Zukunftsfähige Lebensräume: Grundlagen für urbane Transformation 9783035627114, 9783035627091

Planning guide for good living spaces The intelligent and appropriate use of living space as a resource is culturally,

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German Pages 212 Year 2023

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Inhalts
Vorwort
A Integrales Planen und Entwerfen: Vorstellung einer Methode
B Prozesse des integralen Planens und Entwerfens
C Fallstudien: Rückkopplungen aus der Praxis
Anhang
Impressum
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Zukunftsfähige Lebensräume: Grundlagen für urbane Transformation
 9783035627114, 9783035627091

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Zukunftsfähige Lebensräume

Zukunftsfähige Lebensräume Grundlagen für urbane Transformation Robert Braissant

Birkhäuser Basel

Vorwort

A

B

Integrales Planen und Entwerfen: Vorstellung einer Methode

9

13

Fünf Punkte für zukunftsfähige Lebensräume

18

Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

21

Prozess 1: Den Ort analysieren 1.1 Strukturelle Informationen verfügbar machen 1.2 Urbane Qualitäten der Sozialräume erfassen 1.3 Immaterielle Eigenschaften des Ortes sichtbar machen

42

Übersicht Prozess 1

58

Prozess 2: Die Transformation evaluieren 2.1 2.2 2.3 2.4

Das Transformationspotenzial erkennen Die Transformation mit Szenarien testen Zukunftsfähige Freiräume gestalten Szenarien nach Mehrwerten evaluieren

Übersicht Prozess 2 Prozess 3: Ein Leitbild entwerfen 3.1 3.2 3.3 3.4

25 26 30

61 63 67 70 81 84

87

Ein zukunftsfähiges Leitbild befördert das gesellschaftliche Tragwerk 89 Die Ensembleleistung der europäischen Stadt 91 Wie zukunftsfähige Nachbarschaften entstehen 97 Urbane Transformation braucht mehr als farbiges Straßenleben 108

Übersicht Prozess 3

124

Prozess 4: Lebensräume formen und Gestalt finden 4.1 4.2 4.3 4.4

127

Porosität oder die Durchdringung von öffentlich und privat 128 Mehrdeutigkeit als Abbild von Komplexität 145 Urbane Transformation meint Weiterbauen 152 Schönheit ist zukunftsfähig 163

Übersicht Prozess 4

167

C Fallstudien: Rückkopplungen aus der Praxis

171

Interview mit Philippe Cabane (zu den Prozessen 1–4)

175

Burgfeldenpark Basel; Daniel Baur (zu Prozess 1)

179

Industriestrasse Luzern; Rolf Mühlethaler (zu Prozess 2)

182

Gurten Brauerei Areal; Donat Senn (zu Prozess 2)

185

Zentrale Pratteln; Cédric Bachelard (zu Prozess 3)

189

Zentrale Pratteln; Jörg Vitelli (zu Prozess 3)

192

Westfeld Basel; Andreas Courvoisier (zu Prozess 4)

194

Anhang

201

Verzeichnis der Abbildungen 203 Verzeichnis der Schlüsselbegriffe 207 Autoren der Fallstudien 209 Autor 211

Impressum

212

9

Vorwort Seit 1950 wurde mehr Bauvolumen erstellt als in der gesamten Kulturgeschichte der Menschheit zuvor. Die vorausschauende und sorgende Transformation dieses immensen Gebäudebestandes zu inklusiven und nachhaltigen Siedlungsbausteinen ist eine der großen Herausforderungen unserer Gesellschaft. Transformation findet stets innerhalb gebauter und gelebter Siedlungsstrukturen statt. Das Vorhandene ist das Fundament dessen, was werden kann. Der Umgang mit dem Bestehenden stellt das Formen urbaner Räume vor ungewohnte Herausforderungen: physische in der Beziehung zwischen Alt und Neu, kulturelle durch das Weiterschreiben oder Neudeuten und soziale durch die Anteilnahme der Menschen am Prozess. Tabula rasa ist heute keine Option mehr. Ohne diese Strategie mit der Möglichkeit einer reinen Schreibtischplanung müssen die Akteur:innen damit leben, dass sie das Resultat erst im Verlauf des Prozesses kennenlernen. Dazu braucht es eine Schärfung der verschiedenen Rollen und eine neue Prozessstruktur, welche Kooperation, Vertrauen und Zuversicht befördert. Die vorliegende Planungs- und Entwurfsmethodik setzt sich mit der Transformation von siedlungsräumlichen Situationen auseinander. Im Fokus des integralen Planens und Entwerfens liegt die Verflechtung zwischen dem gebauten Raum und den zukunftstragenden Faktoren eines gesellschaftlichen Tragwerks, den «urbanen Qualitäten». Im Rahmen des vorliegenden theoretischen Ansatzes werden die Begriffe und ihre Definitionen, wie sie die Forschungsgruppe des Nationalen Forschungsprogramms NFP 65 unter dem Titel «Urbane Qualitäten» publizierte,1 zur Beschreibung der sozialräumlichen Eigenschaften weitgehend übernommen. Integrales Planen und Entwerfen erfordert inter- und transdisziplinäre Zusammenarbeit und den Blick über die Parzellengrenze. Die einzelnen Disziplinen unterscheiden sich bereits in der Kultur der Ausbildung, lernen eine eigene Fachsprache und prägen dadurch Haltungen, die sich in der Praxis etablieren. Die Sichtweisen können sehr unterschiedlich sein und Widersprüche erzeugen. In der Praxis gilt es, solche Widersprüche aufnehmen zu können, sie zu gewichten und Lösungen im Dialog herbeizuführen.

11 Vorwort

Anhand eines vierstufigen Prozesses wird eine nachvollziehbare Methodik für das integrale Planen und Entwerfen von Siedlungsentwicklungen nach innen vorgestellt. Die vier Prozessstufen zeigen auf, wie die Zusammenarbeit und die Ideenfindung stattfinden kann, um den unterschiedlichen Ansprüchen gerecht zu werden. In einem iterativen Prozess werden Varianten getestet, Zielsetzungen geschärft, Möglichkeiten zur Prüfung der Verhältnismäßigkeit aufgezeigt und zielführende Maßnahmen abgeleitet. Zwischenresultate ermöglichen einen Gewinn an Sicherheit. Die klare Struktur erlaubt, mittels begrenzter iterativer Schlaufen einen Teilaspekt zu schärfen, ohne den gesamten Prozess zu destabilisieren. Zwischendurch werden einzelne Akteur:innen unsicher sein und Fragen haben. Anhand jedes Zwischenresultats stellt sich die nächste Frage. Auf diese Weise baut sich ein Wissensgerüst auf. Dabei erleichtert die Strukturierung des Prozesses das Problem, welche Entscheidungen man fällen soll und welche man besser in eine spätere Phase verschiebt oder sogar einer nächsten Generation überlässt. Durch die systematische und nachvollziehbare Abfolge der vier Prozessstufen wird die Komplexität des Entwurfs transparent. Die Methodik bietet in unterschiedlichen Arbeitssituationen eine sichere Navigationshilfe, im beruflichen Alltag wie auch im studentischen Atelier. Die Entwurfsarbeit ist diskursiv. Das Pendeln zwischen Analyse und Synthese, zwischen divergierendem und konvergierendem Denken, zwischen objektiven und subjektiven Kriterien bildet dabei Methode und Grundlage des Denkens und Machens. Ausgehend von dieser Fragestellung und der Suche nach dem Selbstverständnis einer Architektur der Transformation verknüpft die vorliegende Methodik die drei Betrachtungsebenen «Ort», «Gebäude» und «Gesellschaft» mit den Handlungsfeldern Weiterbauen, Umbauen, Transformieren, Initiieren, Aktivieren und Vernetzen.

1

Vgl. Simon Kretz, Lukas Kueng (Hrsg.): Urbane Qualitäten. Ein Handbuch am Beispiel der Metropolitanregion Zürich, Edition Hochparterre, Zürich 2016

Integrales Planen und Entwerfen: Vorstellung einer Methode

A

15 Integrales Planen und Entwerfen: Vorstellung einer Methode

Vor hundert Jahren schrieb Le Corbusier sein damals bahnbrechendes Buch «Ausblick auf eine Architektur»2. Darin definierte er fünf Punkte als Regeln der klassischen Moderne, verbunden mit der Hoffnung, dass diese zu einer gesünderen Architektur in einer besseren Welt führen würden. Es war das heroische Manifest eines Avantgardisten. 2018 stellte die Kulturministerkonferenz in der Erklärung von Davos fest, «dass sich überall in Europa ein allgemeiner Verlust an Qualität der gebauten Umwelt und der offenen Landschaften abzeichnet, was sich in einer Trivialisierung des Bauens, in fehlenden gestalterischen Werten und einem fehlenden Interesse für Nachhaltigkeit, in zunehmend gesichtslosen Agglomerationen und verantwortungslosem Landverbrauch, in einer Vernachlässigung des historischen Bestandes und im Verlust regionaler Identitäten und Traditionen zeigt». In den letzten 70 Jahren wurde unsere gebaute Umwelt so radikal verändert wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit. Das Wirtschaftswachstum der Nachkriegszeit offenbarte sich in einer wahren Flut von Bauvolumen. Form gewordener Wohlstand breitete sich als Siedlungsbrei ungehemmt über die Landschaft aus. Als theoretische Grundlage legitimierte die von Le Corbusier mitinitiierte Charta von Athen die funktionale Entmischung der Stadt in Zonen für Wohnen, Arbeiten und Erholung.3 Für die Zirkulation zwischen den einzelnen Zonen entstand als Folge zwangsläufig ein Bedürfnis nach Mobilität, welches durch die Massenproduktion günstiger Motorfahrzeuge und billigen Treibstoff befriedigt werden konnte. Der Name «Volkswagen» war Programm und traf den Nerv der Zeit. Die euphorische Energie des Wirtschaftswunders der Nachkriegszeit fand leider keine mäßigende Instanz, weil in den Gemeinden die Planungs- und Baugenehmigungsprozesse ungenügend waren oder sich nach dem Prinzip des unbeschränkten Wachstums richteten. Die Folgen für Gesellschaft und Mitwelt waren dramatisch: exzessiver Landverbrauch durch verzettelte Siedlungsformen und die dafür notwendigen Infrastrukturen, stetig wachsender Ressourcenverbrauch, hohe Erschließungskosten, Überhitzung durch zunehmende Bodenversiegelung, Separierung der Gesellschaft nach Kaufkraft und damit verbunden die Ghettoisierung der sozialen Schichten. Die traditionellen, kompakten Siedlungsformen wurden immer mehr durch aufgelockerte Siedlungsstrukturen abgelöst. Der morphologische Unterschied zwischen Stadt und Land löste sich auf. Die Zwischenstadt4 breitete sich aus, ein Siedlungsbrei, nicht Stadt und nicht Land.

16 Integrales Planen und Entwerfen: Vorstellung einer Methode

Heute stehen wir vor der großen Aufgabe, dieses Erbe zu unterhalten und weiterzuentwickeln. Transformation, nicht mehr Neubau, ist die drängendste Aufgabe. Beinahe zwei Drittel der Wohnungen in der Schweiz wurden vor 1980 gebaut. Gefragt sind vorausschauende, inklusive und differenzierte Strategien und Konzepte, wie dieser Bestand zu integral nachhaltigen, zukunftsfähigen Lebensräumen transformiert werden kann. Transformation muss in der Lage sein, bestehende gesellschaftliche Strukturen und Netzwerke zu schützen und zu integrieren. Transformation ist nicht Gentrifizierung. Integrales Planen und Entwerfen begegnet Vorhandenem mit Respekt, weil es einen kulturellen, sozialen und ökonomischen Wert darstellt. Dies gilt besonders für ältere Bestandsbauten mit günstigen Mietzinsen. Ihre Integration in ein Gesamtkonzept erhöht die Diversität einer inklusiven Nachbarschaft. Und weil heterogene Nachbarschaften stabiler sind als homogene Nachbarschaften,5 ist das auch im langfristigen Interesse der Investor:innen. In der Erklärung von Davos erkennen die Kulturminister:innen, «dass eine gebaute Umwelt von hoher Qualität wesentlich zur Bildung einer nachhaltigen Gesellschaft beiträgt, die sich durch eine hohe Lebensqualität, kulturelle Vielfalt, Wohlbefinden der Individuen und der Gemeinschaft, soziale Gerechtigkeit und Zusammenhalt sowie eine leistungsstarke Wirtschaft auszeichnet». Daraus folgt der dringende Bedarf einer ethischen Positionierung, aus der unsere Handlungsmuster entspringen. Vor hundert Jahren definierte Le Corbusier Architektur als «le jeu savant, correct et magnifique des volumes assemblés sous la lumière». Und wie viele seiner reformatorischen Vorgänger:innen sah er in einer neuen Architektur die Lösung für eine bessere Welt. Es war das Verständnis einer Generation, welche die Zukunft als Möglichkeitsraum betrachtete und deshalb die Freiheit einer Vielzahl von individuell wählbaren Optionen hatte. Heute erkennen wir, «dass unsere Freiheit nicht mehr in der Möglichkeitswahl von Optionen besteht, sondern in der Wahlmöglichkeit der Verantwortungslast»6. Wir erkennen, dass Architektur allein uns nicht in eine bessere Zukunft führen kann, solange wir darin die Lösung unserer Probleme sehen. Wir erkennen, dass Lösungen generell unser Überleben auf diesem Planeten nicht sichern können. Denn die Erfahrung zeigt, dass die Lösungen von heute oft zu den Problemen von morgen werden.

17 Integrales Planen und Entwerfen: Vorstellung einer Methode

Das Denken in Lösungen ist zwangsläufig zu einseitig und blockiert deshalb die weitere Entwicklung. Weil unser Denken der Vergangenheit anhaftet und dem, was wir schon immer gemacht haben, lässt das Denken in Lösungen lediglich Abbilder bekannter, vordefinierter Lebensformen in gebauter Form entstehen. In Zeiten großer Veränderungen erscheint für unser Überleben auf diesem Planeten eine andere Strategie zielführender. Statt Form gewordene Lösungen sollten wir Voraussetzungen für Möglichkeiten schaffen. Möglichkeiten brauchen Strukturen, die sie tragen können, Tragwerke in einem erweiterten Sinn des Wortes. «Räume und gesellschaftliche Situationen zu gestalten bedeutet, Handlungsrahmen für verschiedene Akteure zu schaffen, in denen sie interagieren und handeln.»7 Lucius Burckhardt spricht vom «unsichtbaren Design» und meint damit «ein Design von morgen, das unsichtbare Gesamtsysteme, bestehend aus Objekten und zwischenmenschlichen Beziehungen, bewusst zu berücksichtigen imstande ist»8. Integrales Planen und Entwerfen heißt zuerst einmal, sich zu fragen, welche Art des Planens und Bauens unser Überleben auf diesem Planeten unterstützt. Dies hat weitreichende Konsequenzen für Städtebau und Architektur. Wie wir unser Überleben auf diesem Planeten beeinflussen können, ist nicht primär eine architektonische, sondern eine gesellschaftliche Fragestellung. Die Art, wie wir uns als Gesellschaft weiterentwickeln, ist von Kultur zu Kultur verschieden. Die Bearbeitung der Fragestellung erfordert deshalb ein breites Verständnis der gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhänge. Dieses Buch vermittelt dazu einen methodischen Ansatz.

2 3 4 5 6 7 8

Le Corbusier, Vers une Architecture, L’Esprit Nouveau, 1923 Vgl. Charta von Athen, IV. Congrès International d’Architecture Moderne (CIAM), Athen 1933 Thomas Sieverts: Zwischenstadt. Zwischen Ort und Welt, Raum und Zeit, Stadt und Land, Vieweg, Braunschweig 1997 Vgl. Patricia Kaszynska, James Parkinson, Will Fox: Re-thinking Neighbourhood Planning. From Consultation to Collaboration, The ResPublica Trust, London 2012 Daniel Baur, Schriftwechsel mit Robert Braissant, 2022 Philipp Oswalt: Gestalten von Situationen, in; ARCH+ 2022, S. 126 Lucius Burckhardt: Wer plant die Planung? In: Lucius Burckhardt: Wer plant die Planung? Architektur, Politik und Mensch, hrsg. von Jesko Fezer, Martin Schmitz, Martin Schmitz Verlag, Berlin 2004

18 Integrales Planen und Entwerfen: Vorstellung einer Methode

Fünf Punkte für zukunftsfähige Lebensräume 1. —



— —



2. —





Überprüfe deine Werte Überprüfe die Werte, die deinem Entwurf zugrunde liegen, denn sie prägen das Lebensumfeld der Menschen. Priorisiere integrale Nachhaltigkeit, Suffizienz, kulturelle Werte und langfristige Investitionen gegenüber kurzfristigem wirtschaftlichem Gewinn. Befördere eine inklusive Gesellschaft, in der unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse friedlich interagieren können. Dies unterstützt du mit einem breiten Nutzungsmix, mehrdeutig nutzbaren öffentlichen Freiräumen, kleinteiliger Parzellierung und multifunktionalen Erdgeschossen. Entwickle eine gesellschaftsethische Haltung zum Thema des Verbrauchs (Wohnfläche, Mobilität, Wohlstand) und beziehe dies in die räumliche Ausformulierung mit ein. Entwirf Bauten und Freiräume mit einer einfachen, robusten Grundstruktur, die sich an veränderte Nutzungsbedürfnisse adaptieren lässt. So werden die Räume über längere Zeit bestehen und können eine robuste Identität entwickeln. Ziel ist es, dass der Alltag unsere Lebensräume formt und nicht umgekehrt. Einfache Ansätze sind zukunftsfähig. Denn die allzu spezifischen Lösungen von heute sind die Probleme von morgen. Plane so, dass deine baulichen Maßnahmen als zukünftige bauliche, räumliche oder materielle Ressource wieder neu verwendet werden können. Mache alle Bauteile und Installationen für Wartung oder Ersatz gut zugänglich. Schaue über die Parzellengrenze Mache den Blick über die Parzellengrenze zu einem festen Bestandteil deiner Denk-, Planungs- und Handlungskultur. Entwickle deshalb nicht nur dein Projekt, sondern arbeite an einem Ensemble: Entwirf dein Ensemble als Teil eines gewachsenen Kontexts aus Bauten und Freiräumen. Beziehe das Ensemble auf seinen baukulturellen, seinen sozialen, seinen landschaftlichen und seinen klimatischen Kontext. Schaffe einen Dialog mit den örtlichen Gegebenheiten und deren Besonderheiten in Maßstab, Typologie, Materialität und Sozialstrukturen. Entwickle eine klare Vorstellung der transformativen Wirkung und der Mehrwerte deiner Intervention im bestehenden Kontext. Ziel einer Transformation ist, dass sie auch einen Beitrag zur Zukunftsfähigkeit des gesellschaftlichen Tragwerks leistet.

19 Fünf Punkte für zukunftsfähige Lebensräume

3. —





4. —









Begegne Vorhandenem mit Wertschätzung Begegne Vorhandenem mit Wertschätzung, auch dem Alltäglichen. Der Bestand stellt einen kulturellen, sozialen, materiellen und ökonomischen Wert dar. Knüpfe an Bestehendes an, sei es durch Integration, Weiterführen oder Neuinterpretation. Gestalte Form, Struktur und Material aus dem Geist des Ortes. Durch Verbundenheit mit dem Ort und seinem Bestand schaffst du Identität und Unverwechselbarkeit. Das befördert die emotionale Reaktion der Menschen und stellt einen positiven Bezug zum Ort her. Es entstehen Orte, an denen Menschen beheimatet sein können. Verbundenheit ist ein Grundbedürfnis der menschlichen Seele. Schließe auch Unfertiges mit ein. Es muss Platz geben für Unvollkommenes, ganz besonders aber für Ungeplantes. Das braucht den Mut zur Ergebnisoffenheit. Mut für alternative Modelle von Siedlungsentwicklungen, die nicht festlegen, sondern ermöglichen. Modelle, in denen der Mensch und seine Beteiligung im Vordergrund stehen. Eine Stadtentwicklung, in der die Nutzer:innen zu Produzent:innen des Raumes werden. Kümmere dich um die Freiräume Entwickle Freiräume, die sich in übergeordnete Umwelt-, Klima- und Landschaftssysteme einfügen und mit ihnen interagieren. Damit beförderst du ein zukunftsfähiges Ökosystem, welches als integratives Tragwerk für Lebewesen aller Art dient. Gestalte die übergeordneten Freiräume als prägnante Raumkörper, damit sie sich im Gedächtnis der Menschen einprägen. Vernetze sie mit dem Kontext. Dadurch bekommen sie eine Bedeutung im Siedlungsgefüge und dienen als Orientierungspunkte. So unterstützt du das Entstehen von Identität. Denn die Identität und das Wesen eines Ortes zeigen sich in seinen Freiräumen. Entwirf die Freiräume als Sozialräume, wo Menschen sich begegnen können. Unterstütze Kommunikation und Aneignung durch differenzierte räumliche Eigenschaften für verschiedene Bedürfnisse. Freiräume dieser Art ermöglichen der Gesellschaft das Verhandeln von gemeinschaftlichen Fragestellungen. Sorge für genügend kühlende Beschattung der Freiräume durch kräftige, langlebige, stadtklimatolerante, aber lichte Bäume, welche das Sonnenlicht im Sommer gefiltert und im Winter möglichst ungefiltert durchlassen. Die Würde alter Bäume adelt jeden Freiraum. Orientiere die Eingänge eines Ensembles auf gemeinsame öffentliche Freiräume. Bewegungsräume sind Begegnungsräume. Zirkulation bringt eine natürliche soziale Interaktion und damit Sicherheit im öffentlichen Raum.

20 Integrales Planen und Entwerfen: Vorstellung einer Methode

5. —







Arbeite mit porösen Strukturen Entwickle poröse Siedlungsstrukturen und Gebäude, denn Porosität ist eine wichtige architektonische Form der Kommunikation. Sie ist sichtbarer Ausdruck einer solidarischen, empathiefähigen Gesellschaft, in der Bewohner:innen und Passant:innen aufeinander bezogen sind. An den Übergängen zwischen privaten und öffentlichen Bereichen fügst du Schwellenräume als poröse Schnittstellen ein. Schwellenräume sind raumhaltige Grenzen. Als Übergangsräume vermitteln sie zwischen der Sphäre des Individuums und seiner Rolle in der Gesellschaft. Plane die Schwellenräume so, dass sie durch die Nutzer:innen individuell gestaltet und damit angeeignet werden können, sei es durch Möblierung, Bepflanzung oder Bemalung. Die Selbstdarstellung macht das Individuum im Außenraum sichtbar und reduziert dadurch die Anonymität einer Nachbarschaft. So beförderst du Interaktion und soziale Vernetzung. Gestalte die Schwellenräume so, dass der Grad der Abgrenzung oder der Interaktion zwischen öffentlich und privat entsprechend den persönlichen Vorlieben, der Tages- oder der Jahreszeit verändert werden kann.

Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

B

23 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Integral bedeutet zu einem größeren Ganzen dazugehörend. Integrales Planen und Entwerfen stellt sich in den Dienst unserer Lebenswelt im Sinne Husserls9. So verstanden ist es eine grundlegend dienende Tätigkeit. Der vorliegende theoretische Ansatz stellt denn auch die Frage nach der Verantwortung der unterschiedlichen Akteur:innen im Rahmen eines Planungs- und Entwurfsprozesses. Zwar gibt es die Teilhabe der Gesellschaft an den Prozessen, doch die Verantwortung liegt bei denen, welche die Prozesse steuern. Sie alle haben Rollen in einem Prozess mit zahlreichen Unbekannten. Grundlage des integralen Planens und Entwerfens ist der Blick über die Parzellengrenze. Dies bedeutet zunächst die Fähigkeit zu präzisem Zuhören und zur Entwicklung eines gemeinsamen Prozesses. Der inter- und transdisziplinäre Ansatz wird fruchtbar, wenn der Entwurfsprozess durch eine neugierige und verbindliche Haltung gegenüber anderen Disziplinen geprägt ist. Ziel ist die Erweiterung des planerischen Horizonts und eine Suche nach Synergien zwischen den einzelnen Projekten. Der Blick über die Parzellengrenze lädt zur Auseinandersetzung mit aktuellen gesellschaftlichen Fragestellungen ein. Er eröffnet ein tiefes Verständnis für die am Ort vorgefundenen Qualitäten und deren Überlagerung mit einer möglichen zukünftigen Entwicklung des Ortes. Dem Prozess des integralen Entwurfs wird ein Denken zugrunde gelegt, das ein Gleichgewicht sucht zwischen dem Bedürfnis einer Bauträgerschaft und den meist weniger direkt vertretenen, aber ebenso rechtmäßigen Ansprüchen der Allgemeinheit, die sich im öffentlichen Raum des Kontexts manifestieren. Der Blick über die Parzellengrenze stärkt die Sensibilität für die Netzwerke aus Beziehungen, Räumen und Angeboten in unseren Städten, Quartieren und Siedlungen. Wie können die sich stets weiter differenzierenden Bedürfnisse und Ansprüche in unserem dichter werdenden Lebensraum berücksichtigt werden? Welche Bedeutung kommt dabei dem Verhältnis zwischen dem Gebäude und dem öffentlichen Raum zu? Wie kann die geforderte bauliche Verdichtung in Einklang mit dem jeweiligen Ort und den Menschen geplant, gestaltet und umgesetzt werden? Was kann Architektur leisten? Architektur ist keine Frage der Form, sondern des Denkens und Tuns. Planen und Entwerfen verfolgen eine Absicht, einen Zweck und ein Ziel; sie beruhen entscheidend auf kognitiven Prozessen. Die Qualität der Architektur ist das Resultat der Auseinandersetzung mit Fragen und Methoden.

