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German Pages 218 Year 2016
Antje Matern (Hg.) Urbane Infrastrukturlandschaften in Transformation
Urban Studies
Antje Matern (Hg.)
Urbane Infrastrukturlandschaften in Transformation Städte – Orte – Räume
Gefördert durch
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Inhalt
Vorwort | 7 Beyond Modernity: Urbane Infrastrukturlandschaften in Transformation Antje Matern | 9
Reflections on urban infrastructure: In what ways should we respond to traces of former infrastructure systems? Matthew Gandy | 37
München: Infrastrukturen im urbanen Raum im 19. und 20. Jahrhundert Mathias Irlinger | 43
Der GR 2013-Weg: Wandern durch urbane Infrastrukturlandschaften in der Provence Hendrik Sturm | 65
Infrastrukturen der Wahrnehmung: Interventionen für Regionsbildung im Ruhrgebiet Achim Prossek | 85
Gleiswildnis: Freiraumgestaltung mit Relikten der Industrieära als travelling idea zwischen Europa und Noramerika Constanze A. Petrow | 103
Hochstraßen in Deutschland. Verschwindende Dokumente der Nachkriegsmoderne Maren Harnack, Martin Kohler | 125
Transformation mit den Mitteln der Kunst. Die Ausstellung Emscherkunst als Zukunftswerkstatt für das neue Emschertal Jochen Stemplewski, Simone Timmerhaus, Lisa Maria Weber | 147
Infrastrukturlandschaften zwischen gestern und heute. Zur Transformation von Stadträumen durch Umnutzungen Anna-Lisa Müller | 169
Selbstorganisierte Infrastrukturen in der Stadt. Alltagsleben mit eco-san-Technologien Birke Otto | 189
AutorInnenübersicht | 211
Vorwort Antje Matern Infrastrukturlandschaften sind ein Phänomen der Moderne. Sie haben sich in den städtischen Wachstumsphasen ausgebildet und erzeugen aktuell neue Herausforderungen. Denn Infrastrukturen prägen ihr Umfeld und das gesellschaftliche Handeln durch die Präsenz ihrer Artefakte und deren begrenzte Anpassungsfähigkeit an kurzfristige Bedarfsänderungen. Mit ihrer materiellen Persistenz überformen sie die Eigenarten und Ästhetik von Räumen, selbst wenn ihre Artefakte bereits aus der Nutzung gefallen und sie zu Relikten früherer Infrastrukturgenerationen geworden sind. Doch welche funktionalen und ästhetischen Werte verbinden wir mit den Infrastrukturen? Wie und durch wen werden die Leitbilder, aber auch die Artefakte, aus denen Infrastrukturlandschaften bestehen, gestaltet, und wie verändern sie sich gegenwärtig? Welche Wirkungen haben alternde Infrastrukturen auf Stadträume und wie gehen Nutzer_innen und Planer_innen mit der Langlebigkeit von Infrastrukturen im städtischen Raum um? Der Sammelband widmet sich Raumprägungen durch technische Infrastrukturen und der Transformation von und in städtischen Infrastrukturlandschaften. Ein besonderer Fokus liegt auf ausgedienten Infrastrukturen und deren Persistenz in städtischen Kontexten. Im Zuge von Transformationen werden ökonomische, funktionale und ästhetische Werte der Infrastrukturlandschaften sowie die Ansprüche an deren Gestaltung zwischen Standardisierung und Lokalspezifik hinterfragt. Eingefangen werden sowohl historische und sozialwissenschaftlich-analytische Betrachtungen als auch gestalterisch-künstlerische Sichtweisen auf Infrastrukturen und ihre Wechselwirkungen mit Stadträumen, die anhand von ausgewählten europäischen Stadtregionen konkretisiert werden. Die Beiträge erkunden die Wechselwirkung von Stadt und Infrastruktur, indem sie deren Koevolution und die gesellschaftlichen Konstruktion von Raum, aber auch die ästhetischen Qualitäten und gestalterischen Potenziale
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von (technischen) Infrastrukturen als Bestandteile urbaner Landschaften beleuchten. Die Autor_innen reflektieren bestehende Planungsleitbilder und Organisationsstrukturen kritisch und spiegeln theoretisches und planerisches Orientierungswissen für einen nachhaltigen Umgang mit Infrastrukturen an historischen und aktuellen Beispielen. Gesellschaftlich relevante Fragen des Umgangs mit Erinnerung, des Einschreibens von Handeln und die Reflexion von Transformationsprozessen werden ebenso angesprochen wie die Gestaltung von technischen Artefakten als Bestandteil moderner Stadtlandschaften. Die Auseinandersetzung mit urbanen Infrastrukturlandschaften und Phänomenen der Transformation begann für mich mit einer Sitzung auf dem Geographentag in Passau 2013, die ich gemeinsam mit Sabine von Löwis leitete. Im Rahmen einer Veranstaltungsreihe am Fachgebiet Raum- und Infrastrukturplanung der TU Darmstadt im Frühjahr 2014 konnte ich die Inhalte zusammen mit Gastreferent_innen vertiefen und um neue Aspekte ergänzen. Die Fakultät für Architektur, Bauingenieurwesen und Stadtplanung der BTU Cottbus-Senftenberg und die Stiftung „Lebendige Stadt“ ermöglichten, die Ergebnisse schließlich als Buch zu veröffentlichen. Ein herzliches Dankeschön geht deshalb an die Unterstützer des Projektes, insbesondere die BTU Cottbus-Senftenberg, die Stiftung „Lebendige Stadt“ und Prof. Dr. Jochen Monstadt von der TU Darmstadt. Bei den Autorinnen und Autoren möchte ich mich ganz herzlich für ihre spannenden Texte bedanken. Ich wünsche allen Leser_innen viel Vergnügen.
Beyond Modernity Urbane Infrastrukturlandschaften in Transformation Antje Matern „Empire State Building war gestern, das Muss für Manhattan-Touristen ist heute die High Line: eine stillgelegte Hochbahntrasse, die zum Park umfunktioniert wurde.“ So kommentierte Christina Horsten (Spiegel Online, 22.9.2014) die Eröffnung des letzten Abschnitts der Hochbahntrasse, die von einer Industriebahn zu einem der bekanntesten Parks in Manhattan umgebaut wurde. Auch Michael Kimmelman (Autor bei der New York Times, Spiegel Online, 22.9.2014) schließt sich an: „Wenn der neueste und letzte Teil der High Line nicht dazu führt, dass Sie sich noch einmal total in New York verlieben, dann weiß ich wirklich nicht mehr, was ich sagen soll.“ (ebd.) Als die Hochbahn 1934 zur Belieferung von Fabriken und Warenlagern errichtet wurde, ahnte wahrscheinlich niemand, dass diese Konstruktion einmal touristischen Weltruhm erlangen und in fünf Jahren über 20 Mio. Besucher_innen anlocken würde.1 Bis heute ist es für viele vergleichbare Infrastrukturen in Städten (ob Bahntrassen oder Hochstraßen) schwer vorstellbar, dass diese als touristische Attraktionen fungieren. Vielmehr bereiten sie den Planer_innen Kopfzerbrechen, da ihre Form und Funktionalität aus der Zeit fallen, sie altern und aktuellen Bedarfen nicht mehr entsprechen. Viele dieser Artefakte finden sich in Städten ganz oben auf den Listen der Abrisskandidaten, denn sie sind längst nicht mehr die Ikonen des Fortschritts, sondern ungelenke Fremdkörper in den an Attraktivität gewinnenden Großstädten. Und oft scheinen nur hohe Umbaukosten die Städte daran zu hindern, den letzten Schritt zum Abriss oder zum kompletten Umbau zu gehen. Interessant sind jedoch auch jene langsam wachsenden Initiativen, die sich mit infrastrukturellen Artefakten in ihrer Nachbarschaft auseinandersetzen und sie in der Diskussion um Abriss oder Umbau, als Erinnerungs1 | Vgl. dazu den Beitrag von Petrow im Band.
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orte der Moderne bewahren wollen. Beispiele sind die Anfang der 1960er Jahre errichtete Hochstraße „Tausendfüßler“ in Düsseldorf oder die Initiative Wuppertalbewegung. Es lässt sich fragen, ob diese Initiativen sich nahtlos anschließen an die Umnutzung von Bahntrassen, Wasserwerken oder Elektrizitätsstationen, die in der Einführungsphase der Infrastrukturen im 19. Jahrhundert als monumentale Bauwerke des Fortschritts errichtet wurden. Diese erfreuen sich in der Umnutzung als Veranstaltungsorte, Museen und Cafés oder als touristische Radwegetrassen großer Beliebtheit, wie das Dieselkraftwerk in Cottbus, die Zentralstation in Darmstadt oder der alte Schlachthof in Dresden belegen. Hingegen liegen die Zeiten nicht so lang zurück, als Industrielandschaften als schmutzig, problematisch und als wenig lebenswerte Orte konnotiert waren (Schott, D. 2014). Fangen wir gerade erst an, Infrastrukturlandschaften und hochgradig überformte Räume lesen zu lernen? Oder stehen Initiativen wie jene zur Erhaltung der High Line oder Beispiele des Kreativurbanismus für eine neue Nostalgie in Bezug auf die Moderne? Wenn ja, welche Erinnerungen werden aktiviert und welche Werte und Eigenschaften mit der Moderne verknüpft? Jene des sorglosen Wachstums in der Nachkriegszeit, des Massenkonsums und Wohlstands und des bequemen Zugangs zu einer Vielzahl von Produkten und Leistungen? Oder weckt der gegenwärtige Wandel von Infrastrukturlandschaften das Bedürfnis nach einem Festhalten an alten Bildern? Verursachen etwa die neoliberalen Wettbewerbs- und Stadtpolitiken (vgl. Brenner et al 2010:330) oder die beginnende Digitalisierung der Städte (vgl. Luque-Ayala, Marvin 2015) neue Unsicherheiten, die das Erinnern an vergangene Strukturen und Leistungen eines starken (paternalistischen) Staates fördern? Oder ist es die Reurbanisierung (Häußermann et al. 2008), die eine Auseinandersetzung mit städtischen Kontexten fördert und aufgrund derer das Entdecken von neuen Räumen auch vor den Infrastrukturen nicht Halt macht? Geht es vielleicht gar nicht um die Materialitäten der Infrastrukturen, sondern um die Orte oder schlicht um die Wände, die eine Leinwand für individuelle Botschaften und Kommunikation in zentralen Lagen bieten? Beispiele für eine Auseinandersetzung mit konkreten Orten und eine Sensibilisierung für infrastrukturell hochgradig geprägte Räume und deren Ästhetiken sind u.a. die Hafensafari in Hamburg (2004-2010, www.hafensa-
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fari.de), der GR 2013 in Marseille2 oder die IBA Emscher Park 3 im Ruhrgebiet (1992-1999). Die Ansätze und Methoden, mit denen die Aufmerksamkeit auf die Infrastrukturlandschaften gerichtet wurde, sind dabei höchst unterschiedlich. In allen Beispielen lässt sich eine Faszination für Orte im Wandel ablesen, die durch Inszenierungen für Interessierte erlebbar werden, so etwa in Hamburg: „Der Rundgang führt vorbei an Wellblechschuppen, Containern, Metallschrott, Kanälen, Schienen, Straßen, verwitterten Schilderwäldern und echter Flora - ein geheimnisvoller Teil des Großstadt-Dschungels will entdeckt werden. Auch knapp zwei Dutzend Künstler haben sich mit dem Areal auseinandergesetzt und ihre Werke entlang der Safari-Strecke in die Landschaft gestellt. Die Hafensafari zeigt, wie spannungsreich Orte im Umbruch sein können.“ (Hamburger Abendblatt 12.08.2004) Bevor diese und andere Gestaltungsansätze von urbanen Infrastrukturlandschaften in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken, sollen Grundbegriffe definiert sowie ausgewählte Charakteristika der Raum- und Infrastrukturentwicklung der Moderne und gegenwärtiger Transformationen dargestellt werden. Abschließend gibt diese Einführung einen Überblick über die Struktur des Bandes und die Einzelbeiträge.
1. Städtischer R aum – und I nfrastrukturen als K oevolution Infrastrukturen sind eine wesentliche Voraussetzung moderner Stadtentwicklung. Sie sind in die Städte eingewoben und für deren Funktionsfähigkeit unabdingbar (Kaika & Swyngedouw 2000:120). Das Wachstum von Städten und Stadtlandschaften und ihr Charakter werden maßgeblich durch Infrastrukturen geprägt. Mit ihren Artefakten und Vernetzungen stellen diese wichtige Grundlagen städtischen Handelns bereit. Sie strukturieren den urbanen Raum, indem sie als Vermittler in den Austauschbeziehungen von Natur, Mensch und Stadt wirken und Bewegungen von Menschen, Informationen, Gütern und Stoffströmen organisieren (Castells 1996, Gandy 2014). Durch die Langlebigkeit ihrer Netzstrukturen und Artefakte erzeugen Infrastrukturen Pfadabhängigkeiten, die langfristig wirksam sind: „Because infrastructure is big, layered, and complex, and because it means different things locally, it is never changed from above. Change takes time and ne2 | Vgl. Beitrag von Sturm in diesem Band. 3 | Vgl. Prossek und Stemplewski et al. in diesem Band.
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gotiation, and adjustment with other aspects of the system involved“ (Star 1999, 382). Zugleich ermöglichen technische Neuerungen in Infrastrukturen Skalensprünge in der Dichte oder der Ausdehnung von urbanen Räumen (van Laak 2004, 27ff.). So kann die Geschichte von Städten entlang des Ausbaus und der Erweiterung ihrer infrastrukturellen Netze erzählt werden (Graham & Marvin 2008, 40-41). Historische Beispiele für diesen technologischen Wandel sind etwa die Gaslaternen, die in deutschen Großstädten im späten 19. Jahrhundert durch die elektrische Beleuchtung ersetzt wurden (Schott 1999, 177-195) oder elektrische Straßenbahnen, die Pferdebahnen als öffentliches Transportmittel in Städten ablösten (Schott 1999, 347-351). Infrastrukturen beeinflussen gesellschaftliches Handeln, Alltags- und Planungspraktiken sowie das wirtschaftliche oder soziale Zusammenleben. Aber die Abhängigkeit der Stadt von ihren Infrastrukturen ist nicht einseitig. Vielmehr zeigen Autor_innen der sozialwissenschaftlichen Technikforschung in ihren Studien auf, inwiefern kulturelle und gesellschaftliche Werte sowie raumzeitliche Kontexte die Infrastrukturen und deren Gestaltung prägen (vgl. Star 1999; Mayntz 2008; Monstadt 2004; Summerton 1994). Eine klare Abgrenzung von Infrastrukturen gegenüber anderen gesellschaftlichen Einheiten fällt deshalb schwer. Ihre Artefakte, Organisations- und Steuerungsstrukturen sind eng miteinander verwoben. Mayntz (2008) schlägt daher eine ganzheitliche Betrachtung von Infrastrukturen als großtechnische Systeme vor, bei der Infrastrukturen als eine Gesamtheit von Technik-, Wirtschafts- und Governancestrukturen definiert werden. Dies bietet für die Analyse von Infrastrukturlandschaften aus raumwissenschaftlicher Sicht eine gute Perspektive, die nicht nur die Frage nach technischen Möglichkeiten, sondern auch nach den Akteuren und ihren Interessen und Leitbildern sowie anerkannten Planungspraktiken einbezieht. In der westlichen Welt entwickelten sich Infrastrukturen im 19. Jahrhundert zu einer wichtigen Voraussetzung städtischen Lebens (Albers 1997, 35), die Graham und Marvin (2001) treffend mit dem modernen Infrastrukturideal beschreiben. Um die Voraussetzung für eine gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft zu schaffen, gelten Infrastrukturen in modernen Staaten als staatliche Vorleistung (vgl. Frey 2005, 469). Der Staat nutzt die Integrationswirkung, um in allen Teilräumen gleichwertige Ausgangsbedingungen für gesellschaftliches oder wirtschaftliches Handeln herzustellen, und er gewährleistet dafür seinen Bürger_innen einen universellen und preiswerten Zugang zu Ver- und Entsorgungsinfrastrukturen.Begründet wird die staatliche Verantwortung in der Versorgung nicht nur mit der gesellschaftlichen
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Rolle der Infrastruktur, sondern auch mit dem Charakter der Strukturen, den hohe Fixkosten für den Bau und die Unterhaltung sowie eine Unteilbarkeit, Orts- und Netzgebundenheit ihrer Anlagen kennzeichnen. Diese Eigenschaften und die Wechselbeziehungen zwischen unterschiedlichen zentralen Infrastrukturbereichen legen ein Monopol nahe, das durch staatliche Leistungen übernommen wird (Frey 2005, Jochimsen, 1966). Infrastrukturen beeinflussen bis heute die Stadtentwicklung, doch ihre Artefakte treten nur noch selten in Erscheinung. Von den einstigen Ikonen der Moderne wurden Infrastrukturen zu ubiquitären Objekten, deren Form vornehmlich an den Kriterien von Effizienz und Pragmatik orientiert sind. Deren Artefakte wurden in den Untergrund oder an die städtische Peripherie verbannt, wie Kaika & Swyngedouw (2000:121) beschreiben: They have undergone important historical changes in their visual role and their material importan“ ce in the cityscape. In particular, during the early stages of the nineteenth-century modernization, urban networks and their connecting iconic landmarks were prominently visual and present. […] When the urban became constructed as agglomerated use values that turned the city into a theatre of accumulation and economic growth, urban networks became the iconic embodiments of and shrines to a technologically scripted image and practice of progress. Once completed, the networks became buried underground, invisible, rendered banal and relegated to an apparently marginal, subterranean urban underworld.“ Auch Star (1999) beschreibt das Phänomen der Unsichtbarkeit als Charakteristikum von Infrastrukturen. Denn obwohl ihre Artefakte die Eigenart und Ästhetik von Räumen prägen, erlangen sie oft nur während der Einführung neuer Technologien oder im Fall ihres kurzfristigen Systemausfalls an Sichtbarkeit. „The normally invisible quality of working infrastructure becomes visible when it breaks [...] This breakdown became the basis for a much more detailed understanding of the relational nature of infrastructure.“ (Star 1999, 382)
1.1 Infrastrukturelle Hinterlassenschaften Dieses Buch legt den Schwerpunkt auf die infrastrukturellen Hinterlassenschaften der Moderne. Damit sind vor allem Häfen, Bahnhöfe und Gleisanlagen, Militärflächen, Straßen, Autobahnkreuze und Flugplätze, aber auch Objekte und Leitungssysteme der Wasser- und Energieversorgung, der
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Telekommunikation oder der Abfall- und Abwasserentsorgung angesprochen (Libbe et al. 2010).4 Wie einführend dargestellt, lassen sich die Infrastrukturen nur schwer von anderen Bereichen der Gesellschaft abgrenzen, denn ihre Technik-, Marktsysteme und Steuerungsstrukturen sind eng in das städtische Leben eingewoben. Auch ihre Abgrenzung in raumzeitlicher Perspektive ist fließend. So lassen sich noch in der Nutzung befindliche Artefakte als infrastrukturelle Hinterlassenschaften der Moderne klassifizieren, wenn sie z.B. im Zuge der Ausbauphasen der Städte entstanden sind und damit hinsichtlich ihrer Gestaltung und Funktionalität einer Infrastrukturgeneration angehören, die nicht mehr ganz zeitgemäß ist.5 Selbst wenn diese Artefakte noch im Gebrauch sind, haben vielerorts Debatten darum begonnen, ob sie zu erhalten und instandzusetzen sind oder welche Alternativen möglich wären.6 Die Anlässe für Transformationen sind verschieden: Zum einen bewirken städtische Wachstumsdynamiken einen Transformationsbedarf in Infrastrukturen, der zum Ablösen alter Versorgungssysteme durch (technologische) Neuerungen führt. Das Beispiel der Pferdebahn verdeutlicht dies auf anschauliche Weise.7 Neben städtischen Wachstumsdynamiken und technologischem Fortschritt führen auch politische Zielsetzungen zu einem infrastrukturellen Systemwechsel, wie die Arbeiten von Monstadt (2008) oder Geels (2011) verdeutlichen. Im Ergebnis hinterlassen die Infrastrukturen Relikte vorangegangener Versorgungssysteme im Stadtbild. Diese bleiben entweder erhalten oder werden durch Umbaumaßnahmen beseitigt. Infrastrukturelle Hinterlassenschaften oder deren Relikte finden sich überall: Sie reichen von der innerstädtischen Brache ehemaliger Güterumschlagplätze, über zu klein gewordene Hafenareale, „beleuchtete Wiesen“ ungenutzter Gewerbegebiete am Rande von Siedlungen, aus der Nutzung gefallene militärische Konversionsflächen im ländlichen Raum bis hin zu Flugplätzen im 4 | Im raumplanerischen Verständnis werden auch Einrichtungen wie Krankenhäuser, Schulen, Postämter etc. zu den (sozialen) Infrastrukturen gezählt, jedoch beschränkt sich der Band vorrangig auf die aufgelisteten technischen Infrastrukturen. 5 | Vgl. Gandy in diesem Band. 6 | Vgl. Harnack & Kohler in diesem Band. 7 | Angesichts der stark ansteigenden Einwohnerzahlen der Städte im 19. Jahrhundert waren die Pferdebahnen dem Bedarf nicht mehr gewachsen; es fehlte an Ställen zur Unterbringung der Pferde, die Verschmutzung der Straßen wurde zum Problem. In der Folge konnten sich die elektrischen Straßenbahnen durchsetzen (vgl. Schott 1999).
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suburbanen Raum. Die Mehrheit infrastruktureller Hinterlassenschaften der Moderne konzentriert sich in Regionen, die in der Phase der Industrialisierung und in der Nachkriegszeit Zentren, Knotenpunkte oder Wachstumspole darstellten. Das sind in der westlichen Welt besonders Stadtlandschaften und Altindustriegebiete wie das Ruhrgebiet. Zugleich wird anhand bestehender Gestaltungsansätze deutlich, dass der Handlungsdruck, einen Umgang mit den Artefakten, Brachen und Leitungssystemen zu finden, in urbanen Räumen besonders dringend ist – sei es durch den Nutzungsdruck auf bestehende Flächen oder durch die Tatsache, dass die Nicht-Integration von Nutzungen und Artefakten in eine zeitgemäße Stadtgestaltung zu Diskussionen, Aneignungen oder stadtpolitischen Auseinandersetzungen führt. Infrastrukturelle Hinterlassenschaften sind ein klares Zeugnis ihrer Zeit und deren Leitbilder und sie übernehmen wichtige Funktionen in der Gesellschaft. Jedoch muss heute neu ausgehandelt werden, ob ihre Artefakte erhalten bleiben, ob an ihre Rolle als Funktion erinnert wird oder ob eine Umgestaltung, ein Funktionswandel oder ein Abriss erfolgen soll und damit die bestehenden Strukturen überschrieben werden. Dieser Aushandlungsprozess findet in einem Mehrebenensystem mit einer Vielzahl von Akteuren statt. Beteiligte sind z.B. Nutzungsgesellschaften, Großunternehmen (etwa die Deutsche Bahn AG), staatliche Akteure (Stadt, Land oder Bund) sowie zivilgesellschaftliche „Zwischennutzer_innen“ oder Bürgerinitiativen. Mit der Durchsetzung der Entflechtungs- und Liberalisierungspolitiken der EU haben Infrastrukturmärkte und ihre Akteursstrukturen an Heterogenität und Komplexität gewonnen (vgl. Matern et al. 2014, Libbe et al 2010).
1.2 Annahmen und Schwerpunkte der Betrachtung Dem vorliegenden Buch liegen drei Annahmen zugrunde, die eine Auseinandersetzung mit städtischen Infrastrukturen gegenwärtig besonders interessant erscheinen lassen: 1. Urbane Infrastrukturen erzeugen auch am Ende ihres Lebenszyklus eine neue Sichtbarkeit. Sie verursachen Spannungen zwischen dem Vergangenen, dessen Leitbildern, Praktiken und Wertvorstellungen und dem Heute. Sie fordern Antworten auf die Fragen, was erhaltenswert und was überkommen ist und wer das Recht hat, diese Entscheidung zu treffen. Sie bieten für stadtplanerische Diskurse interessante Optionen und Herausforderungen. Die Auseinandersetzung mit städtischen Infrastruktu-
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ren am Ende ihres Lebenszyklus findet bisher in der sozialwissenschaftlichen Technikforschung und in der Raumwissenschaft nur randlich statt, obwohl das Phänomen mit jeder maßgeblichen Transformationsphase der Stadtentwicklung zu beobachten ist und die engen Verknüpfungen von Infrastruktur und urbaner Landschaft verdeutlicht. 2. Diese Forschungslücke bietet eine hohe praktische Relevanz, da die Zahl der Infrastrukturen steigen wird, deren Fortbestand in den nächsten Jahren überprüft werden muss. Austeritätsdiskurse, politische Debatten um Erneuerungsbedarfe und ein öffentliches Nachdenken über alternative Finanzierungssysteme zeugen von politischem Handlungsbedarf (vgl. Krugman 2013; Streeck & Mertens 2010; Blyth 2013; Jakubowski 2006). Zudem sind die Städte und ihre technischen Infrastrukturen einem hohen Transformationsdruck unterworfen. Auxh mit den Anforderungen von Klimawandel, Energiewende und Ressourcenschutz enstehen Erwartungen, die bestehenden städtischen Infrastrukturen und deren Systeme grundlegend zu überprüfen (vgl. Jakubowski 2014; Luque-Ayala& Marvin 2015). 3. Aus Sicht der Raumwissenschaften und sozialwissenschaftlichen Infrastrukturforschung erscheint es interessant, wie die Akteure der hochgradig fragmentierten Infrastruktursysteme mit der Transformationsaufgabe umgehen. Wird mit dem aktuellen Wandel die hochgradige Standardisierung der Moderne weiter abgebaut oder wieder reduziert, indem sich Raumzuschnitte und Versorgungssysteme diversifizieren? Bisher besteht wenig Wissen darüber, welche Arrangements und Praktiken sich herausbilden und ob diese stadtspezifischen oder sektorbezogenen Mustern folgen. Es scheint dringend erforderlich, die Dynamiken, Mechanismen und Kontexte der Reproduktion von Infrastrukturlandschaften während des Prozesses ihres Aus-der-Nutzung-Fallens zu systematisieren. Dies würde bestehende Ansätze ordnen helfen und Schlüsse über Wechselwirkungen von Kontext, Praktiken und Arrangements zulassen. In diesem Band werden erste Grundlagen für die Auseinandersetzung mit infrastrukturellen Hinterlassenschaften gelegt. Anhand ausgewählter Beispiele wird hinterfragt, welche Wertemuster relevant sind, welche Wissensbestände eingebunden und welche Merkmale und Zusammenhänge bei der theoretischen und gestalterischen Beschäftigung mit infrastrukturellen Hinterlassenschaften berücksichtigt werden sollten. Die Beiträge widmen sich dieser Forschungslücke von urbanen Infrastrukturlandschaften in Trans-
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formation. Sie richten den Blick auf Praktiken und Strategien im Umgang mit städtischen Infrastrukturen und infrastrukturellen Hinterlassenschaften sowie Transformationsprozessen in urbanen Räumen. Das „Aus-der-NutzungFallen“ von Infrastrukturen ist für die planerische Auseinandersetzung eine besonders interessante Entwicklungsphase, denn sie eröffnet den Städten neue Chancen für die Stadtentwicklung. Diese bieten die Möglichkeit, technische Artefakte stärker in den urbanen Raum zu integrieren, neue Funktionen zu ergänzen oder Flächen neu zu nutzen. Auch das zeigen zahlreiche Beispiele von Umnutzungen infrastruktureller Artefakte, von alten Schulgebäuden, über Elektrizitätswerke bis hin zu Hafenanlagen, Bahnhöfen oder Gleisfeldern. Der Umgang mit Infrastrukturen und ihren Hinterlassenschaften in der Phase nach ihrer Nutzung unterscheidet sich räumlich und zeitlich. Wie die Phase der Einführung neuer Infrastruktursysteme ist die Transformation am Ende des Lebenszyklus geprägt durch fachspezifische Leitbilder, Strategien und Praktiken, zeitgemäße Trends und stadtspezifische Planungskulturen. Sie unterscheiden sich entsprechend den Akteurskonstellationen und deren Interessen, institutionellen und sozioökonomischen Rahmenbedingungen, aber auch aufgrund unterschiedlicher kollektiver Wertvorstellungen und Handlungspraktiken. Die Ergebnisse der Strategien und Praktiken reichen vom Abriss und völligen Funktionsverlust über die Inszenierung alter Funktionen bis hin zum Recycling. Die Frage, wie man mit den Hinterlassenschaften umgehen sollte, ist eng an die sozialen Transformationen im 20. Jahrhundert geknüpft; Reuse, Recycling (Oldenziel & Weber 2013, 348) oder Retrofitting (Dixon & Eames 2013, 499) wurden zentrale Bestandteile der Praktiken und förderten einen neuen Trend im Umgang mit den Relikten. Spätestens seit der IBA Emscher Park werden infrastrukturelle Hinterlassenschaften und Relikte der Industrialisierung als Potenziale für die Raumentwicklung angesehen. Die Auseinandersetzung mit deren Ästhetik sowie den gestalterischen und funktionalen Möglichkeiten, die infrastrukturell geprägte Räume bieten, lösten vielfach Problemdiskurse ab – etwa Debatten um Altlasten, ungeklärte Eigentumsverhältnisse, schwierige städtebauliche Integrationsmöglichkeiten oder Verkehrsanbindungen. Die Ansätze der IBA Emscher Park dienten als Vorbild für zahlreiche Umgestaltungen, und das Konzept, Arbeits- und Infrastrukturen als zeitgemäße Kulisse von Stadt zu inszenieren und dabei an eine vergangene Phase der Stadtentwicklung zu erinnern, wurde (wie z.B. die Beiträge von Petrow oder Prossek in diesem Band zeigen) seither oft wiederholt, modifiziert und fortentwickelt.
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2. D er Wandel urbaner I nfrastrukturen in der M oderne Wesentliche Charakteristika moderner Infrastrukturversorgung sind preiswerte und ubiquitäre Leistungen, die durch staatliche Akteure diskriminierungsfrei bereitgestellt werden. Die Qualität der Leistungen bemisst sich an den Zielen von Zugänglichkeit, Effizienz und Störungsfreiheit. Dienten sie zu Beginn der Industrialisierung vor allem dazu, die hygienischen Bedingungen in den Städten zu verbessern, wurden sie im 20. Jahrhundert verstärkt als Integrationsinstrument eingesetzt und ihr Ausbau wurde massiv vorangetrieben. Doch was war der Anlass, dass im 19. Jahrhundert Infrastrukturen zum gestalterischen Element wurden und Ingenieure als Kreatoren der Stadtentwicklung in Erscheinung traten? Und wie entwickelten sich die städtebaulichen Qualitäten während der Phase des Ausbaus der Infrastrukturen, als die flächendeckende Versorgung aller Bevölkerungsschichten und die effiziente Organisation von Stoffströmen und Strukturen zur wichtigsten Herausforderung wurde? Im Folgenden werden drei wesentliche Etappen der Entwicklung moderner Infrastrukturen skizziert, um im Anschluss daran zu fragen, ob wir inzwischen in eine neue Phase der Transformation eingetreten sind.
2.1 Frühe Moderne: Infrastrukturen als Gestaltungsinstrument der Stadtentwicklung Infrastrukturen übernehmen seit Beginn der Industrialisierung und dem Wachstum der Städte eine zentrale Rolle in der Stadtplanung. Deutlich wird dies an Haussmanns Umgestaltung von Paris, aber auch an den Bauprojekten zur Hygienisierung der Städte, z.B. geplant durch Lindley in Hamburg, Warschau oder London (Pelc & Grötz 2008). Der Auftrag für Stadtentwickler und Ingenieure war es, die Städte zu modernen Metropolen zu entwickeln und deren hygienische Probleme zu lösen. Dazu nutzen sie maßgeblich die technischen Infrastrukturen, wie Straßenverbindungen, Bahnhöfe und eine leistungsfähige Wasserversorgung und Abwasserkanalisation (Albers 1997, 35, Pelc & Grötz 2008). Diese Grundsteine der konzeptionellen Überlegungen prägen bis heute die Stadt und zeigen das Transformationspotenzial infrastruktureller Interventionen in städtischen Ausbau- und Wachstumsphasen (Benevolo 1999; Hauck & Kleinekort 2011, 10). An Paris, London und Hamburg wird auch die Langlebigkeit der infrastrukturellen Prägung von städtischen Topologien erkennbar. Denn die Beispiele verdeutlichen, wie
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radikal die Umbauten der Moderne die Städte veränderten und diese in einer Art formten, die bis heute ablesbar ist. Sie zeigen auch, welche Rolle einzelnen Stadtbaumeistern und Ingenieuren als „systembuilder“ (vgl. Hughes 1987) zukam, die neuen Technologien zu entwickeln und durchzusetzen. Die Umgestaltungen gelten als Vorreiter für eine funktionale Ausdifferenzierung und Entflechtung des Stadtgefüges. Vorangetrieben durch medizinische Erkenntnisse und das Anliegen, die hygienischen Verhältnisse in den Städten zu verbessern, setzte sich im späten 19. Jahrhundert das Grundprinzip der Funktionstrennung durch. Mit der Charta von Athen (1933) wurde es zur Grundregel des modernen Bauens.
2.2 Hochphase in der Nachkriegsmoderne: Standardisierung und Funktionstrennung in der Raumentwicklungspolitik
In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg prägten in Europa die räumlichplanerischen Praktiken der Regionalpolitik die moderne Raum- und Infrastrukturentwicklung. Der Infrastrukturbegriff erlebte in der Nachkriegszeit eine Konjunktur, die durch das Infrastrukturprogramm der NATO eingeleitet wurde (van Laak 2004). Die Integrationsfunktion von Infrastrukturen wurde genutzt, um die dynamischen Elemente im Raum zu verteilen, Raumnutzungen zu koordinieren und allen Teilräumen eine Teilhabe an der Gesellschaft und an wirtschaftlichen Aktivitäten zu ermöglichen. In der Praxis der Regionalentwicklung wurden Infrastrukturen zu einer Selbstverständlichkeit im Denken und Handeln. Das erweiterte Infrastrukturverständnis verband Planung und Sachzwang und entpolitisierte staatliche Investitionsentscheidungen (van Laak 2004). Diese wurden zu Symbolen von Modernisierung und Fortschritt, ermöglicht durch Infrastruktur-Expert_innen, die sektorbezogene Techniksysteme errichteten und technische Lösungen für Herausforderungen der Raumentwicklung erarbeiteten. Infrastrukturelle Anlagen und Netze wurden erweitert, um wachsende Bedarfe zu decken, die ökonomische Leistungsfähigkeit der Städte zu sichern und eine räumliche Polarisierung zu verhindern (Blotevogel 2002, 6; Frey 2005). Die Umsetzung erfolgte ganz im Sinne des modernen Infrastrukturideals (Graham & Marvin 2001), durch einheitliche Kriterien und standardisierte Leistungen (Jochimsen 1966). Die stadtspezifische Einbettung der Artefakte wurde darüber vernachlässigt oder der Fachplanung überlassen. Der reibungslose Ablauf der Menschen-, Stoff- und Güterströme, eine effiziente
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Zirkulation und sichere Versorgung blieb eine zentrale Anforderung an die Infrastrukturen in der Moderne (Varnelis 2008, 8). Urbane Räume entwickelten sich zu infrastrukturabhängigen Stadtlandschaften, deren Netze und Trassen sich ausdifferenzierten (vgl. Soja & Kanai 2010, Kargon & Molella 2008). Die Leitbilder der Versorgung wurden durch eine Funktionstrennung realisiert – kleinräumig durch Experimente auf Ebene der Gebäude (Unité d’Habitation, 1957); der Straßenräume (Trennung in Radwege, Straßenbahnkorridore und Schnellstraßen) und auf städtischer Ebene durch die Flächennutzungsplanung. Auf stadtregionaler Ebene setzte sich der Trend der Suburbanisierung durch (Keil 2013), der durch neue Technologien (Elektrifizierung, Telekommunikation) und deren Ausbau ermöglicht wurde. Der Typus der Stadtlandschaft entstand, welcher bis heute durch seine Infrastrukturen wie Autobahnnetze, S-Bahn-Verbindungen und Kommunikationsinfrastrukturen geprägt ist. Diese stellen eine existenzielle Grundlage für die dispersen Anordnungen von Wohnen, Gewerbe und Konsumorten in Stadtregionen dar, die bis heute das Bild verdichteter Räume dominieren (Phelps et al 2010,372; Ekers et al. 2012, 7-9; Brake et al. 2001, 9).
2.3 Spätmoderne: Krise und Privatisierung in der Praxis staatlicher Infrastrukturversorgung Die strategische Infrastrukturpolitik des keynesianischen Wohlfahrtsstaates mit seinen massiven Investitionen erreichte in den 1970er Jahren ihren Höhepunkt. Getrieben durch den technologischen Fortschritt, neue Rahmenbedingungen in der „anderen Moderne“ (Beck 2012), die Anfänge der Umweltbewegung (Meadows 1973) und Suburbanisierungsdiskurse veränderten sich gesellschaftliche Werthaltungen und (fach-) öffentliche Wahrnehmungsmuster (Monstadt 2008:193). Auch aufgrund von Risikoprognosen verschob sich die Konnotation von Infrastrukturen von einer unkritischen Fortschrittssymbolik zur Beachtung negativer Effekte, wie dem Flächenverbrauch und der Zerschneidung der Landschaft sowie Umweltbelastungen durch Emissionen. Auf dem Höhepunkt der Auf- und Ausbauphase setzte die Debatte um deren ökonomische, ökologische und soziale Folgekosten ein (Jakubowski 2006, difu 2013). Die Kritik an der staatlichen Infrastrukturpolitik, deren Leitprinzipien und Organisation verstärkte sich durch Regressions- und Schrumpfungstendenzen und infolge des ökonomischen Strukturwandels in den 1980er-Jahren. Eine erste Abkehr von sozialstaatlichen Versorgungsansprüchen zeichnete
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sich in der unternehmerischen Stadtpolitik ab (Brenner 2003, 298; Belina et al. 2013), die später durch die Diskussion von Liberalisierungspolitiken, dem schleichenden Prozess der Privatisierung der öffentlicher Versorgung (Monstadt 2004,161-174) und die raumplanerische Debatte um ein Abrücken von den Ausstattungskatalogen ergänzt wurde (vgl. Brake 2007; Herfert 2007; Frey und Zimmermann 2005). Die ordnungspolitischen Bestrebungen der EU, Infrastrukturen zu entflechten und zu liberalisieren (Graham & Marvin 2001, 91), bildeten ein entscheidendes transformatives Moment für städtische Infrastrukturen. Mit dem wettbewerbspolitischen Motiv, Diskriminierungen, Quersubventionierungen und andere Wettbewerbsverzerrungen einzudämmen, wurden in den 1990er Jahren vertikal integrierte Unternehmen der Infrastrukturversorgung aufgefordert, Monopole aufzulösen, ihre Geschäftsfelder zu entflechten und (vor- und nachgelagerte) Wertschöpfungsstufen zu trennen (Koten & Ortmann 2008, Monstadt 2008). Mit den Entflechtungspolitiken ging eine Aufgabenverlagerung in den privatwirtschaftlichen Bereich einher, die dazu führte, dass sich die städtischen Infrastrukturen ausdifferenzierten, d.h. Unternehmen und Unternehmenssparten sich spezialisierten und Aufgabenträger weniger (institutionell) integriert auftraten (Libbe et al. 2010, 432).
3. B eyond M odernity? A ktueller Wandel der I nfrastrukturlandschaften In den Debatten um die Neoliberalisierung der Stadtpolitik wird ein Wandel zu privatwirtschaftlichen Organisationsformen als „Selbstentmachtung der staatlichen Akteure“ in der Daseinsvorsorge problematisiert (vgl. Brenner 2002; Häußermann et al. 2008). Es wird geschlussfolgert, dass die stärkere Einbindung von Privaten in die kommunalen Aufgaben den manageralism in der Stadtentwicklung verstärkt und integrierte Planung und systematischen Nachdenken über Stadtentwicklung in den Hintergrund drängt (Mullis & Schipper 2013; Libbe et al. 2010, 15). Auch zeigen Studien der sozialwissenschaftlichen Infrastrukturforschung (u.a. Manytz 2008, Monstadt 2004, Hodson et al. 2013), dass sich die Verantwortungsbereiche für die Umsetzung und Steuerung der Stadt- und Infrastrukturentwicklung verändern und diese auch auf neue Akteursgruppen (z.B. intermediäre Akteure) verlagert werden. Die stark sektorbezogenen Regelungsstrukturen und Finanzierungsgrundlagen der Fachplanung mit einer stark hierarchischen Aufgabenorganisation
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erscheinen nicht mehr zeitgemäß (Matern et al. 2014, 72). Werden ganzheitliche stadtplanerische Visionen und Konzepte zur strategischen Entwicklung der Infrastrukturen deshalb bald der Vergangenheit angehören?
3.1 Digitalisierung und technische Erneuerungsbedarfe Spannungen erzeugen nicht nur die Veränderungen der Akteurs- und Marktstrukturen städtischer Infrastruktursysteme. Auch durch die Digitalisierung von Städten und ihren Infrastrukturen und den Anforderungen an Ressourcen- und Klimaschutz verändern sich die Ansprüche an die Techniksysteme, die im Folgenden kurz skizziert werden sollen. Aufbauend auf den Zielen des Klima- und Ressourcenschutzes wird mit den Debatten um Smart Cities die Digitalisierung der Städte vorbereitet und vorangetrieben. Erste Pilotprojekte des Umbaus und ein Branding unterschiedlicher Städte als smart begleiten den fachlichen Diskurs (BBSR 2014). Der Einsatz von IKT soll insbesondere genutzt werden, um Ressourcenflüsse analysieren und kontrollieren zu können und städtische Infrastrukturen bedarfsgerechter und in Echtzeit zu steuern (Luque-Ayala & Marvin 2015, Huber & Mayer 2014). Mit den Möglichkeiten von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) und Vernetzung sollen etwa dezentrale Versorgungssysteme wie Erzeugeranlagen für erneuerbare Energieträger besser in das Netz eingebunden werden, damit die Bedarfe an unerwünschten (atomaren) Großkraftwerken reduziert werden können. Die Smart Cities- und Digitalisierungsdebatten fördern die Zuwendung zu Stoff- und Ressourcenströmen in Städten und eine kritische Auseinandersetzung mit technischen Infrastrukturen und deren Reformbedarfen. Infrastrukturen rücken in das fachöffentliche Interesse, denn bislang ist offen, welche transformative Kraft die Digitalisierung auf städtische Infrastrukturen entfalten wird und welche Konsequenzen die funktionale Optimierung der Stadt für deren soziale, ästhetische oder städtebauliche Qualitäten haben werden. In den urban studies wird diskutiert, inwiefern die Praktiken der Datenerhebung, -analyse und -kontrolle die Stadtentwicklung verändern werden und welche Rolle die Bedürfnisse und Vorlieben unterschiedlicher Nutzer_ innen in der Ausgestaltung der Versorgung spielen (Luque-Ayala & Marvin 2015; Sennett 2012). Die angewandte Smart Cities-Forschung und Konzepte der Vernetzung städtischer Infrastrukturen fordern eine stärkere Beachtung von Schnittstellen zwischen den (unterschiedlichen) Infrastrukturen und den Infrastrukturen zur Stadt und ihren Nutzer_innen ein (Matern et al. 2014).
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Sie lenken den Blick auch auf Wechselwirkungen zwischen Akteuren und Artefakten. Diese Konzepte – wie das Internet der Dinge (Ashton 2009) – erweitern das Verständnis um Artefakte, Materialitäten und deren Rolle in der Koevolution von Raum- und Infrastrukturen, indem sie bestehende Grenzen und Denkmuster aufweichen (Townsed 2000: 88). Die technischen Innovationen stellen die Infrastrukturen der Nachkriegsmoderne vor massive Erneuerungs- und Modernisierungsbedarfe. Denn viele Bauten dieser Infrastrukturgeneration nähern sich dem Ende ihrer Lebensdauer oder ihre Anpassungsbedarfe an neue Technologien erfordern eine öffentliche Debatte um Erhaltungskosten, die staatlichen Verantwortlichkeiten und Gestaltungsspielräume in der Daseinsvorsorge. Aktuell werden die Fragen vor allem im Kontext kommunaler Finanzknappheit und Austerität (Jakubowski 2006; Streeck und Mertens 2010; Belina et al. 2013) neu verhandelt und nach Alternativen in der Nutzung und Fortentwicklung der städtischen Infrastrukturen gefragt. Damit stellt sich für die Eigentümer – und damit oft die Länder und Kommunen – die Frage, wie sie mit den infrastrukturellen Artefakten, Folgekosten und alternden Bauwerken umgehen sollen (Gutsche 2009, Jakubowski 2006).
3.2 Alternative Leitbilder und Versorgungsmodelle? Damit wird deutlich, dass wir uns gegenwärtig in einer neuen Transformationsphase städtischer Infrastrukturen befinden. Während die Leitbilder und Praktiken der Moderne die Entwicklungen der Raum- und Infrastrukturen in Städten voneinander entkoppelten und in der Spätmoderne die Akteurs- und Organisationsstrukturen stark fragmentierten, wachsen aktuell die Bedarfe für eine stärkere Kopplung. Denn die ausdifferenzierten Institutionenstrukturen, Praktiken und Planungsprozesse sowie getrennte wissenschaftliche Debatten verursachen heute Abstimmungs- und Koordinationsprobleme für eine integrierte Stadt- und Infrastrukturentwicklung, die für die Transformation des Bestandes notwendig ist (Matern et al. 2014). Die vollzogenen Transformationen städtischer Infrastrukturen werfen die Frage auf, welche alternativen Visionen, Leitbilder und Konzepte der Reproduktion von Stadt- und Infrastrukturen denkbar sind, wenn die räumliche Praxis und die Gestaltungsmuster der Moderne nicht mehr adäquat auf aktuelle Herausforderungen der Stadtentwicklung reagieren können. Wer sind die neuen Schlüsselakteure, die die städtischen Versorgungssysteme reformieren und welche Vorstellungen einer Ausgestaltung der Infrastruktur- und
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Stadtentwicklung haben sie? Welche neuen Governancearrangements oder Muster zur Koordination von unterschiedlichen Interessen lassen sich identifizieren, um die städtische Infrastruktur als Machtressource zu gestalten? Die Auseinandersetzung über die Wechselbeziehungen von Stadt und Infrastrukturen wird nicht nur durch die Transformation der Infrastruktursysteme und die fachöffentliche Kritik ihrer Leitbilder, Entscheidungsstrukturen und Handlungsmuster angetrieben, sondern auch von Seiten der Zivilgesellschaft hinterfragt (vgl. Othengrafen & Sondermann 2015). Die kritische Öffentlichkeit fordert eine Debatte zu Infrastrukturentscheidungen ein und stärkt damit die (Re-) Integration von Infrastrukturthemen in die Stadtpolitik. Dies zeigt sich an Debatten um den Rückkauf von Stadtwerken oder um Großprojekte. Mit dem öffentlichen Interesse, über den Umgang mit Infrastrukturen mitzubestimmen, wächst der Bedarf, die Organisation und Verfahren von Raum- und Fachplanung zu hinterfragen. So bietet sich die Chance, bestehende Planungspraktiken in Stadt- und Fachplanung hinsichtlich ihrer Beteiligungsformate, Transparenz und Offenheit für Lernprozesse zu überprüfen. Auch gestalterische Ansätze der Inszenierung, des Kreativurbanismus und der städtebaulichen Auseinandersetzung mit infrastrukturellen Artefakten deuten darauf hin, dass Infrastrukturen aus der Unsichtbarkeit auftauchen und ihre gestalterische Einbettung für die Stadtentwicklung zukünftig eine wichtigere Rolle spielen kann. Dies verstärkt die Frage nach dem Umgang mit den infrastrukturellen Hinterlassenschaften und fordert eine Reflexion über deren Leitbilder, Strategien und Gestaltungspraktiken in urbanen Kontexten ein.
3.3 Gestaltungsansätze infrastruktureller Artefakte Wie dieser Band zeigt, verändern die gewandelten Rahmenbedingungen, Akteure, Handlungsweisen und Wahrnehmungsmuster den Umgang mit Infrastrukturen. Dies eröffnet Wege für alternative Formen der Auseinandersetzung mit ihnen – sei es in der planerischen Fachwelt oder in Ausdrucksformen des Kreativurbanismus in den Städten. Eine Ausdrucksform sind Aktivitäten eines „Mitmach- oder Kreativurbanismus“ (Rauterberg 2013, 14). Oder man findet sie bei Martin Heuwold, einem Künstler, der eine Bahnbrücke in Wuppertal in eine gigantische, farbenfrohe Legokonstruktion, die sehr assoziativ wirkt und sich zu einer Attraktion im Netz verwandelte.
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Bildergalerien, wie das der Telekom-Initiative „aus grau wird bunt“,8 präsentierten vielfältige Formen der Individualisierung der Artefakte: Diese Individualisierung zeigt sich in Motiven, die Artefakte zu verstecken versuchen, indem sie einen Bezug zum Straßenraum aufnehmen und eine dahinterliegende Mauer abbilden. Andere Beispiele betonen die funktionalen Eigenschaften, indem auf den Telekom-Kästen die Spannungen technischer Meßgeräte dargestellt werden. Das Beispiel einer postkartenähnlichen Darstellung eines älteren Gebäudes legt die Vermutung nahe, dass hier Bezug auf die lokale Geschichte genommen wird. Auch wird an die vergangene Raumsituationen erinnert oder der Kasten als Leinwand genutzt, mit denen sich lokale Gruppen (wie Kindergärten) den Ort aneignen. Bei einigen Beispielen lässt sich hinterfragen, inwiefern die Gestaltung infrastrukturbezogen erfolgt. Oft bieten die Artefakte (nur) eine geeignete Oberfläche für künstlerische Ausdrucksformen oder private Botschaften. Bei einem Teil der Kunstwerke lässt sich vermuten, dass ein Interesse an der konkreten Auseinandersetzung mit Form und Funktion der Infrastrukturen und deren Symboliken sowie an Gestaltungsspielräumen besteht und sich dies als Zeichen eines neuen Interesses an der Gestaltung von Infrastrukturen als Teil städtischer Räume deuten lässt. Auch haben künstlerische Arbeiten mit städtischen Infrastrukturen zugenommen, wie z. B. die Ausstellung Unterirdisch in Basel (2014) oder das Projekt Emscherkunst im Ruhrgebiet (2013) zeigen. Initiativen wie unter-berlin e.V. (unter-berlin.de; Zugriff 25.7.2015) oder die genannten Ausstellungen beschäftigen sich mit der Geschichte, Funktion und Ästhetik von Infrastrukturen, indem sie in Vergessenheit geratene Orte und Bauwerke aufspüren und sich kritisch mit deren Entwicklung und ihrem Kontext, aber auch ihren Nachnutzungen und ihrer Funktion in der heutigen Zeit auseinandersetzen. Wenn die Bauwerke gut erhalten sind, werden sie z.B. durch Rundgänge, Ausstellungen und andere Festivalisierungen sichtbar und inszenieren die früheren Funktionen und Qualitäten der Artefakte. Die Beispiele zeigen, dass eine Auseinandersetzung mit Infrastrukturen und ihren Artefakten in den Städten längst begonnen hat (Hauck & Kleinekort 2011). Aneignungsformen von Infrastrukturen erfolgen durch künstlerische Interventionen, Zwischennutzungen oder beteiligungsorientierte Planungsprozesse. Stärker als planerische Visionen hinterfragen emergente Formen der Beschäftigung mit Infrastrukturen die Ordnungsprinzipien der 8 | blog.telekom.com/2015/07/21/aus-grau-wird-bunt/ Zugriff 24.7.2015
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Moderne und weichen Standardisierungen und Monofunktionalitäten in Stadträumen auf. Zugleich fordern die Aneignungspraktiken eine Debatte um ästhetische Qualitäten technischer Infrastrukturen sowie deren städtebauliche Einbettung, Stadtspezifik und Reproduktionsmuster ein. Aus den Aneignungsformen und dem Infragestellen bestehender Praktiken der Reproduktion von Stadt- und Infrastrukturen wird erkennbar, dass neue theoretische Zugänge und Erklärungsmuster in der sozialwissenschaftlichen Infrastrukturforschung gesucht werden müssen, um die aktuellen infrastrukturbezogenen Raumproduktionen erklären zu können. Die Auseinandersetzung mit infrastrukturellen Hinterlassenschaften bildet dafür einen interessanten Zugang, denn deren Beispiele können präzisieren, wo eine Neujustierung der Begriffe und Theorieansätze notwendig ist. Aufgegriffen werden diese Aspekte auch in Debatten der Landschaftsarchitektur. Insbesondere der reflexive Infrastruktururbanismus kritisiert die architektonische Banalisierung infrastruktureller Artefakte. Dessen Vertreter_innen knüpfen an die Kritik die Forderung, die Trennung von Funktion und Gestaltung der infrastrukturellen Artefakte aufzuheben, deren ästhetisches Potenzial wiederzuentdecken und Infrastrukturen als Gestaltungsobjekte durch Architektur und Planung neu zu definieren (Kleinekort & Keller 2012). Die Debatte unterstreicht die Forderungen von Kaika und Swyngedouw (2000) nach einer Ästhetisierung von infrastrukturellen Artefakten und bemüht sich um ein höheres Bewusstsein für die Raumgestaltung durch Infrastrukturen, z.B. indem Zwischenräume zurückgewonnen und In-Wertgesetzt-werden oder Gestaltungsaspekte bei urbanen Knoten (z.B. um Flughäfen) wieder eine größere Rolle spielen. Sie erklären bislang jedoch nicht, welche Mechanismen und Muster der Reproduktion der Raum- und Infrastrukturen zugrunde liegen und inwiefern sich diese wechselseitig beeinflussen.
