Julia Bernstein für ihre Interviewpartner fest und spricht in diesem Zusammenhang von „nashi-zation“, ein Begriff, mit dem Bernstein den Ausdruck der Zugehörigkeit zu einem Kollektiv bzw. einer imaginary community bezeichnet.115 Erst unsere gemeinsame russischsprachige Herkunft erlaubt es Dina überhaupt, sich von der Gruppe der „Russen“ zu distanzieren. Dina nutzt mich als Gleichgesinnte, um eine Zweier-Gemeinschaft, eine „Komplizenschaft“ zu kreieren. Erst vor dem Hintergrund dieser Nähe kann sie auf Distanz gegenüber ihren bzw. unseren Landsleuten gehen und auf diese Art und Weise ihr Bedürfnis frei, aber nicht allein zu sein auszuleben.
Z USAMMENFASSUNG Am Anfang des 21. Jahrhunderts weisen die Vergemeinschaftungsprozesse und räume junger russischsprachiger Juden in Berlin deutliche posttraditionale Züge auf. Während das jüdische Leben in Berlin in den ersten Jahrzehnten nach Beginn der Einwanderung der Juden aus der ehemaligen Sowjetunion durch grundsätzliche Orientierung und Neuverortung im deutschen und deutsch-jüdischen kulturellen und historischen Kontext geprägt war, kann man die letzten fünf bis zehn Jahre als eine Phase der Differenzierung und Spezialisierung hinsichtlich der Identifikationsangebote mit dem Judentum bezeichnen. Anstelle einer „Gemeindeeuphorie“, die mit der Essentialität einer „Stammeskultur“ des Jüdischseins einherging, wird eine thematisch eingegrenzte und zeitweilige Fokussierung einzelner Aspekte bevorzugt, die für die Identitätsbildung in der fragmen114 Feldnotizen 5.6.2010. 115 Bernstein (2010): Food for Thought, 16f.
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tiert-individualistischen Gesellschaft der späten Moderne charakteristisch ist. Eine solche Fragmentierung erlaubt es, verschiedene Aspekte des Jüdischseins mit anderen Identitätsaspekten zu kombinieren und zeichnet Berlin dabei als einen Raum, der posttraditional-offen ist. Vor dem Hintergrund des Leitspruchs der Zweiten Moderne, „frei, aber nicht allein sein“, rücken die neuen Formen der Vergemeinschaftungsräume in das Zentrum der Analyse. Ein Vergleich zwischen den jugendkulturellen Räumen der Juden in Berlin zeigt, dass Räume, die sich auf die tradierten Formen der Vergemeinschaftung stützen, den heutigen Bedürfnissen der jungen Generation nicht mehr entsprechen und daher in Auflösung begriffen sind. Stattdessen entstehen neue Räume, die in ihren Konstruktionen auf Gemeinschaften deuten, in die man nicht mehr hineingeboren und hinein sozialisiert wird, sondern an deren Teilnahme man sich freiwillig und auch nur temporär entscheidet. Anstelle von Zugehörigkeiten und Zuschreibungen treten nun Zuordnungen in den Vordergrund, die auf eine aktive und freie Gestaltung von Identitätskonstruktionen deuten. Dabei zeichnet sich die junge Generation dadurch aus, dass sie einerseits nach Integration in die jüdische Gemeinschaft strebt, andererseits aber sich davon abgrenzt. Eine durch solche Ambivalenz gekennzeichnete „Heymischkeit“ bedeutet nicht mehr und nicht weniger als den Wunsch, in den Zeiten der posttraditionalen Vergemeinschaftung „normal“ zu leben und Jude, Russe, Deutscher und Berliner gleichzeitig zu sein. Alle oben betrachteten Raumkonstruktionen, ob mit einer primär religiösen oder kulturellen Anbindung, zeigen, dass sich die jungen russischsprachigen Juden in Berlin im Jahr 2010 nicht institutionell gebunden verorten, sondern sich alternative Räume schaffen, indem sie entweder die Jüdische Gemeinde oder eine traditionelle Strömung innerhalb des Judentums als eine Abgrenzungsfolie nutzen, vor deren Hintergrund sie ihre eigene „Wir-Gemeinschaft“ bilden. Die Alternativität solcher Räume geht mit der Wahrnehmung meiner Akteure einher, dass in Berlin keine explizit jüdischen Treffpunkte für junge Leute existieren, sondern vor allem Gemeinschaftsorte, die als gemischt bezeichnet werden können und für verschiedene ethnische und kulturelle Gruppierungen zugänglich sind. Beispielhaft dafür stehen jüdische Partyreihen, auf denen man sich nicht notwendigerweise als Jude präsentiert, sondern einen urbanen und berlinischlockeren Stil anlegt. Es lässt sich daher von einem offenen Stadtraum Berlin sprechen, in dem keine „jüdischen Enklaven“ oder „jüdischen Parallelgesellschaften“ existieren, einem Stadtraum, der viele Anknüpfungsmöglichkeiten an die jüdische Zuordnung zulässt. Bei der Betrachtung verschiedener Situationen und sozialer Felder lassen sich mit Bourdieu verschiedene „soziale Räume“ identifizieren, die durch Diskurse,-
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Rollenspiele und vor allem Machtverhältnisse der beteiligten Akteure konstruiert werden. Eine zentrale raumbildende Rolle spielt dabei die Sprachlichkeit, die je nach Sprache mal abgrenzend, mal verbindend wirkt. Während man sich durch die gemeinsame russische Sprache von den Englisch-, Deutsch- und Hebräischsprachigen abgrenzt, scheint das Jiddische eine generelle vergemeinschaftende Wirkung zu besitzen. Neben der Sprachlichkeit spielen in den Raumbildungsprozessen außerdem die symbolischen und physischen niedrigen Ein- und Austrittsschwellen eine erhebliche Rolle, die es einem ermöglichen sich im „kulturellen Supermarkt“ der Zuordnungen frei und ungebunden zu bedienen. Somit kann man sich situationsabhängig mal als liberaler, mal als orthodoxer Jude geben, mal prinzipiell als ungläubiger Jude und ein israelischer Patriot auftreten, und bei Bedarf auch seinen russischsprachigen Landsleuten den Rücken kehren. Für solche Ablösungs- und Neuschaffungsprozesse einerseits, sowie für die Kombination sinnstiftender Teilzuordnungen andererseits, bietet Berlin als ein von diversen jüdischen Institutionen und religiösen Gruppierungen, einer Vielzahl von ethnischen und kulturellen Gemeinschaften sowie historischen Diskursen stark umkämpfter Raum bundesweit das ideale Terrain, auf dem sich jugendkulturelle Raumbildungs- und Vergemeinschaftungsprozesse verdichten und emblematisch für die bundesweite Situation jüdischen Lebens bezeichnen lassen. Dieser durch Vielfalt und Offenheit definierte Charakter Berlins lässt von einer open landscape Berlin sprechen, wo man jüdisch und gleichzeitig urban sein kann. Während man sein Judentum als eine Erlebnisgemeinschaft begreift, wird die Erlebnisgemeinschaft als urbane Praxis der späten Moderne qualifiziert.
Als Touristen in der eigenen Stadt: „Ghetto -Tours“ und kulinarische Geschmackslandschaften Im Mittelpunkt dieses Kapitels stehen Ausflüge junger russischsprachiger Juden in verschiedene Berliner Stadtteile und die Behauptung, dass solche Exkursionen als „Tourismus in der eigenen Stadt“ begriffen werden können. Als Grundlage dient dabei die Definition von Ingo Mörth, der Tourismus als „Kultur der kontrollierten Begegnung mit dem Fremden“ versteht, 1 wobei das „Fremde“ mit Bernhard Waldenfels als der „Spiegel des Eigenen“ aufgefasst wird, in dem wir uns des eigenen Selbst rückversichern können.2 Bei der Analyse von Begegnungen russischsprachiger Juden mit ethnischen und kulturellen Bewohnerstrukturen verschiedener Berliner Ortsteile ist die folgende Frage leitend: Was passiert, wenn zwei mit der Rhetorik des „Fremden“ besetze Domänen aufeinander treffen: die des Reisens und die des Einwanderer-Seins. Dabei erlaubt die Definition des Reisens als „kulturelle Praxis“ mehrere Aspekte des Tourismus miteinander zu verbinden. So können nicht nur die Reisewege analysiert werden, sondern auch die Frage, in welcher Verbindung diese mit dem kulturellen Hintergrund der Reisenden stehen und was die Begegnung mit dem „Fremden“ für das „WirGefühl“ meiner Akteure aussagt. 3 Für die Analyse des Reisens in der eigenen Stadt wird das von Joseph M. Conforti vorgeschlagene Schema der „positiven“
1
Mörth (2004): Fremdheit, wohldosiert.
2
Waldenfels (2006): Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden.
3
Thiem weist darauf hin, dass die Bedeutung der Herkunftskultur der Reisenden in den Studien über den herkömmlichen Massentourismus im Vergleich zu dem Einfluss des Tourismus auf die Kultur des Reiseziels oft vernachlässigt wird. Vgl. Thiem (2001): Tourismus und kulturelle Identität.
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und der „negativen Gründe“, die einen ethnischen Charakter aufweisen und für die touristischen Zwecke genutzt werden, zur Hilfe gezogen.4 Spricht man heute von Städtetourismus, ist damit meistens der Massentourismus gemeint. Dabei verlassen die Einwohner ihre eigenen Wohnorte und begeben sich auf die Reise in die ihnen meistens allein aus Reiseführern bekannten Metropolen, um dort Sehenswürdigkeiten anzuschauen, Essen zu gehen und ausgiebig zu shoppen. Durch diese drei Tätigkeiten, die Barry Curtis und Claire Pajaczkowska als drei „Paradigmen des Tourismus“ bezeichnen,5 wird der Verlust der Sicherheit kompensiert, der durch die häufige Unkenntnis der landeseigenen Sprache und der Bräuche hervorgerufen wird. Seitdem Berlin im Jahr 2010 mit über zwanzig Millionen Übernachtungen eine Rekordzahl an Besuchern erreichte und unter den Top-Adressen europaweit auf Platz drei hinter London und Paris aufrückte,6 wird diese Tendenz von der Tourismusbranche auch verstärkt genutzt, um für einen Berlin-Tourismus „jenseits der Touristenströme“ zu werben, der einen Blick „hinter die Kulissen“ ermöglicht.7 Schaut man sich das Angebot an solchen „alternativen“ Touren an, fällt auf, dass die Reiseveranstalter in der Regel nicht für die gesamte Stadtfläche werben, sondern sich auf einzelne Berliner Stadtteile oder kleinere Kieze spezialisiert haben. Zur „Alternativität“ solcher Gegenden, die als „Geheimtipps“ apostrophiert werden, gehört „die raue, dreckige Seite Berlins, die die Einwohner so lieben“ mit ihren Subkulturen, besetzten Häusern und Graffiti, aber auch die städtischen Konfliktzonen mit den damit verbundenen Protesten und Demonstrationen.8 Besonders gerne wird jedoch mit dem spezifischen ethnischen Charakter einzelner Berliner Stadtteile geworben, deren Straßenbild und kulinarisches Angebot stark durch ethnische Minderheiten geprägt ist. So wird Kreuzberg als die „größte türkische Community nach Ankara und Istanbul“ beschrieben,9 während in Neukölln die Stadtteilmütter Führungen durch das „internationale Dorf“ mit Moschee-Besichtigungen und Besuchen türkischer Supermärkte anbieten. 10 Ein anderes Beispiel findet sich in dem Reiseflyer, den das Kulturprojekt „Lebensart“ 4
Conforti (1996): Ghettos as Tourism Attractions.
5
Curtis/Pajaczkowska (1994): „Getting There“: Travel, Time and Narrative, 207f.
6
o.V. (2010): Berlin-Tourismus liegt auf Rekordkurs; Tourismus in Berlin. Das offi-
7
Vgl. z.B. Berlin – offizielles Tourismusportal für Besucher der deutschen Hauptstadt
zielle Hauptstadtportal (online). (online); Berlin-Reise-Dienst (online). 8
Get your Guide. Alternative Stadttour Berlin (online).
9
Kreuzberg-Atmosphärisch. Stadtführungen (online).
10
Neukölln Update. Kulturveranstaltungskalender Neukölln (online).
ALS TOURISTEN IN DER EIGENEN STADT | 223
für den Weddinger Soldiner Kiez zusammenstellte. Darin aufgeführt sind unter anderem eine traditionelle arabische Konditorei, der arabische Falafelhändler Hijara sowie der Lebanon Garden mit Wasserpfeifen und Samowaren, die den Besuchern einen Eindruck vom „echten Berlin“ versprechen.11 Während der Einfluss der in den Westberliner Stadtteilen wie Kreuzberg, Neukölln und Wedding beheimateten türkisch- und arabischstämmigen Bevölkerung von den Reiseveranstaltern als kulturelle Bereicherung dargestellt wird, wird der Ostberliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf – ein anderes beliebtes Ausflugsziel – als „Problembezirk“ apostrophiert. Die dortigen Plattenbauten, eins der letzten riesigen Wohnungsbauprojekte der DDR, werden mit größeren sozialen Konflikten in Verbindung gebracht. So ist auf der Webseite des Berlin Travel Online Reiseführer zu lesen: „Der günstige Wohnraum lockte die nicht so zahlungskräftige Bevölkerungsschicht an. Es kam zu vielen Streitereien, auch zwischen verschiedenen ethnischen Gruppierungen. Arbeitslosigkeit und Armut war an der Tagesordnung.“12 Die größte ethnische Gruppe, deren Integration in den Berliner Alltag von den Medien und Reiseveranstaltern als problematisch dargestellt wird, ist dabei ironischerweise die der ethnischen russischsprachigen Deutschen. Die ca. 25.000 Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion, die in den Plattenbauwohnungen von Marzahn-Hellersdorf leben, werden heute am häufigsten mit den Stichworten „russlanddeutsche Jugendgewalt“, „Straßenkampf“ und „organisierte Kriminalität“ in Verbindung gebracht.13 Es sind sowohl die negativen als auch die positiven Kategorien, die in Verbindung mit dem ethnischen Charakter einzelner Stadtteile von den Reiseunternehmen genutzt werden, um Besucher anzulocken. Einen ähnlichen Prozess beobachtet Conforti in Bezug auf „Little Italy“ oder „China Town“ in amerikanischen Großstädten wie New York oder Boston, die er als „positive and negative models of preservation“ bezeichnet. Mit Hilfe von bestimmten Strategien versucht die Stadtverwaltung, das „Ghetto-Bild“ von ethnischen Gegenden zu konservieren, um diese als touristische Attraktionen aufrechtzuerhalten. 14 So wie Conforti für die USA feststellt, werden die als ethnisch stereotypisierten Viertel auch in Berlin nicht nur von den auswärtigen Reisenden besucht, sondern auch von den Berlinern selbst immer häufiger als Ausflugsziele gewählt. In ihrer Werbung für die ethnischen Qualitäten einzelner Stadtteile setzten die Reiseagenturen dabei auf das „Differenzdenken“, das die Berliner Gesellschaft zu11
SoldienerKiez. Portal für die lokale Wirtschaft (online).
12
Berlin Travel. Online Reiseführer (online).
13
Soboczynski (2010): Fremde Heimat Deutschland.
14
Conforti (1996): Ghettos as Tourism Attractions, 837.
224 | GENERATION „KOSCHER LIGHT“
nehmend prägt. Denn laut Kaschuba nimmt „in städtischen Alltagen gegenwärtig ein Denken in Gegensätzen und ein Reden in Stereotypen“ zu, das auf den Unwillen Deutschlands, ein Migrationsland zu sein, zurückgeht.15 Die Angst um den Arbeitsplatz, soziale Ungleichheit, fehlende Ausbildungsplätze äußern sich in einer „ethnischen Distanzierung“, die allerdings nicht nur von der Seite der Mehrheitsgesellschaft zu beobachten sei, sondern auch von den als „Migranten“ Apostrophierten sichtbar wird. Dabei sind die „[w]echselseitige[n] Beschimpfungen als ‚Scheißtürke‘ und ‚Scheißdeutscher‘ auf Berliner Schulhöfen und auf deutschen Straßen […] nur der hörbare Ausdruck einer sich verändernden Atmosphäre, die von vielen kleinen Gesten und alltäglichen Tönen eines schärferen Differenzdenkens geprägt wird.“16 Um einer solchen „ethnischen Distanzierung“ entgegenzuwirken, organisieren die Lehrer der Marzahner Schulen gelegentlich Reisen für ihre Schüler nach Kreuzberg oder Neukölln.17 Durch gemeinsame Ausflüge wird den Schülern ein kontrollierter Umgang mit der Bevölkerung ermöglicht, die von ihnen als „fremd“ wahrgenommen wird. Denn es ist die kontrollierte Aneignung des „Fremden“, die in der Tourismusforschung einstimmig als das Hauptanliegen der Reisenden bezeichnet wird.18 Die Fremdheit, von Waldenfels als die „Unzugänglichkeit eines bestimmten Erfahrungs- und Sinnbereichs und […] [die] Nichtzugehörigkeit zu einer Gruppe“19 als kulturelle und soziale Fremdheit definiert, geht dabei mit der eigenen Ein- und Ausgrenzungserfahrung einher. Daher kann als eine der wichtigsten und unvermeidbaren Folgen der „Fremderfahrung“ die Erfahrung des „Eigenen“ bezeichnet werden. Allerdings steht am Anfang einer solchen Erfahrung stets nicht das „Eigene“ und auch nicht die Vielfalt von kulturellen Lebensweisen, sondern am Anfang steht die Differenz: „Wer wäre ich und was wäre mir zu eigen, wenn sich meine Eigenheit nicht von anderem absetzen würde?“20 Was passiert aber, wenn zwei mit der Rhetorik des „Fremden“ besetzte Domänen aufeinandertreffen, nämlich die des Reisens und die des EinwandererSeins? Während das Reisen als die Suche nach dem „Eigenen“ im Spiegel des „Fremden“ definiert werden kann, wird die Zugehörigkeit zu einer Minderheit 15
Kaschuba (2007): Ethnische Parallelgesellschaften? 74.
16
Ebd.
17
Gespräch mit dem Berliner Gymnasiallehrer Florian Fleischmann, 3.4.2011.
18
Vgl. dazu exemplarisch Mörth (2004): Fremdheit, wohldosiert, Bödeker/Bauer-
19
Waldenfels (2006): Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, 115.
20
Ebd., 117.
kämper/Struck (2004): Einleitung: Reisen als kulturelle Praxis.
ALS TOURISTEN IN DER EIGENEN STADT | 225
durch kulturelle Praxen und Denkmuster gekennzeichnet, die eine inszenierte Andersartigkeit im Vergleich zur Mehrheitsgesellschaft in sich birgt. Dass die Wege der Touristen und der Migranten – zwei Gruppen, deren Haltungen und Handlungen in der öffentlichen Wahrnehmung kaum miteinander in Verbindung gebracht werden – sich öfter als angenommen kreuzen, haben Tom Holert und Mark Terkessidis in ihrer zum Teil ethnografischen Arbeit mit dem aussagekräftigen Titel „Fliehkraft. Gesellschaft in Bewegung – von Migranten und Touristen“ ausführlich dargelegt. 21 In dem Prozess, den die Autoren als „Touristisierung der Städte“ bezeichnen, gehen sie der Frage nach, ob man heute eigentlich noch nicht Tourist sein kann. Denn in der globalisierten Welt mit ihrer ZeitRaum-Verdichtung ist die Entfremdung vom eigenen Alltag zum Teil so groß, dass sich die Bürger einer Stadt gewissermaßen selbst „kolonisieren und folklorisieren […]. Sie experimentieren mit ihrer eigenen lokalen Identität und halten sich spielerisch offen, wie an- oder abwesend sie sich gerade fühlen.“22 Während zur „Touristisierung“ der Großstädte zum einen Palmenstrände gehören, die einen an die Tage erinnern, die man an solchen „echten“ Stränden zubrachte, gehört dazu zum anderen die „Touristisierung“ der ethnischen Bevölkerung.23 Auf der Suche nach dem Außeralltäglichen werden die Einwanderer exotisiert und folklorisiert. So stellt Elisabeth Beck-Gernsheim fest, dass das Bild der Migranten, das in der öffentlichen Wahrnehmung in Deutschland vorherrscht, durch ihre Traditionsgebundenheit und somit von einem deutlichen Kontrast zu den Deutschen in ihrer Zuordnung zur Moderne bestimmt wird: „Kein Bericht über Türken ohne Kopftuch, Moscheen und Döner Kebap, kein Film über Juden ohne Davidstern und Klezmermusik: In der massenmedialen Aufbereitung dominiert was ‚Fremdländisches‘ signalisiert. Damit wird aufgenommen und bestätigt, was auch in der Alltagswahrnehmung den Blick auf sich zieht, nämlich exotische Melodien, Farben und Stoffe, nämlich Essensgewohnheiten, Kleidungsformen, religiöse und kulturelle Riten, die auf ferne Länder verweisen. Und also heißt es: Die Migranten sind traditionsorientiert. Sie bewahren die Sitten von Herkunft und Heimat.“ 24
Um sich einer solchen Wahrnehmung als „Fremde“ im Alltag zu entziehen, bedienen sich junge russischsprachige Juden einer unter Migranten weitverbreiteten Strategie: Sie beanspruchen für sich ein Stück Normalität, indem sie andere 21
Holert/Terkessidis (2006): Fliehkraft.
22
Ebd., 203f.
23
Ebd., 203f, 234.
24
Beck-Gernsheim (2007): Wir und die Anderen, 20f.
226 | GENERATION „KOSCHER LIGHT“
Einwanderergruppen als „fremd“ klassifizieren und sich diesen gegenüber distanzieren. In Berlin, wo ethnische Zugehörigkeit oft mit einzelnen Stadtteilen in Verbindung gebracht wird, geschieht diese Distanzierung auf der räumlichen Ebene. So werden die Westberliner Stadtteile mit einem großen Anteil an arabisch- und türkischstämmigen Einwohnern einerseits, und die Ostberliner Stadtteile mit ihren „Integrationsproblemen“ und der großen Gemeinschaft russischsprachiger Spätaussiedler andererseits, von meinen Akteuren als „fremd“ wahrgenommen. Wenn sie diese Gegenden im touristischen Jargon als „Naherholungsgebiete“ oder „Ghettos“ bezeichnen, die einer Reise wert sind, spiegelt sich in dieser Terminologie der Berliner Alltagsdiskurs wider, den der Anthropologe Levent Soysal in Bezug auf Kreuzberg folgendermaßen zusammenfasst: „In everyday conversation […] Turkish youths occupy Kreuzberg, a district known for its eccentricity and where one is sure to find the ‚real‘ action. As prescribed ‚marginals,‘ Kreuzberg is said to belong to them, for it epitomizes the exotic, the ghetto, and the hip.“25
Weil bestimmte Berliner Stadtteile als bedrohlich und anziehend zugleich empfunden werden, rufen sie gelegentlich „Angstphantasien“ hervor. Solche Phantasien gehören laut Thomas Herdin und Kurt Luger „zu den Ursachen für die Produktion von Fremd- und Feindbildern, von deren Existenz man auf die Veränderungspotenziale einer Gesellschaft schließen kann.“ 26 Die Tatsache, dass russischsprachige Juden von der Mehrheitsgesellschaft selbst als „fremd“ wahrgenommen werden, schützt sie somit keinesfalls davor, die anderen Gruppen als „fremd“ zu apostrophieren. Im Gegenteil fällt einem die Urteils- und Vorurteilsbildung in Bezug auf die anderen, in Deutschland als „fremd“ wahrgenommenen Gruppen, in der Regel leichter, wenn man als „Fremder“ gegenüber „Fremden“ steht und sich daher mit diesen auf derselben Ebene befindet. Die gegenseitigen Vorurteile können deshalb offener und ohne Umwege und umständliche, politisch korrekte Umschreibungen geäußert werden. Um diesen Prozess der Eigenund Fremdwahrnehmung zu begreifen, möchte ich nun die Wege meiner Akteure wieder aufnehmen und ihnen auf ihren Reisen durch Berlin folgen.
25
Soysal (2002): Beyond the „Second Generation“, 127.
26
Herdin/Luger (2001): Der eroberte Horizont.