24 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Planen und Entwerfen lassen sich nicht isoliert als separate Disziplinen betrachten. Der Problemlösungsprozess in der Architektur umfasst die beiden Kerntätigkeiten der Architekt:innen, das Planen und das Entwerfen. Die beiden Tätigkeiten unterliegen Vor- und Rückkopplungen. Dabei ist Planung eher als analytisch-theoretische Aktivität zu sehen, während Entwerfen eher eine kreative synthetisch-praktische Aktivität darstellt. Planen und Entwerfen erfolgen zyklisch und basieren auf den iterativen Schlaufen Analyse, Synthese und Evaluation.10 Horst Rittel formuliert den Planungsprozess als «iterativen Vorgang von Varietätserzeugung [Ideen] und Varietätseinschränkung [Bewerten]»11. Der Prozess verläuft simultan und synchron. Es gilt auszuhalten, dass wir noch nicht kennen, was wir eigentlich meinen. «Es gibt keine klare Trennung zwischen den Tätigkeiten der Problemdefinition, -synthese, und -bewertung. Sie alle treten gleichzeitig auf. Ein Entwurfsproblem verändert sich, während man es behandelt, weil das Verständnis darüber, was erreicht werden soll oder wie es erreicht werden könnte, sich kontinuierlich ändert. Zu verstehen, was das Problem ist, ist das Problem.»12 Das Wissen und Nichtwissen ist auf alle Beteiligten verteilt. Es gibt eine «Symmetrie der Ignoranz» (Rittel). Bei der Frage, wie wir Verantwortung für unsere Zukunft übernehmen können, geht es nicht nur um die städtebauliche Qualität und die architektonische Sorgfalt der Projekte, sondern ebenso sehr um deren gesellschaftliche und ökologische Relevanz. Dies führt uns wieder zur Frage: Was ist das Ziel? Verstehen wir das, worüber wir sprechen? Es geht um das Erkennen im Erkannten. Um Wahrnehmung und das Explizitmachen von Entscheidungen. Eine «Objektivierung»13 meint, dass wir über die Grundlagen unseres Urteils erfolgreich Informationen austauschen können. Erst dann begreifen wir und die anderen, was wir zu tun beabsichtigen. Das Verständnis einer Planungs- und Baukultur der Integration als «Prozessqualität» und als Voraussetzung für eine Architektur der Transformation, auch das verstehen wir unter Anschlussfähigkeit. Der vorliegende theoretische Ansatz stellt die Forderung an die Akteur:innen, ihre Verantwortung zu erkennen und Teil des Prozesses zu werden. Das braucht das Vertrauen und den Mut, nicht mehr linear zu denken und alle mitzunehmen. Es braucht ein anderes Denken und ein anderes Berufsbild. Voraussetzung dafür ist nicht nur eine andere Baukultur, sondern auch eine andere Planungskultur. 9 10 11 12 13

Vgl. Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Springer Dordrecht, Den Haag 1976 Vgl. Monika Schill-Fendl: Planungsmethoden in der Architektur, Verlag Monika Schill-Fendl, 2004, S. 50 Horst W. J. Rittel: Thinking Design. Transdisziplinäre Konzepte für Planer und Entwerfer, hrsg. von Wolf D. Reuter, Wolfgang Jonas, Birkhäuser, Basel 2013, S. 71 Ebenda, S. 125 Ebenda, S. 50

25 Prozess 1: Den Ort analysieren

Prozess 1: Den Ort analysieren Das Vorhandene ist das Fundament dessen, was werden kann. Integrales Planen und Entwerfen versteht das Vorhandene als ein Netzwerk von Lebensräumen der Menschen, Tiere und Pflanzen, als ein Gemisch von Bauten, Spuren und Beziehungen. Sie bilden die kulturelle Kraft, die man Identität nennt. Tabula rasa löscht aus. Wer weiterbaut und aufbaut, schafft Mehrwerte. Dies bedingt eine geduldige Auseinandersetzung mit dem konkreten Ort und seinen Möglichkeiten. «Der Umgang mit dem Bestehenden ist kulturell und wirtschaftlich entscheidend für unsere Zukunft.»14 Der Bestand kann auf sehr unterschiedliche Art einen Wert darstellen, kulturell, gestalterisch, ökologisch, ökonomisch, strukturell, emotional und sozial. Mit dem Bestand sind also nicht nur die bestehenden Bauten und Infrastrukturen gemeint, sondern auch das Nichtmaterielle, das Alltägliche und Gewöhnliche. Diese Haltung ist nicht neu. Schon in den 1950er-Jahren forderten Alison und Peter Smithson mit ihrer Idee «as found»15, den Blick auf das Vorhandene und Alltägliche vor Ort als möglichen Ausgangspunkt für das Neue zu richten. Mehr denn je geht es heute um das Verstehen bestehender Spuren. Es geht um die Wahrnehmung und Wertschätzung des Vorhandenen. Es geht um Vernetzung und Integration des Bestandes, um Weiterführen, Verstärken oder Neu-Denken. Jean-Philippe Vassal spricht von einer «situation capable» und meint damit die Suche nach den Möglichkeiten, die ein Ort bietet. Beim integralen Planen und Entwerfen wird Wissen über den Ort aufgebaut, Stufe um Stufe, Schicht auf Schicht. Im Rahmen der vorliegenden Methodik baut jede Prozessstufe auf den Erkenntnissen und Zwischenresultaten des vorangegangenen Prozesses auf. Es ist deshalb wichtig, die Informationen und Spuren des Ortes sichtbar und für die weitere Arbeit verfügbar zu machen. Um einen Ort möglichst ganzheitlich zu erfassen, werden drei grundsätzlich verschiedene Themenfelder untersucht: die strukturellen Informationen, die sozialräumlichen Qualitäten und die immateriellen Eigenschaften.

26 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

1.1

Strukturelle Informationen verfügbar machen

Um einen Ort zu beschreiben, ist es hilfreich, Strukturen und datenbasierte Informationen systematisch zu analysieren, darzustellen und zu überlagern. In der Architektur meint der Begriff Struktur die Anordnung, die innere Ordnung und das Zusammenwirken der Teile. Gebäude- und Siedlungsstrukturen bilden ein Abbild des kulturellen, sozialen und klimatischen Umfeldes. Durch das schichtweise Freilegen dieser Strukturen lassen sich ehemalige und heutige Entwicklungen ablesen und Zusammenhänge verorten. Erst das Aneignen von Wissen führt zu Handlungsfähigkeit und Objektivität im weiteren Planungsund Entwurfsprozess. Die strukturelle Analyse schafft die materiellen Grundlagen für den Entwurf.

Betrachtungsebene «Ort» Auf der Betrachtungsebene «Ort» werden die Siedlungsstrukturen, bestehend aus Bebauung, Freiräumen und Netzen, untersucht. Mittels thematischer Skizzen können die struktur­ ellen Eigenschaften und Besonderheiten der Siedlungsstruktur dokumentiert und zueinander in Beziehung gesetzt werden. Die Siedlungsstruktur nimmt je nach Nutzungsart, Nutzungsdichte, Topografie, Immissionen und Besonnung unterschiedlichste typologische und formale Ausprägungen an. Die Bebauung gliedern wir auf dieser Betrachtungsebene in offene, geschlossene und hybride Bebauung. Quantifizierbare Merkmale der Bebauung sind die Bebauungsdichte und die Parzellierung. Die Parzellierung ist ein oft unterschätzter, aber entscheidender Faktor für die Körnung der Siedlungsstruktur und damit für das Ortsbild. Darüber hinaus geben Archive Auskunft über wichtige Phasen der Siedlungsentwicklung. Die Freiräume unterscheiden wir nach Typologie (Straße, Gasse, Weg, Promenade, Platz, Park, Privatgarten, Hof, Landschaftsraum), nach Öffentlichkeitsgraden (öffentlich, gemeinschaftlich, halbprivat, privat) und nach Funktion (Friedhof, Badeanlage, Sportanlage, Quartiergarten etc.). In heterogenen Siedlungsgebieten können die Typologien auch unklar, undefiniert oder verwischt sein. Quantifizierbare Merkmale der Freiräume sind die Geometrien, die Orientierung, die Immissionen, die Besonnung, die Materialisierung, der Grad und die Art ihrer Durchgrünung sowie ihr Beitrag zur Kühlung des Umfeldes. Die Netze bilden die Interaktion innerhalb der Siedlungsstruktur ab. Die meisten Netze lassen sich den Mobilitäts- und Infrastruktursystemen zuordnen. Ebenso wichtig und oft vernachlässigt sind jedoch die Netzwerke der Freiraumstrukturen. Die

27 Prozess 1: Den Ort analysieren

Vernetzung der Freiräume untereinander sowie die Vernetzung zwischen der Bebauung und den Freiräumen ist für die Lebenswelten von Mensch, Tier und Pflanze von zentraler Bedeutung. In der Siedlungsstruktur aus Bauten und Freiräumen und ihrer Vernetzung liegt die kulturelle Identität eines Ortes. Siedlungsstrukturen sind äußerst träge. Sie haben ein großes Beharrungsvermögen. Der Verlauf von ehemaligen Feldwegen ist noch Jahrhunderte später im Straßenverlauf unserer Städte sichtbar. Der diagonal verlaufende Broadway in New York beispielsweise war ein indianischer Trampelpfad. Er ist in der Siedlungsstruktur als diagonale Ausnahme im orthogonalen Raster auch heute noch sichtbar. Siedlungsstrukturen werden geformt durch die Suche nach dem kürzesten räumlichen oder zeitlichen Weg, durch das Bedürfnis nach Orientierung und Ordnung sowie durch das Bedürfnis nach Abwechslung und gesellschaftlicher Differenzierung.

Siedlungsstrukturen sind langlebig. Durch ihre Unverwechselbarkeit generieren sie Identität. Trotz unterschiedlicher Siedlungsstrukturen haben die traditionellen europäischen Städte etwas gemeinsam: Die öffentlichen Freiräume sind stets mehrdeutig nutzbar und multifunktional. Sie bilden den wichtigsten Rahmen für soziale Interaktionen.

Lelystad, Niederlande, Quartier Atolwijk

Achau, Dorf in Österreich

Oslo, Quartier Majorstuen

Wien, historisches Zentrum

Bebauung und Freiräume

Mobilitätsnetze

Konfiguration

28 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Betrachtungsebene «Gebäude» Die strukturellen Eigenschaften von Gebäuden lassen sich mittels Typologie, Bauweise und Gebäudezustand präzise beschreiben. Die Gebäudetypologie ist eine Antwort auf Nutzungsart, Nutzungsdichte, Topografie, Immissionen und Besonnung. Wir unterscheiden zwischen Punkt-, Zeilen-, Hof-, Hallen-, Clusterund Hybridtypologien. Ihre Nutzungsart kann Wohnen, Gewerbe, Industrie, Verwaltung, Bildung, Gesundheit, Kultur, Kultus, Repräsentation, Sport, Gastronomie, Vergnügung, Beherbergung, Landwirtschaft, Forstwirtschaft oder Infrastruktur sein. Ihre Form kann orthogonal, polygonal, amorph, hoch oder niedrig sein. Die Bauweise lässt sich mit den drei Systemkategorien Primär-, Sekundär- und Tertiärsystem16, den verwendeten Materialien und Technologien, der Geschossigkeit, dem Erschließungskonzept sowie der Reaktion auf Topografie, Besonnung und Immissionen beschreiben. Die Trennung der drei Systemkategorien erleichtert den Unterhalt, den Ersatz einzelner Komponenten sowie spätere Umnutzungen. Beim Rückbau eines Gebäudes ermöglicht sie zudem die fachgerechte Separierung der Bauteile. Das Primärsystem umfasst Gebäudeteile mit einer langen Lebensdauer von 50–100 Jahren (Tragstruktur, Erschließung und Gebäudehülle). Das Primärsystem ist in den meisten Fällen die gestaltbestimmende Struktur und determiniert auch die weiteren Strukturen und die Raumstruktur des Gebäudes. Bei der Tragstruktur unterscheiden wir zwischen Massivbauweise, Schottenbauweise, Skelettbauweise und hybrider Bauweise. Beim Erschließungssystem unterscheiden wir zwischen Treppenhaus, Laubengang, Ein- oder Mehrspänner sowie Ein- oder Mehrbünder. Das Sekundärsystem umfasst Gebäudeteile mit einer mittleren Lebensdauer von 25–50 Jahren (Innenwände, Decken, Böden und feste haustechnische Installationen). Das Tertiärsystem umfasst Gebäudeteile mit einer kurzen Lebensdauer von 5–15 Jahren (Apparate, Mobiliar etc.). Der Gebäudezustand ist abhängig von der Bauweise des Gebäudes, dessen Alter und dem geleisteten Unterhalt. Daraus lassen sich die Gebrauchstauglichkeit, die Dauerhaftigkeit sowie die zu erwartende Restnutzungsdauer ableiten.

29 Prozess 1: Den Ort analysieren

Betrachtungsebene «Gesellschaft» Auf der Betrachtungsebene «Gesellschaft» werden demografische Daten, planungsrechtliche Rahmenbedingungen und öffentliche Einrichtungen untersucht. Für eine zukunftsfähige Projektentwicklung ist die Untersuchung demografischer Daten zwingend. Sie geben Auskunft über bestehende Nutzungen, Bevölkerungsstruktur, Akteur:innen, Bedarf und Nachfrage sowie über die Treiber und Entwicklungstrends im Rahmen des gesellschaftlichen Wandels. Darüber hinaus sind strukturelle Faktoren der Nachhaltigkeit wie Bevölkerungsdichte, Flächenverbrauch, Mobilitätsverhalten und Freiraumvernetzung verfügbar zu machen. Planungsrechtliche Instrumente wie Zonenplan, Baureglement und Grundbuch bilden die Grundlagen zur Untersuchung der Nutzungsstruktur von Bauten und Freiräumen. Dabei werden Nutzungsart, Nutzungsdichte und Grundeigentum sowie ihr Zusammenwirken mit Siedlungsstrukturen, Mobilitätsstrukturen und Infrastrukturen beschrieben und dargestellt. Als Infrastrukturen werden alle öffentlichen Einrichtungen für Versorgung, Betreuung und Bildung bezeichnet.

30 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

1.2

Urbane Qualitäten der Sozialräume erfassen

Für das Entstehen von Urbanität sind geeignete Freiraumkörper als Orte der sozialen Interaktion unverzichtbar. Es sind die Plätze, Gassen und Parks, in denen die verschiedenen Individuen und Gruppierungen einer Gesellschaft sichtbar werden. Die Sozialräume unserer Siedlungen und Städte sind die wichtigsten Orte des Interessenausgleichs. Zur Beschreibung und Beurteilung der Qualitäten von Sozialräumen dienen sechs Begriffe, welche die Forschungsgruppe NFP 65 im Rahmen eines Nationalen Forschungsprogramms unter dem Titel «Urbane Qualitäten» publizierte: Zentralität, Diversität, Interaktion, Zugänglichkeit, Adaptierbarkeit und Aneignung.17 Als Sozialräume bezeichnen wir Orte, an denen Menschen interagieren. Es sind Orte, die für eine Gruppe von Menschen eine Bedeutung haben. Sozialräume können überall entstehen, sie sind nicht an eine Funktion gebunden. Die Wahrnehmung der Qualitäten eines Sozialraums ist von Individuum zu Individuum unterschiedlich. Sie ist unter anderem Resultat der individuellen Sozialisation, des kulturellen Hintergrundes und der sozialen Situation. Die immateriellen Eigenschaften des Sozialraums zeigen sich unter anderem in den räumlichen und funktionalen Ausprägungen der Haltungen und Wertmaßstäbe der ansässigen Menschen: Wer lebt da? Wie lebt man da? Warum lebt man da? Als Informationsquelle können neben Beobachtungen, Begehungen und Befragungen auch die sozialen Medien dienen.

Zentralität «Zentralität ist eine grundlegende Eigenschaft jeder Form von Urbanität: Je mehr Menschen einen Ort in ihrem Alltag benötigen und besuchen, desto zentraler ist dieser Ort.»18 Der Begriff ist nicht eindeutig messbar. Die logistische Zentralität beschreibt die Lage eines Ortes in Bezug auf Mobilitätsnetzwerke und Brennpunkte von Aktivitäten. Kriterien zur Beurteilung sind gute Erreichbarkeit und hohe Besucherfrequenzen. Die funktionale Zentralität beschreibt die Präsenz von unterschiedlichen Nutzungen, Angeboten und Aktivitäten an einem Ort. Kriterien zur Beurteilung sind die Anzahl der Angebote und die Effekte, die sich aus ihrer Überlagerung ergeben.

31 Prozess 1: Den Ort analysieren

Die symbolische Zentralität beschreibt die Bedeutung eines Ortes für die kollektive Identifikation durch öffentliche Einrichtungen (Konzerthallen, Stadien, Parks etc.) oder durch wichtige Ereignisse (Feste, Märkte, Rituale, Sportanlässe etc.). Kriterien zur Beurteilung sind Sinnstiftungen auf symbolischer Ebene.19

Logistische und funktionale Zentralität: Am Bahnhof Bern verbinden sich hohe Besucherfrequenzen und Mobilitätsnetzwerke mit unterschiedlichen Nutzungen und Angeboten.

32 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Diversität «Diversität bedeutet, dass unterschiedliche Nutzungen, Nutzergruppen, soziale Milieus und räumliche Ausprägungen in einem Raum präsent sind.»20 Der Begriff ist nicht eindeutig messbar. Nutzungsdiversität bezeichnet die Vielfalt verschiedener öffentlicher und privater Angebote und Aktivitäten. Kriterien zur Beurteilung sind die Anzahl der Angebote und Aktivitäten und die Frage, ob sie sich ergänzen, komplementär befruchten oder zeitlich abwechseln. Soziale Diversität bezeichnet die Vielfalt unterschiedlichster Bevölkerungsgruppen, Milieus und Kulturen in einem urbanen Raum. Kriterien zur Beurteilung sind die Sichtbarkeit der Milieus, ihre Bereitschaft zum Austausch, ihre Neugier gegenüber Differenzen und die Fruchtbarkeit der Interaktionen. Eigentumsdiversität bezeichnet die Vielfalt von Eigentumsstrukturen und Investitionsmodellen. Kriterien zur Beurteilung sind die Größe und die Mischung der Investitionseinheiten.21 Für eine gute Eigentumsdiversität braucht es eine Mischung von kleinen Eigentumseinheiten wie Eigentumswohnungen oder Reihenhäusern und größeren Eigentumseinheiten wie Mehrfamilienhäusern oder Genossenschaftswohnungen. Konventioneller Investorenstädtebau mit Großüberbauungen bringt keine Eigentumsdiversität und damit auch keine Urbanität zustande. Urbanität entsteht nicht einfach aus baulicher Dichte. Urbanität entsteht aus der Vielfalt und der Intensität miteinander interagierender Nutzungen und Lebensformen.

33 Prozess 1: Den Ort analysieren

Eine Vielfalt von Klein und Groß fördert Diversität: Nutzungsdiversität (Wohnen, Arbeiten, Verkauf), soziale Diversität (Miete, Eigentum), Eigentumsdiversität (unterschiedliche Parzellengrößen für Klein- und Großinvestor:innen). Wettbewerb Transformation Areal Industriestrasse Luzern, 2018; Rolf Mühlethaler mit Christoph Schläppi.

34 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Interaktion Das Leben der meisten Menschen ist eine disperse Landschaft von Interaktionsräumen. «Interaktion bedeutet, dass unterschiedliche Menschen wechselseitig aufeinander einwirken und sich gegenseitig produktiv beeinflussen.»22 Der Begriff ist nicht eindeutig messbar. Die soziale Dichte beschreibt die Anzahl der Menschen, die sich an einem Ort aufhalten. Beurteilungskriterium ist die Bevölkerungsdichte (Wohnbevölkerung, Arbeitsbevölkerung, Besucher:innen). Die soziale Dichte wird dann fruchtbar, wenn die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen in eine friedliche

35 Prozess 1: Den Ort analysieren

Interaktion treten. Dafür braucht es geeignete Freiräume. Die Anforderungen an diese Freiräume sind abhängig von Ort und Kultur. Die Interaktionsintensität beschreibt die Anzahl der Austauschbeziehungen an einem Ort. Kriterien zur Beurteilung sind die Anzahl und die Deutlichkeit der Interaktionsprozesse. Die Interaktionsdauer beschreibt die zeitliche Ausdehnung der Interaktion. Beurteilungskriterien sind die Aufenthaltsqualität und die Möglichkeit, in längere Gespräche verwickelt zu werden.23 Interaktion braucht geeignete Freiräume, in denen unterschiedliche Menschen wechselseitig aufeinander einwirken und sich gegenseitig produktiv beeinflussen. Platz in der Altstadt von Prag.

36 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Zugänglichkeit «Zugänglichkeit bezeichnet die Möglichkeit, einen Ort zu unterschiedlichen Zeiten aufsuchen und sich darin aufhalten zu können.»24 Der Begriff ist nicht eindeutig messbar. Porosität bezeichnet die physische Durchlässigkeit des Siedlungsgewebes. Kriterien zur Beurteilung sind die Engmaschigkeit und Redundanz der Erschließungssysteme sowie die Zugänglichkeit und Durchlässigkeit der Gebäude im Erdgeschoss. Porosität (Durchlässigkeit) entsteht durch eine Vielfalt von Wegen, Gässchen, Passagen und Abkürzungen. Limmatwest, Zürich, 2002; Kuhn Fischer Partner.

37 Prozess 1: Den Ort analysieren

Regulierung bezeichnet die räumlichen oder zeitlichen Zutritts- oder Ausschlusskriterien, welche die Benutzung des Ortes regeln. Kriterien zur Beurteilung sind die Handlungs- und Bewegungsfreiheiten der unterschiedlichen Nutzergruppen.25

Porosität befördert den Langsamverkehr, sichere Schulwege und informelle Kontakte. City of Tomorrow, Malmö, 2005; Klas Tham et al.

38 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Adaptierbarkeit «Adaptierbarkeit bedeutet, dass sich eine Situation den sich verändernden Anforderungen für unterschiedliche Nutzergruppen und Nutzungen möglichst flexibel anpassen lässt.»26 Der Begriff ist nicht eindeutig messbar. Die Umnutzbarkeit beschreibt die Anpassungsfähigkeit von Gebäuden und städtebaulichen Strukturen an unterschiedliche Funktionen, Nutzungen und Bedürfnisse. Kriterien zur Beurteilung sind die Nutzungsoffenheit der Freiräume und die räumliche Konfigurierbarkeit von Elementen. Die Umbaubarkeit beschreibt die Veränderbarkeit von baulichen Strukturen. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Möglichkeit der Erdgeschosse, unterschiedlichste Nutzungen wie Gewerbe, Gastronomie, Versorgung, Verkauf oder auch Wohnen aufnehmen zu können. Kriterien zur Beurteilung sind die physische Anpassungsfähigkeit und Reversibilität.27 Die Umdeutbarkeit beschreibt die Möglichkeit der Veränderung der Bedeutung von Räumen und Orten für unterschiedliche Nutzergruppen. Kriterien zur Beurteilung sind Mehrfachbedeutungen und verschiedene symbolische Anknüpfungspunkte.

Umnutzbare und umdeutbare Freiräume sind vielfältig nutzbar, weil sie eine Adaptierung ihrer funktionalen und symbolischen Bedeutung erlauben: Der Dorfplatz der Halensiedlung dient als Ort für Zirkulation, Versammlungen, Feste und Märkte. Herrenschwanden, 1962; Atelier 5.

39 Prozess 1: Den Ort analysieren

Aneignung «Aneignung bedeutet, dass unterschiedliche Nutzer:innen und soziale Milieus eine Situation durch ihre Praktiken aktiv beanspruchen und auf ihre spezifischen Bedürfnisse beziehen können.»28 Der Begriff ist nicht eindeutig messbar. Nutzungsoffenheit bezeichnet die Möglichkeit, verschiedene Tätigkeiten in einem Raum auszuüben. Kriterium zur Beurteilung ist, ob ein Raum den Anforderungen von verschiedenen Nutzergruppen und Nutzungsarten gerecht wird. Gestaltbarkeit bezeichnet die Möglichkeit zur Inanspruchnahme von Orten oder Räumen durch materielle Manifestationen. Kriterium zur Beurteilung ist die Möglichkeit, die Anordnung von Elementen zu verändern und Spuren zu hinterlassen. Symbolische Offenheit bezeichnet die Möglichkeit, verschiedene Bedeutungen in einen Ort oder Raum einzuschreiben. Kriterien zur Beurteilung sind die vieldeutige und vielstimmige Gestaltung ohne ausschließende Symbolik sowie eine Aneignungsfähigkeit nicht nur für die planenden, finanzierenden und kontrollierenden Akteur:innen, sondern für alle Nutzer:innen.29 Nutzungsoffenheit ermöglicht Aneignung, beispielsweise beim Spielen. Siedlung Hardegg, Bern; Krebs und Herde Landschaftsarchitekten.

40 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Gestaltbarkeit ermöglicht Aneignung, indem mit raumdefinierenden Pflanzgefäßen und Möbeln Schwellenräume geschaffen werden. FAB-Areal, Biel:mlzd.

41 Prozess 1: Den Ort analysieren

42 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

1.3

Immaterielle Eigenschaften des Ortes sichtbar machen

Das Sichtbarmachen der immateriellen Eigenschaften eines Ortes ist anspruchsvoll. Im Gegensatz zu den strukturellen Informationen, die in unserer Kultur des Rationalen großes Vertrauen genießen, sind die immateriellen Eigenschaften schwieriger fassbar und nicht exakt messbar. Ihre Untersuchung führt zu einer Sensibilisierung der Wahrnehmung für die komplexen immateriellen Erscheinungsformen des Raumes und des Ortes. Sie schafft anhand einer Auswahl persönlicher Wahrnehmungen die immateriellen Grundlagen für den Entwurf. Die Erkenntnisse sind jedoch schwierig darzustellen. Dementsprechend stellt auch die Kommunikation der Erkenntnisse gegenüber Dritten eine große Herausforderung dar. Drei Themenfelder dienen zum Beschreiben und Sichtbarmachen der immateriellen Eigenschaften eines Ortes: der Genius Loci, die Gestaltqualitäten der Baukörper und die Gestaltqualitäten der Raumkörper. Die Analyse umfasst also nicht nur die gebauten Strukturen, sondern ebenso den Raum zwischen den Bauten, den Zwischenraum, das Unsichtbare.

43 Prozess 1: Den Ort analysieren

Genius Loci Um den Geist eines Ortes, den Genius Loci, zu verstehen, muss eine umfassende Auseinandersetzung mit der Erscheinung und Bedeutung des Ortes stattfinden, über Sehen, Hören, Riechen, Tasten und Fühlen, mittels Skizzen, Collagen, Befragungen, Tonaufnahmen, Fotodokumentationen und Konsultation der sozialen Medien. «Bei den Alten hatte jeder Ort seinen besonderen Charakter und um siedeln und wohnen zu können, musste der Mensch sich erst mit dem Genius des Ortes einigen. Bauen bedeutete daher Verständnis für und Respekt vor der vorgefundenen Umgebung, und durch den Vorgang des Bauens fasste der Mensch existentiell Fuß.»30 Der Genius Loci ist ein Themenfeld zum Beschreiben der immateriellen Eigenschaften. Er erfasst Merkmale eines Raumes oder eines Ortes, die weit über eine Beschreibung hinausgehen. Denn das, was einen Ort ausmacht, lässt sich oft nicht rational beschreiben. Vielmehr geht es um den «Geist des Ortes» oder den «Charakter des Ortes».31 Ihm liegt ein Verständnis von Ganzheit zugrunde. Natur und Kultur sind keine Kontraste. Nichts ist beziehungslos. Der Geist des Ortes findet in der Ganzheit aller Gesten der Natur und der Kultur seinen Ausdruck. Der Genius Loci ist keine fixe Qualität, sondern eine Eigenschaft des Ortes, die sich im Verlauf der Zeit und mit der Transformation des Kontexts kontinuierlich verändert. Aus diesem Grund muss der Geist des Ortes auch fortlaufend neu gesucht und interpretiert werden. Dem Genius Loci nachzuspüren ist eine Möglichkeit, der zunehmenden Ortlosigkeit etwas Unverwechselbares und mit dem Ort Verwachsenes entgegenzusetzen, eine «qualitative Gefülltheit»32. Als gestaltbestimmende Kraft kann er die in einem Umfeld vorhandenen tieferen Schichten aufdecken und so «aus einer Stelle einen Ort machen».33 «Der Genius wirkt intentional, das heißt, er versinnbildlicht das Streben eines Orts zu einer bestimmten Qualität hin […]. Es braucht die Annahme einer Psychologie des Raums, die dem Ort selbst psychische Qualitäten zugesteht, unabhängig von der Existenz eines Menschen.»34

44 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Der Geist eines Ortes ist im Raum erfahrbar: in seiner Topografie aus Erde, Fels und Wasser; in seiner Belebtheit aus Pflanze, Tier und Mensch; in seiner Geschichte; in seiner Gestalt aus Formen, Oberflächen, Gerüchen und Geräuschen. Der Geist des Ortes kann als Träger einer bildhaften Ortserinnerung oder als atmosphärisches Feld gesehen werden. Er ist gelebtes Leben, das sich stets erneuert. Diese Art des Planens und Bauens ist zeitlos. Seit Jahrtausenden wird sie gepflegt. Die Wahrnehmung des Genius Loci ist abhängig von der Zeit, in der sie gemacht wird, und vom kulturellen Kontext der Betrachtenden. Die Beobachtungen sind immer subjektiv und relativ, denn sie sind mit bestimmten Wahrnehmungs- und Verhaltensgewohnheiten verknüpft. Das Schwierigste am Genius Loci ist seine Vermittlung gegenüber Dritten. Auch eine Flut von Bildern oder Skizzen kann ihn nicht erfassen. Denn es braucht keine möglichst umfassende Sicht des Ganzen, sondern eine selektive Sicht auf spezifische Eigenheiten und Merkmale des Ortes.

Der Genius Loci als gestaltbestimmende Kraft. Atelierhaus in Bern, 1994; Büro B Architekten.