4. A nliegen und Struktur des B andes Im Rahmen dieses Buches werden die Spuren und Praktiken des Wandels von Infrastrukturen anhand aktueller Transformationen infrastruktureller Hinterlassenschaften diskutiert. Dabei wird geprüft, inwiefern sich öffentliche und raumwissenschaftliche Wahrnehmungsmuster und Handlungspraktiken im Umgang mit Infrastrukturen verändern. Die Autor_innen hinter-
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fragen, welche Rahmenbedingungen die Transformation von Infrastrukturen beeinflussen, welche Gestaltungstrends sich beobachten lassen und inwiefern Akteure und deren Interessen sich verändern. Sie erkunden das Potenzial der Orte und ihrer Artefakte für neue Nutzungen sowie welche individuellen und kollektiven Erinnerungen sie in sich tragen. Die Beiträge untersuchen, welche neuen Funktionen in den aus der Nutzung fallenden Artefakten der Nachkriegsmoderne von Planer_innen, Künstler_innen und anderen Nutzer_ innen gesehen werden. Dabei diskutieren sie, welchen Einfluss die baulichen Qualitäten, z. B. der Hochstraßen, Silos und Hafenbaracken auf deren Nachnutzung haben. Für diese Spurensuche gliedert sich der Band in drei Teile. Der thematischen Einführung und Begriffsklärung folgt im ersten Teil ein Interview mit Matthew Gandy über den Begriff der Moderne sowie Debatten und Muster der Reproduktion von Infrastrukturlandschaften. Daran schließt sich eine Analyse von Entwicklungsphasen städtischer Infrastrukturlandschaften an. Transformationen in München, dem Ruhrgebiet und Marseille beschreiben einen Wandel von Infrastrukturlandschaften zwischen Persistenzen und Brüchen und hinterfragen deren Anlässe. Dabei wird deutlich, dass sich Infrastrukturen in urbane Landschaften nicht nur durch ihre Gebäude, Netze und Artefakte einschreiben, sondern Raum auch über ihren Einfluss auf Praktiken produzieren. Der Umgang mit Infrastrukturen, ihrer Reproduktion oder den Relikten in der Nachnutzungsphase erfolgt häufig routiniert und unhinterfragt. Insbesondere Infrastrukturräume, bzw. Stadtgebiete, die stark durch Infrastrukturen geprägt sind, werden in ihrer Gestaltung oft sich selbst, einzelnen Bauherren oder Eigentümern überlassen. Hier lassen sich Relikte früherer Nutzungen und Geschichten aus der Vergangenheit des Ortes wiederentdecken, wie z.B. der Beitrag von Henrik Sturm aus den Randgebieten von Marseille zeigt. Der zweite Schwerpunkt des Bandes fokussiert auf infrastrukturelle Artefakte und deren Transformation in urbanen Landschaften. In der beispielhaften Annäherung an Umnutzungen von Bahnflächen, Kanälen und Hafenbereichen werden vielfältige strategische-planerische und künstlerische Ansätze der Umgestaltung vorgestellt und überprüft, welche Wertmuster und Wissensbestände kritisch hinterfragt werden und inwiefern deren Transformationen zu neuen Alltagspraktiken führen.
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Zu den einzelnen Beiträgen Anschließend an Matthew Gandys Reflexionen zu Infrastrukturen und deren Raumkonstruktionen in der Moderne eröffnet eine Zeitreise auf dem Karlsplatz in München die analytischen Betrachtungen zu Infrastrukturen im Raum. Der Historiker Mathias Ihrlinger zeichnet anhand von Postkarten die Geschichte des Platzes nach und beschreibt, wie verkehrliche Infrastrukturen im Zuge der Industrialisierung und Modernisierung den Platz zunehmend prägten. Geleitet vom Bestreben, einen effizienten Verkehrsfluss zu ermöglichen, wurde der Platz mehrfach umgestaltet, die Verkehrsträger wurden voneinander getrennt und in unterschiedliche Ebenen verlagert. Erst die ökologischen und stadtgestalterischen Bestrebungen in den 1980er Jahren drängten die Funktionalität der Verkehrsstrukturen zugunsten der Raumwahrnehmung und Aufenthaltsqualität zurück. Die Transformationen des Platzes stehen damit für den Wandlungsprozess einer Vielzahl zentraler Plätze in Deutschland. Der Beitrag stellt einen zeithistorischen Ausflug in die Geschichte von Planungsleitbildern und ihren Idealen dar. Auch der Beitrag von Achim Prossek zeichnet die wechselvolle Geschichte einer infrastrukturell hochgradig durchwobenen Stadtlandschaft nach – dem Ruhrgebiet. Seit der Industrialisierung prägten Bergbauflächen und Hochöfen das Gesicht der Region, die in der postindustriellen Phase als Landmarken zur Ordnung der Unübersichtlichkeit des Agglomerationsraums eingesetzt werden. Der Beitrag analysiert und bewertet aus wahrnehmungsgeographischer Perspektive die Maßnahmen und Interventionen zur Ordnung des Raumbildes, die in den letzten 25 Jahren durch drei maßgebliche Akteure der Region (Emschergenossenschaft, IBA Emscher Park und Regionalverband Ruhr) vorgenommen wurden und die Industriekultur als gesellschaftlich-kulturellen Wert prägten. Der Beitrag von Henrik Sturm zeigt, wie vergangene Nutzungen Orte in Stadtlandschaften prägen. Mit einer landschaftsinterpretierenden Spaziergangsforschung nähert Henrik Sturm sich den unterschiedlichen Spuren postindustrieller Industrielandschaften am Beispiel einer Tongrube in der Stadtlandschaft Marseille. Anhand von Spuren vorangegangener Nutzungen erzählt er die wechselvollen Geschichten des Ortes, der sich permanent veränderte. Dabei wird deutlich, wie alte Nutzungen, Eigentumsstrukturen und Grenzen sich in die Landschaft einschreiben, wenngleich die Zeichen schwer lesbar oder inzwischen unsichtbar sind. Strukturen und Nutzungen bestimmen zeitweise den Raum, verändern Muster, erzeugen Grenzen oder lassen diese wieder verschwinden. Die Spaziergangsforschung und Bildinterpreta-
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tion eröffnet Wege, um an diesen Orten Geschichten zu entdecken, ohne sie (mit planerischem Blick) zu bewerten oder interpretieren zu müssen. Der Beitrag von Constanze A. Petrow setzt sich mit Gestaltungsansätzen für ehemals infrastrukturell genutzte Räume im Rahmen von Parks und anderen städtischen Freiräumen auseinander. Im zeithistorischen Rückblick auf eine besondere Praxis der Landschaftsarchitektur, die sich innerhalb der vergangenen rund 30 Jahre herausgebildet hat, zeichnet sie nach, auf welch vielfältige Weise infrastrukturelle Artefakte in Freiraumgestaltungen integriert wurden. Anhand von Leuchtturmprojekten ihrer Disziplin verdeutlicht sie, wie Praktiken der Integration von Relikten in Parks als travelling idea in unterschiedlichen Projekten beiderseits des Atlantiks adaptiert wurden und wie dabei trotz übergreifender Trends eine lokale Einzigartigkeit erhalten bleiben kann. Dies zeigt sich nicht unbedingt in der Art des Einschreibens kollektiver Erinnerung in den gebauten Raum, sondern im Prozess der Parknutzung sowie in den Bezügen zum umgebenden Stadtraum. Martin Kohler und Maren Harnack wählen mit ihrem Beitrag zu Hochstraßen als Zeugnissen der Moderne einen stärker gestalterisch-konzeptionellen Weg und überprüfen deren ästhetisches und denkmalwürdiges Potenzial. Oft am Ende ihrer Lebensdauer angekommen, werden diese ungeliebten Relikte des Leitbildes der autogerechten Stadtgestaltung heute meist als Störfaktoren in der Stadt wahrgenommen und – wenn möglich – abgerissen. Auch wenn sich Beispiele finden lassen, in denen diese Artefakte identitätsstiftend wirken und Bürger_innen sich für ihre Erhaltung einsetzen, zeigen die Darstellungen über die Paulinenstraße in Stuttgart und der Hochstraßen in Hannover, dass diese als solche bisher nicht den Weg zu „Ikonen der Moderne“ genommen haben und sich bei den Bürger_innen nicht als erhaltenswerter Teil der Stadtgeschichte verankern konnten. Der Beitrag zur EMSCHERKUNST von Jochen Stemplewski, Simone Timmerhaus und Lisa-Maria Weber widmet sich der Kulturlandschaft der Emscher, deren Wandel und der Rolle der Kunst, diesen Wandel zu begleiten. Sie stellen die These auf, dass es Menschen in sich tiefgreifend verändernden Regionen schwerer fällt, alte Bilder loszulassen und neue zu formen. Am Beispiel der EMSCHERKUNST diskutieren sie, welchen Beitrag Kunst und Kunstwerke im öffentlichen Raum übernehmen können, um Erinnerungen von Bürger_innen zu reaktivieren und sich darüber auszutauschen oder um Menschen einen Anlass zu geben, die Region zu besuchen. Über die These hinaus, dass Kunst als eine zeitgemäße Form des Stadtmarketings darstellt, sehen sie die Künstler_innen und Kunstwerke als Kommunikationsmittel
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und als Mediatoren zwischen Landschaft, Infrastruktur und Mensch, denn Kunst im öffentlichen Raum ist greifbar und direkt und sie erzeugt ungehemmte Reaktionen, die wichtige Dialoge eröffnen. Anna-Lisa Müller stellt anhand der Umwandlung von Hafengebieten in Göteborg und Dublin in Kreativquartiere die These auf, dass auch Gebäude als Materialität von Stadt in den Umbauprozessen zu Infrastrukturen werden, die Erinnerungen an die Stadtgeschichte bewahren und ihre Funktionen an aktuelle Bedarfe anpassen. Theoriebasiert diskutiert sie die Rolle von Infrastrukturen (als physische Objekte und als Inszenierungen) bei der Konstitution von städtischen Räumen als soziale Gefüge. Sie hinterfragt, inwiefern Infrastrukturen ihre Eigenschaften in der Wechselwirkung mit dem Sozialen in begrenzten raum-zeitlichen Kontexten ausprägen. In einer Pilotsiedlung dezentraler Abwasserstrukturen untersuchte Birke Otte mit einem ethnographischen Ansatz die Interaktion von Bewohner_innen mit diesen Techniksystemen. Das Beispiel der Trockentoiletten zeigt, wie ungewöhnlich es ist, wenn technische Infrastrukturen einen Einsatz der Bewohner_innen fordern und das moderne Infrastrukturideal einer zentral organisierten Abwasserbeseitigung zugunsten von Autonomie und Ressourcenschutz angefochten wird. Die These eines splintering urbanism (Graham & Marvin 2001) – also der Fragmentierung und Polarisierung von Stadtgebieten – kann für die betrachtete Siedlung nur sehr bedingt gelten, denn durch ihre geringe Größe und die mechanische Technologie fehlen ihr die Grundlagen zum premium network space. Nichtsdestotrotz zeigt die Suche nach Alternativen zum modernen Infrastrukturideal und dessen netzgebundenen Versorgungsstrukturen aber auch die Schwierigkeiten, die dezentrale und selbstorganisierte Strukturen bislang noch mit sich bringen.
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Reflections on urban infrastructure : In what ways should we respond to traces of former infrastructure systems? Matthew Gandy
Your work has explored the interrelationship between nature and technology under modernity. W hat makes
modernity distinctive with regard to urban infrastructures ? In thinking about ”modernity”, as a broad sweep of human history, I find it useful to further differentiate the idea: we can use the word ”modernity” to encompass changing aspects of human experience and consciousness since at least the early modern period onwards; the related term ”modernization” is perhaps better used in relation to institutional and material developments, including the growth of cities and technological networks; whilst ”modernism” is better reserved for more specific twentieth-century movements associated with architecture, the visual arts, and related fields. If we deploy this expanded and more finely differentiated idea of modernity it is apparent that emerging relationships between nature, technology, and urban infrastructure are highly complex, spanning multiple spheres of everyday life, as well as distinct and often overlapping periodicities. The emergence of ”technological modernism” in the twentieth century, for example, draws together specific approaches to the material transformation of space through the construction of roads, dams, or other types of infrastructure systems but also highlights an aesthetic dimension to these spaces. There is certainly scope to further expand and elaborate our understanding of the aesthetic aspects to infrastructure, both in terms of their embodied experience and their various forms of cultural meaning and representation.
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Matthew Gandy
H ow has the definition of infrastructure changed? The modern usage of the word ”infrastructure” is likely to have originated in the coordination and control of hydrological systems yet the idea has gradually acquired a wider set of meanings and applications. The modern usage of the term infrastructure, as developed especially by scholars of scienceand technology studies, is generally traced to either the New Deal impetus towards improving flood defences in the 1920s or to earlier military concerns with organizational logistics. More recently, we encounter expanded conceptions of infrastructure that incorporate elements such as landscape, urban design, and ecological processes. The term infrastructure has itself been thrown into doubt as part of alternative theorizations of urban corporeality and materiality. The emphasis on people as infrastructure, advanced by AbdouMaliq Simone, for example, stems very much from a postcolonial critique of the teleological and technocratic telos associated with more Eurocentric conceptions of modernity. Since the middle decades of the nineteenth century infrastructure has become an integral part of the wider processes of rationalization, state formation, and the emergence of “techno-science” so the idea of modernity can to some extent be read as synonymous with the development of infrastructure networks. Indeed, the disruption, failure, or deliberate destruction of infrastructure systems can effectively switch societies ”off” and has been the subject of critical analysis as well as science fiction speculation.
What do you understand by the term “urban metabolism ”? H ow useful is the concept of metabolism for the understanding of cities ? The term “urban metabolism” is essentially derived from a scientific metaphor, first used in the nineteenth century, that has subsequently been extended into the urban arena. The bio-chemical sense of the term is focused on the growth and change of individual cells or whole organisms but in an urban context the idea of metabolism has become ambiguous. On the one hand, the idea of urban or industrial metabolism has emphasized the pathways for energy and materials that pass through urban space engendering ideas such
Reflections on urban infrastructure
as the “urban footprint” and other models that conceive of cities as spatially bounded entities. The classic formulation of this technical understanding of the term is exemplified by the engineer Abel Wolman, and his 1965 essay on “The metabolism of cities” published in Scientific American, along with more recent systems-based approaches developed by Marina Fischer-Kowalski and others (which we might refer to as the “Vienna school” of social ecology). On the other hand, the idea of metabolism has been developed in a neo-Marxian sense to describe how human labour transforms the raw materials of nature. The original contribution of Marx, influenced by the industrial chemist Justus von Liebig, have been reworked by Georg Lukács and István Mészáros, along with more recent scholars such as John Bellamy Foster and Jason Moore, to provide a contemporary analytical tool for understanding relations between society and nature. Marx’s conception of “metabolic rift” in particular has served as an entry point into wider reflections on the destructive dynamics of modernity. The circulatory dynamics of urban space can in this sense resemble a living or corporeal space but not one that is reducible to individual cells or metabolic pathways. What is interesting here is the way the scientific meaning of metabolism, and the transformation of living cells, is applied to the effects of capital on the built environment. In my own work I am particularly interested in the conceptual malleability of organicist metaphors in the urban arena: if we dispense with models or motifs that serve to naturalize capitalist urbanization then how can we build new understandings of the urban process that leave open what the American philosopher Andrew Feenberg refers to as “many paths to rationalization”.
C an we identify distinct historical periodicities associated with the development of modern infrastructures ? We should be cautious about imposing an artificial simplicity on the innate complexities of historical and geographical processes. Nevertheless, there are common elements that underpin what Stephen Graham and Simon Marvin term the “modern infrastructural ideal” which serves as a useful heuristic device to explore the entanglement of social, technical, and political processes that have combined under the impetus towards a pervasive form of urban modernity. In my own writing I have also used the term “bacteriological city” as a related concept to emphasize the corporeal and epidemiological elements
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to modernity as a material manifestation of the tensions between the human body and the “body politic” associated with the development of urban space. A particular theme that interests me is the presence of a discontinuity in the politics of public health as the advent of antibiotics and other techno-scientific interventions in the twentieth century served to displace political emphasis from environmental fields such as housing reform towards more individualized models of well-being. A question for consideration is whether new health threats such as the surge in dengue fever, especially in the cities of the global South, may yet engender a new type of corporeal politics in urban space. We are also confronted with the dilemma that modern infrastructure networks can actually exacerbate public health threats where dilapidated or unfinished networks can provide micro ecological niches for insect vectors and other pathogens.
I n what ways should we respond to traces of former infrastructure systems ? Urban space is comprised of a palimpsest of past and present and this stratigraphic metaphor also extends to infrastructure networks and systems. The question of collective memory in relation to the urban past, as articulated by Maurice Halbwachs, Aldo Rossi and other writers, can certainly be extended to the cultural and political significance of former infrastructure systems. Unlike many cultural artefacts that fall under the lens of architectural history many components of infrastructure have multiple or uncertain traces of authorship. Infrastructure systems can also illuminate the evolution of different stages or modes of governmentality — to deploy Foucauldian terminology — that have mediated between technological innovations and the comportment of the human body. Infrastructure may serve as a unique entry point into the complexities of social and cultural history.
Reflections on urban infrastructure
I n what ways has infrastructure been depicted in the visual arts ? What is the visual scenography of infrastructure? There is certainly a cultural and material intersection between the realms of landscape and infrastructure. Yet if landscape is typically associated with various modes of visual pleasure, or at least certain types of readily identifiable aesthetic experience, the cultural import of infrastructure is much more ambiguous. In some cases infrastructure itself serves as landscape, exemplified by vast structures such as dams or pylons, but in other cases infrastructure becomes more of a phenomenological test or tableau for psychological dramas as evidenced in various genres of cinematic horror or the experimental spaces of science fiction cinema. We should also note that infrastructure has also served as a vantage point for the visual arts, as reflected in the view from a train or moving car, and that it is infrastructure networks in themselves that have facilitated the proliferation of visual imagery under late modernity.
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München: Infrastrukturen im urbanen Raum im 19. und 20. Jahrhundert Mathias Irlinger „Was für die Pariser der Platz vor der grossen O per , was für die B erliner der Potsdamer Platz, was für die N ew Yorker die Kreu zung der 42. Strasse mit dem B roadway ist, das ist für uns der Stachus , unser Stolz auf Grossstadtverkehr , unser Sorgenkind in Verkehrsregelung .“ 1
E inleitung Dieses Zitat aus einem Zeitungsartikel von 1930 stellt den Münchner Karlsplatz, der auch unter dem Namen „Stachus“ bekannt ist,2 in eine Reihe mit dem Place de l’Opéra, dem Potsdamer Platz und dem Times Square. Die Gemeinsamkeit zwischen den vier urbanen Orten sieht der Autor in ihrem Verkehrsaufkommen. Alle vier Plätze – und die Liste ließe sich um zahlreiche Namen erweitern – waren 1930 zentrale Knotenpunkte, auf denen mehrere große Straßen radial zusammenliefen und sich die Linien verschiedener Nahverkehrssysteme kreuzten. Die Schienen und Straßen formten diese Orte und ihre Wahrnehmung – sowohl positiv als auch negativ. Das Zitat offenbart die Gleichzeitigkeit von beiden Zuschreibungen. Diese Wechselbeziehungen zwischen urbanen Räumen und Infrastrukturen untersucht der Beitrag für das 19. und 20. Jahrhundert. Ziel ist es, erstens zu zeigen, wie Infrastrukturen urbane Räume veränderten und prägten, und zweitens, wie die technischen Artefakte und deren Transformationen wahrgenommen und konnotiert wurden. Die historische Perspektive 1 | 10-Minuten Stachus, in: Münchner Telegramm-Zeitung, Nr. 127, 22.7.1930. 2 | Vgl. zum Namen „Stachus“: Stankiewitz, Stachus, S. 7–11.
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ermöglicht es, die Wandlungen nachzuvollziehen und Brüche sowie Prozesse zu verdeutlichen. Denn obwohl Infrastrukturen eine hohe Kontinuität auszeichnete, waren sie nicht statisch.3 Der Karlsplatz steht im Mittelpunkt der Betrachtung, als Exempel für einen urbanen Ort, an dem sich infrastrukturelle Entwicklungen verdichteten, die so oder zumindest so ähnlich in vielen westlichen Städten wiederzufinden sind.4 Anders als den Zeitgenossinnen und Zeitgenossen ist es uns nicht möglich, die Orte selbst zu beschreiten. Trotzdem gibt es Hilfsmittel, mit denen wir uns den Räumen annähern können. Karten und Pläne geben einen Einblick in die räumliche Anordnung, wobei sie der realen Komplexität nicht gerecht werden. Fotografien vermitteln ein Bild davon. Sie stehen jedoch erst mit dem Aufkommen der Massenfotografie in den 1880er-Jahren vermehrt zur Verfügung. Ihre serielle Auswertung ermöglicht Rückschlüsse auf räumliche Veränderungen. Die Frage nach der Wahrnehmung dieser Orte können die beiden Quellengattungen nicht beantworten. Diese ist stets subjektiv und hängt von individuellen Einflüssen ab. Als Annäherung wurden Zeitungen als Quelle für medial vermittelte Öffentlichkeiten ausgewertet. Darin fanden sich Hinweise auf Konnotationen und Zuschreibungen.5 Die Untersuchung von Infrastrukturen ist mit einem Definitionsproblem konfrontiert. Bis heute fehlt in der Forschung eine eindeutige und anerkannte Begriffsbestimmung.6 In diesem Beitrag stehen ortsfeste, materielle Anlagen im Fokus, die als Voraussetzung für Versorgung und Mobilität dienten. Die Leitfrage nach der raumprägenden Wirkung rückt die sichtbaren Infrastrukturen und somit vor allem die Verkehrsnetze in den Vordergrund.7 Um die Veränderungen des urbanen Raums durch Infrastrukturen aufzuzeigen, folgt der Beitrag weitgehend einer chronologischen Gliederung. Zudem ermöglicht dies, Gleichzeitigkeiten von Wahrnehmungen herauszuarbeiten. Im ersten Abschnitt stehen die Erschließung des urbanen Raums 3 | Vgl. Laak, Infra-Strukturgeschichte, S. 368f. 4 | Karl Schlögel beschrieb diese Plätze als „heiße Orte“; Schlögel, Raume, S. 294–299. Den Karlsplatz untersuchte bereits Barbara Schmucki; Schmucki, Traum, S. 71–76. Ebenfalls in: Dies., Nahverkehrssysteme, S. 75–80. 5 | Der Beitrag profitierte von den Zeitungsausschnittsammlungen im Stadtarchiv München (StadtAM) und im Archiv des Münchner Trambahnmuseums. 6 | Vgl. zur Begriffsgeschichte: Laak, Begriff. 7 | Zur Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit: Laak, Infra-Strukturgeschichte, S. 385.
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durch Infrastrukturen im 19. Jahrhundert und die damit einhergehenden räumlichen Veränderungen im Mittelpunkt. Die Betrachtung des Karlsplatzes als Verkehrsknotenpunkt impliziert seine Verortung im Stadtgefüge Münchens. Der zweite Teil untersucht die Transformation des Ortes durch Verdichtung und Beschleunigung von der Jahrhundertwende bis Anfang der 1960er-Jahre. Der Karlsplatz rückt somit stärker in den Fokus und im Vordergrund stehen weniger technische Innovationen als vielmehr das Aufkommen und der Ausbau bereits bekannter Infrastrukturen. Im letzten Abschnitt werden bauliche Maßnahmen und Großplanungen zur Verkehrsgestaltung sowie dahinterstehende Leitbilder und Prioritätensetzungen analysiert, die Ende der 1920er-Jahre begannen und im großen Umbau des Platzes ab 1964 gipfelten.
Vom Vorplatz zum V erkehrsknotenpunkt Zu Beginn des 19. Jahrhunderts lag der Karlsplatz vor den Toren der 40.000-Einwohner-Stadt, deren Besiedlung sich im Wesentlichen am Verlauf der Stadtmauern orientierte.8 Dennoch zeichnete sich bereits seine zukünftige Rolle im Stadtgefüge Münchens ab. Von 1791 an ließ Graf Rumford auf Anordnung des bayerischen Kurfürsten Karl Theodor am Neuhauser Tor – seit Jahrhunderten der westliche Zugang zur Stadt – die frühneuzeitlichen Befestigungsanlagen schleifen und an deren Stelle ein repräsentatives Häuserrondell sowie eine halbkreisförmige Ringstraße anlegen, die den Transitverkehr vor der Stadt auffangen und verteilen sollte.9 Das Tor wurde 1792 zu Ehren des Kurfürsten „Karlstor“ und der neuangelegte Platz davor 1797 „Karlsplatz“ getauft. Mit dem Anschluss Münchens an das Eisenbahnnetz 1840 verschob sich das „Tor zur Stadt“ zum neun Jahre später eröffneten Hauptbahnhof nach Westen.10 Der Karlsplatz lag nun auf der Achse zwischen Bahnhof und Stadtzentrum;11 eine Position die seine Entwicklung zum Verkehrsknoten8 | Vgl. Stadtplan von 1812; Schiermeier, Stadtatlas, S. 85. 9 | Vgl. Lehmbruch, München, S. 18f, 49–63. Die Anordnung leitete den Wandel von der befestigten, barocken Residenzstadt zu einer offenen, modernen Hauptstadt ein; ebd. S. 49. Vgl. allgemein Zimmermann, Metropolen, S. 24f. 10 | Vgl. Süss, Geschichte. Vgl. allgemein Schivelbusch, Eisenbahnreise, S. 152–157. 11 | Vgl. Stadtplan von 1849; Schiermeier, Stadtatlas, S. 99.
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punkt determinierte. Sowohl die erste fahrplanmäßige, innerstädtische Verkehrsverbindung Münchens, eine im Juni 1861 eröffnete Pferdeomnibuslinie, als auch die ab 1876 aufgebaute Pferdetrambahn kreuzten den Platz. Mit dieser führten Gleise über den urbanen Ort. Mit der Elektrifizierung der Straßenbahn Ende des 19. Jahrhunderts folgten Oberleitungen. Bis dahin war die Besiedlung der Stadt weit über den ehemaligen Befestigungsring hinausgewachsen und hatte sich vor allem nach Westen ausgedehnt.12 Der Bahnhof erwies sich wie in anderen deutschen Städten als „Motor der Stadtentwicklung“.13 Industriebetriebe suchten die Nähe der neuen Infrastruktur und mit ihnen entstanden Arbeiterviertel wie das Münchner Westend. Die Straßenbahn war einerseits Produkt der gestiegenen räumlichen Ausdehnung, andererseits förderte sie mit ihren neuen Möglichkeiten der innerstädtischen Mobilität die Entwicklung und beeinflusste darüber hinaus Art und Dichte der Besiedlung. Auf diese Wirkung hofften Gewerbetreibende bereits in den 1860erJahren: Sie versprachen sich vom Aufbau eines Nahverkehrssystems eine Auflockerung der dichtbesiedelten Innenstadt; und auch nach der Einführung der ersten Linien forderten Teile der Bevölkerung aus diesem Grund einen Anschluss an die Pferdetram.14 1888 überreichten Einwohnerinnen und Einwohner der östlichen Stadtteile dem Innenministerium 9.000 Unterschriften und argumentierten: „Es wird hiedurch insbesondere auch für die minderbemittelte Bevölkerung eine Wohlthat, namentlich in Bezug auf Wohnung und Luft, geschaffen, die für dieselbe dringendst angezeigt erscheint.“15 In der historischen Betrachtung war diese Hoffnung verfrüht. Erst um die Jahrhundertwende lassen sich in München Formen der Citybildung feststellen.16 Die Altstadt begann sich immer mehr zu einem Büro- und Geschäftsviertel zu wandeln und ihre Bevölkerungszahl nahm ab, während sie in den äuße-
12 | Vgl. Stadtpläne von 1812, 1849 und 1891; ebd., S. 81, 99, 115. 13 | Wucherpfennig, Bahnhof, S. 131. Vgl. Hardtwig, Räume, S. 65, 73. 14 | Mattiesen, Pferdeomnibus, S. 14; Tram-Weh, in: Münchener Fremdenblatt, Nr. 199, 17.7.1880; Neue Tramway-Linie, in: Münchener Fremdenblatt, März 1881. 15 | Eingabe in Betreff der Trambahn zwischen Promenadeplatz und Maximilianstraße, in: Bayerischer Kurier (BK), Nr. 50/51, 19./20.2.1888. 16 | Als „Citybildung“ wird der Prozess der funktionalen Differenzierung des urbanen Raums verstanden, der sich v.a. im Wandel von Innenstädten von Wohn- zu Geschäftsvierteln äußerte; vgl. Zimmermann, Metropolen, S. 26f.
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ren Stadtteilen stark anstieg.17 Zudem war die Straßenbahn zunächst ein Verkehrsmittel der Oberschicht. Erst nach dem Ersten Weltkrieg setzte sie sich bei der Arbeiterschicht durch, die nun prinzipiell auch die Möglichkeit hatte, den Wohnort unabhängig vom Arbeitsplatz zu wählen.18 Wurde der neuen Infrastruktur einerseits die Hoffnung auf mehr Raum zugeschrieben, standen viele Zeitgenossinnen und Zeitgenossen den damit verbundenen Auswirkungen auf das Straßenbild kritisch gegenüber. Während andere deutsche Großstädte Pferdetrambahnen einrichteten – Berlin machte 1865 den Anfang –, zögerte der Münchner Magistrat bis 1876 unter anderem, weil er eine Verunstaltung der Altstadt durch die Gleise befürchtete. Bis 1888 verweigerte er ein Verlegen von Schienen auf der direkten Achse zwischen Karlsplatz und Stadtzentrum. Die erste Pferdetram begann deshalb nicht am Marienplatz, sondern am etwas nördlicher gelegenen Promenadeplatz. Eine Weiterführung dieser Linie nach Osten verhinderte bis 1897 die königliche Polizeidirektion, da der Residenzplatz (heute Max-Joseph-Platz), „eine Zierde der Stadt“, durch die Trambahn ein Aussehen erhalte, „das seiner Zweckbestimmung und den dort stehenden Bauten widerstritte“.19 Die vollständige Technisierung des Nahverkehrs durch die Elektrifizierung brachte neue technische Artefakte in Form von Oberleitungen, die die Zeitungen eifrig diskutierten.20 Vor allem Stadteliten sahen in der Aufhängung der Drähte eine Verschandelung des Stadtbilds.21 Der Magistrat behalf sich beim Gewissenskonflikt zwischen Modernisierung und ästhetischen Folgen durch eine Klausel im Konzessionsvertrag, die einen Rückbau vorsah, sobald eine technische Alternative zur Verfügung stehe.22 Zudem musste ein Streckenabschnitt am Odeonsplatz aus repräsentativen Gründen bis 1906 von Oberleitungen freigehalten und mit einem aufwendigen Schleppbetrieb mit Akkulokomotiven überbrückt werden.23 Auch nach der Durchsetzung der Elektrifizierung blieben Schienen und Oberleitungen in den Augen vieler Be17 | Hardtwig, Räume, S. 83f; Fisch, Stadtplanung, S. 15f. 18 | Hardtwig, Räume, S. 86–89, 150–152; vgl. Capuzzo, Politics, S. 25–28. 19 | Die Trambahnlinie Promenadeplatz-Hoftheater, in: BK, Nr. 174, 23.6.1888. 20 | Elektrischer Trambahnbetrieb, in: BK, Nr. 99, 9.4.1897; Aesthetik und Trambahnbetrieb, in: Münchner Neueste Nachrichten (MNN), Nr. 214, 9.5.1899. 21 | Vgl. Onnich, Trambahnfrage; Schmucki, Machine, S. 1071. 22 | Ebd., S. 1072. Vgl. Schott, Vernetzung, S. 203. 23 | Onnich, Trambahnfrage, S. 24; Pabst, Tram, S. 23f. Vgl. ähnliche Beispiele in anderen Großstädten: Schmucki, Machine, S. 1072; Sandgruber, Strom, S. 164.
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trachterinnen und Betrachter ein störendes Element. 1921 lobte ein Zeitungsbericht etwa, dass durch die Aufhängung der Kabel an Häuserwänden das Stadtbild von den „oft unschönen Mastenalleen“ freigemacht werde.24 Die ästhetischen Vorbehalte gegenüber den technischen Artefakten konzentrierten sich vor allem auf die Altstadt. Der ihr vorgelagerte Karlsplatz etablierte sich dadurch frühzeitig als Hauptverkehrsknotenpunkt im Münchner Nahverkehr: an ihm gabelten sich die Schienenstränge und umfuhren den Stadtkern. Mit der Führung der Straßenbahn durch die Innenstadt ab 1888 verliefen vom Karlsplatz mehrgleisige Strecken in alle Himmelsrichtungen.25 Wenige Jahre später folgte eine zweite Gleisverbindung zum Hauptbahnhof und ein Umbau ermöglichte ab 1906 das Wenden und Abbiegen. Die Ausdehnung der Besiedlung nach Westen und der Prozess der Citybildung verlagerten den Schwerpunkt der Stadt zur Gegend Karlsplatz-Hauptbahnhof, wo um die Jahrhundertwende Hotels, Kaufhäuser und Verwaltungsgebäude wie der Justizpalast entstanden, und bestärkten die Transformation des Orts von einem Vorplatz zu einem Verkehrsknotenpunkt im Zentrum.26 Eine Funktion, die er heute noch hat. Abbildung 1: Der Karlsplatz in Blickrichtung Westen, 1895
Quelle: Stadtarchiv München_Fotosammlung Weinberger-0443 24 | Stadtverschönerung durch die Münchner Straßenbahn, in: München-Augsburger Abendzeitung (MAAZ), Nr. 218, 11.11.1921. 25 | Vgl. Stadtpläne von 1880 und 1891; Schiermeier, Stadtatlas, S. 111, 115. 26 | Fisch, Stadtplanung, S. 15. Vgl. allgemein Schott, Urbanisierung, S. 299.
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V ERDICHTUNG UND BESCHLEUNIGUNG Anders als die Bezeichnung – Verkehrsknotenpunkt – vielleicht erwarten lässt, suggeriert eine Fotografie (Abbildung 1) von 1895 wie andere Aufnahmen aus dieser Zeit27 ein eher gemächliches Bild. Neben der Pferdetrambahn sind darauf Handkarren und Kutschen zu sehen, die scheinbar friedlich koexistieren. Dieser Eindruck entsteht zum einen, da die Pferde als Antriebsart auf ein ruhiges Tempo schließen lassen, so überqueren Fußgängerinnen und Fußgänger den Platz willkürlich. Zum anderen eröffnen sich zwischen den Verkehrsarten zahlreiche Freiräume. Genau diese beiden Aspekte, die Geschwindigkeit und die Dichte des Verkehrs, veränderten sich nach 1900 und vollzogen eine weitere Transformation des Karlsplatzes. Abbildung 2: Karlsplatz in Blickrichtung Osten und Karlstor, 1913
Quelle: Stadtarchiv München_Fotosammlung Nachlass Valentin-0293. Vgl. Schmucki, Traum, S. 71, 74
Zwischen 1890 und 1930 stieg die Bevölkerung exponentiell an. Die Einwohnerzahl verdoppelte sich auf mehr als 700.000. Im selben Zeitraum vervierfachten sich die Fahrgastzahlen der Straßenbahn von jährlich knapp 27 | Pabst, Tram, S. 13; Bufe, Trambahn, S. 17, 25, 30; Angermair, München, S. 118f, 121; Schricker, Schienennahverkehr, S. 64f; Sembach, München, S. 21–24.
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45 Millionen auf über 172 Millionen.28 Gleichzeitig blieb die ab der Jahrhundertwende elektrisch betriebene Trambahn nicht mehr das einzige motorisierte Verkehrsmittel im urbanen Raum. Bereits auf einer Fotografie von 1913 (Abbildung 2) ist ein Doppeldeckerbus mit der Aufschrift „Neuhausen-Stachus“ abgebildet. Anlässlich der Eröffnung der Buslinie verkündete ein Zeitungsbericht „Der Autobus ist da!“ und sah darin einen „weiteren bedeutungs- und vielleicht auch zukunftsvollen Schritt“ in Münchens Entwicklung zur Großstadt.29 Auch wenn der private Betreiber noch im selben Jahr den Busverkehr wegen mangelnder Rentabilität einstellte, sollte dieser ein Vorbote der Automobilisierung sein. 1920 waren in München weniger als 1000 PKWs registriert; bis 1938 stieg die Zahl auf über 27.000 an.30 Abbildung 3: Karlsplatz, ca. 1927
Quelle: Stadtarchiv München_Postkarten Straßen und Plätze-0753. Vgl. Schmucki, Traum, S. 71, 74
28 | Statistisches Amt, Verwaltungsbericht, S. 15, 114; Dies., Handbuch, S. 105. Vgl. Capuzzo, Politics, S. 27–29. 29 | Zur Neuerung im Verkehr, in: Neues Münchener Tagblatt, Nr. 19/20, 10.1.1913. 30 | Wenzlaff, Germany, S. 21–25.
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Dementsprechend sind auf Bildern des Karlsplatzes Ende der 1920er und Anfang der 1930er-Jahre vermehrt Autos zu sehen.31 Eine Postkarte veranschaulicht (Abbildung 3), dass die Verkehrsmittel mehr Raum beanspruchen: Straßenbahnen verkehren mit Anhängern und Autos parken auf den vormaligen Freiflächen links und rechts des Karlstors. Pferdekutschen und Handkarren sind aus dem Stadtbild verschwunden. Mit der Motorisierung kam die Geschwindigkeit in die Stadt. Hatten im 19. Jahrhundert noch Fußgänger und Pferde das innerstädtische Tempo bestimmt, setzte die elektrifizierte Straßenbahn neue Maßstäbe. Die Verdichtung des Betriebs erforderte zudem ein rascheres Ein- und Aussteigen. Mit dem Aufkommen von Autos und Motorrädern zog der Individualverkehr nach und konfrontierte das städtische Leben mit einer weiteren Beschleunigung.32 Nach dem Zweiten Weltkrieg gewannen die Entwicklungen vor allem durch die Massenmotorisierung an Schubkraft. Bereits 1952 überschritt die Anzahl der registrierten Autos den Vorkriegsbestand und erhöhte sich bis 1965 auf fast eine Viertelmillion. Zudem zählte München 1957 erstmals mehr als eine Million Einwohnerinnen und Einwohner und die Straßenbahn transportierte in diesem Jahr 240 Million Fahrgäste.33 Am Karlsplatz verdichteten sich diese Prozesse, wie Aufnahmen aus den 1950er-Jahren (Abbildung 4) zeigen.34 Autos drängten sich mit Straßenbahnen, Motor- und Fahrrädern, Fußgängerinnen und Fußgängern. Dazwischen eröffnen sich kaum Freiräume; ein Eindruck, den Verkehrserhebungen bestätigen: 1953 zählte man an einem Tag 70.000 PKWs, 100.000 Fahrräder und 7.000 Straßenbahnzüge.35 Während die Verkehrsarten mit ihren unterschiedlichen Geschwindigkeiten um die Jahrhundertwende noch koexistierten, konkurrierten sie nun um den begrenzten Raum. Auch nachts kam der Karlsplatz nicht mehr zur Ruhe. Auf der Postkarte (Abbildung 5) sind Werbeschriftzüge an den Häuserwänden zu erkennen, die auf den anderen Fotografien fehlten. In den Abendstunden erhellte die Leuchtreklame gemeinsam mit den Straßenlampen und den beleuchteten Schaufenstern der Kaufhäuser den urbanen Ort. Das elektrische Licht, das 31 | Bufe, Trambahn, S. 48f, 55f; Pabst, Tram, S. 46. 32 | Borscheid, Beschleunigungsimperative. Vgl. Fack, Automobil, S. 439–445. 33 | Wenzlaff, Germany, S. 21–25; Pabst, Tram, S. 191. 34 | Bufe, Trambahn, S. 73, 81–85; Pabst, Tram, S. 67, 69; Schricker, Schienennahverkehr, S. 67; Einer für acht, in: Spiegel, Nr. 31, 30.7.1958, S. 41. 35 | Schmucki, Traum, S. 68.
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mit dem Aufbau der Stromversorgung zu Beginn des 20. Jahrhunderts Einzug in die Stadt hielt, eröffnete neue Möglichkeiten der Illuminierung, die mit dem Tageslicht konkurrieren konnten und als weitere Agenten der Beschleunigung die städtische Temporalstruktur veränderten.36 Abbildung 4: Karlsplatz, ca. 1955
Quelle: Stadtarchiv München_Fotosammlung Postkarten Straßen und Plätze-0834
Die hier deutlich gewordenen Transformationen des Platzes prägten ab den 1920er-Jahren seine Wahrnehmung. „Man wittert Großstadt“ kommentierte 1926 ein Journalist den über den Platz flutenden Straßen- und Schienenverkehr und 1953 empfahl die Süddeutsche Zeitung: „Wenn jemand eine Großstadt-Symphonie erleben will: am Stachus kann er sie genießen.“37 Selbst wenn der „rasende“ Verkehr in den Nachtstunden abebbt, so der Artikel weiter, zeugen die hell erleuchteten Werbeschriften vom „großstädtischen Charakter“. 24-Stunden-Reportagen verdeutlichen die Faszination für Beleuchtung und Verkehrstreiben am Karlsplatz, die längst zu seinem Marken-
36 | Vgl. Borscheid, Beschleunigungsimperative, S. 379–381; Birkefeld/Jung, Stadt, S. 64–81, 181–191; Binder, Elektrifizierung, S. 351–361; Sandgruber, Strom, S. 47f; Heßler, Stadt, S. 67–69. 37 | Die schüchternen Stachusstriche, in: Allgemeine Zeitung, Nr. 233, 8.10.1926; Rund um den Stachus und Sonnenstraße, in: Süddeutsche Zeitung (SZ), Nr. 288, 13./14.12.1953.
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zeichen geworden waren.38 Fotografien des Knotenpunkts zu den Stoßzeiten, die viele Zeitungen und 1964 der Spiegel sogar auf dem Cover abdruckten, untermalten diese Aussagen. Das Titelbild zeigt den dichten Verkehr und Leuchtreklamen in den Abendstunden. Durch die Belichtungszeit verschwommene Autos visualisieren die Geschwindigkeit des urbanen Lebens. Die Fotografie dient als Metapher für die moderne Stadt – in diesem Fall sogar für die „heimliche Hauptstadt der Bundesrepublik“.39 Stehen hier positive Konnotationen im Vordergrund, belegen zahlreiche Artikel, dass viele die Transformation des urbanen Ortes zeitgleich negativ wahrnahmen. Außenwerbungen waren in München aus ästhetischen Gründen umstritten,40 weshalb Leuchtschriften erst in der Nachkriegszeit am Karlsplatz auftauchten. Journalisten forderten die „Reinhaltung des Stadtbildes“ oder mahnten, München dürfe keine Großstadt „amerikanischen Stils“ werden.41 Andere Presseberichte thematisierten den Knotenpunkt vorrangig als Verkehrsproblem und bezeichneten ihn wahlweise als „Sorgenkind“, „Hexenkessel“ oder „Gordischen Knoten“.42 Bei den Münchnerinnen und Münchnern etablierte sich der Ausspruch „Hier geht es ja zu wie am Stachus“ als Synonym für Trubel und Chaos. Mit dem „Sausewahn“ und dem „Dämon Schnelligkeit“, klagten Zeitungsartikel, könne der Mensch nicht mehr
38 | Der Karlsplatz, in: Abendzeitung (AZ), Nr. 42, 16.6.1948; Neues Leben rund um den Karlsplatz, in: Münchener Stadtanzeiger (MStA), Nr. 14, 14.10.1949; Althen: Am Stachus tobt die Stadt sich aus, in: SZ, Nr. 216, 9.9.1956; Fischer: Ein Tag geht über den Stachus, in: SZ, Nr. 198, 18.8.1962. 39 | Spiegel, Nr. 39, 23.9.1964. Vgl. Egger, München, S. 206f. 40 | Vgl. Stachushäusl unter Naturschutz, in: SZ, Nr. 266, 6.11.1958. In den 1930er-Jahren kämpfte die Stadt gegen die Leuchtreklame; vgl. z.B. BVFB, 18.3.1937, StadtAM RSP 710/2. 41 | München und das Reklamewesen, in: MNN, Nr. 269, 30.6.1921; Gegen Reklame auf dem Trambahndach, in: Münchner Merkur (MM), Nr. 39, 14.2.1957; München wird kein „Klein-New York“!, in: 8 Uhr Blatt, Nr. 44, 14.2.1957; Gegen die Verschandelung der Straßenbahnwagen, in: MStA, Nr. 7, 15.2.1957. 42 | In einer Ellipse um den Stachus, in: MM, Nr. 160, 7.11.1949; Ströbl: Erste Hilfe für den Stachus, in: SZ, Nr. 62, 16.3.1953; Ders.: Fahrgäste – bestellt und nicht abgeholt, in: SZ, Nr. 287, 3./4.12.1955; Reile: Patient „Karlsplatz“ soll kuriert werden, in: MM, Nr. 133/134, 4.6.1958; Moos: Gordischer Verkehrsknoten München, in: Auto-Touring, Nr. 179, 1.6.1963.
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schritthalten und ein Überqueren des Platzes sei nur noch unter Lebensgefahr möglich.43 Auffallend ist, dass die Zeitungen bereits in den 1920er-Jahren über das „Verkehrsproblem“ Karlsplatz berichteten,44 obwohl 1926 auf 700.000 Münchnerinnen und Münchner lediglich circa 10.000 Krafträder und Autos kamen.45 Mit der zunehmenden Dichte und den unterschiedlichen Geschwindigkeiten der Verkehrsarten behinderten sie sich jedoch gegenseitig. In diesem Prozess gewann das Ideal des fließenden Verkehrs an Deutungskraft und wurde gerne mit körperlichen Analogien veranschaulicht.46 Münchens Oberbürgermeister im „Dritten Reich“, Karl Fiehler, betonte beispielsweise, dass „der Verkehr in jeder Form wesentliches Bindemittel, vergleichbar dem Gefäß- und Kreislaufsystem des lebendigen Organismus“ sei.47 Am Karlsplatz, der „Herzkammer“48 des Münchner Verkehrs, kam der Verkehrsfluss ins Stocken. Damit geriet der Platz in den Fokus von Politik und Stadtplanung.
G ROSSE P LÄNE, G ROSSER U MBAU Die Lösung des „Verkehrsproblems“ Karlsplatz konnte in den Augen vieler Politiker und Stadtplaner nur ein großer Umbau bringen. Bereits in den 1920er-Jahren diskutierten Stadtverwaltung und Öffentlichkeit die Neuorganisation des Knotenpunkts, die unter anderem den Bau einer Untergrundbahn vorsah.49 Die Nationalsozialisten griffen die Pläne nach der Machtübernahme auf und legten den Schwerpunkt klar auf den motorisierten Individualverkehr. Einer der Wortführer, der Fraktionsvorsitzende der NSDAP, Christian Weber, verkündete im Juli 1933 im Münchner Stadtrat „Unser Geleitwort 43 | Z.B. 14 Fahrkurven am Karlsplatz, in: Münchener Zeitung (MZ), Nr. 318, 14.11.1934; Die Straßenbahn-Raketenlinie!, in: MAAZ, Nr. 11, 12.1.1929; Jopft: Achtung, der Blitzzug kommt!, in: Welt am Sonntag, Nr. 17, 27.4.1930; Der Sausewahn, in: Das Bayer. Vaterland, Nr. 261, 10.11.1930. 44 | Z.B. Das Verkehrs-Problem am Stachus, in: MAAZ, Nr. 117, 2.5.1926; Das Münchner Verkehrsproblem, in: Völkischer Beobachter (VB), Nr. 1, 1./2.1.1928. 45 | Wenzlaff, Germany, S. 21. 46 | Z.B. Niemeyer, Städtebau, S. 455. Vgl. Diefendorf, Artery, S. 133; Laak, Infra-Strukturgeschichte, S. 386. 47 | Fiehler, Gemeinden, S. 411. 48 | Die Verkehrsfrage „Stachus“, in: MNN, Nr. 319, 23.11.1934. 49 | MNN, Nr. 205, 26.7.1925; Rasp, Stadt, S. 56. Vgl. zu den ersten Ansätzen für eine U-Bahn in München in den 1890er-Jahren: Fisch, Stadtplanung, S. 242–247.
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muß sein: Die Straße frei für den Verkehr!“50 In der Nähe des Karlsplatzes ließ Gauleiter Adolf Wagner im Juni 1938 die jüdische Hauptsynagoge und die evangelische Matthäuskirche beseitigen. Offiziell mussten die beiden Bauwerke dem Verkehr weichen, wobei die ideologische Intention offensichtlich war.51 Zudem sollte die Straßenbahn verschwinden und durch Busse ersetzt werden, wie bereits Ende der 1920er-Jahre in der Münchner Presse nahezu einhellig gefordert worden war.52 Das schienengebundene Verkehrssystem galt als Hindernis für den Verkehrsfluss sowie Gleise und Oberleitungen aus ästhetischen Gründen als nicht tragbar in den im Zuge des großangelegten Umbaus der Stadt geplanten Prachtstraßen.53 In den Planungen markierte der Karlsplatz den Endpunkt einer monumentalen Ost-West-Achse, die am weiter westlich projektierten neuen Hauptbahnhof beginnen sollte, sowie den Kreuzungspunkt zweier Untergrundbahnlinien.54 Der Stadtanzeiger titelte erwartungsvoll: „Umsteigen U-Bahnhof Karlsplatz!“55 Nach 500 Metern Tunnelrohbau wurde 1941 das Projekt Untergrundbahn eingestellt. Der Bau der Untergrundbahn wurde 1941 nach 500 Metern Tunnelrohbau eingestellt. Vor allem als der Luftkrieg 1942/43 München erreichte, rückte die Aufrechterhaltung eines rudimentären Nahverkehrs, den teilweise notdürftig errichtete Kleinbahnen übernahmen, in den Vordergrund. Als ein Artikel im Dezember 1943 von über den Karlsplatz flutenden Autos und Straßenbahnen schwärmte,56 zeigte die Realität bereits ein anderes Bild. Im Luftkrieg wurden die Gebäude, Straßen und Gleise am Karlsplatz ganz oder teilweise zerstört. Stadtplaner sahen die Zerstörungen „als eine nie wiederkehrende Gelegenheit, die Fehler der letzten hundert Jahre wie-
50 | Stadtrat, 11.7.1933, StadtAM RSP 706/1. Vgl. Yago, Decline, S. 28–45. 51 | Vgl. BVFB, 9.6.1938, StadtAM RSP 711/3; Hanke, Geschichte, S. 204f. 52 | Z.B. Ein weiteres Verkehrsproblem, in: MAAZ, Nr. 279, 14.10.1926; Die Stadt ohne Autobusse, in: VB, Nr. 62, 16.3.1927; Freie Bahn!, in: MNN, Nr. 219, 12.8.1928; Stadt und Autobuslinien, in: MZ, Nr. 126/127, 8./9.5.1929. 53 | BVV, 10.7.1939, StadtAM RSP 712/6; BVV, 4.4.1939, ebd. 54 | Stadtrat, 8.8.1939, StadtAM RSP 712/2; Arbeitsbericht für die Untergrundbahn München, 16.7.1937; BA R 43 II/1179. Vgl. Rasp, Stadt, S. 56–58, 76–80, 122f. Die Notwenigkeit der Untergrundbahn begründete Adolf Hitler beim Baubeginn 1938 mit dem Aufkommen des Autos; VB, Nr. 143, 23.5.1938. 55 | Umsteigen U-Bahnhof Karlsplatz!, in: MStA, 23.6.1938. 56 | Rund um den Karlsplatz, in: Münchener Beobachter, VB, Nr. 365, 31.12.1943.
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der gutzumachen“.57 In den 1950er-Jahren diskutierte der Stadtrat zahlreiche Pläne, die die Konzepte aus den 1920er und 1930er-Jahren aufgriffen und dem vorherrschenden Leitbild der „autogerechten Stadt“ folgten.58 Die Straßenbahn spielte darin keine Rolle und erneut forderten Zeitungsartikel ihr Verschwinden.59 Allzu weitreichenden Einschnitten setzte jedoch eine vielen Infrastrukturen immanente Pfadabhängigkeit Grenzen. Da in den unterirdischen Netzen viel investiertes Kapital steckte, orientierte sich der Wiederaufbau an den gegebenen Straßenverläufen.60 Diese Pfadabhängigkeit verhinderte auch ein Verschwinden der Straßenbahn. Trotz großspuriger Rhetorik ersetzen Busse sie im „Dritten Reich“ lediglich auf einer Strecke.61 Eine Abkehr vom bereits eingeführten Nahverkehrssystem hätte hohe Anfangsinvestitionen bedeutet, deren Amortisierung aufgrund des wirtschaftlich weniger rentablen Busbetriebs fraglich gewesen wäre. Nach 1945 wurde die Straßenbahn wiederaufund ausgebaut, neue Buslinien erweiterten das Nahverkehrsnetz. Die Besonderheit, dass eine Busverbindung den Karlsplatz nicht berührte, betitelte der Stadtanzeiger vielsagend mit „Nicht alle Wege führen über den Stachus!“62 Obwohl sich unter dem Paradigma des Verkehrsflusses die Prioritätensetzungen klar verschoben hatten, blieb von den großen Lösungen in der praktischen Umsetzung am Karlsplatz bis Anfang der 1960er-Jahre wenig übrig. Lediglich zwei Entwicklungen lassen sich deutlich ausmachen, die in den 1920er-Jahren ansetzten. Zum einen beanspruchte der motorisierte Verkehr immer mehr Raum. Freiflächen und Gehwege verschwanden oder wurden verkleinert. Zum anderen versuchten Stadtverwaltung und Polizeidirektion den Verkehr funktional zu trennen und dadurch Ordnung zu schaffen. Be57 | So Karl Meitinger, Münchner Stadtbaurat seit 1938, in seinem 1946 veröffentlichten Aufbauplan; Meitinger, München, S. 10. Die Planungen begannen vermutlich bereits im Krieg; Enss, Fassaden, S. 98. Vgl. Diefendorf, Artery, S. 134–137. 58 | Vgl. ebd., S. 133; Schmucki, Traum, S. 118–126. 59 | Keine neuen Trambahnwagen mehr für die Innenstadt, in: AZ, Nr. 292, 6.12.1957; Ströbl: Trambahn – der Wurm im Stadtkern, in: SZ, Nr. 295, 10.12.1957. 60 | Schmucki, Traum, S. 219–230; Diefendorf, Artery, S. 152. 61 | Die Presse lobte den Schritt als fortschrittlich und beschwor das Ende der Straßenbahn herbei; Im Auto fahr’n wir durch die Stadt…, in: MAAZ, Nr. 307, 10.11.1934; Der erste Tag, in: Neues Münchener Tagblatt, Nr. 310, 6.11.1934; Autobuslinie Odeonsplatz-Sendlingertor, in: MAAZ, Nr. 300, 3./4.11.1934. 62 | Nicht alle Wege führen über den Stachus, in: MStA, Nr. 46, 13.11.1964.