ALS TOURISTEN IN DER EIGENEN STADT | 227
I M „F REMDEN “ LIEGT DAS „E IGENE “: DER JÜDISCHE B ILDUNGSHUNGER DURCH DAS P RISMA VON K REUZBERG Nachdem ich Dina bei dem Pessach Sederabend bei Jung und Jüdisch kennengelernt hatte, schrieb ich ihr eine Nachricht auf Facebook: Ob wir uns bald treffen können, damit sie mir ihre Gegend in Berlin zeige, die Orte, an denen sie sich oft und gerne bewege, fragte ich sie. Ich wusste, dass Dina in Charlottenburg wohnt, und habe mich mental schon fest auf einen Spaziergang durch die einstige Residenzstadt der deutschen Kaiser eingestellt. Kurz nach meiner Nachricht rief Dina mich an: Sehr gerne würde sie mir ihr Berlin zeigen. Ich solle ihr sagen, wo ich genau wohnte, dann würde sie für mich eine günstige Verkehrsverbindung überlegen. Ich sagte nur: „Kreuzberg“. Und dann geschah es: Dina brach in Begeisterung aus: „Kreuzberg? Tatsächlich? Cool, ich kenne bis jetzt niemanden, der in Kreuzberg wohnt. Ich finde Kreuzberg so spannend, lass uns bitte dort treffen. Ich möchte sooo gerne, dass du mir Kreuzberg zeigst!“ 27 Ich hatte keine Wahl. Ich wollte nicht die harte Forscherin spielen und auf meinem Wunsch eines Spaziergangs durch Charlottenburg beharren. Trotzdem war ich ziemlich enttäuscht darüber, dass ich meine favorisierte Methode der Wahrnehmungsspaziergänge durch die „eigenen“ Orte meiner Akteure nicht sofort einsetzen konnte. Von unserem Kreuzberg-Spaziergang am nächsten Tag versprach ich mir nicht besonders viel und versuchte mich mit dem Gedanken zu beruhigen: Macht nichts. Heute Kreuzberg, morgen Charlottenburg. Als ich am nächsten Morgen Dina an der U-Bahn-Station Schlesisches Tor abholte und wir uns auf den Weg durch „meinen“ Stadtteil begaben, sollte ich positiv überrascht werden. Denn an diesem Tag entdeckte ich eine neue ethnografische Methode: Die Methode des Umkehr-Wahrnehmungsspaziergangs, bei dem das „Eigene“ als eine Reflexion des „Fremden“ greifbar wird. Als Dina an diesem lauwarmen Aprilmorgen aus der U-Bahn aussteigt, wirkt sie etwas verwirrt. Sie hat sich um eine Viertelstunde verspätet und entschuldigt sich dafür: „Ich kann mich an das Verkehrsnetz in Berlin immer noch nicht gewöhnen. In Hamburg ist alles so viel übersichtlicher, als in Berlin. Hier verfahre ich mich ständig. Am schlimmsten ist Gesundbrunnen. Gerade eben musste ich dort ewig nach der richtigen S-Bahn suchen, deswegen hat es so lange gedauert, hierher zu kommen.“ Bei diesen Worten muss ich an Schlögels Plädoyer für Räume denken. Weil wir von der Gleichzeitigkeit und Unübersichtlichkeit der Bewegungen überfordert sind, die sich an einem Ort, einem Platz treffen, werden 27
Diese und weitere Ausführungen in diesem Abschnitt beziehen sich auf Feldnotizen 6.4.2010.
228 | GENERATION „KOSCHER LIGHT“
wir geradezu gezwungen, eigene Räume an diesen Orten zu schaffen, an denen wir nicht nur Grenzen vorfinden, sondern eigene Grenzen ziehen. In einem Raum, der nach allen Seiten offen ist, werden wir uns sonst schnell verlieren.28 So ein Raum, in dem sich Dina schnell verlieren würde, ist für sie auch Kreuzberg. Als wir durch die ruhigen Seitenstraßen hinter der Markthalle in der Eisenbahnstraße laufen, bemerkt sie, dass sie sehr dankbar dafür sei, dass ich heute dabei bin. Auch wenn sie ab und zu Kreuzberg besucht, ist sie in der Regel mit dem Auto da, so dass sie die Laufwege nicht kennt und sich hier alleine zu Fuß nicht zurechtfinden würde. Als Dina mir von ihren Erfahrungen mit Kreuzberg berichtet, wirkt sie zunächst sehr zurückhaltend. Gleichzeitig merke ich, dass in ihrem Kopf viele Gedanken herumschwirren, die sie nicht voreilig oder unüberlegt äußern möchte. Allmählich fängt sie an zu erzählen: „Ich komme manchmal mit meinem Freund nach Kreuzberg, um hier zu essen. Man kann hier wunderbar essen, es gibt viele gute Restaurants. Wir gehen immer zum Türken am Kotti, manchmal zum Araber. Essen kann man hier sehr gut, aber sonst… Ich weiß nicht. Wohnen will ich hier definitiv nicht, weil es hier zu viele Türken gibt. Es ist hier alles so anders als bei mir in Charlottenburg. Die ganzen Frauen mit Kopftüchern auf der Straße, das gefällt mir nicht. Ich mag Charlottenburg sehr und ich will dort wohnen bleiben. Auch die Schulen sind hier schlecht. Ich will nicht, dass meine Kinder mit Murats und Alis auf die Schule gehen. Sie haben ja gar kein Bildungsniveau. In Berlin gibt es entweder ganz schwache oder ganz starke Schulen, etwas dazwischen gibt es nicht.“29
Während unseres Spazierganges macht Dina deutlich, dass ihre Identifikation mit Charlottenburg und gleichzeitig ihre Identifikation als Jüdin auf einer Abgrenzung von den türkischen Bewohnern Kreuzbergs konstruiert und konstituiert wird.30 Dabei lässt sich Bildung als eine Kategorie erkennen, die Dina als eine identifikatorische Abgrenzungsfolie dient. Das Jüdische lässt sich nicht als eine eingeborene Zugehörigkeit, sondern viel mehr als eine „Differenzidentität“ und somit eine selbst gewählte Zuordnung begreifen, die je nach Kontext und Situation immer wieder neu gewählt werden kann. Denn jüdisch zu sein bedeutet für Dina nicht zwangsläufig, mit allen Juden eine Seelenverwandtschaft zu verspü28
Schlögel (2009): Im Raume lesen wir die Zeit, 48f.
29
Feldnotizen 6.4.2010.
30
Der Migrantenanteil beläuft sich in Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg auf 38 Prozent und in Bezirk Neukölln auf 40 Prozent, wobei 30 Prozent der Einwohner in Kreuzberg und Nord-Neukölln direkt oder über ihre Eltern aus einem islamischen Land stammen. Vgl. o.V. (2011): Zahlen mit Migrationshintergrund.
ALS TOURISTEN IN DER EIGENEN STADT | 229
ren. Ob sie etwas Gemeinsames mit einem Juden empfindet, hängt für sie davon ab, welche Mentalität dieser mitbringt, welche Sprache er spricht und welche Geschichte er hat, denn Dina behauptet: „Aber mit Juden aus den arabischen Ländern oder auch mit äthiopischen Juden kann ich nicht reden, es gibt da nichts Gemeinsames. Die äthiopischen Juden haben gar keine Bildung und die arabischen Juden sind arrogant. Ich habe sie in der Synagoge in Hamburg kennengelernt. Sie sagten damals, sie wollen nicht mit Russen zusammen in einer Synagoge sitzen. Wir haben mit ihnen nichts Gemeinsames. Mit den Deutschen haben wir das Deutsche gemeinsam, das Europäische, die Bildung.“31
Dieses Zitat führt noch einmal vor Augen, dass das Jüdischsein eine Zuordnung ist, die je nach Gegenüber und nach dem gegebenen Kontext konstruiert und durch einen Vergleich mit anderen Gruppen konstituiert wird. So begreift man sich in erster Linie als jüdisch, wenn man sich mit Türken vergleicht, die in Kreuzberg wohnen, bzw. sich von diesen distanziert, weil sie „kein Bildungsniveau“ haben. Wenn man sich aber mit Juden vergleicht, die aus anderen Ländern stammen, andere Sprache sprechen und nach Dinas Ansicht „gar keine Bildung“ haben und „arrogant“ sind, tritt die Zuordnung „jüdisch“ aufgrund von solchen Kategorien wie „gebildet“, „europäisch“ oder „zivilisiert“ in den Hintergrund, so dass man sich in diesem Kontext mehr als „russisch“ oder sogar „deutsch“ empfindet. Das Jüdischsein kann im Sinne einer „Wir-Identität“ zwar verbindend wirken, muss es aber nicht. Denn kommen Erfahrungen mit den sogenannten „Bindestrich-Identitäten“ wie jüdisch-äthiopisch, jüdisch-arabisch und insbesondere jüdisch-russisch ins Spiel, wird deutlich, dass der Austausch zwischen den Kulturen heute dazu führt, dass im Innenverhältnis einer Kultur „tendenziell ebenso viele Fremdheiten wie im Außenverhältnis zu anderen Kulturen“ existieren.“32 Mit Waldenfels gesprochen, beginnt die „interkulturelle“ stets mit einer „intrakulturellen Fremdheit“.33 Somit lässt sich das „Eigene“ mit Ortfried Schäffter auch als „Lernfeld“ mit seinen Mängeln und Lücken begreifen, das durch Entfremdung eine Chance zur Ergänzung und Vervollständigung bekommt. 34 Bei diesem Spaziergang in Kreuzberg werden mir die Vorteile des Reisens in der eigenen Stadt bewusst, eines Zeitvertriebs, bei dem ich meine Akteure be31
Feldnotizen 6.4.2010.
32
Welsch (1997): Transkulturalität, 86.
33
Waldenfels (2006): Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, 120.
34
Schäffter (1991): Modi des Fremderlebens.
230 | GENERATION „KOSCHER LIGHT“
gleiten kann. Ich bin froh, diese ethnografische Umkehrmethode entdeckt zu haben, die mir den Zugang zu ihren Eigenwahrnehmungen durch „das Prisma des Fremden“ gewährt. Zwar wurde die Tatsache, dass wir unseren Alltag nur dann reflektieren können, wenn wir einen Abstand davon nehmen, von den Reise- und Tourismusforschern schon längst erkannt. So bezeichnet Stephen Greenblatt das Reisen als eine „perfekte Form der Verfremdung“, durch die wir nicht nur auf Abstand von unserer gewöhnlichen Umgebung, sondern auch von uns selbst treten.35 Bisher wurde die Verfremdung beim Reisen allerdings hauptsächlich in Rahmen des Massentourismus thematisiert und nicht auf die eigene Stadt angewandt.36 Dennoch ist die Wahrscheinlichkeit eines Ausfluges von Charlottenburg nach Kreuzberg wesentlich höher als die einer Reise von Deutschland in die Türkei, so dass die mit den Ausflügen in unbekannte Stadtteile verbundenen Ängste, Phantasien und Abgrenzungen viel stärker als Kontrastfolie für das „Eigene“ in den Vordergrund treten, als dies bei dem Bereisen anderer Länder der Fall wäre. Die Bilder von „bildungsfremden Türken“ und von als „rückständig“ und „bedrohlich“ empfundenen verschleierten Frauen, die Dinas Wahrnehmung nicht nur von Kreuzberg, sondern auch von Neukölln und Wedding prägen („In Neukölln bin ich nur auf der Durchfahrt. Wenn ich aus dem Autofenster verschleierte Frauen sehe, dann weiß ich, dass ich in Neukölln oder in Wedding bin.“37), wirken auf sie faszinierend und abschreckend zugleich – so wie jene merkwürdige Kraft der Neugier, die uns seit Jahrtausenden auf Reisen in das Unbekannte treibt. Bei Dinas heutigem Ausflug nach Kreuzberg ist eins ihrer Hauptziele daher, sich immer wieder dessen zu versichern, was ihr schon längst bekannt ist: Dass sie nicht dort wohnen möchte, sondern viel lieber in Charlottenburg bleiben will – einem Stadtteil, in dem sie und ihr Freund sich mittlerweile auch eine Wohnung gekauft haben und in dem deren gemeinsamen Kinder später auf einer Schule mit einem hohen Unterrichtsniveau gebildet werden können. Bildung ist auch für Dinas Freund Stanislav ein Faktor, den er als charakteristisch für Juden betrachtet, und zwar nicht nur im Gegensatz zu türkischen und arabischen Bewohnern Berlins. Auch an den Berliner Schulen generell ist ein „jüdischer Junge“ laut Stanislavs Beschreibung dafür prädestiniert, gemobbt zu werden, weil er in der Regel ein ruhiger intellektueller Einzelgänger ist und sich der lauten Kultur der pubertierenden und sportlichen Jugendlichen nicht anschließen kann: 35
Greenblatt (1997): Warum Reisen?
36
Ebd.
37
Feldnotizen 6.4.2010.
ALS TOURISTEN IN DER EIGENEN STADT | 231
„Ich konnte immer gut alleine mit mir selbst, es war nie das Problem, insofern habe ich nicht Stress gemacht. Aber da hat es auch angefangen, dass ich so in der präpubertären Zeit immer mehr in mich selbst gegangen bin, und mit der Schule war das so wie so, ich bin dann von der Waldgrundschule auf die Waldoberschule gegangen, was einfach ein ganz ganz grober Fehler war, weil ich da in diesem, ich sag ja Soziotop nicht hätte bleiben dürfen, hätte man mich rausnehmen müssen. Ich bin da nicht glücklich geworden, ich hab da auch Abi gemacht, das war aber ganz schlimm, mit Mobbing verbunden und so was. Aber das glaube ich für ’nen jüdischen Jungen nichts Neues irgendwie, ist nicht das erste Mal, dass du die Geschichte gehört hast, jedenfalls.“38
Auf meine Nachfrage, was er mit einem „jüdischen Jungen“ meint, fährt Stanislav fort: „Das hatte damit zu tun, dass ich da einfach nicht zugehört habe. Ich bin halt nicht so der football-jerk, das ist wahrscheinlich so klassische story, sondern ebenso der science-nerd minus science. Also ich war jetzt nie gut in Naturwissenschaft, aber einfach mal, um ein paar Klischees zu bedienen, ein relativ gebildetes, intelligentes Kind irgendwie, das man ruhig fördern sollte, ja, was dann aber in so ’ner Meute von blonden Sportfreaks untergeht, die so wie so vom Leben total gepempert sind, weil beide Eltern Ärzte und sie müssen nur das Medizinstudium später abschließen, übernehmen die Praxis und haben 400.000 im Jahr sicher. Einfach diese vorgezeichneten Lebenswege, und da habe ich absolut nicht reingepasst, das war das.”39
Stanislavs Beschreibung eines „jüdischen Jungen“, der ruhig und intellektuell ist, keine Probleme sucht und sich weniger für körperliche Betätigung interessiert, sondern ganz und gar der geistigen Welt angehört, erinnert an die Diskussion am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, die von dem Zionisten Max Nordau im Strudel des Aufkommens des politischen Zionismus angestoßen wurde. Mit seinem Bild des „neuen Hebräers“ oder des „Muskeljuden“, das Nordau als einen polemischer Gegenbegriff zum intellektuell orientierten „Talmudjuden“ oder auch „Nervenjuden“ benutzte, wollte der überzeugte Zionist den Typus des „verweiblichten und vergeistigten Diasporajuden“ bekämpfen, in dem er den Antisemitismus begründet sah. Die lange Tradition des Lernens sowohl bei den osteuropäischen „Ghettojuden“, als auch bei den assimilierten deutschen „Westjuden“ sollte laut Nordau durch die physische Arbeit auf dem Land in Palästina zurückgedrängt werden, um somit auch den antisemitischen Bildern eines „ner38
Interview 31.7.2010.
39
Ebd.
232 | GENERATION „KOSCHER LIGHT“
vösen“, „lebensunfähigen“ und „effeminierten“ Juden entgegenzuwirken. 40 Dabei ist Nordau selbst in seiner Stereotypisierung des „Diasporajuden“ in die Spuren der antisemitischen Bilder getreten, vor allem in das des „verweiblichten“ jüdischen Mannes, wie Daniel Boyarin in seiner Analyse der Identitätskonstruktion und des Images des jüdischen Mannes seit dem Ende des 19. Jahrhundert zeigt.41 Diesen Zusammenhang hebt auch Birgit Stubbe hervor in ihrer Analyse „einer jüdischen Frau in Männerkleidern“, Else Lasker-Schüler. Die Leichtigkeit für Else Lasker-Schüler, in die Männerrolle zu schlüpfen, wurden von Stubbe durch die effeminierten Eigenschaften des jüdischen Mannes im 19. Jahrhundert begründet: „So seien die primären Eigenschaften jüdischer Männer, wie Höflichkeit, Gewaltlosigkeit und Studierwilligkeit eher als weibliche Eigenschaften wahrgenommen worden, wodurch den jüdischen Männern ihre ‚Männlichkeit‘ abgesprochen worden sei.“42 In Stanislavs Beschreibung eines „jüdischen Jungen“ als eines ruhigen und gebildeten Kindes, „das man ruhig fördern sollte“, findet die Hypothese von Jan Assmann ihre Bestätigung, dass die Selbst- und Fremdbilder, ähnlich wie die Erinnerungen an bestimmte historische und gesellschaftliche Ereignisse, in das „kulturelle Gedächtnis“ einer Gruppe übergehen können.43 Dabei kann der Zugriff auf diese Images sowohl unbewusst, als auch bewusst geschehen, so wie im Falle von Stanislav, wenn er behauptet, mit seinem Bild eines intellektuellen jüdischen Kindes „ein paar Klischees zu bedienen“.
W ENN „ FREMD “ ZUM R AUM WIRD : K REUZBERG UND N EUKÖLLN ALS R ÄUME DER E IN - UND AUSGRENZUNG Dass man nicht unbedingt weit verreisen muss, um seine Neugierde zu befriedigen bzw. um einen Abstand vom Alltag zu gewinnen, bestätigt Stanislav, wenn er Kreuzberg als ein „Naherholungsgebiet“ bezeichnet und es mit BerlinZehlendorf oder Berlin-Grunewald vergleicht. Besonders in einer Stadt wie Berlin, deren Charakter stark durch den „Regionalismus“ einzelner Stadtteile mit ihrer eigenen ethnischen, sozialen und kulturellen Einwohnerstruktur geprägt ist, kann man einen Tourismus in eigener Stadt sehr gut betreiben. Denn es reichen, 40
Vgl. A.G. Gender-Killer (Hg.) (2005): Antisemitismus und Geschlecht; Nordau (1900): Muskeljudentum.
41
Boyarin (1997): Unheroic Conduct, 129; vgl. dazu auch Kasten (2010): „Ermannt
42
Stubbe (2010): Else Lasker-Schüler, 44.
43
Assmann (1988): Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, 15.
Euch“.
ALS TOURISTEN IN DER EIGENEN STADT | 233
so Greenblatt, schon die bescheidensten und fragmentarischsten Spuren einer anderen Kultur, um die Neugier zu wecken, die uns in die unbekannten Gegenden treibt:44 „Also, ich finde Kreuzberg auch ganz großartig, weil man da ’ne Menge machen kann, aber das ist mir wahrscheinlich am Ende doch ein bisschen zu laut und zu verroht teilweise, und multiethnisch. Das ist für mich dann eher ein Naherholungsgebiet, genauso wie ich jetzt auf Teufelsberg fahre, mich da mal raufstelle und mir da den Grunewald angucke, so fahre ich auch nach Kreuzberg, ich mag das auch total gerne, aber wohnen muss ich da nicht. Oder, ja, also prinzipiell ist es, es könnte auch, ich meine Zehlendorf ist ja die andere Richtung, ja Zehlendorf ist total grün, total ruhig, schön, gute Luft, aber dann ist es aber zu ruhig.“45
Auf meine Nachfrage, ob das Multiethnische in Kreuzberg für ihn ein Problem darstelle, fährt Stanislav fort: „Es muss kein Problem sein, aber es stellt Wahrscheinlichkeit dar für Probleme, die ich jetzt gerade einfach nicht möchte. Es ist ein Teil des Reizes genau so wie es ein Teil des Problems ist. Ich weiß nicht, ich bemerk’ einfach teilweise ein starkes Aggressionspotenzial genau so wie ich ein starkes Feierpotenzial bemerke in mediterranen Völkern. Es kann gut sein, es kann schlecht sein, und oftmals ist es einfach schlecht und mit diesem Testosteron von Fahrern von tiefergelegten BMWs kann ich einfach sehr, sehr wenig anfangen, und ich bin auch kein Typ, der sich da immer großartig so wegdrehen könnte, ich würde mal hingucken und mich darüber aufregen, dass da das Radio 25 Dezibel spielt, ich bin ja nicht so: oh, ist doch lustig, ist doch schön, weißt du. Bin ich halt nicht, muss man sich irgendwann mal eingestehen. Und das der Antisemitismus unter arabischen Jugendlichen steigt und ‚Jude‘ einfach mittlerweile Schimpfwort auf deutschen Schulhöfen ist, das steht auf ’nem anderen Blatt, ja, dass ich mir nie so sicher bin mit wem ich eigentlich zu tun habe, nicht das ich das machen würde, aber es ist mein gutes Recht, das ist eine Demokratie und ich kann machen, was ich will. Theoretisch kann ich ein Israelaufkleber an meinen Heck hängen, ist doch nicht absurd, ja. Da müsste ich Angst haben, dass mein BMW abgefackelt, vielleicht nicht abgefackelt, aber einfach Kratzer drinne sind, und alleine das, weiß du, das geht in meinem Kopf rum, das möchte ich nicht. Ich möchte nicht darüber nachdenken, ich möchte mich nicht damit aufhalten. Insofern ist es, glaub’ ich, besser für alle Beteiligten, dass ich Kreuzberg als Naherholungsgebiet betrachte und nicht dahin ziehe.“ 46
44
Greenblatt (1997): Warum Reisen?
45
Interview 31.7.2010.
46
Ebd.
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Den Rahmen für Stanislavs Wahrnehmung von Kreuzberg bildet zu einem Teil der politische Nahostkonflikt. So wie auf dem Territorium der autonomen palästinensischen Gebiete in Israel das offene Bekenntnis zur jüdisch-israelischen Zugehörigkeit nicht ungefährlich sein kann, wird Kreuzberg als ein Raum innerhalb Berlins wahrgenommen, in dem Solidarisierung mit Israel durch sichtbare Symbolik oder Äußerungen aufgrund der hohen Zahl der dort lebenden muslimischen Berliner gemieden werden soll. In Berlin, wo sich die türkisch- und arabischstämmige Bevölkerung stark in einzelnen Stadtteilen wie Kreuzberg, Neukölln oder Wedding konzentriert, wird durch solche Konzentration der Raum geschaffen, in dem junge russischsprachige Juden ihre Solidarität mit Israel bekunden bzw. zu einer solchen Solidarisierung aufgrund von Provokationen verführt werden. Somit lässt sich Kreuzberg einerseits als eine besondere lokale Kulturlandschaft bezeichnen, andererseits ist es aber auch ein globaler Ort, an dem WeltKonflikte wie der Nahostkonflikt oder die Differenzwahrnehmung als europäisch und nicht-europäisch präsent sind. Dank der kulturellen und religiösen Vielfalt, die dort vorzufinden ist, erlaubt die urbane Landschaft Kreuzberg somit eine vielseitige Auslegung und wird als lokal und als global zugleich von meinen Akteuren wahrgenommen. Ein anderes Phänomen, das im Umgang meiner Akteure mit Kreuzberg bemerkenswert ist, ist das Phänomen der „Selbstexotisierung“. Während man in anderen Situationen seine jüdische Identität nicht in den Vordergrund rückt, sondern „ein Deutscher unter Deutschen“ sein möchte, bezeichnet man sich gerade in Kreuzberg mit dessen Vielzahl an türkisch- und arabischstämmigen Bewohnern in erster Linie als Jude und phantasiert darüber, „theoretisch“ einen Israelaufkleber auf den Heck seines Autos anzubringen, um dadurch seine jüdische Herkunft durch die Nationalsymbolik des jüdischen Staates zu visualisieren. Während man sich in Kreuzberg als jüdisch und israelisch zugleich zeigt, ist der Zusammenhang zwischen den beiden Identifizierungen in anderen Kontexten alles andere als selbstverständlich. Wie Stanislav mir im selben Interview später sagte, mag er Israel gar nicht und will dort auch nicht wohnen: „Ich hab keine, ich weiß nicht… ist einfach sehr, sehr laut das Land und sehr heiß, so richtig heiß, Touristenströme“.47 Auch Lena erzählt, dass sie von den häufigen Fragen, was sie über die Politik Israels denke, genervt sei, und behauptet: „Die Politik Israels interessiert mich nicht, und jüdisch und israelisch zu sein sind zwei unterschiedliche Dinge.“48
47
Interview 31.7.2010.