45 Prozess 1: Den Ort analysieren

Baukörper und Raumkörper Baukörper und Raumkörper verhalten sich komplementär zueinander. Der Raumkörper ist das Umgekehrte, das «Leere» zwischen den Baukörpern, der Zwischenraum. Leider wird oft vernachlässigt, dass die primäre Aufgabe der Architekt:innen nicht das Schaffen von Baukörpern ist, sondern das Schaffen von Raumkörpern. Raum, und nicht Beton oder Holz, ist der Rohstoff der Architekt:innen. Sie schaffen den Raum, in dem sich das Leben entfalten kann. Der Raum ist das wichtigste Produkt beim Entwerfen, sowohl im städtebaulichen Maßstab als auch beim detaillierten architektonischen Entwurf. Die immateriellen Eigenschaften von Baukörpern zeigen sich in ihrer Gestalt, Bedeutung, Ausstrahlung und Geschichte. Sie zeigen sich in Proportionen, in Plastizität und Porosität der äußeren Hülle. In den Schwellenräumen zwischen Innen und Außen zeigen sich die immateriellen Eigenschaften in der gestalterischen Ausprägung der Grenzen und Übergänge, in der Abstufung der Öffentlichkeitsgrade von öffentlich über gemeinschaftlich und halbprivat bis privat. Die immateriellen Eigenschaften eines Raumkörpers werden maß­geblich durch die ihn begrenzenden Baukörper geprägt: durch ihre Position, Maßstäblichkeit und Materialisierung. Darüber hinaus werden die immateriellen Eigenschaften eines Raumkörpers durch seine soziale Bedeutung, seine Nutzung sowie durch seine Geometrien charakterisiert. Ein architektonischer Raum entsteht erst durch seine Begrenzungen. Architektonischer Raum kann nur dank seinen Begrenzungen wahrgenommen werden. Die Begrenzungen können Boden-, Wand- und Deckenscheiben sein, aber auch eine Reihe von Pfeilern, Säulen oder Bäumen. Der Grad der Raumdefinition ergibt sich aus der Klarheit und Stärke der Elemente, welche den Raum begrenzen. Architektonische Räume können sowohl Innenräume als auch Außenräume sein, sofern sie durch ihre Begrenzungen ausreichend gefasst sind. Dieses «Gefasstsein» eines Raumes bezeichnen wir als Raumdefinition. Die Begrenzungen des architektonischen Raumes nennen wir raumdefinierende Elemente.

46 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Ein starker Raumkörper: Die Baukörper begrenzen zwar den Platz, die einzelnen Gebäude sind aber ­sekundär. Der Raumkörper ist die primäre Figur. Plaza Mayor, Madrid, 1619.

47 Prozess 1: Den Ort analysieren

48 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Starke Raumdefinition durch allseitige räumliche Fassung des Raumes mit raumdefinierenden Elementen. Kreuzgasse, Bern.

49 Prozess 1: Den Ort analysieren

Schwache Raumdefinition durch Brüstung und Baumreihe als raumdefinierende Elemente. Der Belagswechsel zoniert den Raum zusätzlich in Zirkulations- und Aufenthaltszone. Münsterplattform, Bern.

Auch ein Feuer mit Menschen im Kreis definiert einen Raum.

50 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Mittlere Raumdefinition durch Boden- und Deckenplatte als raumdefinierende Elemente. Neue Nationalgalerie, Berlin, 1968; Mies van der Rohe.

51 Prozess 1: Den Ort analysieren

52 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Raumeigenschaften Die immateriellen Qualitäten eines architektonischen Raumes können durch das Beschreiben der Raumeigenschaften präzise erfasst werden. Die Raumeigenschaften leiten sich aus den Merkmalen der den Raum begrenzenden raumdefinierenden Elemente ab. Dabei sind insbesondere die Dimensionen, die Proportionen, die Öffnungen, die Plastizität, die Oberflächentextur, die Materialität, die Farbe und die Raumhaltigkeit der raumdefinierenden Elemente maßgebend. Raumeigenschaften können mit allen Sinnen erfahren werden. Es ist das individuelle Erfassen der wahrgenommenen Qualitäten, das einen Raum vom anderen unterscheidet. Die Wahrnehmung der raumbegrenzenden Elemente kann sich je nach Tages- und Jahreszeit ändern, darum ist es empfehlenswert, Räume mehrmals und zu unterschiedlichen Zeiten zu besuchen. Raumeigenschaften werden mit Adjektiven beschrieben, die ein vor Ort empfundenes Gefühl ausdrücken: offen, geschlossen, eng, weit, hart, weich, amorph, strukturiert, korpulent, lind, geschmeidig, hell, dunkel, beständig und viele weitere.

53 Prozess 1: Den Ort analysieren Raumeigenschaften: weich, warm, hell, gehalten, fließend, geschmeidig, amorph, mehrdeutig, geschützt, rhythmisch etc. Kindergarten in Ittigen, 2020; Büro B Architekten.

Raumeigenschaften: hart, geschützt, gehalten, beständig, beengt, introvertiert, kalt, rau, dicht etc. Plaza del Cardenal Belluga, Murcia.

54 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Die Beziehung zwischen Baukörper und Raumkörper Die Beziehung zwischen Baukörper und Raumkörper beeinflusst den Städtebau und die Architektur entscheidend. Jahrhundertelang hatten im europäischen Städtebau die einzelnen Baukörper meistens eine untergeordnete Bedeutung. Ihre primäre Aufgabe war es, öffentliche Freiräume zu definieren. Alles verschmolz zu einem kontinuierlichen städtischen Gewebe, in welchem die Raumkörper der öffentlichen Freiräume ausgestanzt waren. Erst die ganze Stadt in ihren Stadtmauern wirkte wie ein großer Körper. Die einzelnen Baukörper verschmelzen zu einem kontinuierlichen städtischen Gewebe. Plan von Brescia, 1769; Joseph Jérôme de La Lande.

Im «tissu urbain», dem kontinuierlichen städtischen Gewebe, waren Innenraumkörper und Außenraumkörper gleichwertige Partner. Der Nolli-Plan von Rom (1748) zeigt, dass die Raumkörper von Plätzen und Innenhöfen zusammen mit den Raumkörpern der Innenräume öffentlicher Gebäude gleichwertige Bausteine eines städtischen Raumkontinuums sind. Die Innenräume wichtiger Bauten finden eine räumliche Entsprechung im davorliegenden Platzraum. Die Innenräume öffentlicher Gebäude und die öffentlichen Freiräume als Bausteine des «tissu urbain». Plan von Rom, 1748; Giovanni Battista Nolli.

55 Prozess 1: Den Ort analysieren

Baukörper: Der Palazzo Farnese in Rom und seine umgebenden Bauten definieren Plätze und Gassen.

Raumkörper: die durch die Baukörper definierten Raumkörper der Gassen und Plätze.

56 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Die Beziehung zwischen Baukörper und Raumkörper erlebte mit dem Aufkommen der klassischen Moderne eine radikale Umkehrung: Solitäre Baukörper sind von fließendem Raum umgeben. Le Corbusier definierte Architektur als «le jeu savant, correct et magnifique des volumes assemblés sous la lumière». Architektur ist für ihn das Erschaffen von Baukörpern. Er stellt «les volumes» ins Zentrum. Er arbeitet und denkt wie ein Bildhauer, der Skulpturen in den Raum stellt. Einen urbanen Freiraum mit Gassen und Plätzen gibt es in seinen städtebaulichen Visionen nicht. Seine Stadt besteht nur aus freistehenden Volumen und Infrastruktur dazwischen. Ein reiner Raumkörper und ein reiner Baukörper: die Uffizien in Florenz (1565) von Giorgio Vasari und die Unité d’Habitation in Marseille (1947) von Le Corbusier.

Ein reiner Raumkörper. Uffizien, Florenz, 1565; Giorgio Vasari.

57 Prozess 1: Den Ort analysieren

Der Vergleich zwischen den Uffizien in Florenz und der Unité d’Habitation in Marseille zeigt einen Raumkörper und einen Baukörper mit fast identischen Abmessungen, aber mit entgegengesetzten Raumvorstellungen. Die Uffizien in Florenz von Vasari (1565) umschließen einen zentralen Raumkörper. Das eigentliche Gebäude ist eine unregelmäßige, dem bestehenden Stadtgewebe angepasste Hinterfüllung des Raumkörpers. Die Unité d’Habitation in Marseille von Le Corbusier (1947) ist dagegen ein reiner, von fließendem Raum umgebener Baukörper.

Ein reiner Baukörper. Unité d’Habitation, Berlin, 1957; Le Corbusier.

58 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Übersicht Prozess 1 Ziel: Bestehende Strukturen, Räume und Atmosphären erfassen — Vermitteln komplexer Informationen und Erkenntnisse mit grafischen Mitteln. — Aneignen von Wissen. Erlangen von Objektivität. — Erspüren und Verstehen der Schichten, Strukturen und Zusammenhänge des Ortes als Voraussetzung für kreative Eingriffe in das komplexe Gefüge des Ortes. Schritt 1: Wissenschaftliche Spaziergänge35 machen — Planerische Fragestellungen anhand von Beobachtungen typischer und alltäglicher Situationen zu beantworten versuchen: Was sehe ich? Warum sehe ich das? Sehen andere Menschen das anders? Eingeschliffene Wahrnehmungsmuster erweitern. — Wirkungsweise zwischen Menschen und Raum im Betrachtungsperimeter wahrnehmen: Wer lebt da? Wie lebt man da? Warum lebt man da? Perspektive der Benutzer:innen erfassen: sehen, hören, riechen, tasten und fühlen. Schritt 2: Thematische Skizzen erstellen — Strukturelle, immaterielle und sozialräumliche Einzelaspekte des Ortes mit verschiedenen thematischen Skizzen isoliert betrachten. Besonderheiten grafisch hervorheben, überhöhen und inhaltlich verdichten. Die Wahl der Themen und das Hervorheben einzelner Aspekte ist bereits ein selektiver Entwurfsvorgang. Beispiele dazu finden sich unter anderem bei Kevin Lynch (the city image and its elements: path, node, edge, landmark, district)36, bei der gestaltpsychologischen Annäherung von Max Wertheimer (Figur-Grund-Phänomene, Zusammenhänge und Unterschiede von Formen), im Handbuch «Urbane Qualitäten»37 oder in «Die Schweiz. Ein städtebauliches Portrait»38. — Siedlungs-, Gebäude- und Nutzungsstruktur als Abbild des kulturellen, gesellschaftlichen und klimatischen Umfeldes entschlüsseln. Einflüsse von Nutzungsart, Nutzungsdichte, Topografie, Immissionen und Besonnung aufzeigen. Schritt 3: Spannungsfelder sichtbar machen — Thematische Skizzen überlagern und assoziativ zueinander in Beziehung setzen. — Aus einer Überlagerung der thematischen Skizzen die Spannungsfelder des Ortes herausarbeiten: Defizite (strukturelle, räumliche, bauliche und sozialräumliche Mängel) und Potenziale (schlummernde Möglichkeiten) für die Transformation des Ortes in Phase 2 ableiten und kommunizierbar darstellen.

59 Übersicht Prozess 1

Themenfelder — Strukturelle Spannungsfelder des Ortes: Bebauungstypologie (offen, geschlossen, hybrid), Bebauungsdichte, Nutzungsdichte, Nutzungsart, Nutzungsmix, Bewohner:innendichte, Flächenverbrauch, Siedlungsentwicklung, Parzellierung, Ortsbildinventar, Grundeigentum, Bau- und Planungsrecht. — Immaterielle Spannungsfelder des Ortes (Genius Loci): Identität, Wahrzeichen, Topografie, Belebtheit (Pflanze, Tier, Mensch), Gestalt (Formen, Oberflächen, Gerüche, Geräusche), Geschichte und Geschichten. — Spannungsfelder der Netze und der Infrastruktur: Orientierung, Erschließung (Langsamverkehr, öffentlicher Verkehr, motorisierter Individualverkehr), Durchwegung und Vernetzung im Siedlungsgefüge, öffentliche Einrichtungen für Versorgung, Betreuung und Bildung. — Strukturelle Spannungsfelder der öffentlichen und privaten Freiräume: Freiraumtypologie (Straße, Gasse, Weg, Promenade, Platz, Park, Privatgarten, Hof, Landschaftsraum), Öffentlichkeitsgrad (öffentlich oder privat), Funktion (Friedhof, Badeanlage, Sportanlage, Quartiergarten etc.), Art und Grad der Durchgrünung, sommerlicher Wärmeschutz, Materialisierung, Topografie, Immissionen und Besonnung. — Immaterielle Spannungsfelder der öffentlichen und privaten Freiräume: Identität und sozialräumliche Bedeutung im Siedlungsgefüge, Gestalt, räumliche und atmosphärische Qualitäten (Raumdefinition, Raumeigenschaften), Verhältnis zwischen Baukörpern und Raumkörpern, Vernetzung der Freiräume untereinander. — Strukturelle Spannungsfelder der bestehenden Bauten: Gebäudetypologie, Nutzungsart, Erdgeschossnutzung, Geschossigkeit, Bauweise, Materialien, Adressierung, inneres Erschließungskonzept, Gebäudezustand, Restwert, Denkmalpflegeinventar, Besonnung und Immissionen. — Immaterielle Spannungsfelder der bestehenden ­Bauten: Identitätsbildung, soziokulturelle Bedeutung, historische Kontinuität, Bezug zum Kontext (Volumetrie, Porosität, Vernetzung, Maßstäblichkeit, Höhenentwicklung), gestalterische Ausprägung der Grenzen und Schwellenräume zwischen öffentlich und privat. — Spannungsfelder im Sozialraum: urbane Qualitäten39 ­(Zentralität, Diversität, Interaktion, Zugänglichkeit, Adaptierbarkeit, Aneignung), demografische Entwicklung und gesellschaftlicher Wandel, Bedarf und Nachfrage, Treiber und Akteur:innen, bestehende identitätsstiftende Nutzungen und soziale Netzwerke, räumliche und funktionale Ausprägungen der Haltungen und Wertmaßstäbe der ansässigen Menschen.

60 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39

Muck Petzet, Florian Heilmeyer (Hrsg.): Reduce, Reuse, Recycle. Ressource Architektur, Hatje Cantz, Ostfildern 2012, S. 9 Der Begriff «as found» (wie vorgefunden) entstand als Reaktion auf die Straßenbilder des Künstlers Nigel Henderson. Vgl. Urs Hettich, Giorgio Macchi: Nachdenken und umdenken. Über das dreiteilige Modell des Wettbewerbs INO Inselspital Bern, in: Schweizer Ingenieur und Architekt, Band 116, 1998 Vgl. Simon Kretz, Lukas Kueng (Hrsg.): Urbane Qualitäten. Ein Handbuch am Beispiel der Metropolitanregion Zürich, Edition Hochparterre, Zürich 2016 Ebenda, S. 44 Vgl. ebenda, S. 44 ff. Ebenda, S. 50 Vgl. ebenda, S. 50 ff. Ebenda, S. 55 Vgl. ebenda, S. 55 ff. Ebenda, S. 60 Vgl. ebenda, S. 60 ff. Ebenda, S. 65 Vgl. ebenda, S. 65 ff. Ebenda, S. 70 Vgl. ebenda, S. 70 ff. Christian Norberg-Schulz: Neues Bauen in alter Umgebung, in: Bayerische Architektenkammer (Hrsg.): Neues Bauen in alter Umgebung, München 1978 Vgl. Christian Norberg-Schulz: Genius loci. Landschaft. Lebensraum. Baukunst, Klett-Cotta, Stuttgart 1982 Hans-Jörg Müller: Genius Loci und Genialogie, in: Johannes Heimrath, Lara Mallien (Hrsg.): Genius Loci. Der Geist von Orten und Landschaften in Geomantie und Architektur, Drachen Verlag, Klein Jasedow 2009, S. 115 Vgl. Christian Norberg-Schulz: Genius loci. Landschaft. Lebensraum. Baukunst, Klett-Cotta, Stuttgart 1982 Hans-Jörg Müller: Genius Loci und Genialogie, in: Johannes Heimrath, Lara Mallien (Hrsg.): Genius Loci. Der Geist von Orten und Landschaften in Geomantie und Architektur, Drachen Verlag, Klein Jasedow 2009 Vgl. Lucius Burckhardt: Warum ist Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft, hrsg. von Markus Ritter, Martin Schmitz, Martin Schmitz Verlag, Berlin 2006 Vgl. Kevin Lynch: The Image of the City, The MIT Press, Cambridge/Massachusetts 1960, S. 47 f. Simon Kretz, Lukas Kueng (Hrsg.): Urbane Qualitäten. Ein Handbuch am Beispiel der Metropolitanregion Zürich, Edition Hochparterre, Zürich 2016 ETH Studio Basel (Hrsg.): Die Schweiz. Ein städtebauliches Portrait, Birkhäuser, Basel 2005 Vgl. Simon Kretz, Lukas Kueng (Hrsg.): Urbane Qualitäten. Ein Handbuch am Beispiel der Metropolitanregion Zürich, Edition Hochparterre, Zürich 2016

61 Prozess 2: Die Transformation evaluieren

Prozess 2: Die Transformation evaluieren In der Architektur gibt es ein Vorher, ein Nachher und einen Prozess dazwischen. Um zu entwerfen, muss man in erster Linie den Prozess zwischen dem Vorher und dem Nachher verstehen.40 Denn: «Das, was ist, ist verursacht durch das, was war, und das, was sein wird, hat das, was ist, zur Ursache» (Remy de Gourmont). Eine nachhaltige Planungs- und Baukultur muss in der Lage sein, in diesem Prozess zwischen dem Vorher und dem Nachher unterschiedlichste räumliche, soziale und ökonomische Parameter mit einer großen Diversität von Interessen, Bedürfnissen und Bedingungen zu vereinigen und mit Vergangenem und Zukünftigem abzustimmen. Die Planungsaufgaben sind komplex und nur teilweise determiniert. Der Prozess erfordert deshalb eine paradoxe Mischung aus Genauigkeit und Unbestimmtheit. Es braucht die Fähigkeit, in Prozessen der Kooperation und Integration mit Unsicherheiten und offenen Fragen umzugehen. Logik allein genügt nicht. Das macht es anspruchsvoll. Der Wunsch, die Zukunft mit klaren Bildern und Formen abschließend planen zu können, hat der Erkenntnis Platz gemacht, dass ein Denken in Lösungen zu starr ist. Entwicklungstrends und gesellschaftlicher Wandel sind heute weniger ortsgebunden und damit volatiler. Als Beispiel sei die aktuell zu beobachtende Auflösung der Trennung von Wohnen und Arbeiten erwähnt. Die Digitalisierung ermöglicht, dass die räumliche Nähe von Arbeitsort und Wohnort weniger relevant ist. Die Menschen verhalten sich zunehmend posträumlich, was sich darin zeigt, dass sie ihren Lebensmittelpunkt freier nach persönlich gewichteten Attributen wie Wohnumfeldqualität oder der Nähe zu Naherholungsgebieten und nicht nach dem Arbeitsort wählen. Unabhängig vom Ort führen sie ein weitgehend urbanisiertes Leben. Städtisch und ländlich sind als gegensätzliche Lebensformen kaum mehr vorhanden. In gewachsenen Dörfern führt dies zu Konflikten, weil sich Neubauten weder strukturell noch formal auf den ortstypischen Kontext einlassen mögen. Posträumliches Verhalten verstärkt den Trend zur Individualisierung unserer Gesellschaft, weil die Ortsgebundenheit und damit die Verwurzelung schwindet. Eine repräsentative Bevölkerungsumfrage des Bundes aus dem Jahr 2019 ergab, dass ein Drittel der in der Schweiz lebenden Bevölkerung sich einsam fühlt. Einsamkeit gehört heute zu den größten Gesundheitsrisiken.41

62 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Klimawandel und geopolitische Entwicklungen sind weitere Faktoren, welche die Volatilität gesellschaftlicher Entwicklungen erhöhen und das Denken in Lösungen obsolet erscheinen lassen. Das Bedürfnis nach Schutz und Existenzchance treibt Menschen aus anderen Teilen der Welt nach Europa, wo sie sich am Rande der Gesellschaft und gleichzeitig mitten in einem fremden Alltag wiederfinden. Die radikalen Verluste bekannter Strukturen zwingen zu einer Neudefinition gesellschaftlicher Muster. Szenarien erlauben es, in einer frühen Phase des Prozesses die Einflüsse von gesellschaftlichem Wandel, Entwicklungstrends, Treibern, Akteur:innen, Bedarf und Nachfrage mit unterschiedlichen konzeptionellen Ansätzen zu testen und damit verschiedene Perspektiven für den Ort zu entwickeln, ohne vorschnell in starre Lösungen zu verfallen. Konzeptionelle Entscheidungen werden dadurch erst nach der Evaluation einer möglichst großen Bandbreite von Lösungsmöglichkeiten getroffen. Das Risiko eines späteren Zurückkommens auf frühere Planungsentscheidungen wird dadurch verringert. «Wir neigen dazu, Probleme, die eigentlich durch Strategien behandelt werden müssten, benennbaren Lösungen zuzuführen. […] Mit der Erfüllung momentaner Bedürfnisse ‹löst› man die Probleme der Gegenwart.»42 Doch die Lösungen von heute sind die Probleme von morgen. Die Arbeit mit Szenarien ist effizient, da mit relativ geringem Aufwand die wesentlichen Parameter eines Projekts evaluiert werden können. In der konzeptionellen Phase werden über 80 Prozent der schlussendlichen Baukosten bereits bestimmt. Es bringt wenig, am Schluss noch bei den Materialien des Innenausbaus sparen zu wollen. Die kostenrelevanten Weichen werden hier gestellt. Das Testen einer Vielfalt von Szenarien befördert Innovation. Das Ausloten von verschiedenen Haltungen und Ideen stellt sicher, dass nicht einfach bereits bekannte Lösungen reproduziert werden. Beim Denken in Szenarien lassen wir Kräfte, die sich zum Teil widersprechen, in einem transdisziplinären Prozess interagieren.

63 Prozess 2: Die Transformation evaluieren

2.1

Das Transformationspotenzial erkennen

Das Transformationspotenzial eines Ortes ist die Summe seiner schlummernden Möglichkeiten und Chancen. Diese werden fassbar, sobald die Erkenntnisse der Analysen aus Prozess 1 überlagert und zueinander in Beziehung gesetzt werden. Die Erkenntnisse werden jedoch nur selten kongruent sein. Im Gegenteil: Es treten Defizite und Potenziale des Ortes als Spannungsfelder hervor. Diese Spannungsfelder bergen die wichtigsten Zutaten und Informationen für den weiteren Entwurfsprozess. Doch erst die klare Benennung und möglichst präzise Verortung der Defizite und Potenziale lässt das Transformationspotenzial des Ortes erkennen. Das Transformationspotenzial wird in einer Potenzialkarte festgehalten: Welche Chancen schlummern am Ort? Welche Potenziale und Qualitäten sollen verstärkt und ausgebaut werden? Welche Defizite sollen verbessert, welche Konflikte entschärft werden? An welchen Orten und mit welchen Maßnahmen sollen diese Ziele erreicht werden? Für die Betrachtungsebene «Ort» zeigt das nachfolgende Beispiel das Transformationspotenzial einer gesichtslosen Straßenkreuzung in Köniz. Das Luftbild von 1996 zeigt eine räumlich heterogen gefasste, viel zu große Verkehrsfläche. Die Parzelle des Einfamilienhauses im Nordosten reicht bis an die Straße. In der Aufnahme von 2015 ist ein identitätsstiftender Freiraumkörper als Orientierungspunkt im Siedlungsgefüge entstanden. Die Architekten überzeugten die Eigentümerin des Einfamilienhauses, einen großen Teil ihrer Parzelle der Öffentlichkeit zu übertragen, als Ausgleich an die Gesellschaft für die höhere Nutzung der Parzelle. Der Ersatzneubau des Einfamilienhauses umfasst 35 Wohnungen und 800 Quadratmeter Gewerbefläche im Erdgeschoss. Die gebogene Volumetrie führt die Geste des bestehenden Baus im Südosten weiter und definiert einen Platzraum. Auch auf der Betrachtungsebene «Gebäude» bildet das Erkennen des Transformationspotenzials die Grundlage des Entwurfs. Das erste Bild des nachfolgenden Beispiels zeigt einen Das Transformationspotenzial auf der Betrachtungsebene «Ort» erkennen: Eine gestaltlose Straßenkreuzung in Köniz wird zu einem identitätsstiftenden Freiraumkörper. Neuhausplatz, Köniz, Zustand 1996 und 2015; Büro B Architekten und extrā Landschaftsarchitekten.

64 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

bestehenden Bau mit Walmdach. Das zweite Bild zeigt einen radikal veränderten Ausdruck. Wenn man genau hinsieht, erkennt man, dass praktisch alle Bauteile unterhalb der Dachtraufe erhalten geblieben sind. Es wurden lediglich die Staketengeländer durch massive Brüstungen ersetzt. Das Walmdach wurde durch einen Attikaaufbau mit zusätzlichem Wohnraum ersetzt. Neben dem Erkennen des Transformationspotenzials auf der Betrachtungsebene «Ort» und «Gebäude» bildet das Transformationspotenzial auf der Betrachtungsebene «Gesellschaft» das dritte Themenfeld. Menschliche Siedlungen und Gebäude sind ein Abbild gesellschaftlicher Prioritäten und Werte. Wer plant und baut, muss sich zwangsläufig mit ihnen auseinandersetzen. Planen und Bauen transformiert einen Ort und verändert damit immer auch gewachsene Strukturen. Dies hat weitreichende Folgen: für das Ortsbild, das Zusammenleben der Menschen und den Verbrauch von Ressourcen. Hinter den Transformationsprozessen stehen Treiber, die einen Veränderungsdruck erzeugen. Die Palette der möglichen Treiber ist äußerst vielfältig. Offensichtliche Treiber sind demografische Entwicklungen wie das Bevölkerungswachstum. Ebenso dominant sind Veränderungen der Bedürfnisse, etwa eine Verlagerung der Nachfrage von Arbeitsraum zu Wohnraum. Auch Wohlstand ist ein Treiber, der sich in einer Zunahme des Wohnflächenverbrauchs pro Person niederschlägt. Langfristig wirksame Treiber sind Veränderungen der Werthaltungen der Menschen. Sie können einen tiefgreifenden Umbau von Strukturen bewirken. Gesellschaftlicher und kultureller Wandel, veränderte Nutzerbedürfnisse, knappe Ressourcen und die herausfordernden Klimaziele bedingen ein Weiterbauen, Umbauen und Transformieren der bestehenden Raumstrukturen. In einem sich verdichtenden Umfeld sind Maßnahmen und Gebäudetypen gefragt, die über die reine Erfüllung des Raumprogramms hinausgehen. Entwürfe,

Das Transformationspotenzial auf der Betrachtungsebene «Gebäude» erkennen: Das umgebaute und erweiterte Haus zeigt einen radikal veränderten Ausdruck. Oetlisbergstrasse, Zürich; Koenig Architekten.

65 Prozess 2: Die Transformation evaluieren

Die Werthaltung von 1972 führte zur Radikallösung des Totalabbruchs von 2800 baulich und sozial heruntergekommenen Sozialwohnungen. Pruitt-Igoe, St. Louis, Missouri.

Die Werthaltung von 2011 führte bei gleichem Problem zur Transformation von 530 Sozialwohnungen. Grand Parc, Bordeaux; Lacaton & Vassal, Druot, Hutin.

66 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

die mehr leisten. Entwürfe, die veränderlichen Arbeits- und Lebensformen Platz zur Entfaltung bieten. Entwürfe mit gesellschaftlichen Mehrwerten. Dieses Weiterdenken führt zu einem Rückbesinnen auf die gesellschaftliche Verantwortung der Architekturdisziplin. Es führt zu einer steten Auseinandersetzung darüber, welche Fragen wir stellen und welche Ziele wir erreichen wollen. Die Grundlage des architektonischen Wertesystems ist also nicht das einzelne architektonische Objekt, sondern das ganzheitliche Transformieren von räumlichen, baulichen und gesellschaftlichen Ensembles.