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reits 1926 markierten sie am Karlsplatz Sperrbereiche für Fußgängerinnen und Fußgänger und installierten ein Jahr später die erste Ampel. Bis in die 1950er-Jahre kamen weitere Absperrungen und Kennzeichnungen hinzu.63 Mit den exponentiellen Entwicklungen hielten diese Maßnahmen jedoch nicht Schritt und am Verkehrsknotenpunkt Karlsplatz spitze sich die Situation immer weiter zu. Einige Stimmen schienen der Diskussionen überdrüssig und forderten: „Mit dem Stachus leben! Täglich erproben wir an ihm unsere Eignung zur Großstadt, ja, wenn wir kein Dorf bleiben wollen, müssen wir auch den Stachus hinnehmen.“64 In dasselbe Horn blies ein Besucher aus Wien in einem Leserbrief: „Laßt München seinen Stachus, so wie er ist“.65 Vor allem bei leitgeplagten Autofahrerinnen und -fahrern fanden die Aufforderungen scheinbar keinen Anklang, zumindest meinte wenige Ausgaben später ein anderer Leserbriefschreiber, der Wiener solle zur Strafe täglich zur Hauptverkehrszeit am Karlsplatz im Stau stehen.66 Auch die Stadt München ließ sich davon nicht beirren und begann im Herbst 1964 mit großen Umbaumaßnahmen, die ganz im Zeichen der Verkehrstrennung standen.67 Das Ergebnis veranschaulicht eine Postkarte Anfang der 1970er-Jahre (Abbildung 5). Der Raum vor dem Karlstor, durch das sich zuvor Straßenbahnen und Autos zwängten, bildete den Abschluss der neuen Fußgängerzone in der Innenstadt. Damit wurde der Verkehr aus Teilen der Altstadt herausgenommen und die Citybildung forciert.68 Unter dem Platz entstand eine „gigantische Underground-City“69 mit Einkaufspassagen, Gastronomie und Parkplätzen, die sich auf mehreren Ebenen erstreckte und als Zugang zur ebenfalls neugebauten unterirdischen S-Bahnstrecke zwischen Haupt- und Ostbahnhof diente. Gemeinsam mit der zeitgleich in Angriff genommenen U-Bahn, die jedoch erst 1984 den Karlsplatz unterfuhr, verschwand der öffentliche Nahverkehr unter die Erde und schuf an der Ober63 | StadtAM Verkehr 226/6; StadtAM Verkehr 86; Schmucki, Traum, S. 74–76; König, Jahre, S. 11f, 62. Parallel dazu sollte die Verkehrserziehung die Verkehrsdisziplin erhöhen; Birkefeld/ Jung, Stadt, S. 104–115; Fack, Automobil. 64 | Netzsch: Mit dem Stachus leben…, in: SZ, Nr. 236, 2.10.1963. 65 | Ein Wiener lobt den Stachus, in: SZ, Nr. 247, 14.10.1960. 66 | Strafe für Wiener, in: SZ, Nr. 259, 28.10.1960. 67 | Vgl. Schmucki, Traum, S. 76, 263–266. 68 | Vgl. die Ausführungen des Stadtbaurats: Luther, Fußgängerbereiche, S. 66-71. 69 | Stankiewitz, Stachus, S. 83.
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fläche Raum für den motorisierten Individualverkehr. Rund um das Stadtzentrum wurde der in den 1950er-Jahren begonnene mehrspurige Altstadtring für den Autoverkehr verwirklicht. Diesem mussten auch die Fußgängerinnen und Fußgänger weichen, die den Platz lediglich unterirdisch passieren sollten. Neue Grünflächen bildeten nur noch unwirtliche Trennstreifen zwischen den Fahrtrichtungen. Die Straßenbahn erhielt vom Autoverkehr separierte Trassen. Mit dem weiteren Ausbau des U-Bahn-Netzes legten die Verkehrsbetriebe jedoch einige Linien still. Abbildung 5: Karlsplatz, ca. 1972
Quelle: Stadtarchiv München_Fotosammlung Postkarten Straßen und Plätze-0845
Die Presse diskutierte die Veränderungen lebhaft. Wie bei den vorhergehenden Transformationen des urbanen Ortes gab es positive wie negative Stimmen. Einige Zeitungsartikel meinten, mit dem letzten Straßenbahnzug, der 1968 das Karlstor durchfuhr, gehe ein Stück München verloren.70 Andere hingegen betrachteten ihn als einen Vorboten „für das unaufhaltsame Ende des Trambahnzeitalters“ und hofften auf eine „Entrümpelung der Straßen“.71 Ein Artikel im Münchner Merkur sah den Umbau als „ein Opfer an den vielgeschmähten Moloch Verkehr“, meinte jedoch zugleich, am Karlsplatz 70 | Zum letzten Mal rief der Schaffner „Marienplatz“, in: SZ, Nr. 97, 24.4.1968. 71 | Ströbl: Der Fußgänger verdrängt den Kraftfahrer, in: SZ, Nr. 20, 23.1.1968.
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habe „die Zukunft begonnen, eine zweifellos faszinierende, weltstädtische Zukunft“.72 Bereits vor Baubeginn äußerten Politikerinnen und Politiker die Befürchtung, der Platz werde zu einer „Verkehrswüste“ und nach Abschluss beklagten Journalistinnen und Journalisten, er habe seine Atmosphäre verloren.73 Eine Schrift bezeichnete den verkehrsgerechten Ausbau Münchens sogar als „Zweite Zerstörung“ und meinte, der Karlsplatz sei durch den Altstadtring von der Innenstadt abgeschnitten wie zu Zeiten der Stadtmauern – sogar konsequenter.74 Bringen diese Äußerungen einerseits nostalgischen Wehmut zum Ausdruck, zeugen sie andererseits zugleich von einem Umdenken. Während mit dem Umbau das bereits auf die 1930er-Jahre zurückgehende Leitbild der autogerechten Stadt zur vollen Geltung kam, vollzog sich in den 1980er-Jahren mit zunehmenden Umweltbewusstsein ein Wandel in der Stadtplanung hin zum menschengerechten Verkehr.75 Damit verschoben sich die Prioritätensetzungen wieder zu Gunsten der vielgescholtenen Straßenbahn. Ende der 1970er-Jahre kämpften Fahrgastinitiativen gegen ihr Verschwinden und ab den 1990er-Jahren wiedereröffneten die Verkehrsbetriebe aufgelassene Linien und bauten neue Strecken.76 Zudem wandelte sich die Wahrnehmung des Karlsplatzes. Artikel, die seinen Großstadtcharakter herausstellten, wurden seltener und Fotografien des Platzes aus den 1950er-Jahren versinnbildlichten nicht mehr Urbanität, sondern die Umweltbelastung des Autoverkehrs.77
Z usammenfassung Im Oktober 1876 feierten die Münchnerinnen und Münchner die Eröffnung der ersten Pferdetrambahnlinie, die vom Stadtzentrum (Promenadeplatz) 72 | Wook: München und sein Stachus, in: MM, 26.11.1970. 73 | CSU warnt: Stachus darf keine Verkehrswüste werden, in: AZ, Nr. 84, 7.4.1964; Fischer: Nicht mehr viel Platz zur Promenade, in: SZ, Nr. 142, 13./14.6.1964; Wook: Grüne Oase – der Stachus, in: MM, Nr. 41, 19.2.1982. 74 | Schleich, Zerstörung, S. 123. 75 | Schmucki, Traum, S. 153, 183–192. Vgl. Schott, Urbanisierung, S. 337–341. 76 | Arbeitskreis, München; Bürger fordern: „Die Tram muß bleiben, und zwar sofort“, in: MM, Nr. 38, 15.2.1979; …fährt weiter durch die Stadt, in: AZ, Nr. 200, 5./6.12.1987. Vgl. Pabst, Tram, S. 103–114; Schmucki, Traum, S. 366–385. 77 | Z.B. Hutter: Münchens Kampf um saubere Luft, in: SZ, Nr. 183, 10.8.2004.
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über den Karlsplatz und den Hauptbahnhof nach Westen führte. Dass die Schienen über den Platz liefen, ergab sich aus seiner Position im Stadtgefüge Münchens. Bereits mit seiner Anlage Ende des 18. Jahrhunderts wurde ihm die Funktion eines Verkehrsplatzes eingeschrieben. Eine Rolle, die sich durch den Bau des Hauptbahnhofes und der Ausdehnung der Stadt weiter verstärkte. Aus dem Vorplatz wurde ein Verkehrsknotenpunkt im Zentrum. Heute, 130 Jahr später, verlaufen noch immer Straßenbahnschienen auf dieser Strecke ein – deutliches Indiz, der für die hohe Kontinuität von Infrastrukturen. Dieser Beständigkeit stehen zahlreiche Transformationen des Platzes gegenüber, die die Wechselbeziehungen zwischen urbanen Räumen und Infrastrukturen zeigen. Erstens formten und veränderten Infrastrukturen den urbanen Raum. Es blieb nicht bei dem einen Schienenstrang. Im Verlauf der Jahrzehnte kamen neue Gleise hinzu und einige verschwanden. Oberleitungskonstruktionen wurden errichtet, Gehwege angelegt und versetzt, Straßen aus- und stellenweise rückgebaut. Unterirdische Durchgänge wurden gegraben und Zugänge zu Verkehrsmitteln im Untergrund eingerichtet. Gemeinsam gaben diese Infrastrukturen dem urbanen Ort immer wieder eine neue Struktur und funktionalisierten den öffentlichen Raum zusehends. Die Nichtmotorisierten wurden dabei an den Rand gedrängt. Nicht nur die technischen Artefakte transformierten den Karlsplatz, sondern – zweitens – auch deren Nutzung. Die Elektrifizierung und das Automobil brachten neue Geschwindigkeiten, die als Agenten der Beschleunigung den Rhythmus des städtischen Lebens bestimmten. Mit der zeitgleichen Verdichtung des Verkehrs ging die Ordnung am Karlsplatz verloren. Die verschiedenen Verkehrsarten mit ihren unterschiedlichen Geschwindigkeiten konkurrierten um den begrenzten Raum. Durch die Verlegung des öffentlichen Nahverkehrs unter die Erde wurde in den 1960er-Jahren neuer Raum geschaffen. Hinter den baulichen Transformationen standen – drittens – jeweils langfristige Veränderungen von Leitbildern. Auf der Planungsebene war etwa die Konkurrenz der Verkehrsarten bereits im „Dritten Reich“ zu Gunsten des motorisierten Individualverkehrs entschieden. Eine Prioritätensetzung, die jedoch erst in den 1960er-Jahren baulich ihren Ausdruck fand. Die Umsetzung neuer Konzepte scheiterte oft an Pfadabhängigkeiten, die vielen Infrastrukturen immanent sind. Viertens, prägten die Infrastrukturen nicht nur den Platz, sondern auch seine Wahrnehmung; sie wurden zu seinem Markenzeichen. Die Untersu-
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chung der Konnotationen in der Presse zeigte die Gleichzeitigkeit von Modernisierungseuphorie und Skepsis. Einerseits verbanden sich mit den technischen Systemen Hoffnungen und sie galten als Sinnbilder für Fortschritt und Urbanität. Andererseits war der Karlsplatz der Kristallisationspunkt für Debatten um die Verkehrsprobleme Münchens. Die technischen Artefakte störten das gewohnte Stadtbild und Veränderungen wurden als Verlust wahrgenommen. Es wäre jedoch falsch, dies als bloße Nostalgie abzutun, denn die negativen Zuschreibungen blieben an den Infrastrukturen haften. Die Straßenbahn galt von den 1920er-Jahren bis in die 1970er-Jahre als veraltetes Vehikel und Verkehrshindernis, was fast zu ihrem Verschwinden geführt hätte. Die Leuchtreklame am Häuserrondell musste in den 1980er-Jahren zurückgebaut werden.78 Übrig blieb paradoxerweise die Werbeschrift „Hell wie der lichte Tag“.
78 | Jochim: Keine Reklame mehr am Stachus, in: MM, Nr. 48, 27.2.1987.
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Der GR-2013-Weg Wandern durch urbane Infrastrukturlandschaften in der Provence Hendrik Sturm Urbane Landschaften sind einer permanenten Transformation unterworfen, die den Raum und seine Strukturen verändern, Grenzen erzeugen und verschwinden lassen. Zeitweise rücken dabei bestimmte Nutzungen in den Mittelpunkt, die sich als Spuren in den Raum einschreiben und auch erkennbar bleiben, wenn auf den Flächen neue Funktionen definiert werden. Alte Landschaftselemente überdauern, werden umgedeutet, ausgeblendet oder aufgelöst. Funktionen und Territorien können sich überlagern und Koräume bilden. Mit einer Kombination von Methoden der Neoichnologie, der Spaziergangsforschung und Bildinterpretation können diese Transformationen lesbar werden – wie hier dargestellt am Beispiel des GR.1 Der 360 km lange, markierte Rundwanderweg chemin de grande randonnée 2013 (GR 2013) durchquert die Metropolregion von Marseille und Aix-en-Provence. Er wurde im Rahmen der europäischen Kulturhauptstadt Marseille Provence im Jahr 2013 von einer Gruppe von Spaziergangskünstlern geschaffen, unterstützt von Mitgliedern der lokalen Wandervereine. Die Wegführung beschränkt sich nicht auf die Gebiete, die den herkömmlichen Begriffen von Naturschönheit oder pittoresker Landschaft entsprechen, sondern bezieht andere Landnutzungen ein, die sich innerhalb der Stadt oder in räumlicher Nähe zu ihr befinden. Auf diese Weise kann im Gehen ein vielschichtiges, mentales Stadtbild entstehen. Konkret trifft der Wanderer auf eine große Anzahl von technischen Netzen und Infrastrukturen. Die in diesem Beitrag gegebene ausführliche Beschreibung und Kommentierung eines Fotos, aufgenommen im August 2013 im Norden Marseilles, verdeutlicht 1 | Im Gegensatz zur Paläoichnologie behandelt die Neoichnologie rezente Spuren, die Organismen in der Interaktion mit ihrer Umgebung hinterlassen.
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beispielhaft die ko-räumliche Struktur einer postindustriellen Stadtrandlandschaft, hier: das Gebiet um eine bis in die 1980er Jahre genutzte Tongrube (Abb. 1). Anschließend gibt der Artikel einen kurzen Überblick über aktuelle künstlerische Auseinandersetzungen mit dieser spezifischen Infrastrukturlandschaft. Abbildung 1: De La Viste vers Foresta
Quelle: Hendrik Sturm
Wegzeichen Für diesen Fernwanderweg wurden nur an wenigen Stellen neue Wege geschaffen; in der Regel wurden schon bestehende Wegabschnitte miteinander verbunden. Dabei handelt es sich um Wanderwege, Straßen und Bürgersteige, bis hin zu informellen Fußpfaden. Einer dieser durch Nutzung entstandenen Pfade ist in Abb.1 zu sehen. Der Weg führt zunächst einige Meter einen Hang hinab, dicht an einem Mauerabschluss aus roten Hohlziegelsteinen vorbei, und verläuft ohne große Höhenunterschiede in einem weitem Bogen durch ein unbebautes und teilweise bewachsenes Gelände bis zu einer Straße; der Wegverlauf ist in Abb. 2 skizziert. Im Gelände ist der GR 2013, wie alle vom französischen Wanderverband zertifizierten Fernwanderwege dieser Art,
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durch einen gelbroten Doppelstreifen markiert. An dieser Stelle ist er an der Mauerkante in Augenhöhe angebracht (Abb. 2 A). Im Bild gibt es eine Reihe weiterer, bewusst gesetzter Zeichen und eine große Anzahl von materiellen Spuren, ohne Kommunikationsabsicht, von denen ich einige im folgenden deuten werde. Abbildung 2: De La Viste vers Foresta_Strichzeichnung
Quelle: Hendrik Sturm
Ins Auge springt der handgemalte Schriftzug auf dem grauen, sorgfältig verputzten Teil der Mauer. : LISEZ LES EVANG … DE …SUS-CHR .. . (BIBEL). Auf doppelte Weise ist die Mitteilung unvollständig: Zum einen scheinen Buchstaben „ausradiert“ zu sein, zum anderen fehlen höchstwahrscheinlich Buchstaben durch einen größeren Mauereinbruch. Es fällt aber nicht schwer, die Lücken gedanklich als Aufforderung zu verstehen: Lest die Evangelien von Jesus Christus (Bibel)! Der Zusatz „Bibel“ lässt vermuten, dass der Schreiber sich in der Diaspora wähnt, in der viele Leser nicht wissen könnten, in welchem Buch man die Evangelien lesen kann. Woher kommt der Autor? Vielleicht aus dem Umfeld der evangelikalen Zigeunerkirche, die sich nicht weit von dieser Mauer in einer „Barackensiedlung“ befindet, in einem Tal hinter der Wohnsiedlung im linken oberen
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Bildabschnitt (Abb. 3). Als Notunterkunft ursprünglich nur für eine kurze Zeitspanne geplant, besteht die Siedlung Bricarde provisoire schon seit 40 Jahren. In den Sommermonaten gab es regelmäßig eine Zeltmission, bis schließlich das ehemalige Zirkuszelt einem Brand zum Opfer fiel. Vielleicht kommt der Autor aber auch aus einer Wohnwagensiedlung, die zeitweise auf einer großen, freien Fläche vor einem Einkaufszentrum stationiert war. Viele ihrer Bewohner sind engagierte Evangelikale. Wahrscheinlich stammt der Autor des religiösen Graffitis nicht aus einer der katholischen Kirchengemeinden der Stadt. Abbildung 3: Eglise evangélique Bricarde
Quelle: Hendrik Sturm
D ie M auer , ihr U ntergrund Der linke Teil der Mauer hat einen horizontalen, abgerundeten Abschluss (Abb. 2 B). In den frischen Mörtel hat ein Maurer Scherben aus zerbrochenen Glasflaschen gesteckt, die ein Übersteigen der Mauer verhindern sollen. Auf einem unteren Mauerabsatz gibt es eine zweite Reihe mit Glasscherben im
Der DerGR GR-2013-Weg 2013 - Weg
Mörtelbett. Auf diese Weise sein Eigentum zu schützen, quasi als Stacheldrahtersatz, ist in der Umgebung Marseilles weit verbreitet. Ein Teil dieser grauen Mauer ist herausgebrochen und liegt als großes zusammenhängendes Stück auf dem Boden (Abb. 2 C). Das große Loch befindet sich an einer strukturellen Schwachstelle der Mauer (Abb. 2 D). Tatsächlich besteht die Mauer aus verschiedenen Einheiten, die auf verschiedene Bauphasen schließen lassen. Der rechte Mauerteil aus relativ großen Kalksandsteinen wird mit Kalkmörtel zusammengehalten. Die linke, tiefergelegene und später entstandene Mauer ist aus kleinen, verputzten Hohlziegelsteinen aufgebaut. Beide Mauerabschnitte befinden sich nicht in einer geraden Linie, sondern bilden einen stumpfen Winkel von etwa 140 Grad. Der rechte Teil der Mauer ist „angeschnitten”, ein Teil der ursprünglichen Mauer wurde abgetragen. Die Bruchkante ist grob mit grauem Zementmörtel gesichert (Abb. 2 E). Auch der untere Mauerabschnitt lässt mehrere Bauphasen erkennen, die sich aber nicht in eine eindeutige Abfolge bringen lässt. Ein Blick ins Bodenkataster legt die Vermutung nahe, dass der neue, abgewinkelte Mauerabschnitt nahezu exakt der aktuellen Grundstücksgrenze folgt. Dafür spricht auch eine kleine Bodenmarke mit der Aufschrift OGE, die sich in der Verlängerung des neuen Mauerteils in der Mitte des Trampelpfads befindet. Hier hat ein öffentlicher Vermesser (Ordre des géomètres-experts) eine Grundstücksgrenze markiert (Abb. 2 F). Es ist erstaunlich, dass eine solche informelle Weg- und Raumsituation mit Ruinencharakter, bei der alle Ordnungen aufgelöst erscheinen, unterschwellig doch an den bestehenden Eigentumsgrenzen orientiert ist. Hinter der Mauer und durch den großen Mauereinbruch sichtbar, ist der Boden mit altem Abraum bedeckt (Abb. 2 D). Neben Metallgegenständen aus dem Hausmüll liegen dort vor allem Dachziegelbruchstücke. Genau an dieser Stelle befand sich der Hangrand der Marseiller Dachpfannen- und Ziegelfabrik der Familie Bonnet. Auf historischen Luftaufnahmen sieht man deutlich, dass die Angestellten der Fabrik ihren Abraum, also die Keramikreste aus Fehlbränden und defekten Dachpfannen, den Hang hinunter gekippt hatten. Auf den Unterseiten der alten Dachpfannen liest man „Die Söhne von Jules Bonnet – La Viste – Marseille - Frankreich“ und sieht als Prägeeindruck ein galoppierendes Pferd, das Emblem dieser Fabrik (Abb. 4). Jeder der knapp dreißig Tonfabriken im Norden Marseilles hatte ein eigenes, oft tierisches Firmenzeichen: einen Schmetterling, einen Löwen, ein Dromedar und eben
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das Pferd der Fabrik Bonnet in La Viste.2 Bonnet war die am höchsten gelegene Tonfabrik in Marseille. Alle anderen Werke befinden sich, näher am Meer gelegen, in niedrigeren Lagen. Nur ein einziger Anbieter hat überlebt und produziert weiterhin in unmittelbarer Nähe. Als eine von insgesamt nur drei noch aktiven Dachpfannenfabriken in Frankreich, mit einer modernen automatisierten Produktionsstraße ausgestattet, beliefert die Firma Monier den südfranzösischen Markt mit Dachpfannen.3 Das Rohmaterial kommt aus der firmeneigenen Tongrube am Fuße des Bergmassivs Sainte-Victoire in der Nähe von Aix-en-Provence. Abbildung 4: Pferde
Quelle: Hendrik Sturm
D er B oden als R ohstoff Bis zum Ende der 1980er Jahre wurde der Ton für alle Marseiller Betriebe an Ort und Stelle abgebaut und weiterverwendet. Ein großer Teil des Hügels zwischen den Stadtvierteln La Viste, Saint-Antoine, Saint-Henri und Saint2 | Für eine Übersicht der tierischen Markenzeichen: Ratier 1989, Seite 43. 3 | Mündliche Mitteilung des Direktors, April 2014.
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André verschwand auf diese Weise, umgewandelt in Dachpfannen und Ziegel. Dieses große Tonvorkommen wurde beim Eisenbahnbau in der Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckt. Mehrere Faktoren begünstigten damals die Entwicklung der Keramikindustrie: Der Hoffmann-Brennofen, der ein industrielles Brennen im großen Maßstab ermöglichte, war kurz zuvor entwickelt worden; der Ausbau der Eisenbahnstrecken benötigte eine große Menge an Ziegeln für die Tunnelbauten; die Hafennähe ermöglichte einen günstigen Warentransport. Die Dachziegel wurden mit Schiffen weltweit vertrieben. Unterstützt durch diese günstigen Umstände wurde der Falzziegel für mehrere Jahrzehnte zum bedeutendsten Exportprodukt Marseilles (Ratier 1989). Diesen Teil der Industriegeschichte kann man noch heute problemlos vom Boden auflesen. Abbildung 5: Bleifarbenfabrik
Quelle: Hendrik Sturm
Direkt neben der Tonfabrik Bonnet befand sich eine Fabrik für Schiffsfarben. In mehreren großen Öfen wurde Mnium, Bleioxid Pb3O4, für Schiffsfarben produziert (Abb. 5). Die Fabrik und der hohe Schornstein wurden erst vor wenigen Jahren abgetragen, um eine Wohnsiedlung zu errichten. Die große Tongrube selber wurde von den verschiedenen Fabrikbesitzern gemeinsam betrieben und schließlich in den 1980er Jahren aufgegeben.
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Eine Zeitlang war sie ein informeller Abenteuerspielplatz für die Kinder und Jugendlichen aus den umgebenden Hochhaussiedlungen, die zwischen den Jahren 1960 und 1970 entstanden waren. Abbildung 6: Grand Littoral_ Abriss
Quelle: Hendrik Sturm
Zu Beginn der 1990er Jahre wurde die Grube zu einem Stadtentwicklungsprojekt.4 Eine italienisch-französische Firma bekam den städtischen Auftrag, die Tongrube umzubauen. Ursprünglich sollte das neue Projekt aus drei Einheiten bestehen: einem Einkaufszentrum mit überregionaler Bedeutung, neuen Wohnanlagen und einem zoologischem Garten. Dieser sollte, mit Seen und Hügeln ausgestattet, auf dem Teil des Geländes entstehen, der aus geotechnischen Gründen nicht bebaut werden konnte. Er betrifft den Hang und die darunterliegende Fläche am linken Bildrand der Abb. 1. Das Einkaufszentrum wurde sehr zügig gebaut und im Herbst 1997 eröffnet. Nach kurzer Zeit tauchten aber Bauschäden auf, die auf den instabilen Untergrund der alten Tongrube zurückgeführt wurden. Es gab Risse im Gebäude. Daraufhin wurde das ganze Gelände unter geodätische Beobachtung gestellt. Alle 14 Tage wurde ein Netz von etwa 30 Messpunkten eingemessen, um verfolgen zu können wie sich der Boden bewegt. Entsprechend diesen Daten wurden Hydraulikheber eingestellt, die in der Tiefgarage des Einkaufszentrums das Gebäude stützten. Diese Aktion konnte aber nicht verhindern, dass der westliche Teil des Einkaufszentrums inklusive eines Multiplex-Kinos abgerissen werden musste (Abb. 6). Danach wurde der Gebäudekomplex mit einem Netz von Tiefenbohrungen in den Untergrund und durch 50 m lange Betonsäulen gesichert. 4 | Zone d’aménagement concertée de Saint-André, Bauträger Lesseps Promotion – TREMA, ab 1990.
Der DerGR GR-2013-Weg 2013 - Weg
Die Wohnbebauung entstand mit einiger Verzögerung und auch nicht im vollen Umfang. Die Idee des zoologischen Gartens wurde schnell verworfen. Um aber trotzdem einen Ort zu schaffen, der auch Menschen aus anderen Stadtteilen und der weiteren Umgebung anzieht, wurde erwogen, den Hang mit einer Anlage für Gleitsportarten zu nutzen. Diese Idee kam aber im übertragenen Sinne ins Rutschen: das Gleitsportzentrum entstand tatsächlich, aber an einer anderen Stelle im Osten der Stadt. Danach wollte der französische Fußballstar Zinedine Zidane hier kommerziell genutzte Fußballfelder und -hallen errichten. Er fühlte sich dem Stadtteil besonders verbunden, weil er in der benachbarten Hochhaussiedlung Castellane aufgewachsen war. Sein Vorhaben realisierte er später, allerdings nicht an diesem Ort sondern in Aix-en-Provence. Das Gebiet um die Tongrube gehört inzwischen einer Immobilienfirma. Es sollen Wohnungen neben und unterhalb des östlichen Teils des Einkaufszentrums entstehen (Abb. 2 G).
E ine strategische L age Auf dem Foto sieht man auf der noch unbebauten Fläche eine Spur, die sowohl den Pferden eines Ponyclubs als auch Motorradfahrern geschuldet ist (Abb. 2 H). In der Kurve der Motorrad- und Pferdebahn überdauerte eine der jetzt nicht mehr gebrauchten Messsäulen (Abb. 2 I). Nach nur wenigen Jahren schloss der Pferdeclub seine Pforten, die Ställe sind seit 2014 verwaist. Das Pferd scheint sich als Wappentier für dieses Gebiet zu eignen: Der Ponyklub auf dem Gelände des ursprünglich geplanten Zoos – an dieser Stelle waren Antilopen vorgesehen – und das galoppierende Pferd als Markenzeichen der Dachpfannenfabrik Bonnet (Abb. 4) sprechen hier für sich. Noch auf eine weitere Weise ist dieser Ort mit einem Pferd und seinem Reiter verbunden. Die älteren Bewohner des Stadtteils La Viste erinnern sich an den Grafen De Foresta, der regelmäßig sonntags mit seinem weißen Pferd zum katholischen Gottesdienst nach La Viste ritt. Die Adelsfamilie Foresta hatte seit dem Beginn des 18. Jahrhundert nördlich von Saint-André ein großes Anwesen und dort in den 1830er Jahren ein Stadtschloss errichtet, das Chateau des Tours (Abb. 7). Von einem Familienmitglied ist ein Skizzenbuch überliefert.5 Es zeigt sowohl das Gebäude, als auch den Ausblick vom Schloss, 5 | Archives Départementales des Bouches-du-Rhône, 140 J 161.
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im Blick nach Süden in Richtung des Alten Hafens und des Hügelmassifs Marseilleveyre. Abbildung 7: Chateau des Tours
Quelle: AD 13
Bis zum zweiten Weltkrieg waren das Schloss und der umgebende Kiefernwald ein beliebtes Ausflugsziel. Die Grafenfamilie war tolerant und erlaubte den Besuch des Grundstücks am Wochenende. Nachdem die deutsche Armee 1943 den Süden Frankreichs besetzte und an der Mittelmeerküste den Südwall errichten wollte, wurde das Stadtschloss beschlagnahmt. In unmittelbarer Umgebung entstand auf dem Hochplateau Plan d’Aou in sehr kurzer Zeit ein Militärstützpunkt mit Gefechtsanlagen und einem weitläufigem Bunkersystem (Abb. 2 J). Die letzten, sehr schweren Gefechte zur Befreiung Marseilles fanden hier im August 1944 statt und endeten mit der deutschen Kapitulation. Während der Kampfhandlungen wurde auch das Schloss stark beschädigt. Nach dem Krieg wurde es nicht wieder aufgebaut; nur ein großer, gemeinschaftlich genutzter Gemüsegarten wurde von Stadtteilbewohnern weiterhin gepflegt.6 Der Tonabbau aber schritt voran, so dass die Abbaukante die Mauern der Schlossruine im Jahre 1960 erreichten (Abb. 7). In den folgenden Jahren wurde der gesamte Hügel abgetragen.
6 | Brun 2008, Seite 69.
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A bgrenzungen In den 1920er Jahren war die Famille Foresta auf zusätzliche Einnahmen angewiesen und verkaufte einen kleinen Teil ihres Grundstücks, auf dem sich vormals die Schafställe befanden. Hier entstand ab 1933 die Wohnsiedlung Pas des Tours mit mehreren Straßen und einzelnstehenden Häusern in Gartengrundstücken (Abb. 2 K).7 An zwei Stellen war dieses neue Straßennetz an die Nationalstraße auf dem Hügelkamm angeschlossen. An mehreren weiteren Stellen waren Erweiterungen und Anbindungen vorgesehen. Tatsächlich errichtete die Eigentümergemeinschaft aber eine Mauer um die Siedlung und die möglichen Straßenanschlüsse wurden dadurch zu Sackgassen. Abbildung 8: Plan d`Aou 1986-88
Quelle: Marc Quer
Das Phänomen der abgeschlossenen Wohnsiedlungen findet sich an vielen Stellen in Marseille und es wird von einer Gruppe von Stadtgeographen seit einigen Jahren erforscht und dokumentiert (Dorier et al 2012). Sie berichten, dass etwa 20 Prozent aller Marseiller Haushalte und etwa 40 Prozent des bebauten Stadtgebiets davon betroffen sind. Der Anlass zur Abgrenzung der Wohnsiedlung Pas des Tours war der Bau der Hochhaussiedlung Plan d’Aou zu Beginn der 1970er Jahre auf dem Gelände der ehemaligen deutschen Militäranlage (Abb. 2 J und Abb. 8). 7 | Archives Départementales des Bouches-du-Rhône, 12 O 9 ; Blès 2001, Seite 343.
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Man machte sich nicht die Mühe, die schweren Bunkeranlagen und Geschützwerke abzutragen. Die Bevölkerung dieses Sozialbauviertels verarmte. Weil sich die Bauqualität als weniger solide herausstellte als ursprünglich gedacht, setzten schon 10 Jahre nach Bauabschluss Sanierungsmassnahmen ein. Sie sind immer noch nicht zum Abschluss gekommen. Die Sanierung des Plan d’Aou gilt deshalb als eine der kompliziertesten französischen Rehabilitationsprojekte.8 Die vielen Abriss-, Umbau- und Neubaumaßnahmen haben aber die Militärruinen kaum angetastet. Treppenwitz der Geschichte: Die meisten Betonpfosten der militärischen Lagerumgrenzung, viele davon mit Stacheldrahtresten, stehen auch nach 70 Jahren noch an ihrem Platz sowie die Fundamente der Bunker und Gefechtsanlagen während die Bebauungen der Nachkriegsmoderne weniger beständig waren. Auf dem Foto sieht man den Rand der privaten Wohnsiedlung Pas des Tours und die Silhouette einer Zypresse als spitze Nadel (Abb. 2 K) markiert deren Grenze. Lange Jahre verhinderten hier eine Mauer und ein aufgeschütteter Erdhaufen die mögliche Straßenverbindung (Abb. 9). Hier sollte eine neue Straße entstehen, um die alten Kammstraße zu entlasten. Gleichzeitig war geplant, die Privatsiedlung und die ebenso abgeschlossene Sozialbausiedlung füreinander zu öffnen und mit der restlichen Stadt zu verbinden. Bei einer offiziellen Bürgeranhörung sprachen sich die Bewohner der beiden Wohnviertel deutlich gegen die Durchgangsstraße aus. Beide Bewohnergruppen wollten lieber weiterhin mit der Sackgassensituation vorlieb nehmen. Ihrer Ansicht nach würden sie mit dem zu erwartenden Durchgangsverkehr die Möglichkeit verlieren, die Kinder unbeaufsichtigt und unbesorgt vor der Tür spielen lassen zu können. Nach der Bürgerbefragung wurde der Plan für diese neue Straßenverbindung zunächst fallengelassen. Damit wollte sich die Stadtverwaltung jedoch nicht zufrieden geben und bemühte den Staatsrat in Paris, die Entscheidung aufzuheben. Kurioserweise konnte ein großer Abschnitt der geplanten neuen Entlastungsstraße gar nicht mehr gebaut werden, weil in der Zwischenzeit eine Immobiliengesellschaft eine Siedlung von Einfamilienhäusern auf der geplanten Trasse gebaut hatte (Abb. 2 L). Der Staatsrat gab der Stadt Recht und somit war die neue Straße wieder möglich
8 | Mündliche Aussage des Regionalplaners Dominique Deniau, Grand Projet de Ville Marseille, etwa 2003.
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geworden.9 Die von den Bewohnern des Pas des Tours gesetzte Mauer, die das verhindern sollte, blieb. Diese Mauer hatte eine Tür, die den Fußballspielern am Wochenende offen stand, damit diese von der Sozialbausiedlung auf das Spielfeld gelangen konnten. Auf diesem Feld wurde später ein großes Wohngebäude errichtet (Abb. 2 M) und zum Ausgleich in der Sozialbausiedlung ein neues Sportfeld angelegt.
Abbildung 9: Pas des Tours
Quelle: Hendrik Sturm
Auch der Neubau einer Siedlung von Eigentumswohnungen durch eine Pariser Immobiliengesellschaft (Abb.2 N) erbrachte noch keinen Mauerdurch9 | Décret du 1er octobre 2002 portant déclaration d’utilité publique des acquisitions et travaux nécessaires à la réalisation de la voie U 222 entre l’avenue Milly-Mathis et le boulevard Barnier et au raccordement du chemin des Tuileries à l’avenue de Saint-Antoine, sur le territoire de la commune de Marseille (Bouches-du-Rhône), JORF n°231 du 3 octobre 2002.
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bruch. Bis zum Bau dieser Siedlung war der freie Blick auf das Meer eine der wenigen Privilegien der Bewohner des Sozialbauviertels Plan d’Aou, von dem jetzt die neuen Bewohner der Terasses de la Méditerranée profitieren. Aber auch die Bewohner der Terasses de la Méditerranée haben sich allseits durch Mauern abgegrenzt, als wenn sich die Logik des Militärgeländes nahtlos fortgesetzt hätte. Inzwischen ist aber die besagte Mauer beseitigt und die Straßenverbindung hergestellt (Abb.9). Für eine kurze Zeit fuhr hier sogar eine öffentliche Buslinie.10 Abbildung 10: La Lorette, Foto aufgenommen zwischen 1986 und 1988
Quelle: Marc Quer
Am Rande der alten Tongrube, etwas außerhalb des Fotos gelegen, gab es bis vor zwanzig Jahren die Barackensiedlung Lorette (Abb. 10). Das französische Wort bidonville bezeichnet die Situation treffend als Kanisterstadt, denn tatsächlich mussten ihre Bewohner das Wasser kanisterweise von einer Wasserstelle außerhalb der Siedlung holen. Der Besitzer der Tonfabrik Lorette hatte seinen Arbeitern, die alle aus der algerischen Kabylei stammten, erlaubt, in eigener Regie auf dem Fabrikgelände Unterkünfte zu errichten. Die räumliche Anordnung der Unterkünfte entsprach angeblich der Struktur der
10 | Eigene Beobachtung, Januar 2015.
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kabylischen Bergdörfer.11 Zum Trassenbau des Hochgeschwindigkeitszugs in der Mitte der 90er-Jahre wurde diese Siedlung zwangsgeräumt und die Bewohner nach Neu-Lorette umgesiedelt.
Wasser? Der Hang ist locker mit Nadel- und vereinzelten Laubbäumen bewachsen. Einige sind verhältnismäßig alt, wie zum Beispiel die kleine Eiche direkt hinter der Mauer (Abb. 2 O) und ein niedriger Feigenbaum. Er besitzt eigentlich gar keinen Stamm sondern nur Astauswüchse (Abb. 2 P). Üblicherweise ist ein Feigenbaum an einer frischen, feuchten Stelle angepflanzt. Das war sicherlich hier am Rand der Tonfabrik einmal der Fall. Die meisten anderen Bäume sind Kiefern, die bei der Umwandlung der Tongrube angepflanzt wurden. Es gibt vereinzelte Sträucher und Büsche, aber keine durchgängige Krautschicht. Das Gebiet wird augenscheinlich nicht von städtischen Gärtnern gepflegt und es gibt keine künstliche Bewässerung. Demzufolge ist das Brandrisiko im Sommer hoch. Man sieht verbrannte Büsche und Bäume (Abb. 2 Q). Den Anwohnern ist diese Gefahr nur zu bewusst; sie betreiben auf unterschiedliche Weise Vorsorge (Abb. 11). Abbildung 11: Brandvorsorge
Quelle: Hendrik Sturm
11 | Gespräch mit Zohra Tachouaft, Café Verre n°13 (2002), Seite 28.
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Ein Bewohner der Siedlung Pas des Tours bemüht die „chemische Keule” und versprüht ein Unkrautvernichtungsmittel.12 Er nutzt dies auf einer Fläche, die sozusagen der Spiegelung seines eigenen Grundstücks in den öffentlichen Raums hinein entspricht. Ein entfernter Nachbar aus der Bouyges-Siedlung betreibt die Brandvorsorge auf eine naturschonendere Weise … mit einem elektrischen Rasenmäher. Weil die Regeln der Eigentümergemeinschaft Türen von Privatgärten in den Außenraum verbieten, entfernt der Bewohner provisorisch ein Zaungitter, um mit dem Rasenmäher nach draußen zu gelangen. Auf dem Kamm verlief lange Zeit ein offener Wasserkanal als eine Abzweigung des großen Marseiller Kanals, der seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die Stadt mit Trinkwasser aus dem Alpenfluss Durance versorgte. Hier im industriellen Teil der Stadt war man gleichzeitig auch an der Nutzung der Wasserkraft interessiert und betrieb mit dem Kanalwasser Industriemühlen und Sägewerke. Einige Gebäude mitsamt den Kanalabschnitten existieren noch: im Vordergrund das Gebäude einer Getreidemühle und weiter hinten ein Sägewerk (Abb. 2 R). Eine Gruppe von Landschaftsplanern schlug in den 1990er Jahren eine lineare Grünanlage vor, hier am oberen Rand der ehemaligen Tongrube, mit Ausblick auf den Hafen und das Meer (EPAREP 1996). Sie sollte auf der Strecke von etwa 4 km und nahezu ohne Steigungen mehrere Stadtviertel miteinander verbinden. Die Stadt griff diesen Vorschlag auf, kaufte Grundstücke auf, um die Kontinuität zu gewährleisten, und errichtete sogar an drei Stellen erste Parkanlagen. Auch im Foto gibt es eine hölzerne Schautafel als Indiz für diesen Landschaftspark (Abb. 2 S). Deren Text und Illustration stehen aber im Widerspruch zu der aktuellen Situation. Letztendlich fehlte wohl der politische Wille zur Umsetzung. Anstelle des Parc de belvedere de Seon entstand im Marseiller Süden der Parc du 26ème centenaire auf dem Gelände eines ehemaligen Güterbahnhofs, kurioserweise in der Nachbarschaft des neuen Gleitsportzentrums mit Eishockeystadion und Gleitrollerbahn, das ursprünglich auf dem Gelände der Tongruben entstehen sollte. Letztendlich waren den Lokalpolitikern die Wählerstimmen im Marseiller Süden wichtiger als die im Norden.
12 | Eigene Beobachtung am 15. April 2003.
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A usblicke Viele der Bildelemente sind hiermit beschrieben. Der Vorder- und Mittelgrund unserer zentralen Abbildung verweist auf die Industriegeschichte und die Frage nach der Natur in der Stadt. Die Gebäude im Hintergrund sind Wohnungen und nur die beiden ehemaligen hydraulischen Betriebe erinnern noch an andere Nutzungen. Einige dieser Dinge sind offensichtlich und leicht zu deuten, andere sind nahezu unsichtbar und erfordern Nachforschungen, um zu verstehen, auf welche Weise sie mit diesem Ort verbunden sind. Mit dem vorliegenden Beitrag soll nicht der Eindruck erweckt werden, als sei dieser Landschaftsausschnitt vollständig beschrieben. Tatsächlich bleiben viele Schichten und soziale Territorien unerwähnt und sind dem Autor zum Teil auch nicht zugänglich. Es soll an diesem Beispiel allerdings deutlich werden, auf welche komplexe und manchmal unvorhergesehene Weise sich eine Landschaft raumzeitlich entwickelt, nicht zuletzt in der Wechselwirkung der Infrastrukturelemente Wege, Straßen, Gebäude, Wasserkanäle, Mauern, Eisenbahnlinien, Fußballfelder, ... und ihrem geomorphologischem Substrat sowie ihrer Vegetation. Der Neurobiologe Wolf Singer vergleicht interessanterweise die Struktur von Städten mit der Organisation des Gehirns. Er stellt fest, dass beide Systeme selbstorganisiert wachsen und ihr Wachstum „im wesentlichen von lokalen Interaktionen zwischen den konstituierenden Elementen koordiniert” werden. (Singer 2002). Unsere Untersuchung bestärkt seine Hypothese der Bedeutung lokaler Interaktionen im urbanen Transformationsprozess. Der Wegeausschnitt des GR2013 zeigt eine post-industrielle Landschaft in Unordnung, fast eine Ruinenlandschaft, jedenfalls eine heterogene Mischung von Ruinen und neuen Projekten. Sie zeigen keine deutliche Perspektive auf, weder im Verständnis der Vergangenheit, noch im Blick auf die Zukunft. Die Landschaft scheint deshalb auf eine eigenartige Weise ungelöst zu sein. Nach dem Willen der französischen Regierung und verbindlich durch ein neues Gesetz geregelt, wird die Stadtregion von Marseille und Aix-en-Provence ab Januar 2016 zu einer Metropole. Die neue Regelung fordert eine zentrale Lenkung für viele Bereiche, wie Transport, Ökonomie und Abfall, für 93 Gemeinden mit insgesamt 1,8 Millionen Bewohnern. Tatsächlich gibt es aber (noch) kein ökonomisch-politisches Modell für dieses Territorium, das einer Metropolregierung Leitfaden sein könnte. Ebenso wenig gibt es ein
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Vertrauen in selbstorganisierte, lokale Prozesse oder ein Einverständnis über ihre Rahmenbedingungen.
K ünstler reagieren auf diesen O rt Oft sind Künstler einer unübersichtlichen Situation dankbar, in der mehrere formgebende Ordnungen am Werke sind. Indem sie sich der Komplexität stellen und die potenziell wahrnehmbaren Dinge nicht anästhetisch ausblenden oder auf das zum Funktionieren nötige Mindestmaß reduzieren, machen sie sich auf die Suche nach neuen bildnerischen oder poetischen Ordnungen und Organisationsformen. Abbildung 12: Kunst heute, Seon
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Das hier gewählte Gebiet um eine ehemalige Tongrube bot bisher für viele Künstler Inspiration. Und zwar nicht nur für landschaftsinterpretierende Spaziergangskünstler, sondern auch für andere bildende Künstler, Schriftsteller, Architekten und Choreografen. Einige sollen hier kurz vorgestellt werden (Abb. 12). Lucien Vassal war Lokalpolitiker und Lehrer bevor er im Ruhestand zum Romanschriftsteller wurde. Vier seiner Romane erzäh-
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len die Geschichten von Menschen um die Tongrube im Marseiller Norden. Für die französische Fotografin und Filmemacherin Valerie Jouve war dieser Ort in doppelter Hinsicht wichtig. Die erste Fotoserie, dank derer sie einem großen Publikum bekannt wurde, waren Aufnahmen von Menschen in dieser Stadtlandschaft. Ihr erster Film Grand Littoral aus dem Jahr 2003 war eine Komposition von Menschen in Bewegung am Hang um das Einkaufszentrum. Das Kollektiv Cabanon vertical des Künstler-Architekten Olivier Bedu und des Bühnenbildners Christian Geschvinderman erprobte einer ihrer ersten Rauminstallationen an der Fassade eines zum Abriss bestimmten Wohnblocks des Plan d’Aou. Der Bildhauer Arnaud Vasseux arbeitete mit der Fehlproduktion der Dachpfannenfabrik Monier. Der Performancekünstler und Designer Mathias Poisson entwickelte das Format seiner Promenades blanches auf dem Plateau des Plan d’Aou und um das Einkaufszentrum. Mit präparierten Brillen ausgestattet, sehen die Teilnehmer seiner Performance alle Dinge unscharf … Die Liste der Künstler ließe sich weit fortführen. Es würde sich lohnen, zu untersuchen, weshalb gerade an diesem peripheren Ort so viele künstlerische Projekte entstehen, zu welchen historischen Zeiten und Nutzungen Referenzen hergestellt werden und welche Gemeinsamkeiten sich in der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem spezifischen Ort finden lassen. Wählt der Künstler den Ort autonom oder wird er institutionell geleitet? Und schließlich: tragen Künstler, diskursiv-interpretativ oder konkret-physisch, zur Entwicklung des Ortes bei?
L iteratur Blès, Adrien, 2001: Dictionnaire historique des rues de Marseille, Marseille. Brun, Lucienne, 2008: Sur les traces de nos pas …, mémoire du quartier né entre Saint-André et Saint-Louis, Marseille. Carvin, Henri, 2001: Entre mer et colline. L’histoire du Nord de Marseille, Marseille. Dorier, Elisabeth, Berry-Chikhaoui, Isabelle, Bridier, Sébastien, 2012: Fermeture résidentielle et politiques urbaines, le cas marseillais, Articulo – Journal of Urban Research 8. [http://articulo.revues.org/1973] EPAREP, 1996: Sentes et sentiers, Vitrolles. Jouve, Valérie, 2003: Grand littoral, Marseille.
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Edwards, P. (2002) ‘Infrastructure and Modernity: Force, Time, and Social Organization in the History of Sociotechnical Systems’, in T. Misa et al. (Hrsg.) Modernity and Technology, Cambridge: MIT Press. Ratier, Yves, 1989: La terre de Marseille. Tuiles, Briques et Carreaux, Marseille. Singer, Wolf, 2002: Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung, Frankfurt am Main. Vassal, Lucien, 2000: La Colline vert-de-gris, Marseille. Vassal, Lucien, 2007: La Colline aux genêts, Marseille. Vassal, Lucien, 2012: La Colline pourpre, Marseille.
Infrastrukturen der Wahrnehmung Interventionen für Regionsbildung im Ruhrgebiet Achim Prossek Wenn Dinge nach dem Ende ihrer Nutzung nicht verschwinden, erhalten sie oft eine neue Nutzung und Funktion. Sie bekommen einen neuen Wert zugeschrieben. Das geschieht auch mit Infrastrukturen aus dem Industriezeitalter, den großen Hinterlassenschaften der Montanindustrie. Auch wenn sie mehrheitlich verschwunden sind, blieben noch viele übrig, die weiterhin Raumwirksamkeit entfalten. Als Denkmäler wurden sie etwa zu Wahrzeichen und symbolischen Orten, etwa die Völklinger Hütte im Saarland, das Erzbergwerk Rammelsberg bei Goslar oder die Braunkohlenbagger, die bei Gräfenhainichen die „Stadt aus Eisen“, Ferropolis, bilden. Nicht nur um Objekte soll es hier gehen, sondern um die Transformation von Infrastruktur-Landschaften. Denn die Industrie hatte oftmals regionale Bezüge hergestellt, und heute ist die Region Planungs-, Aktions- und Identifikationsraum. Infrastrukturen haben für Regionen und Regionsbildungsprozesse wegen ihrer Netzstruktur eine besondere Bedeutung. Der Begriff Infrastruktur wird hier in zweierlei Weise verwendet: Zum einen bezeichnet er die industriellen Hinterlassenschaften der Region, also überwiegend die hergerichteten Reste („Industriekultur“) des montanindustriellen Verbundsystems, welches das Ruhrrevier prägte. Dies bezieht sich sowohl auf die frühere Netzinfrastruktur (Schienenwege, Kanäle, Abwassersysteme) als auch auf die Punktinfrastruktur, also einzelne Objekte, die Teil des montanindustriellen Ensembles des Ruhrreviers waren. Es handelt sich um Relikte der technischen Infrastruktur der Region. Zum anderen wird von einer Wahrnehmungsinfrastruktur gesprochen. Diese Wahrnehmungsinfrastruktur basiert zum großen Teil auf altindustriellen (infrastrukturellen) Hinterlassenschaften, die Zuschreibung ergibt sich also aus dem heutigen regionalen Nutzen, wobei gleichfalls Netz- und Punktinfrastrukturen gemeint sind. Auch als Wahrnehmungsinfrastruktur erfüllen die Objekte und
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Anlagen Vorleistungen für die Gesellschaft, wie sie für Infrastrukturen charakteristisch sind. Ganz eindeutig ist auch der Ortsbezug, ebenso lässt sich die Gemeinwohlorientierung zuschreiben. Das gilt für die Kunstwerke und Denkmäler, aber auch etwa die Radwege, die die Sonderfunktion einer besonderen Wahrnehmung erfüllen. Der Beitrag beleuchtet mit dem Funktionswandel genau das Feld, welches nach Ansicht von Barlösius/Keim/Meran et al (2011, S. 159) in der Infrastrukturforschung zu wenig betrachtet wird. Sie empfehlen daher, „von den Funktionen und nicht von der materiellen und institutionellen Verfasstheit der Infrastrukturen auszugehen“ (ebd.). Auch auf den Zusammenhang Infrastruktur-Raumwahrnehmung-Identifikation/Identität weisen die Autoren hin, sie sprechen von einer „kultuellen Kodierung“ (ebd., S. 161), welche sich auf die Infrastrukturen wie den Raum bezieht. Davon handelt dieser Beitrag, indem er auf die größte altindustrielle Region Deutschlands blickt, das Ruhrgebiet. Es leuchtet ein, das Ruhrgebiet als Infrastrukturlandschaft zu beschreiben und zu verstehen. Historisch gesehen ist es das Resultat der Errichtung einer komplexen industriellen Infrastruktur ab Mitte des 19. Jahrhunderts. Diese prägt die Region bis heute, nicht mehr so erlebbar und augenscheinlich sichtbar wie früher, aber noch deutlich genug ausgeprägt, um den Raum zu strukturieren und die Nutzung zu beeinflussen, vor allem dann, wenn diese Strukturen wieder herausgearbeitet und gewissermaßen neu codiert werden. Von diesem Prozess wird im Beitrag die Rede sein. Er beschreibt und bewertet Maßnahmen und räumliche Interventionen der letzten 25 Jahre, wie sie von drei maßgeblichen Akteuren durchgeführt wurden und werden: der temporärern Internationalen Bauausstellung Emscher Park, dem Regionalverband Ruhr und der Emschergenossenschaft.1
O rdnung und U nordnung der I ndustrielandschaft Die Landschaft des Ruhrgebiets prägt die Vorstellungen vom Raum. Den einen erscheint die Region als endlose Vorstadt, andere sehen darin eine der großen europäischen Metropolen. Die gegensätzliche Wahrnehmung hat ihre Ursache in der historisch gewachsenen Gestalt, in der Größe und auch in 1 | Die Ausführungen dieses Beitrages beruhen auf Überlegungen, die andernorts publiziert wurden (Prossek 2008, 2009, 2012) und mehrheitlich vergriffen sind. Hier werden sie zusammengefasst, in einen anderen Kontext gestellt und teilweise neu bewertet.