48
Feldnotizen 16.1.2010.
ALS TOURISTEN IN DER EIGENEN STADT | 235
Diese Meinung, dass man nicht notwendigerweise jüdisch und israelisch zugleich sein muss, vertritt auch eine andere Gruppe junger Juden, die in den letzten Jahren Berlin zu ihrer Wahlheimat erklärt haben. Junge Israelis, die Israel verlassen, weil sie die Politik des Staates gegenüber dem palästinensischen Volk nicht mittragen wollen, vergleichen ihr Verhalten mit einer „Revolution. Nur, dass die Revolution sich bei uns in einer Flucht äußert.“ 49 In Berlin angekommen, lassen sich junge Israelis bevorzugt in Kreuzberg und Neukölln nieder, eine Wahl, bei der Solidarität mit der in diesen Vierteln ansässigen muslimischen Bevölkerung eine wichtige Rolle spielt. Auch diese junge Juden machen Kreuzberg und Neukölln zu speziellen kulturellen Landschaften, indem sie an lokalen Orten globale Konflikte wie Nahostkonflikt lösen und eine friedliche Koexistenz zwischen Juden und Muslimen ermöglichen, auch wenn sich diese Nähe lediglich territorial abbildet. Bei der Wahl der Wohngegend distanzieren sich viele Israelis zugleich von Charlottenburg-Wilmersdorf, das von den „bürgerlichen Diasporajuden“ als Residenzbezirk bevorzugt wird. Denn wenn man aus einem jüdischen Staat aufgrund seiner politischen Einstellung flüchtet, ist es nicht das Jüdische, sondern das Multikulturelle, das man in Berlin sucht – eine Mischung an Menschen und Reizen, die Kreuzberg und Neukölln zu bieten haben. In diesem Zusammenhang stellt auch Pavel fest: „Wenn man als Israeli nach Berlin geht, braucht man kein spezifisch jüdisches Leben. Berlin ist sehr vielseitig, multikulturell. Berlin saugt einen ein mit all seinen Angeboten und das, was Berlin an Vielfalt zu bieten hat, ist viel reizvoller als jüdische Partys.“50 Während die Multikulturalität Berlins für junge Israelis einen positiven Reiz darstellt, birgt sie in der Wahrnehmung junger russischsprachiger Juden ein Gewalt- und Aggressionspotenzial in sich. Für Lönia sind Kreuzberg und Neukölln keine Orte, an denen er sich mit seinen Schulfreunden verabredet. Auf meine Frage während unserer Mental Mapping-Sitzung, ob es Gegenden in Berlin gibt, in denen er sich nicht gerne aufhält, gibt er zu: „Ich denke mal, wie viele, gehe ich nicht gerne nach Neukölln. Und auch Kreuzberg ist sehr unbeliebt. Ja und sonst eigentlich tief in den Osten eher nicht. Einfach mal aus dem Grund, erstens mag ich diese Viertel nicht so, es gibt da nichts Interessantes, bzw. weiß ich davon nichts. War auch nie mit meinen Freunden jetzt dort. Haben uns nicht verabredet und gesagt, fahren wir nach Neukölln. Ja, und zweitens, da wohnen halt nicht meine Freunde, die wohnen halt Richtung Charlottenburg. Ich meine, jedes Bezirk hat irgendwie… da wohnen bestimmte Menschen, da gibt’s bestimmte… Ok, die hohe Ausländeran-
49
Gespräch mit Avital, einer jungen Israelin. Feldnotizen 4.11.2010.
50
Mental Mapping-Sitzung 20.6.2010. Übersetzung aus dem Russischen.
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zahl einfach. Das sind zu viele rumpöbelnde Menschen, vor allem nachts, gefährlich. Ja, ich meine jetzt, wie jeder sagen würde, Türken, Araber, aber es gibt auch schon, gut, viele Russen, die sich danebenbenehmen, die sich besaufen und dann rumschreien und so was. Aber jetzt abgesehen davon, dass ich jetzt nur auf Ausländer raufgehe, einfach die Leute dort, ich weiß nicht, gibt bestimmt ’n paar gute, nette, kluge, aber das Klischee ist dort, und was sich auch öfters bestätigt, ist einfach die, die einen dumm anmachen und sich streiten wollen, sehr aggressiv zugehen. Und man denkt, ich hab’ versucht mir einzureden, dass es nur ein Klischee ist, aber das beweist sich ja, wenn man mal länger dort ist.“ 51
In seiner Essaysammlung „Straßen in Berlin“ stellte Siegfried Kracauer bereits in den 1920er und 1930er Jahre für Neukölln einen Krawallcharakter fest, dem er vor allem einen politischen Hintergrund zuschrieb, wenn er behauptete: „Gewiss, es gibt ganze Stadtteile, denen der durchdringende Geruch politischer Krawalle anhaftet; Neukölln etwa oder der Wedding. Ihre Straßen sind von Natur aus Aufmarschstraßen, und auch im Einerlei des Alltags bedarf es keines besonderen Ahnungsvermögens, um zu spüren, daß Arbeiterdemonstrationen für sie ein häufiges Schauspiel sind […].“52
So galten die Neuköllner Straßen schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts für die bürgerlichen Schichten, die sich in Berlin-Charlottenburg oder im grünen Dahlem oder Zehlendorf beheimatet fühlten, als ein gefährliches Terrain. So wie damals Arbeiter als fremd und exotisch wahrgenommen wurden, so sind es heute die Migranten, die diese Rolle übernommen haben. Beide Gruppen erfüllten bzw. erfüllen den Zweck eines Spiegels, in dem man das „Eigene“ durch das Prisma vom „Fremden“ erkennt und sich seiner eigenen moralischen, ökonomischen und kulturellen Werte und Zukunftsvorstellungen rückversichert. Paradox erscheint in Lönias Erzählung die Behauptung, dass er sich einerseits noch nie in Kreuzberg und Neukölln mit Freunden verabredete und die Gegend quasi nur vom Hörensagen kenne, andererseits berichtet er, er fahre nicht dorthin, weil es dort nichts Interessantes zu tun gäbe und nachts sehr gefährlich sei. In dieser Folgerung wird deutlich, dass die Begegnungen zwischen den Reisenden und den Einheimischen durch die vorgefertigten Images vorreguliert sind, die sich als Stereotype und Vorurteile benennen lassen. Herdin und Luger sehen solche Stereotype und Vorurteile als Basisgrundlage, die die interkulturelle Kommunikation zwischen den Touristen und den Einheimischen seit eh und je 51
Mental Mapping-Sitzung 8.1.2010.
52
Kracauer (1987): Straßen in Berlin und anderswo, 27.
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prägen. Entgegen der Behauptung der Welttourismusorganisation, so die beiden Autoren, würde Tourismus nicht zum Abbau von Vorurteilen und Aufbau von Toleranz beitragen, sondern die Ablehnung sogar noch verstärken. Insbesondere kurzzeitige Aufenthalte trügen stark dazu bei, dass die generalisierenden Images, die auf „Minimalformationen“ beruhen, im Laufe der Reise noch stärker verfestigt würden. Denn je schwächer der direkte Kontakt mit der Fremdgruppe sei, desto stärker sei man auf die Erzählungen und Alltagsgespräche mit den Mitgliedern der eigenen Gruppe angewiesen, die dabei die wichtigste Quelle in der Vermittlung von Stereotypen und Vorurteilen bilden.53 Widersprüchlich mögen sich auch die Aussagen von Lönia anhören, dass er einerseits kaum in Neukölln und Kreuzberg unterwegs ist, andererseits seine Bemerkung darüber, dass sich die Klischees leider dann bestätigen, wenn man „länger dort ist“. In seinen Gedanken über das „Fremde“ hebt Waldenfels hervor, dass bei dem „Fremden“ im Gegensatz zum „Verschiedenen“ der Ortsaspekt den Ton angibt, was sich an der Art der Grenzziehung zeigt: „Der Gegensatz zwischen Eigenem und Fremden entspringt keiner bloßen Abgrenzung, sondern einem Prozeß der Ein- und Ausgrenzung. Ich bin dort, wo du nicht sein kannst und umgekehrt. Fremd ist ein Ort, wo ich nicht bin und sein kann und wo ich dennoch in Form dieser Unmöglichkeit bin.“54 Der scheinbare Widerspruch zwischen Lönias Behauptungen bezüglich der Häufigkeit seiner Aufenthalte in Kreuzberg und Neukölln zeigt, dass er diese Gegenden nicht bloß als zu dem, was er kennt, verschieden, sondern tatsächlich als fremd im Sinne von Unzugänglichkeit eines bestimmten Erfahrungs- und Sinnbereiches und der Nichtzugehörigkeit zu einer Gruppe wahrnimmt. In allen oben beschriebenen Fällen trifft die Beobachtung zu, dass meine Akteure es sich aussuchen können, als wer und was sie sich gerade identifizieren. Man wird nicht mehr zwangsläufig in eine Kategorie wie jüdisch oder christlich, israelisch oder russisch, bürgerlich, reich oder arm hineingeboren und hineinsozialisiert. Vielmehr hängt es von Situationen und Kontexten wie Provokationen oder Konkurrenzkämpfe ab, welchen von diesen Kategorien man sich gegenwärtig zuordnet. Im Vergleich zu den randalierenden „Russen“ und aggressiven „Ausländern“ in Kreuzberg und Neukölln tritt die eigene Identifizierung als „Russe“ und „Ausländer“ in den Hintergrund. Tritt ein „Araber“ oder ein „Türke“ einem entgegen, positioniert man sich als „Israeli“, einer jüdischen Forscherin gegenüber wird stattdessen die Aussage vertreten, Israel nicht leiden zu kön53 54
Herdin/Luger (2001): Der eroberte Horizont. Waldenfels (2006): Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, 114. Hervorhebungen im Original.
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nen. Ähnlich verhält es sich mit dem eigenen Jüdischsein: Man ist „jüdisch“, wenn man sich von den „bildungsfernen und rückständigen Türken“ abgrenzen will, aber gegenüber den äthiopischen oder arabischen Juden gibt man sich nicht mehr als „jüdisch“, sondern in erster Linie als „deutsch“. In den urbanen Praxen meiner Akteure lässt sich somit eine Wendung von Zugehörigkeiten zu Zuordnungen beobachten, die für die Gleichzeitigkeit der Differenzierungen und Identifizierungen sorgt und als urbanes Prinzip der Zweiten Moderne bezeichnet werden kann.
K ULINARISCHE G ESCHMACKSLANDSCHAFTEN IN DER O PEN C ITY B ERLIN Während junge russischsprachige Juden die innerstädtischen Berliner Ortsteile wie Kreuzberg, Neukölln und Wedding als potentielle Wohngegenden ablehnen, werden die vielfältigen arabischen und türkischen kulinarischen Angebote dieser Stadtteile als positiv hervorgehoben und gerne und häufig für kulinarische Ausflüge in Anspruch genommen. So erzählt mir Max bei unserer Mental MappingSitzung, dass er die Berliner Stadtteile danach unterscheidet, wo man gut wohnen, feiern oder eben gut essen kann. Während man in Charlottenburg und Wilmersdorf ganz gut wohnen könne, gäbe es in dieser „biederen, langweiligen Gegend“ sonst gar nichts außer der gesunden Infrastruktur: „Du hast halt keine Gangs von Jugendlichen, die Stress machen oder so. Du hast es auch nicht so laut, du hast bestimmte andere Konflikte auch nicht. Aber natürlich, wenn man zum Beispiel essen gehen will, dann muss man schon nach Kreuzberg oder nach Wedding oder nach Neukölln. Ein Freund von mir ist Reformrabbiner und wir essen halt gerne diese türkischen und arabischen Sachen, die kriegst du halt nur in Neukölln und Wedding, damit sie auch gut schmecken.“55
Geht man mit Konrad Köstlin davon aus, dass Geschmack immer ein „kultureller Geschmack“ ist und dieser dementsprechend mit dem „kulturellen Raum“, der „kulturellen Situation“, der „kulturellen Zeit“ und der „kulturellen Technik“ zu tun hat,56 wird an dieser Stelle die Frage relevant, in welchem Zusammenhang Max’ Vorliebe für türkische und arabische Speisen und seine Anmerkung, dass er diese ausgerechnet zusammen mit einem Reformrabbiner gerne isst, zueinan55
Mental Mapping-Sitzung 17.6.2010.
56
Köstlin (1995): Das fremde Essen – das Fremde essen, 225.
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der stehen. Mit dem Verweis auf das Amt seines Freundes hebt Max unverkennbar dessen und sein eigenes Jüdischsein hervor. Dabei nutzt er das Essen als ein Symbol, um einerseits die Verbindung zwischen der türkischen, arabischen und jüdischen Kultur zu demonstrieren, andererseits aber um die eigene kulturelle Andersartigkeit zu definieren.57 Bald nach meinem Interview mit Max ergibt sich die glückliche Gelegenheit, seinen Freund, den Reformrabbiner zu treffen und beobachten zu können, wie sich die erwähnten Ausflüge in die türkischen und arabischen Restaurants in Berlin konkret abspielen. Nach einem gemeinsamen Konzertbesuch in der Berliner Philharmonie ruft Max seinen Freund Olaf Zhuk an. Im Gespräch mit Max stelle ich fest, dass Olaf Zhuk ein ehemaliger Studienkollege von mir, Oleg Zhukowskij, ist, der mit zwölf Jahren mit seiner Familie aus Moskau nach Berlin eingewandert ist und heute am Ende seiner Rabbiner-Ausbildung am liberalen Abraham Geiger Kolleg steht. Am Telefon spricht Max mit Olaf Russisch und erklärt ihm, dass wir gerade in einem Beethovenkonzert gewesen wären. Wir seien zwar zu spät gekommen, aber dieser „Deutsche“, der Türsteher, habe uns trotzdem rein gelassen („etot nemets nas vpustil“). Als Max und ich aus der Philharmonie in der Nähe des Potsdamer Platz herausgehen, laufen wir zum vereinbarten Treffpunkt, die Dunkin’ Donuts Filiale in der Potsdamer Straße. „Same place“ wie Max es am Telefon ausdrückt, lässt darauf schließen, dass beide Männer sich in dieser Ecke öfters treffen. Ich habe Olaf seit mehreren Jahren nicht mehr gesehen und schaue mich in der Menschenmenge rechts und links um in der Hoffnung, ihn wieder zu erkennen. Plötzlich unterbricht Max meine konzentrierte Suche, indem er auf einen vorbeifahrenen beigen BMW deutet. Aus dem offenen Fenster reck sich uns der Lockenkopf von Olaf entgegen und sein Besitzer winkt fröhlich. Ich bin überrascht, denn ich habe nicht damit gerechnet, dass Olaf, der ganz in der Nähe des Potsdamer Platz, am Lützowufer, wohnt, für die kurze Strecke von Zuhause zu unserem Treffpunkt das Auto benutzten würde. Als Max und ich ins Auto einsteigen, gesteht Olaf, dass er großen Hunger hat. Er sei erst vor ein paar Stunden aus Istanbul zurückgekommen und habe seitdem noch nichts Richtiges gegessen. Die Entscheidung, wohin man zum Es57
Bei der Definition des Essens als kulturelles Symbol stützte ich mich auf die Definition von Kultur von Geertz, demnach Kultur ein geordnetes System von Bedeutungen und Symbolen sei, an denen sich die gesellschaftliche Interaktion orientiert. Sie repräsentiert „das Geflecht von Bedeutungen, in denen Menschen ihre Erfahrungen interpretieren und nach denen sie ihr Handeln ausrichten.“ Vgl. Geertz (1983): Dichte Beschreibung, 99. Zum Essen als kulturelles Symbol vgl. auch: Neumann (1993): „Jede Nahrung ist ein Symbol“.
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sen fährt, ist nicht schwer zu fällen: Die beiden jungen Männer sind sich schnell einig: Es soll nach Kreuzberg gehen, zum türkischen Grillhaus Adana in der Manteuffelstraße. Auf meinem Platz auf dem Rücksitz des Autos kann ich mich während der Fahrt zurückziehen und höre den beiden ungestört zu. Das Gespräch läuft jetzt auf Deutsch, wobei immer wieder russische Worte und Redewendungen benutzt werden. Man spricht sich gegenseitig mit „Bruder“ an – ein Wort, das im Hebräischen und Arabischen gleich mit achi übersetzt wird und unter den arabischen Jugendlichen in Neukölln öfters zu hören ist. Dass Max und Olaf mit ihren Ende zwanzig bzw. Anfang dreißig Jahren im Umgang miteinander immer noch den Jugendjargon verwenden, der in der Regel Assoziationen mit Teenagern weckt, deutet darauf hin, dass die Jugendphase heute bis in das vierte Lebensjahrzehnt reichen kann. Als eine solche „postadoleszente Verlängerung der Jugendphase“58 wirkt auf mich auch das Ritual des Vorführens von neuen Uhren und Handys, die Max und Olaf sich gegenseitig stolz präsentieren. Sein neues Handy habe Olaf gerade aus Istanbul mitgebracht. Dort war er auf einer jüdischen Hochzeit eingeladen und erzählt, was ihn am meisten beeindruckt hat: „Der Vater der Braut ist der Kantor in der Synagoge dort. Und zu Schabbat sitzt man bei ihm zu Hause und es gibt koscheres Essen und so, aber nebenbei läuft die Glotze und man telefoniert mit dem Handy und raucht dabei eine. Abgefahren. Und das bei einem Kantor zu Hause. Das sind Sefarden, sie haben ihre eigenen Regeln, so was wie orthodox oder liberal gibt es bei ihnen nicht.“59
Dass die sefardische Tradition der Juden, die bis zu ihrer Vertreibung 1492 und 1531 in Spanien und Portugal lebten, im Gegensatz zu der aschkenasischeuropäischen Tradition mit dem Verbot der Benutzung von Feuer und Elektrizität an Feiertagen freier umgeht, wird von Olaf nicht als Verstoß gegen die Tradition empfunden, sondern toleriert, respektiert und sogar, wie es scheint, bewundert. In gewisser Hinsicht erinnert die sefardische Tradition an die der ehemals sowjetischen Juden: eine Mischung aus traditionell religiösen und unbekümmert areligiösen Elementen lässt sich in der jüdischen Alltagspraxis erkennen. Eine noch größere Begeisterung ist bei Olaf allerdings dann zu bemerken, wenn er anfängt, von dem Essen zu schwärmen, das während der Hochzeit und in den Tagen danach von den Familien des Hochzeitspaars serviert wurde. Er habe vier 58
Ferchhoff (2011): Jugend und Jugendkulturen im 21. Jahrhundert, 95.
59
Diese und weitere Ausführungen in diesem Abschnitt beziehen sich auf die Feldnotizen 22.6.2010.
ALS TOURISTEN IN DER EIGENEN STADT | 241
Tage lang Fleisch, Fleisch und nochmal Fleisch gegessen: eingelegt, gebraten, geschmort oder gegrillt. Eigentlich solle er jetzt auf eine weitere Fleischmahlzeit bei dem Türken in Adana verzichten, aber er sei eben ein leidenschaftlicher Fleischesser und habe nichts dagegen, sein Istanbul-feeling durch dieses türkische Essen um einen weiteren Tag zu verlängern. An dieser Stelle vermischen sich die Erfahrung eines jüdischen religiösen Hochzeitsessens, die Olaf soeben in Istanbul gemacht hat, und die türkische Küche in Berlin-Kreuzberg, die ihm einen nahtlosen Übergang innerhalb seiner hybriden Essenspraxen erlaubt. Beide Städte, Istanbul und Berlin, lassen durch ihren urbanen Charakter zu, dass jüdische und muslimische Stadtbewohner mit ihren sich ähnelnden Essgewohnheiten an einem engen Raum koexistieren und sich ihre jeweiligen Geschmackslandschaften gegenseitig zur Verfügung stellen. Als wir in die Manteuffelstraße abbiegen, sind alle Parkplätze belegt. Obwohl es in den benachbarten Straßen freie Parklücken gibt, drehen wir so lange unsere Runden in der Gegend, bis ein Platz direkt vor dem Adana frei wird. Wir nehmen an einem Tisch auf der Straße Platz, so dass Olaf sein Auto im Blick behalten kann. Zwar hat er keine Israelfahne an seinem BMW festgemacht, sondern eine kleine Nordkoreafahne – in diesen Tagen der Fußball-WM muss sich die eher schwache nordkoreanische Fußballmannschaft gegen die Fußballgiganten wie Brasilien und Portugal behaupten – auch über seine Kippa ist eine Baseballmütze gezogen. Als Jude gibt man sich in Kreuzberg nicht zu erkennen. Trotzdem machen mir seine besorgten Blicke, die er immer wieder Richtung seines Autos wirft und, dass er sich einen Platz am Tisch aussucht, von dem er direkt auf das Auto schauen kann, deutlich, dass ihn ein latentes Gefühl der Bedrohung nicht loslässt, auch wenn er sich dabei unbesorgt zu geben versucht. Während unseres gesamten Abendessens in Kreuzberg wird von beiden jungen Männern Lässigkeit inszeniert. Wenn wir in das Ladeninnere gehen, um uns das Fleisch anzuschauen, das direkt vor unseren Augen auf den Kohlen mitten im Raum gegrillt wird, kommen Max und Olaf mit der türkischen Bedienung in ein lockeres Gespräch. Auch der Kellner wird von ihnen mit „Bruder“ angesprochen, das Fleisch gelobt und bewundert und kurz über die Ergebnisse des Fußballspiels geplaudert. Mit ihrem gesamten Verhalten wollen beide jungen Männer den Eindruck vermitteln, dass sie sich hier wohl und zu Hause fühlen. In einem bestimmten Moment bekommt ihr Umgang mit der türkischen Bedienung sogar einen familiären touch. Wenn Olaf einen Kommentar über das gute Fleisch abgibt, klopft er dabei den Kellner leicht auf den Bauch. In dieser Handlung wird die von Waldenfels beschriebene „hautnahe Berührung“ verkörpert, ein enger Kontakt, der allerdings nicht besagt, dass der Abstand zwischen zwei Fremden gegen Null geht, sondern dass wir in dem Moment das Unfassbare und das Un-
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antastbare berühren, das dadurch an seiner Fremdheit nicht einbüßt. 60 Gerade die sichtbare, inszenierte Mühe, die Olaf und Max sich geben, um nicht als Fremde oder als Touristen aufzufallen, die sich nur für das Menü und die Preisliste interessieren, sondern als diejenigen, die auch am Alltag der Einheimischen, in diesem Fall der türkischen Bedienung, teilnehmen, lässt ihr Verhalten als „kontrollierte Fremdaneignung“ wirken. Auch wenn dieser Ausflug nach Kreuzberg kein Ausflug in ein fernes Land ist, lässt er sich in mehrfacher Hinsicht als ein touristischer Ausflug betrachten. Dabei ist der unmittelbare Vergleich mit Istanbul, den Olaf in Bezug auf das Essen macht, nur ein Indikator dafür, dass Kreuzberg als etwas „Fernes“ und somit auch „Fremdes“ wahrgenommen wird. Die Assoziation und die Reduktion von Kreuzberg mit bzw. auf das gute Essen lässt auf diesen Stadtteil die Definition für Tourismus von Claude Kaspar anwenden, bei dieser Aktivität handele es sich um die „Gesamtheit der Beziehungen und Erscheinungen, die sich aus der Reise und dem Aufenthalt von Personen ergeben, für die der Aufenthaltsort weder hauptsächlicher und dauernder Wohn- noch Arbeitsort ist.“61 Betrachtet man die Geschichte des Reisens mit Greenblatt außerdem als „die Geschichte der gewollten und kontrollierten Entfremdung“62, erscheint das Vorfahren mit dem Auto als ein Zeichen dafür, dass man die Begegnung mit dem „Fremden“ als eine „kontrollierte Begegnung“ gestalten will. Dabei kann der Wunsch nach individueller Planung, den Mörth als einen „Faktor der xenophoben Variante“ des Umgangs mit dem bedrohlichen „Fremden“ und somit als „Kontrolle durch Exklusion“ bezeichnet,63 schnell verwirklicht werden, indem man jederzeit wieder ins Auto einsteigt und die Gegend verlässt, was auch in Dinas Erzählung über den Wedding deutlich wird: „Ich war schon häufiger in Wedding, weil Wedding an Charlottenburg grenzt. Da kann man gut essen, also ich mag da gerne essen, aber viel mehr als essen will ich da nicht. Ich finde Wedding schlimm, ich will da niemals hinziehen. Du hast dort nur Burka, ich will nicht mit solchen Menschen Seite an Seite wohnen. Ich würde da auch nicht spazierengehen. Ich steige aus dem Auto, gehe zum Libanesen, steige wieder ein und fahre zurück nach Charlottenburg.“64
60
Waldenfels (2006): Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, 116.