67 Prozess 2: Die Transformation evaluieren

2.2

Die Transformation mit Szenarien testen

Szenarien sind strategische Alternativen zur Transformation eines Ortes. Mittels Szenarien wird die mögliche Bandbreite zukünftiger räumlicher, baulicher und gesellschaftlicher Entwicklungen zur Verbesserung der Defizite und zur Stärkung der Potenziale ausgelotet. Szenarien werden auf der Basis der Potenzialkarte entwickelt. Sie stellen eine zentrale Planungsgrundlage für die Projektentwicklung dar. Für die qualitätvolle Transformation eines Ortes ist es wichtig, eine Vielfalt von möglichen Wirklichkeiten zu produzieren, um eine Vielfalt von Haltungen und Ideen zu testen. Die meisten von uns wissen, was sie heute Abend tun werden. Aber in fünf Jahren? Der Realisierungshorizont für die meisten Planungs- und Bauvorhaben liegt zwischen fünf und zehn Jahren. Wie können wir also heute wissen, für welche Bedürfnisse wir planen sollen? Wenn wir allein aus den Erfahrungen der Vergangenheit planen würden, dann ist es, als würden wir rückwärts in die Zukunft gehen. Mit rückwärtsgewandtem Blick würden wir reproduzieren, was wir kennen und bisher getan haben. Mithilfe von Szenarien machen wir einen großen Sprung nach vorne und sehen uns mögliche Zukünfte an. Der Plural ist das Entscheidende! Wir denken uns verschiedene räumliche, bauliche und gesellschaftliche Zukünfte. Um die Bandbreite möglicher Entwicklungen zu antizipieren, müssen auch Extremszenarien in die Evaluation miteinbezogen werden. Mit dem Blickwinkel aus der Zukunft entwickeln wir anschließend die für das Erreichen der jeweiligen Zukunft erforderlichen Maßnahmen in der Gegenwart.

Der Szenariotrichter zeigt verschiedene mögliche Zukünfte (im Plural).

68 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Bei der Entwicklung der Szenarien zur Transformation eines Ortes übernehmen wir Verantwortung für die Zukunftsfähigkeit unserer Entwürfe. In unserer städtebaulichen Haltung drücken wir als Architekt:innen stets auch gesellschaftliche, kulturelle und ökologische Werte aus. Architektur ist nie nur persönlich. Architektur hat immer eine öffentliche Bedeutung. Die Transformation soll den Menschen dienen. Daraus ergeben sich vielfältige Fragestellungen: In welcher Gesellschaft und in welcher Nachbarschaft wollen wir leben? Mit welchen räumlichen Ausprägungen und mit welchen programmatischen Setzungen fördern wir eine inklusive Gesellschaft, in der unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse friedlich interagieren können? Wie priorisieren wir integrale Nachhaltigkeit, Suffizienz, kulturelle Werte und langfristige Investitionen gegenüber kurzfristigem wirtschaftlichem Gewinn? Wie sieht die Nachbarschaft der Zukunft aus? Wer lebt in diesem Kontext, was zeichnet diese Menschen aus, wie leben sie? Welches private und gesellschaftliche Umfeld benötigen sie, um ihren Tätigkeiten nachzugehen? Weil Räume und ihre Programmierung unseren Alltag formen, können neue räumliche Situationen und neue Angebote für die Bewohner:innen und ihre Lebensführung neue Perspektiven und neue Bedeutungen entstehen lassen. Das kann dem Ort und seinen Gebäuden eine robuste Identität und einen starken Charakter verleihen. Um die oft divergierenden Interessen zwischen Auftraggeber:innen, Planer:innen und Öffentlichkeit ausbalancieren zu können, sollte die Arbeit aus einer Haltung der Verbundenheit mit den Menschen und ihrem gesamten Lebensumfeld erfolgen. Eine integrale Entwurfshaltung befähigt uns, soziale, kulturelle, ökologische, wirtschaftliche und politische Aspekte in unser Denken und in den Entwurfsprozess zu integrieren und zu einem ganzheitlichen Leitbild zur Transformation eines Ortes zu verdichten, um damit dessen räumliche, bauliche und gesellschaftliche Entwicklung nachhaltig zu steuern. Doch leider werden Planungs- oder Bauaufträge bisweilen nicht genügend sorgfältig formuliert. Im Gegenteil: Bei der Formulierung eines Auftrags haben Auftraggeber:innen oft das Gefühl, sie würden die Lösung bereits kennen. Um den Auftrag zu formulieren, mussten sie sich mit der Materie befassen. Auch wenn sie keine Fachpersonen sind, haben sie dabei erste Schlüsse gezogen und formulieren den Planungsauftrag oft zu eng. Sie berauben sich damit der Chance, unerwartete und kreative Alternativen vorgelegt zu bekommen.

69 Prozess 2: Die Transformation evaluieren

Es sollte deshalb zum Selbstverständnis der Planenden gehören, auch ohne Auftrag Szenarien zu testen. Dies gilt für jede transformative Projektentwicklung, unabhängig davon, ob das Projekt groß oder klein ist. Szenarien sind niederschwellig: Ohne allzu großen Aufwand lässt sich damit ein ganzer Fächer von möglichen Wirklichkeiten, Lösungsansätzen und Haltungen testen.

Szenarien zur strukturellen Transformation des Ortskerns von Huttwil.

70 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

2.3

Zukunftsfähige Freiräume gestalten

Freiräume sind einer der wichtigsten Bausteine des gesellschaftlichen Tragwerks. Der Begriff des Freiraums weist jedoch unterschiedliche Dimensionen auf. Beim integralen Planen und Entwerfen wird unter Freiraum nicht nur der Außenraum verstanden, sondern ganz allgemein Räume, die in einer mehrschichtigen Überlagerung von Nutzungsinteressen liegen und entsprechend frei und offen gehalten werden müssen. Dies kann ein öffentlicher Platz sein, der Repräsentationsort, Versammlungsplatz, Marktplatz und Grünraum zu sein hat. Es kann aber auch eine Dachfläche sein, die als Dachterrasse, als Fläche zur Energiegewinnung oder als ökologische Ausgleichsfläche dienen soll. Im umbauten Raum kann ein Freiraum eine Zwischennutzung, eine temporäre Nutzung oder eine gemeinschaftliche Nutzung sein. Wichtigstes Kriterium ist dabei die Art und die Qualität der Benützbarkeit. Freiraum ist die Lebensgrundlage aller Lebewesen. Im Rahmen des Städtebaus hat er nicht nur Funktionen wie Erholung, Vernetzung und die sommerliche Kühlung unserer Siedlungsgebiete, sondern bildet auch das gesellschaftliche Tragwerk einer föderalistischen und demokratisch funktionierenden Gesellschaft. Doch Freiraum ist eine limitierte Ressource. Je dichter die Nachbarschaft, desto wichtiger wird die Qualität des Freiraums und desto mehr muss er leisten. Zukunftsfähige Freiräume sind umnutzbar und umdeutbar. Sie ermöglichen eine Veränderung der ­Bedeutung je nach Jahreszeit und Bedarf. Bundesplatz, Bern; Stauffenegger + Stutz in Zusammenarbeit mit Stephan Mundwiler.

71 Prozess 2: Die Transformation evaluieren

Die Identität eines Ortes definiert sich primär über seine Freiräume. Die Raumstruktur, bestehend aus Siedlungskörper und Freiraum, überdauert zeitlich gesehen alle anderen Strukturen. Mit dem Entwurf der Freiräume wird der Rahmen für die Lagequalität eines Ortes und für dessen kulturelle Identität gelegt. Identität wird hier verstanden als lebendiges Gemisch von Bauten, Spuren und Nutzer:innen. Aus diesen Gründen ist im städtebaulichen Maßstab die Gestaltung der Freiräume die primäre Aufgabe. Das heißt, dass zuerst nicht die Volumen, sondern der Raum dazwischen entworfen wird und erst danach die Baukörper geformt werden. Die Stadt, das Quartier und das Dorf, als Ort des menschlichen Zusammenlebens verstanden, muss zuallererst über die Räume erlebt, gedacht und entworfen werden.43

72 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens Starke öffentliche Freiräume sind identitätsbildende Bausteine räumlich dichter Siedlungsformen. Place des Vosges, Paris, 1612.

73 Prozess 2: Die Transformation evaluieren

74 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Freiräume sind hochkomplexe städtebauliche Bausteine. Um sie zu planen, braucht es eine erweiterte Sicht, eine vieldeutige Auffassung von Freiraum, welche sich den größeren Zusammenhängen zuwendet. Die subjektive Wahrnehmung, das Immaterielle, Erlebte, Gelebte, Atmosphärische, Poröse und Mehrdeutige gewinnt an Bedeutung gegenüber objektiven, materiellen und quantifizierbaren Merkmalen. Freiraum bedeutet, dass es auch Platz gibt für Unvollkommenes, ganz besonders aber für Ungeplantes. Das braucht den Mut zur Ergebnisoffenheit. Mut zu Siedlungsentwicklungen, die nicht festlegen, sondern ermöglichen. Denn urbane Freiräume können als soziale Begegnungsorte nur funktionieren, wenn wir ihnen auch Wandel zugestehen. Die Freiräume unserer Siedlungen sind der wichtigste Ort der Interaktion und des Interessenausgleichs zwischen verschiedenen Individuen und Gruppierungen einer Gesellschaft, zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlicher Sozialisation, zwischen Alten und Jungen, Ärmeren und Reicheren. Doch der Wohlstand führt zu fortschreitender Individualisierung in einer nie gesehenen Dimension. Ein Aushandeln von gemeinschaftlichen Fragen scheint nicht mehr nötig zu sein. Die scheinbare Möglichkeit, auch außerhalb des gesellschaftlichen Konsenses existieren zu können, hat zu einem Bedeutungsverlust des öffentlichen Raums geführt. Es scheint deshalb nicht verwunderlich, dass die Freiräume zunehmend zu kommerzialisierten und eventisierten Räumen umgedeutet werden.

Freiräume sind der wichtigste Ort des Interessenausgleichs innerhalb einer Gesellschaft. Freiräume brauchen deshalb Platz für Unvollkommenes und Ungeplantes. Frühes Beispiel: Freiraum-Fest in Kiel, 1973.

Aktuelles Beispiel: Mitwirkungslabor von Bryum auf der Schützenmatte in Bern, 2021.

75 Prozess 2: Die Transformation evaluieren

«Wenn dieser Übungsplatz des menschlichen Zusammenlebens seine Funktion behalten soll, ist allerdings ein genereller Bewusstseinswandel notwendig, der sich im Wandel des Verhältnisses des Individuums zum nächsten Individuum, von Gruppen zu anderen Gruppen und zur gesamten Gesellschaft ausdrücken muss. […] (Dazu müssen) die Menschen ein Bewusstsein für die Gesellschaftsbindung ihres Tuns erspüren, für die Relationalität ihrer eigenen Interessen und Absichten gegenüber den Interessen und Absichten anderer […] – weg von einer obrigkeitstreuen Versorgungsmentalität und restloser Eigenliebe hin zu einer vornehmlich von Empathie geleiteten Verantwortungsgesellschaft.»44

Zukunftsfähige Freiräume sind ein Übungsplatz des menschlichen Zusammenlebens. Sie verbinden auch heterogene Gebäude zu einem spannungsvollen Ensemble. Vordere Lorraine, Bern, 2004; Werkgruppe agw und Reinhard + Partner.

76 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Um diesen Ansprüchen zu genügen, entwickeln sich zukunftsfähige Freiräume zu mehrdeutigen Collagen. Collagen fügen überschaubare, mehr oder weniger klar gegeneinander abgegrenzte Fragmente zu einem neuen Ganzen. Dabei entstehen Mehrdeutigkeiten und Ambivalenzen. «Die ostentative Teilhabe aller, die Verantwortung nicht nur für die Wohnung oder das Haus, sondern für die Straße, das Viertel und die Stadt kann so einen sichtbaren Ausdruck bekommen. Die Stadt wird zur Wohnung. Und die sinnvolle, angemessene und aufeinander bezogene Anordnung ihrer Teile wird zum Symbol einer verantwortlichen und solidarischen Gesellschaft.»45 In zukunftsfähigen Freiräumen verschmelzen das einzelne Haus und das Siedlungsgewebe zu einem gemeinsamen Ganzen, zu einem Ensemble, in dem «alles einander hält und stützt, jedes Einzelne zum Ganzen nothwendig ist»46.

Die Zugewandtheit der Häuser zum öffentlichen Freiraum befördert die gegenseitige Anteilnahme in einer solidarischen Gesellschaft. City of Tomorrow, Malmö, 2005; Klas Tham et al.

77 Prozess 2: Die Transformation evaluieren

Die verschiedenen Freiraumtypen wie Straßen, Wege, Gassen, Plätze, Höfe, Gärten und Parks bilden ein vielschichtiges Gewebe von Raumsequenzen. In Verbindung mit den verschiedenen Gebäudetypen erzeugen sie eine Vielzahl möglicher räumlicher Strukturen im Siedlungsgewebe. Es ist dieses vielfältige Gesamtsystem, das in seiner Summe den Ort ausmacht und ihm seine unverwechselbare Identität verleiht. Ob ein Freiraum zur Identitätsstiftung beitragen kann, entscheidet sich an den daran angrenzenden Nutzungen und an seiner Gestaltqualität. Mit Gestaltqualität ist nicht nur Schönheit gemeint. Es ist ebenso die Fähigkeit gemeint, die Menschen zu involvieren und emotional zu berühren. Um Menschen zu berühren, brauchen Freiräume unverwechselbare Raumeigenschaften. Wie bereits im Prozess 1 eingehend erläutert, werden Raumeigenschaften maßgeblich durch die den Raum begrenzenden raumdefinierenden Elemente bestimmt. Mit dem Entwurf der raumdefinierenden Elemente und damit der Raumeigenschaften wird die Wahrnehmung der Betrachter:innen gesteuert.

Atmosphärische Dichte in Freiräumen entsteht durch starke, identitätsbildende Raumeigenschaften. ­Schattige Gasse in Puebla, Mexiko.

78 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Je klarer ein Raum gefasst ist, umso intensiver wird er wahrgenommen. Für das Definieren von Raumkörpern mag es hilfreich sein, sich architektonischen Raum wie eine zähflüssige Masse vorzustellen: Die den Freiraum begrenzenden Baukörper sind gleichsam Dämme, welche das «Ausfließen» des Raumes verhindern. Sind die Raumbegrenzungen zu heterogen und lückenhaft, «fließt der Raum aus» und es kann kein architektonischer Die Klarheit und Stärke der Raumdefinition wird unterstützt durch eingeschobene Zwischenbauten für die Hauseingänge. Spielplatz der Siedlung Freidorf in Muttenz, 1925.

Differenzierte Raumdefinition durch Baumstämme, Äste, Bänke, Zaun und Gebäude. Platanenhof, Unitobler, Bern; Klötzli Friedli Landschaftsarchitekten.

79 Prozess 2: Die Transformation evaluieren

Raum wahrgenommen werden. Es ist deshalb wichtig, den Grad der Raumdefinition entsprechend der gewünschten Wahrnehmungsqualität der Benutzer:innen des Raumes zu gestalten. Da Freiräume zu einem wesentlichen Teil Zirkulationsräume sind, fügen sich die einzelnen Raumeigenschaften im Raumerlebnis der Benutzer:innen zu einer Perlenkette, einer Raumsequenz. Je nach Inszenierung erzeugen Größe, Proportion, Ausstattung und Funktion eine Abfolge von Enge und Weite, von Dichte und Offenheit, von Interaktion und Abgrenzung. Raumsequenzen inszenieren Wege und Zugänge mit einem Wechsel von Enge und Weite der Raumkörper: die Via dei Baullari als monumentaler Weg zum Palazzo Farnese in Rom.

Der Freiraum, als Territorium verstanden, ist ein Übungsfeld, auf dem transdisziplinäre, integrative und systematische Vorgehensweisen getestet werden können mit dem Ziel, Räume für die Gemeinschaft zu gestalten und Prozesse des Entstehens und Betreibens zu überdenken. Ausgehend von der Logik der vorgefundenen Situation bilden die räumlichen und die gesellschaftlichen Charakteristiken und Ausprägungen den gedanklichen Ausgangspunkt stadträumlicher Transformation und Gestaltung. Der bestehende Ort mit seinen Facetten, Brüchen, Eigenheiten und Lebensformen verleiht dem Planen und Entwerfen Orientierung. Zukunftsfähige Freiräume sind der Kern suffizienter Nachbarschaften. Wenn wir nur «eine Welt» zur Verfügung haben, muss der Freiraum im Prinzip einen möglichst großen Anteil der Bedürfnisse seiner Nachbarschaft abdecken können, von der Erholung über die Erschließung und Interaktion bis zur autarken Produktion der Nahrungsmittel, der Energie und des Trinkwassers, die für die Nachbarschaft benötigt werden. Darüber hinaus muss der Freiraum mittels Beschattung und Verdunstung die Überhitzung der versiegelten und bebauten Flächen kompensieren.

80 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Über diese materiellen Kriterien hinaus müssen zukunftsfähige Freiräume eine Reihe von immateriellen Qualitäten erfüllen: In einem zukunftsfähigen Freiraum ist eine Diversität von Nutzungen, Nutzergruppen, sozialen Milieus und räumlichen Ausprägungen präsent, um zu ermöglichen, dass unterschiedliche Menschen wechselseitig aufeinander einwirken und sich gegenseitig produktiv beeinflussen. Ein zukunftsfähiger Freiraum ist jederzeit zugänglich. Er lässt sich für sich verändernde Anforderungen und unterschiedliche Arten der Benutzung möglichst flexibel adaptieren. Die Nutzergruppen können den Freiraum aktiv beanspruchen, auf ihre spezifischen Bedürfnisse beziehen und sich ihn dadurch aneignen.47 Zukunftsfähige Freiräume sind Ermöglichungsräume, mehrdeutige Collagen, welche überschaubare Fragmente zu einem temporären neuen Ganzen fügen. La Garde-Freinet, Frankreich.

Zukunftsfähige Freiräume können mit Mehrdeutigkeiten und Ambivalenzen umgehen. ­Schützenmatte, Bern.

81 Prozess 2: Die Transformation evaluieren

2.4

Szenarien nach Mehrwerten evaluieren

Die Transformation eines Ortes sollte an ihrem Beitrag zur Verbesserung der Defizite und zur Stärkung der Potenziale sowie an ihren Mehrwerten gemessen werden. Ziel einer Transformation ist eine dauerhafte, sinnstiftende und humane Architektur, die im Einklang mit den Qualitäten des Ortes, seiner Alltagskultur, seiner Ökonomie, seiner Ressourcen und seiner Menschen steht. Doch leider wird in der Regel heute immer noch jedes Grundstück für sich allein optimiert. Mehrwerte für das Umfeld sind eher selten Teil der Aufgabenstellung. Dabei wären gerade die Mehrwerte für das Umfeld der Schlüssel zur Frage, wie wir in einer stetig sich verdichtenden Umwelt in Zukunft friedlich zusammenleben können. «Im 20. Jahrhundert haben wir gefragt: Was leistet ein Haus zur Verbesserung der Lebensumstände des Einzelnen? Im 21. Jahrhundert fragen wir: Was leistet ein Haus zum öffentlichen Raum? Eine Verschiebung vom Einzelnen zur Gemeinschaft; das bedeutet: mehr Dialog, mehr Kontextualität, weniger Objekthaftigkeit.»48 Transformation wird oft gleichgesetzt mit messbaren Faktoren wie der Verdichtung. Die entsprechenden materiellen Mehrwerte lassen sich einfach und für alle verständlich in Zahlen abbilden. Erfolgreiche menschliche Siedlungsformen hängen aber mindestens genauso stark von «weichen» Faktoren ab. Die immateriellen Mehrwerte dieser Faktoren sind komplexer. Es sind Mehrwerte für die Gesellschaft als Ganzes. Erst dies führt zu einer integral nachhaltigen Entwicklung des Ortes. Erst wenn Projekte materielle und immaterielle Mehrwerte auch für das Umfeld zeigen, kann sich ein Ort nachhaltig entwickeln. Damit ein Mehrwert für das Umfeld entsteht, sollte ein Entwurf möglichst vielen Beteiligten einen Mehrwert bieten, nicht nur den Auftraggeber:innen oder den Bewohner:innen, sondern möglichst auch den Nachbar:innen auf der anderen Straßenseite und dem ganzen Quartier. Dazu müssen unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse vereint werden. Nutzungsoffenheit für verschiedene Formen der temporären Aneignung, starke Identität und öffentliche Ausstrahlung sind immaterielle Mehrwerte von Freiräumen, die den sozialen Zusammenhalt unterstützen. Die Münsterplattform in Bern ist Aufenthaltsort, Marktplatz und vieles mehr.

82 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Immaterielle Mehrwerte für das Umfeld können eine starke Identität der öffentlichen Freiräume, eine hohe Diversität der Nutzungsangebote, die Aneigenbarkeit des Wohnumfeldes, die Adaptierbarkeit der Räume, ein guter Zugang zu Infrastrukturangeboten oder die klimatische Verbesserung des Umfeldes sein. Auch interaktive Nachbarschaften sind ein Mehrwert für das Umfeld. Das sind Nachbarschaften, in denen die Begegnung und die Interaktion gefördert werden, Orte, wo Menschen das Miteinander statt des Gegeneinanders erleben können. Das Miteinander macht Nachbarschaften stabiler und resilienter. Wenn Menschen darüber hinaus diese Orte auch beeinflussen oder gar selbst gestalten können, erhöht das den Mehrwert signifikant. Denn Aneignung beeinflusst die Wahrnehmung, stärkt die Identifikation und die nachhaltige Verankerung im Umfeld. Mehrwerte wirken sich direkt auf das Wohn- oder Arbeitsumfeld der Nutzer:innen aus und können sie dadurch «einzigartig» machen.

Aneigenbare, adaptierbare, großzügige und gut nutzbare Schwellenräume wie Balkone, Terrassen, Laubengänge, Vorgärten und Innenhöfe sind starke immaterielle Mehrwerte, die die Identifikation der Bewohnenden mit ihrem Umfeld begünstigen. Genossenschaft Dreieck, Zürich; Albers+Cerliani.

83 Prozess 2: Die Transformation evaluieren

Jedes Projekt hat das Potenzial für unerwartete Mehrwerte, auch unter ökonomisch eingeschränkten Bedingungen. Diese Haltung ermutigt zum Erfinden von Lösungen, bei denen die Architektur das Wohlergehen und die Würde jedes einzelnen Menschen auf diesem fragilen Planeten zum Ziel hat. «Wenn du ein Haus baust, denke an die Stadt», umschreibt Luigi Snozzi die Aufgabe der Architekt:innen. Das Verhältnis zwischen privatem und öffentlichem Raum, die Verantwortung nicht nur für das eigene Haus, sondern für das Quartier und die Gemeinschaft der Menschen kommt dadurch zum Ausdruck. Die Herausforderung ist, Verdichtung mit urbanen Qualitäten zu koppeln. «Dass wir zunehmend dort wohnen, wo es noch vor 20 Jahren unmöglich erschien, heißt einmal mehr, über den Wohnungsgrundriss hinauszudenken. Hier sind Szenarien gefragt, die über das konventionelle Raumprogramm einer Wohnsiedlung hinausgehen. So kompensiert ein räumlich und programmatisch verdichtendes Konzept ein noch bestehendes Defizit an Stadt. Gerade in der sogenannten Agglomeration kann mittels Dichte ein Mehrwert geschaffen werden, der über ein vorwiegend auf die eigene Wohnung bezogenes Leben hinausgeht.»49 Die Arbeit mit Szenarien erlaubt es, Mehrwerte auf eine umfassende Art bereits in einem frühen Projektstadium auszuloten. In einem iterativen Prozess werden die einzelnen Szenarien anschließend aufgrund von Kriterien wie Mehrwerten und Angemessenheit beurteilt und priorisiert. Richtschnur für die Entscheidungen muss die stetige Auseinandersetzung mit dem Umfeld als Ganzem sein. In den meisten Fällen wird nicht ein einzelnes Szenario alle Ziele zur Verbesserung der Defizite und zur Stärkung der Potenziale eines Ortes erfüllen, sondern eine Synthese verschiedener Szenarien. Diese Synthese bildet die Auftragsdefinition für das anschließende Leitbild in Prozess 3.

Orientierung und Identität sind wichtige immaterielle Mehrwerte im Siedlungsgefüge. Die Bäume müssen zwar noch wachsen, doch der öffentliche Freiraum, der als Orientierungspunkt im heterogenen Siedlungsgefüge entstand, lässt sich bereits erahnen. Neuhausplatz, Köniz, 2015; Büro B Architekten und extrā Landschaftsarchitekten.

84 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Übersicht Prozess 2 Ziel: Breit abgestützte Entscheidungsfindung — Befähigen der Auftraggeber:innen und Planer:innen, konzeptionelle Entscheidungen für die weiteren Planungsphasen aufgrund einer möglichst großen und breit abgestützten Bandbreite von Szenarien zu treffen. — Entwickeln von nachhaltigen Zukunftsbildern. Fördern des vernetzten Denkens. — Integrieren des Bestandes als Ressource. — Entwickeln einer Haltung zum Ort und zur Aufgabe. Beurteilen von Mehrwerten und Angemessenheit. Schritt 1: Transformationspotenzial formulieren — Spannungsfelder (Defizite und Potenziale) aus Prozess 1 zu thematischen Erkenntnissen verdichten. — Thesen zur Transformation des Ortes (Verbesserung der ­Defizite und Stärkung der Potenziale) entwickeln. Thesen in einer Potenzialkarte (Plan oder Axonometrie) präzise verorten und mit Stichworten erläutern. Schritt 2: Szenarien ausloten — Thesen der Potenzialkarte zu gesellschaftlichen, strukturellen, räumlichen und baulichen Szenarien weiterentwickeln. Jedes Szenario in Modell, Plan und räumlichen Darstellungen testen. — Jedem Szenario einen thematischen Schwerpunkt geben, entsprechend den Thesen der Potenzialkarte. Thematische Schwerpunkte mit suggestiven Begriffen kommunizierbar machen. — Verschiedene Haltungen zum Kontext testen (Vernetzung, Verbindung, Abgrenzung). — Transformationspotenzial der bestehenden Bauten und Freiräume untersuchen. — Radikale Haltungen prüfen, um die Bandbreite zukünftiger Entwicklungen auszuloten. Widersprüchliche Kräfte in einem transdisziplinären Prozess interagieren lassen. Schritt 3: Szenarien bewerten, Synthese bilden — Die einzelnen Szenarien bewerten. Kriterien sind Mehrwerte, Kontextintegration und Angemessenheit. — In den meisten Fällen wird nicht ein einzelnes Szenario die wichtigsten Thesen der Potenzialkarte einlösen können, sondern erst eine Synthese verschiedener Szenarien. Die Synthese definiert das Wo und Was, aber noch nicht das Wie. Das Wie ist Thema des Leitbildes in Prozess 3. Die Synthese bildet die Auftragsdefinition für das Leitbild.

85 Übersicht Prozess 2

Themenfelder — Szenarien der gesellschaftlichen Entwicklung: Demografie, Art des Zusammenlebens, Migration, Bedarf und Nachfrage, Treiber und Akteur:innen, Entwicklungstrends, Suffizienz, Autarkie, Grundeigentum, öffentliche Einrichtungen für Versorgung, Betreuung und Bildung, Bau- und Planungsrecht. — Szenarien zu Netzen und Infrastruktur: Orientierung, Erschließung, Durchwegung, Vernetzung im Siedlungsgefüge, öffentliche Einrichtungen für Versorgung und Betreuung. — Szenarien zu öffentlichen und privaten Freiräumen: Funktion, Vernetzung und sozialräumliche Bedeutung im Siedlungsgefüge, Art und Grad der Durchgrünung, Art und Klarheit der raumdefinierenden Elemente, Beziehung zwischen Baukörpern und Freiraumkörpern, Dramaturgie der Raumsequenzen, Raumeigenschaften, Identität, Atmosphäre. — Szenarien zur Bebauungsstruktur: Bebauungstypologie (offen, geschlossen, hybrid), Bebauungsdichte, Nutzungsdichte, Nutzungsart, Nutzungsmix, Bewohner:in­nendichte, Flächenverbrauch, Parzellengröße, Grundeigentum, Bezug zum Kontext (Verbindung, Vernetzung, Abgrenzung, Maßstäblichkeit, Höhenentwicklung, Verhältnis zu Wahrzeichen), Porosität, Identität, historische Kontinuität. — Szenarien zum Umgang mit bestehenden Bauten und ­Nutzungen: Temporäres aktivieren, kultivieren, stimulieren. Bestehendes wiederverwenden, umnutzen, aufwerten, e ­ rneuern, verdichten. Neues initiieren, vernetzen, ­durch­mischen. — Szenarien zur Unterstützung der urbanen Qualitäten: ­Zentralität, Diversität, Interaktion und Zugänglichkeit50 auf der Betrachtungsebene «Ort».