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der Art, mit der die Bewohner mit dem Raum umgehen. Das zentrale Begriffspaar für die polare Wahrnehmung ist „Ordnung und Unordnung“. Es beschreibt die prägende Struktur hinter den Wahrnehmungsklassifizierungen „Übersichtlichkeit und Unübersichtlichkeit“. Große Agglomerationen stehen schnell im Verdacht der Unübersichtlichkeit, zumal dann, wenn ihnen das Orientierung vermittelnde Zentrum fehlt. Hier hat es das polyzentrische Ruhrgebiet schwer. Von der – empfundenen – Unübersichtlichkeit ist es nicht weit bis zur Unordnung, die ja ein Durcheinander, aber auch einfach einen Mangel an Ordnung bezeichnet. Die schnelle Abfolge verschiedener Kommunen, Flächennutzungen und Straßen, deren Verlauf heutigen Bedürfnissen nicht mehr entspricht, all dies lässt den Eindruck einer unordentlichen Region entstehen. Aus der subjektiven Erfahrung des Stadtraumes, überwiegend aus Bodennähe, entsteht kein Überblick. Sie ermöglicht nicht, Zusammenhänge zu erkennen, sie vermittelt kein Gesamtbild. Die Transformation der Landschaft ging einher mit der Transformation der Wahrnehmung. Paradoxerweise kann beides mit dem Begriff Deindustrialisierung beschrieben werden. Was heute im Hauptblickfeld ist – Straßenführungen, die Anlage von Wohnsiedlungen und Grünflächen – war der Industrie und ihren Interessen lange Zeit und eben stadtlandschaftsprägend nachgeordnet. Luftbilder lassen (noch) erkennen, dass die Organisation des Raumes einer Ordnung folgte, dass ein Zusammenhang bestand, mit vielfältigen Verbindungen. Es war die technische Landschaft, die hier entstand, ökonomischen Erwägungen und Notwendigkeiten folgend. Die Eisenbahn war das Transportmittel für die Montanindustrie (und auch Abnehmer für Kohle sowie Erzeugnis der Industrie). Sie verband alle Standorte in einem immer dichter werdenden Netz von Infrastruktur. So entstand in einem grundlegenden Wandel die räumliche Ordnung der Industriegesellschaft. Darauf hat Dolf Sternberger bereits 1938 in seiner Betrachtung des 19. Jahrhunderts hingewiesen: „Die so heftig und gründlich veränderte Landschaft des 19. Jahrhunderts ist, in Spuren mindestens, bis heute sichtbar geblieben. Sie ist geformt durch die Eisenbahn. Die Eisenbahn hat [...], wenn der Ausdruck erlaubt ist, ‚Natur gemacht‘.“ (Sternberger 1938/1974, S. 33) Damit wird auch die andauernde Prägung selbst des postindustriellen Raumes verständlich. Eisen- und Stahlindustrie und der Steinkohlenbergbau haben gleichermaßen auf die Eisenbahn als primäres Transportmittel gesetzt, waren also für das Entstehen des Streckennetzes und damit der industriellen Agglomeration mitverantwortlich. Mit diesem historischen Wissen lässt sich auch das heutige Ruhrgebiet, die Ausprägung der Stadtlandschaft, anders betrachten:
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„Kenner des Ruhrgebiets wissen jedoch, dass zwischen der äußeren Wahrnehmung des Reviers einerseits und seiner tatsächlichen Struktur andererseits ein erheblicher Unterschied besteht: Aus der Rückschau gesehen, verlief der Verstädterungsprozess nämlich keineswegs so chaotisch, wie die Froschperspektive nahe legt, sondern entlang historisch recht gut identifizierbarer Merkdaten. Das Ergebnis war und ist kein Einheitsbrei, sondern ein höchst differenziertes Gebilde.“ (Reulecke 1990, S. 28) Bei Reulecke finden wir die verschiedenen Betrachtungsweisen des Raumes und ihre Folgen wieder, die oben angesprochen wurden: „Die äußere Wahrnehmung“ entspricht offensichtlich der Subjektwahrnehmung aus der „Froschperspektive“. Die „Kenner“ verfügen über historisches Wissen, das dazu befähigt, das Ruhrgebiet gerade nicht als „chaotisch“, also gesteigert unordentlich, sondern als „höchst differenziertes Gebilde“ anzusehen, was bedeutet, in der heutigen Stadtlandschaft das Ergebnis eines historischen Prozesses zu erkennen, nämlich des Industrialisierungsprozesses, der klaren Erwägungen folgte, die aber kein klares, das heißt im klassischen städtebaulichen Sinn geordnetes Stadtbild hervorbrachten – das war ja auch nicht das Ziel. Aus der Sicht das Industrie war der gesamte Raum durchplant und organisiert: Er war auf das Funktionieren und Wirtschaftlichkeit ausgerichtet und erhielt dafür die nötige Infrastruktur. „Im Verlaufe des [...] Prozesses der Hochindustrialisierung erfuhr das Ruhrgebiet seine wesentliche, das Bild der Landschaft bis heute charakterisierende Prägung.“ (Duckwitz 1996, S. 25) Die ehemaligen Trassen der Eisenbahnen, die nur noch auf Luftbildern gut zu erkennen sind, sind Zeugen dieser landschaftlichen Durchformung und Vernetzung. Der Niedergang der Montanindustrie hat nicht nur Flächen brachfallen gelassen, sondern auch den Bedarf an Transporten und der Schieneninfrastruktur reduziert. Die Eisenbahn hörte auf, mit ihrem dichten Netz die Ruhrregion zu dominieren. Der Verkehr floss abhängig von der Freigabe an den zahlreichen Bahnübergängen. Die Strukturen, die sie hinterlassen hat, unterbrechen den Alltag nicht mehr. Technische Entwicklung, vor allem aber Standort-Stilllegungen haben die Menschen davon befreit. Das hilft aber nicht, die Region als eine Region „in Ordnung“ zu erkennen. Im schnell so betitelten Post-industriellen steckt immer auch ein gehöriger Anteil Alt-industriellem, vor allem aber fehlt das Ziel, der Zweck und Nutzen der hinterlassenen Einrichtungen und Infrastrukturen. Obsolete Infrastrukturen sind erst einmal Relikte. Ihr eindeutiger Vergangenheitsbezug verweist zugleich auf die unbestimmte Gegenwart. Ordnung und Unordnung sind also eine Frage des Zustandes, der Beschaffenheit, nicht nur der Relikte selbst,
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sondern auch der gesellschaftlichen Situation, aus der heraus sie wahrgenommen und bewertet werden. Aus der Gesellschaft heraus muss eine neue Sinngebung für hinterlassene Infrastrukturen erfolgen. Für das Ruhrgebiet ist zusätzlich entscheidend, den Maßstab des Regionalen zu gewahren, um den Raum als Region präsent zu halten. Wie im Folgenden aufgezeigt wird, ist die Internationale Bauausstellung Emscher Park (IBA), der entscheidende Akteur, das Problem während seiner Laufzeit von 1989-1999 von beiden Seiten angegangen: Sie hat neue Orientierungspunkte angeboten und neue Perspektiven ermöglicht. Durch Gestaltung der Landschaft wurde das Bild von der Region ganz entscheidend verändert. Während die alte industrielle Ordnung das Ruhrgebiet schuf und über ihre Lebensdauer hinaus prägte, legt sich die postindustrielle Landmarkenordnung über die bestehende. Sie ist also bildnerisch erfolgreich, bleibt aber imaginär. Am Beispiel der Landmarken, einer von ihr realisierten Wahrnehmungsinfrastruktur, lässt sich nachvollziehen. in welchem Verhältnis Bild- und ihr Raumverständnis der IBA zueinander standen.
„O rdnung durch B ilder “: L andmarken als neue Wahrnehmungsinfrastruktur für die Z wischenstadt Für die Dauer von zweieinhalb Jahren gab es in der IBA eine Arbeitsgruppe mit Namen „Ordnung durch Bilder/Der suburbane Raum“. In ihr wurden verschiedene, aber eng zusammenhängende Themen verhandelt: Die Bedeutung von Bildern und ihre Produktionsmöglichkeiten, aber auch Fragen nach der optimalen Kommunikation der IBA-Philosophie und ihrer Ergebnisse. Die Problematik wurde folgendermaßen umrissen: Erstens wurde die Frage nach der Existenz einer Region Ruhr eindeutig bejaht. Karl Ganser sagte „Das Bild vom Ruhrgebiet als einem zusammenhängenden bzw. -gehörigen Raum, ist bisher nicht kommunizierbar. Das Ruhrgebiet ist aber ein sozialer Raum, mit dem sich der ‚Essener‘ genauso identifiziert wie der ‚Dortmunder‘, auch wenn er die einzelnen Ruhrgebietsstädte nicht kennt [...].“ Dieser soziale Raum, ein identifikatorischer Bezugsraum, entspricht bei den Bewohnern jedoch (noch) nicht dem Raum der alltäglichen, unhinterfragten Alltagsnutzung. Aus dieser ergibt sich zweitens kein einheitliches Bild von der Region: „Die Region wird nicht in ihrer Gesamtheit spontan genutzt. Das ‚innere Bild‘ von der Region bleibt, in Abhängigkeit von den jeweiligen individuellen
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Bewegungsmustern und Erfahrungen, bruchstückhaft. Es entsteht kein gemeinsames ‚Bild‘ von der Region.“ (Ganser, zitiert nach Prossek 2009, S. 56) Die Arbeitsgruppe hatte sich daraufhin als Ziel gesetzt, ein „Summenbild“, eine vereinfachte Regionalkarte zu entwerfen, die ausdrücklich den Vorwurf der Unordnung und Unübersichtlichkeit kontern sollte. Das Grundgerüst des Summenbildes solle der Emscher Landschaftspark bilden sowie das neue Emschertal mit seinen Nebenflüssen. Die Karte ist letztlich nicht entworfen worden, jedoch sind die Ideen in die weitere Arbeit eingeflossen, auf Projekt- wie auf Marketingebene, und das Grundgerüst ist heute argumentativer Bestandteil der Planungen in der Region. Der Namenszusatz „Der suburbane Raum“ macht deutlich, dass die Bildund auch Ereignisorientierung der IBA kein Selbstzweck ist, der nur als Vermarktungsstrategie verstanden werden kann, sondern dass es dafür einen spezifisch räumlichen Anlass gab: die polyzentrische Struktur des Ruhrgebiets, mittlerweile fast gleichermaßen geprägt durch ein industriezeitliches Stadtwachstum und postmoderne Stadtentwicklung. Thomas Sieverts gab diesem Gebilde den Namen „Zwischenstadt“, ein nicht klassisch definierbarer Raum, der jedoch prägnante Eigenheiten aufweist. Seine Forderung, die Zwischenstadt lesbar zu machen, ist eine Forderung nach Bildern. Die ganze, im Ruhrgebiet entwickelte Problematik, wurde in der IBA-Arbeitsgruppe hergeleitet. Aber so wichtig Bilder auch sind, sind sie kein Selbstzweck und auch kein für sich funktionierendes Mittel der Regionalentwicklung. Sieverts betont: „Bilder allein können wenig ausrichten. Der wesentliche Beitrag zur ‚Lesbarkeit‘ einer Stadtregion muss über den Prozess der kleinen, gestalterischen ‚Interventionen‘ und der Besetzung mit Bedeutungen laufen“ (Sieverts 1997, S. 125). Hier wird wieder die Verzahnung von stadträumlichen Eingriffen und ihrer bildhaften Wirkung betont. Es geht der Arbeitsgruppe wie der IBA als Ganzes also nicht nur darum, Bilder zu produzieren. Der Stadtraum, seine Gestalt und Funktion sollen aufgebessert werden, und die erhoffte Wirkung ist, „bewusstes Wahrnehmen, Einprägen, Erinnern“ (ebd.) zu stimulieren; dies wird als Voraussetzung für Orientierung und Identifikation angesehen. Tatsächlich hat die IBA auf diesem Gebiet eine große Wirkung erzielt. Ihre Interventionen haben einen raumordnerischen, regionsstrukturierenden Effekt. Beim Betrachten der Landmarken als der zentralen Wahrnehmungsinfrastruktur wird der Zusammenhang, das Wechselspiel von Blick und Bild besonders deutlich. Die Popularität einzelner Landmarken wie beispielsweise der Halden spricht dafür, dass die IBA einen Nerv bei der
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Bevölkerung getroffen hat. Die Menschen haben sich diese Orte schnell angeeignet. Die Leistung: Aus dem unbestimmten suburbanen Raum wurde die Industrie-Kultur-Landschaft, wurde das Ruhrgebiet das, als was es sich heute versteht. Die Landmarken können heute als selbstverständlicher Teil des Emscherraumes angesehen werden. Ihre Funktion, ihre Wirkung auf Raumwahrnehmung wie Repräsentation der Region scheinen allseits bekannt. Sie waren wesentlicher Bestandteil der IBA-Strategie, die Emscherregion mit punktuellen Interventionen aufzuwerten. Damit wurden Orte geschaffen, die gegen die durch die Dominanz von Vorurteilen und Klischees bestimmte Einseitigkeit der Regionswahrnehmung Tiefe und Vielschichtigkeit, Erinnerung und künstlerische Öffnung setzen. Dieser besteht in der Summe aus 20 Landmarkenprojekten. Acht mal wurde eine Halde gestaltet, ebenso oft eine Nachtlichtinszenierung installiert, sieben mal wurden alte Industriebauten und Flächen reaktiviert, zwei Neubauten hinzugezählt, der Wissenschaftspark Rheinelbe in Gelsenkirchen und die Akademie Mont-Cenis in Herne, beides herausragende und preisgekrönte Gebäude. Der Regionalverband Ruhr und die Stadt Duisburg haben später zwei weitere Halden gestaltet und so die Idee weitergeführt, mit einem Himmelsobservatorium und dem Kunstwerk „Tiger&Turtle – Magic Mountain“. Auch die „Kulturhauptstadt Europas Ruhr.2010“ benutzte die Landmarken, um sie als sogenannte „Hochpunkte“ zu definieren, die für die Wahrnehmung der Region besondere Orte darstellen. (Ruhr.2010 GmbH 2008, S. 56) An diesen Beispielen lässt sich die immer noch hohe Relevanz und damit der Erfolg der IBA-Raumwahrnehmungsstruktur ablesen. Die Idee hat sich bis heute nicht abgenutzt. Dabei hilft, dass die Landmarken eng mit der populären Industriekultur verzahnt sind. Beide sind als eigene Themenrouten regional organisiert und damit Teil der touristischen Infrastruktur der Region. Über die Themenrouten gelingt es, die einzelnen Standorte zu einer gesamtregionalen Angelegenheit zu machen. Das Landmarkenprojekt ist zentral für die IBA-Philosophie gewesen und hat ihre Wahrnehmung am intensivsten geprägt. Im Projekt wurden Gestalt und Bild der Region erforscht und neue Zugangsweisen gesucht. Schon der Begriff weist darauf hin, dass die Orte eine Funktion haben, die über die unmittelbare Umgebung hinausgeht. Sie sind auffallende, herausragende Orte, Bedeutungs- und Zeichenträger, sprich: symbolische oder besondere Orte. Das Landmarken Orte prägen, gestalten und schaffen, erreichen sie vornehmlich durch drei Funktionen: die Orientierungsfunktion (z.B. Gaso-
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meter, Tetraeder, Himmelstreppe), die Rolle als Wahrzeichen (z.B: Gasometer Oberhausen, Tetraeder Bottrop, Dortmunder U) sowie ihre Bedeutung für die Erinnerung, das kollektive Gedächtnis (z.B. Landschaftspark Duisburg-Nord). Doch nicht alle Orte erfüllen alle Funktionen in gleich intensiver Ausprägung. Einige heben sich dank ihrer Maße und der architektonischen Gestaltung heraus und sind schon allein deshalb im Landschaftsbild prägnant. Andere, auf einer grün verwildernden Brache liegend, sind eher stilles Zeugnis der Geschichte. Die einzelnen Projekte haben also sowohl verschiedene Nutzungsmöglichkeiten als auch unterschiedliche Aneignungsangebote. Dies macht sie allerdings dafür geeignet – und dies ist nicht unwichtig für Aneignung, Akzeptanz und Rezeption – von unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen genutzt und angenommen zu werden, in das reale Raumerleben ebenso aufgenommen zu werden wie in die jeweils eigene mentale Karte von der Region. Abbildung 1: Raumordnung durch Sichtbarkeit und Erlebnisdichte
Quelle: Prossek 2009: S. 77
Von allen drei Funktionen löst die Orientierungsfunktion den Wunsch der Lesbarkeit der Region am intensivsten aus. Sie wirkt auf zweierlei Weise: beim Anblick der Landmarken vom Stadtraum aus, als Auf- oder Ansicht, und mit dem Blick von den Landmarken in die Region, der Aussicht. Der gewöhnliche, alltägliche Blick auf die Umgebung ist die stadträumliche Perspektive und daher verhältnismäßig begrenzt. Die Beziehung zur gebauten Umwelt ist distanzlos. Der Blick von oben verändert die Ansicht der Umgebung. Von oben gewinnt der Schauende Distanz, steht gewissermaßen über den Dingen. Die Folge ist Erfahrung von Weite: Die Enge der alltäglichen
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Wahrnehmung wird aufgebrochen, Strukturen und Zusammenhänge, die Topographie der Landschaft werden besser erfahrbar – um den Preis, die Objekte der Nähe zunächst aus dem Blick zu verlieren. Der Rundumblick gleicht einer visuellen Reflexion. Dieses Vorgehen, diese Vergewisserung hat Tradition. Exponierte Orte sind beliebte Anlaufpunkte, vielerorts wurden eigens Aussichtstürme angelegt, Touristen und Reisende suchen diese Punkte, die die Stadt als Panorama zeigen, bevorzugt auf. Die definitorische Funktion als Orientierungspunkte erfüllen die Landmarken in der Weise, dass sie den Betrachtern gleichzeitig einen exponierten Standpunkt sowie markante Punkte in der weiteren Region anbieten. Dadurch ermöglichen sie die von der IBA ersehnte Raumordnung. Der erste Effekt ist sicherlich, dass der Raum als zusammenhängend, als Einheit erkannt wird. Viel Grün und keine sichtbaren Unterbrechungen in der Bebauung geben ein Bild von der Region Ruhrgebiet, weniger von einer einzelnen Stadt. Abbildung 2: Sichtbeziehungen lassen den Zwischenraum schrumpfen
Quelle: Prossek 2009: S. 78
Die Unübersichtlichkeit der polyzentral-peripheren Gemengelage des Ruhrgebiets wird durch die neuen Orientierungspunkte überwunden. Bramme, Tetraeder, Gasometer, Nordsternpark, Kokerei Zollverein und die Himmelstreppe sowie die anderen Landmarken bieten mehrfache Sichtbeziehungen untereinander. So wird sichtbar, wie kurz die Entfernung zwischen den Landmarken in den verschiedenen Städten ist – oft genug zur Verblüffung der Anwohner. Distanzen und Differenzen werden nivelliert: Im Falle der gerade aufgezählten Landmarken werden die Grenzen von Essen, Bottrop, Oberhausen, Gelsenkirchen, noch einmal Essen sowie Bochum überwunden,
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und mit der räumlichen auch die mentale Distanz. Das Gebiet wird durch sichtbare Nähe als Einheit erfahrbar. Der zweite Effekt ist, dass es dadurch schrumpft: von der unbekannten, diffusen Größe auf eine sichtbare Gestalt. Das Schrumpfen funktioniert auch mit Blickrichtung auf die Landmarken (vgl. Abb. 2). Quert man den Raum in Ost-West-Richtung auf der A 42 oder der Köln-Mindener-Bahnlinie (hier als Nordstrecken) oder ihren südlichen Gegenstücken A 40 und die Essen-Bochumer Bahnlinie (hier die Südstrecken), so kann man von allen vier Trassen die Himmelstreppe von Hermann Prigann auf der Rheinelbehalde in Gelsenkirchen sehen. Sobald man sie einmal von Norden und einmal von Süden erblickt hat, wird der bis dahin abstrakte Zwischenraum auf der mentalen Karte gefüllt. Die beidseitige Sichtbarkeit der Himmelstreppe zeigt eine relative Kürze des dazwischen liegenden Stadtraums an, die bei automobiler Nord-Süd-Durchfahrt des Stadtraumes so deutlich nicht erlebbar ist. Auch die im Folgenden vorgestellten Projekte sind hauptsächlich ost-west-orientiert, stärken die Verbindungen in der Emscherzone.
G rüne und blaue I nfrastruktur : E mscher L andschaftspark und E mscher -U mbau Seit 1989 wird vom Regionalverband Ruhr (RVR) der Emscher Landschaftspark entwickelt, ein Freiraum eigenen Typs, der über 457 km² Fläche umfasst. Seine Ost-West-Ausdehnung beträgt über 60 km, im Kernraum des Ruhrgebiets besteht er aus einem Ost-West-Grünzug und nach Nord und Süd ausgreifenden so genannten regionalen Grünzügen. Das Landschaftsverständnis ist dem der Agglomeration/Zwischenstadt angepasst: Zum Grundverständnis der Planer gehört die Akzeptanz der industriellen Umformung der Landschaft, hinter die es kein Zurück geben soll. Damit ist gemeint, dass die Abgrenzungen zur bebauten Fläche nicht immer deutlich sind, dass es nicht das Ideal ist, eine Imitation möglichst unberührter Natur herzustellen. Ferner sind industrielle Hinterlassenschaften integriert (Industriekultur, aber auch Industrie) sowie auf vielen Flächen eine bestimmte Erscheinungsform von Natur: die spontan entstandene so genannte Industrienatur, welche vornehmlich aus der Nährstoffarmut der Böden resultiert. Damit hat der Emscher Landschaftspark in großen Teilen eine eigene Ästhetik. Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, dass in dem hochverdichteten Raum Siedlungs- und Gewerbeflächen, Verkehrsinfrastrukturen und andere Nutzungen immer prä-
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sent bleiben. Gerd Ullmann nimmt besonders die Ambivalenz wahr, die sich daraus ergibt: Schönheit und Hässlichkeit stünden gleichberechtigt nebeneinander, die Transformation der Landschaft sei sichtbar. Weil sich daraus kein einheitliches Bild ergibt, ist das Ruhrgebiet für Ullmann „eine Schule der Wahrnehmung, die jede Idealisierung mit einem Fragezeichen versieht.“ (Ullmann 1999, S. 90) Der Emscher Landschaftspark ist also auch ein Teil der neuen Wahrnehmungsinfrastruktur. Er ist regional ausgerichtet, bewahrt und zeigt die spezifische Ästhetik, lädt zu neuem Sehen der Region ein. Seine zentrale Verbindungsachse besteht aus dem Rhein-Herne-Kanal und der Emscher. Dort wird gleichfalls seit 20 Jahren das neue Emschertal realisiert, welches in den Augen der Planer „das Zeug dazu [hat], eine neuartige Mitte für die ganze Stadtregion zu werden“ (Projekt Ruhr 2005, S. 66). Die Planung für das Neue Emschertal ist in enger Abstimmung mit dem Masterplan Emscher Landschaftspark erfolgt. Die beiden Projekte ergänzen sich nicht nur, sie bedingen und brauchen einander: Die Emscher als verbindendes Band ist für den Regionalpark von zentraler Bedeutung. Der Landschaftspark rahmt die Emscher, gibt dem Emschertal seine Verankerung in den Stadtraum der Region hinein und hat so entscheidenden Anteil an der Gestaltung des Bildraums Ruhrgebiet (vgl. Prossek 2009, S. 97ff.). Als „schmutzigster Fluss“ war die Emscher jahrzehntelang bundesweit bekannt, ein offen geführter und eingeschalter Abwasserkanal, dessen Wasser lediglich an der Mündung zum Rhein zentral geklärt wurde. Die Emscher war insofern Symbol eines zweckrational-technischen Verständnisses vom Umgang mit der Natur in der Industriegesellschaft. 1991 wurde dann die grundlegende Entscheidung getroffen, das Emschersystem komplett umzubauen. Auf gut 326 km Länge sollen die Emscher und ihre Zuläufe wieder zu einem Fluss umgestaltet beziehungsweise ökologisch verbessert werden. 421 km Abwasserkanäle (zur Trennung des Schmutz- vom Regenwassers als Bedingung für die naturnahe Umgestaltung des Flusslaufes) werden dafür benötigt, davon sind bis jetzt rund 220 km fertiggestellt (EG 2015); 52,8 km Fließgewässer konnten bisher umgestaltet werden. Für das Gesamtprojekt fallen Kosten in Höhe von 4,4 Milliarden Euro an, die sich auf die gesamte Laufzeit von über 25 Jahren erstrecken – man geht von einer Bauzeit bis 2025/30 aus. Gut 2 Milliarden Euro sind bereits verbaut (ebd.). Auch diesem Projekt liegt kein vorindustrielles Landschaftsbild als Anspruch und Ziel zugrunde, im Gegenteil. Die prägende Künstlichkeit und Technizität der Ruhrgebietslandschaft, so wie sie sich in über 100 Jahren
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herausgebildet hat, soll weder verleugnet noch verdrängt werden. Baulich wäre wohl auch nichts anderes zu erreichen: Auch im neuen Emschertal wird es Deiche geben müssen, das Flussbett soll aber so gestaltet werden, dass es sich zur Umgebung öffnet und Aufenthaltsqualität besitzt. Aus einem offenen Abwasserkanal einen Fluss zu machen bewirkt das Aufbrechen der Selbstverständlichkeit der Künstlichkeit von Flüssen und Bachläufen in der Emscherzone. Bilder einer mehr klassisch-natürlichen Landschaft ergänzen die der technischen (Gewässer-)Landschaft. Als wichtiges Element des Emscher Landschaftsparks unterstützen sie damit die Vermittlung des ökologischen Aspektes der Freiraumgestaltung in der Agglomeration, und mit jedem umgestalteten Kilometer zunehmend auch die regionale Bedeutung. Die Bilder stellen keine Momentaufnahme dar, sondern erzählen als Abfolge eine originäre Ruhrgebietsgeschichte, die den Bogen von der Hochphase der Industrialisierung Ende des 19. Jahrhunderts bis zur nachindustriellen Umgestaltung und Renaturierung zu Beginn des 21. Jahrhunderts schlägt (vgl. Blotevogel/Prossek 2009). Faktisch vollzieht sich der Emscherumbau nur in einem Teilbereich des Ruhrgebiets, in der Emscherzone. Bildlich-symbolisch aber zielt er auf die gesamte Region. Das liegt nicht nur am Anspruch der verantwortlichen Emschergenossenschaft, sondern auch an der Funktionsweise von Raumbildern. Die Emscherzone hat das Image des Ruhrgebiets jahrzehntelang beherrscht und dominiert es noch, wie aktuelle Medienberichte über die so genannten „Problemviertel“ Duisburg-Bruckhausen und Dortmunder Nordstadt zeigen. Sie steht für das gesamte Ruhrgebiet, vor allem im Negativen (manifestiert in Stereotypen, auch was das „Typische“ der Region betrifft), weshalb der Emscher-Umbau ein Projekt mit symbolischer Bedeutung für die Gesamtregion ist. In gleicher Weise hat die in den 1990er Jahren in der Emscherzone tätige Internationale Bauausstellung IBA Emscher Park das Image und Selbstbild der gesamten Region verändert. In diesem Selbstbild war der offen geführte Abwasserkanal keine Besonderheit, sondern notwendige und selbstverständliche Infrastruktur der Industrielandschaft und Bergbauregion. „Im Ruhrgebiet selbst haben die Veränderungen der letzten 100 Jahre offensichtlich zu einer allmählichen Gewöhnung beigetragen. Die Veränderungen der Umwelt sind derart ausgeprägt, daß eine Vorstellung davon, daß es einmal anders war oder in Zukunft sein könnte, nur allmählich entsteht. Besonders deutlich zeigt sich die Gewöhnung im Fall der Emscher. Die Idee, daß es sich hier um einen Fluß handelt, existiert nicht mehr, und Forderungen, diesen Abwässerkanal wieder in einen Fluß zu ver-
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wandeln, muten utopisch an.“ (Brüggemeier/Rommelspacher 1990, S. 559) Mit diesem Zitat werden die schwierigen mentalen Ausgangsbedingungen des Unternehmens Emscher Umbau deutlich, dass nämlich der kanalisierte Fluss längst zur Normalität, zur unhinterfragten Selbstverständlichkeit geworden war. Die kanalisierte Emscher ist daher Teil des kollektiven Gedächtnisses wie des medialen Bildreservoirs der Region, was auch die ästhetische Wahrnehmung erlaubt. Das Projekt ist insofern Ausdrucks eines starken Gestaltungswillens zur Prägung der postindustriellen Landschaft unter ökologischen und landschaftsplanerischen Qualitätskriterien. Der Technisierung der Landschaft folgt die Renaturierung. Der Emscher-Umbau zeugt von klarem Gestaltungswillen, der für sich große raumbildnerische Kraft hat. Im Verbund mit dem Emscher Landschaftspark bildet er das Gerüst einer Region, die zum ersten Mal in ihrer Geschichte die Möglichkeit hat, in dieser gesamtregionalen Dimension Freiraum nicht nur zu sichern und zu erhalten (wie in der Vergangenheit mit den regionalen Grünzugen), sondern zu einem konstitutiven Element ihrer Stadtlandschaft zu machen. (vgl. Prossek 2012) Die Art und Weise der Gestaltung ist Ausdruck des zeitgemäßen Umgangs mit dem Regionalspezifikum Emscher, deren Kern beinhaltet, den Abschied von der industriellen Dominanz des Landschaftszugriffs zu vollziehen. Es sei erinnert, dass es auch früher Infrastrukturen z. B. des Verkehrs, der Ver- und Entsorgung waren, welche die rapide Industrialisierung zu einem gesamtregionalen Anliegen gemacht haben (1899: Gründung der Emschergenossenschaft als regionalen Wasserverband usw.). Regionalentwicklung wurde im Ruhrgebiet also schon in der Vergangenheit mittels materieller und institutioneller Infrastruktur betrieben. Die Region wurde wesentlich durch sie konstituiert. Dies ist heute noch – oder wieder – notwendig, weil der industrielle Zusammenhang verlorengegangen ist. Das Ruhrgebiet muss sich als Region neu bestimmen, weil seine Form und Struktur dies nicht mehr ergeben. In der im Ladenburger Kolleg fortgeführten Zwischenstadt-Debatte wurde die Bedeutung von (technischen) Infrastrukturen für den Zusammenhalt der Zwischenstadt betont (siehe Hauser/Kamleithner 2006, 214ff.). Emscher Landschaftspark und Emscher-Umbau sind zwei Projekte, mit denen dies beispielhaft bestätigt werden kann.
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B ahntrassen werden R adwege und weitere neue Strecken in der R egion Mit dem Ausbau des Radwegenetzes haben IBA und RVR eine unspektakulär wirkende, aber umso bedeutendere Infrastruktur geschaffen. Der Emscher-Park-Radweg und weitere Radwege ermöglichen es, die Region so zu durchfahren, dass man wenig mit dem motorisierten Individualverkehr in Berührung kommt und alle Seiten der Region kennenlernt: ihre Hinterhöfe wie auch die Sehenswürdigkeiten. Vom Rad wird die Region er-fahren, das Bild, das der Reisende dabei gewinnt, ist vielfach komplexer als bei anderen Querungsweisen, etwa mit Bahn oder Auto. Da viele Kilometer über ehemalige Güterbahntrassen führen (z.B. Erzbahntrasse), folgt man früheren industriellen Lebenslinien (etwa vom Rheinhafen zum Hüttenwerk), die heute, bergsenkungsbedingt erhöht liegend, eine gute Aussicht bieten. Damit ist auf der Basis alter industrieller Infrastruktur eine neue Wahrnehmungsinfrastruktur geschaffen, die den Raum bequem und abwechslungsreich in seiner Vielseitigkeit zeigt, ihn vor allem aber als zusammengehörenden Region begreifen lässt. Der vom Regionalverband Ruhr geplante Radschnellweg Ruhr entlang der Hellwegstädte ist nicht nur verkehrspolitisch modern, er schafft für das beschriebene Netz eine zentrale Achse, welche die Wirkung weiter verstärkt. Hinzu kommen die Routen der Sonderveranstaltungen wie der „Extraschicht“ (der alljährlichen Nacht der Industriekultur mit mittlerweile über 200.000 Besuchern, Ruhr Tourismus GmbH 2015), bei denen die Besonderheit jeweils in der regionalen Dimension liegt. Der Sonderlinienfahrplan zur Extraschicht ist Ausdruck einer regionaler Aktivität, welche sich an bestimmten Zeiten, bestimmten Orten oder bestimmten Themen orientiert. Die zunehmende Vernetzung, so zeigt sich, verlangt nicht unbedingt nach einer permanenten Infrastruktur. Denn bereits die einmalige Erfahrung verändert das Raumbild von der Region, indem sie die mental maps der Bewohner und Besucher neu beschreibt. Das neue Ruhrgebiet ist folglich eine Ansichtssache in dem Sinne, dass man es dann zu sehen bekommt, erfährt und erlebt, wenn man den neuen Pfaden nachgeht, den richtigen Verbindungen durch die Region zu den richtigen Orten folgt. Die besonderen Streckenführungen, die sich von den klassischen Wegstrecken unterscheiden, bieten neue Ansichten wie verbindende Einsichten. Elemente werden als verbunden erfahren, entweder über den thematischen Bezug oder auch durch die Erfahrung konkreter räumlicher Nähe. Die traditionell hohe Bedeutung der
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Fortbewegung in der (und für die) Region – die im Wesentlichen immer noch eine des motorisierten Individualverkehrs ist – erfährt durch die neuen Verbindungen ihre Steigerung und Modernisierung.
D ie D ominanz der I ndustriekultur und das A usblenden anderer U mgangsmöglichkeiten Die industriellen Hinterlassenschaften werden intensiv inszeniert, sie sind eine Kulisse für Kunst, Kultur und Freizeit, oft auch von Events. Aus der Sicht der IBA war das eine notwendige, aber nicht die einzige Strategie. Aber es ist diejenige, welche sich gegen andere durchgesetzt hat und heute der bestimmende Modus ist, zulasten etwa der ökologischen Perspektive. Für den Landschaftspark Duisburg-Nord war ursprünglich so etwas wie kontrollierter Verfall vorgesehen. Nach und nach wäre das ehemalige Hüttenwerk in sich zusammengefallen, was nicht nur neue Ansichten beschert hätte, sondern auch die Zugänglichkeit verändert, wohl eingeschränkt hätte. Heute ist der Landschaftspark nach dem Kölner Dom das meistbesuchte Tourismusziel in Nordrhein-Westfalen, mit fast einer Millionen Besucher jährlich. Daher verwundert es nicht, wenn niemand den Verfall dieser Attraktion erleben oder managen möchte. Um den hohen Erhaltungsaufwand streiten der Regionalverband Ruhr, die Kommune, der Landschaftsverband Rheinland und das Land immer wieder, trotzdem steht nicht zur Debatte, dem Landschaftspark ein Verfallsdatum zu geben. Die Strategie des kontrollierten Verfalls wurde auch für einen Teil der Henrichshütte in Hattingen vorgeschlagen, doch trotz des prominenten Ideengebers, Rem Koolhaas, hat man sich auch dort gegen den allzu offensichtlichen Niedergang entschieden. Atmosphärisch hätten beide Projekte damit einen Kontrapunkt zur Restaurierung und zur Inszenierung der industriellen Hinterlassenschaften gesetzt. Politisch war das nicht willkommen, und es war wohl auch diskursiv nicht in die Erzählung vom „neuen Ruhrgebiet“ (ab Ende der IBA-Zeit) oder später der „Metropole Ruhr“ (offizieller Name für das Ruhrgebiet des RVR ab 2004) einzubringen. Der wesentlich unbekanntere Begriff Industrie-Natur, ebenfalls von der IBA geprägt und als Themenroute aufbereitet, hätte mit dem Hütten- und dem Stahlwerk aber zwei Standorte bekommen, an denen die Rückeroberung montanindustrieller Hinterlassenschaften durch die Natur wohl spektakulär zu beobachten gewesen wäre. Für Teilbereiche des Industriedenkmals Kokerei Hansa in Dortmund trifft dies zwar zu, aber diese sind
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in der Regel für den Besucher gesperrt, womit die Möglichkeit des Erlebens entfällt. Die beiden Verfallsprojekte wären ein Bindeglied zwischen der bis Ende der 1980er Jahre gängigen Praxis des Abrisses und der Neubebauung/ Rekultivierung und der ab Mitte der 1990er Jahre vorherrschenden industriekulturellen Inszenierung und Bespielung gewesen. Kein Bruch und keine Neunutzung also, sondern ein sichtbares Solassen als funktionsberaubte und zweckentleerte Infrastruktur, als reine und bleibende Relikte mit einem ihrer Größe entsprechenden womöglich jahrzehntelangen Verfallsstadium.
Fazit Das Etablieren der Industriekultur als Wahrnehmungsinfrastruktur hat die Betrachtungsweise und das Selbstverständnis der Region dahingehend gewandelt, dass es nicht mehr als Industrielandschaft, sondern als Industriekultur-Landschaft wahrgenommen wird und sich selbst auch so definiert. Die industriellen Hinterlassenschaften haben in diesem Prozess neue Funktionen beziehungsweise Werte zugewiesen bekommen. Drei sind zu nennen: der ästhetische Wert, der gesellschaftlich-kulturelle Wert und der Vermarktungswert. Der ästhetische Wert macht sich am Objekt fest: Das vordem Obsolete, Heruntergekommene wird, nach Restaurierungen und Umbauten, wieder als architektonisch wertvoll betrachtet, gar als schön, eine Zuschreibung, die für Industriebauten selten war. Der ästhetische Wert ist auch auf der Ebene der medialen Repräsentationen erkennbar, etwa indem diese Objekte auf Postkarten oder in Kalendern reproduziert werden und damit als Sehenswürdigkeiten anerkannt werden. Der gesellschaftlich-kulturelle Wert besteht in der Erzählung, welche die Industriekultur liefert, eine Erzählung über Vergangenheit und Gegenwart – und, wenn es nach der IBA gegangen wäre, auch über die Zukunft. Über die baulichen Hinterlassenschaften wird die Regionalgeschichte nun anders wahrgenommen, womit die regionale Identität gestärkt wurde: Dank der Industriekultur wird die eigene Geschichte wieder positiv gesehen und auch gerne vorgezeigt. Diese ist das Hauptkriterium dafür geworden, wo das Ruhrgebiet ist, also welche Städte dazugehören. Zu dieser Geschichte gehört selbst der Niedergang der Montanindustrie, also eine gravierende Verlusterfahrung, sowie die Begrünung und Rekultivierung vieler Flächen. Beides ist tief im kollektiven Gedächtnis verankert. Der Vermarktungswert schließlich bezeichnet die Attraktivität der Industriekultur für Events und Tourismus. Dieser ist nicht
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nur in Geld zu messen, welches in die Region fließt: Medien transportieren Bilder von Industriekultur als Destinationswerbung nach Draußen, und über den Zuspruch von Außen wiederum wird das regionale Selbstbewusstsein gestärkt. Diese Funktionen erfüllt die Industriekultur so erfolgreich, dass sie bereits 2001 als „Leitkultur“ des Ruhrgebiets bezeichnet wurde. Das Kulturhauptstadtjahr hat diese Funktion noch einmal gestärkt. Industriekultur ist aktuell die stärkste regionale Klammer. Der Emscher Landschaftspark und der Umbau des Emscher-Systems leisten ähnliches, sie sind jedoch von der Popularität und ihrer bildlichen Ausstrahlung nicht gleich stark. Symbolisch ist der Emscher-Umbau die stärkste Geste, die eine Region am Ende des Industriezeitalters vollführen kann. Im alltäglichen Erleben und der Medienrepräsentation liegen aber die Standorte der Industriekultur bis auf Weiteres vorn.
L iteratur Barlösius, Eva/Karl-Dieter Keim/Georg Meran/Timothy Moss und Claudia Neu (2011): Infrastrukturen neu denken: gesellschaftliche Funktionen und Weiterentwicklung. In: Hüttl, Reinhard F./Rolf Emmermann/Sonja Germer et al (Hg.): Globaler Wandel und regionale Entwicklung. Anpassungsstrategien in der Region Berlin-Brandenburg. Berlin, Heidelberg, S. 147-173. Blotevogel, Hans Heinrich/Achim Prossek 2009: Das Ruhrgebiet: Ein Landschaftsbild. Von der Industriellen Vernutzung zur postindustriellen Gestaltung. In: Collinet, Hans-Dieter/Franz Pesch (Hrsg.): Stadt und Landschaft. Essen, S. 32-39. Brüggemeier, Franz-Josef/Thomas. Rommelspacher 1990: Umwelt. In: Köllmann, W./H. Korte/D. Petzina u. W. Weber (Hrsg.): Das Ruhrgebiet im Industriezeitalter. Geschichte und Entwicklung. Band 2, Düsseldorf, S. 509-559. Duckwitz, Gert (1996): Kulturlandschaftswandel im Ruhrgebiet 1850–1990. Geschichtlicher Atlas der Rheinlande, Beiheft IV 8.1-IV 8.3. Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde N.F., 12, Abt. 1b. Köln.
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Gleiswildnis Freiraumgestaltung mit Relikten der Industrieära als travelling idea zwischen Europa und Nordamerika Constanze A. Petrow Wo früher Züge rangierten und Sirenen heulten, wo es dampfte, zischte und lärmte und Arbeiter Tag und Nacht malochten, dort verbringen Städter heute ihre Freizeit. Vom Alltagsleben der meisten Menschen abgeschnittene Bereiche der Stadt wurden zu öffentlichen Räumen, Stätten harter Arbeit zu Orten der Erholung, ehemalige Schauplätze der Naturzerstörung zu grünen Oasen. Und Relikte früherer Nutzungen dienen ihnen als Strukturgeber, Trägerstrukturen oder Kulisse mit der Aura des Maschinenzeitalters. Der Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft hat vielen Städten der westlichen Welt nicht nur neue, sondern auch neuartige Freiräume beschert. Parks entstanden an Orten, die vormals infrastrukturell, industriell oder gewerblich genutzt wurden. Die Hinterlassenschaften der Industrieära wurden dort nicht beseitigt, sondern – zumindest in Teilen – erhalten, in die Neugestaltungen integriert und umgenutzt. Damit wurden sie auch umgedeutet und zum Bestandteil neuer Wertschöpfungsketten. Seit gut dreißig Jahren bildet die Konversion von Kai- und Hafenanlagen, Güterbahnhöfen, Hochbahnen, Flughäfen und Schlachthöfen ein wichtiges Aufgabenfeld der Stadtentwicklung. Regional begrenzter, dafür aber meist umso massiver und wirtschaftlich existentieller stellte sich die Aufgabe des planerischen Umgangs mit stillgelegten Industrie- und Förderstätten – von Stahl- und Hüttenwerken, Gaswerken sowie Flächen des Bergbaus. Im Zuge der Neuordnung dieser Areale entstanden vor allem Wohnquartiere und Gewerbe- und Dienstleistungsstandorte, aber auch viele öffentliche Freiräume.
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Dieser Beitrag behandelt die Praxis der Erhaltung und Transformation von Relikten der Industrieära im Rahmen der Landschaftsarchitektur. Nachgezeichnet werden soll der Weg vom ideengeschichtlichen Ursprung dieses Ansatzes über seine Durchsetzung bis hin zu einer gewissen Stereotypisierung in der Gegenwart. Konzentriert wird sich dabei auf die Meilensteine dieser Entwicklung – Projekte, die in Europa und den USA realisiert wurden. Darin zeigt sich bereits ein wichtiges Merkmal dieser Gestaltungspraxis: Sie ist Gegenstand eines mal direkt, mal indirekt über das Gebaute geführten, transatlantischen Dialogs.
Transkulturelle P lanungspraxis als „travelling idea “ In den Kulturwissenschaften wird bei der Untersuchung kultureller Phänomene ein „Reisen“ abstrakter Konzepte und Erklärungsmodelle, etwa von „Erinnerung“, „Identität“ oder „Raum“, zwischen Kulturen und Disziplinen beobachtet (vgl. Bal 2002; Neumann, Nünning 2012). Dieses verdankt sich der Internationalisierung der Forschung ebenso wie ihrer zunehmenden Interdisziplinarität. Interessant an „travelling ideas“ sind vor allem deren Veränderungen durch die unterschiedlichen Kontexte, die sie passieren. In Anlehnung an diese Denkfigur soll hier der Planungsansatz nachvollzogen werden, auf altindustriellen Standorten nicht tabula rasa zu machen, sondern Vorhandenes – wenngleich zunächst dysfunktional und fern des ästhetischen Kanons der westlichen Kultur (vgl. Hauser 2001) – zu erhalten, zu transformieren und in die Gestaltung von Freiräumen einzubinden. Insbesondere die US-amerikanische und die deutsche Landschaftsarchitektur haben sich dabei gegenseitig befruchtet. Ähnlich wie die Idee des Volksparks im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert zwischen den Kontinenten hin und her wanderte und immer wieder an den kulturellen, sozio-ökonomischen und politischen Kontext angepasst und dabei modifiziert und ausdifferenziert wurde (vgl. Schwarz 2005), kann auch das Hin und Her der Ideen zur Integration von Ruinen und Relikten der Industrieära in Freiräume zwischen Europa und den USA nachvollzogen werden. Über Leuchtturmprojekte und unzählige Nachfolger hat sich innerhalb mehrerer Jahrzehnte ein übergreifendes gestalterisches Paradigma herausgebildet. Zugleich entstand eine eigenständige Erinnerungspraxis. Den ökonomischen Hintergrund dieser Entwicklung stellte der Niedergang der Schwerindustrie in der westlichen Welt und deren Verlagerung
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auf andere Kontinente ab den 1960er Jahren dar. Parallel dazu wurden im Inneren der Städte Industrie- und Gewerbestandorte geschlossen. Produktionsstandorte fielen brach. Anlagen, Gebäude und technische Strukturen waren fortan dem Verfall preisgegeben. Dessen nicht genug, wiesen viele dieser Orte erhebliche Altlasten auf. Die Aufgabe des Umgangs mit ihnen war vor allem auch eine Frage des Umweltschutzes und eine Kostenfrage. Die Ruinen und Relikte von Industrie und Gewerbe und der mit ihnen verbundenen Infrastrukturen waren jedoch auch Teil lokaler Identität und Zeugnisse einer prägenden Epoche städtischer und regionaler Entwicklung. Denkmalschützer und Bürger setzten sich deshalb für ihre Erhaltung ein – für das Stahlwerk von Thyssen Krupp in Duisburg-Meiderich ebenso wie für die High Line in Manhattan. Lange Zeiten des Brachliegens hatten an vielen dieser Orte zu einer Rückeroberung durch die Natur geführt. Die Tier- und Pflanzenwelt von Industriebrachen ist reich und spezifisch zugleich. Dies verdankt sich nicht allein jahrzehntelanger Ungestörtheit, sondern auch den früheren Nutzungen dieser Orte, etwa dem Eintrag von Samen durch den Güterverkehr oder der Lagerung von Erzen für die Stahlindustrie. Die entstandene „Industrienatur“ (vgl. Dettmar, Ganser 1999) rief Naturschützer und Ökologen auf den Plan (vgl. Dettmar 1992, Kowarik 1992) und abermals Bürgerinitiativen, die eine Zerstörung der wertvollen Biotope durch Bebauung verhindern wollten. Damit sind sowohl die wesentlichen Rahmenbedingungen als auch die Hauptakteure der hier behandelten freiraumgestalterischen Praxis benannt: 1.) das Aufgeben von Standorten aufgrund des ökonomischen Strukturwandels und die Notwendigkeit eines planerischen Umgangs mit den Flächen, baulichen Strukturen und Altlasten, 2.) der fehlende Verwertungsdruck auf die Grundstücke und 3.) deren daraus resultierendes, Jahre oder Jahrzehnte langes Brachliegen. Dieses ließ 4.) eine spezifische und häufig ungewöhnlich reiche Flora und Fauna aufkommen, welche 5.) das Interesse der Naturschützer und Ökologen weckte. 6.) sorgte der Denkmalschutz und dessen ab den 1970er Jahren sich verstärkt entwickelnder Zweig der Industriedenkmalpflege für ein wachsendes gesellschaftliches Bewusstsein für den Wert der Industriearchitektur. Sowohl die Anliegen des Natur- als auch des Denkmalschutzes wurden 7.) häufig nicht in erster Linie durch Experten, sondern durch engagierte Bürger vorgetragen, dies oft über Jahrzehnte hinweg. Im Folgenden werden Projekte, die bei der Entwicklung und Weiterentwicklung des konzeptionellen Ansatzes der Integration der Relikte von Infrastrukturen, Industrie und Gewerbe in Freiraumgestaltungen besonders
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wichtige Impulse gaben, in ihrem Beitrag zu dieser Praxis nachvollzogen. Resümierend wird daraus eine Typologie des Umgangs mit Relikten der Industrie-Ära in der Landschaftsarchitektur abgeleitet. Abschließend wird die diskutierte Gestaltungspraxis als eigenständige Erinnerungspraxis gedeutet.
M eilensteine der E ntwicklung 1. Gas Works Park, Seattle Als ideengeschichtlicher Anfang gilt der Gas Works Park. „Gas Works Park in Seattle was the first post-industrial landscape to be transformed into public space without requiring the removal of its pollutants and waste to a landfill.“ (Way 2013: 8). Das am Lake Union gelegene Gelände der Seattle Gas Light Company war 1956 brachgefallen und 1962 von der Stadt aufgekauft worden. Angelegt werden sollte dort ein „Olmstedian park“ (ebd.), ein Freiraum nach dem (ästhetischen) Vorbild des New Yorker Central Parks. Der mit der Planung beauftragte US-amerikanische Landschaftsarchitekt Richard Haag schlug jedoch die Erhaltung der Gaswerksruine vor. Hierin liegt ein wesentlicher Unterschied zu den folgenden Projekten: Haag „did not design in response to the community, but rather he convinced them to the power of his design.“ (ebd. 11). Der Landschaftsarchitekt erkannte die der Industrieruine inhärente Schönheit, ihren Wert als Landmarke und die Bedeutung des Gaswerks als „responsible for much of Seattle’s successful growth as a city in the first half of the twentieth century.“ (ebd.). Die anfänglichen heftigen Widerstände gegen seine Idee überwindend, ließ Haag die Industrieruine sichern und einzäunen und säte das restliche Gelände mit Rasen ein. „Zugedeckt“ wurden damit allerdings auch erhebliche Altlasten, die bis heute eine Gefahr darstellen.1 Einzelne Bereiche der Struktur wurden zur Nutzung freigegeben: Das zentrale boiler house wurde als überdachter Picknickplatz mit Tischen und Grills gestaltet, das exhauster-compressor building als Kinderspielplatz mit bunt bemalten Maschinen. Neben der Faszination, die von der Industrieruine ausgeht, bietet der exponiert liegende Park den Ausblick auf die Skyline von Seattle und eine riesige Wasserfläche zu seinen Füßen. 1 | http://www.seattle.gov/parks/parkspaces/GasWorksPark/DOE_Fact_sheet.pdf, Zugriff am 05.04.2015.
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Begonnen wurde das Projekt im Jahre 1969, sechs Jahre später eröffnete der Park. Die Industrieruine zu erhalten und zum Bestandteil eines öffentlichen Parks zu machen, war damals revolutionär. 1981 gewann Haag dafür den American Society of Landscape Architects Presidents Award of Design Excellence. 2013 wurde der Park ins National Register of Historic Places aufgenommen.2 Abbildung 1: Gas Works Park
Quelle: Liesl Matthies
Der Standort in Seattle ist noch immer stark kontaminiert. Auch angesichts des kurz gehaltenen Rasens können sich dort kaum Tiere und Pflanzen ansiedeln. Entsprechend wurde mit dem Gas Works Park noch kein eigenständiges, mit den Relikten korrespondierendes Naturbild entwickelt. Geboren aber war die Idee, bauliche Relikte der Industrieära nicht einfach abzuräumen, sondern zu erhalten, in die Gestaltung von Freiräumen einzubinden und ihre Aura als Kapital für die Zukunft eines Ortes zu begreifen. Ebenso war die Idee in der Welt, die Ruinen und Relikte – wenn zunächst auch nur sehr zaghaft – zugänglich zu machen und umzunutzen für Freizeit- und Erholungszwecke. 2 | Cultural Landscape Foundation, http://tclf.org/landscapes/gas-works-park, Zugriff am 10.04.2015.
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2. Landschaftspark Duisburg-Nord Ziemlich genau zwanzig Jahre nach Richard Haags Konzept für den Gas Works Park wurde der Landschaftspark Duisburg-Nord als Teil der Internationalen Bauausstellung Emscher Park im Ruhrgebiet geplant. Nach dem Niedergang der Kohleförderung und der Schwerindustrie sollten neue Wege des Umgangs mit den altindustriellen Flächen gefunden werden. Damit verband sich zugleich die Suche nach einer neuen wirtschaftlichen Perspektive und regionalen Identität. Die IBA Emscher Park verwirklichte zwischen 1989 und 1999 rund einhundert Projekte auf Industriebrachen, darunter auch viele Parks. Sie beendete damit „die Ratlosigkeit vor der verfallenden Industrie“ (Haber 2009: 35). Vielfach waren es die hohen Kosten einer Entsorgung der Strukturen oder Altlasten, die ein Umdenken in Gang setzten und Planer und Politiker den symbolischen Wert der Ruinen erkennen ließen. Abbildung 2: Landschaftspark Duisburg-Nord
Quelle: Constanze A. Petrow
Unter den Parks der IBA nimmt der Landschaftspark Duisburg-Nord eine Schlüsselrolle ein. Entworfen hat ihn Peter Latz. Zum Wettbewerb lud man ihn ein aufgrund eines seiner früheren Projekte, der Hafeninsel in Saarbrücken, ein (vgl. Ganser 2009). Bereits dort hatte Latz Relikte und Strukturen
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der früheren Hafennutzung erhalten, diese jedoch – man schrieb die Hochphase der Postmoderne – recht exzessiv mit Zitaten aus der Geschichte der Gartenkunst kombiniert. Der entstandene Mix, verbunden mit mangelnder Pflege, stieß auf wenig Gegenliebe bei der Bevölkerung (Rolshausen 2012). Durch Latz’ Einladung zum Wettbewerb für Duisburg-Nord war dort bereits eine bestimmte Entwicklung kanalisiert und auch durch die Zusammensetzung der Jury eine „Revolution des Denkens“ schon vorbereitet worden (Ganser 2009: 28). Latz erhob bei dem Gelände keinen flächendeckenden Anspruch auf Gestaltung (vgl. Schmid 1999). Die vorhandenen Fragmente fügte er stattdessen zu einer neuen Landschaft zusammen (www.latzundpartner.de). Dabei definierte er verschiedene (Denk-)Strukturebenen, die man vor Ort jedoch nicht als eigenständige Elemente, sondern als Teile eines Ganzen erlebt. Auf der Grundlage der alten Gleise wurde ein höher liegender „Bahnpark“ entwickelt. Er führt Besucher auf Stegen über das Gelände. Auch das Kernstück des Landschaftsparks, die Hochofengruppe, kann bestiegen werden. Im „Wasserpark“ werden vorgefundene Strukturen für ein ökologisches Wassersystem genutzt. Gefundenes Material wurde wiederverwendet, etwa bei der Gestaltung der „Piazza Metallica“. In Zusammenarbeit mit Initiativen vor Ort richtete man im ehemaligen Gasometer einen Tauchtank und in den Bunkeranlagen des Hochofenwerks einen Klettergarten ein. „Bunkergärten“ entstanden in der ehemaligen Sinteranlage und Spielplätze in den Bunkertaschen des Erzlagers (ausführlich zur Gestaltung des Parks siehe Weilacher 2005 und 2007). Bei Dunkelheit wird die Ruine durch eine Lichtinstallation des britischen Künstlers Jonathan Park spektakulär beleuchtet. Wie neuartig und ungewöhnlich Latz’ Entwurf für die (deutsche und europäische) Planercommunity auch Anfang der 1990er Jahre noch war, führen die anderen Wettbewerbsbeiträge vor Augen: Alle schlugen sie die Erhaltung der Industrieruine vor (vgl. Schmid 1999: 60), doch als Kernstück von – aus heutiger Sicht – mehr oder weniger kitschigen Themenparks (dokumentiert in ebd.). Im Vergleich dazu verfolgte Latz die Strategie des „kleinstmöglichen Eingriffs“ (Weilacher 2007: 117). „Das Aufspüren von räumlichen, ästhetischen und ökologischen Qualitäten eines alten Industriestandortes, deren Bewahrung und Steigerung durch die Überlagerung und Ergänzung mit neuen Elementen eines Parks ist die zentrale Leistung des landschaftsarchitektonischen Entwurfs von Peter Latz und seinem Büro.“ konstatiert Jörg Dettmar (2009: 23). Peter Latz nennt seinen Gestaltungsansatz „syntaktisch“: Ihn interessiert nicht etwa die frühere Bedeutung einzelner Bereiche, sondern das
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Vorgefundene als Ausgangspunkt für eine neue Gesamtstruktur, eine „Syntax“ für den Ort (vgl. Latz 1987: 42). Relikte „können entweder als besondere Merkmale (‚Denkmale’) im Park ihren Platz finden oder als Materialreste zu neuen Formen zusammengesetzt werden“ (Reisinger 1991: 73). Latz’ Umgang mit den Relikten besteht also in einer künstlerischen Neuinterpretation des Ortes. Wichtige Referenz sind ihm die Gärten der Renaissance. Fantasie leitet sein Entwurfshandeln an: „So werden die riesigen Maschinen zu Objekten der Identifikation, zu Landmarken oder zu mythologischen Gebilden. Ein Hochofen ist dann nicht nur ein Hochofen – er wird zum drohenden Drachen, der sich hoch über seine Umgebung erhebt.“ (Latz 2008: 60). Umfasst der Gas Works Park 7,7 Hektar, so sind es in Duisburg 180 Hektar. Auch die Planungsaufgabe war hier ungleich komplexer: Während die Industrieruine in Seattle auf blankem Rasen „abgestellt“ wurde, prägt den Landschaftspark eine reiche Industrienatur. Diese hatte sich von selbst entwickelt und wird dank einer entsprechenden Schulung der Gärtner auf Dauer erhalten. Der Umbau der Alten Emscher, eines offenen Schmutzwasserkanals, in einen von Regenwasser gespeisten Klarwasserkanal ist nur eine von vielen ökologischen Sanierungsmaßnahmen im Rahmen der Parkplanung. Mit dem Landschaftspark Duisburg-Nord und weiteren Parks der IBA Emscher Park wurden die Relikte der Industrieära, aber auch die „Industrienatur“ als Teil der westlichen Kulturlandschaft anerkannt; stattgefunden haben eine „Transformation früheren Abfalls in Kultur und Erbe“ (Hauser 2001: 16) und eine Neubewertung von Ruderalvegetation. Ungeteilte Zustimmung und Anerkennung fand der Park beiderseits des Atlantiks (vgl. LAI 2009). Dass Peter Latz die Industriestruktur nicht nur erhielt und sicherte, sondern begehbar machte und in ihren Funktionen neu interpretierte, fand gerade in den USA große Anerkennung, wo die Gesetze zum Umgang mit altindustriellen Flächen wesentlich restriktiver sind und Nachnutzungen erschweren (vgl. Lubow 2004). 3. Naturpark Schöneberger Südgelände und Park am Gleisdreieck, Berlin Bereits in den 1970er Jahren begann in Berlin das Ringen um das Schöneberger Südgelände. Ziel des gemeinsamen Engagements einer Bürgerinitiative sowie von Ökologen, Landschaftsplanern der TU Berlin und Politikern der Alternativen Liste war es, den Reichtum der in vierzig Jahren angesiedelten Tier- und Pflanzenwelt auf dem einstigen Güterbahnhof zu erhalten und eine Bebauung zu verhindern (vgl. Lachmund 2013). Der Naturpark Schö-
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neberger Südgelände war das erste Projekt mit größerer Strahlkraft, das auf einer Infrastrukturbrache realisiert wurde. Weder Altlasten oder Kostengründe (Erhaltung vs. Entsorgung der Strukturen) noch eine Ikonizität der Relikte legitimierten hier die Anlage eines Parks, sondern der Naturschutz. Angesiedelt hatten sich 366 Farn- und Blütenpflanzenarten, 49 Pilzarten, 28 Brutvogelarten, 14 Heuschrecken- und Grillenarten, 57 Spinnen- und 95 Bienenarten (www.bi-suedgelaende.de). Auch die Erhaltung der Relikte der Infrastruktur war vielen Aktivisten ein Anliegen (Lachmund 2013: 171). Diese waren längst Teil der Landschaft geworden: Schienen verliefen durch das Dickicht, und Stellwerke, die Drehscheibe des ehemaligen Bahnbetriebswerks, ein Wasserturm und eine Dampflok erhoben sich darin. Nach Jahrzehnten des Ringens um diesen Ort wurde das Südgelände im Jahr 2000 als Naturpark eröffnet. Die Struktur der Gleisanlagen gab die Struktur des Parks vor. Abbildung 3: Naturpark Schöneberger Südgelände
Quelle: Constanze A. Petrow
Auch den Park am Berliner Gleisdreieck, zwischen 2008 und 2014 realisiert und fußläufig an das Schöneberger Südgelände angebunden, prägen umfängliche Wildwuchsflächen. Sie wurden als „Gleiswildnis“ markiert und blieben unberäumt. Hinterlassenschaften der vor dem II. Weltkrieg auf dem Gelände betriebenen Güterbahnhöfe wie Prellböcke, Signalanlagen und Stellwerke
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wurden in die Parklandschaft integriert. Entgegen Wünschen aus der Bevölkerung, die Relikte wie auf dem Südgelände zur grundlegenden Struktur des Parks zu machen, behandelten die Landschaftsarchitekten vom Atelier Loidl diese (nur) szenografisch – als Teil dessen, „was landschaftsbildnerisch eine Komposition ergab“ (Grosch nach Petrow 2015b). Abbildung 4: Park am Gleisdreieck
Quelle: Constanze A. Petrow
Die Natur jener „Gleiswildnis“ stellt einen neuen Typus städtischer Natur dar: Ruderalnatur findet sich nun nicht mehr nur auf Brachen, sondern ist in eine als absichtsvoll erkennbare Gestaltung integriert. In dem als Naturschutzgebiet ausgewiesenen Teil des Südgeländes besteht die Gestaltung vor allem aus Stegen, die über das Gelände führen, im nur unter Landschaftsschutz stehenden Teil aus Wegen, die auf dem ehemaligen Gleisbett verlaufen. Zwar wurden auf dem Parkgelände etliche Werke einer Künstlergruppe aufgestellt und die Stege als begehbares Kunstwerk deklariert (Lachmund 2013: 185), aber die Natur blieb unberührt und erscheint gerade deshalb als besonderes wertvoll. Gartenkünstlerische Neuinterpretationen und Neupflanzungen wie im Landschaftspark Duisburg-Nord gibt es auf dem Südgelände nur in einem marginalen Teilbereich.