61
Kaspar (1975): Die Fremdenverkehrslehre im Grundriss, 13.
62
Greenblatt (1997): Warum Reisen?
63
Mörth (2004): Fremdheit, wohldosiert.
64
Feldnotizen 5.6.2010.
ALS TOURISTEN IN DER EIGENEN STADT | 243
Allerdings würde diese Interpretation in die Irre führen, würde man die Analyse der Ausflüge junger russischsprachiger Juden nach Kreuzberg oder Wedding allein bei der Distanzierung und Abgrenzung von den anderen zwecks Aushandlung eigener Identifizierung belassen. Denn nicht zu übersehen ist, dass während man einerseits Angst um seinen BMW hat, wirkt das Essen andererseits verbindend. Denn die besten Falafel, behauptet Olaf, gebe es nur in Kreuzberg und Wedding, und der beste Humus, den er bisher in Berlin gegessen habe, bekomme man beim Palästinenser in der Neuköllner Sonnenallee. Dabei werden Falafel und Humus im Diskurs über Essenstraditionen seit den späten 1940er Jahren nicht nur, wie es seit Jahrzehnten der Fall war, mit dem arabischen Sprachraum in Verbindung gebracht. Seit der Gründung des Staates Israel sind die beiden bekanntesten Kichererbsen-Gerichte der nahöstlichen Küche außerdem zum Symbol der nationalen Identität der Israelis geworden und somit auch zum jüdischen Essen schlechthin auch außerhalb Israels. Daher wird eine Essenskontroverse um die kulturelle und regionale Urheberschaft beider Gerichte heute von dem arabisch-israelischen politischen Konflikt umrahmt.65 In Berlin, wo man die jüdischen Humus- und Falafelhändler an zehn Fingern abzählen kann, die arabischen stattdessen in bestimmten Gegenden praktisch an jeder Ecke zu finden sind, verliert die erwähnte nationale Essenskontroverse ihre Wirkungskraft. Die Möglichkeit einer direkten Begegnung mit der arabischen und türkischen Küche, die in Israel in einer solchen Selbstverständlichkeit unmöglich wäre, trägt dazu bei, dass die strikte Dichotomie zwischen dem „Eigenen“ und dem „Fremden“ aufgehoben wird. Die beiden Zuordnungsformen treten nicht wie Monaden einander gegenüber, sondern ergeben eine Verflechtung, die durch die spezifische geokulturelle Verteilung der Berliner Bevölkerung möglich wird. 66 Wenn man dazu den Charakter Berlins durch seine Großstadt-Natur definiert und als einen Raum begreift, in dem viele ethnische und kulturelle Gruppen dicht nebeneinander und in einem engen Kontakt miteinander leben,67 lässt sich das „typisch jüdische Essen“ mit einem urbanen Lebensstil gleichsetzen. Das, was etwa in New York mit dessen Vielfalt an jüdischen Restaurantangeboten einen folkloristischen jüdischen Charakter beibehält, kann in Berlin nur vor dem Hintergrund der arabischen und türkischen Küche gedacht und gegessen werden. Wenn Juden Restaurants verschiedener muslimischer Essenstraditionen besuchen, bleiben die Ähnlichkeiten, die man dabei feststellt, nicht allein auf Hu65
Raviv (2010): Falafel. Ein umstrittenes Nationalgericht.
66
Gegen die Dichotomisierung vom „Eigenen“ und „Fremden“ plädiert Waldenfels in: Waldenfels (2006): Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden.
67
Vgl. Wirth (2002): Urbanism As a Way of Life.
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mus und Falafel reduziert. Eine weitere Gemeinsamkeit stellt der Verzicht auf Schweinefleisch sowie das Verbot des Blutverzehrs dar. Das Blutverbot führt dazu, dass die beiden Schlachtrituale, die traditionelle jüdische Schechita und das muslimische Dhab, trotz der vielen Unterschiede auch viel gemeinsam haben und oft unter den Begriffen Schächten oder rituelles Schlachten zusammengefasst werden. Bei diesem Schlachtritual werden bei einem Tier ohne Betäubung mit einem Schnitt durch die Kehle die Luft- und Speiseröhre zusammen mit den Schlagadern durchtrennt, so dass das Blut am schnellsten und sichersten auslaufen kann.68 So ist auch bekannt, dass in der Zeit zwischen 1995 und 2002, als Muslimen in Deutschland das Schächten, im Gegensatz zu den Juden, verboten war, manche ihr Fleisch bei jüdischen Metzgern kauften.69 Die religiös begründeten Essensverbote und -gebote werden auch an jenem Abend thematisiert, an dem sich Dina, Vlad und ich in einem Weddinger libanesischen Restaurant treffen, das Dina als eins ihrer Lieblingsrestaurants bezeichnet. Ihre Vorliebe begründet sie einerseits durch die entsprechende geographische Lage, andererseits durch die dortige Speisewahl: „Wedding grenzt an Charlottenburg und deswegen bin ich mit dem Auto ganz schnell hier. Und da ich kein Schweinefleisch esse, muss ich mir hier nicht den Kopf darüber zerbrechen, für welche Speise ich mich entscheide.“70 Nachdem wir bestellt haben, entwickelt sich beim Essen folgender Dialog zwischen Dina und Vlad: Dina:
„Ich esse zwar kein Schweinefleisch, aber ich beachte keine weiteren jüdischen Essensvorschriften.“
Vlad:
„Echt nicht? Ich schon. Meine Küche ist koscher. Ich trenne Milchiges und Fleischiges.“
Dina:
„Tatsächlich? Und hast du auch zwei Kühlschränke?“
Vlad:
„Nein, das kann ich mir nicht leisten. Ich habe auch nur ein Geschirrhandtuch. Aber ich finde, dass man zumindest etwas machen muss, sonst geht die Tradition ganz verloren.”
Dina:
„Das machst du bestimmt, um Mädchen zu beeindrucken. Wenn du sagst, dass du eine koschere Küche führst, sind sie ganz angetan. Ich habe auch versucht, meinen Freund dazu zu bewegen, aber er will auf seine Salamiwurst nicht verzichten. Ich esse kein Schweinefleisch, aber sonst beachte ich nichts weiter. Ich fühle mich auch so jüdisch, ich muss dazu keine religiösen Vorschriften beachten.“
68
Lavi (2010): Der blutige Schnitt, 87.
69
Ebd., 94.
70
Feldnotizen 24.5.2010.
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Vlad:
„Ich habe mit der koscheren Küche angefangen, als ich von Zuhause ausgezogen bin. Und ich musste feststellen, dass es gar kein großer Aufwand ist. Und Menschen, die es nicht kennen, akzeptieren es sehr leicht, wenn ich Besuch habe. Ich habe in Berlin damit angefangen. Bevor ich nach Berlin gezogen bin, hatte ich gar kein jüdisches Leben gehabt.“71
Dass Dina mit ihrer Vermutung, Vlad wolle mit seiner koscheren Küche „Mädchen beeindrucken“, nicht ganz falsch liegt, zeigt sich bei unserem folgenden Restaurantbesuch in einem argentinischen Steakhaus am Kurfürstendamm. Vlad möchte sein Steak well done haben, denn Blut gilt im Judentum als der „Sitz des Lebens“ und ist daher Tabu. Zum Fleisch bekommt er Pommes und ein Stück leicht angebräuntes Baguette, das mit einer dünnen Schicht Butter bedeckt ist. Als Dina ihn darauf anspricht, dass er gerade dabei ist, Fleisch und Milch entgegen der Kaschrut-Vorschriften miteinander zu vermischen, entgegnet Vlad, dass ein Stück Pommes zwischen dem fleischigen Steak und dem milchigen Baguette für die nötige Trennschicht sorge, so dass er das Trennungsgebot nicht brechen wird. Eine solche Interpretation einer der zentralen jüdischen Essensvorschriften geht weit über traditionelle Glaubenspraxis hinaus. Denn sowohl nach der orthodoxen, als auch nach der liberalen Auslegung der jüdischen Tradition müssen zwei bis sechs Stunden Zeit verstrichen sein, ehe man nach dem Fleisch- bzw. Milchverzehr die jeweils andere Speise zu sich nehmen darf. Die religiösen Grundsätze, Dogmen und Vorschriften, wie diese von den Autoritäten diverser jüdischer Glaubensrichtungen vorgelebt werden, haben für Vlad keine Definitionsmacht. Vielmehr lässt er sich in seiner rituellen Glaubenspraxis von individuellen Entscheidungen leiten und legt die jüdischen Speisegesetze kreativ aus. Dabei ist Vlads Kreativität im Umgang mit den religiösen jüdischen Speisevorschriften nicht willkürlich, sondern wird von einem anderen Prinzip geleitet, nämlich dem Prinzip der Urbanität. In Berlin, wo es wenig koschere, stattdessen aber sehr viele türkische und libanesische, argentinische und japanische Restaurants gibt, kreiert man seine eigenen Gesetze, die es einem ermöglichen, an kulinarischen Angeboten der Stadt teilzunehmen und gleichzeitig die religiösen Essensvorschriften nicht zu brechen. Dabei entsteht eine urbane jüdische Essenstradition, die von einer Kompromissbereitschaft geleitet wird, und die man als koscher-light bezeichnen kann. Signifikant ist bei diesem kreativen Prozess die Beobachtung, dass nicht der Lebensstil sich der Religion unterordnet, sondern umgekehrt sich die Religion an einen Lebensstil anpasst, der an erster Stelle urban, und erst dann als jüdisch bezeichnet werden kann. Noch einmal wird hier 71
Feldnotizen 24.5.2010.
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der Paradigmenwechsel von Zugehörigkeiten zu Zuordnungen deutlich, der in der Zweiten Moderne zu beobachten ist: Man lebt nicht mehr das Jüdischsein, in das man hineingeboren und -sozialisiert ist, vielmehr wird das eigene Jüdischsein zu einem (urbanen) Lebensstil, den man sich je nach Kontext, Situation und Neigung kreativ schafft. Darauf, dass das Jüdischsein in Berlin nicht mehr als vorrangig primordial definiert wird, deutet auch die Aussage von Bella Zchwiraschwili, der Veranstalterin eines Koscherfestes im Chabad-Zentrum, dass „koschere Küche längst nicht nur für Juden interessant ist, sondern zunehmend auch ein nicht-jüdisches Publikum anzieht. ‚Veganer und Gesundheitsbewusste kochen verstärkt koscher, weil dabei die hygienischen Standards besonders hoch sind‘, sagt sie.“72 Dass es sich im postmodernen Berlin von den sogenannten „Neigungsjuden“ sprechen lässt, das heißt von Menschen, die weder jüdischer Abstammung sind, noch die jüdische Glaubenspraxis verfolgen, sondern allein die jüdischen Speisegesetze aus gesundheitlichen Gründen in ihr Leben übernehmen, lässt behaupten, dass sich heute die Zuordnungen „jüdisch“ und „urban“ gleichsetzen lassen und sich ein kreativer Umgang mit Religionsvorschriften abzeichnet. Eine ähnliche Entwicklung, die auf eine Ablösung von dem mechanischen Charakter der religiösen Grundsätze deutet und als Individualisierung der religiösen Praxis begriffen wird, lässt sich auch bei der zweiten Generation der türkischen Einwanderer in Deutschland und in Berlin beobachten. Nikola Tietze macht in ihrer Arbeit über Formen muslimischer Religiosität junger Männer in Deutschland und Frankreich am Beispiel des Ramadan deutlich, dass die Praxis des täglichen Fastens bei der jungen Generation der muslimischen Einwanderer freier gestaltet und von den strengen religiösen Vorschriften losgelöst ist. So fastet man nicht unbedingt einen ganzen Monat lang, sondern zum Beispiel nur am Wochenende, oder man verzichtet während der Fastenzeit zwar auf das Essen, nicht aber auf das Trinken.73 Auch stellt Yasemin Karakaşoğlu-Aydin in ihrer Studie über junge türkische Migrantinnen in Deutschland fest, dass sich neue Formen der religiösen Glaubenspraxis entwickeln, die sich in ihrer Flexibilität nach individuellen Bedürfnissen und Lebensumständen der jungen Einwanderergeneration richten.74 Somit lässt sich auch bei jungen Muslimen ein kreativer Umgang mit der religiösen Glaubenspraxis beobachten, der das Muslimischsein 72
Itzek (2012): Sushi-Algen nach den Gesetzen der Thora.
73
Tietze (2001): Islamische Identitäten, 119f.
74
Karakaşoğlu-Aydin (2000): Studentinnen türkischer Herkunft an deutschen Universitäten. Zusammenfassend über die neuen Formen der Religiosität unter Migranten in Deutschland vgl. auch Beck-Gernsheim (2007): Wir und die Anderen, 19–50.
ALS TOURISTEN IN DER EIGENEN STADT | 247
heute nicht mehr strikt an die „Tradition der Vorväter“ knüpft, sondern zu einem selbstbestimmten Lebensstil macht. Dabei sind die neuen Konstruktionen von Zuordnungen weniger an eine Nation, eine Religion oder eine Familientradition, sondern vielmehr an einen urbanen Raum gebunden, wie Ayşe Çağlar für die türkischen Jugendlichen in Berlin feststellt.75 Während sowohl junge türkischsprachige Muslime, als auch junge russischsprachige Juden nach neuen Formen der Religionspraxis suchen, indem sie sich von der Generation ihrer Eltern und Großeltern absetzen, schlagen beide Gruppen in ihrer Distanzierung von den „Vorvätern“ unterschiedliche Richtungen ein. Anders als bei den Eltern und Großeltern türkischstämmiger Jugendlicher, ist die Lebenspraxis älterer jüdischer Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion in der Regel nicht durch den religiösen Glauben gekennzeichnet, sondern lässt sich vielmehr durch die Entfremdung von der jüdischen traditionellen Glaubenspraxis charakterisieren.76 Wenn ihre Kinder und Enkelkinder in Deutschland die jüdische Tradition für sich wiederentdecken, so ist das eine Entwicklung nicht, wie bei den muslimischen Jugendlichen, weg von der Religion, sondern hin zur Religion. Die Tatsache, dass in beiden Fällen die neuen Formen der religiösen Praxis, die die jungen Migranten für sich reklamieren, durch Flexibilisierung und Individualisierung gekennzeichnet sind, ist auf den urbanen Kontext zurückzuführen, der durch seine Freiheit und Vielfalt an Handlungsmöglichkeiten neue Formen von Identifizierungen zulässt.77 Somit zeigt sich Berlin als ein offener Stadtraum, der neue, andere, transformierte und hybride Formen der Traditionsauslegung erlaubt und einfordert. 75
Çağlar (2001): Stigmatisierende Metaphern und die Transnationalisierung sozialer
76
Vgl. Gitelman (2009): Introduction: Jewish Religion, Jewish Ethnicity, 1.
77
Als ein Spezialfall in Bereich der „neuen“ Formen der Religiosität kann die ultraor-
Räume, 341.
thodoxe Lauder Foundation in Berlin-Prenzlauer Berg bezeichnet werden. Ihre Mitglieder sind hauptsächlich Kinder der säkularen russischsprachigen Einwanderer, die sich in ihrer Suche nach einer religiösen Lebensweise der traditionellen, orthodoxen Form des Judentums zugewandt haben. Im Unterschied zu den Akteuren meiner Studie ist die religiös-jüdische Praxis der Lauder-Mitglieder nicht durch Individualisierung, sondern durch die Rückkehr zur autoritären Glaubensformen gekennzeichnet. Ihr soziales Leben bleibt hauptsächlich in den jüdischen Einrichtungen und jüdisch-orthodoxen Familien aus dem Umkreis der Lauder Foundation konzentriert, so dass man in diesem Falle von einem geschlossenen Universum innerhalb der urbanen Strukturen sprechen kann. Vgl. dazu Josties (2010): Gelebtes streng-orthodoxes Judentum in Berlin-Prenzlauer Berg.
248 | GENERATION „KOSCHER LIGHT“
Wie Soysal im Zusammenhang mit urbanen Praxen der zweiten Generation muslimischer Einwanderer in Berlin feststellt: „Open City Berlin underwrites utopias and dystopias, past and present, invoking a thematic spectrum of diversity, pluralism, tolerance, and racism.“78 Trotz der gegenseitigen Abgrenzungs- und Konkurrenzpraktiken lässt sich sowohl bei jungen arabisch- und türkischstämmigen Muslimen als auch bei jungen russischsprachigen Juden eine gemeinsame, urbane Entwicklung beobachten: Berlin wird für sie zum Kompromissort, an dem sich das Religiöse an dem Urbanen ausrichtet und nicht umgekehrt. Je nachdem, wo und mit wem man sich gerade befindet, handelt man den Grad seiner Religiosität immer wieder neu aus: In einem türkischen Restaurant, ist man ein Jude, der die Kaschrut-Gesetze beachtet; in einem argentinischen Steakhaus wird eine Abweichung von den religiösen Speisegesetzen à la koscher-light in Kauf genommen; möchte man jemanden beeindrucken, wird mit dem eigenen koscheren Haushalt angegeben, auch wenn sich dieser bei einer näheren Betrachtung als „kreativ-koscher“ und nicht „glatt-koscher“ entpuppt. Dasselbe Phänomen der Kompromissbereitschaft lässt sich bei dem arabischen Pizzabäcker in der Friedrichstraße unweit des Jüdischen Museum Berlin beobachten, der in seinem Schaufenster neben der Aufschrift „halal“ seit einiger Zeit auch „koscher“ angebracht hat, um den vorbeiziehenden Besuchern des Jüdischen Museums, ob jüdisch oder nicht-jüdisch, das Essen in seinem Lokal schmackhaft zu machen. Nähert man sich also der Religion und Ethnizität primär aus der Stadtperspektive und wählt nicht umgekehrt eine ethnisch-religiöse Sicht auf die Stadt, so wird deutlich, wie die Urbanität auf die religiös-ethnischen Praxen meiner Akteure abfärbt und diese somit zu urbanen Praxen transformiert.
J ÜDISCHE „G HETTO -T OURS “ Wenn ich mich mit meinen Akteuren über die Gegenden in Berlin unterhielt, die in ihrem Alltag eine wichtige Rolle spielten, fragte ich sie nicht nur danach, wo sie sich oft und gerne aufhielten, sondern stets auch danach, welche Umgebung sie weniger oft frequentierten bzw. wo sie niemals hingingen. Dabei ließ ich mich von der Annahme leiten, dass die Orte, die man nicht mag oder an denen man nicht ist, über die eigene Stadtwahrnehmung genau so viel aussagen wie die favorisierten Stadtgegenden. So ging ich mit Utz Jeggle davon aus, das Fremde sei „im Grunde nur ein Schatten einer Imagination, eine Art Brunnen, auf dessen Oberfläche man sich selbst sieht und in dessen Tiefe man noch mehr von sich 78
Soysal (2002): Beyond the „Second Generation“, 126.
ALS TOURISTEN IN DER EIGENEN STADT | 249
verborgen ahnt.“79 Aus den gesammelten Karten und Erzählungen meiner Akteure lässt sich schließen, dass während die innerstädtischen Ortsteile wie Kreuzberg, Neukölln und Wedding die Gegenden sind, die von der Mehrheit meiner Interviewpartner entweder im Rahmen des Essenstourismus oder auf der Suche nach Abwechslung von eigenem Alltag ab und zu besucht werden, bleiben die östlichen Randbezirke Berlins wie Marzahn-Hellersdorf und LichtenbergHohenschönhausen für alle ohne Ausnahme eine ultimative no-go area, in die man sich höchstens als Gruppe traut. Zum ersten Mal findet Marzahn mir gegenüber in einem Interview mit Stanislav eine Erwähnung. Nachdem Stanislav diverse Berliner Bezirke mit ihren Vorteilen und Nachteilen für unterschiedliche Lebensstadien eines „Gemeinberliners“ malerisch beschrieben hatte, frage ich ihn, welche Erfahrungen er persönlich mit einzelnen Berliner Ortsteilen gemacht habe, woraufhin er nachdenklich antwortet: „Ach so, na ja, gut. Denn das eine ist, ob man selbst da gelebt hat, das andere ob man dort schon mal war, und das dritte ist ja ob man nur ’ne Meinung dazu hat und da nicht mal war. Weil ich meine, in meinem Leben war ich in Marzahn auch nur viermal wahrscheinlich und auch nur durchgefahren.“80
Bemerkenswerterweise spricht Stanislav an dieser Stelle eine der zentralen Fragen der ethnologischen und kulturwissenschaftlichen Forschung an, nämlich die Frage danach, in welcher Relation unterschiedliche Wissensformen zueinanderstehen: Das Wissen, das aus der eigenen Erfahrung resultiert, und das Wissen, das man aus der Kommunikation mit anderen erworben hat. Denn während die Eigenerfahrung uns eine Chance bietet, durch einen direkten Kontakt mit Ortsbewohnern mit verfestigten Stereotypen und Vorurteilen zu brechen, werden Gespräche über die „Fremden“ mit Mitgliedern der eigenen Gruppe von Herdin und Luger in deren Forschung über Tourismus und interkulturelle Kommunikation als die wichtigste Quelle in der Vermittlung und Verfestigung von Vorurteilen erkannt. So bilden die Erzählungen und Alltagsgespräche die Grundlage für die auf negativen Einstellungen basierenden, generalisierenden und nur auf „Minimalformationen“ beruhenden Urteile über Personen oder Personengruppen, die in vielen Fällen den direkten Kontakt mit der „Fremdgruppe“ ersetzen. 81 Als Max mir über seine Ausflüge in den Osten Berlins berichtet, wird deutlich, dass 79
Jeggle (1987): Das Fremde im Eigenen – Ansichten der Volkskunde, 14.
80
Interview 31.7.2010.
81
Herdin/Luger (2001): Der eroberte Horizont, 8f.
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er sich bei diesen Reisen von bereits verfestigten Bildern über die dortigen Einwohnerstrukturen leiten lässt: „Also, ich bin in Berlin überall eigentlich bis auf… Obwohl ab und zu sind wir extra nach Hohenschönhausen und Marzahn und so gefahren, wir haben das ‚Ghetto-Tours‘ genannt, um zu gucken, wie Leute dort so leben, das bietet ja die Stadt, glaub’ ich, auch an, solche Touren, nur das heißt dann ein bisschen anders. Wir haben schon geguckt und uns hingesetzt und so weiter.“82
In der Bezeichnung „Ghetto-Tours“ wird die sprachlich verfestigte Diskriminierung deutlich, die Herdin und Luger als die stärkste Form des herabwürdigenden Umgangs mit dem Unbekannten und dem als „fremd“ Apostrophierten erkennen.83 Der Terminus „Ghetto-Tour“ wird zum Codewort, wenn man sich untereinander über ein mögliches Reiseziel verständigen möchte, ohne den Zielort namentlich erwähnen zu müssen. Von einem Juden verwendet, mag der Begriff Ghetto in diesem Zusammenhang etwas makaber anmuten. Der ursprünglich für jüdische Viertel reservierte Ghetto-Begriff als Bezeichnung eines Stadtviertels, in dem soziale Randgruppen ihr Dasein in Armut und Arbeitslosigkeit fristen, lässt sich im Kontext der aus den USA stammenden Diskurses über die urbane Ghettoisierung mit Beispielen wie die New Yorker Bronx und Harlem, aber auch „Chinatown“ oder „Little Italy“ verorten. 84 Wenn Max den Terminus „Ghetto“ in dieser übertragenen, in dem urbanen Kontext geprägten Bedeutung benutzt, lässt sich diese Wortwahl auf seine Eigenzuordnung als Großstadtbewohner schließen. Die als „Ghetto-Tours“ betitelten Ausflüge nach Marzahn-Hellersdorf lassen sich auch als negative sightseeing charakterisieren. Dieser relativ neue analytische Terminus der Tourismusforschung wurde von Dean MacCannell geprägt und am Beispiel des Harlem-Tourismus exemplifiziert. Negative sightseeing wird als Umkehrbegriff zum positive sightseeing entwickelt und meint damit die Formen touristischer Repräsentation, die Abscheu und Schrecken – im Gegensatz zur Bewunderung von Sehenswürdigkeiten – hervorrufen. Als Grundlage für den Terminus dient der Begriff slumming, der an den Beispielen vom Dritte
82
Mental Mapping-Sitzung 17.6.2010.