86 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

40 41 42 43 44

45 46 47 48 49 50

Vgl. Muck Petzet, Florian Heilmeyer (Hrsg.): Reduce, Reuse, Recycle. Ressource Architektur, Hatje Cantz, Ostfildern 2012, S. 203 Vgl. Julianne Holt-Lunstad et al.: Loneliness and Social Isolation as Risk Factors for Mortality. A Meta-Analytic Review, in: Perspectives on Psychological Science, 2/2015 Lucius Burckhardt: Bauen – ein Prozess ohne Denkmalpflichten, Vortrag, 1967, in: Lucius Burckhardt: Wer plant die Planung? Architektur, Politik und Mensch, hrsg. von Jesko Fezer, Martin Schmitz, Martin Schmitz Verlag, Berlin 2004, S. 26 f. Vgl. Vittorio Magnago Lampugnani, Rainer Schützeichel (Hrsg.): Die Stadt als Raumentwurf. Theorien und Projekte im Städtebau seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, Deutscher Kunstverlag, Berlin 2017, S. 7 f. Andreas Denk: Der Raum der Wand als Bedeutungsträger. Architektur als Ausdrucksmittel in der Stadt, in: Vittorio Magnago Lampugnani, Rainer Schützeichel (Hrsg.): Die Stadt als Raumentwurf. Theorien und Projekte im Städtebau seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, Deutscher Kunstverlag, Berlin 2017, S. 263 f. Ebenda, S. 266 Gottfried Semper: Ueber Baustyle. Ein Vortrag, gehalten auf dem Rathaus in Zürich am 4. März 1869, Schulthess, Zürich 1869 Vgl. Simon Kretz, Lukas Kueng (Hrsg.): Urbane Qualitäten. Ein Handbuch am Beispiel der Metropolitanregion Zürich, Edition Hochparterre, Zürich 2016, S. 70 Dietmar Eberle: Zwischen Architektur und Architekturlehre, in: Dietmar Eberle, Florian Aicher (Hrsg.): 9 × 9. Eine Methode des Entwerfens. Von der Stadt zum Haus weitergedacht, Birkhäuser, Basel 2018, S. 26 Angelika Juppien, Richard Zemp: Vokabular des Zwischenraums. Gestaltungsmöglichkeiten von Rückzug und Interaktion in dichten Wohngebieten, Park Books, Zürich 2019 Vgl. Simon Kretz, Lukas Kueng (Hrsg.): Urbane Qualitäten. Ein Handbuch am Beispiel der Metropolitanregion Zürich, Edition Hochparterre, Zürich 2016

87 Prozess 3: Ein Leitbild entwerfen

Prozess 3: Ein Leitbild entwerfen Planen, Entwerfen und Bauen bedingt die Fähigkeit, zu kooperieren und mit der eigenen Arbeit Teil eines Prozesses zu werden, ohne das große Ganze aus den Augen zu verlieren. An einem starken Leitbild können sich alle am Planungs- und Bauprozess Beteiligten orientieren. Das Formulieren eines Leitbildes ist eine generalistische Schlüsselleistung der Architekt:innen. Das Leitbild ist das Bindeglied zwischen Analyse und Projekt. Es bringt alle Überlegungen aus den verschiedenen Szenarien zur Verbesserung der Defizite und zur Stärkung der Potenziale des Ortes auf einen Punkt und bildet die Basis für den architektonischen Entwurf im Prozess 4. Normalerweise bildet es auch die Grundlage zur Ausarbeitung von Planungsinstrumenten, meistens in Form einer Sondernutzungsplanung wie Gestaltungsplan oder Überbauungsordnung. Diese Instrumente sollen sicherstellen, dass Leitthemen und wichtige Parameter über einen längeren Planungshorizont von normalerweise 15 Jahren durch unterschiedliche Akteur:innen auch umgesetzt werden.

Ein starkes Leitbild dient allen am Planungs- und Bauprozess Beteiligten als Orientierung. Leitbild für das Gebiet des ehemaligen Nordwestbahnhofs in Wien; pool Architektur.

88 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Das Leitbild ist Abbild der gesellschaftlichen Verantwortung der Beteiligten, nicht nur für die eigene Parzelle, sondern für die Straße, das Viertel und die Stadt. Die entscheidende gesellschaftliche Frage ist, ob die bestehende Situation durch die Eingriffe an Qualitäten gewinnt und welche Mehrwerte dadurch entstehen. Das Leitbild steuert die weitere Entwicklung des Ortes, indem es Wesentliches von Unwesentlichem unterscheidet. Ein traditionelles Leitbild legt lediglich die städtebaulichen Grundsätze fest: die Siedlungsstruktur, die Gebäudetypen und die Programmierung. Mit der Siedlungsstruktur definiert das Leitbild die Freiraumkörper, die Massenverteilung, die Erschließung und die Infrastruktur. Mit den Gebäudetypen werden Volumetrie, Freiraumbezüge, Adressierung und Grobstruktur der Bauten festgelegt. Mit der Programmierung schließlich definiert das Leitbild die Nutzungsart und die Nutzungsdichte. Im Leitbild werden konkrete Maßnahmen visualisiert, formuliert und präzise verortet. Darüber hinaus beschreibt es die Integration in den Kontext, die Absichten für den Umgang mit bestehenden Gebäuden und bestehenden Nutzungen, die Maßnahmen zur Unterstützung der urbanen Qualitäten und die Mehrwerte für die Menschen am Ort. Die Erfahrung zeigt aber, dass die Planungsinstrumente, wie sie bisher gebräuchlich waren, nur selten zukunftsfähige Lebensräume hervorbringen. Die Vermutung liegt nahe, dass sie die falschen Parameter festlegen und aus diesem Grund die gewünschten Qualitäten nicht sichern können. Die Festlegungen definieren primär die gebaute Form und die Nutzungen, was sich oft als allzu eng und starr erweist. In seinem Buch «Die offene Stadt» stellt Richard Sennett fest: «Wir haben gelernt, die Form müsse der Funktion dienen. Die Wahrheit ist aber: Je besser die Form zur Funktion passt, desto rigider wird das System.»51 Es stellt sich die Frage, wie mit einem Leitbild die Qualitäten des Gesamtsystems gesichert werden können. In einem zukunftsfähigen Leitbild müssen weniger die zukünftigen baulichen Zustände, sondern vermehrt die gewünschten sozioökonomischen Qualitäten, die Bedürfnisse der Nachhaltigkeit sowie die Verfahren zur Sicherung dieser Qualitäten in einem zeitlich offenen Planungsprozess festgelegt werden. Dazu gehören «die zu erreichenden Qualitäten des Zusammenlebens, die Möglichkeit, an dem Ort die Lebenszyklen eines Lebens durchleben zu können (von der Kindheit bis zum letzten Lebensabschnitt), die wirtschaftliche Tragbarkeit für die Bewohnenden, die räumliche Resilienz zur gesellschaftlichen Entwicklung sowie die Bedürfnisse einer demokratischen Gesellschaft bezüglich der Sichtbarkeit der Bewohnerschaft. Dies bedeutet beispielsweise, dass anstelle der Bruttogeschossfläche viel eher der Wohnflächenkonsum als Qualität gesichert wird. Zudem darf es nicht länger das Ziel sein, so viel wie möglich zu bauen, sondern wie wenig Bauen dazu führt, dass die Gesamtqualität des Ortes erreicht

89 Prozess 3: Ein Leitbild entwerfen

werden kann. Die Frage, wie viel Dichte der Ort verträgt, ist nicht mehr angebracht.»52 Die Vermittlung eines Leitbildes gegenüber Dritten ist anspruchsvoll. Ziel ist es, dass sich das Leitbild in den realisierten Projekten auf allen Maßstabsstufen manifestiert. Entsprechend wichtig ist die Kommunikation mittels Plänen, Skizzen, Modellen und Erläuterungen, nicht nur in einer Fachdiskussion, sondern im Rahmen der partizipativen Prozesse auch vor gemischtem Publikum. Hier geht es darum, Menschen zu begeistern. Vielleicht sollte man ihnen eine Geschichte erzählen: die Geschichte eines Plans für ein hoffnungsvolles Stück Zukunft, auf der Basis eines Leitbildes. Ein Stück Zukunft, das besser ist als die Gegenwart. In diesem Kontext überzeugt man durch Empathiefähigkeit und Hoffnung.

3.1

Ein zukunftsfähiges Leitbild befördert das gesellschaftliche Tragwerk

Die aktuellen Herausforderungen wie der Klimawandel werden unausweichlich zu gesellschaftlichen Veränderungen führen. Das zwingt uns, über Planen und Entwerfen umfassend nachzudenken. In Erweiterung traditioneller Leitbilder verschiebt sich der Fokus eines zukunftsfähigen Leitbildes denn auch von der Definition formaler und planungsjuristischer Parameter zur Festlegung von strukturellen, gesellschaftlichen und lebensweltlichen53 Qualitäten sowie den zum Erreichen dieser Qualitäten notwendigen Prozessen. Ein Leitbild gibt seine ganz eigenen Antworten auf die Fragen der Zeit. Doch was ist das «Ziel», so werden wir uns fragen, wenn noch nicht einmal die Fragestellung geklärt ist. Zur Bearbeitung der Fragestellung benötigt es alle Akteur:innen. Die Architekt:innen allein können das Problem nicht lösen. Wir haben es hier mit etwas zu tun, was Horst Rittel als «bösartige, verzwickte»54 Probleme formuliert hat, also Fragen, die sich nicht abschließend beschreiben lassen. Basis eines zukunftsfähigen Leitbildes ist immer eine Gesamtperspektive und ein ganzheitliches Aufgabenverständnis, in dem sich kulturelle, gesellschaftliche, wirtschaftliche, politische und ökologische Aspekte verbinden. Partikuläre Teiloptimierungen müssen im Leitbild integriert werden können oder sich ihm unterordnen. Das Leitbild setzt unterschiedliche Aspekte auf oft überraschende Weise miteinander in Beziehung und bringt sie in eine neue Gesamtperspektive ein. Die inter- und transdisziplinäre Integrationsarbeit führt dazu, dass das Entwerfen eines Leitbildes kein linearer, sondern ein iterativer Prozess ist. Iterative Prozesse sind ein Abbild von Komplexität, Widerständen oder Unsicherheiten. Iterative Schlaufen sind Einladungen,

90 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

sich über verschiedenartige Verfahren dem Ziel anzunähern, bestehende Strukturen zu integrieren, sich mit der Diversität der Einflüsse und daraus resultierenden Mehrdeutigkeiten anzufreunden, statt krampfhaft Eindeutigkeit zu suchen. Durch das Einbeziehen von Vielfalt, Widersprüchen, Unordnung und Veränderung wird das Leitbild nicht geschwächt, sondern bereichert. Analysen und angehäufte Informationen grenzen die Lösungsfindung mit immer mehr Parametern zwar ein, das Leitbild ergibt sich aber nicht von selbst. Der Prozess der Ideenfindung ist abhängig vom Suchenden, von dessen Wahrnehmungsfähigkeit, kultureller Verortung, Schulung und Innovationskraft. Das Vermitteln zwischen den Anforderungen des Ortes, den Nutzungen und Akteur:innen, dem Bautyp und dem Programm, der Nachhaltigkeit und der Finanzierbarkeit sowie der Form und ihrem Ausdruck führt zwangsläufig zu Widersprüchen, mit welchen es umzugehen gilt. Wir haben es mit Prozessen einer dynamisch sich wandelnden Gesellschaft zu tun. Diese Prozesse sind primär Gemeinschaftsprozesse. Denn integrales Planen und Entwerfen ist ein Gemeinschaftswerk. Die Strategien und Leitbilder müssen partnerschaftlich entwickelt werden. Ziel ist die qualitätvolle Weiterentwicklung und Transformation des Ortes. Die entscheidende Frage, die wir uns immer wieder stellen müssen, ist die, ob die bestehende Situation durch die Transformation an Qualitäten gewinnt und welche Mehrwerte dadurch entstehen könnten. Diese sollen nicht nur für Grundeigentümer:innen und Bewohner:innen entstehen, sondern ebenso sehr für die Nachbarschaft, für die Gesellschaft und für den Ort als Ganzes. Da wir wissen, dass bei Transformationsprozessen nicht alle gewinnen können, dass es dabei auch Verlierer:innen geben wird, bedingt diese Arbeit sowohl Ehrlichkeit und sorgfältiges Abwägen als auch gesellschaftliches und kulturelles Engagement. Gesucht sind Leitbilder in einer von Wandel bestimmten Zeit. Gefragt sind nicht vorgefasste Meinungen, überregulierte Programme und determinierte Bautypen, sondern Ideen mit Anschlussfähigkeit an den Kontext. Ideen, die Handlungsmöglichkeiten in der Zukunft offenlassen. Ideen, welche mit räumlicher und programmatischer Varianz umgehen können. Also Typen und Formen, die sich für unterschiedliche Lebensmodelle eignen, die sich wandelnden kulturellen Vorstellungen und Bedürfnissen anpassen können. Die Arbeit der Architekt:innen besteht darin, die Potenziale einer Aufgabenstellung zu erkennen. «Das Unterschiedliche im Nebeneinander»55 unserer heutigen Gesellschaft würde es ermöglichen, dass Vielfältigkeit, Durchmischung und soziale Interaktion zum Programm werden. Ein Leitbild zu formulieren heißt zu verstehen, zu integrieren und dadurch sogar die Aufgabenstellung mitzugestalten.

91 Prozess 3: Ein Leitbild entwerfen

3.2

Die Ensembleleistung der europäischen Stadt

Integrales Planen und Entwerfen ist ein Ensemblespiel wie Fußball oder Orchestermusik. Im vorliegenden Kontext hat das Wort Ensemble zwei Bedeutungsebenen: Prozess und Siedlungsstruktur. Auf der Prozessebene meint Ensemblespiel das interund transdisziplinäre Gemeinschaftswerk einer dynamisch sich wandelnden Gesellschaft. Auf der Betrachtungsebene «Siedlungsstruktur» verstehen wir unter Ensemble eine Einheit, die mehr als ein Gebäude umfasst und eine städtebauliche Situation abbildet, welche durch verschiedene Akteur:innen, Objekte und Strukturen sowie deren Beziehungen geprägt wird. Die europäische Stadt ist eine der ganz großen Ensembleleistungen der Kulturgeschichte. Dabei besteht der größte Teil des «tissu urbain» aus mittelmäßigen Bauten. Bei weitem nicht alle Bauten sind große Architektur. Ensembles brauchen keine Egos, sondern Teamplayer:innen. Man braucht keine herausragende Solistin zu sein, um in einem Orchester mitzuspielen. Ensembles können durch zu viele Solist:innen sogar aus dem Gleichgewicht gebracht werden. Ein einzelner Fußballer mit Starallüren kann eine ganze Fußballmannschaft destabilisieren. Das Gleiche gilt für den Städtebau: Städtebauliche Ensembles können durch nichtkontextuelle, nur auf sich selbst bezogene Objektarchitektur zerstört werden.

Die europäische Stadt braucht keine Egos, sondern Teamplayer:innen. Eine Ensemblewirkung kann trotz unterschiedlicher Materialien entstehen. Zollstrasse-Ost, Zürich, 2019; Esch Sintzel.

92 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Die wichtigste Voraussetzung für diese Ensembleleistung ist ein klarer Rahmen in Form eines starken öffentlichen Raumes. Damit der Freiraum ein Ensemble zusammenhalten kann, benötigt er eine klare Form und eine kluge Programmierung. An einem starken Freiraum machen auch Gebäude mit durchschnittlicher Qualität eine gute Figur im Ensemble.

Ensemblewirkung dank starkem öffentlichem Freiraum: An der Place Dauphine in Paris machen auch Häuser mit durchschnittlicher Qualität eine gute Figur im Ensemblespiel.

93 Prozess 3: Ein Leitbild entwerfen

Das folgende Beispiel zeigt, dass bei genügender Kleinteiligkeit der Parzellen trotz großer Vielfalt eine Ensemblewirkung entsteht: Die Kleinteiligkeit der Parzellen verhindert, dass ein Ensemblemitglied sich in den Vordergrund drängt. Monotonie wird vermieden durch poröse Erdgeschosse mit kleinteiligen Nutzungseinheiten und eine Vielfalt der Gestaltungselemente, Farben, Materialien und Gebäudehöhen. Eine kleinteilige Parzellenstruktur befördert zudem eine breite Streuung des Immobilienbesitzes. Unterschiedliche Menschen mitsamt ihren Werten und Lebensstilen können so in die Gesellschaft eingeschlossen werden. Die Nachbarschaft wird vielfältiger. Ensemblewirkung trotz großer Vielfalt: Am Mühleplatz in Thun drängt sich dank der Kleinteiligkeit kein Gebäude in den Vordergrund.

Ensemblewirkung trotz heterogenem Kontext: Durch präzise gestalterische Bezüge verknüpft der Neubau seine Nachbarn. Corso Italia, Mailand, 1961; Luigi Caccia Dominioni.

94 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Eine der zentralen Herausforderungen ist heute das Planen und Bauen innerhalb gebauter und gelebter Strukturen. Innenentwicklung findet immer dort statt, wo schon jemand ist. Eingriffe müssen deshalb stets mit Respekt vor bestehenden Strukturen vorgenommen werden, die Bedürfnisse aller Beteiligten und Betroffenen sollten mit großer Sensibilität gegeneinander abgewogen werden. Je mehr Menschen auf gleichem Raum leben, umso anspruchsvoller wird der Umgang mit der baulichen und sozialen Dichte, aber auch mit den kulturellen, biologischen und atmosphärischen Spuren in unserem Lebensraum. Bestehende Strukturen können sowohl baulicher als auch gesellschaftlicher Natur sein. Integrales Planen und Entwerfen beschäftigt sich mit der Frage, wie zeitgenössische Bedürfnisse in unsere bestehenden, gewachsenen Siedlungsstrukturen und Lebenswelten integriert werden können. Integrales Planen und Entwerfen begegnet Vorhandenem mit Wertschätzung, auch dem Alltäglichen. Der Bestand stellt einen kulturellen, sozialen und ökonomischen Wert dar. Die Integration bestehender baulicher Strukturen und gesellschaftlicher Netzwerke schafft Verbundenheit mit dem Ort. Es entstehen Orte, an denen Menschen beheimatet sein können. Orte mit Identität und Unverwechselbarkeit. Verwurzelung ist ein Grundbedürfnis der menschlichen Seele. Das folgende Beispiel zeigt einen Baustein der ursprünglichen, nur als Fragment ausgeführten Gesamtplanung des Selve-­ Areals in Thun zur Reurbanisierung dieser innerstädtischen Industriebrache mittels ganzheitlicher und vernetzter Planungsmodelle für Städtebau, Erschließung, Energieversorgung und Umgebungsgestaltung. Um das große Neubauvolumen in den morphologischen Kontext mit älteren Einzelbauten zu integrieren, wurde es fragmentiert. So konnte das strukturelle Thema der bestehenden Einzelbauten entlang der Straße aufgenommen und die Zeile weitergeführt werden. Dabei spielt der Altbau eine Schlüsselrolle als Bindeglied zwischen Alt und Neu. Historisch gehört er zu den bestehenden Häusern. Typologisch und programmatisch gehört er zu den Neubauten.

95 Prozess 3: Ein Leitbild entwerfen

Ensemblewirkung durch das Weiterführen bestehender baulicher Strukturen: Der Altbau spielt eine Schlüsselrolle als Bindeglied zwischen Alt und Neu. Kantonsverwaltung auf dem Selve-Areal in Thun, 1999; Büro B Architekten.

96 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

In gewachsenen Siedlungsräumen sind heterogene bauliche Strukturen die Regel. Starke, überschaubare und klar gegeneinander abgegrenzte strukturelle Einheiten sind eher die Ausnahme. Heterogene, gewachsene und mehrdeutige Strukturen können mittels einer Collage ergänzt und transformiert werden. Collagen sind Überlagerungen fragmentierter Elemente. Neu und Alt ergänzen sich und bilden ein neues Ganzes. Die Collage verleiht dem überformten Gefüge eine neue Bedeutung. Integrales Planen und Entwerfen behandelt den Ort als Palimpsest. Statt Tabula rasa zu machen, werden dabei ältere Schichten durch neuere Einflüsse überlagert. Der Entwurf wird dadurch am gewachsenen Ort verankert, er wird reich an Bedeutungen und Atmosphären.

Ensemblewirkung durch das Weiterbauen innerhalb gebauter und gelebter Strukturen, mehrheitlich mit wiederverwendetem Baumaterial. K.118, Sulzerareal, Winterthur, 2021; baubüro in situ.

97 Prozess 3: Ein Leitbild entwerfen

3.3

Wie zukunftsfähige Nachbarschaften entstehen

Eine zukunftsfähige Nachbarschaft ist ein Gemeinschaftsprodukt. Sie ist nicht das Verdienst eines einzelnen Projekts. Sie entsteht auf freiwilliger Basis und lässt sich nicht erzwingen. Für eine zukunftsfähige Nachbarschaft braucht es viele Mitspieler: die Bauträgerschaften, die Nachbar:innen, die Gemeinde als Baubewilligungsbehörde und die Architekt:innen. Die größte Verantwortung tragen die Bauträgerschaften. Die Lenkungsmöglichkeiten der Gemeinde sind beschränkt: Sie versucht ihren Beitrag über Baugesetze, Gestaltungsregeln, öffentliche Freiräume und die Forderung nach attraktiven Erdgeschossnutzungen zu leisten. Die Rolle der Architekt:innen als Vermittler:innen zwischen den privaten Interessen der Bauträgerschaft und den Interessen der Öffentlichkeit bleibt zentral. Ihre gestalterischen Fähigkeiten sind zwar wichtig. Es geht aber ebenso um ihre Fähigkeit, Einzelinteressen zu hinterfragen und sich als Ensemblespieler:innen an der gemeinschaftlichen Produktion einer guten Ensembleleistung zu beteiligen. Nutznießer:innen einer guten Adresse sind alle Anrainer:innen, unabhängig davon, ob sie etwas zu ihrer Entstehung und Pflege beitragen oder nicht. Skrupellose Investor:innen sind Trittbrettfahrer:innen, die lediglich den Gewinn davontragen. In der Summe richten sie die gute Adresse letztlich zugrunde. Weil zukunftsfähige Nachbarschaften ein Gemeinschaftswerk sind, befördern sie soziale Vernetzung. Soziale Vernetzung ist eine der Voraussetzungen zur Freilegung urbaner Potenziale.56 Nachbarschaften sind die Bausteine unserer Siedlungen und Städte. Zwar sind es Architekt:innen, die dem Zusammenleben von Menschen einen räumlichen Rahmen geben. Doch können erfolgreiche Nachbarschaften nicht allein im Kopf einer:eines Architekturschaffenden entstehen, quasi deduktiv oder topdown. Erfolgreiche Nachbarschaften sollten nach Möglichkeit auch induktive, also Bottom-up-Kräfte oder -Prozesse einschließen. Denn im Fokus steht in erster Linie die Gemeinschaft der Menschen und erst daraus abgeleitet die Baumasse. Resiliente, nachhaltige Nachbarschaften als Bausteine gesunder Städte brauchen sozialen Zusammenhalt. Kaum ein anderes räumliches Phänomen macht den wechselseitigen Zusammenhang zwischen Architektur und Gesellschaft so konkret wie die Nachbarschaft. Eine Nachbarschaft wird durch zwei Aspekte definiert: räumliche Bindung und soziale Interaktion.57 Räumliche Bindung bedeutet, dass wir an den Ort unserer Wohnung gebunden sind. Die soziale Interaktion unter Nachbarn ist nicht gewählt, denn sie ergibt sich primär aus der räumlichen Bindung. «Nachbarin ist man also, ob man will oder nicht. Unabhängig davon, ob man seinen Nachbarn mag.»58

98 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

In unserer Wohnung verbringen wir einen erheblichen Teil unserer Zeit. Mit der Zeit wird die Wohnung für die meisten eine Art Ausweitung des Selbst. Damit trägt sie alle Merkmale eines Territoriums. Dieses Territorium wird nach außen markiert, rechtlich geschützt und notfalls verteidigt. Damit aus einer Gruppe von Menschen mit ihren Zufälligkeiten und Kontrasten eine Nachbarschaft entsteht, müssen diese Zufälligkeiten und Kontraste physisch miteinander in Kontakt treten und sich buchstäblich aneinander reiben. Im kreativen Umgang mit den daraus entstehenden Konflikten liegt ein großes Innovationspotenzial.

99 Prozess 3: Ein Leitbild entwerfen

Dabei ist es eine der zentralen Entwurfsaufgaben, eine kluge Balance zu finden zwischen der Ermöglichung nachbarschaftlicher Kontakte und der Sicherung von sozialer Distanz. Diese Balance wird erreicht durch zwei Maßnahmen: erstens eine klare Abstufung der Öffentlichkeitsgrade von öffentlich über gemeinschaftlich und halbprivat bis privat. Und zweitens eine präzise Gestaltung der Schwellenräume und Übergänge von einem Öffentlichkeitsgrad zum nächsten.

Zukunftsfähige Nachbarschaften sind ein Gemeinschaftswerk: Die einzelnen Häuser solidarisieren sich mit dem großen Ganzen, gemeinsam bilden sie ein Ensemble. Kramgasse, Bern.

100 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Zukunftsfähige Nachbarschaften können sich nicht einfach an historischen Vorbildern oder am bisher auf dem Wohnungsmarkt Bekannten orientieren, weil dies nicht mehr den aktuellen sozioökonomischen und politischen Realitäten entspricht.59 In den kommenden Jahren wird die Entwicklung der posträumlichen Gesellschaft (vgl. S. 128, 138) ganz neue Arten von Nachbarschaften generieren. Doch die aktuelle Wohnungsproduktion hinkt dieser Erkennt­nis stark hinterher. Die neuen Realitäten werden auf eine fundamentale Weise verkannt. Statt Bausteinen zukunftsfähiger Nachbarschaften entsteht mehrheitlich das, was sich in der Ver­ gangen­heit gut vermarkten ließ: ein vor Fremdeinflüssen möglichst geschützter Kokon für das individualisierte Selbst. Mit rückwärtsgewandtem Blick wird Wohnraum für den solventen Mainstream produziert. Helle, weiße Wohnungen mit akkurat minimalisierten Details entsprechen jedoch weder dem Traum noch den finanziellen Möglichkeiten aller Wohnungssuchenden. Die Diversität der aktuellen Wohnungsproduktion ist erschreckend klein. In einem Referat an der Berner Fachhochschule stellte Claudia Thiesen fest: «Das Wohnangebot sowohl von gewinnorientierten als auch von gemeinnützigen Wohnbauträgern entspricht nicht der Vielfalt unserer Lebensentwürfe.»

101 Prozess 3: Ein Leitbild entwerfen

Helle, weiße Wohnungen für die solvente Standardfamilie entsprechen nicht der Diversität unserer ­Gesellschaft. In ihrer Inszenierung maximaler Neutralität sind sie räumliches Abbild einer Haltung, die ­standardisierten Konsument:innen einen von Normen bestimmten, makellosen Kokon ohne Ecken und Kanten anbieten will. Schweizer Pavillon auf der Architekturbiennale Venedig, 2018; Alessandro Bosshard, Li Tavor, Matthew van der Ploeg, Ani Vihervaara.