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4. Promenade plantée, Paris Auch die Promenade plantée, 2014 in Coulée verte René-Dumont umbenannt, gründet auf einer umgenutzten Infrastruktur: einer Eisenbahntrasse, die von der Place de la Bastille über die Gare de Lyon in den östlichen Pariser Vorort Vincennes führt. Der erste Abschnitt der Promenade wurde auf einem 1859 errichteten und 1969 stillgelegten Bahnviadukt aus Backstein angelegt. 1991 gestalteten der Landschaftsarchitekt Jacques Vergely und der Architekt Philippe Mathieu hier einen linearen Freiraum. Die Stadt Paris ließ zudem die 71 Bögen des Viadukts restaurieren; Geschäfte und Ateliers zogen dort ein. Abbildung 5: Promenade plantée
Quelle: Constanze A. Petrow
Konzeptionell neu war die Anlage eines linearen Parks auf den Hinterlassenschaften einer Infrastruktur eine Etage über dem Straßenniveau. Dieser Innovation steht eine konventionelle Gestaltung gegenüber. Die Natur der Promenade ist eine gärtnerisch gebändigte à la française: Besucher spazieren durch berankte Torbögen, vorbei an üppigen Staudenbeeten, Rosenstöcken, Gräsern, Bambushainen und Lavendel, an geschnittenem Buchs, Wasserbecken und gestutzten Bäumchen in Kübeln. Hinzu kommt ein Mobiliar in postmodernem Design. Im später entwickelten hinteren Teil der Promenade wurde die vorhandene Spontanvegetation erhalten und ein Bild von städti-
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scher Wildnis belassen. Auf dem Viadukt aber ist die Promenade ein Garten in der Tradition bürgerlicher Stadtgärten des 19. Jahrhunderts. 5. High Line Park, New York Trotz des regressiven Naturbilds der Promenade plantée hatte diese Vorbildwirkung: Auf sie bezogen sich die Aktivisten, die den High Line Park in New York initiierten (Goldberger 2011). 1999 gründeten sie die Friends of the High Line, um das seit fast zwanzig Jahren nicht mehr genutzte, vom Abriss bedrohte Verkehrsbauwerk zu erhalten. Einst diente es den Transporten der Fleischindustrie. Die Idee, darauf einen Park anzulegen, war nur eine unter vielen: Diskutiert wurden auch ein riesiger Spielplatz, eine Achterbahn, ein Schwimmbad (Kippenberger 2010). Das Gewinnerteam des im Jahr 2004 durchgeführten Wettbewerbs, der Landschaftsarchitekt James Corner mit seinem Büro Field Operations, die Architekten Diller Scofidio + Renfro (alle New York) sowie der niederländische Landschaftsgärtner und Staudenspezialist Piet Oudolf, schuf einen Park, von dem bereits die Renderings um die Welt gingen. Nie zuvor erfuhr ein noch nicht einmal gebautes bzw. gerade fertig gestelltes Projekt der Landschaftsarchitektur eine vergleichbare internationale Aufmerksamkeit und erreichte eine entsprechende Bekanntheit auch jenseits der Fachwelt. Der High Line Park ist 2,3 km lang, aber kaum mehr als zehn Meter breit. Er ist einer der teuersten Parks der Welt. 2009 wurde der erste Bauabschnitt eröffnet, 2011 der zweite und 2014 der dritte und letzte. Der Park lebt von seinen starken Kontrasten: Mitten in New York steht die hochverdichtete Stadt hier der Weite des Hudson Rivers gegenüber, die urbane Kulisse den Bildern einer Natur, die den Menschen als „wild“ und „natürlich“ erscheinen soll. Die Hochbahn, eine genietete Stahlkonstruktion, ist nicht rostig und morbide, sondern restauriert und makellos, aber dennoch als Dinosaurier aus einer anderen Zeit zu erkennen. Sie kontrastiert mit dem Cutting-edge-Design aus Glas und Cortenstahl für die Treppenaufgänge und Aufzüge sowie für die Bänke, Stühle und Liegen. Die verschobene Perspektive auf die Stadt wird wie in Paris als aufregend wahrgenommen, und die Gestalter setzten sie gerade gehend in Szene: mit einem Amphitheater, von dem aus man das Treiben auf der darunter liegenden 10th Avenue beobachten kann. Dort bestaunen „die Eingeborenen [...] ihre eigene Stadt“ (Kippenberger 2010). Der explizite Rückbezug auf den städtischen Kontext und die Einladung, so alltäglichen Dingen wie dem Verkehrsfluss auf einer Straße
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zuzusehen, war ein Novum in der Landschaftsarchitektur. Heute ist dieses Angebot auch im Park am Gleisdreieck zu finden (vgl. Petrow 2015b). Abbildung 6: High Line Park
Quelle: Martin Biedermann
Die Natur des High Line Parks stellt eine Fusion aus der gärtnerisch angelegten, pflegeintensiven Bepflanzung der Promonade plantée und der Wildwuchsromantik der zuvor beschriebenen Ruderalparks dar. Aufgenommen haben die Planer dabei die Bilder von selbst angesiedelter Pflanzengesellschaften während der Zeit des Brachliegens der High Line. Fotografiert von dem amerikanischen Starfotografen Joel Sternfeld, hatten diese Bilder der politischen Durchsetzung eines Parks an diesem Ort gedient und sich dabei als Desiderat in den Köpfen der Menschen verankert. Die Planer verdichteten diese Bilder und trieben damit das in ihnen enthaltene Versprechen auf „Natur“ in der Stadt auf die Spitze. Elizabeth K. Meyer vermutet, dass die „Hypernatur“ des High Line Parks – eine gärtnerisch angelegte, hochgradig pflege- und kostenintensive Natur, die Bilder von Wildnis überhöht – Menschen gerade deshalb emotional zu berühren in der Lage ist (vgl. Meyer 2008).
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Den vorläufigen Endpunkt der Entwicklung des Gestaltens mit Relikten des Industriezeitalters markiert also ein „Designer-Park“ (Kippenberger 2010): so fancy wie der heutige Meetpaking District ringsum und in den erzeugten Bildern von Wildnis so artifiziell wie seine städtische Umgebung – für seine Besucher aber dennoch faszinierende „Natur“.
Typologie des U mgangs mit R elikten Die dargestellte Gestaltungspraxis verdankt sich also verschiedenen Motiven: Mal wurde der symbolische Wert einer Struktur für eine Stadt direkt erkannt (Gas Works Park), mal war es planerischer Pragmatismus und eine Entwurfsphilosophie, die das Vorhandene systematisch einbezieht (Landschaftspark Duisburg-Nord), mal der Naturschutz (Südgelände) und mal die Begeisterung für ein Infrastrukturbauwerk und das kollektive Ringen um dessen Erhaltung (High Line Park). Welche Formen des Umgangs mit den Relikten haben sich im Zuge des Reisens der Idee und des wiederholten „Akts der Rekontextualisierung“ (Neumann und Nünning 2012: 14) herausgebildet? Die hier vorgestellten Meilensteine der Entwicklung verkörpern stellvertretend für viele andere Projekte folgende Umgangsweisen: Ruinen fungieren als Landmarken und Icons. Ihre Erscheinung ist 1. markant und weithin sichtbar, die Wirkung erhaben. Der hohe Bildwert der in eine Neugestaltung integrierten Ruinen wird genutzt, um mediale Aufmerksamkeit zu erzeugen. Beispielhaft dafür stehen der Gas Works Park und der Landschaftspark Duisburg-Nord. Die frühere Nutzung eines Ortes dient als Strukturgeber für den 2. Park, sie bestimmt seine räumliche Organisation. Eine hohe Wertschätzung für die Geschichte des Ortes und die in Jahrzehnten entwickelte Natur führen zur Strukturierung eines Freiraums in starker Anlehnung an die räumliche Logik der Vornutzung. Beispielhaft dafür steht der Naturpark Schöneberger Südgelände. Relikte dienen als Trägerstruktur. Der Park wird auf ihnen errich3. tet. Beispiele dafür sind der High Line Park und die Promenade plantée, aber auch weite Teile des Landschaftsparks Duisburg-Nord. Relikte verblieben vor Ort und wurden mit den Jahren zu einem 4. Teil der Landschaft. Das entstandene Ensemble entfaltet eine pitto-
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reske Wirkung. Beispielhaft dafür steht der Naturpark Schöneberger Südgelände. 5. Relikte werden szenografisch komponiert. Erhalten werden sie nur dort, wo es die neue Nutzung nicht behindert. Als Zeugen der Vergangenheit bereichern sie den Park atmosphärisch. Beispielhaft dafür steht der Park am Gleisdreieck. Abbildung 7: Alter Flugplatz Frankfurt-Bonames
Quelle: Constanze A. Petrow
6. Teile der Struktur werden re-funktionalisiert, ohne dass diese substantiell verändert würde. Beispielhaft dafür steht der Klettergarten im Landschaftspark Duisburg-Nord. Auf dem hier nicht behandelten Alten Flugplatz Frankfurt-Bonames wurde die ehemalige Landebahn in eine Fläche für Fortbewegungsarten aller Art umfunktioniert. 7. Teile der Struktur werden transformiert, um neue Nutzungsformen zu ermöglichen. Auch dafür steht der Alte Flugplatz Bonames. In Teilen wurde dort die Asphaltdecke der Landebahn aufgebrochen und in unterschiedliche Korngrößen zerkleinert, so dass sich verschiedene Vegetationsgesellschaften ansiedeln konnten. 8. Schließlich findet sich vereinzelt auch ein archäologisch-dokumentarischer Umgang mit Relikten. Beispielhaft dafür steht der Park am
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Nordbahnhof in Berlin, in dem ein „archäologisches Fenster“ den Blick auf einen unterirdischen Tunnel freigibt. Bei allen Spielarten prägt die Aura der Relikte maßgeblich den Charakter dieser Parks. In der Regel ist eine Kombination aus verschiedenen Strategien anzutreffen.
V erhältnis von V ergangenheits - und Z ukunftsbezug In der hier dargestellten Gestaltungspraxis ist das „landscape narrative“ nicht aufgesetzt und „erfunden“ (Treib 1995/2002), sondern aus dem Ort heraus entwickelt. Damit ist es auch allgemein verständlich. In manchen Parks wird sogar auf mehrere Epochen der Stadtgeschichte, die sich an diesen Orten manifestiert haben, verwiesen (Petrow 2015a). Selten reicht die Erzählung allerdings weiter zurück als bis in die Anfänge der Moderne respektive die Zeit der Industrialisierung. Vorhandene Relikte verführen Entwerfer wie Besucher zu einer Reduzierung der Geschichte eines Ortes auf das direkt Greifbare. Nichtsdestotrotz ist eine wesentliche Entwicklung festzustellen: Im Gegensatz zu allen früheren Epochen der Gartenkunst fungiert hier die Stadt- und Industriegeschichte als kultureller Anker. Die Vornutzung eines Areals wird nicht länger negiert. Sinnstiftend sind zugleich nicht mehr in den Raum hineingestellte Kunstwerke, sondern Relikte der Technik und die Erinnerung an Stätten der Arbeit (vgl. Petrow 2015b). Auf übergeordneter Ebene symbolisieren die im Raum der Stadt verbliebenen Relikte den Übergang von der Industriestadt zur Stadt der Dienstleistungsgesellschaft. Die Parks sind damit ein Bestandteil der Identitätskonstruktion westlicher Städte im Strukturwandel. Die entstandenen Bilder sollen dabei für zwei Dinge gleichzeitig stehen: für das Vorhandensein einer prägenden Geschichte und für den geglückten Übergang in ein neues Zeitalter. Resultat der Entwicklung dieser Gestaltungspraxis ist somit ein verändertes Verhältnis von Vergangenheits- und Zukunftsbezug in der zeitgenössischen Landschaftsarchitektur. Der Wandel erfolgte nicht isoliert innerhalb der Disziplin, sondern ist Ausdruck des Zeitgeistes. Von einem „Schub der Vergeschichtlichung“ unserer Städte spricht Walter Siebel (1994), von einem gewachsenen „Bedürfnis nach historischer Nachhaltigkeit“ Aleida Assmann (2009: 27). Die Unterscheidung zwischen „Ort“ und „Raum“ verdeutlicht diesen turn. „Raum“ steht dabei für das, was es zu konstruieren, gestalten,
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nutzen, besetzen gilt. „Raum ist vorwiegend ein Gegenstand des Machens und Planens, eine Dispositionsmasse für intentionale Akteure, ob es sich dabei um Eroberer, Architekten, Stadtplaner oder Politiker handelt. Alle haben die Zukunft im Blick; sie wollen eingreifen, verändern, umgestalten. ‚Orte’ sind demgegenüber dadurch bestimmt, dass an ihnen bereits gehandelt bzw. etwas erlebt oder erlitten wurde. Hier hat Geschichte immer schon stattgefunden und ihre Zeichen in Form von Spuren, Relikten, Resten, Kerben, Narben, Wunden zurückgelassen. Orte haben Namen und Geschichte bzw. Geschichten, sie bergen Vergangenheit; Räume dagegen öffnen Dimensionen des Planens und weisen in die Zukunft.“ (ebd. 15f.). Bei den hier vorgestellten Parks hat der „Ort“ – das Vorgefundene – im Verhältnis zum Raum – dem zu Gestaltenden – ein stärkeres Gewicht bekommen. Das physisch Überlieferte gilt heute als „authentisch“, ein Wert, der zum Teil höher bemessen wird als gegenwärtige Nutzungsansprüche. Der Grad der Überformung und damit wiederum das Verständnis von einem Planungsareal als „Raum“ variiert indes enorm. Das Verhältnis zwischen beiden ist also dynamisch.
E igenständige P raxis der E rinnerung an die I ndustrieära Über die Meilenstein-Projekte sickerte die Gestaltungspraxis allmählich in den Mainstream ein. Mit der Verbreitung und Vervielfältigung erlangte sie Bedeutung als eigenständige Form des Einschreibens der kollektiven Erinnerung an die Industrie-Ära in die gebaute Umwelt. Inzwischen wird die Erhaltung von Relikten infrastruktureller oder industrieller Nutzungen zum Teil sogar gefordert (z.B. im Wettbewerbsverfahren für das Quartier Zollhafen Mainz, o.A. 2014: 17). Aber auch ohne derartige Vorgaben durchlaufen Schienen heute allerorten neu gestaltete Freiräume und stehen vereinzelte Objekte früherer Strukturen im Raum, ohne dass ihr konkreter Sinnzusammenhang von Passanten nachvollzogen werden könnte (z.B. im Mainuferpark Frankfurt). Ein „industrieller Symbolismus“ wird mittels entsprechender Materialien und Ausstattungen sogar in neue Gebäude oder Orte eingebaut. Vintage Industrial ist vor allem in der Innenarchitektur ein Trend. Oft wird dieser Ansatz in den Außenraum erweitert. Zu beobachten ist eine „reliance upon a symbolic vocabulary that plays on the industrial past“ (Tyrer, Crinson 2005: 99).
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Charakteristisch für die Landschaftsarchitektur, gerade auch im Verhältnis zur Industriedenkmalpflege, ist eine relativ freie Transformation der vorgefundenen Strukturen. Der Grad der künstlerischen Freiheit ist groß, denn das Relikt – das Kopfsteinpflaster, die Schienen, der Prellbock – ist an sich nicht wertvoll. Erst in Verbindung mit dem Ort und eingebunden in die Neugestaltung gewinnt es an Bedeutung. Dies eröffnet größere Spielräume für Interpretationen sowohl auf der Seite der Produktion als auch der Rezeption. „But are they really able to vitally experience that which once was?“ fragt Marc Treib (2009: 212). Eine Ahnung davon, was ein Stahlwerk in Betrieb bedeutet, wie mit Tierhälften beladene Güterzüge auf einer Hochbahn quer durch eine Stadt fahren und eine Idee vom Wesen jener „eisernen Landschaften“ und „Tummelplätze der Maschinen“ (Joseph Roth 1924: 295 über das Gleisdreieck), die die Güterbahnhöfe einmal waren, bekommen die Besucher der Parks nicht. Die Vergangenheit dieser Orte kann nicht verstanden, ihre frühere Atmosphäre nicht nachempfunden werden. Dennoch wirken die Relikte als starkes Narrativ. Sie sind „markers of times past“ (Treib 2009: 214.), Verweise auf ein Anderswann. Zugleich enthalten viele dieser Parks Verweise auf ein Anderswo: die „wilde“ Natur, in der Vorstellung der meisten Menschen das Gegenteil von Stadt. Dieser doppelte Verweis macht die Parks einmal mehr zu Heterotopien im Sinne Foucaults (1991). Die Hochphase der industriellen Ära und ebenso ihr Niedergang haben sich auf Dauer darin eingeschrieben.
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Hochstraßen in Deutschland Verschwindende Dokumente der Nachkriegsmoderne Maren Harnack, Martin Kohler
I n D eutschland sind H ochstrassen als Z eugnisse der autogerechten Stadt vom A briss bedroht. M it allen ihren Verflechtungen werden sie sich aber nie wieder ganz eliminieren lassen . W ir plädieren in unserem B eitrag dafür , sie als P o tenzialräume für eine Stadtentwicklung jenseits kommerzieller Verwertungs interessen zu sehen . A nders als beispielsweise in amerikanischen oder asiatischen Städten, konzen triert sich der B au von H ochstrassen in D eutschland auf die Z eit der N ach kriegsmoderne . O ft am R and der wieder aufgebauten Stadtkerne gelegen , zeu gen sie vom Z ukunftsoptimismus der W iederaufbauzeit und vom Ü bergang der Stadt in die M oderne . O b dauerhafte (Paulinenbrücke , Stuttgart) oder tem poräre B auten (A egidienhochstrasse , H annover ), heute stehen sie als D oku mente des inzwischen obsoleten I deals der autogerechten Stadt fast überall „ unter Verdacht “ und der A briss scheitert, wenn überhaupt, weniger an D enkmalschutz und Verkehrsplanung als an den enormen K osten , die damit ver bunden wären .
H ochstrassen als Z eugnisse eines früheren Stadtideals Hochstraßen sind ein Teil der städtischen Infrastruktur, die heute selten Freunde finden. In den meisten Fällen stehen Hochstraßen für eine verfehlte Stadtentwicklungspolitik, die dem Automobil den Vorrang gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern gab und zur Zerstörung ehemals attraktiver städtischer Räume beigetragen hat. Diese populäre Sicht auf die Hochstraßen zeigt vor allem, wie sehr sich unsere Sicht auf die Stadt geändert hat. Direkt nach dem Zweiten Weltkrieg war die Erinnerung an die schlechten Lebensbedin-
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Maren Harnack und Martin Kohler
gungen in den Altstädten und die Brandnächte des Bombenkriegs noch lebendig, und die Aussicht auf eine neue, moderne Stadt war eher ein Versprechen als eine Drohung.1 Erst mit der Generation der 68er, die die Altstädte und das damit verbundene Elend nicht mehr aus eigener Anschauung kannten, änderte sich die Sicht: Die alte Stadt wurde als Ort der Gemeinschaft, die über die Wohnung für die Kleinfamilie hinausgeht, durchaus idealisierend wiederentdeckt. Die Fortschritte der Nachkriegszeit, die vielen zu Wohlstand und einem bequemen Leben verholfen hatten, insbesondere die Stadträume, wurden im gleichen Zuge als Zerstörer des ehemals reichen urbanen Lebens verstanden.2 Von allen baulichen Zeugen des ungebremsten Fortschrittsglaubens der Nachkriegszeit gelten heute insbesondere die Verkehrsplanungen in den Innenstädten als veritable Planungsfehler, die am liebsten ungeschehen gemacht werden sollten. Dies ist einerseits verständlich, denn tatsächlich wurde in vielen Fällen noch erhaltene oder zumindest erhaltungsfähige Bausubstanz der Vorkriegszeit geopfert, um den Verkehrsfluss für das Auto zu optimieren und damit auch eine aus heutiger Sicht unverträgliche Menge von Autos in die Innenstädte zu bringen. Andererseits verkennt diese Sicht, dass die dem autogerechten Umbau der Städte zugrundeliegenden Leitbilder weder menschenverachtend noch neu waren. Vielmehr lassen sie sich bis auf die Idee der Gartenstadt zurückführen und sollten dazu dienen, die in der damaligen Zeit vorherrschenden Vorstellungen vom guten und gesunden Leben für möglichst viele Menschen erreichbar zu machen.3 Wie Gerhard Vinken (2010) in seinem Buch „Zone Heimat“ gezeigt hat, entstand die Wertschätzung der Altstädte erst, als die rasant fortschreitende Industrialisierung und Urbanisierung sie akut bedrohte. Gleichzeitig, so Vinkens These, brachten erst die beschleunigten Veränderungen der Industriali1 | Siehe hierzu für Stuttgart Sterra (1994). Für eine grundlegende Diskussion am Beispiel Köln, die die Überformungen der NS-Zeit ebenso einschließt wie die identitätsstiftende Rolle der historischen Stadtkerne, siehe Vinken (2010, 151–206). 2 | Besonders prominent hierzu beispielsweise Siedler, Niggemeyer, Angreß (1964). Die gemordete Stadt; und Mitscherlich (1965): Die Unwirtlichkeit unserer Städte. 3 | Im Vorwort zu seinem Buch „Die autogerechte Stadt“ schreibt Hans Bernhard Reichow: „Wer schließlich verhindern will, daß wir allein in Deutschland alljährlich eine Kleinstadt von 12.000 Einwohnern dem Verkehrstod opfern und eine Großstadt von 300.000–400.000 Einwohnerzahlen ein einziges Lazarett für Verkehrsopfer verwandeln, wird an einer umfassenden Betrachtung des Verkehrsproblems nicht vorüberkommen. Dieses Buch eröffnet eine solche Schau.“
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Urbane Infrastrukturlandschaften in Transformation Hochstraßen in Deutschland
sierung die Sehnsucht nach Beständigkeit und althergebrachten Formen von Häusern und Stadträumen hervor. Dabei wurden die Altstädte einem Prozess der Musealisierung unterworfen und in einer Weise überformt, wie es dem damaligen Bild einer idealisierten historischen Stadt entsprach. Gleichzeitig wurden sie auch für die Erfordernisse modernen Lebens und Wirtschaftens umgebaut, beispielsweise durch sogenannte Korrektionen, die in den engen Altstädten Platz für den modernen Verkehr schufen und – aus heutiger Sicht rücksichtslos – durch den Bestand geschlagen wurden. Für die Planungen des Wirtschaftswunders sind ähnlich idealisierende Prozesse bisher nicht in Gang gekommen, obwohl sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gegenüber der Zeit des Wirtschaftswunders rapide verändert haben und der damalige Zukunftsoptimismus der weitreichenden Unsicherheit neoliberal deregulierten Lebens gewichen ist. Gerade deshalb lohnt es sich, die Hintergründe des noch immer vorherrschenden Wunsches nach dem Verschwinden der sichtbaren Zeugnisse modernistischer Stadtund Verkehrsplanung zu untersuchen und zu bewerten. Dies geschieht hier anhand von zwei Fallstudien, die so ausgewählt wurden, dass unterschiedliche Ausgangslagen berücksichtigt werden: Bei der Paulinenbrücke in Stuttgart wurde der Abriss lange diskutiert. Geplant war, dies über einen Städtebaulichen Vertrag beim Bau einer neuen Shopping Mall, die unmittelbar an die Paulinenbrücke angrenzt, zu realisieren. Allerdings hat der Betreiber der Mall sein Parkierungskonzept dann verändert und die Stadt Stuttgart hat nun ihrerseits in einem Städtebaulichen Vertrag garantiert, die Zufahrt über die Paulinenbrücke für mindestens 15 Jahre zu erhalten. Die Ägidienhochstraße in Hannover hingegen war zwar als dauerhaftes Ingenieursbauwerk geplant, dann aber 1968 nur als provisorische Stahlkonstruktion gebaut worden. In beiden Fällen waren diese Hochstraßen integrale Teile eines neuen Verkehrskonzeptes für die jeweiligen Städte, dessen Umsetzung durch die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs erst möglich wurde. In ihnen manifestiert sich der Durchbruch einer langgehegten Stadtvision – der autogerechten Stadt.
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Paulinenbrücke S tuttgart Die Paulinenbrücke ist Teil des Stuttgarter Innenstadtringes, der den eigentlichen Citybereich umschließt. Südlich der Paulinenbrücke beginnt die Karlshöhe, die den Stuttgarter Talkessel vom Heslacher Tal trennt. Historisch war die Paulinenstraße die Besiedlungsgrenze der Anfang des neunzehnten Jahrhunderts gebauten Tübinger Vorstadt, in die Handwerker umgesiedelt wurden, die Geruchsemissionen verursachten und die in der Altstadt nicht mehr geduldet wurden – daher auch der heute geläufige Name Gerberviertel. Abbildung 1: Paulinenbrücke in Stuttgart
Quelle: Maren Harnack
An der Kreuzung von Paulinen- und Hauptstätter Straße wurde ein kleiner Platz gebaut, der den Eingang in die Stadt markierte (Markelin 1991, 34f). Die schwierige topografische Situation an dieser Stelle mag dazu beigetragen, dass dieser Teil des Stadtgebietes erst relativ spät besiedelt wurde, und auch nur mit verhältnismäßig lockerer Villenbebauung, die die Höhenversätze besser aufnehmen konnte. Heute sind Paulinenstraße und Hauptstätter Straße Teil des Stuttgarter Innenstadtrings, der die Bundesstraßen 14 und 27 durch die Stadt führt und verbindet. Diese Umfahrung des Innenstadtbereichs geht bereits auf
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Planungen der NS-Zeit zurück, die die südliche Umfahrung allerdings noch in der Sophienstraße verortet hatten. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden die umfangreichen Zerstörungen als Chance für die Neuordnung des Innenstadtverkehrs begriffen, und Stuttgarts erster Nachkriegsbürgermeister Arnulf Klett wirkte als Förderer einer der Moderne verpflichteten Stadtplanung, die sich den neuen Anforderungen des Automobilverkehrs verpflichtet sah. Während seiner 30-jährigen Amtszeit prägte er das Bild von Stuttgart als einer modernen, autogerechten Stadt und setzte die bald schon umstrittenen Planungen, die auch den Abriss noch teilweise erhaltener Bausubstanz erforderten, in weiten Teilen durch, ohne jedoch den weit über die Nazi-Planungen hinausreichenden Vollausbau mit mehreren großen Hochstraßen realisieren zu können (Brunold and Sterra 1994, 130f). Entlang des gesamten Südost-Schenkel des Innenstadtrings (heute Willy-Brand-Straße, Konrad-Adenauer-Straße und Hauptstätterstraße) sind die Kreuzungen über Tunnel geführt, um sowohl das Abbiegen als auch des ampelfreie Durchqueren dieses Teils zu ermöglichen. Ursprünglich war hier ein weitreichenderer, vollkommen kreuzungsfreier Ausbau mit einer Hochstraße geplant, der aber nie vollständig umgesetzt wurde.4 Aus dieser Planung ergibt sich die heute noch bis zu zehnspurige Schneise, die die City von den angrenzenden Wohngebieten trennt und die bis in die 1990er Jahre hinein für Fußgänger fast ausschließlich durch Unterführungen zu queren war. Am Kreuzungspunkt Paulinenstraße / Hauptstätter Straße machte die Topografie des Stuttgarter Talkessels ein kompliziertes Verkehrsbauwerk mit Kreisel nötig, um zusätzlich zur ohnehin zweigeschossigen Kreuzung die erheblichen Verkehrsmengen aus den verschiedenen Richtungen zu bewältigen und die Anschlüsse an die umliegenden Straßen zu gewährleisten – unter anderem durch die hier untersuchte Paulinenbrücke. Treppenanlagen verbinden die Fußgängerwege auf den unterschiedlichen Niveaus. Nur ein vergleichsweise kleiner Teil der östlichen Paulinenstraße ist so bebaut, dass die Brücke als solche wahrnehmbar ist. Hier stehen repräsentative Gründerzeitbauten, zwischen deren erstem und zweitem Obergeschoss die Brücke verläuft. In den Erdgeschossen befinden sich inhabergeführte Läden und eine Bar, die ein „szeniges“ Publikum ansprechen. Auf der anderen Seite der Brücke sind Solitäre zu finden: ein Verwaltungsgebäude, das inzwischen einem neuen Bürokomplex gewichen ist, eine Kirche, ein Gymnasium und ein Krankenhaus.
4 | Siehe hierzu Generalverkehrsplan Stuttgart, Bildanhang S. 83, S. 84, S. 90.
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Die Paulinenbrücke wurde 1962 dem Verkehr übergeben und war ein erster, vorweggenommener Schritt, der dann zur Realisierung des Generalverkehrsplans von 1962 beitrug. Im Stuttgarter Amtsblatt hieß es zur Eröffnung der Paulinenbrücke: „Unser Bild zeigt die elegant wirkende Hochstraße vom Österreichischen Platz aus, der als erstes Verkehrsbauwerk unserer Stadt mit zwei Verkehrsebenen schon bald ein Jahr lang nicht nur dem fließenden, sondern mit seinen 118 Parkplätzen auch dem ruhenden Verkehr gute Dienste leistet“. Diese sehr positive Sichtweise ist heute einer umfassenden Kritik gewichen. Die Paulinenbrücke wird in der Tagespresse, aber auch in der Politik über alle Parteien hinweg als Brennpunkt wahrgenommen. Hierzu hat vor allem beigetragen, dass sich im Umfeld der Brücke eine Szene von sozial randständigen Personen und Drogenabhängigen trifft. Zunächst wurde eine unter der Brücke angesiedelte Tankstelle für das Problem verantwortlich gemacht, da die unerwünschte Szene sich dort mit Alkohol eindecke. Diese wurde nach dem Auslaufen des Pachtvertrags Ende 2007 umgehend abgerissen, ohne dass sich die unerwünschten Personen deswegen einen anderen Treffpunkt gesucht hätten. Das Zusammentreffen von gesellschaftlich unerwünschten Gruppen und Relikten nicht mehr zeitgemäßer Verkehrsplanung hat in Stuttgart also dazu geführt, dass die neben den Parkplätzen einzige rentable Nutzung, die den Raum unter der Brücke belebt hat, aufgegeben wurde. Gleichzeitig scheint diese Kombination von randständigen Gruppen und unzeitgemäßer Verkehrsplanung auch eine Haltung zu fördern, die alle negativen Folgen daraus dem Bauwerk selbst zuschreibt. Diskussionen unter Laien, wie beispielsweise im Zusammenhang mit dem Stuttgarter Bürgerhaushalt5 oder der Online-Plattform „Deutsches Architekturforum“6 zeigen, dass die Paulinenbrücke selbst als Problem verstanden wird, nicht die zugrundeliegende, großräumige Verkehrsplanung. Aus städtebaugeschichtlicher Sicht ist der Stuttgarter Innenstadtring mitsamt der Paulinenbrücke ein Zeugnis der Zeit, als Stadtplanung dem Leitbild der autogerechten Stadt folgte. Obwohl die ursprüngliche Planung nie vollständig umgesetzt wurde, sind die Stadtautobahnen des Stuttgarter Innenstadtrings nach heutigen Maßstäben nicht mehr zeitgemäß und der Automobilverkehr verliert schrittweise seine Dominanz. Beginnend mit zusätz5 | www.buergerhaushalt-stuttgart.de/vorschlag/3049 (zuletzt aufgerufen am 4.1.2015). 6 | www.deutsches-architektur-forum.de/forum/showthread.php?t=7622 (zuletzt aufgerufen am 4.1.2015).
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lichen ebenerdigen Fußgängerüberquerungen an der Theodor-Heuss-Straße in den 1990er Jahren über die weitgehende Stilllegung des „kleinen Schlossplatz“, in dessen Tunnelröhren sich heute ein Teil des Kunstmuseums befindet und neue ebenerdige Querungsmöglichkeiten über der Hauptstätter Straße wurden die bestehenden Stadtautobahnen des inneren Rings nach und nach fußgängerfreundlicher gestaltet. Trotz dieser Maßnahmen wird eine grundsätzlichere Neuordnung des Innenstadtrings seit langem diskutiert. Hier ist insbesondere die durchgehende Untertunnelung des Abschnitts Konrad-Adenauer-Straße zu nennen, die schon seit mindestens den 1980er Jahren gefordert wird (Einsele, Rose, and Gragnato 1992, 56). Ein Wettbewerb hierzu fand 2008 statt, wurde aber nicht umgesetzt.7 Ebenfalls seit langem ist die Umgestaltung der Paulinenbrücke im Gespräch, wobei zunächst nur der teilweise unter der Brücke liegende Rupert-Mayer-Platz umgestaltet werden sollte, dann aber immer wieder eine grundsätzliche Lösung gefordert wurde, zuletzt im Zusammenhang mit dem Bau des angrenzenden Shopping Centers „Das Gerber“. Dieses und angrenzende Bauvorhaben zeigen jedoch auch, dass die Paulinenbrücke inzwischen ein Teil des urbanen Gefüges geworden ist, der sich nicht mehr einfach entfernen lässt. Zum einen ist hier noch einmal die Topografie zu nennen, die ohne Brücke ein Gefälle von etwa 7% und direkt anschließend eine Steigung von 5,5% im Zuge der Bundesstraßen zur Folge hätte.8 Zum anderen sind entlang der Straße neue Gebäude entstanden, die ihre Erschließung an die neue Zugangshöhe angepasst haben. Dies zieht sich weit über die unmittelbar an die Paulinenbrücke angrenzenden Bauten hinaus in den Bereich der Hauptstätterstraße hinein. Bei den Neubauprojekten der letzten Jahre ist außerdem noch einmal deutlich geworden, dass die Erschließung der angrenzenden Grundstücke ohne die Paulinenbrücke nicht befriedigend zu lösen ist. Das Shopping Center „Das Gerber“ fährt seine Tiefgarage über die Paulinenbrücke an und hat sich vertraglich zusichern lassen, dass diese Zufahrt für mindestens 15 Jahre erhalten bleibt.9 Die Tiefgaragenzufahrt des neu gebauten Bürohauses „Pauline“ liegt ebenfalls unter 7 | Zum Wettbewerb und den Ergebnissen siehe www.stuttgart.de/item/show/346223 (16.4.2015); Zur Geschichte der Umgestaltungsplanung siehe z.B. www.vsv-stuttgart.de/index. php?article_id=63 (zuletzt aufgerufen am 16.4.2015). 8 | Präsentation im Ausschuss für Umwelt und Technik am 16.12.2008. 9 | w w w.das-gerber.de/no_cache/fragen-und-ant wor ten/fragen-ant wor ten/ar ticle/ wird-die-paulinenbruecke-abgerissen.html (zuletzt aufgerufen am 15.4.2015).
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der Brücke und ist durch eine Grunddienstbarkeit gesichert. 10 Zudem sind die fensterlosen Sockelzonen dieser Gebäude kaum geeignet, einen Straßenraum zu beleben und zu begleiten. Im größeren Maßstab dient der Stuttgarter Innenstadtring heute der Verteilung von Ziel- und Quellverkehr und nimmt nur noch wenig Durchgangsverkehr auf. Auch hier wurde mit dem Bau des Shopping Centers „Das Gerber“ ein weiterer Zielpunkt für den motorisierten Individualverkehr geschaffen, der ohne die Kapazitäten des Innenstadtrings vermutlich kaum tragfähig wäre. An anderen Stellen wird die Kapazität des zweiten Rings erhöht, etwa durch den Bau des Pragtunnels und des Rosensteintunnels der explizit auch die Anbindung der Innenstadt verbessern soll. Während also die Verkehrsplanungen der 1950er und 1960er Jahre Teil des urbanen Gefüges geworden sind, ist die Paulinenbrücke lediglich der sichtbarste Ausdruck dieser Planungen und zieht als solcher auch die meiste Aufmerksamkeit auf sich, wenn es darum geht, die autogerechten Planungen zurückzunehmen. In den Diskussionen um die Zukunft der Paulinenbrücke treten die anderen, weitaus größeren Teile der Verkehrsplanung allerdings weit in den Hintergrund. Die Frage, wie die überaus wichtige Fuß- und Radwegeverbindung entlang der Tübinger Straße die ebenerdige Führung des heute auf der Paulinenbrücke laufenden Verkehrs verkraften würde, spielt allenfalls in der Diskussion mit Fahrradlobbyisten von VCD oder ADFC eine Rolle.11 Gleichzeitig ist die Paulinenbrücke aber auch der Ort, der das weitaus größte Potenzial für Sondernutzungen bereithält, wie etwa die 2009 an diesem Ort aufgeführte „Zeitoper Paulinenbrücke“ oder zahlreiche andere künstlerische Interventionen gezeigt haben. Ehe das Einkaufszentrum „Das Gerber“ gebaut wurde und das Nutzungsrecht für den unter dem nördlichen Brückenkopf gelegenen Bereich bekam, um hier Mitarbeiterparkplätze einzurichten, sollte dieser Ort für die Stuttgarter Jugendlichen hergerichtet werden, die sicher für mehr Belebung gesorgt hätten als parkende Autos.12 10 | www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.paulinenbruecke-es-muss-sich-etwas-tun.cdf46b45c577-40b5-bbb6-f17982f97066.html (zuletzt aufgerufen am 17.4.2015). 11 | Beispielsweise www.adfc-bw.de/stuttgart-radverkehr/s_sued.htm (zuletzt aufgerufen am 16.4.2015). 12 | Stuttgarter Nachrichten. 23.9.2008. Gespräche über Abriss der Paulinenbrücke. (www. stuttgarter-nachrichten.de/stn/page/detail.php/1826485/r_article_print; zuletzt aufgerufen am 2.2.2010).
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Die Paulinenbrücke kann damit zwei wichtige Funktionen erfüllen: Einerseits kann sie an die Planungsgeschichte der Nachkriegszeit erinnern, andererseits bietet sie in der Innenstadt einen Ort, der sich kommerzieller Nutzung widersetzt und Raum für stadträumliche Experimente bietet.13 Abbildung 2: Oper Stuttgart, Aufführung eines Stücks unter der Paulinenbrücke
Quelle: Martin Siegmund / Staatstheater Stuttgart
Und nicht zuletzt bietet der Erhalt der Paulinenbrücke handfeste finanzielle Vorteile, denn der Abriss und die Umgestaltung der an die Hochstraße angepassten Bebauung kosten viel Geld, dass möglicherweise anderswo sinnvoller angelegt wäre, beispielsweise in einer Platzgestaltung für Jugendliche, die dann zu Lasten einiger Parkplätze ginge.
13 | www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.paulinenbruecke-kein-platz-fuer-jugendliche.html (zuletzt aufgerufen am 23.12.2012).
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A egidienhochstrasse H annover „Dennoch finde ich, dass Hannover, von [der] komplett garstigen Ecke um das Anzeigerhochhaus oder den Aegidientorplatz abgesehen, wie fast alle deutschen Städte immer noch viel Sehenswertes hat.“14 Abbildung 3: Aegidientorplatz in Hannover, 1967
Quelle: Manfred Kohrs / Rolf Kohrs
Die Aegidienhochstraße überbrückte bis 1998 einen großen Verkehrsplatz und ist einer der wichtigsten Verkehrsknoten des Innenstadtrings in Hannover. Dieser Platz spielte eine wesentliche Rolle im Wiederaufbau, der die Stadt unwiderruflich zu einer Stadt der Moderne machte. Am Aegidientor endete der mittelalterliche Stadtkörper der Stadt und die barocke Aegidienvorstadt schloss sich an. Das Tor selbst war eines der drei großen Stadttore, und über die Marsch traf hier die Fernstraße von Hildesheim auf die Stadt. Im Zuge der planmäßigen Abtragung der Stadtbefestigungen ab 1780 entstand dann auf den Resten der Toranlage der ausladende, repräsentative Aegidientorplatz mit einem streng geometrischen, klassizistischen Straßenzuschnitt und der ersten Pferdebahn als Vorbote des modernen Straßenverkehrs. Im Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er – wie auch ganz Hannover – vollständig nach den Erfordernissen des modernen Verkehrs umgestaltet.
14 | Kommentar eines Bloggers, siehe www.stadtbild-deutschland.org/forum/index.php?page=Thread&threadID=4020 (zuletzt aufgerufen am 27.06.2011).
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Mit diesem, vom Spiegel als „Wunder von Hannover“15 betitelten Umbau der Stadt, konnte der Stadtbaurat Rudolf Hillebrecht seine Vorstellung einer Stadtregion mit der Kernstadt als Zentrum umsetzen – und nutzte die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs für einen radikalen Bruch mit der Stadtgeschichte Hannovers. Abbildung 4: Erläuterung des Verkehrsystems
Quelle: Der Spiegel 13. Jg., Nr. 23 vom 3. Juni 1959
Seine Planungen basierten auf der Annahme, dass die Stadt auf 600.000 Einwohner anwachsen und die Massenmotorisierung den Verkehrsfluss exponentiell steigen lassen würde. In der Folge dieser Entwicklungen hätte dann vor allem die ungeordnete Dezentralisierung der Stadt beherrscht werden müssen.16 Neben der Autobahn vom Ruhrgebiet nach Berlin und der Nord15 | Der Spiegel vom 3.6.1959. 16 | Dies war zumindest die Befürchtung Hillebrechts (Hillebrecht 1970).
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südautobahn von Basel nach Hamburg, sollten nach dem Netzplan der Europafernverkehrsstraßen von 1949 noch drei weitere Verkehrslinien Hannover kreuzen: die E8 von London über Den Haag nach Warschau, die E4 von Lissabon über Bern nach Helsinki und der E3 von Lissabon über Paris nach Stockholm (Harcke 1956). Zusammen mit dem durch die Messeveranstaltungen verursachten Massenverkehr war die ohnehin kritische Verkehrssituation in der Innenstadt nicht mehr tragbar. Aus diesen Ausgangsbedingungen sein Stadtregionmodell,17 das die Verkehrsflüsse neu entwickelte Hillebrecht 199 1 ordnete, die Region großmaßstäblich mit Grünkeilen und Siedlungsentlastungszentren strukturierte und ihr eine vom Verkehr geschützte Kernstadt als Zentrum gab. Der überregionale Verkehr sollte in Tangenten um die Stadt 189 so den früher2010durch das Zentrum fließenden herumgeleitet werden18198und 2 0 Fernverkehr der ehemaligen Reichsstraßen Nr. 3 und Nr. 6 über Schnellstraßen an der Peripherie um die Stadt herum führen. Für den Messeschnellweg wurde eine Schneise mitten durch den Stadtwald Eilenriede geschlagen. 189
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17 | Siehe: Schemaskizze zur Entwicklung einer neuen städtebaulichen Form der Stadtregion mit etwa 2 Millionen Einwohnern, 1962 oder „Zwischen 1Stadtmitte und Stadtregion” (Hille201 985 5 brecht 1970). 18 | Hillebrecht selbst sprach davon, die Abfahrten 199 der Tangenten auf die Bundesstraßen, die 1 ins Stadtzentrum führten, so „zu verstecken, dass der Autofahrer sie gar nicht wahrnimmt“. 0 199
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Dabei wurde das Straßennetz völlig neu geordnet, ohne Angst vor großen Eingriffen in den verbliebenen historischen Stadtkörper. Der historische Stadtgrundriss blieb nur oberflächig bestehen, da das verbleibende, grobmaschige Netz der Straßen nur in etwa die Hauptlinien der historischen Straßen nachzeichnet (Beseler 2000). Durch diese damals als fortschrittlich geltende Stadtplanung erlangte die Stadt überregionale Bekanntheit. Abbildung 6: Paulinenbrücke in Stuttgart. Nachtsicht.
Quelle: Martin Kohler
Das „Wunder von Hannover“ war vor allem ein Projekt unermüdlicher und unerbittlicher Politik des Stadtbaurats Hillebrecht, der auch letzte Widerstände der Grundstücksbesitzer brach und sie zum allgemeinen Staunen in die Phalanx der Stadtveränderer zwang.19
19 | „Dort werden jetzt die großen shopping centres, die großen Kaufhäuser, in den Stadtrandgebieten errichtet, wo noch genügend Parkraum zur Verfügung steht“, warnte Hillebrecht die Hannoveraner mit dem Hinweis auf die USA. „Denn der motorisierte Durchschnittsamerikaner denkt nicht daran, sich mit seinem Wagen zum Einkaufen in das Innenstadt-Gewühl zu stürzen.“ Mit diesen Warnungen erreichte er, dass insgesamt neun Hektar, fast 15 Prozent des 61 Hektar großen Plangebiets, von Grundstücksbesitzern ohne Entschädigung zur Verfügung gestellt wurden.
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Bei dieser Neuerfindung Hannovers war Rücksicht auf historische Bezüge keine wesentliches Ziel. Ganz im Gegenteil herrschte in einer Jetzt-oderNie-Haltung (Zalewski 2006, 94) das Gefühl der einmaligen Gelegenheit, die verhasste, mittelalterlich geprägte Stadt endlich loszuwerden.20 Der Nikolaifriedhof am Steintor wurde mit einer Verkehrsschneise durchschlagen, der Marstall zertrennt, vor allem aber wurde das Leineufer Schauplatz einer radikalen Umgestaltung, die am Aegidientorplatz endete – und die auch im Nachhinein als katastrophal bezeichnet werden kann (Zalewski 2006, 11). Für den Bau einer teilweise 100 Meter breiten zentralen und repräsentativen, von modernen Bauten gesäumten „Prachtschneise“ wurde die historische Leineinsel vernichtet und ein heute noch problematischer Keil zwischen Alt- und Neustadt getrieben. Anfang und Ende dieses „Autoboulevard” (2006, 11) bildeten die beiden Verkehrsknoten Königsworther Platz und der Aegidientorplatz. Sie waren die wichtigsten Verkehrsknoten des neuen Verkehrskonzeptes und entsprechend wuchtig waren die Umbauten. Bei Umbau und Erweiterung des Aegidientorplatzes 1951-1952 musste Platz für den angestrebten Verkehrskreisel geschaffen um die enormen Verkehrsmassen zu bewältigen. Neben dem Individualverkehr kreuzten hier fünf Straßenbahnlinien, und selbst nach dem Ausbau war in den Hauptverkehrsstunden die polizeiliche Lenkung der Autoströme nötig – was sich mit den Jahren noch verschlimmerte – auch wegen zu vorsichtiger Prognosen. Für die Planungen in den 1950er Jahren setzte man ein Auto/Einwohner Verhältnis von 1/10 als zukunftsgerecht an. 1949 kam schließlich auf 36 Einwohner nur ein Fahrzeug. Doch diese Voraussage war schnell von der Realität überholt21 und so wurde keine Dekade nach dem Bau des Cityrings ein Verkehrsgutachten in Auftrag gegeben, das neben dem Massenabriss ganzer Häuserblöcke in der Süd-, Nord- und Oststadt auch den Bau einer Hochstraße über den Aegidientorkreisel empfahl (Ehlers 1991, 141). Die Abrisspläne wurden nicht verwirklicht, wohl aber der Bau der Hochstraße im Jahr 1969. Obwohl Pläne für eine Hochstraße schon länger existierten, wurde aus Zeitdruck und auch unter dem Eindruck einer sich veränderten Planungshaltung nur eine auf 25 Jahre angelegte provisorische Konstruktion gebaut. Die Überzeugungskraft der autogerechten Stadt und die Vision des kreuzungsfreien Verkehrs der 50er hatte offensichtlich schon gelitten.
20 | Sonntagsblatt Hannover „Zwischen gestern und morgen. Die großen Städte.“ vom 26.9.1948 21 | Anstatt einem Verhältnis von 1 Auto auf 10 Einwohner, wie die Prognosen in den 1950er Jahren annahmen, war das Verhältnis 1990 schon auf 1/2 gestiegen.