83
Herdin/Luger (2001): Der eroberte Horizont.
84
Zur Diskussion über die „urbanen Ghettos“ als touristische Ziele siehe Conforti (1996): Ghettos as Tourism Attractions; zu Harlem als touristische Attraktion vgl. Welz (1994): Migration und Lebensstil.
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Welt-Tourismus herausgearbeitet wurde. 85 Gisela Welz bemerkt, dass gemessen an den Dritte Welt-Beispielen sich gerade die „weniger extremen und damit weniger eindeutigen Fälle eines Slum-Tourismus in der eigenen Kultur […] nämlich auch die subtilen Zwischentöne der exotistischen Projektionen, auf denen der Slumtourismus aufbaut und denen eine gedachte Korrespondenz von Armut und Fremdheit zugrunde liegt“ erfassen lassen.86 In diesem Zusammenhang stellt auch Conforti in seiner Analyse der „Touristifizierung“ von dem New Yorker „Little Italy“ fest, dass die New Yorker Reiseunternehmen versuchen, das archaische Bild von „Little Italy“, wo heute kaum bis gar keine Italo-Amerikaner mehr leben, immer noch als „das Reich der Mafia“ zu vermarkten. 87 Dabei bietet ein solches mit der potentiellen Gefahr verbundenes Image den nötigen Faszinationsgrad und vermittelt die erforderliche soziale Distanz, die es uns ermöglicht, das Viertel als „kulturell fremd“ zu begreifen und es daher als für eine Reise lohnenswert einzustufen. Der Verweis von Max, die Stadt Berlin biete auch solche Reisetouren nach Marzahn an, lässt ahnen, dass seine Wahrnehmung von Marzahn als eine Enklave, deren Bewohner durch ihre Verweigerung der Integration in das städtische Leben und die soziale Randständigkeit gekennzeichnet sind, durch mediale Bilder mitgeprägt ist. Beispielhaft für solche Images lässt sich die Ankündigung in der taz mit dem nicht uneindeutigen Titel „Kulturschock“ anführen, in dem für einen Ausflug nach Marzahn-Hellersdorf geworben wird: „Marzahn-Hellersdorf ist in Berlin so ungefähr das, was der mittlere Westen für die USA darstellt: Flyover Country. Wenn überhaupt, dann nur im Vorbeifahren zu sehen und ansonsten Land der Mythen; Knorrige Ossis und ihre gewaltbereiten jugendlichen Kinder sind die dort lebenden Fabelwesen. An diesem Wochenende nun soll mit einem aufwändigen Programm der kultour à la carte gezeigt werden, dass durchaus zivilisiertes Leben östlich von Lichtenberg zu finden ist.“ 88
In dieser Beschreibung wird Marzahn-Hellersdorf zu einer unbekannten und fremden Gegend stilisiert und gleichzeitig als „Land der Mythen“ exotisiert. Dabei gehen die medial produzierte Kriminalisierung und die Exotisierung des Ostberliner Stadtbezirks Hand in Hand und versprechen den Besuchern einen Nervenkitzel, der aus der potentiellen Gefahr und der „kontrollierten Konfrontation“ 85
MacCannell (1976): The Tourist.
86
Welz (1993): Slum als Sehenswürdigkeit, 39.
87
Conforti (1996): Ghettos as Tourism Attractions, 837–839.
88
o.V. (2011): Kulturschock. Hervorhebung im Original.
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mit Elend und Armut resultiert – eine „Begegnung distanziert-genüsslicher Art“, die Gisela Welz zum „kulturellen Repertoire der Postmoderne“89 erklärt. Ähnlich wie Welz für den Harlem-Tourismus feststellt, unterliegen auch im Kontext der Reisen in die Ostberliner Ortsteile „Armut und die kulturellen Praxisformen, die von Bevölkerungsgruppen als Reaktion auf gesellschaftliche Unter- und Deprivilegierung entwickelt werden, […] einer Ver-Fremdung, das heißt sie werden als kulturelle Fremdheit gedeutet und als Exotik konsumiert.“90 Hat man bestimmte, von den Medien dramatisch aufbereitete Szenen von vermeintlich gescheiterter sozialer Integration und rassistischer Gewalt der lokalen Bewohner verinnerlicht, sind die dadurch entstandenen Stereotype nur schwer korrigierbar. Hier findet das psychologische Phänomen seinen Widerhall, man möge sich in seinen vor der Begegnung mit dem „Fremden“ verfestigten Bildern während der eigentlichen Begegnung eher bestätigt sehen, als dass man sich deren Widerlegung erhofft. Wenn man bedenkt, dass das medial erzeugte Negativimage von Marzahn-Hellersdorf sich von den tatsächlichen Verhältnissen dort deutlich unterscheidet und, dass das Leben in der Stadt ohnehin in viel kleineren Einheiten organisiert ist,91 kann man nur durch eine persönliche Begegnung mit den Bewohnern deren jeweilige soziale Praxis erkunden. Sich hinsetzen und hinschauen allein, wie Max seine Ausflüge nach Marzahn beschreibt, ohne in einen direkten Kontakt mit den Marzahnern zu kommen, birgt in sich die Gefahr, dass sich die mitgebrachten Vorurteile und Stereotypen dabei noch mehr verfestigen. In dem medialen Diskurs über das Gewaltpotenzial auf den Straßen von Marzahn-Hellersdorf findet neben der Gruppe der „resignierten“ und „abgehängten“ einheimischen Ostberlinern auch die Gruppe der russischsprachigen Spätaussiedler Erwähnung.92 Die vor allem aus Russland und Kasachstan eingewanderten Deutschstämmigen, die sich neben dem Westberliner Bezirk Spandau vor allem in den Ostberliner Stadtteilen wie Marzahn und Hellersdorf konzentrieren, bilden den größten Anteil unter den russischsprachigen Einwanderern, die heute in Berlin leben. Wegen der gemeinsamen Sprache werden beide Einwanderergruppen, die Juden und die ethnischen Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion, im Volksmund häufig verallgemeinernd als „Russen“ betitelt. Während jüdische Migranten und die meist protestantischen Spätaussiedler, die nicht nur in religiöser, sondern auch in kultureller Hinsicht oft unterschiedliche Lebens89
Welz (1994): Migration und Lebensstil, 143.
90
Ebd., 144.
91
Vgl. dazu Holert/Terkessidis (2006): Fliehkraft, 216f.
92
Siehe exempl.: o.V. (2008): Russlanddeutsche überfallen drei Jugendliche.
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haltungen vertreten, in der Sowjetunion selten die Gelegenheit zu einer intensiven Begegnung miteinander hatten, leben sie in Berlin in einem engen Stadtraum dicht beieinander. In ihren Forschungen stellen einige Ethnologen fest, dass erst die Migration nach Deutschland bzw. die zwangsläufige gegenseitige Abgrenzung beider Gruppen in dem Berliner Stadtraum ihre jeweilige Identität als Gruppe überhaupt prägt.93 Dieses auf der gegenseitigen Abgrenzung basierende „Wir-Gefühl“ wird außerdem durch die deutsche Einwanderungspolitik gefördert, deren Gesetze den Spätaussiedlern aufgrund ihrer deutschen ethnischen Zugehörigkeit die Staatsbürgerschaft binnen sechs Monaten einräumen, während die jüdischen Einwanderer im Schnitt sieben Jahre auf ihre Einbürgerung warten müssen.94 Alle diese Faktoren tragen dazu bei, dass sich gegenseitige Stereotypen, Vorurteile und Grenzziehungen herausbilden, die in den Äußerungen meiner Akteure über Marzahn-Hellersdorf zur Sprache kommen. Beispielhaft dafür steht der schockierte Ausruf von Dina, die auf meine Überlegung, einen Job als Jugendsozialarbeiterin in der Marzahner Stelle des Internationalen Bundes anzunehmen, nahezu empört reagiert: „Aber das würdest du nicht wirklich tun, oder?! Da musst du ja viel mit Russlanddeutschen arbeiten. Und die sind doch so furchtbar unerträglich, sie sind unerzogen und kriminell! Ich würde es an deiner Stelle niemals tun.“95 Auffällig ist, dass hier Stereotype von kriminellen Aussiedlern in MarzahnHellersdorf, so wie auch schon Bilder von aggressiven und ungebildeten Türken und Arabern in Kreuzberg und Wedding, nicht nur ganz offen und ohne jegliche Zurückhaltung kommuniziert, sondern die Verhaltensweisen dieser Gruppen auch klar verurteilt werden. Eine solche Offenheit in Bezug auf Migranten steht in einem starken Gegensatz zu der unter der einheimischen deutschen Bevölkerung verbreiteten political correctness, wenn es um die sogenannten „Menschen mit Migrationshintergrund“ geht. Der in Deutschland aus der Erfahrung der Shoa resultierende Duktus, der einem vorschreibt, mit den diffamierenden Zuschreibungen an die „Ausländer“ höchst vorsichtig umzugehen, gilt nicht für die Einwanderer selbst, erst recht dann nicht, wenn diese selbst jüdisch sind. Wenn Migranten über Migranten sprechen, bewegen sie sich nicht im Kontext „TäterOpfer“. Vielmehr sind sie den anderen Migrantengruppen als „Opfer“ gleichge-
93
Becker (2001): Ankommen in Deutschland; Baerwolf (2006): Identitätsstrategien
94
Oswald spricht in diesem Zusammenhang von verschiedenen „Migrationstoren“.
95
Feldnotizen 2.10.2010.
von jungen „Russen“ in Berlin. Vgl. Oswald (2007): Migrationssoziologie, 85.
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stellt – eine Parallelität, die ihnen quasi das Recht auf ungehemmte Äußerungen von (Vor-)Urteilen einräumt. Wenn junge russischsprachige Juden Spätaussiedler als gewaltbereit bezeichnen, so geht diese Wahrnehmung in den seltensten Fällen auf ihre persönlichen Erfahrungen zurück. Die Bilder, die meine Akteure über die Lebenswelten der Spätaussiedler konstruieren, haben ihre Wurzeln in der Regel entweder in der distanzierten Beobachtung als Touristen in Marzahn-Hellersdorf oder in der Kommunikation mit anderen russischsprachigen Juden. So wird neben Kriminalität auch Immobilität und starke Familiengebundenheit von Spätaussiedlern hervorgehoben, die als rückständig interpretiert werden. So erzählt mir Dina über die Erfahrungen, die die Großmutter ihres Freundes Stanislav in Spandau gemacht hat, wo sie in einem Haus zusammen mit mehreren Spätaussiedlerfamilien wohnt: „In Spandau gibt es riesige Häuser, so mit vierzehn Stockwerken, und dort wohnen dann so richtig Generationen von Aussiedlern. Die Oma von Stanislav, die dort wohnt, konnte es richtig beobachten, wie die Kinder geboren wurden – sie wohnt seit dreißig Jahren in diesem Haus. Und sie hat mir erzählt, dass sie schon die Kinder gesehen hat, also die schwangeren Mütter, die in Deutschland angekommen waren. Dann haben sie Kinder zur Welt gebracht und diese Kinder wohnen jetzt schon alle verheiratet mit eigenen Kindern in diesem Haus. Und dann wohnen drei Generationen in diesem Haus. Und das finde ich traurig, dass es da keine Entwicklung gibt, dass man nicht weiterzieht, sondern am gleichen Ort die ganze Zeit bleibt. Ohne Bewegung kommt keine Entwicklung zustande. Das, was die Oma mir erzählt hat, dass sie die Mütter schwanger schon damals gesehen hat, das finde ich unsympathisch. Ich denke nicht: Wie toll, dass man beieinander bleibt, so druzhno (gemeinsam, kameradschaftlich) zusammenlebt. Da denke ich immer: da hat was nicht geklappt oder ist was Schlimmes passiert. Stanislav und ich haben uns jetzt eine Wohnung in Charlottenburg gekauft, aber ich will da auch nicht die nächsten zehn Jahre wohnen bleiben. Das war bei Juden schon immer so, dass wir sehr mobil waren und immer nach etwas Neuem gesucht haben.“96
Dina generiert ihr Wissen über die Lebenswelten der russischsprachigen Spätaussiedler nicht aus der persönlichen Erfahrung, sondern aus der Kommunikation mit der Großmutter ihres Freundes, einer lettischen Jüdin. Das Bild einer mehrgenerationalen Aussiedlerfamilie, die jahrzehntelang, manchmal sogar lebenslang an einem Ort verwurzelt bleibt, ist von Dina mit negativen Urteilen besetzt, wenn sie Worte wie „traurig“ und „unsympathisch“ für Beschreibung derer 96
Mental Mapping-Sitzung 8.6.2010.
ALS TOURISTEN IN DER EIGENEN STADT | 255
Lebensweisen wählt. Eine starke Familiengebundenheit der Spätaussiedler wird auch von Mila hervorgehoben, die als einzige meiner Akteure eine enge persönliche Beziehung zur Gruppe der russischsprachigen Deutschen in Berlin pflegt, da sie mit einem Spätaussiedler aus Kasachstan zusammen ist. Als ich Mila zum ersten Mal bei ihr zu Hause besuche, an der Grenze zwischen dem, wie sie es beschreibt, „jüdischen Charlottenburg“ und dem „russlanddeutschen Spandau“, entschuldigt sie sich dafür, dass es bei ihr zu Hause sehr unaufgeräumt ist: „Ich würde gerne eine Putzfrau nehmen, aber Georg wird mich dafür umbringen. Bei Russlanddeutschen ist so etwas verpönt. Es heißt dann, man ist selbst unfähig und eine schlechte Frau. Es kommt trotzdem ein Mädchen bei mir immer wieder für ein paar Stunden vorbei. Ich habe da eine junge Frau gefunden, der ich fünf Euro pro Stunde zahle. Das weiß Georg natürlich nicht. Auch seiner Familie kann ich das nicht erzählen. […] Er hat eine große Familie und alle unsere Wochenenden sind verplant. Mal wir zu ihnen, mal sie zu uns. Ich möchte gerne, dass wir auch ein paar Freunde haben, mit denen wir uns treffen. Aber das ist schwierig, die Familie nimmt die ganze Zeit in Anspruch. Und Georg ist es gewöhnt, viel Zeit mit der Familie zu verbringen. Bei Russlanddeutschen ist es so. Sie haben keine Zeit für Freunde.“97
Auch Mila spricht in ihrer Beschreibung den Unterschied zwischen den Lebensvorstellungen russischsprachiger Juden und denen der Spätaussiedler an, wenn sie die starke Familiengebundenheit und Arbeitstüchtigkeit der letzteren betont und diese dabei von ihren eigenen Vorstellungen abhebt. Im Unterschied zu Dina ist Milas Ton aber nicht verurteilend. Während Dina die Lebensvorstellungen von Spätaussiedlern „unsympathisch“ und „traurig“ findet, bezeichnet Mila ebendiese Lebensweise als „schwierig“, was in diesem Kontext als „anders“ interpretiert werden kann. Diese Beobachtung führt zu der Frage zurück, die anfangs aufgeworfen wurde, nämlich in welcher Relation das durch Kommunikation erworbene Wissen und die aus eigener Erfahrung resultierte Erkenntnis zueinander stehen. Basierend auf dem Vergleich zwischen Dinas und Milas Äußerungen bezüglich der Gruppe russischsprachiger Spätaussiedler lässt sich behaupten, dass das allein aus dem kommunikativen Austausch gewonnene Wissen sich wesentlich schneller in Vorurteilen manifestiert, wohingegen die auf eigener Erfahrung basierende Erkenntnis sich in differenzierteren Bildern zeigt, wenn es um das Urteilen von Lebens-, Handlungs- und Denkmustern der betroffenen Gruppe geht.
97
Interview 19.3.2010. Übersetzung aus dem Russischen.
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Beachtet man die Sätze wie „bei Russlanddeutschen ist es so“ (Mila) oder „das war bei Juden schon immer so“ (Dina), entgeht einem nicht, welche zentrale Rolle die ethnischen Kategorien im Prozess der Formung von Selbst- und Fremdbildern der Migranten spielen. Dabei kann eine solche Stereotypisierung des Ethnischen als Reaktion auf die Bilder von migrantischen Lebenswelten gedeutet werden, die im deutschen öffentlichen Diskurs als vorherrschend gelten. So bemerkt Soysal, dass die Migranten in Deutschland auf einer Skala, deren „ein Pol Tradition und der andere Moderne“ seien, bei der Tradition angesiedelt werden. In seiner Analyse der Jugendkulturen türkischen Einwanderer in Berlin malt Soysal folgendes Bild, das die Wahrnehmung der Migranten in Deutschland bestimmt: „The Turkish migrant brings her tradition, not her modernity, to Germany and lives her culture and otherness within but outside of modernity.“ 98 Es ist bemerkenswert, dass das Bild eines in der Familientradition verwurzelten, rückwärtsgewandten Spätaussiedlers, das die Wahrnehmung junger russischsprachiger Juden bestimmt, dem medial-gesellschaftlichen Bild ihrer eigenen Gruppe entspricht. Wenn Beck-Gernsheim behauptet, dass es in Deutschland „kein[en] Film über Juden ohne Davidstern und Klezmermusik“ 99 gäbe und man dabei sofort an den Film „Alles auf Zucker!“ 100 oder die ARD-Serie „Im Angesicht des Verbrechens“101 denken muss, so wird deutlich, dass die Fremdwahrnehmung des Jüdischseins von der innerjüdischen Selbstwahrnehmung stark divergiert. Zum Beispiel dann, wenn das Jüdische, wie im Fall von Stanislav, jenseits der religiösen und folkloristischen Thematik verortet und primär mit Bildung, Humor und Neugierde auf andere Orte, Menschen und Kulturen in Zusammenhang gebracht wird. Die Aushandlung von Eigenbildern ist somit eng mit Fremdzuschreibungen verbunden. An dieser Stelle wird auch die Behauptung von Greverus lebendig, dass es ein Kennzeichen der modernen Gesellschaft ist, dass „Identität weniger durch die Kontinuität der Eigenart als vielmehr durch die Neugestaltung oder Wiederbelebung von Eigenart ihre Bestätigung erfährt.“102 Die Eigenart wird daher durch die Abgrenzung nach außen wiedergewonnen. Je breiter dabei die Auswahl an Identifikationsmöglichkeiten ist, desto aktiver ist der Prozess der Aushandlung eigener Identität. 98
Soysal (2002): Beyond the „Second Generation“, 124.
99
Beck-Gernsheim (2007): Wir und die Anderen, 20.
100 „Alles auf Zucker!“ Deutschland, 2004. Ein Spielfilm von Dani Levy. 101 „Im Angesichts des Verbrechens“ Deutschland, 2010. Eine 10-teilige Krimiserie von Dominik Graf. 102 Greverus (1978): Kultur und Alltagswelt.
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D IE R EISE
NACH
M ARZAHN
ALS NOSTALGIC TOURISM
Nun, es war in Berlin nicht immer so, dass sich die geokulturellen Lebenswelten von russischsprachigen Juden und Spätaussiedlern getrennt voneinander gestalteten. Als die große Migrationswelle aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland Ende der 1980er bzw. Anfang der 1990er Jahre ansetzte, führte der Weg derjenigen, die mit dem Zug aus Moskau oder St. Petersburg nach Berlin anreisten, direkt zum Berliner Bahnhof Lichtenberg. Von dort war die Reise nur noch kurz, denn es war dort, im Ostberliner Stadtteil Lichtenberg und dem angrenzenden Marzahn-Hellersdorf, wo die Stadt Berlin auf die Schnelle Wohnheime für alle aus der ehemaligen Sowjetunion Anreisenden einrichtete, ohne einen Unterschied in ihrem Einwandererstatus und ihrem kulturellen oder religiösen Hintergrund zu machen. An die Zeit in einem dieser Wohnheime erinnert sich der russisch-jüdische Schriftsteller Wladimir Kaminer in seinem Buch „Russendisko“: „Man richtete für uns ein großes Ausländerheim in drei Plattenbauten von Marzahn ein, die früher der Stasi als eine Art Erholungszentrum gedient hatten. Dort durften wir uns bis auf weiteres erholen. Die Ersten kriegen immer das Beste. Nachdem sich Deutschland endgültig wiedervereinigt hatte, wurden die neu angekommenen Juden gleichmäßig auf alle Bundesländer verteilt. Zwischen Schwarzwald und Thüringer Wald, Rostock und Mannheim. Jedes Bundesland hatte eigene Regeln für die Aufnahme.“ 103
Während die Einheimischen direkt nach der Wende die östlichen Randbezirke Berlins gerne verließen, um näher an das Stadtzentrum zu ziehen, fanden sich im Osten Berlins viele freie geräumige Flächen, die allen Neuankömmlingen eine erste Unterkunft boten. Erst einige Jahre später wurden auch in anderen Berliner Stadteilen Wohnheime für die Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion eingerichtet, in denen russischsprachige Juden und Spätaussiedler nun meistens voneinander getrennt hausten. Doch bei denjenigen russischsprachigen Juden, die entweder kurz vor der Wende oder in den ersten Jahren danach nach Berlin kamen, blieb der Osten als die erste Ankunftsstelle in der Erinnerung haften. So berichtet Lena in unserer Mental Mapping-Sitzung: „Ich bin eigentlich ‚Wessi‘, würde ich so von mir behaupten. Weil ich auf’m Ku’damm großgeworden bin, und weiß nicht, auch generell früher nie viel mit dem Osten verbunden hatte bis auf den kleinen Aspekt, dass als wir hier immigriert sind als ich zweieinhalb Jahre alt war 1991, da ha’m wir in Lichtenberg gewohnt in dem Wohnheim, und meine Erin-
103 Kaminer (2000): Russen in Berlin, 13f.
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nerung an Deutschland ist eigentlich das Wohnheim, also meine erste Erinnerung generell, weil man sagt, dass das menschliche Gedächtnis sich so was ab drei Jahren merkt. Das Wohnheim wie man so durch die Hecke geklettert ist und dann raus auf die große Straße.“104
Wie Lenas, war auch Kirills Familie in einem Notunterkunftslager im Osten Berlins gestrandet. Während Lena und ihre Mutter, die nur zur zweit nach Deutschland kamen und daher bei der Wohnungssuche flexibler waren, das Übergangswohnheim bald verließen, um in das zentral gelegene Schöneberg zu ziehen, blieb Kirills Familie, die aus den Eltern und drei Kindern bestand, weitere zehn Jahre im Osten Berlins wohnen. Nach der kurzen Unterbringung in einem Marzahner Wohnheim mieteten sie eine der freien, großräumigen und relativ günstigen Wohnungen in einem der angrenzenden Neubauten, die einer fünfköpfigen Familie genug Platz bot. Erst als die Kinder erwachsen wurden und nach einem eigenen Wohnraum suchten, verließ die Familie nach und nach ihre Marzahner Wohnung, um in die Innenbezirke Berlins zu ziehen. Zu dem Zeitpunkt, an dem ich Kirill bei einem Treffen von Jung und Jüdisch kennenlerne, wohnt er schon seit mehreren Jahren in Berlin-Mitte. Unsere erste Begegnung findet am Abend nach Jom Kippur, dem jüdischen Versöhnungsund Fastentag, statt. In einer Pizzeria mit dem für diese Gelegenheit ironisch klingenden Namen Zwölf Apostel in der Friedrichstraße treffen sich Mitglieder von Jung und Jüdisch zum traditionellen gemeinsamen Fastenbrechen. Ich komme etwas später und der lange Tisch im hinteren Teil des Restaurants ist schon komplett besetzt. Dina und Vlad winken mir fröhlich von der rechten Tischecke zu, an der sich eine russischsprachige Gruppe gebildet hat. Nachdem ich mir einen Stuhl besorgt und mich zwischen die beiden gequetscht habe, stellt mir Dina die beiden jungen Männer vor, die ihr gegenüber sitzen: „Das ist Dan, ich habe ihn per Facebook zum heutigen Treffen eingeladen, und er brachte dann Kirill, seinen Freund, mit.“ Während Dina sich mit mir sonst auf Deutsch unterhält, weil es für sie, wie sie immer wieder betont, leichter sei, verläuft unsere Konversation jetzt auf Russisch. In ihrer Sprachwahl richtet Dina sich nach Kirill und Dan, die sich ausschließlich auf Russisch miteinander unterhalten. Dan habe lange Zeit in Israel gelebt, bevor er vor drei Jahren nach Berlin kam, erklärt mir Dina, und sein Deutsch sei noch nicht so gut. Im Unterschied zu den beiden jungen Männern, die die russische Sprache perfekt beherrschen, schleichen sich in Dinas Russisch deutsche Wörter und Ausdrücke ein. An diesem Abend wird sie von Kirill mehrmals korrigiert, der immer eine russische Übersetzung für die deutschen Wörter parat hat. 104 Mental Mapping-Sitzung 18.9.2010.