102 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Diversität ist ein grundlegender Aspekt individualisierter Gesellschaften. Um unsere real existierende Gesellschaft abzubilden und die dafür notwendige Diversität des Wohnungs­angebots zu gewährleisten, müssen die Prozesse, welche der Wohnungsproduktion vorangehen, überdacht werden. Thorsten Lange forderte in einem Referat an der Berner Fachhochschule: «Es gilt, Prozesse in Gang zu setzen und zu erhalten, deren Ausgangspunkt Differenz ist und die aktiv zu einer anhaltenden Diversifizierung beitragen.» Ein erster wichtiger Faktor ist die Zusammensetzung der Gremien, welche die Prozesse steuern. Gerade in gemeinnützigen Bauträgerschaften sind es oft nebenberufliche und ehrenamtliche Gremien, deren Mitglieder mangels Fachkenntnissen ihre eigenen Bedürfnisse und persönlichen Erfahrungen aus der Vergangenheit als Maßstab verwenden, um Zukunft zu planen. Die Risikobereitschaft für Experimente ist persönlichkeitsabhängig und weniger von programmatischen Maximen getrieben. Das Beiziehen von externen Fachpersonen ist in diesem Fall eine niederschwellige, lohnende Strategie. In der Auseinandersetzung mit Expert:innen kann das Spektrum möglicher Szenarien vor Planungsbeginn erweitert und ausgelotet werden (siehe auch Kapitel «Die Transformation mit Szenarien testen» in Prozess 2). Weil rund 80 Prozent der schlussendlichen Baukosten bereits in der konzeptionellen Phase determiniert werden, ist diese Strategie allemal lohnend.

Rund 6000 Bewerber für 89 Wohnungen. Siedlung Kronenwiese, Zürich, 2017; Armon Semadeni Architekten.

103 Prozess 3: Ein Leitbild entwerfen

Ein zweiter Faktor zur Förderung der Diversität des Wohnungs­ angebots ist die Wahl der Investor:innen. Durch die Beteiligung gemeinnütziger Bauträgerschaften erhöht sich das Angebot an preisgünstigen Wohnungen, deren Miete nach den effektiven Kosten und nicht nach der Marktlage berechnet wird. Falls im Verfahren auch marktorientierte Investor:innen. beteiligt sind, müssen ihnen klare sozioökonomische Vorgaben gemacht werden. Dabei muss beachtet werden, dass gerade marktorientierte Investor:innen über kompetente Fachkräfte verfügen, welche mit dem Ziel, die geforderten Randbedingungen maximal zu erfüllen, emotionslos und präzise in kurzer Zeit besonders suffiziente oder gemeinschaftsorientierte Angebote einreichen können, während gemeinnützige Trägerschaften mit ihren langwierigen partizipativen Findungsprozessen in der knappen Frist oft vorsichtigere oder stärker austarierte Angebote unterbreiten müssen. Zur Prüfung der Zukunftsfähigkeit der Angebote muss deshalb ergänzend die langfristige Sicherung des Primats der Kostenmiete vor der Marktmiete einfließen. Ein dritter Faktor bei der Förderung eines vielfältigen Wohnungsangebots ist die Bereitschaft, nicht nur den bereits bekannten Bedürfnissen hinterherzuproduzieren, sondern eine Haltung zu aktuellen Fragen der Zukunftsfähigkeit unseres Tuns zu entwickeln, bei der Forschung nach neuen Formen des Zusammenlebens auch Experimente zu wagen und mit innovativen Wohnungstypologien neue Nachbarschaften zu initiieren. Einsamkeit entwickelt sich heute zu einem der größten Gesundheitsrisiken. Die in Mitteleuropa vorherrschende Baukultur mit ihren strengen Normen begünstigt diese Entwicklung, weil sie dazu führt, dass man Nachbar:innen nicht mehr hört und auch niemals riecht. Eine zukunftsfähige Baukultur wird ihre Paradigmen zugunsten von erlebbaren traditionellen Nachbarschaften, in denen man die Nachbar:innen sehen, hören und riechen kann, überdenken müssen. Eine einfache Lösung zur Bekämpfung der zunehmenden Vereinsamung in unserer Gesellschaft versprechen gemeinschaftliche Formen des Zusammenlebens. An dieser Stelle muss zwischen den Begriffen Gemeinschaft und Nachbarschaft deutlich unterschieden werden: Gemeinschaft meint teilen. Nachbarschaft meint Anteil nehmen.

104 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Der Unterschied zwischen Nachbarschaft und Gemeinschaft: Nachbarschaft meint Anteil nehmen, ­Gemeinschaft meint teilen. Nachbarschaft im Hunziker-Areal, Zürich.

Hausgemeinschaft in der Berner Altstadt.

105 Prozess 3: Ein Leitbild entwerfen

Nicht alle Menschen wollen in einer Wohngemeinschaft leben, in der sie gemeinschaftliche Bereiche teilen müssen. Ein großer Teil der Bevölkerung möchte individuell und allein wohnen, aber nicht einsam sein. Eine zukunftsfähige Nachbarschaft bietet diesen Menschen die Wahlmöglichkeit, ob und mit wem sie interagieren möchten. Voraussetzung dafür sind hohe Personendichte und gute Durchdringung von öffentlicher und privater Sphäre bei gleichzeitig klarer Abgrenzung der Öffentlichkeitsgrade über aneigenbare Schwellenräume (siehe auch Kapitel «Porosität oder die Durchdringung von öffentlich und privat» in Prozess 4). Gemeinschaftliche Wohnformen befördern Diversität, indem sie auch Bedürfnisse einbeziehen, welche der Mainstream vernachlässigt. Das können adaptierbare oder bewusst unfertige Angebote für Patchworkfamilien sein, deren Zusammensetzung und räumliche Bedürfnisse steten Veränderungen unterworfen sind. Das können Angebote mit Annexwohnungen für getrennte Familien sein: Das Nest mit Kinderzimmern, Küche und Essbereich liegt in der Mitte, während zwei angehängte Wohneinheiten den getrennten Elternteilen Platz für je ein bis drei Personen bieten. Die Annexwohnungen haben separate Eingänge, sind aber über Verbindungstüren auch direkt mit dem Nest in der Mitte verbunden. Auch Clusterwohnungen können ein gutes Übungsfeld für das gemeinschaftliche Zusammenleben sein, solange sie die folgenden Forderungen erfüllen: Sie müssen Angebote für viele Bevölkerungssegmente beinhalten, der Flächenbedarf der Individualbereiche muss knapp und suffizient sein, und schließlich sollten die Gemeinschaftsbereiche durch das weitgehende Fehlen individueller Kochgelegenheiten oder Balkone wirklich genutzt werden. Um gemeinschaftlichen Formen des Zusammenwohnens eine Chance zu geben, dürfen die Erwartungen nicht zu hoch gesteckt werden. Gelegentliche Konflikte sind unausweichlich und kommen auch in konventionellen Mainstream-Wohnungen vor.

106 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Durch einfache Maßnahmen lässt sich diese nur 72 Quadratmeter große Wohnung für eine große Diversität von Bedürfnissen adaptieren: als Wohnung für ein Paar, für eine Familie oder für Alleinerziehende mit zwei Kindern, als Wohngemeinschaft für zwei oder drei Personen oder als Wohnung mit Homeoffice. Zwicky Süd, Dübendorf, 2016; Schneider Studer Primas.

Grundrisse von Clusterwohnungen. Heizenholz, Zürich, 2012; Adrian Streich. Kalkbreite, Zürich, 2014; Müller Sigrist. Hunziker-Areal, Zürich, 2014. Futurafrosch und Duplex Architekten. Stadterle, Basel, 2017; Bucher Bründler.

107 Prozess 3: Ein Leitbild entwerfen

Ein vierter Faktor, um die Diversität des Wohnungsangebots zu fördern, liegt in ergänzenden Raumangeboten wie Dienstleistungs- und Gewerbeflächen, welche zu günstigen Konditionen zugemietet werden können. Damit sich das Leben in diesen Möglichkeitsräumen einnisten kann, ist darauf zu achten, dass sie vor den Wohnungen geschützt werden (und nicht umgekehrt). Ansonsten werden sie durch Lärmklagen über kurz oder lang Einschränkungen ausgesetzt sein, welche ihr Fortbestehen und ihre Entfaltung infrage stellen. Ein fünfter und sicher nicht letzter Faktor, um die Vielfalt unserer Lebensentwürfe in ein Projekt einfließen zu lassen, ist eine möglichst niederschwellige und barrierefreie Partizipation aller beteiligten oder betroffenen Parteien, also nicht nur der zukünftigen Bewohner:innen, sondern auch der Kapitalgeber:innen, der Nachbar:innen und der Vertreter:innen sozialer Netzwerke vor Ort. Wenn Menschen einen Ort beeinflussen oder gar mitgestalten können, verstärkt das die Identifikation mit dem Projekt und damit die nachhaltige Verankerung in der Nachbarschaft. Identifikation befördert Aneignung. Und Aneignung befördert soziale Vernetzung (siehe auch Kapitel «Porosität oder die Durchdringung von öffentlich und privat» in Prozess 4).

Partizipation verstärkt die Identifikation der beteiligten Personen mit einem Projekt. Wenn auch die Nachbarschaft einbezogen werden kann, verstärkt das darüber hinaus die Verankerung des Projekts im sozialen Kontext. Wohnbaugenossenschaft Warmbächli, Bern.

108 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

3.4

Urbane Transformation braucht mehr als farbiges Straßenleben

Integrales Planen und Entwerfen erfordert die Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Qualitäten eines zeitgenössischen Siedlungsraums. Beim integralen Planen und Entwerfen suchen wir nach architektonischen Lösungen, welche als Tragwerk die gesellschaftliche Entwicklung steuern können. Dies stellt eine Erweiterung der klassischen Entwurfsmethoden dar, bei denen die gebäudebezogene Struktur, die Nutzungsorganisation und die Form im Vordergrund stehen. Urbanität bezeichnet eine besondere Qualität der aufgeklärten Stadt und damit eher eine gesellschaftliche Lebensform als eine städtebaulich-räumliche Struktur. Der Begriff Urbanität ist gekoppelt mit Eigenschaften wie tolerant, weltoffen, weltläufig, geistig beweglich, neugierig und vernetzt. Er darf also nicht nur mit dem Bild eines farbigen Straßenlebens mit Cafés, Warenund Dienstleistungsangebot verbunden werden. Wichtig sind Raum und Atmosphäre für Begegnung sowie die Möglichkeit, Anlässe im öffentlichen Raum zu inszenieren. Die urbane Stadt dient gleichzeitig als Bühne, Werkstatt und Heimat. Multifunktionale und öffentliche Stadträume, Nutzungsvielfalt und Nutzungsmischung ermöglichen eine sozialräumliche Integration und sichern die prinzipielle Anschlussfähigkeit für verschiedene Akteur:innen. Lebendige und ruhige Bereiche koexistieren in unmittelbarer Nachbarschaft. Der heute oft beklagte Verlust an Urbanität ist eine direkte Folge der verbesserten Wohnverhältnisse und Arbeitsbedingungen. Höhere Einkommen ermöglichen mehr Wohnraum, was im Vergleich zu früher zu einer vier- bis fünfmal geringeren Belegungsdichte und damit zu einer Verdünnung der möglichen Sozialkontakte führt. Zudem wurden die Gassen gesäubert. Gassen dienen beispielsweise nicht mehr als Erweiterung der Werkstätten im Erdgeschoss. Auf der Gasse wird auch nicht mehr gearbeitet. Das Wieder-Auslagern eines Teils typisch häuslicher Aktivitäten in öffentliche Räume könnte einen Teil des Verlustes an Urbanität durch die verbesserten Wohnverhältnisse und Arbeitsbedingungen kompensieren. Einrichtungen für Freunde-Empfangen, Essen, Amüsieren und Körperpflege könnten in einfacher, durchaus aber auch in luxuriöser Form als gemeinschaftliche Angebote geplant werden. In Agglomerationen sind urbane Qualitäten schwieriger zu generieren als in Innenstädten. Meistens fehlt die räumliche und soziale Dichte. Die attraktiven Freiräume sind privat und damit nicht zugänglich. Die zugänglichen Freiräume beschränken sich auf Verkehrswege, die durch Immissionen beeinträchtigt sind.

109 Prozess 3: Ein Leitbild entwerfen

Urbanität ist nicht an bestimmte Raumformen, sondern an eine Lebensform gebunden: dichte Wohn- und Arbeitssituation mit entsprechenden Vor- und Nachteilen im Basar in Delhi, Indien.

110 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Der heutige Verlust an Urbanität ist eine direkte Folge der verbesserten Wohn- und Arbeitsbedingungen. So wie hier in Indien wurde der öffentliche Raum früher auch bei uns vielfältiger genutzt: Er diente als ­Erweiterung der Werkstätten im Erdgeschoss, Arbeitsort und Materiallager. Basar in Old Delhi.

111 Prozess 3: Ein Leitbild entwerfen

112 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Auch sind Distanzen und Verkehrsinfrastrukturen nicht auf Langsamverkehr ausgerichtet. Zudem leiden Dorfkerne unter der Konkurrenz der Einkaufszentren. Bei einem Mangel an urbanen Qualitäten wird die Nachverdichtung schwieriger, weil Dichte erst im Zusammenklang mit urbanen Qualitäten positiv erlebt wird. Dichte allein macht nur eng. Es muss deshalb ein vorrangiges Ziel sein, die Nachverdichtung in der Agglomeration mit der ganzen Palette urbaner Qualitäten vor Ort selbst zu koppeln. Dazu müssen Kristallisationskerne des Urbanen gebildet werden. Erfolgreiche Siedlungsformen sind räumlich dicht und haben gleichzeitig eine gute Verbindung zu attraktiven öffentlichen oder gemeinschaftlich genutzten Freiräumen. Das sind Freiräume, die von Gebäuden mit öffentlichkeitsbezogenen, gemischten Nutzungen umstellt sind. Freiräume, deren

Je größer die Dichte, umso wichtiger sind zugängliche, inklusive Freiräume: eine Quartierstraße als offener, für alle zugänglicher Begegnungsraum. Lorraine, Bern.

113 Prozess 3: Ein Leitbild entwerfen

Raumgrenzen porös sind, damit eine Interaktion zwischen den Nutzungen ermöglicht wird. Freiräume, die über Schwellenräume verfügen, damit die verschiedenen Öffentlichkeitsgrade erlebbar sind und respektiert werden. Freiräume, in denen die verschiedenen Akteur:innen offen, friedlich und sinnstiftend miteinander interagieren können. An solchen Orten entstehen die urbanen Identitäten. Je höher die Dichte ist, umso wichtiger ist der Zugang zu öffentlichen oder gemeinschaftlich genutzten Freiräumen. Dichte zeigt sich in der gleichzeitigen Präsenz von unterschiedlichen Nutzungen, unterschiedlichen Nutzenden, verschiedenartigen Milieus und verschiedenen räumlichen Ausprägungen. Die Kulturgeschichte der europäischen Stadt ist eine Erfolgsgeschichte der Verdichtung. Die Verdichtung hat sich meist aus einer nüchternen Analyse der Vorteile der dauernden Nähe zu einer großen Zahl anderer Menschen ergeben. Eine kompakte Stadt war einfacher zu verteidigen. Ein großer Absatzmarkt für Produkte und Dienstleistungen bringt Konkurrenz, dank der sich Spezialist:innen entwickeln können. Spezialist:innen bringen bessere Qualität und Raffinement, was wiederum zu einer größeren Auswahl an Handlungs- und Erlebnismöglichkeiten führt. Historisch gesehen ist der größte Vorteil das Miteinander unterschiedlicher Menschen, deren Talente, Werte, Emotionen und Lebensstile sich aneinander reiben. Diese Interaktionen befeuern den Schmelztiegel, in dem sich die technische, wirtschaftliche, kulturelle und soziale Kraft einer Gesellschaft immer wieder erneuert und weiterentwickelt. Entscheidend für die Kohäsion einer Gesellschaft ist, dass die verschiedenen Werte und Lebensstile sichtbar bleiben und nicht in den Untergrund verdrängt werden. Die friedliche Koexistenz unterschiedlicher Werte und Lebensstile ist eine große siedlungspolitische Herausforderung. Zahlreiche gesellschaftliche, räumliche und ökologische Zielkonflikte müssen gegeneinander abgewogen werden. Für die Arbeit der Planer:innen und Architekt:innen bedeutet dies, dass Eingriffe mit Respekt vor Geschichte und Bestehendem vorgenommen werden und dass die Bedürfnisse aller Beteiligten und Betroffenen mit großer Sensibilität gegeneinander abgewogen werden. Um die gesellschaftlichen Qualitäten eines zeitgenössischen Siedlungsraums im Rahmen eines Leitbildes zu steuern, bedienen wir uns der folgenden vier der sechs Themenfelder, welche die Forschungsgruppe NFP 65 im Rahmen eines Nationalen Forschungsprogramms unter dem Titel «Urbane Qualitäten» publizierte: Zentralität, Diversität, Interaktion und Zugänglichkeit.60 Die Themenfelder Adaptierbarkeit und Aneignung folgen in Prozess 4.

114 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Dichte ergibt sich aus einer nüchternen Analyse der Vorteile. Zähringerstadt, Bern.

115 Prozess 3: Ein Leitbild entwerfen

116 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Zentralität muss breiter gestreut werden Der Titel tönt wie ein Widerspruch. Doch Zentralität darf nicht nur in den Stadtzentren angeboten werden. In Zeiten von Home­office oder reduzierter Mobilität brauchen wir vollständig ausgerüstete Subzentren in den Agglomerationen. Zentralität ­ermöglicht Begegnungen und damit Interaktionen zwischen völlig unterschiedlichen Menschen. Damit ist Zentralität «eine grundlegende Eigenschaft des städtischen Lebens und damit auch eine Voraussetzung jeder Form von Urbanität»61. Zentralität kann entstehen, wenn Alltagsbedürfnisse räumlich derart konzentriert werden, dass genügend Menschen diesen Ort brauchen und besuchen. Sie ist ein Faktor zur Beurteilung der urbanen Qualität eines Ortes. Dabei geht es primär um die richtige Nutzungskonstellation und weniger um Architektur. Zentralität kann demnach auch an städtebaulich schwierigen oder vordergründig unattraktiven Stellen wie Mobilitätsknoten entstehen. Hier sollte das Potenzial der relativ hohen sozialen Dichten stadträumlich möglichst gut genutzt werden.62

In polyzentrischen Städten wird Zentralität nicht nur im Stadtzentrum angeboten. Die räumliche Konzentration von Einrichtungen zur Befriedigung von Alltagsbedürfnissen wie Läden, Restaurants und Haltestellen des öffentlichen Verkehrs führt auch an vordergründig unattraktiven Orten zu Zentralität. Europaplatz, Bern; Bauart Architekten und Planer, extrā Landschaftsarchitekten.

117 Prozess 3: Ein Leitbild entwerfen

Diversität schafft Urbanität Reichhaltige Stadtlandschaften sind nur möglich dank Heterotopien («tópos» = Ort). Zukunftsfähige Nachbarschaften und ihre Freiräume können die Ansprüche unterschiedlichster Bevölkerungsgruppen befriedigen. Die Qualität dieser Orte zeigt sich primär im Freiraum. Der öffentliche Freiraum ist ein Feld, in dem soziale Interaktion durch Diversität intensiviert wird. Dadurch werden Orte nicht nur räumlich, sondern auch atmosphärisch dicht. Diversität ist ein Faktor zur Beurteilung der urbanen Qualität eines Ortes. Sie kann entstehen, wenn auf kleinem Raum eine Vielfalt unterschiedlicher Nutzungen, sozialer Milieus, räumlicher Ausprägungen und Eigentumsverhältnisse miteinander in Kontakt treten können.63 Verschiedene Atmosphären, unterschiedliche soziale Dichten und gestaffelte zeitliche Intensitäten erweitern die Diversität zusätzlich. Heterogene Nachbarschaften mit Mischstrukturen sind stabiler als homogene Nachbarschaften. Gemischte Nachbarschaften verfügen über größere Anpassungs- und Integrationspotenziale als homogene Gebiete, weil sie ihren Bewohner:innen eine größere Vielfalt an Interaktionspartner:innen und Beziehungsgeflechten bieten.64

Diversität wird im Freiraum sichtbar. Entscheidend für die Kohäsion einer Gesellschaft ist, dass die verschiedenen Werte und Lebensstile sichtbar bleiben und nicht in den Untergrund verdrängt werden. Freiräume müssen deshalb von unterschiedlichen Nutzergruppen und sozialen Milieus angeeignet werden können. Toulouse, 22. November 2014.

118 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens Geringe Diversität und Erlebnisdichte durch horizontal gegliederte, hermetische Fassaden mit Distanzgrün. Wohn- (OG) und Geschäftshaus (EG) in Worb.

119 Prozess 3: Ein Leitbild entwerfen

120 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Die überragende Rolle übernimmt bei diesem Vermittlungsprozess der öffentliche Raum. Dieser muss sich durch eine gewisse Nutzungsneutralität auszeichnen und ermöglichen, dass sich die verschiedenen Akteur:innen auf konstruktive Art und Weise aneinander reiben können. Bestehende soziale Konstellationen und Netzwerke sollten durch eine Haltung der Inklusion als urbane Keimzellen gestützt und nicht umgepflügt werden. Inklusion bedeutet Wertschätzung und Anerkennung von Diversität. Eine Haltung der Inklusion bedeutet, dass Menschen mitsamt ihren Werten und Lebensstilen in die Gesellschaft eingeschlossen werden. «Zuallererst sind immer auch wenig zahlungskräftige Nutzergruppen und Nutzungen zu stützen. Oft tragen gerade ‹Aufwertungsmaßnahmen› wesentlich zur Gentrifizierung und zur Homogenisierung eines Quartiers bei. […] In Stadtgebieten mit starken Tendenzen zur Gentrifizierung kann die Unterstützung von genossenschaftlichem Wohnungsbau zur Erhaltung der Diversität beitragen. […] (Auch sollten) Planung und Politik neue Ideen entwickeln, wie durch experimentelle und alternative Konzepte Möglichkeiten für Ökonomien geringer Wertschöpfung erhalten oder geschaffen werden können.»65 Folgende Faktoren befördern die Diversität: Eine kleinteilige Parzellenstruktur befördert eine breite Streuung des Immobilienbesitzes und damit die Vielfältigkeit einer Nachbarschaft. Eine Integration bestehender Bauten mit günstigen Mietzinsen ermöglicht, dass es in einer Nachbarschaft neben den teureren Mietzinsen der Neubauten auch günstige Mietzinse gibt. Das erhöht die soziale Diversität. Die zu übergeordneten öffentlichen Freiräumen orientierten Erdgeschosse sollten öffentliche Hohe Diversität und Erlebnisdichte durch kleinteilige Parzellenstruktur und poröse Erdgeschosse. City of Tomorrow, Malmö, 2005; Klas Tham et al.

121 Prozess 3: Ein Leitbild entwerfen

Nutzungen ermöglichen, poröse Fassaden und aneigenbare Schwellenräume statt Vorgärten haben. Dank adaptierbaren Strukturen sollten sie im Verlauf der Nutzungsdauer Umnutzungen von öffentlich bis privat zulassen. Voraussetzung dafür sind übergroße Raumhöhen und kleinteilige Unterteilbarkeit, um Läden, Büros, Ateliers und sogar Wohnküchen zu ermöglichen. Ein derart strukturiertes Erdgeschoss fördert die Kleinunternehmer:innen, erhöht die Erlebnisdichte und stärkt damit die Qualität des öffentlichen Raumes.

Interaktion befördert Innovation Für eine friedliche Koexistenz unterschiedlicher Werte und Lebensstile braucht es Freiräume, in denen die verschiedenen Akteur:innen mit ihren unterschiedlichen Lebensvorstellungen offen und sinnstiftend miteinander interagieren können. Interaktion entsteht an Orten mit starker Zentralität (für viele Nutzende signifikant) und Diversität (Präsenz unterschiedlicher Nutzungen, Milieus, Eigentumsverhältnisse und räumlicher Ausprägungen). Sie ist ein Faktor zur Beurteilung der urbanen Qualität eines Ortes. Die produktive wechselseitige Einwirkung unterschiedlicher Nutzender ist eine der Quellen gesellschaftlicher Weiterentwicklung. Gradmesser der Interaktion sind soziale Dichte, Anzahl der Interaktionsprozesse und Interaktionsdauer.66

Interaktion entsteht nicht von selbst: Dieser Platz im Zürcher Stadtquartier Oerlikon ist zwar klar definiert, aber zu groß. Zudem interagieren die Erdgeschossnutzungen zu wenig mit den Menschen auf dem Platz.

122 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Interaktionen entstehen, wenn die Raumsequenzen eines Siedlungsgefüges genügend abwechslungsreich und divers sind, um Bewohner:innen und Besucher:innen zum Flanieren einzuladen. Entscheidend ist dabei ein angemessenes Verhältnis zwischen der Maßstäblichkeit der Freiräume und der sozialen Dichte. Wenn die Freiräume im Verhältnis zur sozialen Dichte zu groß sind, wird nicht genügend Interaktion stimuliert. Das Flanieren wird zusätzlich gefördert durch kleinteilige, öffentlichkeitsbezogene Nutzungen, poröse Raumgrenzen und aneigenbare Schwellenräume. Kleinteilige Parzellenstrukturen lassen vertikal gegliederte Fassaden mit abwechslungsreichen Texturen entstehen. Fußwege erscheinen dadurch kürzer. «Unsere Wahrnehmung eines Stadtraums wird entscheidend vom Grad seiner Belebtheit bestimmt. Eine menschenleere Stadt ist wie ein leeres Theater: Mit der Inszenierung kann etwas nicht stimmen, da es kein Publikum gibt.»67 Übergänge zwischen verschiedenen Quartieren sollten nicht als abrupte Grenzen, sondern als facettenreiche Orte des Aufeinandertreffens und der Vernetzung verschiedener Nutzergruppen, Milieus und Lebensstile gestaltet werden. «Treffpunkte und öffentliche Orte fördern die Aufenthaltsqualität und dementsprechend die Interaktionspotenziale verschiedener Milieus, wenn sie sich an Schnittstellen befinden, sei dies an der Grenze zwischen Gebieten mit unterschiedlichen Funktionen oder an Stellen, an denen sich Mobilitäts- oder Alltagsnetzwerke überlagern.»68 Die Dimension des Freiraums stimmt, weil er menschlichen Maßstab hat. Die Kleinteiligkeit erzeugt ­Abwechslung und Vielfalt, was zum Flanieren einlädt. Die Porosität der Erdgeschosse ermöglicht die Interaktion zwischen Innen und Außen. Fußwege erscheinen dadurch kürzer. New Road, Brighton, England.

123 Prozess 3: Ein Leitbild entwerfen

Zugänglichkeit befördert Interaktion Zugänglichkeit bedeutet, dass ein öffentlicher Freiraum für verschiedene Nutzende räumlich und zeitlich offen ist und dass er uneingeschränkt und ohne Konsumpflicht aufgesucht werden kann.69 Sie ist ein Faktor zur Beurteilung der urbanen Qualität eines Ortes. Voraussetzung für die Zugänglichkeit ist die Porosität des Siedlungsgewebes. Gegenbeispiele zur Zugänglichkeit sind Gated Communities. Diese sozial homogenen Nachbarschaften führen zur Auflösung städtischer Strukturen. Sie fördern die Segregation, indem sie soziale Gruppen ausgrenzen, was zum Verfall gesellschaftlicher Solidarität führt. Um die Zugänglichkeit sicherzustellen, muss der öffentliche Raum mit seinen teilweise lärmintensiven Nutzungen genügend klar von privaten Räumen getrennt werden. Dabei geht es nicht nur um den Schutz der privaten Räume, sondern auch um den Schutz des öffentlichen Raumes vor dem privaten. Ansonsten stellen Lärmklagen die Zugänglichkeit oder die öffentliche Nutzung früher oder später infrage.