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Und doch blieb die Hochbrücke weitaus länger als vorgesehen in Betrieb. Zuletzt zeitweise gesperrt, prägte das Provisorium den Platz und wurde unter Anteilnahme der Bevölkerung 1998 abgerissen, die sich in öffentlichkeitswirksamen Aktionen auf der Hochstraße äußerte. Anders als etwa beim Tausendfüßlers in Düsseldorf gab es hier zwar keine Proteste gegen den Abriss und keine Bürgerinitiativen, die sich für den Erhalt der Aegidienhochstraße einsetzten, die Dokumente, die sich auf Portalen wie Youtube und Flickr finden zeugen aber doch von einer tief im Alltag verwurzelten, emotionalen Bindung der Hannoveraner an die zunächst ungeliebt erscheinende Hochstraße. In den Jahren 1997 bis 1999 wurde der Aegidientorplatz dann erneut vollständig umgestaltet. Die Stadtbahn erhielt einen Hochbahnsteig nach Plänen des Architekturbüros Wiege und endet jetzt, vom Thielenplatz kommend, schon am Anfang des Platzes. Der frei gewordene Platz unter der Brücke wurde für zusätzliche Abbiegespuren und für eine spezielle Busspur in Mittellage verwendet. Sicher war die besondere Sorgfalt, die verkehrstechnischen Belangen gegeben wurde, den weithin geteilten Befürchtungen geschuldet, ohne die Hochstraße würde der Verkehr zusammenbrechen. Eine Furcht, die sich so nicht erfüllte. So notierte der langjährige Vorsitzende der Gedenkstätte St. Aegidien, Hans Werner Dannowski zwei Jahre nach dem Abriss der Hochstraße zweifelnd: „Langsam wandere ich zum Neuen Rathaus hinüber. Ein Blick nach links: Die Hochstraße über den Aegi ist nun weg, auch die Nostalgie, mit der der Abriss geradezu gefeiert wurde. Man gewöhnt sich so sehr an das Vorhandene. Ich habe mir nie und nimmer vorstellen können, dass der Verkehr über den Aegi ohne die Hochstraße klappen könnte. Unendliche Staus geisterten durch meine Phantasie. Schon wieder einmal hat man sich getäuscht. Aber ob der Aegidientorplatz noch einmal wieder zu einem Platz werden und nicht nur Ampelkreuzung sein wird, die man so schnell wie möglich hinter sich lassen möchte?“ (Dannowski 2000, 21) Diese Zweifel, ob hier jemals wieder ein angenehmer Platzraum entstehen würde blieben bestehen – auch in der Neuplanung von 1997 war der Verkehr Gestaltungsgeber der Neuplanung, genau wie 1951, als Hillebrecht die Funktion des Aegidientorplatz vom bürgerlichen Stadtplatz zum wichtigen Verkehrsknoten änderte; mit zweifelhaftem Erfolg für die städtebaulichen Qualitäten des „Platzes“. Die Überformungen der städtebaulichen Planungen hatten am Aegidientor unterschiedlichste Vorstellungen von städtischen Platztypen entstehen lassen. Wie in einer Galerie in der Zeit
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vom klassizistischen Repräsentationsraum des 19. Jahrhunderts, über die kriegszerstörte Stadt zum grandiosen technischen Endpunkt des Autoboulevards von Hillebrecht und dem vorsichtigen bis hilflosen Versuch aus den Bruchstücken einen aktuellen Stadtraum zu entwickeln. Wie aus den Karten ersichtlich hat sich der vormalig klar definierte Platz durch seine Verkehrsfunktionen wie den Cityring, die Stadtbahn oder den Verkehrskreisel immer mehr in den Stadtkörper gedrängt und seine vormals klaren Grenzen immer weiter aufgelöst. Die einzelnen Räume liegen nun amorph im Stadtraum. Aus einem wichtigen Baudokument der Laves-Stadt und später der Stadt der Nachkriegsmoderne wurde ein mühsam befriedetes Monster. Doch gerade die Weitläufigkeit der Stadträume der Nachkriegsmoderne wurden bei der Erstellung des Leitbilds Hannover 2020+ (Landeshauptstadt Hannover 2011) gewürdigt, aber auch als „unsinnlich“ kritisiert.22 Dabei können auch vornehmlich nach technischen Gesichtspunkten geplante Infrastrukturen sinnliche Qualitäten entwickeln, wie das Beispiel des Highline Parks23 in New York gezeigt hat. Betrachtet man die zahlreichen Kommentare, privaten Filmclips und Fotografien in Presse und Sozialen Medien in denen die Hochstraße gefeiert oder verabschiedet wurde24, kommt hier eine Sinnlichkeit zum Ausdruck, die Hannovers Moderne dringend bräuchte. Hannover ist eine Stadt, die unter Hillebrecht so gründlich mit ihrem städtebaulichen Erbe aufgeräumt, dass sie vermutlich auch deswegen als Inbegriff der „langweiligen Großstadt“ gilt. Assoziationen zu Hannover sind meist technischer Natur oder neutral (Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung und aserto 2010). Das „Wunder von Hannover“ hat den Weg zurück in den Prunk der Residenzstadt von Laves verstellt, auch wenn man heute versucht, dort wieder anzuknüpfen. Leider ist auch das autogerechte Ideal heute so gründlich diskreditiert, dass es kaum realistisch erscheint, hieraus ein Leit22 | So sprach die Landschaftsarchitektin Undine Gieseke auf einer Veranstaltung zum Leitbild 2020 von: „Als Zeugnis der Nachkriegsmoderne spiegeln die Flächen zwar eine hohe Funktionalität, aber die sinnliche Qualität ist ausgeblendet“ 23 | Die Highline ist ein 2,3 km langer linearer Park durch Manhattan. Auf den Gleisen einer aufgeständerten Güterbahn durchläuft der Park den Meatpacking District, Chelsea und West Side. Die vorsichtige Umgestaltung mit Gräsern und Bewahrung historischer Elemente, macht den Park zum Publikumserfolg mit 5 Mio. Besuchern jährlich (Koch, Kohler, 2014), vgl.: Beitrag Petrow. 24 | Siehe https://www.youtube.com/watch?v=jZ3r2PLasPc oder https://www.youtube.com/ watch?v=EkuLG72iuOQ
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bild für die Zukunft zu entwickeln. Ein Weg, sinnvoll damit umzugehen, wäre aber, das Erbe der Nachkriegsmoderne und deren besondere Raumatmosphären und –situationen ins Stadtimage zu integrieren. Hannover ist zwar nicht Brasilia, aber ebenfalls ein stadtgewordenes Ideal der Moderne. „Hannovers Nachkriegsarchitektur hat eine deutschlandweit wohl einmalige Qualität. Kaum irgendwo sonst wurde mit derartiger Konsequenz eine Stadt neu und mit so grundsätzlichen Überlegungen aufgebaut, wie Stadtbaurat Rudolf Hillebrecht das ab 1945 in Hannover getan hat. Die Fachwelt schwärmt über die klaren Formen und die Funktionalität der Architektur in Hannover.“ (von Meding 2008) Anders als bei der Paulinenhochstraße konnte die Aegidienhochstraße ohne Probleme entfernt werden. Ohne die Aegidienhochstraße aber hat Hannover eine Erinnerung weniger an ein Leitbild, welches die Stadtgestalt durch die Straßen und Platzflächen trotzdem weiter prägt. Eine Baudokument wie die Hochstraße hätte dies sichtbarer, verhandelbarer gelassen. Denkmalschutz für ein Verkehrsbauwerk wäre hier mehr als sonst Zukunftsgestaltung gewesen. Umso interessanter ist deswegen die immer wieder aufflackernde Diskussion um Abriss oder Erhalt der letzten dieser Hochstraßen des Cityring: Der Hochstraße am Raschplatz hinterm Bahnhof.25
H ochstrassen – D enkmale der M oderne ? Insgesamt zeigt sich in der Diskussion um Hochstraßen und die Frage ihrer Erhaltungswürdigkeit, dass diese in der Regel als Infrastrukturelemente ohne Kontext wahrgenommen werden. Als Beispiel hierfür mag der wohl bekannteste (und umstrittenste) Fall vom Abriss einer deutschen Hochstraße gelten: Der Düsseldorfer Tausendfüßler war seit 1993 denkmalgeschützt, und in der Würdigung dieses Baudenkmals wurde die Einbindung ins städtebauliche Umfeld als wesentlichen Teil des Denkmalwerts erwähnt, allerdings war nur die Hochstraße selbst als technisches Denkmal geschützt. Dadurch verengte sich die Diskussion auf den Abriss der Hochstraße und die damit verbundenen technischen und finanziellen Fragen. Der Tausendfüßler war aber Teil des städtebaulichen Ensembles, das in seiner Gesamtheit ein herausragendes Beispiel für den Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg 25 | siehe Hannoversche Allgemeine Zeitung „ Ausbau der D-Linie – Raschplatz-Hochstraße vor dem Abriss“, 30.8.2012 oder „Raschplatz-Hochstraße – Brücke wird zum Nadelöhr“, 3.5.2014.
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war. Vor diesem Hintergrund war die Hochstraße ein benennbares Symbol des Nachkriegsstädtebaus. Durch die Unterschutzstellung als technisches Denkmal konnte sie aber nicht als solches diskutiert werden. Weder in Stuttgart noch in Hannover spielte der Denkmalschutz eine Rolle bei der Diskussion um Abriss oder Erhalt. Bei der Paulinenhochstraße waren es Kosten und eine kaum auflösbare Verflechtung mit dem baulichen Umfeld, die einen gewünschten Abriss stoppten, während im Fall der Aegidienhochstraße der Bau als Provisorium gute Gründe für einen Abriss lieferten. Gerade an der Aegidienhochstraße konnte aber gezeigt werden, dass hier ein Erhalt und Umwidmung zum Hochpark durchaus bedenkenswert gewesen wäre – mit einem höheren Nutzen für die Gesamtstadt. Denn hier – wie auch in vielen anderen Fällen – ist die städtebauliche Situation im Zuge des Einbaus der Hochstraßen so gravierend verändert worden, dass ein Zurück nicht möglich ist und eine neue Gestalt selten gelingt. Vom Bauwerk bleibt gewissermaßen ein Schatten zurück, in Form übergroßer Räume, obskurer Raumformen und ohne bauliches Zeichen, dass diese Struktur verständlich macht oder an dem sich eine Diskussion über Aneignung und Umnutzung festmachen könnte. Solche Überlegungen spielen aber nicht nur in den beiden hier ausführlich diskutierten Fällen kaum eine Rolle in der politischen Diskussion, wie in Hannover der Fall der zweiten Hochstraße, der Raschplatzhochstraße, zeigt. Auch hier waren ausschließlich die unverhältnismäßig hohen Kosten für den Abriss Argument für den Erhalt. Eine symbolisch-gestalterische Akzeptanz bleibt aus – Gestaltungsvorschläge laufen auf Verstecken oder „Anhübschen“ hinaus, von einem progressiv-integrierenden Ansatz ist nichts zu spüren. Für Hannover könnte die Raschplatzhochstraße als letzte ihrer Art in Hannover auch Ausgangspunkt einer Diskussion um die Nachkriegsmoderne und ihre Stadträume werden mit dem Ziel einer positiven Integration dieser ungeliebten Epoche in das Bild Hannovers. Hierfür stellt neben der schon erwähnten New Yorker Highline der Elevado Presidente Costa e Silva, eine innerstädtische Hochstraße in São Paulo, ein interessantes Beispiel bereit.26 Dabei hätten diese Bauwerke in manchen Fällen ein hohes Potenzial für gestalterische Integration auch durch eine funktionelle Umwidmung 26 | Die Express-Hochstraße, bekannt als Minhocão (Großer Wurm), schneidet die Stadt auf 5 Meter Höhe und nimmt unter der Woche einen Großteil des Innenstadtverkehrs auf, wird aber sonntags für den Autoverkehr gesperrt und dient einer Vielzahl von Aktivitäten wie Joggen, Spazierengehen oder Picknicks Raum und zelebriert die Ausblicke auf die moderne Hochhausstadt.
Hochstraßen in Deutschland
zum Beispiel als linearer Park oder autofreie Fußgängerpromenade. Dies ist besonders interessant, da Subkultur und progressive Hochkultur die Verkehrsräume um und vor allem unter Hochstraßen und Brücken als Aneignungsorte entdecken, wie das Beispiel Stuttgart zeigt. Dies deutet darauf hin, dass solche Räume den Geschmackspräferenzen dieser Gruppen entsprechen und sich einer ästhetisch aufgeladenen Wahrnehmung nicht entziehen (Harnack und Kohler 2011), auch weil sie sich einer kommerziellen Nutzung widersetzen. Damit werden diese Verkehrs- und Resträume auch für andere Gruppen attraktiv. Bei der Paulinenbrücke zeigt sich auch eine ganz überraschende Aktualität der Hochbrücke als nach wie vor unverzichtbares Element der großstädtischen Verkehrsführung. Sie funktioniert schlicht so gut und kommt auch mit den seit ihrer Entstehung erheblich veränderten Verkehrsbedingungen klar, dass der Abriss einfach keine akzeptable Lösung ist. Unabhängig von den Argumenten, die für oder gegen den Erhalt von Hochstraßen sprechen können, wird aus den Beispielen aber deutlich, dass die Probleme, die sie bereiten und die die Stadt der Nachkriegsjahre oft ungeliebt erscheinen lassen, vor allem im Gesamtsystem ihrer Verkehrsräume besteht und die Hochstraßen nur die wenigen sichtbaren Zeichen umfassender und durchaus problematischer Verkehrsplanungen sind. Dies zeigte sich exemplarisch in Hannover, wo der Abriss der Aegidien-Hochstraße die grundsätzlichen Probleme der von Hillebrecht eingeschlagenen Verkehrsräume nicht zum Verschwinden gebracht haben. Die gesellschaftlichen Veränderungen, die nötig wären, um die urbane Mobilität so zu verändern, dass die Hochstraßen nicht mehr gebraucht werden, sind ungleich weitreichender als die Probleme, die beim Abbruch von Hochstraßen verhandelt werden. Auch ohne die Hochstraßen besteht die autogerechte Stadt weiterhin in den Straßenräumen und Verkehrsführungen – allerdings wäre sie nicht mehr erkennbar und ein sichtbares Bauwerk, an dem sich Diskussionen entzünden könnten, fehlt.
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Maren Harnack und Martin Kohler
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Transformation mit den Mitteln der Kunst Die Ausstellung Emscherkunst als Zukunftswerkstatt für das neue Emschertal Jochen Stemplewski, Simone Timmerhaus, Lisa Maria Weber Die emscherkunst begleitet als Triennale seit dem Kulturhauptstadtjahr Europas Ruhr.2010 eines der weltweit grössten Flussumbauprojekte, den Umbau der Emscher im mittleren Ruhrgebiet. Die 81 Kilometer lange Emscher im Herzen des Emschertals wird in einem Generationenprojekt bis 2020 von einem offenen Abwasserkanal zu einem naturnahen Fluss umgebaut. Eine einzigartige neue Flusslandschaft entsteht, zugleich ist es eines der wichtigsten Projekte des Strukturwandels im Ruhrgebiet.
D ie E mscher – ein sich wandelnder Fluss Noch heute wird im kollektiven Bewusstsein der Bundesrepublik das Ruhrgebiet mit rauchenden Schornsteinen, Zechen und Fabriken und einem dichten Verkehrsnetz gleichgesetzt. In dieses Bild der öffentlichen Wahrnehmung passt es, dass mitten durch einen der am dichtesten besiedelten Industrie- und Ballungsräume Europas die Emscher fließt. Bis heute kommt sie, weitgehend unbemerkt, ihrer Funktion nach, das Abwasser von ca. 2,5 Mio. Menschen und der Industrie zusammen mit dem Regen- und Bachwasser zügig in den Rhein fortzuleiten. Sie fließt hinter Stacheldraht und Verbotsschildern, möglichst unauffällig und häufig versteckt hinter Hecken. Trotzdem war und ist die Emscher mit ihren Nebenläufen zwischen den Kirchtürmen und Fußballstadien eines der wenigen verbindenden Elemente des Reviers. Die Funktion einer lebendigen Entwicklungsachse konnte die alte „schwatte“ (für „schwarze“) Emscher nicht übernehmen, zu sehr war sie ein Meideraum für
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die Menschen der Region. Mit dem Jahrhundertprojekt „Emscher-Umbau“ ändert sich dieser Zustand: Schritt für Schritt wird die Vision einer neuen blauen Emscher in der grünen Mitte der Metropole Ruhr zur Realität. Welche infrastrukturelle Rolle kann nun eine solche „neue“, d.h. naturnah umgebaute Emscher für die Zukunftsfähigkeit der Region spielen? An den Ufern der Emscher, zwischen Dortmund und Dinslaken, ist seit Jahrhunderten der Wandel zu Hause, er begleitet stets die Emscher und wird durch die Umgestaltung ihres prägenden Gewässersystems aktiv forciert. Immer war die Emscher eine Infrastruktur für das Ruhrgebiet, ihre Ausprägungen wandelten sich in der Vergangenheit aber stetig: Die Region hat ihr Gesicht in den letzten Jahrhunderten in geradezu radikaler Weise mehrfach dramatisch verändert und ist gerade dabei, dies erneut zu tun. Noch gilt der von der Emscher geprägte Teil des Ruhrgebietes als prototypisch für den „Ruhrpott“ mit seinen Spätschäden aus schwerindustriellen Zeiten. Große Gebiete haben erhebliche strukturelle Probleme. Sozialdaten wie das Bildungsniveau, die Altersstruktur oder der Anteil der Erwerbslosen belegen eine Schieflage, die sich möglicherweise noch zuspitzen wird. Insbesondere bezüglich der immer höher werdenden Altersstruktur, des Migrationsanteils, aber auch des Bevölkerungsrückgangs nimmt das Ruhrgebiet eine „Vorreiterrolle“ innerhalb Deutschlands ein. Das Emschertal hat also einerseits den Strukturwandel besonders nötig, gleichzeitig kann es auch zu einem Modell für andere Regionen werden. Eines der größten „Renaturierungsprojekte“ in Europa zeigt damit auf, wie die Modernisierung der Wasserwirtschaft und der Umbau eines Flusssystems zu einem ökologisch intakten, attraktiven Erlebnisraum regionalgesellschaftliche Veränderungs- und Lernprozesse anstoßen können, die das Potenzial der Region nachhaltig erschließen.
D ie drei G esichter der E mscher Bereits die historischen Veränderungen des Emscherraums lassen die Wechselwirkung zwischen Gewässerumgestaltung und Strukturwandel anschaulich belegen. Bis zu Beginn der Industrialisierung war die Emscher ein eher ruhiger, stark mäandrierender Flachlandfluss in einer ländlich geprägten Region. Überschwemmungen gehörten bereits damals zum Alltag, Straßenbezeichnungen wie „Emscherbruch“ zeugen noch heute davon, dass die Emscher zum Teil in einem eher sumpfigen Gebiet lag. Mit dem Beginn des Bergbaus und der Montanindustrie in der Mitte des 19. Jahrhunderts verlor
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die Region ihren ländlichen Charakter. Die Bevölkerungszahl verzehnfachte sich in kürzester Zeit; immer mehr Zechen und Industriebetriebe siedelten sich an und leiteten ihre Abwässer in die Emscher ein. Gleichzeitig verschlechterte sich der Abfluss durch großflächige Bergsenkungen. Der Fluss begann, tief liegende Geländebereiche auf Dauer zu überfluten; durch die faulenden Abwässer in den Senken verbreiteten sich Seuchen (siehe Abb. 1). Abbildung 1: Die Emscher um 1900
Quelle: Archiv Emschergenossenschaft
Für diese drängenden Probleme musste eine schnelle Lösung gefunden werden, die Regulierung der Emscher war die Antwort. Ein Projekt, das – wie vorausgegangene und fehlgeschlagene Versuche zeigten - nur in gemeinsamen Anstrengungen gelingen konnte. 1899 wurde von den Anrainerstädten, dem Bergbau und der Montanindustrie die Emschergenossenschaft gegründet, die seitdem das gesamte Flusseinzugsgebiet der Emscher von rund 870 Quadratkilometern bewirtschaftet. Ab 1904 wurde die Emscher erstmalig grundsätzlich umgebaut: Sie wurde begradigt, vertieft und eingedeicht, von ursprünglich 109 Kilometern auf 81 Kilometer verkürzt. Selbst die Mündung der Emscher in den Rhein wurde bergbaubedingt verlegt. Auch die Seitenläufe wurden in die Umbaumaßnahmen einbezogen und in begradigte, mit Sohlschalen aus Beton ausgekleidete Kanäle verwandelt (siehe Abb. 2). Ein System von insgesamt rund 350 Kilometern sogenannten offenen Schmutzwasserläufen – im Volksmund „Köttelbecken“ genannt – entstand
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in der Kernzone des Reviers. Ihre Aufgabe war es über viele Jahrzehnte, Abwässer und Niederschläge der Region offen, günstig und schnell abzutransportieren. Eine unterirdische Kanalisation konnte nicht gebaut werden, denn durch die häufigen Bergsenkungen wären unterirdische Rohre immer wieder zerborsten. Das Ergebnis war ein System offener Abwasserkanäle, einerseits sehr effizient und gut zu bewirtschaften, andererseits ein Meideraum für Mensch und Natur. Der ehemals ländliche Fluss wurde von Menschenhand zu einer technischen Infrastruktur umfunktioniert, die erst den wirtschaftlichen Aufschwung der Industrieregion ermöglichte. Abbildung 2: Die Emscher als Abwasserfluss nach der Begradigung
Quelle: Archiv Emschergenossenschaft
Das Umfeld der Emscher entwickelte sich im Laufe der Zeit an vielen Stellen zu einer „verbotenen“ Zone: Zechen, Fabriken und Kohlehalden sorgten dafür, dass die Emscher nur an wenigen Stellen für die Menschen zugänglich war. Und dort, wo sich die Menschen in direkter Nähe zur Emscher niederließen, waren es immer eher die ärmeren Bevölkerungsschichten, denn wer möchte schon an einem offenen Abwasserkanal leben? Aber nur durch dieses Abwassersystem konnte sich das Ruhrgebiet zu dem entwickeln, was es lange Zeit war: eines der größten Ballungsräume und industrielle Kernzone Europas.
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Abbildung 3: Die heutige Emscher in Dortmund
Quelle: Archiv Emschergenossenschaft
Fast ein Jahrhundert lang prägten die technisch ausgebaute Emscher und ihre schnurgeraden Nebenläufe das Gesicht der Region. Mit der Nordwanderung des Bergbaus erhielt die Emscher die einmalige Chance, ihr Gesicht erneut zu wandeln. Seit Anfang der 90er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts waren keine gravierenden Bergsenkungen mehr zu erwarten. Was in ganz Deutschland Normalität ist, konnte nun auch im Ruhrgebiet umgesetzt werden: Der Bau einer unterirdischen Abwasserinfrastruktur, Voraussetzung, um einer ganzen Flusslandschaft neues Leben zurückzugeben. Der erneute Umbau des Emschersystems ist ein Projekt, dessen Dimensionen – auch im internationalen Maßstab – einzigartig sind. Vom Startschuss 1992 bis zur vollständigen Umgestaltung der Wasserläufe werden rund drei Jahrzehnte vergehen. Das Investitionsvolumen beträgt rund 4,5 Milliarden Euro, von denen gegenwärtig rund 200 Millionen Euro pro Jahr aufgewendet werden – d. h. über 500.000 Euro an jedem Arbeitstag. Inzwischen sind mehr als drei Milliarden Euro investiert, neue, große Kläranlagen nach dem Stand der Technik errichtet, über 275 Kilometer moderne Abwasserkanäle (von insgesamt 400 Kilometern) gebaut, rund 125 Kilometer (von insgesamt 350 Kilometern) Wasserläufe sind aktuell (Stand: Anfang 2015) umgestaltet (siehe Abb. 3). Das größte Einzelprojekt ist die Verlegung des zentralen Abwasserkanals Emscher zwischen Dortmund und Dinslaken mit einer geplanten Länge von
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51 Kilometern, für den seit September 2012 insgesamt 15.000 Kanalrohre unterirdisch vorgepresst und das Abwasser zum Teil aus Tiefenlagen von bis zu 40 Metern gehoben wird. 2017 soll der Bau der Abwasserkanäle abgeschlossen werden, nur einige Jahre später dann die gesamte Gewässerumgestaltung mit der neuen „blauen“ Emscher der Zukunft. Die infrastrukturelle Funktion des Flusses Emscher wandelt sich damit ein weiteres Mal und so auch die Infrastruktur der Landschaft einer gesamten Region. Die technische Seite, die stoffliche Entsorgungsleistung der Emscher, wird unter die Erde verbannt, sodass der Fluss seine gesellschaftlich verbindende, soziale Funktion wieder einnehmen kann.
U mgestaltung im D ialog Die Emscherzone wird durch eine Vielfalt baulicher Strukturen und Nutzungen geprägt. Traditionelle Schwerindustrie und junge Unternehmen des Dienstleistungssektors, eine dichte Verkehrsinfrastruktur, Siedlungen und Freizeitangebote konkurrieren bei der Raumnutzung mit Wasserwirtschaft und Ökologie. Selbst dort, wo auf den ersten Blick Freiraum vorhanden ist, verlaufen zumeist unterirdische oder oberirdische Versorgungsleitungen. Dementsprechend viele Akteure müssen beim Emscher-Umbau an einen Tisch gebracht werden. Die Emschergenossenschaft setzt dabei auf den Dialog und die Zusammenarbeit aller Beteiligten. So wurde mit dem 2006 verabschiedeten Masterplan Emscher-Zukunft ein mit der Region abgestimmtes, zugleich flexibles und anpassungsfähiges Planwerk geschaffen. Gleichwohl ist der Emscher-Umbau mehr als ein Landschaftsbauprojekt, welches gemeinsam von Planern und Ingenieuren umgesetzt wird. Der Emscher-Umbau steht stellvertretend für den Versuch des Ruhrgebietes, nachdem es seine alte Identität als wohlhabender Kohle- und Stahlstandort abgelegt hat, die in der Folge eingetretene heute vorherrschende Wahrnehmung als perspektiv- und innovationslose Region abzuschütteln. Mit den infrastrukturellen Veränderungen entstehen neue Möglichkeiten zur Gestaltung eines attraktiven Freizeitraumes im sich wandelnden Emschertal. Der Emscher-Umbau hat das Potenzial, zu einem neuen identitätsstiftenden Motor des Wandels zu werden. Doch ein Umbau, der nur hinter den vermeintlich verschlossenen Türen der Fachleute geplant und umgesetzt wird, kann dies nicht leisten. Daher hat die Emschergenossenschaft schon frühzeitig begonnen, in einen offenen und konstruktiven Dialog mit der Öffentlichkeit zu treten. Um diesen
Transformation mit den Mitteln der Kunst
Dialog zu starten und zu gestalten, nutzte der Wasserverband von Beginn an vielfältige Wege. In Bürgersprechstunden wird regelmäßig der direkte Kontakt zu den Menschen gesucht. Im Rahmen von Großevents, wie dem „Tag des offenen Kanals“ oder der EXTRASCHICHT (lange Nacht der Industriekultur), ermöglicht die Emschergenossenschaft interessierten Bürgerinnen und Bürgern zudem den Einblick hinter die Kulissen und veranschaulicht die technischen Aspekte des Großprojektes Emscher-Umbau. Zudem lag es nahe, dass sich die Emschergenossenschaft schon sehr frühzeitig bei der Bewerbung des Ruhrgebietes um den Titel der Europäischen Kulturhauptstadt mit eigenen Projektideen einbrachte. Denn so wie bereits die Internationale Bauausstellung IBA Emscherpark die Bedeutung der „Industriekathedralen“ für den Strukturwandel vermittelte, so sind es heute Kulturereignisse, wie die Kulturhauptstadt Europas RUHR.2010, die Impulse für eine neue Identitätsfindung der Bevölkerung setzen können (vgl. Hoffmanns 2013).
N eue I nfrastrukturen für das E mschertal Die Kulturhauptstadt 2010 hat gezeigt, wie wichtig solche Meilensteine sind, hinter denen sich eine ganze Region versammeln kann, die das Heimat- und Wir-Gefühl der Menschen stärken. Denn wenn sich eine Region so grundsätzlich wandelt wie das Land an den Ufern der Emscher, so muss die Identifikation der Menschen mit ihrer Heimat dabei Schritt halten. Hier sind Kunst und Kultur als Mittler gefragt, als soziale Infrastruktur außerhalb institutionell begrenzter Räume, als Freizeitgestalter für jedermann, als außerschulische Bildungsorte. In einer von Monumenten der Industriekultur geprägten Region spielt dabei das Verhältnis von Kunst und Technik eine besondere Rolle. Dies betrifft auch die Umgestaltung der Emscher als technisch geprägtes Projekt. Kunst hat die Möglichkeit, diesen Wandlungsprozess zu begleiten und kritisch zu hinterfragen, d.h. als Transformator zu wirken. Eine Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger an konstruktivem Dialog und gestalterischer Arbeit ist dabei ausdrücklich erwünscht. Das damalige Motto der Kulturhauptstadt Europas Ruhr.2010 „Wandel durch Kultur – Kultur durch Wandel“ – wo konnte es besser umgesetzt werden als im mittleren Ruhrgebiet? So war es auch nur folgerichtig, dass Florian Matzner als Kurator der Emscherkunst genau diese Aufgabenstellungen für seine erste Auflage der Ausstellung annahm. Die Ausstellung Emscherkunst setzt sich seitdem mit
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der zukünftigen Gestaltung der Region auseinander – zeitgenössische Kunst wird dabei zum Mittler eines tiefgreifenden Transformationsprozesses. Als Triennale im dreijährigen Rhythmus liefert die Emscherkunst in Stadt und Natur künstlerische Impulse zur Zukunftsgestaltung der Region mit einer Vielzahl möglicher Rezeptionsansätze und begleitet so die Identitätssuche einer sich neu findenden Städteregion. Hierin liegt der Vorteil und die Macht der Kunst gegenüber anderer Disziplinen. Künstler setzen sich mit gesellschaftlichen Problemen oft schneller auseinander als Wissenschaftler und Politiker, weil ihnen mehr Freiheit zusteht, ihre Gedanken und Ideen ganz unmittelbar zu äußern. Die Rezeption ihrer Kunstwerke setzt keine Grenzen, ihre Sprache ist multinational und interdisziplinär. Anders als die meisten Kunstausstellungen findet die Emscherkunst nicht hinter Museumstüren statt, sondern im öffentlichen Raum, sie ist barriereund schwellenarm und zudem kostenfrei für jeden zugänglich. Dadurch erschließt die Ausstellung so auch ein Publikum, das gemeinhin durch museale white cubes verschreckt wird. Der Ortswechsel der Kunst aus dem Museum heraus in den öffentlichen Raum bedeutet immer auch einen Publikumswechsel, der wiederum einen Rezeptionswechsel mit sich zieht (vgl. Matzner 2006: 45f.). Die Museumslandschaft als soziale Infrastruktur ist für die Bürgerinnen und Bürger gemacht. Doch nur ein sehr geringer Prozentsatz der Deutschen nutzt dieses Angebot kultureller Einrichtungen und nimmt somit überhaupt am kulturellen Diskurs teil. Oft hält Schwellenangst und ein eher elitäres Image Besucher von einem Museumsbesuch ab. „Ein Museum für Gegenwartskunst ist ein klar definierter, hermetisch beschaffener Raum, der bewusst zum Betrachten von Kunst aufgesucht wird“ (Oberhollenzer 2015: 144). Um die Erfahrungen mit Kunst auch museumsferneren Bevölkerungsgruppen zu ermöglichen, „ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Kunst immer wieder diesen vorgegebenen institutionalisierten Rahmen verlässt und sich zu den Menschen hinausbegibt – etwa in den öffentlichen Raum. Der Ort des Kunstgeschehens ist dann der urbane oder auch der ländliche Raum und hier gezeigte Kunst hat den Anspruch, über das spezialisierte Publikum der Kunstinstitutionen hinaus breitere Rezipientenkreise zu erreichen. Das Schöne daran ist, dass jeder zufällige Passant zum Kunstbetrachter wird – er wird aufgefordert, sich eine Meinung über die ausgestellten Werke zu bilden. So kann Kunst Teil unserer Lebenspraxis, Teil unseres alltäglichen Lebens werden“ (Oberhollenzer 2015: 146).
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Da die Konzepte für die Kunstwerke der Emscherkunst von den Künstlern eigens für die einzelnen Orte entlang der Emscher erstellt werden und sich auch direkt auf diese beziehen, bedeutet eine Beschäftigung mit den Kunstwerken auch eine Beschäftigung mit der eigenen Umwelt. Sie kann einen längeren Prozess der Auseinandersetzung mit der Transformation des individuellen Lebensraumes bedeuten. Der öffentliche Raum, das reale Leben machen Platz für künstlerische Gedanken und Impulse, die aus ihnen heraus geschaffen und an sie zurückgegeben werden – ein Modell, dass alle Menschen integriert und demokratisch alle Rezeptionen und Meinungen respektiert. Die Emscherkunst wird in erster Linie für die Menschen aus dem Ruhrgebiet gemacht. Diese können ihr sowohl geplant als auch ganz zufällig begegnen. Viele der Emscherkunst-Besucher stolpern buchstäblich über die einzelnen Kunstwerke im öffentlichen Raum. Im Gegensatz zur musealen Kunst lässt Kunst im öffentlichen Raum die Bereiche Privatheit und Öffentlichkeit miteinander verschmelzen, sie findet dort statt, wo das Leben stattfindet. Kunst im öffentlichen Raum lässt die Menschen teilhaben und greift in ihre Lebenswelten ein. Sie schafft Irritationen und Impulse für eine veränderte Wahrnehmung der Umgebung. Sie verschiebt Gewohntes und hinterfragt Alltägliches. Sie fordert die Menschen zum Dialog auf und provoziert Antworten. Sie eröffnet ungewohnte Perspektiven – in die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Kunst verbindet die Menschen, schafft Dialoge und intensiviert den Charakter der sozialen Infrastruktur im Vergleich mit musealen Räumen. In der Emscherregion beteiligt Kunst im öffentlichen Raum die Menschen an dem Wandel, der sich um sie herum vollzieht, aber so schwer nur greifbar werden kann. „Durch Kunst im öffentlichen Raum können […] kommunikative Prozesse über die aktuelle Kultur oder Befindlichkeiten eines Stadtraums in Gang gesetzt werden. Kunst hilft, ein Bewusstsein zu schaffen für den Kulturraum, in dem wir leben (Oberhollenzer 2015: 146.). Für viele Menschen bedeutet die Konfrontation mit Kunst im öffentlichen Raum den ersten Kontakt mit Kunst. Diese herausfordernde Situation bedarf einer sensiblen Vermittlung. Bei der Emscherkunst werden daher an verschiedenen Kunstwerken geschulte Kunstvermittler eingesetzt, die sich den Fragen und Anregungen der Besucher annehmen (siehe Abb. 4).
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Abbildung 4: Studentische Kunstvermittlung bei der Emscherkunst
Quelle: Roman Mensing/Emscherkunst
Hier entsteht während der Ausstellung durch die Zusammenarbeit mit Hochschulen ein beiderseitiger Nutzen. Die Besucher finden ein Gegenüber und die Studierenden des Instituts für Kunstpädagogik können Praxiserfahrung sammeln, indem sie ihre eigenen Vermittlungsansätze, die sie für die Kunstwerke der Ausstellung in Seminaren zuvor selbst erarbeitet haben, innerhalb realer Strukturen anwenden. Feinfühlige Vermittlung ermöglicht den Zugang zur Kunst und kann Schwellenangst überwinden: „Kunstvermittlung bedeutet eine sensible Heranführung der Menschen an die Kunst, ihnen auf Augenhöhe zu begegnen, Kunstgespräche zu führen, Workshops anzubieten, verständliche Informationen bereitzuhalten. Dabei soll es nicht um Belehrung gehen, sondern um Hilfestellungen, die Augen für das Neue zu öffnen, Barrieren zu überwinden und Vorurteile abzubauen“ (Oberhollenzer 2015: 34). Bei der Emscherkunst stehen die Werke der bildenden Künstler nicht unkommentiert im Stadt- oder Landschaftsraum, sondern produzieren Orte des Austausches und der Beschäftigung. Ein Rahmenprogramm aus Führungen, Künstlergesprächen oder anderen thematischen Veranstaltungen im Kontext der Kunstwerke lädt die Menschen ein, sich aktiv einzubringen, Fragen zu stellen sowie Antworten zu geben.
Transformation mit den Mitteln der Kunst
Abbildung 5: Ai Weiwei-Projekt „Aus der Aufklärung“
Quelle: Roman Mensing/Emscherkunst
In einer sich so tiefgreifend wandelnden Region wie dem Emschergebiet fällt es schwer, die alten Bilder loszulassen und neue zu formen. Dabei spielt Erinnerung eine große Rolle. Individuelle Geschichten sind oft mit Orten verknüpft, mit Routinen oder außergewöhnlichen Ereignissen. Heterogenität ist urbane Realität. Geschichte ist individuell. Die Menschen gestalten den Raum und Emscherkunst macht die Menschen zu Mitwirkenden. Die Rezeption von Kunst im öffentlichen Raum ist nicht vorhersehbar, aber, anders als im Museum, kann man auch nicht falsch mit ihr umgehen. Während museale Kunst oft keine physische Nähe zum Publikum zulässt und auch keine direkte ungehemmte Kommunikation, so ist Kunst im öffentlichen Raum greifbar, eben Teil des öffentlichen Gutes. An dem Umgang mit den Kunstwerken lässt sich die Akzeptanz und Rezeption ablesen (vgl. Schnurr 2014: 35ff.). Mit der Distanz schwindet auch die Hemmschwelle und nicht selten werden die Kunstwerke für die Menschen zu neuen Orientierungspunkten oder zu Landmarken, die die Menschen mit neuem Stolz für ihre Stadt und ihre Region füllen. Über die Zeit verschmelzen die permanenten Werke mit ihrer Umgebung und den Menschen, sie werden Teil des Ortes (siehe Abb. 6). Die temporären Werke bleiben in der Erinnerung der Menschen bestehen und
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verbinden sie mit den jeweiligen Orten, machen gleichzeitig auch Raum für Neues, das auf den Erinnerungen aufbauen kann. Der Ausstellungsraum der Emscherkunst wandert von Ausgabe zu Ausgabe entlang der Emscher, sodass zum Ende des Emscher-Umbaus das gesamte Emschertal von der Quelle in Holzwickede bis zur Mündung in den Rhein in Dinslaken durch die Kunstwerke erschlossen sein wird – eine kulturelle und soziale Infrastruktur entsteht. Gleichzeitig werden mit jeder Auflage der Emscherkunst aktuelle Themen vom Kurator gesetzt. 2013 waren es Ökologie und Klimawandel sowie soziale Spannungsfelder. Hierbei handelt es sich keinesfalls um eine grundsätzlich neue Herangehensweise. Dadurch aber, dass sich die Künstler gleichzeitig auf ortsspezifische Gegebenheiten einlassen und reagieren, entstehen neue überzeugende Formen des Umgangs mit diesen Themen. Der Künstler bzw. das Kunstwerk wirkt so als Mediator zwischen Landschaft, Infrastrukturen und Mensch, gleichzeitig wird Kunst zu einem Katalysator für aktuelle Entwicklungen.
A us R äumen werden O rte Die Kunstwerke der Emscherkunst in Stadt und Natur schaffen Dialoge, die ohne sie in der Region nicht entstehen würden. Sie sind mit ihrer unterschiedlichen Rezeption Anknüpfungspunkt für ganz unterschiedliche Menschen und Diskussionen. Sie schaffen Identifikation und Heimat; ein Wir-Gefühl, das in der Metropole Ruhr trotz vielseitiger Bestrebungen noch nicht verinnerlicht ist. Erst wenn sich die Region als Metropole begreift und ihre Potenziale erkennt, kann sie ihre Stärken ausbauen. Dabei ist es nötig, dass alle an einem Strang ziehen und sich auch über die Stadtgrenzen hinaus orientieren und interessieren, regionale Infrastrukturen schaffen. Infrastrukturprojekte wie der Emscher-Umbau oder die Emscherkunst unterstützen diesen Prozess. Die größtenteils mit dem Fahrrad besuchte Kunstausstellung öffnet den Blick in die gesamte Region und lässt die Bürgerinnen und Bürger teilhaben an ihrer Entwicklung. Sie schafft neue Radwege und lädt die Menschen ein, die ehemaligen Meideräume entlang der Emscher neu zu erfahren und zu ihren Orten zu machen. Die Bürgerinnen und Bürger als wichtiges Zielpublikum der Ausstellung werden aufgefordert, Erinnerungen zu reaktivieren und sich darüber auszutauschen. Durch die Kunstwerke an ungewöhnlichen Orten im Revier werden neue Anlässe zur Auseinandersetzung mit diesen Orten geschaffen: Was war hier früher, wie hat sich der Ort verändert?
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Darüber hinaus lenken die Kunstwerke den Blick auf die neue Realität des Emschertals: Vieles hat sich in den letzten Jahren verändert, neue Freizeitund Erholungsorte wurden im Rahmen des Emscher-Umbaus geschaffen. Die Emscherkunst fordert ihre Besucher dazu auf, diese neuen Orte zu entdecken und weiterzutragen. Die Kunst im öffentlichen Raum sorgt für Irritationen im Alltag der Menschen, welche dazu führen, dass alte Seh- und Wahrnehmungsmuster aufgebrochen werden. Die künstlerischen Arbeiten fordern zur Beschäftigung mit der eigenen Lebenswelt heraus und schaffen durch Erlebnisse an den Kunstorten neue Erinnerungen, die die ehemaligen undefinierten Meideräume der industriellen Vergangenheit emotional aufladen und zu Orten machen, zu denen eine neue Verbindung aufgebaut wird. Der chinesische Künstler und Regimekritiker Ai Weiwei griff diesen Gedanken für die letzte Ausgabe der Emscherkunst im Jahr 2013 auf, indem er für sein Projekt „Aus der Aufklärung“ (siehe Abb. 5) 1.000 Zelte entwarf und den Besuchern der Ausstellung zur Verfügung stellte. Auf zehn temporären Zeltplätzen entlang der Ausstellungsroute konnten die Besucher des Nachts zu einem Teil des Projektes werden und die unnachahmliche Industrienatur des Ruhrgebietes hautnah erleben. Für Ai Weiwei stand die Idee im Vordergrund, einen Perspektivwechsel zu schaffen, die Menschen mit ihrer Umgebung in Berührung kommen zu lassen, zu ungewohnten Zeiten, an ungewöhnlichen Orten. Wer hätte vorher gedacht, dass die Besucher freiwillig in ihrer Freizeit an der Emscher zelten würden? Ai Weiwei wollte mit seinem, das gesamte Ausstellungsgebiet umfassenden Projekt, vor allem die Räume und Bereiche zwischen den einzelnen Kunstwerken der Ausstellung hervorheben. Durch den sich stetig wandelnden Charakter des Projekts – die Zelte wurden immerzu an der einen Stelle abgebaut um sie an anderer wieder aufzubauen – wurde Kunst dem Moment überlassen. Statt einer monumentalen wurde eine menschliche Skulptur erschaffen. Die Besucher wurden durch die Möglichkeit, gemeinsam zu zelten, dazu angeregt, sich den Ausstellungsraum zu eigen zu machen. Zudem verschwand das Kunstwerk nach Ausstellungsende nicht: Die Zelte wurden unter den Übernachtungsgästen verlost und verbleiben so in der Region und dem Rest der Welt. Ai Weiwei schafft dadurch mit seinem Projekt die Verbindung zwischen Lokalität und Globalität, die für den Grundgedanken der gesamten Ausstellung essentiell ist: Eine internationale Kunstausstellung, die in erster Linie für die Menschen in der Region gemacht ist und sich mit ihrer Umgebung auseinandersetzt, gleichzeitig und ohne Wi-
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derspruch aber auch dem aktuellen Kunstdiskurs entspricht und somit internationales Fachpublikum ins Ruhrgebiet holt. Abbildung 6: Das Kunstwerk „Warten auf den Fluss“ von Observatorium
Quelle: Roman Mensing/Emscherkunst
Die Emscherkunst wirkt demnach lokal, die Kunstwerke lassen sich trotz spezifischem Ortsbezug auch auf die globale Ebene übertragen, haben Modellcharakter. Der Katalysator Kunst kann so „als Mittel eines zeitgemäßen Stadtmarketings [oder einer] Wirtschaftsförderung“ eingesetzt werden (Volker K. Belghaus „Öffentlichkeit, Kunst und Politik – Gesellschaftlicher Anspruch und die Freiheit der Kunst“ in: Dokumentation zum Symposium ‚Art Space Public‘ von Urbane Künste Ruhr vom 28.-30. August 2014:, S. 9). Emscherkunst wird gleichzeitig zu einem Anlass, die Region zu besuchen und neu zu entdecken. Die Kunst schafft Strukturen, die landschaftlichen Veränderungen wahrzunehmen und mit ihnen in Dialog zu treten. Mit der Ausstellung Emscherkunst eröffnet sich für Künstler ein ganz neues Experimentierfeld. Denn die Einzigartigkeit dieses Raumes mit seiner dichten Verzahnung von ländlichen, urbanen und industriell geprägten Bereichen, verbunden mit dem Emscher-Umbau schafft außergewöhnliche Möglichkeiten. So sind industrielle Vergangenheit und sich wandelnde Gegenwart und Zukunft auch entlang des Ausstellungsparcours ablesbar, der
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sowohl durch landschaftliche als auch urbane Räume führt. Im Ergebnis entstehen sehr unterschiedliche Kunstprojekte, die zum einen ganz konkrete Vorschläge für den weiteren Umgang mit dieser Region haben, zum anderen sind Werke entstanden, die auch bereits heute das zukünftige Emschertal prägen. Die niederländische Künstler- und Architektengruppe Observatorium hat mit ihrem Projekt „Warten auf den Fluss“ (siehe Abb. 6) die Besucher sowohl der Emscherkunst in 2010 als auch in 2013 begeistert. Die Künstler wollten mit ihrer begehbaren Holzskulptur das Bewusstsein für die Veränderung der Landschaft schärfen. Das ist ihnen mit ihrer Leitidee, 24 Stunden auf der hölzernen Brückenskulptur auf die neue Emscher zu warten, ohne Frage gelungen. Das Kunstwerk avancierte bei beiden Ausgaben der Emscherkunst zum Publikumsliebling. Im Zuge der globalen Entwicklungen drohen das Private und das Öffentliche zu verschwinden. Es müssen Orte geschaffen werden, die „‚bei aller Geschwindigkeit Stillstand generieren‘“ (Belghaus 2014: 3), so Philippe van Cauteren über Kunst als Katalysator von Entwicklung. Kontemplativer Stillstand, der dem menschlichen Gemüt Ruhe zugesteht, ist ein wesentliches menschliches Verlangen. Observatorium ermöglicht dies mit seiner Brücke, die auf den Fluss wartet. Ein Ort, der die Gegenwart präsentiert und die Zukunft andeutet. Ein Ort, an dem ein Perspektivwechsel stattfindet und die Menschen beginnen, sich mit ihrer Umwelt zu identifizieren. Mit ihrer Kunst möchten die Niederländer aus Räumen Orte machen, an denen sich Menschen begegnen, an denen gegessen, geredet und geschlafen wird. Die aus gebrauchtem Holz gefertigte Brücke fungierte zudem als Hotel, in dem auch nachts Raum für Gedanken und Zukunftsvisionen blieb. Ein Ort, an dem rund um die Uhr einfach nur gewartet werden konnte. „Warten auf den Fluss“ zeigt gleichzeitig sehr deutlich, wie sehr die Kunstwerke der Emscherkunst für die einzelnen Orte in der Region geschaffen sind. Der Künstlergruppe Observatorium war es sehr wichtig, dass nur dort auf die neue Emscher gewartet werden kann, wo sie in Zukunft auch tatsächlich fließen wird. Und so wird der Standort von 2013, ein großes Feld in Oberhausen-Holten, in naher Zukunft eine Aue mit einer mäandrierenden Emscher sein, an die die Menschen mit den Erinnerungen an das Kunstwerk „Warten auf den Fluss“ zurückkehren können und diese durch neue Erlebnisse bereichern können. Dass wir häufig nicht mehr den Wald vor Bäumen sehen, hat die Künstlergruppe Inges Idee mit ihrem Projekt des „Zauberlehrlings“ (siehe Abb. 7) auf Strommaste übertragen und so ebenfalls in ganz spezieller Weise auf die orts-
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spezifischen Gegebenheiten reagiert: Kaum ein Bewohner des Ruhrgebietes nimmt täglich die unmessbare Zahl an Strommasten in der Landschaft wahr. Mit dem „Zauberlehrling“, einem Strommast, der buchstäblich aus der Reihe tanzt, gelingt es der Künstlergruppe auf spielerische Weise, dass wir uns dieser Infrastrukturen wieder bewusst werden. Gleichzeitig regt der Strommast natürlich auch dazu an, sich mit den Themen der Energiewende zu beschäftigen. Abbildung 7: „Zauberlehrling“ der Künstlergruppe Inges Idee in Oberhausen
Quelle: Roman Mensing/Emscherkunst
Die Partizipation der Bevölkerung in ganz anderer Form integrierte die slowenische Künstlerin und Architektin Apolonija Šušteršič, die in ihrem Projekt „PLAY_LAND“ (siehe Abb. 8) mit einem Team aus Architekten und Landschaftsarchitekten (Banz + Rieks Dipl. Architekten und Christine Wolf, wbp Landschaftsarchitekten) einen neuen Jugendtreff mit Spielplatz in direkter Nähe der Brücke von Observatorium entwarf. Um den Bau des Abwasserkanals Emscher in den kommenden Jahren an dieser Stelle umzusetzen, musste ein Jugendtreff der evangelischen Kirche abgerissen und an einem anderen Standort auf dem Gelände neu aufgebaut werden. Hier setzte die Künstlerin mit ihrem Projekt an. In Zusammenarbeit mit den zukünftigen Nutzern des Geländes, Kindern, Jugendlichen und Eltern sowie betroffenen
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Anwohnern, die in verschiedenen Workshops zunächst ihre Visionen für den neuen Ort einbrachten und später auch in die Umsetzung integrierten, erarbeitete das Projektteam einen Entwurf des neuen Gebäudes inklusive Außengestaltung (Spielplatz und Skatepool). So entwickelte sich über den Zeitraum von eineinhalb Jahren bis zur Eröffnung der Emscherkunst ein Ort, der speziell auf die Bedürfnisse der einzelnen Nutzergruppen zugeschnitten ist. Abbildung 8/ 9: Luftbild des neuen Jugendtreffgeländes an der Emscher, Projekt „PLAY_LAND“/ Projekt „Breaking new“ von Anna Witt und Uglycute in Duisburg-Marxloh
Quelle: Archiv Emschergenossenschaft/ Roman Mensing/Emscherkunst
Ein Ort, der die Bereiche und Intimitäten der unterschiedlichen Gruppen respektiert, aber gleichzeitig auch verbindet und seine eigene Geschichte erzählt: Die Erdmassen, die zukünftig für den Bau des Abwasserkanals Emscher vor Ort bewegt werden, finden sich symbolisch in der Hügelstruktur des Gebäudes wieder und schaffen den Anwohnern einen grünen Park vor ihrer Haustür. Das Projekt „PLAY_LAND“ wird in den kommenden Jahren von seinen Nutzern stetig weiterentwickelt werden. Es ist eines der Kunstwerke, die bleiben und mit der Zeit von der Bevölkerung mehr und mehr angenommen werden.
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Ganz anders funktioniert die Idee der deutschen Künstlerin Anna Witt, die sie temporär für den Duisburger Stadtteil Marxloh entwickelt hat. Duisburg-Marxloh ist ein ehemals blühender Stahl-Standort, der Arbeiter aus ganz Europa anzog und heute, nach dem Niedergang der Schwerindustrie von hoher Arbeitslosigkeit und Leerstand geprägt ist. Um ihre Idee zu vertiefen, lebte die Wahl-Wienerin einige Monate in Marxloh, sprach mit den Menschen, absorbierte die Atmosphäre und verstand so mehr und mehr die Strukturen des Stadtteils. Sie hatte den Blick von außen, aber integrierte auch die Innensicht und gab den Straßen Marxlohs gemeinsam mit der schwedischen Designergruppe Uglycute und vielen jungen Helfern aus der Region während der Emscherkunst ein neues Gesicht: Das Projekt „Breaking new“ (siehe Abb. 9) setzte unvermittelt dort an, wo Politik an ihre Grenzen stößt. Das Projektteam, das um sogenannte Performer erweitert wurde, machte aus Sperrmüll, der auf den Straßen Marxlohs sehr präsent ist, mittels einfacher Techniken neue Designermöbel, die, mit einem goldenen Stoff bezogen, die Straßen Marxlohs aufwerteten und die Bewohner aus ihren Häusern lockten. Die Performer bewegten sich mit ihren mobilen Werkstätten durch den Stadtteil und verwandelten den Sperrmüll an Ort und Stelle und unter Beteiligung der Passanten. Die neuen Möbel verblieben solange auf den Bürgersteigen, bis sie von den Menschen mitgenommen wurden. Es entstanden möblierte Begegnungs- und Verweilorte, Anna Witt setzte mit ihrem Projekt einen Bewusstseinswandel in Gang. Ein Projekt von temporärer Dauer, das allerdings nachhaltig in den Köpfen der Menschen weiterlebt und Verbindungen schafft. Die Emscherkunst bespielte mit Projekten wie „Breaking new“ urbane Räume des zersiedelten Ruhrgebietes partizipativ. Sie hinterfragt gesellschaftliche Strukturen und zeigt Alternativen auf. Die junge Künstlerin Anna Witt hat sich mit dem Projekt an ein Thema herangetraut, das zunächst vor Beginn der Emscherkunst sehr kritisch diskutiert wurde und am Ende zu einem der erfolgreichsten Projekte der Emscherkunst wurde. Insgesamt lebt die Ausstellung davon, dass sie nicht allein „der Kunst wegen“ stattfindet. Die Emscherkunst lenkt den Blick auf die gesamte Region mit all ihren Facetten, ob Bräunungsstudio, „Büdchen“, leerstehende Immobilie oder Hinterhof. „Die gesellschaftliche Relevanz von Kunst im öffentlichen Raum [kann als] ‚Kunst im öffentlichen Interesse‘ [bezeichnet werden …], die eine seriöse Basis für den ernsthaften Umgang mit Kunst im nichtinstitutionellen Raum bilden kann“ (Oberhollenzer 2015: 150). Die Ausstellung ist eine Kombination aus permanenten und temporären Werken, die sich auf verschiedene Weise auf die Zukunftsentwicklung des Emschertals
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auswirken. In Tradition der IBA Emscher Park schafft die Emscherkunst für jede Edition auch Landmarken, die innerhalb kürzester Zeit in die Stadtlandschaft integriert werden. Beispiele für solche Landmarken sind der „Zauberlehrling“ von Inges Idee, die Brücke„Slinky Springs to Fame“ von Tobias Rehberger oder auch das „Theater der Pflanzen“ von Piet Oudolf und Gross Max im Bottroper BernePark. Kunst kennt keine thematischen Grenzen und schafft es daher, wie keine andere Disziplin, eine integrale Wirkung zu erzielen. Die Emscherkunst nimmt im öffentlichen Raum eine gesellschaftliche Rolle ein und fördert die Identifikation mit der Region und die Wahrnehmung der einzigartigen heterogenen Landschaft des Ruhrgebiets. Gleichzeitig ermöglicht sie den Besuchern, sich mit der Vision des „Neuen Emschertals“ erstmalig zu identifizieren, die sich neu formierenden Infrastrukturlandschaften der Städteregion zu erfahren und zu verstehen, Meinungen zu bilden. Denn insbesondere im westlichen Bereich des Emschergebietes wird es noch einige Jahre dauern, bis durch den Emscher-Umbau eine neue Flusslandschaft geschaffen und für die Bevölkerung sichtbar wird. Hier gibt die Emscherkunst schon einen ersten Vorgeschmack auf das, was werden kann und regt zu einem Dialog über die Zukunft der Region an. Kunst ergänzt und vermittelt an dieser Stelle die Arbeit von Planern und Ingenieuren. Im Austausch mit den beteiligten Städten wird eine vielschichtige Beschäftigung mit aktuellen politischen und gesellschaftlichen Problemen möglich. So erkennen auch die Gemeinden den Mehr- und Lehrwert von Kunst. Die Emscherkunst belebt die Stadt- und Landschaftsräume entlang der Emscher, generiert Erfahrungen und Austausch. „Insofern hat auch die Kunst in diesen öffentlichen Räumen eine immer konkretere Funktion und einen gleichberechtigten Stellenwert neben der architektonischen und urbanen Planung, die […] durch die Schaffung von Fußgängerzonen, Stadtmobiliar und Einkaufsstraßen viele […] Städte zu vereinsamten, grauen Wüsten verkommen ließ“ (Matzner 2006: 48). Kunstorte werden zu kulturellen Marktplätzen, die gesellschaftliche Strukturen schaffen und Bedürfnisse erfüllen. „Kunstverständnis oder -interesse sind nicht angeboren, das Bedürfnis nach Kunst aber schon. Kunst gehört zum Menschsein. Kunst gibt es, seit es Menschen gibt“ (Oberhollenzer 2015: 28). Verknüpft mit dem menschlichen Bedürfnis, Veränderungen in der Umwelt zu verstehen, schafft die Emscherkunst vielseitige thematische Auseinandersetzungen und Erkenntnisse.