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Das Gespräch dreht sich ums Essen. Kirill erzählt, dass er heute den ganzen Tag gefastet hat und sich daher jetzt eine große Pizza mit Meeresfrüchten gönnen wird. Als Dina daraufhin erwidert, dass Meeresfrüchte nicht koscher sind, antwortet Kirill, dass es sich an seinem Jüdischsein nichts ändert, wenn er nichtkoschere Speisen verzehrt. Bei dieser Bemerkung muss ich an das Rezept für das „koschere Schweinefleisch“ denken, das von Sarah aus dem ukrainischen Dersaschnja stammt. Für Sarah spielen die religiösen Gesetze, die Juden den Verzehr von Schweinefleisch verbieten, keine Rolle, denn „eine jüdische Seele allein reicht aus, um ein Essen koscher zu machen.“ 105 Seine Vorliebe für die „verbotenen“ Speisen erklärt uns Kirill mit seinen Kindheitserinnerungen: Er habe zehn Jahre lang in Marzahn gelebt, wo es viele russische Supermärkte mit billigen Angeboten an Krabben und Schweinefleisch gab, denen man nur schwer widerstehen konnte. Dan klinkt sich in das Gespräch ein: „Stimmt, es gibt in Marzahn diesen einen sehr großen russischen Supermarkt. Ich habe ihn einmal lange gesucht, aber nicht finden können. Du musst uns eine Tour nach Marzahn geben, damit wir sehen, wie die Menschen dort leben.“ Kirill: „Das können wir gerne machen. Es gab dort auch mal das Kino Sojus, in dem man für 99 Cent russische Filme zeigte. Ich habe da viele Abende verbracht. Später hat man das Kino leider geschlossen.“106 Dieses kurze Gespräch versetzt auch Dina und Vlad in Aufruhr, die die Idee eines Ausflugs nach Marzahn sehr attraktiv finden. Auch, so sind sich beide sicher, ließen sich noch mehr Leute finden, die diesen Stadtteil Berlins nicht kennen und sich gerne einer solchen Fahrt anschließen würden, so dass man ein schönes Grüppchen zusammenstellen könnte. Es sei auf jeden Fall besser, zusammen hinzufahren und jemanden dabei zu haben, der sich auskennt, als auf eigene Faust zu reisen, meint Dina. Gleich wird ein Samstag ausgemacht, an dem die Reise stattfinden soll. Als ich zwei Wochen später an dem vereinbarten Treffpunkt, der M8 TramHaltestelle am Rosa-Luxemburg-Platz, ankomme, hat sich dort schon eine fünfköpfige Mannschaft versammelt. Dina ist in Begleitung ihres Freundes Stanislav gekommen, der gerade dabei ist, Vlad und Dan kennenzulernen. Kirill, der seine Aufgabe als Guide heute sehr ernst nimmt, wirkt aufgeregt. Er hoffe, dass er unseren Erwartungen gerecht werden könne, meint er unsicher. Darauf erwidert Dan: „Mach dir darüber keine Sorgen. Wenn wir den russischen Supermarkt und das Kino Sojus finden, sind wir schon zufrieden.“107 Die Reise nach Marzahn ist 105 Zitiert bei Shternshis (2010): Koscheres Schweinefleisch, 240. 106 Feldnotizen 18.9.2010. 107 Diese und weitere Ausführungen in diesem Abschnitt beziehen sich auf die Feldnotizen 2.10.2010.
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gleichzeitig auch eine Reise in die ehemalige Sowjetunion, eine Reise in die Vergangenheit, eine Reise in die Kindheit. Möchte sich der Einheimische ein Bild von seiner Stadt machen, muss er dabei nicht in die Ferne, sondern in das Vergangene reisen, schreibt Walter Benjamin über das Berlin einer Kindheit, die ein „Echo von dem, was die Stadt dem Kinde von früh auf erzählte“ sei.108 Für Kirill, der seine Kindheit sowohl in Moskau, als auch in Berlin-Marzahn verbrachte, treffen die beiden Erinnerungsgeschichten bei unserem heutigen Ausflug aufeinander. Denn Marzahn mit seinen über 25.000 dort lebenden russischsprachigen Spätaussiedlern wird heute auch als „russische Parallelwelt“ bezeichnet, wie man einem ARD-Bericht mit dem gleichnamigen Titel entnehmen kann: „In den letzten Jahren hat sich Berlin auch zu einer russischen Metropole entwickelt. Rund 100.000 russischsprachige Menschen sollen sich ständig in der Hauptstadt aufhalten. Genaue Zahlen sind Spekulation. Spätaussiedler und Bürger der ehemaligen Sowjetunion – fest steht, dass sich eine Gesellschaft gebildet hat, die theoretisch auch ohne Deutschland prima zurechtkommt. In Marzahn ist die Zahl der Zuwanderer besonders hoch. Hier hat sich eine Vielzahl russischer Geschäfte etabliert. Der Mixmarkt ist der größte Supermarkt dieser Art in der Stadt. Hier ist fast alles russisch. Die Produkte, die Mitarbeiter und natürlich die Kunden.“ 109
In Marzahn, wo sich nicht nur viele russische Supermärkte, sondern auch russische Cafés, Bibliotheken und Treffpunkte etabliert haben, hört man „in den Straßen […] überall Russisch“. Das ist das Russisch von den „28.000 von insgesamt 103.000 Anwohnern [Marzahns, die] ihre deutsch-russische Geschichte irgendwo in ihre Hinterköpfe verbannt [haben].“110 So könnte man Marzahn in Anlehnung an die ethnischen Viertel der US-amerikanischen Großstädte auch als „Little Russia“ bezeichnen. Während für Kirill die Reise nach Marzahn gleichzeitig eine Reise in die Kindheit ist, lässt sich der Ausflug für die anderen Reiseteilnehmer, die in dieser Gegend niemals gelebt haben, mit Conforti als nostalgic tourism bezeichnen. Diesen Terminus reserviert Conforti für die Ausflüge nach „Little Italy“ oder „Chinatown“ in Boston oder New York, die von denjenigen Italo-Amerikanern oder amerikanischen Chinesen unternommen werden,
108 Benjamin (1984): Die Wiederkehr des Flaneurs, 277. 109 o.V. (2011): Russische Parallelwelt in Berlin. 110 Lainault (2007): Deutsch-Russen: Berliner Erben.
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„who have never lived in or near such neighbourhoods, but visit them in an effort to underscore their identity, discover their ancestral roots, or at least come a little closer to them while in cities like Boston or New York. On a Saturday or Sunday afternoon, probably half of the tourists in Chinatown are Chinese-Americans. These are people who most likely live in the suburbs (or the city outskirts) and want to do some specialty shopping or dining, or just sightseeing to enjoy the nostalgic ethnic ambience.“111
Darüber, dass man die Fahrt nach Marzahn mit dem Russischen in Verbindung bringt, zeugen auch die Gespräche, die in der Tram auf dem Weg dorthin geführt werden. Nachdem wir uns hingesetzt haben, fragt Dan in die Runde, ob jemand von dem Programm der russischen Regierung Sootechestvenniki (Landsmänner) gehört habe. Laut seinem Informationsstand wurde dieses Programm ins Leben gerufen, um russischen Emigranten die Rückkehr nach Russland zu ermöglichen. Dabei wird jedem, der sich dafür entscheidet, seinen ausländischen Wohnsitz zu verlassen, ein Startkapital und ein Stück Land auf dem russischen Boden versprochen, um eine neue Existenz in der alten Heimat aufzubauen. Er selbst, so Dan, wurde zwar in Estland geboren, man habe ihm aber seinen estnischen Ausweis weggenommen, als seine Familie und er nach Israel ausgewandert seien. Nach Deutschland sei er dann mit dem israelischen Pass gekommen: „Dass ich keinen estnischen Ausweis mehr besitze, macht mir nichts aus. Ich habe nie richtig estnische Sprache gelernt und mich schon immer als Russe gefühlt, weil meine Eltern ursprünglich aus Russland stammen und mit mir Russisch gesprochen haben. Ich kann es mir deswegen gut vorstellen, einen russischen Ausweis zu beantragen, aber dafür muss man richtig nach Russland ziehen und dort auch mehrere Jahre leben. Theoretisch hätte ich auf so ein Dokument Anspruch, weil meine Vorfahren ja Russen sind.“112
In unserem kleinen Grüppchen haben sich Menschen aus fünf Ländern versammelt. Neben Estland ist auch Lettland mit Stanislav, Litauen mit Vlad, Russland mit Kirill sowie die Ukraine mit Dina und mir vertreten. Dass diese fünf Länder früher zu einem einzigen großen Land gehörten, ist daran zu spüren, dass einige litauische, ukrainische oder lettische Wörter und Redewendungen, die wir in der Tram austauschen, allen bekannt sind, unabhängig davon, in welcher Republik der ehemaligen Sowjetunion man selbst geboren wurde. Die gemeinsame Kommunikationssprache bleibt dabei jedoch Russisch, auch wenn Stanislav zugeben muss, dass er Russisch zwar versteht, aber nicht sprechen kann und sich deswe111 Conforti (1996): Ghettos as Tourism Attractions, 837. 112 Feldnotizen 2.10.2010.
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gen auf Deutsch ausdrückt. Als wir an einem Hochhausblock vorbeifahren, erklärt uns Kirill, dass dort, wo früher sein Wohnheim gewesen war, heute ausschließlich Russlanddeutsche leben. Daraufhin bemerkt Dan, dass, wenn man in der S-Bahn Richtung Ahrensfelde über Marzahn fährt, man sehr viel Russisch hört. In diesem Zusammenhang fällt ihm eine solche Fahrt ein, auf der er eine Erfahrung mit Russlanddeutschen gemacht hat: „Einmal fahre ich mit einem Bekannten S-Bahn und vor uns sitzt so ein Typ und hört Walkman. Dann hört er plötzlich, dass wir miteinander Russisch sprechen, zieht seine Kopfhörer aus den Ohren raus und sagt: ‚Hier, ich habe hier ganz coole russische Mucke, die müsst ihr mal hören.‘ Dann lässt er seinen Walkman laut laufen und ich muss mir, total peinlich, irgendeinen komischen russischen Rap anhören. So sind die halt, die coolen Jungs von Marzahn.“113
Direkt im Anschluss setzt auch Kirill seine eigene Geschichte drauf: „In Marzahn und Lichtenberg tragen alle Männer solche barsetki (kleine Herrentaschen aus Leder) ums Handgelenk gehängt. Man erkennt dann sofort, dass das Russen sind. Einmal wollte ich zu den ‚Deutsch-russischen Tagen‘ im Museum Karlshorst hin. Da bin ich aus der S-Bahn ausgestiegen und wusste nicht, wo ich hin soll. Und dann habe ich viele Männer gesehen, die in einer Hand eine barsetka und in der anderen Hand eine Damentasche trugen. Und das hat mich sehr an meinen letzten Moskau-Urlaub neulich erinnert, wo ich das Gleiche gesehen habe: Paare, bei denen die Männer die Damentaschen über der Schulter tragen. Und dann wusste ich natürlich sofort, wo ich hin musste und ging einfach hinterher.“114
Einerseits fungiert russische Sprache und russische Geschichte, auf deren Spurensuche Kirill sich in das Deutsch-Russische Museum in Berlin-Karlshorst begibt, als das verbindende Element zwischen den russischsprachigen Juden und den Spätaussiedlern. Andererseits distanziert man sich von der „peinlichen“ russischen Rap-Musik und den russischen Damentaschenträgern, wobei mit der Erwähnung von barsetki auch eine ironische Nostalgie zur Schau tritt. Während Kirill darüber spricht, legt er Wert darauf, deutlich zu machen, dass er die Praxis des Damentaschentragens bei Herren nicht durch eigene Sozialisation verinnerlicht hat, sondern aus dem Urlaub in Moskau kennt – ein Wissen, das Holert und Terkessidis in ihrer Beschreibung der Marokkaner aus dem Ausland, die ihren 113 Feldnotizen 2.10.2010. 114 Ebd.
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Urlaub im Marokko verbringen, mit dem Terminus der „touristischen Intimität“ bezeichnen.115 Mit dem Verweis auf den Moskau-Urlaub distanziert sich Kirill nicht nur von den in Berlin lebenden Spätaussiedlern, sondern generell von den „Russen“, die heute in den Herkunftsländern der ehemaligen Sowjetunion leben. Im Unterschied zu den Landsleuten, die in den postsozialistischen Republiken zurückgeblieben sind, begreift man sich als Berliner, als Europäer, als Weltmenschen. Exemplarisch für eine solche Distanzierungshaltung steht eine Situation, die ich erlebte, als eine Gruppe junger russischsprachiger Juden sich an einem Dezember-Sonntag im russischen Café Juri Gagarin in Prenzlauer Berg zu einem dort angebotenen „russischen Brunch“ traf. Während dieses Treffens entwickelte sich ein Gespräch, bei dem über die Notwendigkeit eines Klubs für junge Juden in Berlin diskutiert wurde. Dabei ging es unter anderem um die Frage, wen man als Mitglieder gerne an seiner Seite hätte, um sich über jüdische Themen auszutauschen. Während ein Teilnehmer bemerkte, dass man andere „Russen“ finden müsste, die mitmachen würden, entgegnete ihm eine junge Frau, die selbst aus Russland stammte, mit dem Satz: „Ich kann Russen nicht leiden. Zumindest nicht die, die unter zehn Jahren in Deutschland leben. Noch besser nicht unter fünfundzwanzig.“116 Solche Äußerungen zeigen, dass die eigene Zuordnung zur russischen Kultur bei meinen Akteuren nicht nur durch Situativität, sondern auch durch Widersprüchlichkeit geprägt ist. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Julia Bernstein in ihrer Untersuchung der Bedeutung von Essenspraktiken für die Identifikationen russischsprachiger Juden, wenn sie in Bezug auf ihre Forschungsresultate behauptet: „The findings demonstrate that multiple identities co-exist and often contradict one another in various ways: Interviewees speak Russian and act according to Russian cultural practices, but are offended if referred to as Russians; or, they consume pork and simultaneously feel themselves as Jews […].“117 Noch aus dem Tramfenster zeigt Kirill auf ein hohes verlassenes Gebäude, auf dem in großen roten Buchstaben „Kino Sojus“ steht. Der Buchstabe „j“ im Wort „Sojus“, das im Deutschen „die Union“ bedeutet, ist anstatt mit einem Punkt mit einen roten Stern oben geschmückt. Die Kombination aus dem roten Stern und dem Wort „Union“ lässt einen sofort an das Kompositum „Sowjetunion“ denken. (vgl. Abbildung 12)
115 Holert/Terkessidis (2006): Fliehkraft, 131. 116 Feldnotizen 12.12.2010. 117 Bernstein (2010): Food for Thought, 16.
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Abbildung 1: Das Gebäude des ehemaligen Kinos „Sojus“ in Berlin Marzahn
Quelle: Foto Alina Gromova
Obwohl das ehemalige Kinogebäude heute nicht mehr betrieben wird, möchten alle aus der Tram aussteigen und sich das mit Graffiti besprühte grau-gelbe Haus anschauen. Nachdem wir einige Runden um das ehemalige Kinogebäude gedreht und es aus allen möglichen Perspektiven fotografiert haben, platzieren wir uns davor und lassen uns gegenseitig vor der roten Aufschrift ablichten. Bis auf Dina und Stanislav sind alle heute mit Fotokameras ausgestattet. Nach einer viertel Stunde kann es weiter gehen. Kirill schlüpft wieder in die Rolle des Guides und führt uns weiter durch die verwucherten Hinterhöfe Marzahns, in denen wir uns ohne ihn sonst schnell verlaufen würden. Vorbei an dem Rathaus Marzahn, einem sozialistisch anmutenden grauen Gebäude, überqueren wir einen großen Parkplatz, an dessen Rand Dan plötzlich stehen bleibt. Er hat einen MehlbeerenBaum entdeckt und probiert genüsslich die Beeren: „Was mir im Osten gefällt ist, dass hier rjabina wächst und auch viele andere Bäume, die man im Zentrum Berlins nicht findet. Das erinnert mich an Zuhause.“ Die für ihre Heilkräfte bekannten Mehlbeeren, rjabina, die auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion weit verbreitet sind und gerne für die Herstellung von Marmelade und Liköre verwendet werden, waren zu sowjetischen Zeiten zu einem Symbol des sowjetischen Volkes auserkoren worden. Ihre magischen Kräfte und ihre Schönheit, die über mehrere Jahrhunderte eine zentrale Rolle in den Legenden und Ritualen der Altslawen spielten,118 wurden zu Lie118 Агапкина [Agapkina] (2010): Символика деревьев в традиционной культуре славян: рябина [Symbolik der Bäume in der traditionellen Kultur der Slaven: Mehlbeeren].
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dermotiven bekannter sowjetischer Sänger.119 Außerdem wurde 1964 in der UdSSR eine Briefmarke mit dem Mehlbeeren-Motiv herausgebracht, so dass die Mehlbeere buchstäblich zur Verbindung zwischen Bewohnern verschiedener sowjetischer Republiken wurde.120 Das Reich der Pflanzen, das wir in Marzahn antreffen, lässt Dans Gedanken nach Russland hinüberschweifen. Als wir später an einem grünen TannenbaumStreifen entlanglaufen, erklärt er sachkundig: „Das sind blaue Tannenbäume. Man muss nur die Nadeln etwas reiben, dann werden sie sofort grün, sie haben bloß so eine blaue Schicht. Solche Tannenbäume wachsen nur in Russland, man hat sie von dort hierher verpflanzt.“ Hinter den Tannenbäumen öffnet sich uns nun tatsächlich „Little Russia“. Auf einem Platz haben sich mehrere kleinere russische Läden versammelt, aus deren Schaufenstern uns bunte Matrjoschkas, CDs und DVDs mit bekannten russischen Liedern und Filmen und das feine, kitschig bemalte Porzellangeschirr anblicken, die in keinem sowjetischen Haushalt fehlen durften. Wir bleiben eine Weile vor den Vitrinen stehen und blättern in den Büchern und Zeitschriften. Gekauft wird zwar nichts, dafür aber wieder reichlich fotografiert, so dass die aus der Kindheit vertrauten russischen Waren zur Sehenswürdigkeit werden. (vgl. Abbildung 13) Abbildung 1 Ein Laden in Berlin-Marzahn, in dem russische Bücher, CDs, DVDs und Souvenirs verkauft werden
Quelle: Foto Alina Gromova
119 „Oj, rjabina kudrjavaja“ [Oj, ihr krausköpfigen Mehlbeeren] von Evgenij Rodygin und „Rjabinovye busy“ [Eine Glasperlenkette aus Mehlbeeren] von Irina Ponarovskaja. 120 Wikipediaartikel über Mehlbeeren (online).
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Curtis und Pajaczkowska bezeichnen das sightseeing als einen zentralen Bestandteil des fremdheitsbewältigenden Urlaubserlebnisses, indem sie behaupten: „Sightseeing is the main activity of tourism, because, with seeing, reality remains external and in its place, leaving the spectator equally free from transformation by the encounter.“121 Die Distanz zwischen Touristen und Sehenswürdigkeiten wird durch das Fotografieren besonders deutlich, so dass John Urry in diesem Zusammenhang von einem „touristischer Blick“ spricht: „The tourist gaze is directed to features of landscape and townscape which separate them off from everyday experience. Such aspects are viewed because they are taken to be in some sense out of the ordinary. […] People linger over such a gaze which is then normally visually objectified or captured through photographs, postcards, films, models and so on.“122 Das Besichtigen und Fotografieren des Kinogebäudes Sojus, der Mehlbeeren-Bäume und der russischen Läden zeigt, dass das Russische für meine Akteure mittlerweile zu einem exotischen Bestandteil ihres eigenen Selbst geworden ist, den sie sich auf dieser Reise wiederanzueignen suchen. Nach den vielen Jahren des Lebens in Deutschland ist die russische Kultur für sie zu einer nostalgischen Erfahrung geworden, die auf ähnliche Art und Weise exotisiert wird, wie auch das Eingangstor in das Marzahner chinesische Viertel oder die alte Mühle in der pittoresken Alt-Marzahn-Siedlung, die auf unserem Ausflug auch zu Fotoobjekten werden. Jedes mal wenn die Kamera am Werk ist, wird ein Verhältnis zwischen der „kontrollierten Nähe“ und der Distanz zur Umgebung hergestellt.123 Während dieses Ausflugs muss ich nicht nur meine Akteure, sondern auch mich selbst beobachten: Denn auch ich fotografiere meine Begleiter, während sie das Kino und die russischen Läden fotografieren. Auch ich muss mich ihnen entfremden, durch das Fotografieren und Beobachten Distanz schaffen von meinem eigenen kulturellen Selbst. Meine Feldforschung ist auch eine Reise, denn „Reisen heißt Differenz herstellen. Die Ferne dient dabei der Abgrenzung vom Eigenen und wird zum Ort, an dem das reisende Subjekt über sich selbst und seine Welt nachdenken kann. So besteht Reisen aus einem Zusammenspiel daraus, wie das Ich sich selbst und andere, also die Fremde wahrnimmt“, 124 behauptet Rosaly Magg. Über Reisen in Verbindung mit Feldforschung spricht auch Ronald Lutz, 121 Curtis/Pajaczkowska (1994): „Getting There“: Travel, Time and Narrative, 209. 122 Urry (1990): The Tourist Gaze, 3. Hervorhebung im Original. 123 Vgl. dazu Curtis/Pajaczkowska (1994): „Getting There“: Travel, Time and Narrative, 210. 124 Magg (2000): „Ich reise, um zu leben“, 33. Zit. in: Mörth (2004): Fremdheit, wohldosiert.
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wenn er die letzte als Tourismus bezeichnet und dabei in dem Anthropologen nichts anders als einen Touristen sieht, der durch die Sehnsucht nach dem Feld und der Neugier getrieben wird, die für die wissenschaftlichen Zwecke funktionalisiert werden.125 Die Herausforderung, die ich an mich selbst dabei stelle ist, den Bildern und Szenarien, die oft als Stereotype und verfestigte Rollen existieren, zu begegnen und diese zu hinterfragen, um sie in die Analyse später nicht hineinzuprojizieren. Im Unterschied zur Generation ihrer Eltern und Großeltern, ist bei meinen Akteuren das Russische nicht mehr fest in ihrem Alltag verankert und oft bleibt die Sprache das einzige Merkmal der russischen Kultur, das weitergelebt wird. Möchte man die Rhetorik der Integrationsdebatte aufgreifen, so sind meine Akteure mit ihren Berufen als Ärzte, Rechtsanwälte oder Immobilienhändler in die bürgerliche Schicht der deutschen Gesellschaft gut „integriert“. Ihre Sehnsucht nach dem Russischen, die auf unserer Marzahn-Reise zum Vorschein kommt, lässt sich mit Herbert J. Gans daher als die Suche nach einer „symbolischen Ethnizität“ bezeichnen.126 Gerade dann, wenn man in der Mehrheitsgesellschaft gut angekommen ist, wächst der Wunsch der Migrantenkinder etwas Eigenes, etwas „Besonderes“ zu finden, was einen von der Masse abhebt. Am Beispiel von Nachkommen europäischer Einwanderer in den USA hat neben Gans auch Mary Waters herausgearbeitet, dass dieses „Besondere“ in den eigenen ethnischen Wurzeln gesucht wird, von den man sich mittlerweile auf der Alltagsebene zu einem großen Teil entfremdet hat.127 Es sind nicht die starren Regeln und Gruppenkontrollzwänge, die die junge Generation der gut etablierten Migranten sich von ihrer Identifizierung mit dem Russischen versprechen. Mit Beck-Gernsheim ausgedrückt, „die Jungen wollen einen Hauch Nostalgie, eine Prise Exotik, ein paar bunte Symbole und Zutaten, mit denen sie ausgewählte Stunden des Lebens garnieren und die ansonsten den Alltag nicht weiter stören. Ethnizität also als Freizeitartikel, Hobby, Lebens-Dekor […].“128 In Berlin gewinnen das russische Kino und die CDs mit bekannten russischen und sowjetischen Liedern für meine Akteure eine neue Bedeutung, die Bedeutung des Symbolischen. Somit wird Russland, Ukraine oder Litauen, ihre jeweilige ehemalige Heimat, zum imaginary space129, einem Ort, der vor allem im Kopf, in der Phantasie existiert und mit den tatsächlichen Lebensbedingungen 125 Lutz (1987): Feldforschung als Tourismus. 126 Gans (1996): Symbolic Ethnicity. 127 Waters (1994): Ethnische Identität als Option; Waters (1990): Ethnic Options. 128 Beck-Gernsheim (2007): Wir und die Anderen, 27. 129 Dolve-Gandelman (1990): Ethiopia as a Lost Imaginary Space.