Als gesellschaftliches Tragwerk müssen öffentliche Freiräume uneingeschränkt und ohne Konsumpflicht zugänglich sein. Liebefeld Park, Köniz; Mettler Landschaftsarchitektur.

124 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Übersicht Prozess 3 Ziel: Die zukunftsfähige Transformation des Ortes steuern — Steuern der zukünftigen gesellschaftlichen, strukturellen, räumlichen und baulichen Entwicklung. — Ermitteln des optimalen Maßes an baulicher Dichte, um die Gesamtqualität des Ortes zu erreichen. — Fördern urbaner Qualitäten. Schritt 1: Qualitäten und Ziele definieren — Die durch die Transformation des Ortes zu erreichenden Qualitäten und Ziele definieren. Verfahren zur Sicherung dieser Qualitäten in einem zeitlich offenen Planungsprozess beschreiben. Schritt 2: Städtebauliche Varianten erarbeiten — Auf der Basis der Synthese der Szenarien aus Prozess 2 in einem iterativen Prozess städtebauliche Variantenstudien erarbeiten, um das optimale Maß an baulicher Dichte für den Kontext und den gewachsenen Ort zu ermitteln. — Gebäudetypen evaluieren (keine individualisierten Gebäudeentwürfe auf der Stufe des Leitbildes). Die Gebäudetypen dienen zum Definieren der Freiräume. Die Beziehung zwischen den Baukörpern und den von ihnen begrenzten und geformten Raumkörpern soll möglichst klar und präzise gestaltet sein. Wahl der Gebäudetypen und ihrer strukturellen Ausgestaltung entsprechend ihrer Bedeutung, Funktion und Programmierung. Schritt 3: Leitbild entwerfen — Städtebauliche Variantenstudien und Gebäudetypen beurteilen. Maßgebend ist die Qualität der Freiräume sowie die Frage nach gesellschaftlichen, strukturellen, räumlichen und baulichen Mehrwerten. Mehrwerte sollen nicht nur für Grundeigentümer:innen und Bewohner:innen entstehen, sondern ebenso sehr für die Nachbarschaft, für die Gesellschaft und für den Ort als Ganzes. — Verdichten der Variantenstudien in ein gesellschaftliches, strukturelles, räumliches und bauliches Leitbild, welches die weitere Entwicklung des Ortes steuert. Das Leitbild legt die städtebaulichen und sozioökonomischen Qualitäten fest. Die Visualisierung des Leitbildes erfolgt mittels Plänen, Modellen und räumlichen Darstellungen. Erläuterungen mittels Schemata und Kurztexten sowie eine Prozessdokumentation ergänzen das Leitbild.

125 Übersicht Prozess 3

Themenfelder — Leitidee und städtebauliche Setzung: Festlegung der soziokulturellen, sozioökonomischen und ökologischen Qualitäten und Mehrwerte für das Planungsgebiet und für den Kontext. Sicherung der Verfahren zur Gewährleistung dieser Qualitäten und Mehrwerte in einem zeitlich offenen Planungsprozess. Bezug der städtebaulichen Setzung zur Leitidee. Kommunizierbarkeit des Transformationsprozesses und der etappenweisen Umsetzung. — Qualitäten der Netze und der Infrastruktur: Kohärenz zwischen Orientierung, Erschließung (Langsamverkehr, öffentlicher Verkehr, motorisierter Individualverkehr), Durchwegung und Adressierung. Angemessenheit der öffentlichen Einrichtungen für Versorgung und Betreuung. — Strukturelle Qualitäten der öffentlichen und privaten Freiräume: Kohärenz zwischen Typologie, Funktion und Form, Art und Grad der Durchgrünung, Vernetzung im Siedlungsgefüge. — Immaterielle Qualitäten der öffentlichen und privaten Freiräume: Ensemblewirkung im Kontext. Identität und sozialräumliche Bedeutung im Siedlungsgefüge. Präzision der räumlichen Beziehung zwischen Freiraumkörpern und Baukörpern. Präzision der Setzung der raumdefinierenden Elemente. Dramaturgie der Raumsequenzen. — Strukturelle Qualitäten der Bebauung: Angemessenheit von Bebauungsdichte, Nutzungsdichte, Nutzungsart, Nutzungsmix, Parzellengröße, wirtschaftlicher Tragbarkeit und Wohnflächenkonsum. Bezug der Erdgeschossnutzungen zu angrenzenden Freiräumen. Sozioökonomische Mehrwerte der Integration bestehender Bauten. — Immaterielle Qualitäten der Bebauung: Ensemblewirkung und Bezug zum Kontext (Maßstäblichkeit, Höhenentwicklung, Verhältnis zu Wahrzeichen, historische Kontinuität, Porosität). Kohärenz zwischen Bedeutung, Identität und Volumetrie in Bezug zu übergeordneten öffentlichen Freiräumen. Soziokulturelle Mehrwerte der Integration bestehender Bauten. — Sozialräume: Maßnahmen zur Unterstützung der urbanen Qualitäten70 Zentralität, Diversität, Interaktion und Zugänglichkeit auf der Betrachtungsebene «Ort». Mehrwerte durch die Integration und Vernetzung bestehender Nutzungen und Akteur:innen. Mehrwerte durch innovativen Nutzungsmix der Freiräume und Gebäude.

126 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

51 52 53 54 55 56

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66 67 68 69 70

Richard Sennett: Die offene Stadt. Eine Ethik des Bauens und Bewohnens, Hanser Berlin, München 2018 Daniel Baur, Schriftwechsel mit Robert Braissant, 2022 Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Springer Dordrecht, Den Haag 1976, S. 4 Horst W. J. Rittel: Thinking Design. Transdisziplinäre Konzepte für Planer und Entwerfer, hrsg. von Wolf D. Reuter, Wolfgang Jonas, Birkhäuser, Basel 2013, S. 44 f. Vgl. Gudrun Sack: Das Unterschiedliche im Nebeneinander, in: Olaf Bahner, Matthias Böttger (Hrsg.): Neue Standards. Zehn Thesen zum Wohnen, Jovis, Berlin 2016, S. 109 ff. Vgl. Marc Angélil, Kees Christiaanse, Vittorio Magnago Lampugnani, Christian Schmid, Günther Vogt: Urbane Potenziale und Strategien in metropolitanen Territorien am Beispiel des Metropolitanraums Zürich, ETH Zürich – Departement Architektur, Zürich 2012 Vgl. Bernd Hamm: Nachbarschaft. Verständigung über Inhalt und Gebrauch eines vieldeutigen Begriffs, Bertelsmann, Düsseldorf 1973 Ebenda, S. 174 Vgl. Marc Angélil, Kees Christiaanse, Vittorio Magnago Lampugnani, Christian Schmid, Günther Vogt: Urbane Potenziale und Strategien in metropolitanen Territorien am Beispiel des Metropolitanraums Zürich, ETH Zürich – Departement Architektur, Zürich 2012 Vgl. Simon Kretz, Lukas Kueng (Hrsg.): Urbane Qualitäten. Ein Handbuch am Beispiel der Metropolitanregion Zürich, Edition Hochparterre, Zürich 2016 Ebenda, S. 44 Vgl. ebenda, S. 58 Vgl. ebenda, S. 54 Vgl. Patricia Kaszynska, James Parkinson, Will Fox: Re-thinking Neighbourhood Planning. From Consultation to Collaboration, The ResPublica Trust, London 2012 Ruth Rohr-Zänker, Wolfgang Müller: Die Rolle von Nachbarschaften für die zukünftige Entwicklung von Stadtquartieren. Expertise im Auftrag der Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung, Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, Oldenburg 1998 Vgl. Simon Kretz, Lukas Kueng (Hrsg.): Urbane Qualitäten. Ein Handbuch am Beispiel der Metropolitanregion Zürich, Edition Hochparterre, Zürich 2016, S. 59 Jan Gehl: Städte für Menschen, Jovis, Berlin 2015 Simon Kretz, Lukas Kueng (Hrsg.): Urbane Qualitäten. Ein Handbuch am Beispiel der Metropolitanregion Zürich, Edition Hochparterre, Zürich 2016, S. 59 Vgl. ebenda, S. 60 Vgl. ebenda

127 Prozess 4: Lebensräume formen und Gestalt finden

Prozess 4: Lebensräume formen und Gestalt finden Grundlage des Entwerfens ist die Fähigkeit zu gestalten. Diese Fähigkeit zeigt sich in allen Dimensionen, vom Städtebau bis zum Detail. Die reflektierte Auseinandersetzung mit dem baulichen, gesellschaftlichen und ökologischen Kontext schafft ortsspezifische und damit identitätsstiftende Gebäude. Bei dieser Auseinandersetzung findet ein stetes Pendeln zwischen objektiver und subjektiver Ebene statt. Auf objektiver Ebene herrscht in unserer Kultur, in der Welt des Quantitativen, Rationalen und Ökonomischen, relativ große Sicherheit. Das Performative und Messbare genießt das entsprechende Vertrauen. Auf subjektiver Ebene hingegen steht das Unscharfe, das nicht exakt Messbare, das Qualitative, Ästhetische und Emotionale. Für die Gestaltfindung ist es entscheidend, sich mit allen Aspekten gleichwertig auseinandersetzen zu können. Bei der Gestaltfindung geht es um die Integration des Vorhandenen und des Zukünftigen, um die Beziehung der Architektur zu Zeit und Geschichte, um die Beziehung zwischen den Betrachtungsebenen «Ort», «Gebäude» und «Gesellschaft».71 Mit anderen Worten: Es sind die vereinigten Erkenntnisse aus den Prozessen 1 bis 3, von der Analyse bis zum Leitbild, welche die Grundlage zur Gestaltfindung bilden. Kern des Prozesses 4 ist die Suche nach der räumlichen und atmosphärischen Qualität für einen konkreten Raum.

128 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

4.1

Porosität oder die Durchdringung von öffentlich und privat

Die Porosität eines Ensembles oder eines Gebäudes ist eine wichtige Form der Kommunikation innerhalb einer Gesellschaft. Porosität meint im vorliegenden Kontext «die gegenseitige Durchdringung und Anteilnahme von Öffentlichkeit und Privatsphäre – also eine Durchlässigkeit der Grenze zwischen innen und außen»72. Als Membrane zwischen dem Innen und dem Außen erfüllt vor allem die Gebäudehülle eine äußerst vielschichtige Aufgabe. Wie eine Schnittstelle verbindet sie die privaten Innenräume mit den öffentlichen Freiräumen der Stadt. Diese wichtige Rolle als durchlässige Vermittlerin zwischen dem Individuum und der Gesellschaft verlor die Fassade im Zuge der massenhaften Banalisierung und Anonymisierung der klassischen Moderne nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Individuelle und Spezifische wurde zugunsten eines Ausdrucks von Effizienz und serieller Anonymität immer weiter zurückgedrängt. Die heutige Gesellschaft mit ihrer sozialen Vielfalt und fortschreitenden Individualisierung erfordert einen anderen baulichen Ausdruck. In der vormodernen Zeit erfüllte die Fassade eine doppelte Funktion: als Gesicht des Gebäudes und als raumbildende Wand des Außenraums. Wie bei einem Innenraum fasst und definiert die Fassade den Außenraum. Der Außenraum kann wie ein Innenraum gelesen und gestaltet werden. Jahrhundertelang wurden an Fassaden innenarchitektonische Elemente verwendet: raumhaltige Wände mit Risaliten, reichhaltig dekorierten Öffnungen, Loggien und Kolonnaden. Der Reichtum der Architektur besteht «in ihrer Fähigkeit, ihr Inneres nach außen zu kehren und den Umraum ästhetisch derart zu verdichten, dass er den Charakter eines öffentlichen Interieurs annimmt»73. Diese scheinbare Umkehrung macht deutlich, dass der öffentliche Freiraum keine Restfläche ist, sondern ein Raumkörper (siehe Prozess 1), dessen Atmosphäre genauso wie diejenige eines Innenraums maßgeblich durch die ihn begrenzenden Fassaden und den Grad ihrer Porosität bestimmt wird. Das Gesicht der Fassade prägt die Atmosphäre des davorliegenden Freiraums. Gleichförmige Lochfassaden leisten hier keinen besonderen Beitrag. Fassaden können jedoch zu beredten Gesichtern werden, wenn ihre Lesbarkeit verbessert wird, indem beispielsweise zu öffentlichen Freiräumen orientierte Hauptfassaden und Eingangssituationen durch Materialisierung und formale Betonung hervorgehoben werden. Für die Atmosphäre des öffentlichen Freiraums ist es darüber hinaus wichtig, dass die Grundrisse nicht nur nach der Himmelsrichtung orientiert werden, sondern stets auch mit Bezug zum öffentlichen Freiraum. Es ist entscheidend, dass auch an lärmbelasteten oder nach Norden orientierten Fassaden nicht nur

129 Prozess 4: Lebensräume formen und Gestalt finden

Nebenräume, Bäder und Treppenhäuser das Gesicht des Hauses prägen. Auch dort sollten interaktive und repräsentative Räume des Grundrisses ihren Charakter im Äußeren der Fassade zeigen. Nur dann leistet das Haus seinen Beitrag im Ensemble zur Bildung der «guten Adresse» einer Nachbarschaft. Nur wenn das Gesicht eines Hauses seinen Beitrag zur «guten Adresse» leistet, bleibt diese erhalten, wird gepflegt und weiterentwickelt. Das hermetische Sockelgeschoss und der Ausdruck von serieller Anonymität erlauben keine Aneignung. Öffentlich und privat bleiben strikt getrennt. Wohnblock in Schliern, Köniz.

Eine poröse Fassade ist mehr als eine klimatische Grenze. Als Schnittstelle vermittelt sie zwischen Innen und Außen. Der innere Aufbau und die Wertigkeit des Gebäudes werden als Gesicht nach außen gezeigt. Gleichzeitig reagiert die Fassade auf Kräfte des Kontexts und formt als raumbildende Wand die Gestalt und Atmosphäre des Außenraums. Rathaus, Murcia, 1998; Rafael Moneo.

130 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Poröse Fassade trotz widriger Umstände: In der Siedlung Buchegg in Zürich gelingt es Duplex Architekten mit einer speziellen Grundrissdisposition, selbst an dieser nordseitig orientierten und lärmbelasteten Lage Haupträume der Wohnung zur Stadt hin zu öffnen. Der Kontrast zur hermetischen Fassade des Nachbargebäudes rechts könnte nicht größer sein.

131 Prozess 4: Lebensräume formen und Gestalt finden

132 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Schwellenräume Schwellenräume sind raumhaltige Grenzen. Als Puffer vermitteln sie zwischen privat und öffentlich, zwischen der Sphäre des Individuums und seiner Rolle in der Gesellschaft. Poröse, raumhaltige Fassaden mit Balkonen oder Terrassen als Schwellenräumen steuern die Interaktion zwischen Individuum und Gemeinschaft. Die Qualität einer Fassade zeigt sich in der bewusst gestalteten Durchdringung von Freiraum und Baukörper. Je mehrdeutiger und poröser die räumlichen Grenzen zwischen den beiden sind, desto stärker verschränken sie sich. «Dabei entscheiden im Wesentlichen die Reliefs von Fenstern und Türen über die gegenseitige Zugewandtheit von Innen- und Außenräumen. […] Wie ‹offen› sich ein Haus (und damit seine Bewohner) nach außen geben will, kann allerdings nicht nur über die Größe der Öffnungen entschieden werden. Es muss sich um andere Modelle des Zeigens und Verbergens, des Schweigens und des Sich-Äußerns handeln, die wohl immer neu zu entwickeln sind. […] Die gezielte Sichtbarmachung von Phänomenen des Privaten und des Öffentlichen durch die Wandmembran lässt sich möglicherweise als Hinweis auf eine gegenseitige Verantwortung des Einzelnen für das Allgemeine sowie der Gesellschaft für das Individuum In Schwellenräumen zwischen privat und öffentlich kann der Grad der Zugewandtheit zwischen Individuum und Gemeinschaft abgelesen werden. Auch Fensterlaibungen können als Schwellenräume angeeignet und so Ausdruck des Privaten im Öffentlichen werden. Junkerngasse, Bern.

133 Prozess 4: Lebensräume formen und Gestalt finden

interpretieren. Deshalb kann das Relief der ‹Gewände› zu einer neuen Sprache der Architektur und damit zu einer neuen Verständigungsform der Gesellschaft unserer Zeit werden.»74 Diese Haltung ist Ausdruck eines erweiterten Verständnisses von Kontextintegration. Sie ist Abbild der gegenseitigen Zugewandtheit zwischen den Menschen und ihrem Umfeld. In einer dichten Nachbarschaft muss ein Gleichgewicht gefunden werden zwischen nachbarschaftlichem Kontakt und sozialer Distanz. Dies wird erreicht durch drei Maßnahmen: klare Definition der Öffentlichkeitsgrade, präzise Gestaltung der Übergänge von einem Öffentlichkeitsgrad zum nächsten und Aneigenbarkeit der Schwellenräume.

Schwellenräume an der Grenze zwischen Innen und Außen ermöglichen gegenseitige Anteilnahme. Der Grad von Interaktion oder Rückzug kann entsprechend den persönlichen Vorlieben, der Tageszeit oder der Saison verändert werden. Flankierende Maßnahmen wie die teilbare Tür, unterschiedliche Brüstungshöhen, Vorhänge, Sitzbank und Witterungsschutz erweitern die Benutzbarkeit. Altersheim «De Overloop», Almere, Niederlande, 1984; Herman Hertzberger.

134 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

«Porosität schafft eine Abfolge von Schwellenräumen, die einen allmählichen Übergang von innen nach außen und umgekehrt bilden. […] Poröse Strukturen schaffen vielseitig interpretierbare und immer wieder von Neuem verhandelbare Grenz- und Übergangsräume, die situativ Regulationsmöglichkeiten von Rückzug und Interaktion bereitstellen. […] Die Freiheit der Wahl ist für das Gefühl der Kontrolle über die eigene Umgebung [und damit über den Grad von Privatheit] ganz wesentlich.»75 Privatheit beinhaltet den Anspruch, «Zugang zu Informationen, welche die eigene Person betreffen, zu kontrollieren, um die Hoheit über das Selbst und seine Inszenierung zu bewahren»76. «Maß und Zahl ihrer Öffnungen entscheiden auf einer städtebaulichen Ebene über die Verbindung des Einzelnen mit der Gemeinschaft. Auf der architektonischen Ebene bestimmen die Öffnungen des Gebäudes über dessen plastischen Charakter. Dabei kommt der Struktur der Wand eine neue (alte) Bedeutung zu, welche die veränderten Ideale der Moderne und ihrer Derivate in Vergessenheit geraten ließen: Das Relief der Wand drückt den Eindruck des Inne-Wohnenden wie ein Stempel in den öffentlichen Raum ein. […] Umgekehrt prägt sich der öffentliche Raum über das System von Wand, Rahmen und Fenster und weiteres Zubehör dem Innenraum und seinem Benutzer ein und wird so seinerseits zum Ausdruck des Öffentlichen im Privaten.»77 Interaktion findet vor allem in Schwellenräumen entlang von Fassaden statt, am Übergang zwischen Öffentlichkeitsgraden. Vorgärten und Vorzonen sind wichtige Orte der Aneignung und der Selbstdarstellung. Mittelstrasse, Bern.

135 Prozess 4: Lebensräume formen und Gestalt finden

Aneignung Aneignung bedeutet aktive Beanspruchung. Aneignung kann entstehen, wenn Menschen sich mit ihrem Umfeld identifizieren. Wenn Menschen ihren Raum aktiv beanspruchen dürfen und einen Teil zu seiner Gestaltung beitragen können, eignen sie ihn sich gleichzeitig an. Aneignung wird unterstützt durch Nutzungsoffenheit, Gestaltbarkeit und symbolische Offenheit.78 Es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen dem Grad der Involvierung der Bewohner:innen und ihrer Verankerung im Wohnquartier.79 Die Identifizierung der Bewohner:innen mit ihrem Umfeld macht eine Nachbarschaft resilienter. In Freiräumen, welche sie beeinflussen können, erleben sich die Menschen als bewirkende Akteur:innen, denn sie sehen sich in der Reaktion und im Spiegel der anderen. Wenn Akteur:innen die Bühne verändern, eignen sie sie sich gleichzeitig an.

Aneigenbare Schwellenräume ermöglichen es, dank individueller Gestaltung, das Private im Öffentlichen sichtbar zu machen. Freizeitgartenstrategie für den Kanton Basel-Stadt; Metron.

136 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Aneignung führt zu Identifikation. Identifikation in kollektiven Räumen befördert die soziale Vernetzung. «Stadträume haben keine Bedeutung an sich. Sie erfahren eine Bedeutung durch die alltäglichen wie außergewöhnlichen Riten der Aneignung. […] Der Stadtraum kann als Niederschrift sozialer Strukturen […] gelesen werden.»80 Die Aneigenbarkeit von Räumen wird unterstützt durch Nischen und Orte des Rückzugs. In solchen Ruheoasen mit Schatten, Witterungsschutz, Sitzgelegenheiten oder Wasser kann man unter sich sein oder ungestört ein Buch lesen. Wenn Schwellenräume individuell gestaltet werden können, sprechen wir von aneigenbaren Schwellenräumen. Durch ihre individuelle Gestaltbarkeit ermöglichen sie es, den Grad von Abgrenzung, Rückzug oder Interaktion zwischen öffentlich und privat entsprechend den persönlichen Vorlieben zu wählen. Darüber hinaus kann die Grenze zwischen öffentlich und privat im Verlauf des Tages oder der Jahreszeiten entsprechend den wechselnden Bedürfnissen verschoben werden.

Diese Freiraumgestaltung erlaubt Aneignung. Entsprechend fühlt sich jemand verantwortlich. Aneignung führt zu Identifikation. Identifikation befördert soziale Vernetzung. Kiosk Falafingo, Lorraine, Bern.

137 Prozess 4: Lebensräume formen und Gestalt finden

Aneigenbare Schwellenräume sind zentral für die Beziehung mit dem Kontext, weil sie den Übergang vom Individuum zur Nachbarschaft regeln. Aneigenbare Schwellenräume werden unterstützt durch die Plastizität und Porosität der Fassaden. Wenn Arkaden, Loggien, Terrassen, Balkone, Treppen und Laubengänge aneigenbar gestaltet werden, machen sie das Wohnen im Außenraum sichtbar, beispielsweise durch Möblierung, Bepflanzung oder Bemalung. Heute «gewinnt der Wunsch nach einer individuellen Regulierung von Rückzug und Interaktion zunehmend an Bedeutung – und damit auch die individuelle Gestaltung und Verschiebbarkeit von Grenzen und Schwellen. Voraussetzung hierfür ist ein Dazwischen als Möglichkeitsraum situativen Handelns.»81 Das Sichtbarmachen des Privaten im öffentlichen Raum, das Sehen und Gesehenwerden wird jedoch oft verunmöglicht durch die ungenügende Porosität der Bauten. Die Ursache dafür ist die Angst vor möglichen Konflikten und deren vorauseilende Vermeidung. Die Angst zeigt sich in massiven Balkonbrüstungen, hermetisch abgeschlossenen Treppenhäusern oder Mattgläsern in Badezimmern. Einmal so gebaut, lässt sich die Abschottung kaum mehr aufweichen. Deshalb ist es wichtig, der Porosität des Projekts vom Anfang des Entwurfsprozesses an gebührende Aufmerksamkeit zu schenken. Ein Fenster zwischen Treppenhaus und Küche, eine Wohnungstür mit Glas oder ein transparentes Fenster im Bad können zum Überdenken der eigenen Interaktionsmuster anregen. Voraussetzung zum Gelingen ist, dass die Interaktion jederzeit durch persönliche Gestaltungselemente wie Vorhänge oder Bepflanzungen individuell reguliert werden kann.

Große Vielfalt offener, aneigenbarer Schwellenräume um einen gemeinschaftlichen Freiraum. Genossenschaft Dreieck, Zürich; Albers+Cerliani.

138 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Außer in der visuellen Abschottung versteckt sich die angstgesteuerte Vermeidung von Konflikten noch in anderen Themenfeldern: Es stellt sich beispielsweise die Frage, ob die akustische Abschottung durch immer strengere Schallschutzvorschriften in den vergangenen Jahrzehnten letztlich eine gesellschaftszersetzende Kraft entwickelt hat. Befördern die akustisch voneinander abgeschotteten Wohnungen die Vereinsamung? Führen hermetische Lebensräume letztendlich zu einer Entsolidarisierung der Gesellschaft, weil eine gegenseitige Rücksichtnahme überflüssig wird? In Altbauten nimmt man ungefragt am akustischen Leben der Nachbarschaft Anteil. Vielleicht sollten wir unsere Häuser wieder poröser planen, sodass wir unsere Nachbar:innen nicht nur sehen, sondern auch hören und riechen können? Schwellenräume im Erdgeschoss können die Verbindung zwischen innen und außen mittels raumdefinierender Elemente (siehe Prozess 1) zusätzlich intensivieren. Portikus und Loggien markieren den Raumübergang, indem sie eine eigene Raumzone bilden. Ein Spezialfall sind begleitende lineare Elemente, welche

Poröse Fassaden mit aneigenbaren Schwellenräumen verbinden das private Innere mit den öffentlicheren Räumen der Nachbarschaft. Je raumhaltiger eine Fassade ist, umso mehr Schwellenräume enthält sie. Das ermöglicht eine differenzierte Abstufung von öffentlich zu privat, von der Gasse über Vorzonen bis zum Wohnungseingang. Sozialwohnungen Haarlemmer Houttuinen, Amsterdam, 1982; Herman Hertzberger.

139 Prozess 4: Lebensräume formen und Gestalt finden

die Bewegungsrichtung führen. Es entsteht ein sogenannter allmählicher Raumübergang. Dabei führt das begleitende Element durch den Raumübergang hindurch kontinuierlich vom einen Raum in den nächsten. Das Element kann eine begleitende Leitwand, eine schwebende Deckenplatte, eine abgehobene Bodenplatte, eine Rampe oder eine Treppe sein. Auch eine Reihe von Säulen, Stelen oder Beleuchtungskörpern kann von einem Raum in den nächsten führen. Kennzeichen eines allmählichen Überganges ist, dass er eine Raumzone bildet, in der man sich den beiden durch dieses Element verbundenen Räumen zugleich zugehörig fühlen kann. Leitwände in Schwellenräumen können die Bewegung führen. Eingang zum Museo di Castelvecchio in Verona, 1974; Carlo Scarpa.

140 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Leitwände können die räumliche Verbindung zwischen Innen und Außen intensivieren. Wohnhaus in Riggisberg, 1996; Büro B Architekten.

141 Prozess 4: Lebensräume formen und Gestalt finden

142 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Adaptierbarkeit Adaptierbarkeit meint flexible Anpassbarkeit an veränderte Anforderungen. Sie entsteht, wenn Spielräume für die Zukunft offengelassen, wenn Wandel und Unvorhergesehenes als Teil des Prozesses verstanden werden. Damit Siedlungsstrukturen oder Gebäude über möglichst lange Zeit benutzbar bleiben, müssen sie eine einfache und robuste Struktur haben, welche Umnutzung, Umdeutung und Umbau ermöglicht.82 «Transformierbarkeit und Reversibilität sind Eigenschaften, mit denen sich Entwerfende schon während der Entwicklungsphase eines Hauses, einer öffentlichen Anlage oder eines Quartiers auseinandersetzen sollten. […] Ein sehr wichtiger Aspekt liegt auch darin, dass bestehende Elemente in einen Transformationsprozess einbezogen werden und keine Strategie der ‹tabula rasa› verfolgt wird.»83 In Zeiten großer Veränderungen braucht es prozessorientierte, synergetische, lernfähige und anpassbare Strukturen. Lebensmodelle mit reduzierter oder eingeschränkter Mobilität brauchen hybride Typologien, die Wohnen, Arbeiten und Kleingewerbe als wählbare Optionen verbinden. Auf diese Weise kann die Alltagstauglichkeit unserer Siedlungen für eine ungewisse Zukunft erhöht werden.