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Mit Hilfe der Emscherkunst wird so der Wandel jenseits der konkreten baulichen Maßnahmen im Emschertal sichtbar und erlebbar gemacht. Gleichzeitig hilft der kreative Blick der Künstler dabei, Möglichkeiten und Chancen im Landschaftsraum zu entdecken, die in die Planung mit einfließen können. Damit wird Kunst nicht nur zur bloßen Dekoration, sondern zur Gestaltung eines Landschafts- und Gesellschaftsraumes, zur Steigerung der Lebensqualität und zur Schaffung von neuen Infrastrukturen in der Region genutzt. In dem sehr geschichtsträchtigen Ballungsraum Ruhrgebiet werden die Künstlerinnen und Künstler sowohl von den unterschiedlichen Phasen industrieller Entwicklung als auch von den Folgen der industriellen Vergangenheit, wie beispielweise den Bergsenkungen inspiriert. Die gesellschaftliche Situation hat sich in den vergangenen hundert Jahren radikal gewandelt. Die Region befindet sich im Umbruch und die ungewisse Zukunft ermutigt Künstlerinnen und Künstler zu einer kreativen Beschäftigung mit Zukunftsvisionen und -utopien, die zu beispielhaften Zukunftsentwürfen werden können. Eine Ausstellung mit zeitgenössischer Kunst im öffentlichen Raum bringt neue Impulse und Strukturen und schließt alle Menschen ein. Das Modell Emscherkunst ist auch auf andere Infrastrukturlandschaften übertragbar, die vor schwierigen Zukunftsfragen stehen und offen sind für künstlerische Antworten.
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L iteratur Belghaus, Volker K. (2014): Internationalisierung der Öffentlichkeit – Kunst als Katalysator von Entwicklung, in: Dokumentation zum Symposium ‚Art Space Public‘ von Urbane Künste Ruhr vom 28.-30. August 2014, S. 2-4. Belghaus, Volker K. (2014): Öffentlichkeit, Kunst und Politik – Gesellschaftlicher Anspruch und die Freiheit der Kunst, in: Dokumentation zum Symposium ‚Art Space Public‘ von Urbane Künste Ruhr vom 28.-30. August 2014, S. 9-10. Hoffmanns, Christina: „Ai Weiwei baut Zeltdorf an der Emscher auf“, in: Die Welt, 27.6.2013. Matzner Florian (2006): Kunst im öffentlichen Raum – Geschichte und Konzepte, in: Privatstiftung Österreichischer Skulptur (Hg.): Garten der Kunst – Österreichischer Skulpturenpark, Ostfildern, S. 45-67. Oberhollenzer, Günther (2015) : Von der Liebe zur Kunst, Innsbruck, 2. Aufl. Schnurr, Ansgar (2014): Wandel und Bildung – Anspruch und Konzeption einer Kunstvermittlung im öffentlichen Raum, in: Busse, Klaus-Peter, Grütjen, Jörg u. Ansgar Schnurr (Hg.): EMSCHERKUNST.2013, Bildung und Vermittlung im Wandel des öffentlichen Raums, Oberhausen, S. 33-46.
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Infrastrukturlandschaften zwischen gestern und heute Zur Transformation von Stadträumen durch Umnutzung Anna-Lisa Müller
1. I nfrastrukturen in der Stadt Der vorliegende Beitrag nimmt die Neugestaltung von Stadträumen in den Blick und fokussiert die Bedeutung, die Umnutzungen bestehender Infrastrukturen dabei zukommt. Der theoretische Rahmen der vorliegenden Analyse wird von der Annahme gebildet, dass Materialität ein maßgeblicher Anteil an der Konstitution von Raum in urbanen Kontexten zukommt. Um diese Beziehung von Materialität und Raum zu erklären, greife ich auf die neuere Raumsoziologie und Ansätze der Science and Technology Studies zurück. Im Folgenden skizziere ich zunächst die interdependenten Beziehungen dieser Aspekte städtischer Umwelten. Dabei fokussiere ich Infrastrukturen als maßgebliche Elemente der Materialität einer Stadt und zeige in einem zweiten Schritt, welche Rolle die Infrastrukturen für die Konstitution von städtischen Räumen spielen. Anschließend stelle ich dar, in welcher Form städtische Infrastrukturen zur Formung von Gesellschaft verwendet werden können. Nach diesen konzeptionellen Überlegungen folgen die Darstellung der empirischen Datengrundlage (Kap. 2), bevor ich in den abschließenden Kapiteln die Thesen dieses Aufsatzes mithilfe der empirischen Beispiele ausführlich darstelle (Kap. 3) und schließlich zu grundsätzlichen Überlegungen zur Bedeutung von städtischen Infrastrukturen für die Stadt zusammenführe (Kap. 4 und 5).
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1.1 Infrastrukturen als Materialität der Stadt Was sind Infrastrukturen? Ich verstehe im vorliegenden Beitrag „Infrastruktur“ in einem engen Sinn. Als Infrastruktur bezeichne ich die materielle Ausstattung einer menschlichen Siedlung. Darunter fallen physische Artefakte, die beispielsweise der Versorgung der NutzerInnen der Siedlung, dem Transport und der Kommunikation dienen. Damit sind das physisch vorhandene Verkehrsnetz (Schienen, Straßen, Fußwege) ebenso gemeint wie die Kanalisation, Strom- und Gasleitungen sowie Glasfaserkabel und Telefonleitungen. Es gehören aber auch, und dies ist für meinen Beitrag wichtig, ausgewählte Gebäude zu der Infrastruktur einer Siedlung. Hierunter fallen Gebäude von Industrie- und anderen Wirtschaftsbetrieben ebenso wie Gebäude, die politische Institutionen sowie administrative und soziale Einrichtungen beherbergen; zu letzteren gehören beispielsweise Schulen und Kindergärten (vgl. Frey 2005, 469). Wenn man Infrastruktur grundsätzlich als „materielle, institutionelle und personelle Grundlage einer arbeitsteiligen Wirtschaft“ (Zwahr 2006, 290) begreift, greife ich damit einen Aspekt des Verständnisses von Infrastruktur heraus: den materiellen. Der genannte Enzyklopädieeintrag verweist bezüglich der Herkunft des Infrastruktur-Begriffs darauf, dass zunächst „ortsfeste Anlagen und Einrichtungen“ (Zwahr 2006, 290) des Militärs als Infrastruktur bezeichnet wurden. Dies lässt sich auf das von mir verwendete Infrastruktur-Verständnis übertragen: Der Charakter von Infrastrukturen ist mit Ortsfestigkeit treffend beschrieben. Im etymologischen Wortsinn verstehe ich demnach die Infrastruktur eines Orts, in diesem Fall einer Großstadt, als die ihm zugrunde (=infra) liegende physische Struktur. Infrastrukturen in ihrer Materialität und damit ihrer physischen Präsenz im städtischen und ländlichen Kontext ernst zu nehmen, heißt, die Materialität eines Ortes als Grundlage für soziales Handeln und die Konstitution von Räumen verstehen zu können. Die Bedeutung von Materialität für eine Gesellschaft zu fokussieren, ist seit einigen Jahren als verstärkte Tendenz in den Sozialwissenschaften zu beobachten (Gieryn 2002; Reckwitz 2002; Delitz 2005; Fischer und Delitz 2009; Yaneva und Guy 2008). Dabei konzentriert sich die Forschung bislang in erster Linie darauf, konzeptionelle Vorschläge zur Erfassung der Bedeutung der Materialität für eine Gesellschaft zu formulieren. Methodologische Überlegungen sowie empirische Untersuchungen dieses Forschungsfeldes sind dagegen noch in den Anfängen (Müller und Reichmann 2015). Um die-
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ser Forschungslücke zu begegnen, schlage ich vor, ausgewählte Arbeiten der Science and Technology Studies heranzuziehen, um sowohl konzeptionelle als auch methodologische Anregungen für die Untersuchung der Interdependenzen von Materialität und Gesellschaft zu erhalten. Innerhalb der Science and Technology Studies wurde in einer Vielzahl an Arbeiten darauf hingewiesen, dass Objekte die soziale Wirklichkeit maßgeblich mit konstituieren. Seien es die Laborinstrumente der Physiker (Knorr Cetina 2002) oder der „Pedologen-Faden“ (Latour 1996), die Kammuschel (Callon 1986), Alltagsgegenstände wie Schlüssel (Latour 1993) oder Verkehrsinfrastrukturen wie die U-Bahn (Latour 2006) – in allen Fällen wurde der Frage nachgegangen, in welcher Weise der physische Charakter der Objekte das soziale Gefüge beeinflusst. Die Annahme, dass die Trennung von Objekten und Sozialem nicht scharf zu ziehen ist, hat insbesondere Bruno Latour mit der Formulierung der Akteur-Netzwerk-Theorie (im Folgenden: ANT) prominent gemacht. Die konzeptionelle Fassung jeglicher Dinge – physische Objekte sowie menschliche und nicht-menschliche Lebewesen – als Akteure (vgl. Latour 2007, 25) ist dabei die Zuspitzung einer „postsozialen Theorie“ (Knorr Cetina 2001, 520, Übers. ALM), wie Karin Knorr Cetina sie formuliert. Eine solche Theorie des Postsozialen nimmt die Beobachtung als Ausgangspunkt, dass die nachindustrielle Gesellschaft im Zuge zunehmender Technologisierung durch eine immer größere Zahl an Objekten gekennzeichnet ist. Diese Objekte, verstanden „as non-human things“ (Knorr Cetina 2001, 528), weisen an sich keinen eindeutig definierten und fixierten Charakter auf, vielmehr sind sie „as things that continually ‚explode‘ and ‚mutate‘ into something else, and that are as much defined by what they are not as by what they are“ (Knorr Cetina 2001, 528, Herv.i.O.) zu verstehen. Ihre Bedeutung für das Soziale besteht darin, dass sie in der Wechselwirkung mit dem Sozialen erst die für sie typischen Merkmale entwickeln – diese Merkmale weisen dann eine zeit-räumlich beschränkte Gültigkeit auf und sind somit kontingent. Diesen unterschiedlichen Konzeptionen von Objekten ist eine Dimension als zentrales Differenzierungskriterium implizit: ihre Zeitlichkeit. Die zentrale Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten von Objekten ist meines Erachtens über ihre zeitliche Dimension möglich: Während technologische Objekte ihre Bedeutungen rasch verändern und daher „transmutable“ (Knorr Cetina 2001, 530) sind, weisen andere Objekte eine größere Widerständigkeit bezüglich der Veränderung ihrer Merkmale auf, ihre Bedeutung sind daher zeitlich länger gültig. Dies gilt für den Großteil der städtischen
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Infrastrukturen: Einmal installiert, weisen sie eine große materielle und semiotische Beständigkeit auf.
1.2 Raumkonstitution als sozial-materieller Prozess Um der Bedeutung von Infrastrukturen in ihrem städtischen Kontext auf den Grund zu gehen, ist es hilfreich, neben dem Materiellen auch das Räumliche in den Blick zu nehmen. Dazu verwende ich die maßgeblich von Martina Löw (2001) entwickelte Raumsoziologie. Zwei Prozesse sind dieser Theorie nach für das Entstehen eines (städtischen) Raums von Bedeutung: das spacing und die Syntheseleistung (Löw 2001, 159). Diese Prozesse basieren zum einen auf der Materialität des Vorhandenen als auch auf den Personen selbst. Damit gelingt es, sowohl soziale als auch materielle Aspekte des Städtischen im Konzept des Raumes zusammenzubringen. Das spacing bezeichnet dabei die Anordnung der wahrgenommenen Dinge und Lebewesen an einem Ort in Relation zueinander. Diese „relationale (An)Ordnung von Körpern“ (Löw 2001, 153) bringt einen spezifischen, für jede sich an einem Ort aufhaltende Person unterschiedlichen Raum hervor. Dafür ist neben dem spacing die Syntheseleistung verantwortlich, mit der „über Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Erinnerungsprozesse […] Güter und Menschen zu Räumen zusammengefaßt [werden].“ (Löw 2001, 159) Die Syntheseleistung ist maßgeblich von gesellschaftlichen Prozessen abhängig, insbesondere von der Sozialisation der Personen und ihrer Klassen- und Geschlechterzugehörigkeit (Löw 2001, z.B. 173–179). Über die Syntheseleistung wird nun auch die Zeit-Dimension menschlichen Handelns in die Konzeption integriert. Durch die Bezugnahme auf „Erinnerungsprozesse“ (Löw 2001, 159) wird auf Vergangenes rekurriert, das handelnde – d.h. die Syntheseleistung erbringende und die Räume konstituierende – Individuum wird historisiert. Auch die Sozialisation des Individuums, welche die Wahrnehmung der umgebenden Dinge und die damit verbundenen Vorstellungen maßgeblich beeinflusst, ist zeitgebunden: Sie entsteht aus gewachsenen, d.h. historischen, gesellschaftlichen Strukturen und strukturiert das gegenwärtige und zukünftige Handeln der einzelnen Personen. Gesellschaftliche Strukturprinzipien gestalten auf diese Weise den städtischen Raum mittelbar mit: Die Grundannahme ist, dass sich die Wahrnehmung der physischen Objekte und der Lebewesen an einem Ort in Abhängigkeit von Geschlechts-, Generationen- oder Klassenzugehörigkeiten
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unterscheidet. Damit geraten nicht nur Unterschiede in Nutzungsweisen von städtischen Orten in den Blick, sondern darüber hinaus Unterschiede in den Wahrnehmungsweisen dieser Orte. Löw betont, dass es nicht nur die menschlichen Akteure sind, die für die Raumkonstitutionen eine Rolle spielen. Vielmehr sind Räume, in ihren Worten, „eine relationale (An)Ordnung sozialer Güter“ (Löw 2001, 154), und unter diesen sozialen Gütern werden von ihr „primär materielle Güter“ (Löw 2001, 153) gefasst. Damit sind für Löw Objekte und Menschen im Fokus der Analyse. Allerdings arbeitet Löw die Rolle der materiellen Güter nicht so weit aus, dass sie ihrer aktiven Rolle für die Raumkonstitution gerecht wird. Ich schlage daher vor, sowohl die Individuen als auch die Objekte mit Latour als Akteure zu fassen: „Wenn wir dagegen bei unserer Entscheidung bleiben, von den Kontroversen um Akteure und Handlungsquellen auszugehen, dann ist jedes Ding, das eine gegebene Situation verändert, indem es einen Unterschied macht, ein Akteur“ (Latour 2007, 123, Herv.i.O.). Wenn Raumkonstitutionen durch das In-Beziehung-Setzen jeglicher Lebewesen, Artefakte und Objekte, die ein Individuum an einem Ort umgeben, stattfindet, so sind nach Latour all diese Elemente Akteure, insofern sie in die Raumkonstitution einbezogen werden und so „einen Unterschied [machen]“.1 Die Integration des Latour‘schen Akteursbegriffs in die Löw´sche Raumtheorie erleichtert es, der Bedeutung der Materialität für die Hervorbringung städtischer Räume konzeptionell Rechnung zu tragen. Oder, wie Andreas Reckwitz es formuliert: „Bruno Latour´s “symmetric anthropology” […] enables one to grasp the material not as a social structure or as symbolic objects, but as [...] “things” which are necessary components of social networks or “practices”.“ (Reckwitz 2002, 196, Herv.i.O.) Dinge jeglicher Art sind damit Teil von Praktiken, z.B. von Praktiken der Raumkonstitution. Diese handlungstheoretische Perspektive, die einer konstruktivistischen Raumtheorie, wie ich sie in Anlehnung an Martina Löw und mit der Erweiterung um Latours Akteurs-Begriff vorschlage, inhärent ist, impliziert also eine Fokussierung des Materiellen. Diese theoretische Rah1 | Zur Verdeutlichung: An einem Ort können Dinge – menschliche und nicht-menschliche – vorhanden sein, die nicht von einem Individuum positioniert werden und damit für die Raumkonstitution keine Bedeutung aufweisen. In diesem Fall sind sie Aktanten, da sie die „gegebene Situation“, von der Latour spricht, gerade nicht verändern. Jedes nicht wahrgenommene Ding ist, „wenn es noch keine Figuration hat, ein Aktant.“ (Latour 2007, 123)
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mung bedeutet für die Raum- und Infrastrukturforschung zwei Dinge: (1) Konzeptionell kann die Materialität von Objekten im (Stadt-)Raum im Allgemeinen und von Infrastrukturen im Besonderen in ihrer Wirkmächtigkeit für das Soziale angemessen gefasst werden. (2) Empirische Untersuchungen können, wenn sie sich von den empirischen Untersuchungen der Science and Technology Studies, wie ich sie oben beschrieben habe, inspirieren lassen, der Komplexität der Beziehung von Sozialem und Materiellem Rechnung tragen (vgl. dazu auch Müller und Reichmann 2015). Übertragen auf den Forschungsgegenstand des vorliegenden Aufsatzes heißt dies: Infrastrukturen an einem bestimmten Ort sind – als materielle Objekte – Teil der Raumkonstitutionen, die an diesem Ort von jedem einzelnen Nutzer und jeder einzelnen Nutzerin vorgenommen werden. Die Infrastrukturen sind dabei, sofern sie in den Prozessen des spacing und der Syntheseleistung berücksichtigt werden, im Sinne von Latour Akteure. Den Raumkonstitutionen ist eine Zeit-Dimension inhärent, die insbesondere für Umnutzungen vorhandener Infrastrukturen bedeutsam ist. Auch die Infrastrukturen weisen in ihrer Materialität eine zeitliche Dimension auf, indem sie Vergangenes (und Gegenwärtiges) symbolisieren, wie ich im Folgenden ausführe.
1.3 Inszenierung von Gesellschaft mithilfe des Materiellen Folgt man der Annahme, dass städtische Infrastrukturen die physische Basis städtischen Lebens darstellen und als Akteure konstitutive Elemente der Raumkonstitutionen vor Ort sind, so spielen sie auch eine Rolle für gesellschaftliche Prozesse. Infrastrukturen sind insbesondere Aufgabe und Mittel des Politischen und der Wirtschaft: Verkehrs- und Versorgungsinfrastrukturen sind Voraussetzung und notwendiges Mittel ökonomischer Produktion. Ihre Bereitstellung kann als politisches Instrument der Steuerung eingesetzt werden: Die Entscheidung, welche Orte auf welche Weise mit Infrastruktur versorgt werden, ist eine Frage von (politischer) Macht. Dies gilt, aufgrund der Eigentumsrechte in vielen Gesellschaften allerdings in abgeschwächter Form, ebenso für die Bereitstellung und die Nutzung von Gebäuden als Infrastrukturen: Fabriken sind für Industriegesellschaften die Basis der Produktion und ein Symbol wirtschaftlicher Kompetenz, und die Ausweisung von Flächen für Fabrikgebäude und Produktionsstätten ist eine politische Kompetenz.
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Darüber hinaus strukturieren materielle Objekte die Gesellschaft und ihre einzelnen Gesellschaftsmitglieder. Indem aufgrund ihrer physischen Präsenz bestimmte Erinnerungen bei ihren NutzerInnen aufgerufen und Wahrnehmungen ermöglicht respektive verhindert werden, werden die Syntheseleistungen beeinflusst, die für die Raumkonstitution nötig sind. Die Selektion dessen, was beispielsweise im Fall von Industrieruinen erhalten bleibt und was nicht, ist damit eine mittelbare Einflussnahme auf die Raumkonstitution und somit auf die Konzeption von Stadt seitens der NutzerInnen. Infrastrukturen sind also ein Beispiel dafür, wie mithilfe der Materialität eine Gesellschaft inszeniert und gesteuert werden kann. Derartige Inszenierungen und Steuerungen lassen sich aus einer Gouvernementalitäts-Perspektive als Regierungsformen bezeichnen, die immer auch, wie Michel Foucault in seinen Arbeiten zur Geschichte der Gouvernementalität beschreibt, eine besondere Beziehung zu Dingen aufweisen: „Regieren heißt, die Dinge regieren.“ (Foucault 2009, 1:147) Foucaults Verständnis von Dingen ist im vorliegenden Fall ein materielles, es geht ihm um physische Objekte, zu denen auch Infrastrukturen gerechnet werden können. Geht man von dieser Annahme aus, dass das Regieren einer Gesellschaft maßgeblich über die Anordnung und Gestaltung von materiellen Dingen geschieht, so ist es ein kurzer Weg zu der These, dass die Inszenierung von politischer Macht und damit von Gesellschaft ebenso über die Gestaltung von Materialität geschieht. Diese Perspektive lässt sich mit der Löw’schen Theorie der Raumproduktion in einer instruktiven Weise verbinden: Räume sind für Löw Anordnungen von Dingen und Lebewesen, und für Foucault ist das Regieren auf Anordnungen von Objekten und Menschen bezogen. Allerdings ist der Blickwinkel auf die Beziehung von Räumen und Objekten unterschiedlich: Geht es Löw um die Herstellung von (sozialen) Räumen durch einzelne Individuen, nimmt Foucault eine Makroperspektive ein, aus der die konstituierten Räume als Objekte des Regierens einer Gesellschaft verstanden werden können. Regierende konstituieren über die architektonische Gestaltung den Raum der Gesellschaft, und dieser Raum ist durch die spezifischen normativen Vorstellungen der Regierenden geprägt – ihre Syntheseleistungen. Über ihre Machtposition können sie schließlich mithilfe des herrschenden Diskurses die Raumkonstitutionen der anderen Gesellschaftsmitglieder beeinflussen. Diese Beeinflussung geschieht auch durch die Gestaltung der Dinge, die für die Raumkonstitution verwendet werden.
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Die von Foucault herausgearbeiteten historischen Unterschiede in Regierungsformen und damit in der Beziehung von Objekten und Gesellschaften zeigt deren zeitliche Dimension. Die im Fokus des vorliegenden Beitrags stehenden Infrastrukturen sind danach als Ausdruck einer zeitlich fixierbaren Regierungsform, besser: Gesellschaftsform, zu verstehen. Eigen ist ihnen, dass sie ein großes Beharrungsvermögen aufweisen. Selbst wenn sich eine Gesellschaft mit ihrer dominanten Wirtschaftsstruktur, etwa eine Industriegesellschaft, schon in einer Transformationsphase befindet, etwa hin zu einer Dienstleistungsgesellschaft, bleiben die materiellen Spuren der ehemals dominanten Gesellschafts- und Wirtschaftsform erhalten. Häufig sind es pragmatische Gründe, diese Spuren – beispielsweise Fabrikgebäude – nicht zu beseitigen, da dies hohe Kosten und großen organisatorischen und technischen Aufwand bedeuten würde. Oft kommen aber auch politische Gründe hinzu: Orte der industriellen Produktion sind Orte des kollektiven Gedächtnisses. Sie zu zerstören hieße, Teile der kollektiven Erinnerung zu beseitigen. Umnutzungen derartiger Orte können daher eine Möglichkeit sein, sowohl den kollektiven Erinnerungen einen Ort zu geben als auch die Gebäude zu nutzen und so ihren Erhalt jenseits von Museen und Erinnerungskultur zu sichern. Indem die Gebäude als Infrastrukturen die Gesellschaft, in deren Kontext sie entstanden sind und genutzt wurden, physisch überdauern, werden sie, über das Instrument der Umnutzung, Teil einer neuen Gesellschaftsform. In ihrer neuen Nutzungsform werden sie so Teil einer veränderten (politischen) Inszenierung des Sozialen. Das Verständnis von materiellen Objekten und städtischen Infrastrukturen als Akteuren und die Annahme, dass sie zur Regierung von Gesellschaften verwendet werden, führt mich dazu, diese Infrastrukturen als konstitutive Elemente von Gesellschaften zu beschreiben. Im Folgenden werde ich mithilfe empirischer Beispiele zeigen, in welcher Form Infrastrukturen für Gesellschaften konstitutiv sind.
2. E mpirie und D atengrundlage Die empirische Grundlage für den vorliegenden Artikel stellen Forschungen in den europäischen Großstädten Dublin (Irland) und Göteborg (Schweden) dar. Zwischen 2008 und 2010 wurde im Rahmen eines Forschungsprojektes eine Vielzahl an Daten zur Transformation der beiden Städte erhoben. Fünf verschiedene qualitative Methoden dienten der Datenerhebung: qualitati-
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ve, leitfadengestützte ExpertInneninterviews mit StadtplanerInnen, RepräsentantInnen der Städte und Angehörigen der creative class; teilnehmende Beobachtung als temporary citizen; fotografische Dokumentation des status quo der Städte; Analyse der Planungsdokumente der Städte sowie die Analyse von (fotografischem) Archivmaterial und rephotographing. Mithilfe der qualitativen Experteninterviews mit StadtplanerInnen, RepräsentantInnen der Städte und UnternehmerInnen wurden Informationen über den politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Wandel der Städte erhalten. Mehrwöchige Aufenthalte in den Städten ermöglichten die Beobachtung in den Städten als temporary citizen (Müller 2012). Unter Hinzuziehung von Feldnotizen, fotografischer Dokumentation, historischem Karten- und Bildmaterial sowie sozialstatistischen Daten über die Entwicklung der Städte seit der Mitte des 20. Jahrhunderts gelang es mir, ein Bild der Städte als Städte im Wandel von der Industrie- zur Wissensgesellschaft zu zeichnen (vgl. ausführlich Müller 2013a). Die erhobenen Daten wurden unter Berücksichtigung der je spezifischen Datenart mithilfe qualitativer Methoden ausgewertet.
3. Fallbeispiele – Transformationsgebiete In den untersuchten Städten zeigen sich deutliche Transformationen des Städtischen, welche unter spezifischen planerischen Voraussetzungen vorgenommen werden und sich insbesondere materiell und damit auch räumlich niederschlagen. Wie ich an anderer Stelle gezeigt habe (Müller 2013a; 2013b), verwenden die lokalen StadtplanerInnen und politischen RepräsentantInnen der Stadt die Leitbilder der creative city und der Nachhaltigkeit, um die Städte zu transformieren. Dabei lassen sich ausgewählte Orte der Stadt als zentrale Transformationsgebiete identifizieren, in denen die Umgestaltung der städtischen Infrastruktur auch eine Reorganisation des Stadtraumes darstellt. Dabei zeigen die im Folgenden vorgestellten Transformationsgebiete, dass die lokalen Infrastrukturen als Relikte einer spezifischen urbanen Vergangenheit in die materiell-räumliche Konstruktion und Konstitution von Räumen einbezogen werden. Die Transformationsgebiete stellen historisch gewachsene Orte der Ökonomie dar und sind Beispiele für die gesellschaftliche Transformation von der Industrie- zur Wissensgesellschaft. Anhand von zwei ausgewählten Beispielen zeige ich im Folgenden, wie die Infrastrukturen als Akteure zu einer Inszenierung des Vergangenen bei-
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tragen und welche Bedeutung ihnen für die Konstitution städtischer Räume zukommt.
3.1 Beispiel Dublin: Guinness-Brauerei In Dublin ist ein zentrales Gebiet derzeitiger infrastruktureller Transformation der Ort der ehemaligen Guinness-Brauerei. Südlich des Flusses Liffey, welcher die Stadt von Westen nach Osten in Richtung Irish Sea durchzieht, und in unmittelbarer Nähe zu den innerstädtischen Stadtteilen Temple Bar und Southern Inner City gelegen, befinden sich die denkmalgeschützten Gebäude der ehemaligen Guinness-Brauerei rund um die Thomas Street. Als Produktionsstätte des Guinness stellten die Gebäude seit 1759 die Infrastruktur eines industriellen Wirtschaftszweiges, der Bierproduktion, in Dublin dar. Nachdem die Produktion des Bieres aus den innerstädtischen Gebäuden ausgelagert wurde, verfügte die Infrastruktur aufgrund der fehlenden Wirtschaftsproduktion über keine Aufgabe. Auf der Basis der nationalen Entwicklungspläne wurde das Gebiet rund um die Thomas Street zu einem stadtplanerischen Entwicklungsgebiet umgewidmet. Ziel sollte es sein, den Ort als Infrastruktur für ausgewählte Industrien der Wissensgesellschaft zu nutzen. Dazu wurde auch ein Teil der ehemaligen Brauerei-Anlage verwendet. Da der Großteil dieser Gebäude denkmalgeschützt ist, wurde die materielle Struktur kaum verändert; transformiert wurde in erster Linie die Innenausstattung der Räume und ihre Nutzung. Durch die Etablierung des Digital Hub wurde das Areal im Jahr 2003 die Infrastruktur für Unternehmen der digitalen Medien.2
Gebäude als Latour‘sche Akteure Die Gebäude der ehemaligen Guinness-Brauerei, errichtet zwischen der Mitte des 18. und dem Anfang des 20. Jahrhunderts, weisen eine zeitüberdauernde Funktion als wirtschaftliche Infrastrukturen auf. Verändert hat sich die Wirtschaft, für die sie die Infrastruktur darstellen: Von der Industrieproduktion fand ein Wandel zur Wissensproduktion statt, anstelle von Bier werden nun Software-Produkte und technologische Dienstleistungen hergestellt. Das Besondere an der materiellen Struktur der Gebäude ist, dass sich die äußere Erscheinung kaum verändert hat: Das, was außerhalb der Gebäude visuell 2 | Für die Website des Digital Hub s. URL: http://www.thedigitalhub.com/ (21.11.2014).
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wahrnehmbar ist, ist beständig geblieben. Verändert hat sich dagegen das Innere der Gebäude, welches an die veränderten Anforderungen der wissensintensiven Ökonomien angepasst wurde. Über dieses Zusammenspiel von Veränderung und Beständigkeit findet eine doppelte Inszenierung statt: Zum einen wird die industrielle Geschichte der Stadt Dublin mithilfe der erhaltenen Brauerei-Gebäude inszeniert. Die Interviews und die Planungsdokumente zeigen, dass der Verweis auf die Guinness-Brauerei als identitätsstiftendes Merkmal von Seiten der Stadtverantwortlichen explizit eingesetzt wird. Dabei werden ausgewählte Aspekte verwendet: Insbesondere die sozialen Maßnahmen, die Guinness als Arbeitgeber für seine ArbeiterInnen durchführte – etwa social housing, Ausbildung der Kinder der ArbeiterInnen etc. – werden aufgerufen. Indem sie dem Sinn nach weitergeführt werden, findet außerdem eine Inszenierung des Viertels – symbolisiert mithilfe der Gebäude als materielle Infrastruktur – als sozial integrativ und wirtschaftlich fortschrittlich statt. Diese Inszenierung steht im Widerspruch zu der Tatsache, dass der Stadtteil gerade deswegen als Ort des Technologieparks ausgewählt wurde, weil er ein sozial, ökonomisch und infrastrukturell besonders benachteiligtes Gebiet ist (Interview DDH2, Abs. 583ff.). Die Gebäude als Infrastruktur des Technologieparks und Materialisierung der Vision der irischen Gesellschaft als Wissensgesellschaft (Interview DDH1, Abs. 359ff.) verweisen auf den Akteurscharakter der Gebäude. Sie sind es, die „eine gegebene Situation veränder[n], indem [sie, ALM] einen Unterschied mach[en],“ (Latour 2007, 123) wie es bei Latour heißt. Indem sie mit ihrer Materialität auf das Vergangene verweisen und über den Baustil, die verbauten Materialien und die Anordnungen der Gebäude am Ort eine physische Erinnerung des Vergangenen darstellen, sind sie Akteure im Gefüge des Sozialen. Und sie spielen eine bedeutende Rolle für die Konstitution der Räume, die an diesem Ort der post-industriellen Produktion konstituiert werden.
Raumkonstitution im Digital Hub Die Gebäude spielen als Akteure unterschiedliche Rollen. Diese Rollen variieren je nach Art der Personen, die die Raumkonstitution vornehmen. Vereinfacht lassen sich vier Gruppen von Personen unterscheiden, die am Ort der ehemaligen Guinness-Brauerei Räume konstituieren: (1) Bewohner-
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Innen des umgebenden Stadtteils The Liberties, (2) lokale StadtplanerInnen, (3) ArbeiterInnen 3 im Digital Hub sowie (4) BesucherInnen jeglicher Art. Für diese Gruppen ist das Gebäude auf unterschiedliche Weise ein Akteur. Eine zusätzliche Unterscheidung, die quer zu dieser Unterteilung verläuft und für die Raumkonstitution wichtig ist, ist die Frage, inwiefern die jeweilige Person mit der ehemaligen industriellen Produktion der Brauerei bekannt ist. Diejenigen, die selber oder deren Familienangehörige dort gearbeitet haben, weisen eine andere Syntheseleistung auf als diejenigen, die die Brauerei ausschließlich über den Konsum des Guinness kennen und nichts über die Lokalgeschichte der Brauerei wissen. Für die Gruppe derjenigen, die Guinness gar nicht kennen, sind die Gebäude als Repräsentationen der Brauerei zumindest für die Syntheseleistung Aktanten und damit nicht an der Raumkonstitution beteiligt. Für sie sind die Gebäude dann möglicherweise aus anderen Gründen Akteure: weil über den Baustil bestimmte Erinnerungen an Architekturepochen aufgerufen werden oder sie durch die Anordnung der Gebäude an eigene Arbeitsplätze erinnert werden.
3.2 Beispiel Göteborg: Werften und Hafengebiet In Göteborg lässt sich ebenfalls ein ehemaliger Ort der industriellen Wirtschaft als zentrales Transformationsgebiet identifizieren: das Hafengebiet rund um die – inzwischen zu einem großen Teil stillgelegten – Werftenanlagen, der Norra Älvstranden. Im Zuge der Werftenkrise wurden die Werften, die im innerstädtischen Teil des Hafens gelegen waren, in den 1980er Jahren geschlossen, und die Infrastruktur der Industrie wurde, aufgrund der fehlenden Industrie, aufgabenlos. Das Gebiet wurde der Stadt Göteborg übertragen, die das Areal (250 ha Land- und 40 ha Wasserfläche (Göteborgs Stadsbyggnadskontoret und Norra Älvstraden Utveckling AB 2002, 2)) einer neuen Aufgabe überführte: Ort des Lindholmen Science Park zu sein, eines
3 | ArbeiterInnen ist in diesem Fall ein doppeldeutiger Begriff: Diejenigen, die früher für die Brauerei gearbeitet haben, waren im klassischen Sinn (Industrie-)ArbeiterInnen. Diejenigen, die heute ein Büro im Digital Hub haben, sind dagegen keine IndustriearbeiterInnen. Sie sind allerdings auch nicht immer als Angestellte beschäftigt, sonder arbeiten häufig als Selbstständige oder projektförmig Beschäftigte für verschiedene Unternehmen. Um die Verbindung, die zwischen den beiden Ökonomien mittels des Akteurs „Gebäude“ hergestellt wird, zu betonen, bezeichne ich sie in diesem Aufsatz als ArbeiterInnen.
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Zusammenschlusses verschiedener Unternehmen eines Wirtschaftszweiges der Wissensgesellschaft.4 Wie in Dublin wurde ein Umnutzungsprojekt ins Leben gerufen, das eine Inszenierung des Vergangenen mit einer Inszenierung des Zukünftigen räumlich-materiell darstellt.
Gebäude des Lindholmen Science Park als Akteur Anders als im Fall von Dublin sind es im Göteborger Hafengebiet nicht die Gebäude, die Beständigkeit aufweisen, sondern die physischen Strukturen der Werftenanlage. Im Boden ist die für die Werftenindustrie benötigte Gestalt eingelassen, die einzelnen Schwimmdocks sind weiterhin identifizierund sichtbar. Die Umnutzung zeigt sich in Gestalt der Gebäude rund um die Schwimmdocks. Im Fall des Lindholmen Science Park ist es ein Gebäudekomplex, der rund um ein ehemaliges Schwimmdock gebaut ist. Die Gebäude und ein Großteil der Infrastrukturen mit Ausnahme der Schienen für die Werft selber sind von den neuen Gebäuden ersetzt worden; in diesem Fall findet der Verweis auf die alte Industrie daher vermittels der physischen Struktur des Geländes statt. Die Schwimmdocks dienen nun als Orte der Freizeit: An ihnen verbringen (nicht nur) die ArbeiterInnen5 des Lindholmen Science Park und der angegliederten Unternehmen ihre Pausen. Das strukturierte Gelände ist auf diese Weise Akteur in einem Latour‘schen Sinn, da es die Situation vor Ort und das Handeln der Individuen verändert. Bestimmte Praktiken sind nicht möglich – so wird das Gehen in diesem Gebiet maßgeblich durch die Wasser-Gelände-Grenze bestimmt. Andere Praktiken wiederum werden durch das Gelände in dieser Form erst ermöglicht – das Sitzen am Wasser am Rand der Schwimmdocks etwa.
Raumkonstitution im Hafen Die Räume, die im Hafengebiet Norra Älvstranden rund um den Lindholmen Science Park konstituiert werden, weisen aufgrund der physischen Struktur Besonderheiten auf. Die Spuren der Infrastrukturen der Werftenindustrie, insbesondere die Geländeanlage und die Schwimmdocks, sind Erinnerungen an eine Gesellschaft, deren Wirtschaft vom Schiffsbau geprägt war. Die Produktion von Schiffen und Schiffsteilen wurde Ende des 20. Jahrhunderts ab4 | Für die Website des Lindholmen Science Park s. URL: http://www.lindholmen.se/ (21.11.2014). 5 | Vgl. Fußnote 3.
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gelöst von der Produktion von Wissen. Anders als im Fall des Digital Hub in Dublin sind allerdings auch in der neuen Industrie Spuren der alten Industrie enthalten, da es in diesem Technologiepark zu einem Teil um die Produktion technologischen Wissens zur Weiterentwicklung von Schifffahrtstechnik geht. Damit werden von den ArbeiterInnen vor Ort Räume konstituiert, die weiterhin durch die Schifffahrtsindustrie geprägt sind. Dennoch liegen auch hier, wie im Dubliner Fall, Unterschiede zwischen den Raumkonstitutionen verschiedener sozialer Gruppen vor: TouristInnen, die über die Werftengeschichte kaum bis keine Informationen haben, produzieren andere Räume als ehemalige Werftenarbeiter und alteingesessene GöteborgerInnen, die die durch den Niedergang der Werftenindustrie ausgelöste „emotionale Krise“ (Interview GLSP1, Abs. 46) erinnern und in sich tragen.
4. I nfrastrukturen in der Stadt Die exemplarisch vorgestellten Transformationsgebiete zeigen, dass Infrastrukturen als Relikte einer spezifischen urbanen Vergangenheit in die materiell-räumliche Konstruktion und Konstitution von Räumen einbezogen und von Stadtverantwortlichen zur Inszenierung und Regierung von Gesellschaft verwendet werden. Sowohl das Areal des Digital Hub in Dublin als auch das des Lindholmen Science Park stellen spezifische Formen der Inszenierung der städtischen Vergangenheit dar. Dabei werden ausgewählte Aspekte der Industriegesellschaft als Ausgangspunkt der Inszenierung verwendet und andere explizit ausgeblendet (vgl. dazu auch Urban 2011, 2): Die Gebäudestruktur; das Bild des Industriearbeiters als hart, aber heroisch; die Industrie als Grundlage des wirtschaftlichen Wohlstandes der Stadt (Göteborg) stellen die Grundlage für das spezifische Bild der industriellen Vergangenheit dar, das mithilfe der Infrastruktur gezeichnet wird. Hinzu kommt im Fall von Dublin ein explizites Anknüpfen an soziale Traditionen des mit den Gebäuden historisch verbundenen Wirtschaftszweigs: Die Guinness-Brauerei verfügte über ein, für die damalige Zeit, umfassendes Sozialprogramm für ihre ArbeiterInnen. Dazu gehörte eine Krankenversorgung für die ArbeiterInnen und ihre Familien. Außerdem wurden durchschnittlich höhere Löhne gezahlt als in anderen Betrieben, und die Arbeitsbedingungen waren vergleichsweise gut (Mansfield 2009). Diese Sorge des Arbeitgebers um das Wohlergehen seiner ArbeiterInnen wird modifiziert im Programm des Technologieparks Digital Hub wei-
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tergeführt, indem etwa Weiterbildungen für die Bevölkerung des Stadtteils angeboten und Kooperationen mit den lokalen Schulen aufgebaut werden (vgl. z.B. Interview DDH2, Abs. 453-463). Ausgeblendet werden dagegen beispielsweise das harte und kurze Leben der Arbeiter, die gefährliche Arbeit, die wirtschaftlich und sozial schlechten Lebens- und Wohnbedingungen der Angestellten. Die Stadtplanung als zielgerichtete Intervention in die materielle Stadtgestalt arbeitet maßgeblich mit den Infrastrukturen einer Stadt. Indem die Institutionen der lokalen Stadtplanung Elemente der Infrastruktur erhalten, erweitern oder abbauen, nehmen sie Einfluss auf die Raumkonstitution der NutzerInnen – im Foucault‘schen Sinn regieren sie die BürgerInnen, indem sie u.a. ihre Raumkonstitutionen beeinflussen. Durch den Erhalt bestimmter Elemente der industriellen Infrastruktur in den vorgestellten Transformationsgebieten in Dublin und Göteborg werden die Erinnerungen an die lokale Industriegeschichte aufrecht erhalten. Sie bleiben damit Teil der Räume, die an den Orten konstituiert werden. Die so produzierten Räume weisen Unterschiede auf: Diejenigen, die aus einer Familie stammen, deren Mitglieder in der Guinness-Bauerei oder auf der Göteborger Werft arbeiteten, konstituieren die Räume auf eine andere Art und Weise als TouristInnen, die die Transformationsgebiete im Rahmen ihrer Urlaubsreise besichtigen. Und auch innerhalb von TouristInnen unterscheiden sich die Raumkonstitutionen in Abhängigkeit von Geschlechts- und Klassenzugehörigkeit und individueller sowie kollektiver Erfahrungen. Entstammt jemand einer Gesellschaft mit einer Geschichte des Schiffbaus, wird er oder sie die Räume im Göteborger Hafen anders konstituieren als jemand, der oder die aus einer Bergbauern-Familie kommt. Die lokale Stadtplanung nutzt in den untersuchten Städten die Infrastruktur nun als explizites Moment zur Materialisierung ihres Leitbildes einer neuen Gesellschaft, ähnlich wie es Foucault (2009) für das Regieren mit Dingen beschreibt. Die Untersuchungsgebiete sind daher Transformationsgebiete nicht nur in physischer Hinsicht, sondern auch in sozialer. Sie stellen die materiell sicht- und wahrnehmbare Veränderung der Gesellschaft von einer Industrie- zu einer Wissensgesellschaft dar, deren ökonomische Infrastrukturen sich verändern: Aus Werften und Brauereien werden Bürogebäude der wissensintensiven Industrien.
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5. U mnutzung als I nszenierung des V ergangenen und des Wandels der G esellschaft : von der I ndustrie - zur W issensgesellschaft Die exemplarisch vorgestellten Transformationsgebiete zeigen, dass Infrastrukturen als Relikte einer spezifischen urbanen Vergangenheit in die materiell-räumliche Konstruktion und Konstitution von Räumen einbezogen werden. Dies geschieht explizit durch die planerische Gestaltung der Gebiete und implizit durch die Wahrnehmung der physisch-räumlichen Umwelt durch die NutzerInnen selbst. Damit wird eine Vergangenheit inszeniert, und Umnutzungen von ausgewählten Gebäuden – etwa von Industriedenkmälern – stellen Elemente dieser Inszenierung der Vergangenheit dar und sichern die Identifikation der NutzerInnen mit der urbanen Umwelt im Kontext der sich wandelnden Gesellschaft. Die von mir im ersten Teil des Aufsatzes herangezogene Unterscheidung zwischen transmutable objects (Knorr Cetina 2001) und Objekten mit fixierten Bedeutungen und Strukturen lässt sich nun für die Interpretation der Umnutzung von Infrastrukturen heranziehen. Die Umnutzung stellt dabei genau das Moment dar, in dem aus den fixierten Objekten transmutable objects werden. Die Transformation der Gesellschaften von industriell zu postindustriell verändert den Umgang mit den Infrastrukturen, die für die industrielle Gesellschaft eine bestimmte Bedeutung aufwiesen. Diese Bedeutung erhielten sie aufgrund ihrer Nutzung als Orte der industriellen Produktion – sei es der Produktion von Bier oder der Produktion von Schiffen. Ihre fixierte und materiell symbolisierte Bedeutung war die der Industriearbeit. Indem dieselben Orte nun für postindustrielle Arbeit genutzt werden, hat sich eine Bedeutungsverschiebung ereignet. Die Infrastrukturen sind veränderlich geworden und stehen im Prozess, eine neue Bedeutung zugewiesen zu bekommen. Bevor sich diese neue Bedeutung semiotisch und materiell fixiert, sind sie einen bestimmten Zeitraum lang transmutable objects.
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Erläuterungen zu den Interviewverweisen
Kürzel
Datum und Ort des Interviews
Beruf der/des Interviewten
Beschreibung der Aufgaben der/des Interviewten
DDH1
16.9.2008 The Digital Depot, Dublin
Repräsentantin der Digital Hub Development Agency
verantwortlich für Strategien und Inhalte des Digital Hub
DDH2
22.9.2008 The Digital Exchange, Dublin
2 Repräsentanten des Digital Hub
Repräsentant 1 verantwortlich für die Umsetzung der Strategien; Repräsentant 2 verantwortlich für Marketing und Strategieentwicklungen, nahm auf Initiative von Repräsentant 1 am Gespräch teil
GLSP1
8.4.2009 Lindholmen Science Park, Göteborg
Repräsentant des Lindholmen Science Park
verantwortlich für die strategische und inhaltliche Entwicklung des Lindholmen Science Park
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Selbstorganisierte Infrastrukturen in der Stadt Alltagsleben mit eco-san-Technologien Birke Otto1 In Zeiten von Ressourcenknappheit, demografischen Veränderungen und Klimawandel wird die mehr als 150 Jahre alte zentralisierte Wasserver- und Abwasserentsorgung in deutschen Städten zunehmend in Frage gestellt. Sie wird vor allem aufgrund ihres hohen Energie- und Frischwasserverbrauchs, überdimensionierter und veralteter Technik sowie ihrer top-down Organisation kritisiert (Hoyer et al., 2011; Kluge und Libbe, 2010). Seit den 1980er Jahren sind in mehreren deutschen Städten parallel zu dieser Kritik einige selbstorganisierte Siedlungen entstanden, die sich komplett vom städtischen Entsorgungssystem abgekoppelt haben und ihr Abwasser selbstständig behandeln. Dafür nutzen sie Technologien wie Trockentoiletten und Pflanzenkläranlagen, die von einigen wenigen engagierten, oft aus der Naturschutzbewegung stammenden IngenieurInnen auf Grundlage tradierter Technologien entwickelt wurden. Diese städtischen Anlagen sind in Deutschland rar und verlangen engagierte BewohnerInnen. Parallel hierzu entstehen Pilotprojekte, die mit aufwendigen high-tech-Verfahren neue Methoden zum dezentralen Recycling von Abwasser entwickeln (z.B. DEUS 21, Hamburg Water Cycle).2 Sowohl die selbstorganisierten low-tech und low-cost-Modelle der im folgenden beschriebenen Ökosiedlungen als auch die technik- und kostenauf1 | Der Beitrag entstand als Teil des Projektes, Saving (on) Water. Eco-San Communities in Germany, dass Birke Otto gemeinsam mit dem Ingenieur Prof. Dr. Wolfgang Dickhaut im Rahmen der Forschungsinitiative „Low-Budget Urbanity. Zur Veränderung des Städtischen in Zeiten des Sparens“, an der HafenCity Universität Hamburg durchführte (www.low-budget-urbanity.de). Mein Dank gilt Wolfgang Dickhaut und Alexa Färber für die fruchtbare Zusammenarbeit, sowie Heike Derwanz und Antje Matern für das aufmerksame Lesen und Kommentieren dieses Textes. 2 | http://www.igb.fraunhofer.de/de/kompetenzen/umweltbiotechnologie/wassermanagement/abwasserreinigung-knittlingen.html; http://www.hamburgwatercycle.de/
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wendigen Pilotprojekte lassen sich unter den Überbegriffen ‚neuartige Sanitärsysteme’ oder ‚ecological sanitation’ (eco-san) zusammenfassen. Ihnen ist gemeinsam, dass Abwasser lokal gereinigt und wiederverwertet wird. Durch das Prinzip der lokalen Wiederverwertung knüpfen diese Technologien an gegenwärtig prominente Debatten zur Kreislaufwirtschaft und nachhaltigen Stadtentwicklung an. Während das konventionelle städtische Entsorgungssystem Abwasser über etliche Kilomenter in unter der Erde verlaufenden Rohren zur zentralisierten Kläranlage transportiert und die Organisation dessen meist in der Hand von ingenieurswissenschaftlichen ExpertInnen liegt, wird Abwasser hier in lokalen ‚Stoffkreisläufen’ separat behandelt. Es entsteht eine (In)Wertsetzung des ehemaligen Abfallproduktes Abwasser, die die ‚lineare’ Funktionsweise des konventionellen und allgemein akzeptierten Systems in Frage stellt. Dieser Beitrag beschreibt die sich wandelnden Bedeutungszuschreibungen von Abwasser und deren Auswirkungen auf gelebten städtischen Alltag am Beispiel dezentraler Abwasserentsorgung in der Stadt. Hierzu wurden einerseits BewohnerInnen von städtischen Ökosiedlungen mit eco-san-Technologien während einer ethnographischen Forschung zu ihren Alltagserfahrungen mit einem alternativen Sanitärsystem befragt. Der Beitrag stützt sich andererseits auf Literatur aus der sozialwissenschaftlichen und ethnographischen Stadtforschung, die im Zuge des ‚material turns’ ein verstärktes Interesse an der gesellschaftlichen Wirkung von und Interaktion mit städtischen Infrastrukturen entwickelt hat. Hier steht die These im Vordergrund, dass Infrastrukturen im städtischen Alltag unsichtbar sind: einerseits weil grundlegende Materialitäten der Versorgung, wie Rohre und Leitungen, meist unter der Erde ‚versteckt’ liegen. Anderseits weil ihre Omnipräsenz als selbstverständlich wahrgenommen und nicht hinterfragt wird (Mumford, 1961: 563, Star, 1999, Starosielski, 2012: 39). Nur im Falle ihres Versagens, wie einer Kellerüberflutung oder eines Stromausfalls, gewinnen sie die Aufmerksamkeit der NutzerInnen (Graham und Marvin, 2001). Vor diesem Hintergrund versuchen vor allem in den Science und Technology Studies angesiedelte ethnographische Studien die Wirkung von solchen Infrastrukturen sichtbar zu machen (Pink, 2012, Pinch 2009). Diese Eigenschaft der Unsichtbarkeit ändert sich jedoch in Pilotprojekten zur klimafreundlichen Stadt. Hier werden ressourcenorientierte Technologien und partizipatorische Strategien entwickelt, die infrastrukturelle Prozesse strategisch in das Aufmerksamkeitsfeld der StadtbewohnerInnen rücken, um einen bewussteren Umgang mit wertvollen Ressourcen zu stimulieren (Bulkeley et al., 2011; Rubio und
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Fogué, 2013). Vor diesem Hintergrund der sich wandelnden Formen von Sichtbarkeit sollte die Unsichtbarkeitsthese in der sozialwissenschaftlichen und ethnographischen Infrastrukturforschung neu bewertet werden. Das hier vorgestellte Fallbeispiel der eco-san-Technologien veranschaulicht, wie diese verschiedenen Prozesse des (Un)sichtbar-machens aus der NutzerInnenperspektive zum Tragen kommen. Der Beitrag schließt mit der These, dass durch die Nutzung von eco-san-Technologien Abwasserbewirtschaftung zu einem wichtigen Element der Alltagserfahrung und damit auch ‚sichtbar’ wird. Die dadurch neu entstehende Wertigkeit von Abwasser produziert vielfältige Wirkungen auf das städtische Alltagsleben und soll hier erörtert werden.
(U n -)S ichtbarkeiten der städtischen I nfrastruktur Unsichtbare Infrastrukturen Der Begriff des ‚sauberen Urbanismus’ bezeichnet das städtebauliche Ideal der Moderne (Stokman, 2012). Er charakterisiert die weitestgehend unsichtbare Wasserver- und Abwasserentsorgung der westlichen Stadt, die Trinkund Abwasser unterirdisch über Hunderte von Kilometern durch die Stadt transportiert. Dies hat weitreichende Folgen für die städtische Organisation und steht in einer engen Wechselwirkung mit sozialen und privaten Verhaltensweisen. Autoren wie Laporte (2002), Heidenreich (2004) oder Frank und Gandy (2006) zeigen, wie das Wasserver- und Abwasserentsorgungssystem des frühen 20. Jahrhunderts und dem ihm zugrundeliegenden Sauberkeitsideal nicht nur zum Symbol des Fortschritts und der Moderne wurde, sondern den Alltag der städtischen Bevölkerung auf ganz spezifische Weise prägt. Die Installation von Wasserrohrleitungen, die bis in die Häuser reichen und damit das alltägliche menschliche Geschäft in den privaten und abgeschlossenen Raum des Badezimmers verlegen, erhebt sehr spezifische Standards in Bezug auf Hygiene und Privatheit. Gleichzeitig erzeugt ein solches System die Erwartung, dass sauberes Wasser jederzeit und in nicht zu versiegenden Mengen zur Verfügung steht. Mit anderen Worten, die Infrastruktur wird – zumindest in Städten des globalen Nordens – in der alltäglichen Nutzung als selbstverständlich wahrgenommen (Kaika, 2005: 266; Edwards, 2002). Hier wird städtische Wasserver- und Abwasserentsorgung durch Eigenschaften von Zentralität, top-down Organisation, technische Komplexität und großflächige Territorialität charakterisiert (Van Laak, 2001). Städtebaulich ist das Ver- und Entsorgungssystem vorrangig durch die Dominanz der
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Ingenieursdisziplinen geprägt, die für Planung, Bau und Organisation der Infrastruktur verantwortlich sind (Van Laak, 2001; Graham und Marvin, 2001). Hier entsteht eine Experten-‚Blackbox’: Wissen über Kosten, Aufwand und Verbrauch infrastruktureller Versorgung ist den NutzerInnen nicht leicht zugänglich, da das System auf einer produzierten Distanz zwischen VerbraucherIn und Versorger basiert, deren Beziehung lediglich über die monatliche oder gar jährliche Rechnung ins Bewusstsein rückt (Moss, 2001). So gelten trotz oder gerade wegen ihrer Omnipräsenz diese hochkomplexen Systeme in der Alltagsnutzung als unsichtbar und ihre sozio-technische Organisation liegt meist jenseits bürgerlicher Beteiligung. Das sozio-materielle Netzwerk, dass die tägliche Dusche ermöglicht, die Waschmaschine mit Wasser versorgt und menschliche Ausscheidungen diskret durch das Abflussrohr der Toilette entsorgt, verschwindet unter der Erde und entzieht sich in den Expertisebereich der IngenieurInnen und der Verwaltung städtischer Bürokratie. Nur im Fall einer Störung der als selbstverständlich wahrgenommen Dienstleistung wird die städtische Wasserver- und Abwasserentsorgung im Alltagsleben sicht- und erfahrbar (Graham und Marvin, 2009; Star 1999). Die Unsichtbarkeitsthese der hier beschriebenen Ansätze bezieht sich allerdings nur auf eine in der Regel gut funktionierende städtische Ver- und Entsorgung mit Universalitätsanspruch. Sie greift nicht mehr, sobald sich das herrschende Paradigma der zentralisierten Organisation und technischen Komplexität wandelt.