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dort nur noch entfernte Ähnlichkeit aufweist. In der Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit wird das Russische als „eigen“ und als „fremd“ wahrgenommen. So fremd, dass man es als Foto nach Hause mitnehmen möchte, um es sich dort in Ruhe anschauen und seinen Freunden zeigen zu können. Das „Fremde“ und das „Eigene“ lassen sich nicht mehr als klar definierte Gegensätze fassen, die Dichotomie zwischen den beiden Kategorien hat sich aufgelöst, sie sind fließend geworden. So wie es für den Massentourismus in der Zeit der von Stuart Hall erkannten globalisierten Zeit-Raum-Verdichtung gilt, dass der Tourist in der Ferne durch neue Kommunikationstechnologien und globale Produkt- und Distributionspolitik von der Heimat eingeholt wird,130 scheint es auch umgekehrt der Fall zu sein. Wenn Migranten eine nostalgische Reise in die eigene Kultur unternehmen, wird nicht der Tourist durch die Heimat, sondern die Heimat durch den Touristen eingeholt. Die Heimat, also das Russische, wird in diesem Falle durch das Prisma des Deutschseins betrachtet und lässt zum wiederholten Male die Situativität und die Fluidität von Zuordnungen und Identifizierungen und somit auch von Räumen in den Vordergrund treten. Unsere Reisegruppe hat sich heute nur für den Ausflug zusammengefunden. Auf der Suche nach Aufregung, Spaß und Erlebnissen, wie es für die „posttraditionalen Gemeinschaften“ typisch ist, 131 geht man eine Verbindung auf Zeit ein. Ein Treffen in einer solchen Zusammensetzung von Menschen soll sich nach diesem Ausflug nicht mehr ereignen.
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IST AN DER K ÜCHENTRADITION NOCH TRADITIONELL ?
Während unseres Marzahn-Ausfluges sind sich alle Mitglieder unserer Reisegruppe darin einig, dass es noch eine weitere Sehenswürdigkeit gibt, die wir uns unbedingt anschauen müssen. Kirill wird beauftragt, uns zum Mixmarkt, dem größten Supermarkt in Berlin in der Marzahner Jan-Petersen-Straße zu führen, der sich auf russische Lebensmittel spezialisiert hat. Zwar haben alle Gruppenmitglieder schon etwas von diesem Supermarkt gehört, aber außer Kirill, der zehn Jahre lang mit seiner Familie in Marzahn gelebt hat, war noch keiner von uns jemals dort gewesen. Nach einer weiteren kurzen Wanderung kommen wir an einem geräumigen und fast leeren Platz. Wie Kirill uns erklärt, finden hier im 130 Hall (1994): Die Frage der kulturellen Identität; vgl. dazu auch Herdin/Luger (2001): Der eroberte Horizont. 131 Hitzler (2008): Brutsätten posttraditionaler Vergemeinschaftung; Hitzler (1999): Verführung statt Verpflichtung.
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Sommer regelmäßig Tanzabende mit russischer Musik statt, bei denen sich die russischsprachigen Einwohner aus der Nachbarschaft versammeln. Dabei kann man alles auf einmal erledigen: Im russischen Supermarkt einkaufen, vor dessen Eingang wir unmittelbar stehen, im russischen Reisebüro direkt daneben Reisen in die ehemalige Heimat günstig buchen, in einem russischen Café draußen sitzen und russisches Bier trinken. (vgl. Abbildung 14) Abbidlung 1 : Der Supermarkt „Mix Markt“, das Reisebüro „Russkaja Pochta“ und das Café „Rossija“ in der Jan-Petersen Straße in Berlin-Marzahn
Quelle: Foto Alina Gromova
Auch an diesem warmen Oktobertag sitzen ein paar Männer noch draußen mit ihrem Baltika-Bier und führen lange und langsame Gespräche. Manche von ihnen schauen teilnahmslos und fast schon meditativ auf das Feuer, auf dem direkt vor dem Eingang in das Café Schaschlik zubereitet wird. Die Zeit scheint hier stehengeblieben zu sein, nur allmählich vergeht sie in gemütlichen Plaudereien und dem Betrachten von zufälligen Kunden, die in den Supermarkt rein und wieder raus gehen. Auch ich schaue mir die Männer an, die auf Holzbänken vor dem Café mit einem Bier in der Hand sitzen und sich miteinander auf Russisch unterhalten. Unmodische Lederjacken, billige Jogginghosen, abgetragene Pullover. Hier strebt man nicht nach Erfolg, Sich-Darstellen durch teure Markenkla-
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motten ist nicht angesagt, der schnelle Fortschritt, der im Zentrum Berlins das Terrain erobert hat, hat seinen Weg noch nicht hierher, in die Ostberliner Randbezirke gefunden. Während ich die Männer betrachte, muss ich an einen Kommentar von Stanislav denken. In einem Interview beschreibt er Spätaussiedler, die in der Nachbarschaft seiner Großmutter in Spandau wohnen: „In Spandau, wo meine Großmutter lebt, da sind mittlerweile gut ’n Viertel bis ’n Drittel in dem Haus, also Spandau ja sowieso sind Russlanddeutsche. Ich weiß nicht, ich erlaube mir mittlerweile zu verstehen, wenn ich den Menschen angucke, wessen Geisteskind der ist. Und ob ich an dem Interesse haben könnte. Ich will gar nicht sagen, dass er jetzt irgendeine böse Partei wählt, ich sag nur: Ist es ’n lustiger Kerl, ist ja interessant, hat was zu erzählen. So. Also, Deichmann Schuhe, irgendwelche komischen Kik-Hosen, so ungesunde Haut vom zu viel Rauchen, Schnurrbart der 1972 schon unmodern war und so glasige Augen und ’ne Deutschlandflagge auf’m… oder Deutschland- und Russlandflagge, zurzeit [es ist die Zeit der Fußballweltmeisterschaft] auf’m Auto.“132
In Gedanken und Betrachtungen versunken, habe ich gar nicht bemerkt, dass die restlichen Mitglieder meiner kleinen Reisegruppe mittlerweile aufmerksam das Menü studiert haben und mir nun aus dem Inneren des Cafés zuwinken. Man hat sich entschieden, zunächst im Café Rossija etwas zu essen und den Supermarktbesuch „zum Nachtisch“ aufzuheben, wird mir mitgeteilt. Als wir mit unseren Bestellungen bei der Café-Bedienung beginnen, erfahren wir, dass die Hälfte davon, was das Menü verspricht, leider nicht zu haben ist. Vlad dreht sich zu mir mit einem breiten Lächeln: „Ich fühle mich wie zu Hause. Man kommt ins Restaurant und anstatt zu fragen, ob man Borschtsch da hat, fragt man: Haben sie keinen Borschtsch da?“ Diese Anspielung an die sowjetische Mangelwirtschaft, die sich nach außen als Reichtum an Lebensmitteln darstellte, in der Realität sich aber als extreme Produktknappheit erwies, hindert Vlad allerdings nicht daran, die vorhandenen Gerichte genüsslich zu betrachten und sich über den gewohnten, aber längst vergessenen Anblick zu freuen. Ein Problem hat er allerdings: Pelmeni und Chebureki, die Teigtaschen und Fleischplätzli, sind mit Schweinefleisch gefüllt, und der vegetarische Borschtsch und Pflaumenkompott sind ausverkauft. Schließlich bestellt Vlad eine Portion Vareniki, größere Teigtaschen mit Quarkfüllung und entscheidet sich für einen Lammschaschlik. In der Gruppe, in der außer Vlad und Dina sonst niemand sich von dem nicht-koscheren Essen abschrecken lässt, wird nun gewitzelt, dass Vlad zwar auf Schweinefleisch verzichtet, dafür aber das Milchige mit dem Fleischigen vermischt und somit ge132 Interview 31.7.2010.
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gen die Kaschrut-Regeln verstößt. Wie schon bei unserem Besuch im argentinischen Steakhaus zeigt Vlad auf ein Stückchen Schwarzbrot, das auf seinem Fleischteller liegt und bemerkt, dass wenn er nach der Milchspeise ein Stück Brot dazwischen isst, er eine Zwischenschicht zwischen Milch und Fleisch kreiert habe, so dass die beiden Speisearten nicht unmittelbar nacheinander verzerrt werden. Vlads kreative koscher-light Auslegung der jüdischen Kaschrut-Regeln setzt sich fort: In einem russischen Café ist er bereit, in Bezug auf die religiöse Speisepraxis Kompromisse einzugehen und sein Verständnis von Jüdischsein der Situation und dem Gegenüber anzupassen, so dass sich die Zuordnungen jüdisch und urban gleichsetzen lassen. Die Mannigfaltigkeit der Speisenauswahl in einer Großstadt macht es nötig, eigene, kreative Interpretationen der jüdischen Essensgesetze zu entwickeln, die eine Individualisierung der religiösen Praxis nach sich ziehen. In diesem Zusammenhang lässt sich auch von einer Berlin-Spezifik sprechen: In einer Stadt, in der es „nur eine Handvoll […] glatt koscherer Gastronomiebetriebe“ gibt,133 hat man oft keine andere Wahl als in den nicht-koscheren Restaurants zu speisen. Einen Unterschied zu Berlin bietet zum Beispiel New York mit seinem riesigen Angebot an koscheren Steakhäusern, chinesischen Restaurants und SushiBars und sogar einem Buddhist Kosher Restaurant, geschweige denn an unzähligen Angeboten der osteuropäischen jüdischen Küche.134 Somit kann Berlin als eine postmoderne Großstadt bezeichnet werden, in der traditionelle Essensregeln ihre Bedeutung verlieren und die Entscheidung über der Wahl der Speisen zu einer individuellen wird. Auffällig ist dabei das schnelle Tempo, in dem sich die Anpassung der Essensgewohnheiten an individuelle Bedürfnisse und Lebensweisen in Berlin im Jahr 2010 vollzieht. Denn noch 1907 stellte der deutsche Journalist und Novellist Wilhelm Heinrich Riehl fest: „Nirgends sind die Volksstämme konservativer als wo es um Mund und Magen geht.“135 Somit hat die Koch- und Nahrungskunst, die traditionell als eine Technik bezeichnet wird, die einem nur langsamen Wandel unterliegt und sich über viele Jahrhunderte hinweg
133 Binder (2009): Koscher Essen in Berlin. Zu den wenigen glatt, das heißt streng koscher geführten Gastronomielokalen in Berlin zählen unter anderem das Café Bleiberg und das Restaurant Le Chaim in Charlottenburg-Wilmersdorf. 134 Vgl. Directory & Guide to New York City (online). 135 Riehl (1907): Die Pfälzer, 193. Zit. in: Kleinspehn (2002): Reisen, Essen und die Sehnsucht nach dem Vertrauten, 51.
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nur relativ wenig verändert hat, 136 am Beginn des 21. Jahrhunderts ihre außerordentliche Konstanz und Festigkeit endgültig eingebüßt. Während wir am Tresen stehen, nimmt eine kleine Familie, bestehend aus Mutter, Vater und Tochter, die das Café Rossija betreibt, geduldig unsere Bestellungen im perfekten Russisch entgegen. Während drei Familienmitglieder in unserer Gegenwart untereinander in Russisch kommunizieren, wechseln sie ihre Sprache in dem Moment, in dem sie in der Küche sind und somit aus unserer Sichtweite verschwinden. Verwundert blicken wir uns gegenseitig an, denn die Sprache, in der sich die Cafébetreiber nun unterhalten, können wir nicht identifizieren. Plötzlich werden Bilder in unseren Köpfen, jeder Russischsprachige in Marzahn sei ein Spätaussiedler, durcheinandergebracht. Das Vorwissen, das unsere Wahrnehmungen auf Reisen präformiert, und die im Bewusstsein verankerten Vorstellungen über Land und Leute, Orte und Räume schafft,137 stimmt auf einmal nicht mehr. Die Stereotype, die dazu dienen, die komplexe Realität in kleinere, verständlichere Einheiten zu brechen und diese Realität somit in vereinfachter Form darzustellen, haben ihre Geltung verloren. Die Betreiber des Cafés Rossija in Marzahn, dessen Aufschrift sich mit zwei stolzen russischen Wappen in Farben der Russischen Föderation schmückt, scheinen weder Russen noch Russlanddeutsche zu sein. Als uns die Tochter der Betreiberfamilie das Essen nach draußen bringt, ist Kirill neugierig und fragt sie, in welcher Sprache sie sich mit ihren Eltern unterhält. „Das ist Tschetschenisch“, antwortet die junge Frau, „wir kommen aus Tschetschenien und sprechen beide Sprachen.“ Dass man in Tschetschenien nicht nur beide Sprachen spricht, sondern auch beide Küchentraditionen, die russische und die nordkaukasische, an die im Russischen Café nur noch der Schaschlik am Grill erinnert, kennt, hat mit der Vormachtstellung der russischen Küche vor dem Hintergrund der zahlreichen anderen ehemals sowjetischen Küchentraditionen zu tun. Eine solche Dominanz stellt Bernstein in ihrer Analyse des klassischen sowjetischen Kochbuchs „Das Buch über das leckere und gesunde Essen“ fest, das zuerst 1952 unter dem Stalinregime veröffentlicht und danach mehrmals wiederaufgelegt wurde. In dieser „sowjetischen Essensbibel“ sind die fünfzehn sowjetische Republiken nur symbolisch mit einigen wenigen 136 Zur relativen Konstanz der regionalen und kulturellen Speisegewohnheiten in älterer Zeit vgl. Tolksdorf (1993): Das Eigene und das Fremde, 188. 137 Bödeker et al. bemerken, dass die Erfahrungen der Reisenden, die in der geistigen Aneignung einer „fremden“ Welt bestehen, stets einem vorhandenen „kulturellen Referenzrahmen“ unterliegen. Vgl. Bödeker/Bauerkämper/Struck (2004): Einleitung: Reisen als kulturelle Praxis, 14f.
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Gerichten repräsentiert, während die Mehrheit der darin vorgestellten Rezepte russisch ist. Eine solche reduktionistische und somit defizitäre Repräsentation lasse, so Bernstein, den Chauvinismus der sowjetischen Nationalitätenpolitik deutlich werden.138 Indem eine tschetschenische Familie sich freiwillig der russischen Kochtradition und somit der russischen Zentralisierungspolitik unterwirft, passt sie ihren gastronomischen Business an die Nachfrage der in Marzahn lebenden Russischsprachigen an. Denn sowohl bei den deutschstämmigen Aussiedlern, als auch bei den russischsprachigen Juden hat die russische Küche die traditionelle deutsche oder jüdische Kochkunst ersetzt bzw. sich mit dieser vermischt. In ihrer Studie „Food for Thought. Transnational Contested Identities and Food Practices of Russian-Speaking Jewish Migrants in Israel and Germany“ geht Bernstein der Frage nach, wie die Bilder des Jüdischen, Russischen, Sowjetischen und Russisch-orthodoxen innerhalb der verzweigten Struktur der russischen Lebensmittelläden in Deutschland und Israel koexistieren. Dabei distanziert sich die Autorin von dem Konzept der national foods, das jeder Nation ihr eigenes Essen zuschreibt. Stattdessen kommt Bernstein zum Schluss, dass die Koexistenz multipler und oft widersprüchlicher nationaler, religiöser und ethnischer Narrative in Bezug auf Essenspraxen der Migranten ein „transnationales Feld“ erkennen lässt, in dem Individuen ihre neue nationale lokale Identität auf einer Seite und die Globalisierung auf der anderen Seite verarbeiten und aushandeln.139 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Annelise Orleck in ihrer Reflexion über die kulturellen Essenspraxen von ex-sowjetischen Juden in New York. Das Feiern jüdischer Feiertage wird beschrieben als ein „Kulturmix eigener Art“, in dem die jüdischen Elemente freizügig mit russischen verbunden werden, wobei „the details of many of these observances seem shockingly irreligious, even mocking, to some orthodox Jews.“140 Bei einer von Orleck beobachteten Bar Mizwa Feier werden zum Beispiel Garnelen, die nach den jüdischen Speisegesetzen strengstens verboten sind, serviert, während gleich daneben die Platten mit gefillte Fisch, einem traditionellen jüdischen Gericht, stehen, das sehr umständlich aus Karpfen, Weißfisch und Zwiebeln zubereitet wird. 141 Dabei ist der Satz „Will you prepare gefillte Fisch for Christmas?“, mit dem Bernstein ein Kapitel ihrer Arbeit über die Essenspraxen russischsprachiger Juden übertitelt, paradigmatisch für einen solchen Mix der kulturellen und religiö138 Bernstein (2010): Food for Thought, 113. 139 Ebd., 219. 140 Orleck (1987): The Soviet Jews, 282. 141 Ebd., 300f.
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sen Traditionen. Darin spiegeln sich Paradoxien und koexistierenden Gegensätze der jüdischen und der christlichen Identität wider, die anhand von Essenspraxen dargestellt werden.142 Von vielen traditionellen jüdischen Speisen, die die sowjetischen Zeiten der religiösen Unterdrückung überlebten, scheint Fisch dabei eins der beliebtesten und der bekanntesten unter den russischsprachigen Juden zu sein. So ist gefillte Fisch längst zum Symbol der aschkenasischen jüdischen Küche schlechthin geworden. Shternshis weist darauf hin, dass, während die meisten Juden in der ehemaligen Sowjetunion die jüdischen Feiertage nicht mehr begingen, war gefillte Fisch eins von den Gerichten, die in vielen Familien weiter lebten: „Der Gefillte Fisch etwa, dessen Hauptzutaten Karpfen und Mazzemehl sind und der von alters her zu Pessach gekocht wurde, kam weiterhin in jüdischen Haushalten überall im Land auf den Tisch, auch wenn die Anlässe nun nicht mehr religiös begründet waren.“143 In einem Interview gibt auch Mila mir gegenüber zu erkennen, dass während für sie die Bedeutung der jüdischen Feiertage verloren gegangen ist, durch das Kochen von traditionell jüdischen Speisen diesen Tagen weiterhin gedacht wird. Auf meine Frage, ob sie jüdische Feste feiert, antwortet sie: „Ja, ich feiere jüdische Feste, besonders Chanukka. Aber was heißt hier feiern… Chanukka zu feiern bedeutet für mich, etwas Leckeres zu kochen und zusammen am Tisch zu sitzen. Die Bedeutung dieses Festes verstehe ich nicht. Genau so ist das mit dem jüdischen Neuen Jahr. Wir kochen etwas und wissen, dass heute irgendein jüdischer Feiertag ist. Aber was er bedeutet, das ist natürlich… Mein Vater hielt sich, grob gesagt, überhaupt nicht daran. Seine Großmutter hat noch Jiddisch gesprochen, aber seine Mutter überhaupt nicht mehr. […] Ich habe ein paar jüdische Lieblingsspeisen. Aber da mein Freund sie nicht mag, werde ich sie für mich alleine nie zubereiten. Das heißt, wenn meine Kinder ein Mal in ihrem Leben gefillte Fisch probieren werden, ist das schon gut. Wenn ich meine Mutter in Düsseldorf besuche, versucht sie immer für mich gefillte Fisch zu kochen, weil sie weiß, dass ich das sehr mag, selbst aber nie zubereiten werde. Wenn ich hier in Berlin Fisch essen will, gehen wir in der Regel zum Chinesen und bestellen dort Garnelen, weil mein Freund sie auch gerne isst.“144
Während die Tradition, zu jüdischen Feiertagen gefillte Fisch zuzubereiten, die sowjetischen Zeiten überlebte, geriet das Verbot, Schalentiere zu essen, wie auch viele weiteren Verbote und Gebote, bei den meisten russischsprachigen Juden 142 Bernstein (2010): Food for Thought, 373. 143 Shternshis (2010): Koscheres Schweinefleisch, 240. 144 Interview 19.3.2010. Übersetzung aus dem Russischen.
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zunehmend in Vergessenheit. Für Juden, die heute aus der Ukraine mit ihrer guten Fischversorgung durch das Schwarze Meer oder den baltischen Ländern nach Deutschland einwandern, gehören Krabben und Kaviar selbstverständlich auf den festlichen Tisch und werden sogar als Delikatessen bezeichnet. Mit der Begründung, die chinesische Küche sei „unserer“ sehr ähnlich, wurde mir öfters deswegen die Vorliebe der russischsprachigen Juden für chinesische Restaurants in Berlin erklärt. Besonders begehrt sind die Restaurants Good Friends in der Kantstaße und Peking am Kurfürstendamm, was man auch daran merkt, dass dort an manchen Tagen alle Tische mit russischsprachigen Gästen besetzt sind und die chinesische Bedienung mittlerweile ihre Kunden auf Russisch begrüßt. In Good Friends wird auch der neunzehnte Geburtstag von Lönia gefeiert. Als ich ihn frage, warum er sich für dieses Restaurant entschieden habe, antwortet er: „Mein Onkel, der zwar selbst in der Ukraine lebt, aber öfters nach Berlin kommt, sagt immer, dass dies das beste Restaurant in Berlin sei. Man bekommt hier immer den frischesten Fisch serviert.“ 145 Während Lönia selbst sich aus den Kaschrut-Gesetzen nichts macht, legt Lena, die zu seinem Geburtstag zusammen mit ihrer Mutter eingeladen ist, viel Wert darauf. Lena kommt etwas verspätet, nachdem das Essen schon für alle gemeinsam bestellt wurde. Während sie ein Gericht für sich aussucht, entwickelt sich eine Diskussion zwischen ihr und ihrer Mutter, die auf die generationellen Unterschiede in Bezug auf die Haltung an die jüdischen Speisegesetze deutet: Mutter:
„Wir haben schon mehrere Platten mit Garnelen bestellt, soviel dass es für alle reicht.“
Lena (entnervt):
„Aber Mama, Schalentiere esse ich doch nicht, das habe ich dir schon tausendmal gesagt. Ich will Fisch und keine Garnelen!“
Mutter (in meine Richtung):
„Ich vergesse es immer wieder, dass sie koscher isst. Obwohl sie es schon seit fünfzehn Jahren tut. Ich habe es ihr nicht beigebracht, ich habe nie koscher gelebt. Sie wollte das selbst.“146
Auch wenn Lena sich an die Gebote und Verbote der Kaschrut hält, ist diese Befolgung keine strikte. Denn ein Restaurant, in dem nicht-koschere Speisen zubereitet werden, gilt nach den jüdisch-orthodoxen Regeln grundsätzlich als nicht koscher. Eine Weigerung, in normalen Restaurants ohne ein koscher-Label zu 145 Feldnotizen 12.9.2010. 146 Ebd.