Sichtbarmachen von Infrastrukturen Die in den von den Science und Technology Studies beeinflussten ethnographischen Studien zu Infrastrukturen werfen ihren Blick auf die nicht leicht erkennbaren Mikroprozesse der wechselseitigen Beziehungen zwischen menschlichen und materiellen Akteuren. Hier wird das Zusammenspiel von Bedeutung, sozialen Gruppen und Technologie an einzelnen, kleinteiligen und alltäglichen Beispielen ergründet (z.B. Pinch, 2009). Die Ethnologin Susan Leigh Star erklärt am Beispiel von Informationstechnologien die relationalen Bedeutungen von Infrastrukturen für unterschiedliche Gesellschaftsgruppen und zeigt, dass Erfahrungen von Infrastrukturen individuell und unterschiedlich sind, gleichzeitig aber kollektive Lernerfahrungen voraussetzen (Star, 1999). Ein vielzitierter Artikel über eine Wasserpumpe in Simbabwe beschreibt diese vielfältige sozio-technischen Wirkungen, von z.B. gesundheitsfördernd, durch gemeinsame Betreuuung auch als gemeinschaftsfördernd bis nationale
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Identität schaffend erweisen (de Laet/Mol 2000). Die Pumpe wird nicht nur als mechanischer Gegenstand mit feststehenden, planbaren Funktionen beschrieben, sondern ihre verschiedenen Bedeutungen und damit verbundenen Wirkungen ergründet. Eine solche Vorgehensweise auf das Forschungsobjekt Wasserversorgung zeigt die Verstrickung einer Infrastrukturtechnologie mit einer sozialen Gemeinschaft und den Wechselwirkungen verschiedener Bedeutungszuschreibungen. Der Blick wird verschoben und die ‚Unsichtbarkeit’ von Wasserver- und -entsorgung in Frage gestellt. Forschungen zur ‚Sichtbarmachung’ von als selbstverständlich wahrgenommenen Ressourcen werden auch in Debatten um Verhaltensänderungen in Bezug auf Ressourcenkonsum interessant. Sarah Pink widmet sich beispielsweise der ethnographischen Erforschung ‚unsichtbarer’ Energie, wie Strom und Heizwärme im Haushalt (Pink, 2012, siehe auch Strengers, 2013). Allerdings begrenzen diese Studien ihre Beobachtungen auf den häuslichen Bereich und weniger auf ein Zusammenspiel von Nutzererfahrung und städtischen Veränderungen.
Sichtbare Infrastrukturen Während die oben beschriebenen Ansätze zwar die bedeutende Rolle von Infrastrukturen für das Alltagsleben hervorheben und diese damit ‚sichtbar’ machen, stellen sie nicht die generelle These der Unsichtbarkeit in Frage. Studien im interdisziplinären Diskurs der Low Carbon Cities (Vgl. Bulkeley et al., 2011) deuten jedoch auf einen langsam entstehenden Paradigmenwechsel im Bereich infrastrukturelle Versorgung hin. Gegenwärtige städtische Herausforderungen wie Klimawandel, demografische Veränderungen und Austerität setzen die veralteten Infrastruktursysteme unter einen erheblichen Transformationsdruck. Die Erprobung neuer ressourcenorientierter Technologien und integrierter stadtplanerischer Maßnahmen in ersten Pilotprojekten versucht neue Schwerpunkte für eine nachhaltigere und effizientere Versorgung zu setzen. In Bezug auf Wasserver- und Abwasserentsorgung testen beispielsweise die Hamburger Wasserwerke im Pilotprojekt ,HamburgWaterCycle’ die Möglichkeiten eines integrierten, lokalen Wasser- und Energiekreislaufs in einem Neubaugebiet für 2.000 Bewohner. Hier werden die einzelnen Stoffströme (Regenwasser, Grauwasser und Schwarzwasser) separiert behandelt und wiederverwertet, anstatt das gesammelte Abwasser gemeinsam mit Regenwasser durch die Schwemmkanalisation in das fernliegende Klärwerk zu transportieren. Das gesammelte Schwarzwasser wird in der lokalen Biogasanlage zu Energie (Wärme und Strom) umgewandelt (www.hamburgwatercycle.de). Ein weiteres Beispiel ist das Passi-
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vhaus am Arnimplatz in Berlin, in dem 41 Wohneinheiten ihr gesammeltes Grauwasser (aus Dusche und Badezimmer) in einer im Keller befindlichen Grauwasseranlage biologisch reinigen und als Betriebswasser für Toilettenspülungen wiederverwerten (http://www.nolde-partner.de/node/32). Trotz ihrer Unterschiedlichkeit teilen diese Projekte, dass sie nicht nur das zentralisierte Versorgungssystem, sondern auch die damit einhergehende ‚Unsichtbarkeit’ infrastruktureller Versorgung in der Stadt verändern. Sie zeigen einen Trend zu lokalen, dezentralen und integrierten Systemen, die unter den Prinzipien des lokalen Stoffkreislaufs und verstärkter NutzerInnenpartizipation operieren (Rutherford und Coutard 2014; Egyedi und Mehos 2012). Sichtbarmachen wird hier oft ausdrücklich zum zentralen Grundsatz und konkret in die Planung dieser Technologien einbezogen, um einen bewussteren Umgang mit knappen Ressourcen auf Seiten der NutzerInnen zu bewirken (vgl. Rubio und Fogué, 2013). Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden erörtert werden, welche Rolle (Un)Sichtbarkeiten in der Installation und Nutzung von eco-san-Technologien spielen und welchen Einfluss diese auf die Bedeutungszuschreibungen des Elements ‚Abwasser’ haben. Das Ziel dieser Fragestellung ist es zu veranschaulichen, wie dezentrale Infrastrukturleistungen städtisches Alltagsleben verändern.
Vorgehensweise Dieser Beitrag beruht auf einem sozio-materiellen Ansatz, der durch die interdisziplinäre Verstrickung von Ingenieurswissenschaften und ethnologischer Stadtforschung ermöglicht wird. Die Stadt wird hier als ein stets emergentes, sich veränderndes, zeit- und raumspezifisches Phänomen verstanden, das sich an konkreten Orten durch urbane Praktiken und gebaute Infrastrukturen ständig neu zusammensetzt und verändert (vgl. Farias und Bender, 2010). Der Begriff Infrastruktur hingegen beschreibt die grundlegenden physischen und organisatorischen Strukturen der ‚modernen’ Stadt – Straßen, öffentlicher Verkehr, Müllabfuhr, Stromversorgung, Wasserver- und Abwasserentsorgung, welche auf vielfältige Weise untersucht werden können (ökonomisch/volkswirtschaftliche, technik/ingenieurswissenschaftlich, sozialwissenschaftlich, anthropologisch, etc.) (Gandy, 2011: 58). Im Folgenden wird eco-san als Infrastruktur jedoch interdisziplinär betrachtet, indem auf die sozio-materiellen Charakteristika ebendieser eingegangen wird. Mit
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anderen Worten, die sozialen und technologischen Aspekte der Infrastruktur sollen als ein ‚Hybrid’, eine ‚Assoziation menschlicher und nicht-menschlicher Elemente’ (Amin, 2014) beobachtet werden. Als solche sozio-technische Assemblage sind Infrastrukturen also auch sozial, mit hoher symbolischer, ästhetischer und sensorischer Macht ausgestattet. Städtisches Alltagsleben und Infrastrukturen stehen damit in einem ständigen Prozess der wechselseitigen Einflussnahme (ibid.). Der Beitrag basiert auf Interviews mit NutzerInnen, InitiatorInnen und IngenieurInnen sowie Besuchen und ethnographischen Beobachtungen in Ökosiedlungen mit Trockentoiletten und Pflanzenkläranlagen in Deutschland. In einem ersten Schritt wurde durch eine Online-Recherche und Experten-Befragung ein scanning und mapping der städtischen Siedlungen mit eco-san Technologien in Deutschland durchgeführt. Zweitens wurde durch Interviews mit IngenieurInnen und EntwicklerInnen der eco-san-Technologie die Funktionalität und Stoffkreisläufe der Technologie nachgezeichnet. Zusätzlich wurden mit einem offenen Leitfaden die BewohnerInnen der Ökosiedlungen interviewt und nach ihrem Wasserverbrauch, der Stoffflusstrennung, Kosten, Motivationen, Zufriedenheit und Problemen mit der Technologie befragt und teilnehmende Beobachtungen durchgeführt. Daraufhin wurden Stoffflussschemata, Kostenkalkulationen und Beschreibungen der Beobachtungen aufgestellt. Im methodologischen Vorgehen konzentriert sich dieser Beitrag daher nicht einseitig auf Kriterien der Funktion, Kosten, Akzeptanz oder Nachhaltigkeit von eco-san. Um das sozio-materielle Zusammenspiel von Stadt und Technologie zu erörtern, werden die Beobachtungen funktional und aus Sicht der NutzerInnen beschrieben. Der ethnographische Ansatz erörtert also die lokalen Bedeutungszuschreibungen von Abwasser im Zusammenhang mit eco-san und zeigt, wie sie sich von der konventionellen Abwasserentsorgung unterscheiden. Die ingenieurswissenschaftlichen Betrachtungen demonstrieren die Funktionen und zugrundeliegenden Prämissen der Technologie. Denn die Bedeutung von Abwasser ist nicht fester Ausdruck eines stabilen infrastrukturellen Systems, sondern kontingent und veränderbar (Star 1999: 377). Um dieses komplexe Gefüge in seiner Beziehung zu einer städtischen Infrastruktur analytisch zu erschließen, soll die städtische Assemblage hier in den urbanen Ordnungsdimensionen Subjektivitäten, Imaginationen/Diskurse und Territorialitäten beschrieben werden (vgl. Fär-
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ber und Otto, Im Erscheinen).3 Das Ziel ist es, durch verschiedenen Perspektiven die ‚blackbox’ der Technologie zu öffnen (Latour, 1996) und ihre alltäglichen und städtischen Wirkungsweisen zu beschreiben.
B eobachtungen: Stoffkreisläufe und G emeinschaftsbildung durch eco - san Funktionsweisen Trockentoiletten werden in den Ökosiedlungen Bielefeld Waldquelle, Kieler Scholle, Hamburg Braamwisch und Hamburg Allermöhe verwendet. Pflanzenkläranlagen befinden sich in den oben genannten Ökosiedlungen und zusätzlich in Lübeck Flintenbreite, Berlin Kreuzberg-Block 106, Berlin Johannesthal und Berlin Schöneiche. Die hier untersuchten Trockentoiletten unterscheiden sich auf den ersten Blick nicht von einer konventionellen Spültoilettte. Sie befinden sich im Badezimmer des jeweiligen Hauses und sammeln menschliche Abfälle (Fäkalien, Urin), Toilettenpapier und organische Haushalts- und Gartenabfälle, indem diese über Fallrohre in einen im Keller stationierten Behälter fallen. Im Unterschied zur konventionellen Toilette wird hier jedoch kein Spülwasser benötigt. So kann über einen Zeitraum von ungefähr sechs Monaten bis zu zwei Jahren ein organischer Zersetzungsprozess stattfinden. Die daraus gewonnene Komposterde wird als Pflanzendünger im Garten verwendet. Der Inhalt des Behälters wird einmal im Monat von den BewohnerInnen durch eine von außen bedienbare Vorrichtung gemischt. Ein Lüftungssystem sorgt für einen geruchsfreien Betrieb der Toiletten. Für die Entsorgung des restlichen Abwassers – das sogenannte Grauwasser – aus Küche und Bad wurden in diesen Siedlungen Pflanzenkläranlagen installiert. Das nur schwach mit Nährstoffen belastete Grauwasser wird hierbei über Gefälleleitungen aus den Häusern heraus- und durch ein zentral gelegenes Pflanzenbeet geleitet. Durch diesen Sickerprozess wird es erst von Grobstoffen gereinigt und dann durch drei bewachsene Sandfilter (Pflanzenkläranlagen) geleitet. Dadurch entsteht eine Reinigungsleistung, die durch die in Sandkörper siedelnden Mikroorganismen erbracht wird. Die Bepflanzung, 3 | Diese Ordnungsdimensionen wurden innerhalb des Forschungsprojekts Low Budget Urbanity. Zur Transformation des Städtischen in Zeiten des Sparens entwickelt, um die sozio-materiellen Prozesse der städtischen Assemblage zu beschreiben. Zur Erläuterung dieses Ansatzes, siehe Färber und Otto, Im Erscheinen.
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meist Schilf, unterstützt dabei die Belüftung. Aufgrund der geringen Nährstoffbelastung (Stickstoff, Phosphor und Kalium) des Grauwassers, ist eine weitgehende biologische Reinigung des Grauwassers in der Pflanzenkläranlage leicht und die Anlage kostengünstig installierbar. Abbildung 1: Stoffflussschema Hamburg Braamwisch
Quelle: Birke Otto
Der Abfluss der Grauwasserbehandlung wird regelmäßig kontrolliert und muss Badewasserqualität aufweisen, um in einen nachgeschalteten Teich oder ähnliches Oberflächengewässer geleitet zu werden. Der Unterschied dieser Systeme zum städtischen Entsorgungssystem ist die sogenannte Stoffflusstrennung. Die verschiedenen Abwasser (Schwarz- und Grauwasser) werden nicht durch dasselbe Abflussrohr gespült und am ‚Ende der Leitung’ (end-of-pipe solution) behandelt, sondern in unterschiedliche ‚Stoffströme’ separiert und direkt vor Ort behandelt. Abbildung 1 stellt exemplarisch ein Stoffflussschema der Siedlung Hamburg Braamwisch dar. Das Schema zeigt die Differenzierungen und unterschiedlichen Verwendungszwecke der einzelnen Stoffflüsse. Stofffluss-Management ist ein sich verbreitendes Konzept in der nachhaltigen Stadtentwicklung mit dem Ziel ein ökologisch und ökonomisch effizientes Management von Energie und Stoffflüssen im städtischen Raum zu integrieren. Das Konzept betrachtet den
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Lebenszyklus der einzelnen materiellen Stoffe und unterliegt dem Prinzip, dass immer nur soviel aus der ‚Natur’ entnommen wird, wie die Natur zurückgeben kann (Guy et al., 2001). Durch diese Betrachtungsweise bekommt Abwasser eine völlig neue Bedeutung, es wird differenziert in seinen unterschiedlichen Funktionalitäten betrachtet und in Wert gesetzt.
NutzerInnenerfahrungen „Ein sanftes Rauschen entströmt dem dunklen Loch der Kloschüssel. Sonst sieht und riecht man nicht viel. Nach dem Benutzen des Klos greife ich automatisch hinter mich, um die Spülung zu betätigen, doch finde keinen Knopf. Ich bin irritiert.“ (Notizen aus teilnehmender Beobachtung, B.Otto, 21.8.2012)
Die Komposttoilette in Frau Müllers4 Gäste-WC in der Öko-Siedlung Hamburg Braamwisch funktioniert ohne Spülung, dass heißt ohne Wasser. Menschliche Fäkalien, Urin und Toilettenpapier fallen durch einen langen Schacht direkt in einen Auffangbehälter in den hauseigenen Keller, wo diese organischen Materialien langsam kompostieren. Die leise rauschende Belüftungsanlage sorgt dafür, dass keine unangenehmen Gerüche durch den Schacht zurück ins Badezimmer strömen. Familie Müller wohnt gemeinsam mit circa 20 weiteren Familien in dieser Hamburger Siedlung, die vom städtischen Entsorgungssystem abgekoppelt ist. Die Häuser verfügen über Komposttoiletten, die das Schwarzwasser sammeln. Grauwasser aus Dusche und Küche wird in einer in der Mitte der Siedlung angelegten Pflanzenkläranlage gereinigt und in das naheliegende Flies geführt. „Frau Müller führt mich in den Keller, der Ort des Auffang- und Fermentierungsbehälters. Sie öffnet die untere Schublade und eine braune Masse, die Gartenerde ähnelt, kommt zum Vorschein und ein zwar nicht dominanter, doch unangenehm süß-saurer Geruch tritt mir in die Nase. Ein leicht unbeholfenes Lächeln unterliegt unserem Gespräch hier im Keller - schließlich zeigt mir Frau Müller gerade die körperlichen Ausscheidungen ihrer gesamten Familie aus den letzten sechs Monaten. Eine nicht alltägliche Situation.“ (Notizen aus teilnehmender Beobachtung, B.Otto, 21.8.2012) Für Familie Müller sind die Komposttoiletten jedoch häufig Thema im Alltag: Besuch der Familie muss vor der Toilettennutzung über die fehlenden Wasserspülung eingeweiht werden und die Einweisung resultiert häufig in einem Gespräch über die Motivationen und Beweggründe der Installation von 4 | Alle Namen wurden geändert.
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eco-san; das Teenager-Alter erreicht, wurde es dem Sohn der Familie manchmal unangenehm Freunde mit nach Hause zu bringen; häufiger haben sie Besuch von InteressentInnen, der ihre Klos aus der Nähe betrachten wollen. Hinzu kommt, dass die Familie einmal im Monat den Inhalt des Auffangbehälters im Keller manuell durch einen aus dem Behälter herausragenden Stab mischt. Alle sechs Monate wird die nun fertige Komposterde entnommen und im Garten für Blumen und unter Büschen verteilt. Die Instandhaltung der Toilette wird zur Hausarbeit. Dies erfordert Absprachen zwischen den BewohnerInnen, einen zusätzlichen zeitlichen Aufwand und teilweise anstrengende körperliche Betätigung. Die alltägliche Auseinandersetzung mit der Technologie ist jedoch keine siedlungs-interne Eigenschaft, die Kommunikation über eco-san findet auch nach Außen statt. Die Anlage ist ein wichtiger Teil der Selbstdarstellung auf vielen der Websites der Ökosiedlungen und sie sind Anlaufort für Forschergruppen, interessierte Unternehmen oder IngenieurInnen aus dem In- und Ausland. Mit anderen Worten, was in städtischen Haushalten normalerweise unsichtbar ist, wird hier zu einem festen Bestandteil des Alltagslebens und in das öffentliche Repertoire der Repräsentation geführt. Das Schweigen oder Unbehagen, dass die Kommunikation über das ‚ stille Örtchen´ normalerweise bereitet, wird durch die oben beschriebenen Handlungen teilweise normalisiert und durch die Thematisierung des Wassersparens positiv besetzt. „Der Mechanismus der eco-san-Technologie bei Familie Müller funktioniert nicht immer einwandfrei. ‚Manchmal leckt der Behälter’, erzählt Frau Müller, und zeigt auf die braune, übelriechende Flüssigkeit im unteren Teil der offenstehenden Schublade des Behälters.“ (Notizen aus teilnehmender Beobachtung, B.Otto, 21.8.2012) Aufgrund der geringen Verbreitung dieser Technologie gibt es keine Dienstleister, keinen Klempnerservice, den die Familie bei Störungen bestellen könnte. Durch langjähriges ‚Herumexperimentieren´ hat Herr Müller endlich ein eigenes System entwickelt, dass aus einer handelsüblichen Wasserpumpe besteht und die überschüssige Flüssigkeit über Schläuche in den Garten leitet. Das Betreiben und die Instandhaltung der Anlage erfordern einen regelmäßigen, teilweise zeitintensiven und körperlich anstrengenden Arbeitseinsatz. Dies wird nicht notwendigerweise negativ bewertet, gerade die halbjährigen gemeinschaftlichen Arbeitstage für die Reinigung der Pflanzenkläranlage werden als positiv für die Gemeinschaftsbildung der BewohnerInnen der Siedlung gedeutet. Jedoch beschreibt Herr Reuter aus der Öko-Siedlung
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Kieler Scholle auch problematische Aspekte von Arbeitseinsätzen, wie dem monatlichen Gang in den Keller, um den Inhalt des Behälters durchzumischen und die halb-jährig anstehende Entleerung des Komposts. Erst jetzt, 20 Jahre nach der Gründung der Ökosiedlung – die Kinder sind erwachsen und ausgezogen – werden die Komposttoiletten und die regelmäßig zu reinigenden Pflanzenkläranlagen für die alternden GründerInnen manchmal zu einer belastenden Alltagsaufgabe. Alle InterviewpartnerInnen berichten, dass sie sich damals bei den Gründungen der Ökosiedlungen engagierten, weil sie autofrei, klimaneutral, und wassersparend leben wollten und damit ihren Kindern ein Vorbild für den Schutz der Natur und zukünftiger Generationen sein konnten. Während die konventionelle Spültoilette ca. 33l frisches Trinkwasser aus der Leitung pro Tag pro Person verbraucht – circa 27% des durchschnittlichen täglichen Wasserverbrauchs einer Person in Deutschland – entsteht bei der Trockentoilette kein Abwasser. Es werden ca. 48 Kubikmeter Abwasser pro Jahr pro Person eingespart. Zusätzlich reduziert sich die Trinkwassernutzung aufgrund der nicht vorhandenen Wasserspülung bei der Trockentoilette um ca. 12 Kubikmeter Wasser pro Person pro Jahr. Dadurch entstehen weniger Gebühren für die Trinkwassernutzung und keine Gebühren für die Abwasserentsorgung. In den Interviews zeigte sich jedoch, dass sich die Motivationen der NutzerInnen weder auf rein ökonomische noch ökologische Motive reduzieren lassen. Die potentiellen finanziellen Einsparungen sind aufgrund der Komplexität der Bedingungen für die NutzerInnen nur ungenau berechenbar. Dies zeigte schon allein die Tatsache, dass es schwierig bis unmöglich ist die genauen Investitionskosten nachzuvollziehen. Die Kosten setzen sich zusammen aus einem komplexen Zusammenspiel von monetären und nicht-monetären Elementen wie Eigenfinanzierung, Fördergeldern, Eigenarbeit, externe Hilfestellungen, Experimentieren, und Ausprobieren verschiedener Funktionsweisen. Die Kostenfrage schien aus Sicht der NutzerInnen jedoch zweitrangig. Die BewohnerInnen entschieden sich ausdrücklich aus ökologischen Gründen für eco-san. Ökologisches Leben steht hier für eine ‚Nicht-Belastung der Natur’, die durch eco-san ermöglicht werden soll. Das konventionelle System hingegen wird als starker und ‚ unnatürlicher´ Eingriff in die Natur bewertet. Die Natur wird hier zu einem – fast personifizierten – Akteur, der von den Menschen möglichst nicht belästigt, oder infiltriert werden darf, ‚in Ruhe gelassen werden soll’ (Interview Herr Jäger). Eco-san hilft natürliche Ressourcen respektvoll zu nutzen und nicht zu verschwenden (Interview Frau Müller).
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D ie Technologie im städtischen G efüge Subjektivitäten: Verhaltensänderung und Vorbildrolle Während zuvor Wasserver- und Abwasserentsorgung in Städten fragmentiert, d.h. in vielen verschiedenen Einzellösungen organisiert wurde, führt die Einführung des zentralisierten Systems im 20. Jahrhundert zur Verbreitung des Badezimmers und der Spültoilette. Diese prägen alltägliches Verhalten und gesellschaftliche Normen bezüglich körperlicher Hygiene, Gerüche und Privatheit (Heidenreich, 2004; Graham und Marvin, 2001; Frank und Gandy, 2006). Der häusliche Anschluss erlaubt den Konsum von Wasser jederzeit und in scheinbar unbegrenzten Mengen; das nasse Gut muss nicht mehr selbstständig oder von Dienstboten von kollektiven Brunnen geholt werden (Frank und Grandy, 2006) und das regelmäßige Vollbad und häufige Duschen wird durch die neuen Möglichkeiten zur gesellschaftlichen Norm (Kramer, 1997). Die so entstehenden hygienischen Standards formen und verbreiten die bürgerlichen Ideale der Moderne in Bezug auf Reinlichkeit, Häuslichkeit und Schamgefühl. Die Harn- und Kotentleerung in der Öffentlichkeit wird seither als unschicklich wahrgenommen. In den häuslichen Bereich verlegt, an den vor Blicken geschützten Ort des Badezimmers, wird die Praktik der körperlichen Reinigung und der Akt der menschlichen Ausscheidung privatisiert und bleibt in der Öffentlichkeit unsichtbar. Laut Laporte findet ein Individualisierungsprozess statt, der die Menschen von einer Identifikation mit dem Kollektiv trennt (Laporte, 2002) und damit auch Toleranzlevel für Wahrnehmung der Gerüche und Abfälle anderer senkt (Corbin, 1986: 60). Gleichzeitig ist jedes Klo, jede Dusche in der Stadt über ein komplexes Rohrsystem mit der örtlichen Kläranlage verbunden, welches in dem Zuständigkeitsbereich der städtischen Organisation liegt. Diese interessante Dopplung von Individualisierung einerseits und kollektiver Organisation andererseits beschreibt, eine Umkehrung von Öffentlichkeit und Privatheit. Durch die Einführung zentralisierter Ver- und Entsorgung werden Hygieneprozesse privat, doch die Verantwortung für diese Prozesse in die öffentliche Hand gelegt (Laporte, 2002). Gleichzeitig findet die Entsorgung außerhalb des allgemeinen Wahrnehmungsbereich statt (im Rohrnetz unter der Erde, über ein komplexes bürokratisches System) und wird damit unsichtbar. Eine Auseinandersetzung mit dem Verbleib menschlicher Fäkalien ist nicht notwendig. Die hier beobachtete eco-san-Technologie durchbricht diese gesellschaftliche Ordnung des ‚sauberen Urbanismus’ der Moderne. Frau Müller (Hamburg Braamwisch) weiß sehr genau, wieviel Wasser sie wofür verbraucht,
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wie die Anlage funktioniert. Frau Arndt (Lübeck Flintenbreite) erzählt mit Erstaunen, dass der 5-jährige Bewohner der Siedlung Lübeck Flintenbreite genauestens die Funktionsweise der Pflanzenkläranlage erklären kann. Herr Müller (Hamburg Braamwisch) hat durch vielfaches Herumprobieren und Experimentieren das hauseigene Toilettensystem repariert. Diese Prozesse schaffen eine neue Nähe in Bezug auf ein alltägliches Geschäft. Sie entfalten bei ihren NutzerInnen andere Werte und Fähigkeiten, die sich stark auf ein ökologisches Bewusstsein und Eigenständigkeit beziehen. Wie oben beschrieben, verbrauchen NutzerInnen von eco-san Siedlungen aufgrund der wassersparenden Technologie weniger Trinkwasser als der bundesdeutsche Durchschnitt. Jedoch passen sie erstens auch ihr Verhalten dem übergeordneten Ziel des Naturschutzes an und achten auf einen sparsamen Umgang mit Wasser (z.B. durch kürzeres Duschen). Zweitens gibt es aufgrund der fehlenden Verbreitung und Standardisierung der Technologien keine Dienstleistungsunternehmen oder Installateure, auf die Instandhaltung und Reparatur gegen Bezahlung ausgegliedert werden können. Insofern liegt die Verantwortung für das Funktionieren des Systems alleinig bei den BewohnerInnen. Der simple Mechanismus der Trockentoilette und Pflanzenkläranlage unterstützt dies, da er für Laien nachvollziehbar ist. Die BewohnerInnen können diese im Falle eines Nicht-funktionierens selbstständig reparieren und eignen sich dadurch mit der Zeit neues Wissen über technische Details, Nachhaltigkeit und Kosten ihrer Abwasserentsorgung an. Diese aus der Notwendigkeit entwickelte Experimentierfreudigkeit, die das Betreiben von eco-san bedingt, führt dazu das Abwasserentsorgung nicht mehr allein in der ‚ blackbox´ der Experten liegt und die Trennung von Laie und Fachmann aufgebrochen wird. Das Wissen um diesen Prozess ist in das Alltagsleben integriert und beeinflusst das Nutzerverhalten. Die Verantwortung für das Funktionieren des dezentralen Systems liegt dabei weitgehend im Bereich der Einzelnen eingebettet in der lokalen Gemeinschaft. Diese wird hier weitgehend positiv gedeutet, die BewohnerInnen erfahren eine gewisse moralisch bedingte Zufriedenheit (‚ Leben im Einklang mit der Natur´/‚ Schutz späterer Generationen´) und ein Gefühl autarkeren Lebens (‚Unabhängigkeit von staatlichen, bürokratischen und technischen Systemen auf die man keinen Einfluss hat’). Hier entsteht drittens ein ‚Wasserbewusstsein’ (‚water consciousness’), das einen bewussteren und kollektiven Umgang mit der als wertvoll eingeschätzten Ressource Wasser ausdrückt - welches heutzutage im wissenschaftlichen und aktivistischen Diskurs stark eingefordert wird (z.B. Farrelly und Brown, 2011: 721). Insofern nehmen Ökosiedlungen mit dezentralisierter Abwasserentsorgung
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eine Vorbildrolle ein und sind Lernplattformen für WasserexpertInnen und StadtplanerInnen.
Diskurse/ Imaginationen: Inwertsetzung von Abwasser Die untersuchten Ökosiedlungen mit eco-san-Technologien entstanden durch selbst-initiierte Graswurzel-Bewegungen Ende der 1980er Jahre bis Anfang 2000. Durch Wassersparen und -recycling, klimaneutrales Bauen, autofreie Zonen und basisdemokratische, genossenschaftliche Organisation intendierten sie ein gesamt-ökologisches Konzept für ein nachhaltiges Leben in der Stadt. Die BewohnerInnen lassen sich mehrheitlich einem Mittelklasse-Milieu zuordnen, das sich mit der Umweltschutzbewegung der 1980/90 Jahre identifiziert. Damals war der abgesunkene Grundwasserspiegel in Städten wie Hamburg und Frankfurt/M. und die Verschmutzung von Grundwasser und Flüssen durch Schadstoffbelastungen aus nahegelegenen Industriegebieten ein medial viel diskutiertes Thema. Selbst örtliche Versorger, wie beispielsweise HamburgWasser, starteten breit angelegte Aufklärungskampagnen und forderten VerbraucherInnen und Industrie zum Wassersparen auf, da ‚Wasser kein unbegrenzt zur Verfügung stehendes Gut’ sei und ‚auch das Hamburger Grundwasser nicht in unendlicher Menge zu haben ist’ (Groppe und von de Boogart, 1992: 158ff). Die Schonung des natürlichen Wasserhaushalts sowie eine möglichst geringe Einwirkung auf ‚Flora und Fauna’ waren in den 1980er Jahren ausdrücklich strategische Unternehmensziele des städtischen Unternehmens (Otto, 2008). Anders als das zu Ende des 19. Jahrhundert konstruierte end-of-pipe System, dass Abwasser unter gesundheitspolitischen Aspekten (als Ursacher von Epidemien wie Cholera) aus der Stadt auszulagern versucht, zeigt sich hier ein seit den 1960er Jahren stattfindender Paradigmenwechsel in der deutschen Wasserwirtschaft. Mit dem Einsatz neuer Technologien (z.B. weiterentwickelte Klär- und Filteranlagen) wird zunehmend ein Fokus auf Umweltschutzmaßnahmen gelegt. Es wird verstärkt der Grundsatz vertreten, dass nur solche Wassermengen zu nutzen seien, die auch wieder regenerierbar seien (Guy et al., 2001; Heidenreich, 2004: 43; Farrelly und Brown, 2011). Durch die installierte eco-san-Technologie führen die BewohnerInnen diesen Gedanken auf kleinstem Maßstab weiter. Der Wunsch der BewohnerInnen die ‚Natur zu schützen’ und ‚sie in Ruhe lassen’, möglichst wenig in die Natur einzugreifen drückt eine ‚organische Vorstellung’ der städtischen Ordnung aus. Natur und Stadt sollen hier nicht separiert, sondern integriert werden (vgl. Gandy, 2006: 24). Dieses Bild der organischen Stadt erinnert an die
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städtische Ordnung vor der Einführung der zentralisierten Entsorgung. Ähnlich wie in den eco-san-Siedlungen heute, wurden Fäkalien damals als ein wertvoller Rohstoff betrachtet und als Dung verkauft, welcher in einem vormodernen Verständnis als Grundlage für Wohlstand galt (ibid.). Dies änderte sich radikal durch die Verbreitung der Spültoilette und Kanalisation. Denn hier werden unterschiedliche Abwasser gemischt, was den für Ackerbau notwendigen Nährstoffgehalt menschlicher Exkremente verwässert (ibid.). Während der Verlust von Dung erst als „Raubbau an der Natur bezeichnet” wurde, änderte sich diese Bedeutungszuschreibung durch die zunehmende Akzeptanz von Robert Kochs Theorie, dass Fäzes Träger von Krankheiten und Epidemien sind (ibid). Fäzes werden zum Symbol für Abscheu, Ekel und Bedrohung der allgemeinen Gesundheit. Dieses negative Image von Abwasser wird durch die eco-san-Technologie entkräftet. Die Wertschöpfung eines ehemaligen Abfallsproduktes durch eco-san ist jedoch nicht nur ein Besinnen auf tradierte Technologien, sondern knüpft gleichzeitig an hoch aktuelle Diskurse der Kreislaufwirtschaft und low-carbon cities/societies an (Bulkeley et al., 2011; Urry, 2013). Das Leitbild der ökologischen Stadt verfolgt die Anliegen, lokale Stoffkreisläufe einzuführen, zentralisierte Organisation zu überkommen, Kategoriensystem von ProduzentIn/VerbraucherIn oder Laie/ExpertIn zu hybridisieren, sowie Abfallstoffe zu wertvollen, wiederverwertbaren Sekundärrohstoffen umzudeuten. Beispielsweise funktioniert das lokale Wertstoffrecycling im Sinne des ‚Urban Mining’ unter ganz ähnlichen Prämissen. Auch hier werden im städtischen Leben entstehende Abfallprodukte wie Schrott zu Sekundärressourcen, indem sie strategisch und vor Ort weiterverarbeitet werden. Die dicht besiedelte Stadt wird so als ‚Rohstoffmine’ betrachtet (www.urban-mining-verein.de). Insgesamt stehen in diesen Diskursen lokal organisierte Praktiken für nachhaltigere und günstigere Alternativen zur Abhängigkeit zentral organisierte Systeme (Bialski, et al., 2015).
Territorialitäten: „gesunde“, aber geschlossene Öko-Enklaven in der Stadt Städte sichern ihre Reproduktion traditionell, indem sie notwendige Primärressourcen, wie frisches Trinkwasser, durch komplexe sozio-technische Netzwerke über weite Distanzen durch die Stadt transportieren (Hodson und Marvin, 2009). Mit ihrer dezentralen Abwasserentsorgungstechnolo-
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gie durchbrechen die hier beschriebenen Ökosiedlungen diese sozio-technische Gegebenheit. Sie bilden lokale und geschlossene Stoffkreisläufe, die zu eigenständigen Zonen im städtischen Raum werden. Durch das Prinzip der Nutzung von Sekundärressourcen sind sie Pioniere aktueller Konzepte ‚nachhaltiger Stadtentwicklung’. Im Gegensatz zu den hier beschriebenen Ökosiedlungen versuchen diese Ansätze jedoch Ökosysteme zu schützen, indem Rohstoffverwertung und Reduzierung von Schadstoffemissionen mit ökonomischen Profitmaximierungs- und Stadtmarketinginteressen verknüpft wird. Während die hier beschriebenen Ökosiedlungen mit der kleinteiligen und kostengünstigen Nischentechnologie eco-san für größere Versorger eher uninteressant sind, testet der städtische Versorger HamburgWasser ein großflächiges, integriertes Abwasserrecylingkonzept für ein entstehendes Neubaugebiet. Ein technisch aufwendiges Vakuumsystem mit Biogasanlage für die lokale Erzeugung von Energie soll hier bis zu 2.000 BewohnerInnen versorgen. Anbieter dezentraler Technologien zur Inwertsetzung von Abwasser erhoffen sich gerade in Städten mit lückenhaften Entsorgungssystemen einen lukrativen Absatzmarkt. Beispiele für solche urbanen Räume, die ‚ökologische Sicherheit’ vermarkten und technisch, regulativ und sozial relativ autonom vom Rest der Stadt funktionieren, sind die ‚eco-blocs’ in China, die sämtliches Abwasser vor Ort recyclen; die EcoTown-Programme in England, die bis zum Jahr 2016 den Bau von 240.000 klimaneutralen Gebäuden planen; und sogenannten ‚Eco-Islands’, wie Treasure Island in Kalifornien mit 6.000 klimaneutralen Wohneinheiten (vgl. Hodson und Marvin, 2010). Hodson und Marvin hinterfragen die langfristigen Wirkungen solcher schillernden Pilotprojekte auf die gesamtstädtische Organisation. Sie sehen hier die Gefahr, dass dezentrale Technologien ‚ökologische Enklaven’ produzieren geschlossene Territorien, die sich durch ihr Autarkiebestreben vom Rest der Stadt abkoppeln und für nur wenige privilegierte StadtbewohnerInnen zugänglich sind (Hodson und Marvin, 2010). Bisher hat die moderne Stadt mit ihrer zentralisierten Ver- und Entsorgung ein einheitliches ‘sozial-räumliches System’ geschaffen, welches durch das Prinzip der universellen Versorgung eine bestimmte gesellschaftliche Kohärenz schafft (Gandy, 2006: 22; Laporte, 2002: 46). Der Anschluss- und Benutzerzwang sorgt für eine gesellschaftliche Gleichstellung und forciert die Einbindung des Einzelnen in das staatliche Versorgungssystem, welches Ausdruck des Wohlfahrtsstaates ist. Die Einführung dezentraler Technologien greift dieses Ideal an und macht die Bewegung von der privaten zur öffentlichen Stadt reversibel: Versorgungselemente werden fragmentarisch und individuell organisiert, die Entsorgung
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oder Bewirtschaftung von Abwasser entsteht in lokal beschränkten Lösungen, die stark vom jeweiligen ökonomischen Potential und Engagement der BewohnerInnen abhängig sind. So laufen dezentrale Systeme der Gefahr auf einen ‚splintering urbanism’ und urbane Fragmentierung zu verstärken (Graham und Marvin, 2001). Der Imperativ und die Umsetzung des nachhaltigen Lebens in der Stadt ist somit in diesem Fall nicht mit dem wohlfahrtstaatlichen Ideal der universellen Versorgung vereinbar.
Fazit Gegenwärtige Diskurse zu Klimawandel, demografischen Veränderungen und Austerität stellen die Organisation und Technik städtischer Infrastrukturen in Frage. Neue Lösungen sollen sich flexibel an lokal unterschiedliche Bedingungen anpassen können. Im Bereich Wasserver- und Abwasserentsorgung befinden sich neuere, dezentrale Technologien noch in den Experimentier- und Testphasen. Die hier beschriebenen eco-san-Siedlungen, die seit den 1980er und 1990er Jahren bestehen, sind trotz ihres Nischenstatus durch die Rückbesinnung auf tradierte und energiearme Technologien zu Pionieren in Bezug auf die Entwicklung dezentraler Lösungen für eine nachhaltige Organisation der Stadt geworden. Die hier vorgestellten Ökosiedlungen können jedoch nicht mit oben beschriebenen kommerziellen Projekten gleichgesetzt werden, da es sich um einige wenige nicht-profitorientierte Graswurzelinitiativen handelt, die schon aufgrund ihrer geringen Zahl keine ernste Bedrohung für zentralisierte, städtische Wasserinfrastruktursysteme sind. Weiterhin erfordert die Realisierung der hier beschriebenen eco-san-Technologien sehr spezifische Bedingungen (höchstens zweistöckige Wohnanlagen, Engagement der BewohnerInnen, finanzielle Ressourcen seitens der BewohnerInnen, etc). Der Ausbau auf die gesamte Stadt ist auf dem derzeitigen Technologiestand nicht möglich. Die Ökosiedlungen eignen sich jedoch als Feld für die Beobachtung der langfristigen subjektiven, diskursiven und territorialen Effekte dezentraler Wasserver- und Abwasserentsorgungssysteme. Der Beitrag hat durch die ethnographische Beobachtung von (Un)Sichtbarkeiten analytische Möglichkeiten aufgezeigt, ebensolche sozio-materiellen Wirkungen in der Stadt nachzuvollziehen. Die Beispiele zeigen entlang der (Un)Sichtbarkeiten, wie sich Alltagsleben mit dezentralen Entsorgungsinfrastrukturen in der Stadt verändert. Infrastrukturen wurden in der Ver-
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gangenheit als unproblematisch und selbstverständlich wahrgenommen, sie lagen im Bereich der Expertise von IngenieurInnen und der Verwaltung der Stadt. Diese Unsichtbarkeiten im Alltagsleben der städtischen BewohnerInnen differenziert sich mit der Einführung dezentraler Technologien und dem zugrundeliegenden Autarkiebestreben aus. In Bezug auf eco-san verlangt das hier entstehende sozio-materielle Netzwerk eine ständige Auseinandersetzung mit der Materie Abwasser. Die lokalen Stoffkreisläufe und gemeinschaftlichen Organisationsformen produzieren hier neue Sichtbarkeiten, die zu einem Umdenken in Bezug auf Alltagsverhalten führen und ein politisiertes ‚Wasserbewusstsein’ bilden. Hier ist Abwasser wertvoll, nutzbringend und vielleicht sogar faszinierend. Gleichzeitig bilden dezentrale Technologien aber auch Fragmentierungen, die die Stadt physisch-räumlich und sozial-räumlich teilt und andere Unsichtbarkeiten über neu entstehende Ungleichheiten produzieren. Hier muss der zugrundeliegende Wohlfahrtsgedanke städtischer und zentralisierter Infrastrukturen neu verhandelt werden, so dass nachhaltige, dezentrale Technologien diesen nicht unterlaufen. Dies unterstreicht, dass neue technische Lösungen nicht nur aufgrund ihrer Funktionalität und Nachhaltigkeit bewertet werden können, sondern auch deren langfristige kulturelle Wirkungen und Veränderungen des sozialen Gefüges der Stadt mit einbezogen werden müssen.
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Autorinnen und Autoren
Matthew Gandy is Professor of Geography at the University of Cambridge. His publications include concrete and clay: reworking nature in New York City (The MIT Press) and The fabric of space: water, modernity, and the urban imagination (The MIT Press), along with articles in New Left Review, International Journal of Urban and Regional Research, Society and Space and many other journals. He is currently researching the interface between cultural and scientific aspects to urban bio-diversity. Maren Harnack (Prof. Dr.-Ing. MSc, Stadtplanerin, Architektin) studierte Architektur, Stadtplanung und Sozialwissenschaften in Stuttgart, Delft und London. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Darmstadt und der HafenCity Universität in Hamburg ehe sie 2011 Professorin für Städtebau an der Frankfurt University of Applied Sciences wurde. Seit 2008 betreibt sie gemeinsam mit Mario Tvrtkovic das Büro urbanorbit. Sie wirkte an zahlreichen Forschungsprojekten mit und publiziert regelmäßig in verschiedenen Fachmedien. Mathias Irlinger studierte Geschichte und Politische Wissenschaft an der Ludwigs-Maximilians-Universität München (LMU) und an der University of Exeter. Er arbeitet am Lehrstuhl für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte der LMU und untersucht im Rahmen des Projekts „Die Münchner Stadtverwaltung im Nationalsozialismus“ die Verkehrs- und Versorgungssysteme. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte des „Dritten Reichs“ und die Infrastrukturgeschichte. Martin Kohler (Dipl.-Ing.), studierte Landschafts- und Freiraumplanung an der Leibniz Universität Hannover und der Southern Australia University, Adelaide. Er ist seit 2001 freier Mitarbeiter in Landschaftsarchitekturbüros
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in Essen, Düsseldorf, Hamburg und Hannover, und übernimmt freie kuratorische und künstlerische Projekte in Transformationsarealen, u.a. die HAFENSAFARI in Hamburg. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Hamburg-Harburg, und an der HafenCity Universität (HCU) Hamburg und ist dort Dozent für Stadtfotografie. Dr. Antje Matern ist Gastprofessorin für Regionalplanung an der Brandenburgisch-Technischen Universität Cottbus-Senftenberg. Sie promovierte an der Hafencity Universität in Hamburg über Stadt-Land-Beziehungen in Metropolregionen und forschte im Rahmen eines DFG-Projektverbundes in der Stadtforschung Darmstadt zu städtischen Infrastrukturen und ihrer Transformation. Dr. Anna-Lisa Müller ist seit Februar 2013 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Arbeitsgruppe Stadtgeographie am Institut für Geographie der Universität Bremen. Forschungsschwerpunkte sind die Wechselbeziehung von Architektur und Gesellschaft sowie Migrationsphänomene im urbanen Raum. 2013 wurde Anna-Lisa Müller an der Universität Bielefeld mit ihrer Dissertation „Green Creative Cities. Zur Gestaltung eines Stadttypus des 21. Jahrhunderts“ mit Auszeichnung promoviert. Dr. Birke Otto ist Kulturwissenschaftlerin und lehrt am Department for Organisation an der Copenhagen Business School. Sie ist Mitglied im Forschungsverbund ‘Low Budget Urbanity. Urban Transformation in Times of Austerity’ an der HafenCity Universität Hamburg und war zuvor wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Sozial- und Wirtschaftsgeographie an der Europa Universität Viadrina. Sie promovierte zu Organisationspraktiken von NGOs im Wassersektor an der Universität Essex und forscht zur Zeit zum Wandel urbaner Infrastrukturen und Nachhaltigkeit. Dr.-Ing. Constanze A. Petrow ist Landschaftsarchitektin. Sie lehrt Freiraumplanung an der TU Darmstadt und forscht zu den Schwerpunkten Freiraumgestaltung und kollektive Erinnerung, städtischer Freiraum am Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft sowie Kritik und mediale Repräsentationen zeitgenössischer Landschaftsarchitektur.
Autorinnen und Autoren
Dr. Achim Prossek, Stadt- und Kulturgeograf, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geographischen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin. Sein Arbeitsschwerpunkt liegt auf Raumbildern und räumlicher Identität, damit verbunden ist die Frage der Inszenierung von Räumen. Er veröffentlichte zahlreiche Artikel und Buch zum Ruhrgebiet, wo er zuvor auch tätig war. Dr. Jochen Stemplewski, geb. 1949, ist seit 1992 Vorstandsvorsitzender von Emschergenossenschaft und Lippeverband. Davor arbeitete er u.a. als Kreisdirektor im Märkischen Kreis in Lüdenscheid und wurde anschließend als Oberstadtdirektor der Stadt Hamm gewählt. Ehrenamtlich engagiert sich Dr. Stemplewski als Präsident der AöW (Allianz der öffentlichen Wasserwirtschaft e.V.), als Vizepräsident der DWA (Deutsche Vereinigung für Wasserwirtschaft, Abwasser u. Abfall e.V.), als Mitglied des Bundes- und Landesvorstandes des BDEW (Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft) sowie als Beisitzer des Vorstandes des Verbandes kommunaler Unternehmen e. V. (VKU). Als Landesvorsitzender der Naturfreunde NRW und als Vorsitzender als Vorstandes des Zentrums für Internationale Lichtkunst Unna e.V. engagiert sich Dr. Stemplewski seit Jahren ehrenamtlich auch weit über die Wasserwirtschaft hinaus. Im Mai 2010 wurde Dr. Stemplewski von pro Ruhrgebiet e.V zum Bürger des Ruhrgebietes ernannt. Dr. Simone Timmerhaus, geb. 1969. Nach einer Ausbildung zur Bankkaufrau studierte sie Volkswirtschaftslehre in Hamburg und Leipzig. 2002 promovierte sie über Großbritannien und die Europäische Integration an der Universität der Bundeswehr, Hamburg. Von 2000 bis 2003 war sie als Unternehmensberaterin tätig. Seit 2003 arbeitet sie bei Emschergenossenschaft und Lippeverband, Essen, zunächst als Leiterin des Vorstandsbüros, heute als Abteilungsleiterin für Vermittlungsprojekte und Veranstaltungen. In dieser Funktion ist sie auch verantwortlich für Kooperationsprojekte zur Entwicklung des Neuen Emschertals. 2010 und 2013 leitete sie das Ausstellungsbüro der Emscherkunst, bei der Emscherkunst 2016 ist sie als Ko-Kuratorin tätig. Lisa Maria Weber, geboren 1983, ist seit 2012 Projektleiterin im Ausstellungsbüro Emscherkunst, zunächst für die Emscherkunst 2013, nun für die kommende Ausgabe in 2016. Nach dem Studium der Germanistik und Philosophie in Münster absolvierte sie zudem mehrere Aufbaustudiengänge zunächst im Bereich Kunst- und Kultur-Management in Potsdam und später im Bereich kuratorisches Wissen und Kunstpublizistik am Institut für
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Kunstgeschichte in Bochum. Neben Arbeitsaufenthalten am Goethe-Institut in Chennai, Indien, produzierte sie studentische Filmprojekte in Münster und Potsdam. Seit 2014 betreut sie außerdem für den Lippeverband Kunstprojekte im öffentlichen Raum an der Lippe. Dr. rer. nat. Hendrik Sturm hat in Düsseldorf Kunst studiert und ist Bildhauer, Neurobiologe und Spaziergänger. Er lebt in Marseille und lehrt an der Ecole Supérieure d‘Art in Toulon. Als Teil einer Künstlergruppe hat er den Wanderweg GR 2013 konzipiert, der im Rahmen des europäischen Kulturhauptstadtjahres 2013 in der Region Marseille entwickelt wurde.
Urban Studies Andrea Baier, Tom Hansing, Christa Müller, Karin Werner (Hg.) Die Welt reparieren Selbermachen und Openness als Praxis gesellschaftlicher Transformation Oktober 2016, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 19,99 €, ISBN 978-3-8376-3377-1
Amalia Barboza, Stefanie Eberding, Ulrich Pantle, Georg Winter (Hg.) Räume des Ankommens Topographische Perspektiven auf Migration und Flucht Juni 2016, ca. 216 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3448-8
Andreas Thiesen Die transformative Stadt Reflexive Stadtentwicklung jenseits von Raum und Identität Mai 2016, 156 Seiten, kart., zahlr. Abb., 21,99 €, ISBN 978-3-8376-3474-7
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Urban Studies Karsten Michael Drohsel Das Erbe des Flanierens Der Souveneur – ein handlungsbezogenes Konzept für urbane Erinnerungsdiskurse März 2016, 286 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3030-5
Lilo Schmitz (Hg.) Artivismus Kunst und Aktion im Alltag der Stadt 2015, 278 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-3035-0
Andra Lichtenstein, Flavia Alice Mameli (Hg.|eds.) Gleisdreieck/Parklife Berlin 2015, 288 Seiten, Hardcover, zahlr. z.T. farb. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3041-1
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Urban Studies Birgit Szepanski Erzählte Stadt – Der urbane Raum bei Janet Cardiff und Jeff Wall September 2016, ca. 300 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-3354-2
Christopher Dell Epistemologie der Stadt Improvisatorische Praxis und gestalterische Diagrammatik im urbanen Kontext September 2016, ca. 346 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3275-0
Corinna Hölzl Protestbewegungen und Stadtpolitik Urbane Konflikte in Santiago de Chile und Buenos Aires 2015, 422 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3121-0
Judith Knabe, Anne van Rießen, Rolf Blandow (Hg.) Städtische Quartiere gestalten Kommunale Herausforderungen und Chancen im transformierten Wohlfahrtsstaat 2015, 274 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2703-9
Michaela Schmidt Im Inneren der Bauverwaltung Eigenlogik und Wirkmacht administrativer Praktiken bei Bauprojekten
Dominik Haubrich Sicher unsicher Eine praktikentheoretische Perspektive auf die Un-/Sicherheiten der Mittelschicht in Brasilien
August 2016, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3333-7
2015, 378 Seiten, kart., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-3217-0
Johannes Marent Istanbul als Bild Eine Analyse urbaner Vorstellungswelten April 2016, 284 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3328-3
Manfred Kühn Peripherisierung und Stadt Städtische Planungspolitiken gegen den Abstieg Februar 2016, 200 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3491-4
Johanna Hoerning »Megastädte« zwischen Begriff und Wirklichkeit Über Raum, Planung und Alltag in großen Städten Januar 2016, 368 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3204-0
Susana Zapke, Stefan Schmidl (Hg.) Partituren der Städte Urbanes Bewusstsein und musikalischer Ausdruck 2014, 146 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2577-6
Alain Bourdin, Frank Eckardt, Andrew Wood Die ortlose Stadt Über die Virtualisierung des Urbanen 2014, 200 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,99 €, ISBN 978-3-8376-2746-6
Alenka Barber-Kersovan, Volker Kirchberg, Robin Kuchar (Hg.) Music City Musikalische Annäherungen an die »kreative Stadt« | Musical Approaches to the »Creative City« 2014, 342 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,99 €, ISBN 978-3-8376-1965-2
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Urban Studies bei transcript Andra Lichtenstein, Flavia Alice Mameli (Hg.|eds.)
Gleisdreieck / Parklife Berlin
Juli 2015, 288 Seiten, Hardcover, zahlr. z.T. farb. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3041-1 E-Book: ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8394-3041-5 Ostpark / Gleisdreieck – Ein Sommerabend: Mütter fordern ihre Kinder auf, zum Abendbrot nach Hause zu gehen. Flaschensammler machen ihre Runde, während eine Touristengruppe von ihrem Englisch sprechenden Stadtführer über die Bedeutung interkultureller Gärten aufgeklärt wird. Eine mit Picknickkörben ausgestattete, überwiegend grauhaarige Gesellschaft von Kreuzberger Ureinwohnern trifft sich zur wöchentlichen Boule-Partie. Am Gleisdreieck stellen sich paradigmatisch die Fragen nach dem Recht auf Teilhabe und Mitbestimmung, der Eigentümerschaft an Stadtraum und nach dem planerischen Umgang mit innerstädtischen Brachen bei gleichzeitig steigendem Wohnraumbedarf. Dieses Buch widmet sich der wechselvollen Geschichte des Ortes und zeigt in lebendigen Bildern die Kontraste des Berliner Parklebens im 21. Jahrhundert. Zahlreiche Interviews mit Aktivisten, Kunst- und Kulturschaffenden sowie Planungsexperten gewähren sensible Einblicke in einen vielschichtigen Mikrokosmos von Sichtweisen auf »unsere Stadt«. Sechs Essays geben inspirierende Ansätze zum aktuellen Diskurs der Stadtentwicklung. Mit Fotografien von Hans W. Mende, Lorenzo Pesce und Mario Ziegler.
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