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essen, würde für Lena allerdings bedeuten, den Speisetisch weder mit ihrer Familie noch mit ihren Freunden teilen zu können. Daher entscheidet sie sich, so wie auch die Mehrheit der in Deutschland lebenden Juden dafür, wenn überhaupt koscher, dann koscher-light zu essen. Wenn man sich also für Gerichte ohne Schweinefleisch und Schalentiere bzw. gegen die Lasagne mit Fleisch- und Milchsauce entscheidet, nimmt man dabei in Kauf, dass die servierten Speisen in der gleichen Küche und höchstwahrscheinlich auch in der selben Pfanne zubereitet wurden, in der vorher das unkoschere Kaninchenragout schmorte. Neben der chinesischen Küche erfreuen sich auch japanische Sushi-Läden unter russischsprachigen Juden besonderer Beliebtheit. Die japanischen FischSpezialitäten ziehen dabei Juden nicht nur als Kunden an, viele der SushiRestaurants in Berlin befinden sich in Händen der jüdischen russischsprachigen Besitzer. Als ich mich zum ersten Mal mit Mila für einen Spaziergang in Charlottenburg verabrede, lädt sie mich in eins ihrer Lieblings-Sushi-Restaurants an der Ecke Uhlandstraße und Fechnerstraße ein. Als wir drin sitzen, erklärt sie: „Ich bin gerne hier. Ich mag die Atmosphäre. Und man kann hier nicht teuer essen. Du bestellst ein Gericht und zahlst fünfzig Prozent. Kommt man zu zweit oder zu viert, bestellt jeder eine doppelte Portion für den einfachen Preis und bekommt zwei oder vier verschiedene Sushiarten. Der Besitzer ist ein russischer Jude. Ich wollte hier ursprünglich in der Buchhaltung einen Job haben, aber mein Freund hat es mir nicht erlaubt. Mein Georg mag kein Sushi, das ist ein großes Problem für mich. Wenn wir zusammen essen gehen, dann muss neben dem Japaner auch ein Chinese da sein.“ 147
Das Phänomen, dass die russischsprachigen Juden in Berlin in den letzten Jahren vermehrt als Besitzer der Sushi-Restaurants fungieren, ist allerdings nicht spezifisch russisch-jüdisch. In einer Großstadt wie Berlin mit ihrer Vielfalt an ethnischen Gruppierungen einerseits, und der Möglichkeit anonym zu bleiben andererseits, ist die Täuschung der eigenen Herkunft eine gängige ökonomische Praxis im Gastronomiebereich. So betitelt Kaminer seine Kurzgeschichte, in der er die Erfahrungen mit verschiedenen ethnischen Küchen in Berlin beschreibt, mit „Geschäftstarnungen“. Die Betreiber des italienischen Restaurants entpuppen sich als Griechen, die „Griechen“ als Araber und die „Chinesen“ als Vietnamesen. Auf Kaminers Nachfrage bei einem Bulgaren, der ein türkisches Restaurant betreibt, warum er dies denn macht, antwortet der Wirt: „Berlin ist zu vielfältig. Man muss die Lage nicht unnötig verkomplizieren. Der Konsument ist daran gewöhnt, dass er in einem türkischen Imbiss von Türken bedient wird, auch 147 Feldnotizen 11.11.2009.
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wenn sie in Wirklichkeit Bulgaren sind.“148 Auch die jüdischen Betreiber der Sushi-Restaurants finden bei Kaminer Erwähnung: „Berlin ist eine geheimnisvolle Stadt. Nichts ist hier so, wie es zunächst scheint. In der Sushi-Bar auf der Oranienburger Straße stand ein Mädchen aus Burjatien hinter dem Tresen. Von ihr erfuhr ich, dass die meisten Sushi-Bars in Berlin in jüdischen Händen sind und nicht aus Japan, sondern aus Amerika kommen. […] Nichts ist hier echt, jeder ist er selbst und gleichzeitig ein anderer.“ 149 Die unterschiedlichen Rollen, in die man je nach Situation schlüpft, und die so wie auch Stereotype der Komplexitätsreduktion der Realität dienen, erlauben und fordern sogar eine mehrfache ethnische Besetzung. Das Ergebnis davon ist die Hybridität der ethnischen Zuordnungen, die in einer Stadt wie Berlin, die nach allen Seiten offen ist, möglich wird. Berlin ist ein Raum, in dem sich verschiedene Bewegungen kreuzen, mehrere Schattierungen gegenseitig überlagern und kreative Auslegungen nicht in ein schwarz-weißes Schema einordnen lassen.
Z USAMMENFASSUNG Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Zerfall der traditionalistischen Verhaltensmuster in der Zweiten Moderne dazu führt, dass uns die eigene Lebenswelt zunehmend fremd wird. Diese wird heute weniger durch Kontinuitäten, sondern vielmehr durch Diskontinuitäten bestimmt, die eine Hinwendung zum „Fremden“ fördern. Dabei bietet das Bereisen von unbekannten Gegenden die perfekte Möglichkeit, die eigenen Bedürfnisse in fremde Kulturmuster zu projizieren und sich auf diese Art und Weise das „Fremde“ anzueignen. Die Aneignung und Interpretation von „fremden“ Kulturmustern geschieht auf eine kreative Art und Weise, indem die essentialistischen Kategorien wie Religion und Ethnizität nach individuellen, durch die Urbanität bestimmten Bedürfnissen ausgelegt werden. Dabei lässt sich eine Tendenz zur Hybridisierung und Bricolage beobachten, die verdeutlicht, dass Akteure im Umgang mit unterschiedlichen Situationen, Rollen und Identifizierungen sehr versiert sind und eine eigene, lightVersion des Jüdisch-, Russisch-, Israelisch- oder Deutsch-Seins gestalten. Besonders für Migranten bietet die Konfrontation mit anderen kulturellen und ethnischen Mustern die Gelegenheit, sich ihrer eigenen Position in der Aufnahmegesellschaft zu versichern und ihre vielfältigen Identifizierungen im Zuge der Abgrenzung zu anderen Migrantengruppen auszuhandeln. Eine Stadt wie 148 Kaminer (2000): Geschäftstarnungen, 97f. 149 Ebd., 98f.
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Berlin, in der einzelne Ortsteile in Verbindung mit bestimmten ethnischen Bevölkerungsgruppen wie Türken oder russischsprachigen Spätaussiedlern gebracht werden, bietet eine perfekte Reiselandschaft: Auf der Suche nach dem „Fremden“ muss man die eigene Stadt gar nicht verlassen, sondern es genügt, immer wieder Ausflüge in die von eigenem Wohnort abgrenzenden Stadtteile zu machen. Die Betrachtung dieser Ausflüge offenbart ein Schnittfeld zwischen der Religion, der Kultur, der Urbanität und der Jugendkultur. In diesem Schnittfeld wird der Kontakt mit anderen religiösen und ethnischen Gruppen zu einem permanenten Balanceakt zwischen Differenz und Identifizierung, der in einer nicht nebelhaften, sondern bewussten und selbstbestimmten Vermischung von Kategorien resultiert und zu einer klaren Abgrenzung von fundamentalistischen Kulturen führt. Ein solcher Balanceakt der Akteure ähnelt einem Musikstück, das auf einem Instrument namens Stadt oder urbane Kultur aufgeführt wird. Berlin stellt sich als ein offener, hybrider Raum dar, in dem gegenseitige Begegnungen jederzeit möglich sind. Die meisten meiner Akteure haben in ihren Mental Maps die arabisch- und türkisch-geprägten Stadtteile Berlins wie Kreuzberg, Neukölln oder Wedding als Gegenden bezeichnet, die sie regelmäßig besuchen und die sie sowohl mit einem hohen Aggressionspotenzial, als auch mit einer guten Küche verbinden. In diesen Assoziationen, in denen sich das „Fremde“ mit dem „Eigenen“ vermischt, wird das Jüdische als eine Differenzidentität konstruiert. Die Wahrnehmung von Türken und Arabern als „bildungsfern“ und „rückwärtsgewandt“ lässt Bilder von „bildungshungrigen“, „zivilisierten“ und „modernen“ Juden entstehen. Zur gleichen Zeit genießen meine Akteure die türkische und arabische Küchen und stellen deren Gemeinsamkeiten mit der israelischen und jüdischen Küche fest. Durch eine solche Inklusion der arabischen und türkischen Essenstraditionen lässt sich das Jüdische auch als Integrationsidentität bezeichnen. Die klare Dichotomie zwischen dem „Eigenen“ und dem „Fremden“ existiert nicht mehr. Es lässt sich somit von einem generellen urbanen Prinzip der Zweiten Moderne sprechen, das sich als Differenzidentität und Integration zugleich offenbart. Diese Regel der Wendigkeit zeigt sich auch am Beispiel der Ausflüge junger russischsprachiger Juden in eine andere, zugleich beliebte und gefürchtete Gegend am östlichen Rand Berlins mit seinen Stadtteilen Marzahn, Hellersdorf und Lichtenberg. Einerseits werden die Ostberliner Randbezirke von den Akteuren meiner Studie als „Ghettos“ bezeichnet, in denen man „abgehängte“, „nicht-integrierte“ Gesellschaftsschichten vorfindet – ein Bild, aus dem sich im
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Einklang mit Bausingers These von „Kultur kontrastiv“ 150 der Wunsch nach eigener Lebensnormalität ableiten lässt. Andererseits lässt sich die Suche nach dem Russischen, das in Gestalt von Lebensmittelläden, Cafés und Freizeiteinrichtungen in Marzahn-Hellersdorf vorhanden ist, als „positiver“ Reisegrund bezeichnen. Dabei sucht man nach der eigenen „symbolischen Ethnizität“ – einer Ethnizität, die im Alltag nicht mehr intensiv gelebt wird und daher immer wieder als etwas Verlorengegangenes und zum Teil Fremdgewordenes wiederangeeignet werden muss. Als Grund für das Reisen in der eigenen Stadt fungiert häufig die Esskultur. Während schon Weber das Gebiet des Essens und Trinkens in seiner alltäglichen Form der Tischgemeinschaft in ihrer vergemeinschaftenden Wirkung analysierte,151 hat die Esskultur in den Zeiten der Suche nach neuen Formen der Vergemeinschaftung, die den Alltag transzendierende und die Zeit strukturierende Rolle übernommen. In der durch Säkularisierung geprägten Gesellschaft übernimmt die Kunst des Kochens und des Essens die Aufgabe, die früher die an Natur und Religion gebundenen Feste und Rituale spielten. Beispielhaft dafür stehen die Worte von Stanislav, in denen sich seine Bindungen und individuelle Vorlieben widerspiegeln. Während er sich von den Synagogen als Orten des Treffens und Austauschs distanziert, bezeichnet er den Fisch-Delikatessenladen Rogacki in der Wilmersdorfer Straße als seinen „Fresstempel“. 152 Wie das Religiöse früher, so ist die Esskultur heute ein Raum für gemeinsame Erinnerungen und Erlebnisse geworden und stärkt so das Gemeinschaftsgefühl und damit die Sicherheit. Hiermit offenbart sich deutlich der generelle Paradigmenwechsel von Zugehörigkeiten zu Zuordnungen, der in den Zeiten der Späten Moderne stattfindet. Anstelle von essentialistischen Kategorien wie Ethnizität und Religion, deren Inhalte von Generation zu Generation möglichst unveränderlich weitergegeben werden, treten heute neue Formen der Vergemeinschaftung auf: Es sind solche Kategorien wie Essen oder Sprache, aber auch Lebensstile, Erlebnisgemeinschaften oder koscher-light Prozesse, die Akteuren als Gruppenkitt dienen und die von einer urbanen Kultur sprechen lassen.
150 Bausinger (1987): Kultur kontrastiv – Exotismus und interkulturelle Kommunikation. Nach Bausinger erfährt sich eine kulturelle Gruppe erst in Abgrenzung zu anderen als Einheit. 151 Weber (2002): Wirtschaft und Gesellschaft. 152 Wahrnehmungsspaziergang 19.8.2010.
Fazit Begriffe wie Pluralität, Hybridität und Fluidität sind mittlerweile für viele nicht nur zu Kennzeichen der Zweiten Moderne geworden, sondern auch zu Modeworten, die zwar potenziell hochkomplexe theoretische und methodologische Konstrukte bezeichnen, zugleich aber auch in ihrer Diffusität zu wenig konkreten Aussagen über die Qualität der postmodernen Identitäts- und Raumkonstruktionen führen. Damit diese Begriffe nicht als verschwommene, nebelhafte Konzepte erscheinen, ist es wichtig, sie anhand von konkreten Beispielen auseinander zu dividieren und somit für die Forschung greifbar zu machen. Wie die vorliegende Studie zeigt, sind junge russischsprachige Juden in Berlin am Anfang des 21. Jahrhunderts aufgrund von vielfältigen kulturellen Optionen, die an sie herangetragen werden, entgegen Gitelmans Behauptung in ihrem Verständnis des Jüdischseins alles andere als inkonsistent, verwirrt und unsicher. 1 Gerade angesichts der unterschiedlichen Definitionen des Judentums als Religion, ethnische Zugehörigkeit oder Lebensphilosophie, die ihnen von ihren sowjetisch sozialisierten Eltern und Großeltern auf der einen Seite und von der deutschjüdischen Gesellschaft auf der anderen Seite geboten werden, entwickeln sie im Umgang mit diesen Optionen eine Versiertheit, die sie als Experten der Postmoderne bezeichnen lässt. Weil viele von ihnen aus ethnisch gemischten und interkonfessionellen Ehen stammen, üben sie sich unermüdlich in der Kunst, die vielen und häufig widersprüchlichen Identifikationen als Russen und Juden, Ukrainer und Deutsche, Kinder sowjetischer und christlicher Eltern miteinander zu vereinbaren und in den von ihnen selbst konstruierten Räumen zu leben. Diese Räume, die sie entweder jenseits oder am Rande der offiziellen jüdischen Gemeindestrukturen schaffen, nutzen sie dafür, um ihre persönlichen Erfahrungen und ihr persönliches Wissen unter Verzicht auf Autoritäten in ein eigenes Verständnis des Jüdischseins auf eine kreative Art und Weise zu gießen.
1
Gitelman (2009): Jewish Identity and Secularism in Post-Soviet Russia and Ukraine, 256.
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Die vorliegende Analyse der Räume junger russischsprachiger Juden hat gezeigt, dass diese in ihren Konstruktionen auf soziale Gebilde deuten, die sich von den herkömmlichen Gemeinschaften unterscheiden und sich gemäß dem fragmentarisch-individualistischen Charakter der späten Moderne gestalten. Die Mitgliedschaft in diesen neuartigen Gemeinschaften wird nicht mehr durch passive Zugehörigkeit zu einer Gruppe bestimmt, in die man hineingeboren oder hineinsozialisiert wird, sondern durch eine selbst gewählte Zuordnung zu einem Zusammenschluss von Gleichgesinnten, der auf gemeinsamen Interessen und Erlebnissen basiert, nur für eine bestimmte Zeit und ohne feste Verpflichtungen eingegangen werden kann sowie die Chance bietet, verschiedene kulturelle Optionen, die einem zur Verfügung stehen, miteinander zu kombinieren und auszuleben. Das Jüdische wird dabei nicht mehr als eine essentialistische Kategorie wie Religion oder Ethnizität verstanden, sondern entwickelt sich zu einem Lebensstil, den man jederzeit je nach der momentanen Lebensphase abwandeln oder gar gegen einen anderen tauschen kann. Dabei kann Esskultur die Rolle der Religion übernehmen und eine Sprache wie Jiddisch, die man selbst zwar nicht spricht, die einen aber an die eigenen Großeltern erinnert, vergemeinschaftend wirken. Als Ergebnis wird nicht bloß eine neue Form der Religion geboren, sondern andere Domänen nehmen die Rolle der Religion ein, so dass nicht mehr Synagogen sondern „Fresstempel“, in denen es à la koscher-light zugeht, zum Mittelpunkt des alltäglichen Lebens werden. Ähnlich wie Michael Brenner das Interesse der nicht-jüdischen deutschen Bevölkerung an jüdischer Geschichte, Kultur und Religion mit einer „Mode“ gleichsetzt und das Interesse junger Juden für jüdische Religion als Folge dieser allgemeinen Modeerscheinung betrachtet,2 zeigen die Ergebnisse der vorliegenden Studie, dass das Jüdische als Lebensstil, der durch Essen, Sprache und gemeinsames Interesse definiert wird, von Juden sowie von Nicht-Juden gelebt werden kann. In dem Moment, in dem das Jüdische seine Eigenschaft als soziale Mitgliedschaft, in die man hineingeboren wird, verliert, wird es zu einer Erlebnis- und Interessengemeinschaft, für die man sich freiwillig entschieden hat. Der Blick auf die persönliche Wahrnehmung der Akteure hat gezeigt, dass es in Berlin ihrer Ansicht nach keine als „jüdisch“ etikettierten Räume gibt, die auf die Bedürfnisse junger jüdischer Erwachsener abgestimmt sind. Auf der Suche nach einem jüdischen Partner, unterwegs auf einer Party oder in ihrem Bedürfnis, die persönliche Bedeutung des Jüdischseins mit den anderen auszudiskutieren, frequentieren junge russischsprachige Juden entweder Räume, die jüdisch und gemischt zugleich sind, oder sie konstruieren eigene jüdische Räume, die ei2
Brenner (2011): Religiöse Erneuerung und Säkularisierung, 235.
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nen temporären und fragmentarisch-lockeren Charakter in Bezug auf ihre Inhalte haben. Auch lassen sich in Berlin keine ethnischen Enklaven lokalisieren, wo ausschließlich oder auch nur überwiegend Juden leben, sondern man kann von Kiezen oder Nachbarschaften sprechen, die von Juden zwar favorisiert werden, wo sie aber Tür an Tür mit anderen Bevölkerungsgruppen wohnen. Dank der Möglichkeit, in seinem Jüdischsein an die nicht-jüdischen Inhalte andocken zu können, lässt sich Berlin als eine offene Landschaft begreifen, in der man als Jude zwar etwas Besonders sein kann, aber zugleich als ein Berliner in seiner Besonderheit ganz normal ist. Berlin, wo sich das Jüdische und das Urbane miteinander verbinden lassen, ist heute für junge russischsprachige Juden wiederholt zum „Mekka“ geworden. Auf der Suche nach einem jüdischen Leben, einem jüdischen Partner und danach, Jude und Russe, Tangolehrer und Arzt, Migrant und Berliner zugleich sein zu können, ziehen viele von ihnen heute Berlin einer anderen bundesdeutschen Stadt vor, wenn sie ihre Familien in Hamburg, München oder Kassel verlassen. Durch die Literatur und Reiseberichte der früheren Generationen russischsprachiger Juden, durch Erinnerungen und Narrative ist Berlin zu einem Mythos im Assmann’schen Sinne geworden, zu einer besonderen Landschaft im „kulturellen Gedächtnis“ russischsprachiger Juden, zu einem Code, der eine positive Flucht auf dem Weg zu einem persönlichen Lebensentwurf bezeichnet. Wie jeder Mythos, wird auch das Bild Berlins als einer tollen, lockeren und offenen Stadt vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Erfahrungen sowie in Kommunikation mit den anderen Berlinbewohnern immer wieder neu definiert und revidiert. So zeigen die unterschiedlichen Bedeutungen, die junge russischsprachige Juden für die Stadträume entlang der historischen Stadtgrenze bilden und für den ehemaligen Osten und den ehemaligen Westen Berlins reservieren, dass diese für sie nicht immer positiv besetzt sind. Während sie den Osten Berlins einerseits mit Freiheit, Offenheit und dem Verstanden-Werden und andererseits mit Arroganz und Heuchelei der dort mehrheitlich lebenden aus Westdeutschland zugezogenen Berliner assoziieren, steht für sie der Westen Berlins symbolisch mal für die Authentizität des Berliner Lebens, mal für die physische Eingeschlossenheit, Enge oder die Nichtakzeptanz in ihrem Bestreben, „echte“ Berliner zu sein. Das Gemeinsame bei diesen zum Teil widersprüchlichen Assoziationen ist der Wunsch junger russischsprachiger Juden, trotz ihrer anderen geokulturellen Herkunft als Juden in der Berliner Jüdischen Gemeinde und als Migranten in der Berliner Gesellschaft akzeptiert zu werden. In ihrer Orientierung in der Stadt und bei der Konstruktion ihrer eigenen urbanen Räume lassen sie sich somit von ihren Migrationserlebnissen und kulturellen Erfahrungen leiten sowie von Berlin-
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Bildern, die in ihrem „kulturellen Gedächtnis“ gespeichert sind und durch ihren Alltag relativiert und renoviert wurden. Wenn das Jüdischsein in der vorliegenden Studie als ein urbaner Lebensstil begriffen wird, so basiert die entsprechende Ansicht auf der Beobachtung, dass junge russischsprachige Juden in den von ihnen konstruierten Räumen mit „Großerzählungen“ wie Religion und Ethnizität auf eine kreative Art und Weise umgehen, indem sie diese nach individuellen, von Urbanität bestimmten Bedürfnissen auslegen. Während sie in der kulturellen und ethnischen Vielfalt des urbanen Lebens nach einer „Wir-Gemeinschaft“ suchen, deren Mitgliedschaft sie zumindest für die Dauer eines Lebensabschnittes mit anderen „Komplizen“ teilen, wird die entsprechende Gemeinschaftsbildung nur durch eine Praxis der Abgrenzung von anderen Gruppen möglich. Das „Fremde“ und das „Eigene“ erscheinen dabei mit Waldenfels nicht als Dichotomien, sondern als Teile des Ganzen, die sich gegenseitig beeinflussen und in Bezug zueinander jeweils als Bedingung und Resultat fungieren.3 Demnach lässt sich das Jüdische als eine Integrationsidentität und Distinktionsidentität zugleich begreifen, die durch einen Balanceakt der Akteure auf einer Tanzfläche namens Stadt konstruiert wird. Den Regeln der Urbanität folgend, vermischen sie nicht nebelhaft, sondern bewusst und selbstbestimmt kulturelle Optionen miteinander und kreieren dabei ein Jüdischsein, das in seinen Tendenzen zu Hybridität und Bricolage zu einer urbanen Praxis der Zweiten Moderne an sich wird.
3
Waldenfels (2006): Phänomenologie des Fremden, 117.
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Forschungsgruppe »Staatsprojekt Europa« (Hg.) Kämpfe um Migrationspolitik Theorie, Methode und Analysen kritischer Europaforschung Januar 2014, ca. 250 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2402-1
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Kultur und soziale Praxis Heidrun Friese Grenzen der Gastfreundschaft Die Bootsflüchtlinge von Lampedusa und die europäische Frage Januar 2014, ca. 200 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2447-2
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Kultur und soziale Praxis Andrea Baier »Wie soll man gesund sein, wenn man keine Arbeit hat?« Gesundheit und soziale Ungleichheit. Erfahrungen einer Frauengruppe mit einem Gesundheitsprojekt Juni 2013, 144 Seiten, kart., 14,80 €, ISBN 978-3-8376-2490-8
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Ayla Güler Saied Rap in Deutschland Musik als Interaktionsmedium zwischen Partykultur und urbanen Anerkennungskämpfen Januar 2013, 310 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2251-5
Susann Huschke Kranksein in der Illegalität Undokumentierte Lateinamerikaner/innen in Berlin. Eine medizinethnologische Studie Mai 2013, 416 Seiten, kart., zahlr. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2393-2
Alfred Nordheim, Klaus Antoni (Hg.) Grenzüberschreitungen Der Mensch im Spannungsfeld von Biologie, Kultur und Technik
Ewa Palenga-Möllenbeck Pendelmigration aus Oberschlesien Lebensgeschichten in einer transnationalen Region Europas Januar 2014, ca. 390 Seiten, kart., ca. 31,80 €, ISBN 978-3-8376-2133-4
Simon Reitmeier Warum wir mögen, was wir essen Eine Studie zur Sozialisation der Ernährung Mai 2013, 392 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2335-2
Hannes Schammann Ethnomarketing und Integration Eine kulturwirtschaftliche Perspektive. Fallstudien aus Deutschland, den USA und Großbritannien April 2013, 300 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2428-1
Caroline Schmitt, Asta Vonderau (Hg.) Transnationalität und Öffentlichkeit Interdisziplinäre Perspektiven April 2014, ca. 270 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2154-9
Burkhard Schnepel, Felix Girke, Eva-Maria Knoll (Hg.) Kultur all inclusive Identität, Tradition und Kulturerbe im Zeitalter des Massentourismus August 2013, 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,90 €, ISBN 978-3-8376-2089-4
Juli 2013, 248 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2260-7
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