Adaptierbare und robuste Strukturen ermöglichen Umnutzung, Umdeutung und Umbau. Dadurch bleiben Gebäude über eine lange Zeit benutzbar. Cité manifeste, Mulhouse, 2005; Lacaton & Vassal.

143 Prozess 4: Lebensräume formen und Gestalt finden

Eine besondere Form von Adaptierbarkeit ist die temporäre Nutzung von Räumen. Sie ist eine Antwort auf die Forderung nach suffizienten Wohn- und Arbeitsformen. In einer suffizienten Gesellschaft wird vermehrt nicht Besitz, sondern Verfügbarkeit von Räumen nachgefragt. Es braucht nicht mehr Platz, sondern ein Angebot von flexibel nutzbaren, gemeinschaftlich genutzten Freiräumen, die geteilt werden können. Die Bedürfnisse werden in Zukunft volatiler und breiter werden. Temporäre Nutzungen und gemeinschaftlich genutzte Räume brauchen deshalb einfache Strukturen, die umnutzbar, umdeutbar und auch umbaubar sind. Eine weitere Form von Adaptierbarkeit sind Zwischennutzungen. Sie können eine Lücke füllen an Orten, wo Stadtplanung und Immobilienmarkt zu langsam sind. Oft sind es gerade die Zwischennutzungen, die auf das Potenzial eines Areals aufmerksam machen und neue Nachbarschaften generieren. Die urbanen Pioniere, die sich diese Räume aneignen, sind quasi Seismografen der sich wandelnden gesellschaftlichen Verhältnisse. «Die Jungen engagieren sich heute mehr projektbezogen als lebenszeitlich. Insofern ist die Stadtgesellschaft so aktiv wie nie. Aber es müssen nun Formate und Formen geschaffen werden, die diese breite Beteiligung abbilden und die verschiedenen Individuen und Gruppen erst in Dialog bringen können. Nur so werden die Städte auch lebendig.»84

Gemeinschaftlich genutzte Räume brauchen einfache, adaptierbare Strukturen. Common Desk in Dallas, Texas.

144 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Für die Entstehung von Zwischennutzungen braucht es Nischen, Brachen und Schwellenräume, welche von den Benutzenden besetzt, markiert, möbliert und damit angeeignet werden können. Zwischennutzungen entstehen bottom-up durch engagierte Menschen. Ihre aktive Teilnahme an der Produktion der Stadt fördert das Gemeinwesen und die Identifikation der Menschen mit dem Ort. Ein ehemaliger Unort wird durch die öffentliche Aufmerksamkeit plötzlich zur attraktiven Adresse. Und das wiederum treibt den Bodenpreis nach oben. Es ist deshalb wichtig, Zwischennutzungen in die Weiterentwicklung eines Areals zu integrieren. Denn es sind die vielfältigen, vernetzten und publikumsorientierten Zwischennutzungen, welche die urbane, lebendige Stimmung erzeugen, die man in herkömmlichen Neubauarealen meist schmerzlich vermisst. Weil Räume und ihre Programmierung unseren Alltag formen, können neue räumliche Situationen und neue Angebote für die Bewohner:innen und ihre Lebensführung neue Perspektiven und neue Bedeutungen entstehen lassen. Das kann dem Ort und seinen Gebäuden eine robuste Identität und einen starken Charakter verleihen.

Die Adaptierung von Brachen und Unorten für Zwischennutzungen kann neue Nachbarschaften mit urbaner Atmosphäre generieren. Diese sollten in die weitere Transformation des Areals integriert werden. Frau Gerolds Garten, Zürich.

145 Prozess 4: Lebensräume formen und Gestalt finden

4.2

Mehrdeutigkeit als Abbild von Komplexität

Eindeutigkeit ist absolut. Mehrdeutigkeit ist pluralistisch. Eindeutigkeit lässt nur eine Interpretation zu und verweigert Ausnahmen. Alles muss sich der großen, überwältigenden Idee unterordnen. Mehrdeutigkeit entsteht, wenn eine Struktur oder Form auf verschiedene Weise interpretiert werden kann. Für den aktuellen städtebaulichen Diskurs in unserer pluralistischen Gesellschaft erscheinen mehrdeutige Gestaltungsprinzipien angemessener.

Eindeutigkeit als Manifestation absoluter Macht: In der barocken Planstadt Karlsruhe dominiert der Machtanspruch des absoluten Herrschers den Stadtgrundriss.

146 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Der Begriff der Transparenz im übertragenen Sinn wird in der Gestalttheorie zur Vermeidung von Eindeutigkeit, Ausschließlichkeit und Absolutheit verwendet. Das Phänomen der Transparenz findet sich da, wo Figuren und Formen sich teilweise überlagern oder gegenseitig durchdringen, ohne dass eine von ihnen dominiert oder die anderen Figuren optisch zerstört.85 Das heißt, dass sie mit einem Maß an Durchsichtigkeit ausgestattet werden, welches es ermöglicht, dass die anderen Figuren immer noch erkennbar bleiben.

Transparenz im wörtlichen Sinn: Glasfassade an einem Wohnhaus in Bern, 2002; Büro B Architekten.

147 Prozess 4: Lebensräume formen und Gestalt finden

Transparenz im übertragenen Sinn: Durch die Akkumulation kleinerer und größerer Formen in überlagerten Ebenen bietet Juan Gris in seinem «Portrait de Madame Josette Gris» von 1916 zahlreiche Möglichkeiten alternativer Lesarten an. Das Bild wird dadurch mehrdeutig und reich an Bedeutungen.

148 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

In der Architektur entsteht Transparenz im übertragenen Sinn, wenn es in einem Raum oder an einer Fassade Stellen gibt, welche zwei oder mehreren Bezugssystemen gleichzeitig zugeordnet werden können. Die Beziehung der Elemente zueinander ist also mehrdeutig. Wichtig dabei ist, dass «die Zuordnung unbestimmt und die Wahl einer jeweiligen Zuordnungsmöglichkeit frei bleibt»86. Für die Wahrnehmung von Transparenz in der Grundrissgestaltung braucht es die Überlagerung mehrerer Raumzonen, die simultan erlebt werden können. In der Grundrissgestaltung wird Transparenz oft auch durch zueinander verdrehte, in sich orthogonale Ordnungssysteme erreicht. Wenn sich die beiden Ordnungssysteme nicht nur berühren, das heißt aneinanderstoßen, sondern sich durchdringen und überlagern, entstehen Stellen mit transparenter Raumorganisation. Das sind mehrdeutige Stellen, an denen beide Ordnungssysteme gleichzeitig erlebt werden können. Je nachdem, welchen Weg man wählt, betritt man das eine oder andere System der geometrischen Ordnung. Robert Venturi formuliert sein Bedürfnis nach Mehrdeutigkeit wie folgt: «I am for richness of meaning rather than clarity of meaning; for the implicit function as well as the explicit function. I prefer ‹both-and› to ‹either-or›, black and white, and sometimes gray, to black or white. A valid architecture evokes many levels of meaning and combinations of focus: its space and its elements become readable and workable in several ways at once.»87

Beispiel einer mehrdeutigen Lesart des Raumes mit zwei zueinander um 45 Grad verdrehten Ordnungssystemen: An der im Schema-Grundriss mit einem Punkt markierten Stelle können beide Systeme gleichzeitig erlebt werden. Taliesin West, 1937; Frank Lloyd Wright.

149 Prozess 4: Lebensräume formen und Gestalt finden

Beispiel einer mehrdeutigen Lesart des Raumes mit zwei nur minimal zueinander verdrehten Ordnungssystemen: einerseits den Ausstellungsräumen (Bezug zur bestehenden Villa), andererseits dem Zirkulationssystem mit Rampen und Korridoren (Bezug zum Park). Durch die virtuose Bewegungsführung in Grundriss und Schnitt können beide Systeme gleichzeitig erlebt werden. Museum für Kunsthandwerk, Frankfurt am Main, 1980; Richard Meier.

Der zielgerichtete Längsraum überlagert sich mit den quer gelegten Raumschichten der Seitenaltäre. An den Kreuzungspunkten entstehen mehrdeutige Lesarten des Raumes. Sant’Andrea, Mantua, 1472; Leon Battista Alberti.

Die mehrdeutige Lesart des Grundrisses enthüllt vielfache räumliche Beziehungen und Zusammenhänge. Boissonnas House, Cap Bénat, Frankreich, 1956; Philip Johnson.

150 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

In der Fassadengestaltung kann Transparenz im übertragenen Sinn durch Vermeidung absoluter Symmetrie erreicht werden. Die Fassade wird mittels einer Reihe klar identifizierbarer und voneinander abgrenzbarer Lokalsymmetrien gegliedert. Diese lassen sich zu immer neuen Lesarten kombinieren und zu komplexen neuen Teilordnungen der Fassade zusammenfügen. Die Komplexität und Reichhaltigkeit einer derart gestalteten Fassade erschließen dem:der Betrachter:in stets neue Sichtweisen. Durch die Reichhaltigkeit und Mehrdeutigkeit bleibt die Fassade interessant. «Symmetrie als Ordnungsmittel ist ausschließlich, unterordnend und absolut; Transparenz als Ordnungsmittel relativiert und erschließt Serien von Zuordnungsmöglichkeiten.»88 Im Schnitt erzeugt die Verbindung von zwei Geschossen durch ein Luftvolumen nicht nur mehrdeutige Raumbeziehungen, sondern bewirkt auch eine optische Vergrößerung der Räume.

151 Prozess 4: Lebensräume formen und Gestalt finden

Mehrdeutige Lesart einer Fassade durch Lokalsymmetrien. Ca’ d’Oro, Venedig, 1442.

Mehrdeutige Raumbeziehungen im Schnitt erzeugen optische Großzügigkeit. Villa in Karthago, 1928; Le Corbusier.

152 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

4.3

Urbane Transformation meint Weiterbauen

Beim integralen Planen und Entwerfen gibt es kein Projekt ohne Kontext. Mit Kontext ist die Gesamtheit der umgebenden Lebenswelten gemeint: Beim integralen Entwerfen unterscheiden wir vier Aspekte der Kontextintegration, die sich gegenseitig ergänzen: räumliche, strukturelle, programmatische und formale Kontextintegration. Bei der Transformation einer Nachbarschaft steht die Verflechtung von Gebäude, Nutzung und Freiraum im Fokus der Entwurfsarbeit. Dabei geht es um die Vernetzung und Verflechtung zwischen privaten, öffentlichen, gebauten und sozialen Strukturen. Gemeint ist damit die Anschlussfähigkeit des Entwurfs an den baulichen und gesellschaftlichen Kontext, an die Nachbargebäude, an das Andere, das Einordnen und Einreihen in das architektonische Ensemble. Integrales Planen und Entwerfen befördert das Gelingen einer Nachbarschaft durch eine Haltung des Respekts gegenüber dem Vorhandenen und der Solidarisierung mit bestehenden Lebenswelten. Kontextintegration erkennt das, was da ist, als Fundament dessen, was werden kann. Der Bestand, die vorhandenen räumlichen und sozialen Spuren, all das zusammen bildet den Kontext, das Gedächtnis und die Erinnerungen des Ortes. Ob wir es wollen oder nicht: Sie sind Bestandteil jeder Entwicklung und überlagern sich mit der neuen Geschichte und mit dem neuen Entwurf. Für die Bildung eines Ensembles ist der präzise Umgang mit dem Bestand von entscheidender Bedeutung. Im Dialog mit bestehenden Bauten liegt eine große Chance zur Verortung der neuen Interventionen, zur Verankerung der neuen Lebensräume in der Geschichte des Ortes und damit zum Weiterweben am «tissu urbain». Im Folgenden werden drei verschiedene Strategien des Weiterbauens vorgestellt. Die Wahl der Strategie sollte nicht primär von persönlichen Vorlieben abhängig gemacht werden, sondern von den qualitativen Eigenschaften des Kontexts und der bestehenden Bauten im Ensemble.

153 Prozess 4: Lebensräume formen und Gestalt finden

Weiterweben am «tissu urbain» mit hybrider Typologie: Die an den Ecken aufgebrochene Blockrandfigur des Neubaus verbindet Eigenschaften eines Blockrandes mit denjenigen von Zeilenbauten, was die Integration in den heterogenen Kontext aus Blockrändern, Zeilenbauten, Einzelbauten und Mischformen verbessert. Die Ensemblewirkung wird zusätzlich unterstützt durch die Proportionierung und Materialisierung der Fassaden sowie durch die Programmierung mit Läden im Erdgeschoss und Wohnen in den Obergeschossen. Neubau am Breitenrainplatz, Bern, 2019; Büro B Architekten.

154 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Die analytische gestalterische Strategie Die analytische gestalterische Strategie ist ein Kind der klassischen Moderne. Sie sucht eine klare Ablesbarkeit von Alt und Neu, um die zeitliche Abfolge der baulichen Maßnahmen abbilden zu können. Ziel ist die größtmögliche historische Authentizität und Integrität aller Teile eines Ensembles. Dafür muss der Bestand oft von späteren baulichen Maßnahmen befreit und in einen historisch belegten Zustand zurückgebaut werden. Bis vor kurzem galt die analytische gestalterische Strategie mit ihrem formalen Kontrast zum Bestand als die einzig ehrliche und denkmalpflegerisch vertretbare Haltung. Sie setzt jedoch einen Konsens darüber voraus, was eine der aktuellen Zeit entsprechende korrekte gestalterische Haltung sei. Unter dem Einfluss der klassischen Moderne gab es dafür klare Antworten. In einer pluralistischen Epoche wie heute kann diese Frage jedoch nicht mehr eindeutig beantwortet werden.

Formaler Kontrast zum Bestand für größtmögliche historische Authentizität: Erweiterung des Gemeindehauses Köniz, 2004; Cornelius Morscher, Joachim Bolliger.

155 Prozess 4: Lebensräume formen und Gestalt finden

Die synthetische gestalterische Strategie Vor der klassischen Moderne war die synthetische gestalterische Strategie der Normalfall. Synthetisch meint auf Synthese beruhend, zu einer Einheit zusammenfügend, verknüpfend. Oft wurden Ensembles über Jahrhunderte immer wieder erweitert und verändert, ohne die neuen baulichen Maßnahmen von den alten grundsätzlich zu unterscheiden. Die Ablesbarkeit von Bauetappen, von Neu und Alt, war kein Thema. Wichtiger war das große Ganze. Weil sich jede Maßnahme dem Bestand unterordnete, entstanden auf diese Weise Gebäudeensembles mit oft beeindruckender Kraft und Identität. Die synthetische gestalterische Strategie geriet nach dem Ersten Weltkrieg in Verruf. Die Alte Welt, welche den Ersten Weltkrieg heraufbeschworen hatte, war zusammengebrochen. Die Schmerzen der Katastrophe verlangten nach einem Aufbruch, einem Neuanfang. «Um- oder Weiterbauen empfanden (die modern gesinnten Architekt:innen) nicht nur als kraft- und mutlos, als vertane Chance eines radikalen Neuanfangs, sondern gar als Verrat am umfassenden Neuauftrag. […] Als einzig ‹ehrlicher› Weg, auf das Alte zu reagieren, blieb damit der Kontrast übrig.»89 Ein Weiterbauen schien nicht mehr möglich.

Synthetisches Weiterweben am größeren Ganzen: Die Transformation des Kongresshauses Zürich von Haefeli Moser Steiger (1939) ist ein Musterbeispiel für die synthetische gestalterische Strategie. Mit großem Respekt vor dem Bestand wurde instand gesetzt, rekonstruiert und ergänzt. Weil sich jede Maßnahme dem Bestand unterordnet, entstand ein Gebäudeensemble mit beeindruckender Kraft und Identität. Boesch und Diener, 2021.

156 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Erst die Jahrtausendwende brachte eine Rückbesinnung auf die Qualitäten der synthetischen gestalterischen Strategie. «Die Haltung, die das Alte zugunsten seiner Integrität isoliert, ist genauso ein Kind der Moderne wie das Neue Bauen mit seiner Innovationswut. Gefragt wird hier nach Gelassenheit im Umgang mit historischer Substanz, nach differenzierteren und zugleich versöhnlicheren Betrachtungsweisen, bei denen aus dem Kontext heraus entschieden wird, ob der Schönheit des Wahren oder der Wahrheit des Schönen der Vorzug zu geben ist. […] Baudenkmale sind niemals banal. Sie können mehr sein als wertvolle Relikte aus einer entschwundenen Zeit. Wenn wir uns ihnen als vollwertigen, wenn auch zunehmend fremdartigen Zeitgenossen nähern, dann stehen wir beim Weiterbauen jedes Mal vor der Abwägung zwischen Distanz oder Annäherung, zwischen Betonung ihrer Fremdheit (Kontrast) oder Einbeziehung in die Welt des Vertrauten (Kontinuität).»90 Bei der synthetischen gestalterischen Strategie verhalten sich die neuen Bauteile und gestalterischen Elemente mimetisch zum Bestand. Mimesis bedeutet das Prinzip der Nachahmung. Mimesis bedeutet ähnlich und doch anders. Wäre die Ähnlichkeit absolut, würden wir von Gleichheit sprechen. Mimesis wird mit verschiedenen Techniken erreicht: Zitat, Collage, Montage, Mimikry, Übertragung und Rekonstruktion. Mit diesen Techniken erzeugt die Mimesis eine Synthese mit dem Bestand und ermöglicht gleichzeitig Differenzierung. Die Mimesis erfreut sich in letzter Zeit größerer Beachtung im architektonischen Diskurs. Dies ist durchaus im Sinne des integralen Entwerfens, denn das Ziel der synthetischen gestalterischen Strategie ist das Weiterweben an einem größeren Ganzen.

157 Prozess 4: Lebensräume formen und Gestalt finden

Synthetisches Weiterweben am größeren Ganzen: Die Mimesis des Neuen ist ähnlich wie der Bestand und doch anders. So fügt sich das Neue in den formalen Kontext. Das eingefügte Volumen respektiert den Maßstab und die Maßstäblichkeit des Straßenzugs und des architektonischen Kontexts. Materialität, Proportionen und Symmetrie vermitteln zu den umgebenden Bauten. Wohnhaus in New York, 2021; David Chipperfield.

158 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

In den folgenden Beispielen wird mittels der synthetischen gestalterischen Strategie ein ursprünglich größeres Ganzes wiederhergestellt. In der differenzierten Mimesis bildet sich die tragische Geschichte ab: Das Neue ergänzt den im Zweiten Weltkrieg teilweise zerstörten Bestand. Die Gesamtanlage wird wieder aufgebaut, ohne sie als Imitation lediglich zu rekonstruieren, als wäre nichts gewesen. Die wiederaufgebauten Teile des Neuen Museums in Berlin (weiße Teile im Modell) ergänzen die Gesamtanlage zu einer neuen Synthese. Sie übernehmen gestalterische Eigenschaften des Altbaus, ohne ihn zu imitieren. David Chipperfield, 2009.

Der wiederaufgebaute Teil der Fassade des Museums für Naturkunde in Berlin besteht aus Beton. Für die Schalung wurden Silikonabdrücke der originalen Fassaden genommen. Das Neue setzt sich durch den grauen Beton von der erhaltenen Bausubstanz ab. Das Relief aus Beton zeigt die Gestalt der früheren Fassade, ohne sie wörtlich zu rekonstruieren. Diener & Diener Architekten, 2010.

159 Prozess 4: Lebensräume formen und Gestalt finden

Mittels der synthetischen gestalterischen Strategie kann ein Bestand an neue Bedürfnisse angepasst werden, ohne das große Ganze aus den Augen zu verlieren. Alt und Neu lassen sich in dieser Strategie manchmal kaum unterscheiden.

Die Erweiterung des Gotthard-Hospizes vereint die früher getrennt wahrgenommenen Gebäudeteile zu einer Synthese unter einem großen Dach. In den Dachgauben zeigt sich die neue Nutzung. Die südseitige Fassade wurde um ein Geschoss erhöht, womit die mächtige Fassade Richtung Süden in ihrer Bedeutung gestärkt wird. Miller & Maranta, 2008.

160 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Am Scheibenhaus im Tscharnergut in Bern wurden drei Meter in synthetischer gestalterischer Strategie angebaut, ohne den Ausdruck zu verändern. Die neue Schicht zeigt sich lediglich im leicht differenzierten Verputz auf der Stirnfassade (oben). Matti Ragaz Hitz Architekten, Rolf Mühlethaler, 2015.

161 Prozess 4: Lebensräume formen und Gestalt finden

Die Collage als gestalterische Strategie Die Collage als gestalterische Strategie fügt überschaubare, mehr oder weniger klar gegeneinander abgegrenzte formale Fragmente zu einem neuen Ganzen. Alt und Neu ergänzen sich. Die dabei entstehenden Mehrdeutigkeiten und ambivalenten Schwebezustände verleihen der Architektur-Collage ihre ganz eigene Identität. Die Collage ist eine Mischung zwischen analytischer und synthetischer gestalterischer Strategie. Das Ziel der collagierenden gestalterischen Strategie ist zweifach: Auf der einen Seite werden die historische Authentizität und Ablesbarkeit gesucht, indem der Bestand in seiner Fragmentierung, Unvollkommenheit oder sogar Beschädigung weitgehend unverändert belassen wird. Das Zeigen der Geschichte und der damit verbundenen Patina verleiht der Komposition Kraft und Legitimität. Gleichzeitig wird beim Fügen der Fragmente auch das «neue große Ganze» gesucht. Ein Ganzes, das die vielschichtige Atmosphäre und gestalterische Kraft eines komplexen, am Ort gewachsenen Gefüges von Formen und Bedeutungen hat (siehe auch Kapitel «Mehrdeutigkeit als Abbild von Komplexität» in Prozess 4).

162 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens Der Neubau ergänzt das im Zweiten Weltkrieg teilweise zerstörte Geviert. Die Materialisierung mit Abbruchziegeln und kalkfarbenen Mörtelschlämmen zeigt die zeitlose Dialogfähigkeit des Materials im historischen Kontext. Galerie am Kupfergraben, Berlin, 2007; David Chipperfield.

Alt und Neu fügen sich zu etwas Neuem. Die einzelnen Fragmente sind additiv und ablesbar. Wohnhaus in Vevey, 2019; Rapin Saiz Architectes.

Bestand und Erweiterung verschmelzen zu einem Organismus. Zentrale Gestaltungsmittel sind die Art des Fügens und die Identität der Einzelteile. ­Erweiterung eines Einfamilienhauses in Aachen, 2011; AMUNT.

Die Collage erlaubt mehrdeutige Lesarten. Erweiterung einer Werkstatt zu einem Wohnhaus in Bern, 1994; Büro B Architekten.

Eine Collage ermöglicht komplexe Gefüge. Erweiterung eines Einfamilienhauses in Bergisch Gladbach, 2012; Bachmann Badie Architekten.

163 Prozess 4: Lebensräume formen und Gestalt finden

4.4

Schönheit ist zukunftsfähig

Hartnäckig entzieht sich der Begriff Schönheit quantitativem Erfassen. In Fachdiskussionen wurde deshalb in den letzten Jahrzehnten meist ein großer Bogen darum gemacht, sodass ihn bald eine Aura des Unseriösen umgab, den nur noch Laien ohne Gesichtsverlust einfordern konnten. Dabei war Schönheit in Zeiten vor der klassischen Moderne des 20. Jahrhunderts das wohl meistdiskutierte Ziel eines jeden architektonischen Entwurfs. Jedenfalls finden sich die Maximen aus Vitruvs Regelwerk, «firmitas», «utilitas» und «venustas», zu Deutsch Festigkeit, Nützlichkeit und Schönheit, in zahlreichen Bauakten des mächtigen Stadtstaats Bern als «währschafft», «nutzlich» und «schön» wieder.91 Die Relativität des Begriffs wurde schmerzhaft sichtbar, als im Namen des Schönheitsideals der klassischen Moderne zahllose historisch wertvolle Bauten entweder von Zierrat gesäubert und «begradigt» oder durch meist wenig ortsspezifische, seriell gestaltete Neubauten ersetzt wurden.

Veränderte ästhetische Werthaltungen als Treiber von Transformationsprozessen: Die prächtige Fassade des Hotels Victoria-Jungfrau in Interlaken wurde Mitte des 20. Jahrhunderts gesäubert und begradigt. Bild links um 1900, Bild rechts 2019.

Werthaltung und Schönheitsideal von 1965 führten zum Abbruch eines historischen Eckhauses im Berner Kirchenfeldquartier.

164 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Heute gesteht die Fachwelt den Begriffen Schönheit und Baukultur wieder den ihnen gebührenden Platz in der Architekturdebatte zu. Die Kulturminister:innen Europas bezeichnen in ihrer Erklärung von Davos Schönheit als eines von acht Kriterien für eine hohe Baukultur.92 Schönheit ist, zusammen mit Nachhaltigkeit und Inklusion, auch einer der Werte, mit denen das «Neue Europäische Bauhaus» den Wandel unserer Gesellschaften steuern will.93 Die Stiftung Baukultur Schweiz erklärt im Vorwort zu ihren «Fünf Thesen»: «Die qualitative Entwicklung und Erhaltung einer gebauten Umwelt ist nicht einfach eine Dienstleistung, sondern eine vollwertige kulturelle Tätigkeit, die als gleichwertig mit anderen kulturellen Aktivitäten angesehen werden muss.»94 Schönheit kann sich aber nur entfalten, wenn Bauten über längere Zeit bestehen können. Voraussetzung dazu ist eine einfache, robuste Grundstruktur, die sich an veränderte Nutzungsbedürfnisse anpassen lässt. Darüber hinaus muss ein Gebäude bei den Menschen eine positive emotionale Reaktion auslösen. Das heißt, es muss von ihnen gelesen und verstanden werden können. Der Code, welcher das Lesen und Verstehen ermöglicht, heißt Konvention. Dietmar Eberle formuliert es so: «Konvention ist der Maßstab der Schönheit. Ich sage nicht: Konvention ist Schönheit.»95 Während Jahrhunderten galt in Europa ein klares Schönheitsideal: Schön war alles, was seine Wurzeln im klassischen Griechenland hat, das heißt symmetrische, regelmäßige Fassaden mit Säulen oder Pilastern. Konvention, nicht Originalität war der Maßstab. Regionale Besonderheiten wurden dabei oft überformt und zu neuen Synthesen verarbeitet. Im Rahmen der industriellen Revolution wurde ein neuer Schönheitsbegriff geboren: die Ingenieurästhetik, die Fähigkeit, Unmögliches möglich zu machen. Zwar schlug den neuen Türmen, Brücken und Maschinen anfänglich ein rauer Wind ästhetischer Ablehnung entgegen. So musste der Eiffelturm mit den statisch völlig unnötigen Zierbögen zwischen den Pylonen ergänzt werden, um der Konvention als Eingangsportal für die Weltausstellung 1889 gerecht zu werden. Auch mussten die mehrheitlich als Stahlskelettbauten konstruierten ersten Hochhäuser in Chicago anfänglich mit Terracottaplatten verkleidet werden, um Akzeptanz zu finden.

165 Prozess 4: Lebensräume formen und Gestalt finden

Doch nachdem Le Corbusier 1921 den werbewirksamen Begriff «Wohnmaschine» geprägt hatte, fand die Ingenieurästhetik allmählich Eingang in den Alltag. «Wir sind allerdings gewohnt, die Maschine als etwas Menschenfeindliches zu betrachten. In Wirklichkeit aber ist sie eine wahre Freundin des Menschen: Sie nimmt ihm Arbeit ab. Des modernen Architekten Sehnsucht ist es tatsächlich, Wohnmaschinen herzustellen! Häuser, in denen sich die menschliche Funktion des Wohnens ebenso ökonomisch, zweckmäßig, energiesparend, reibungslos, natürlich abwickelt, wie in der Dampflokomotive die technische Funktion der Umsetzung von Wärme in Zugkraft.»96 «Einem von Ingenieuren entwickelten Ethos gehorchend behauptet die Moderne, die definitive Antwort auf die Frage nach der Schönheit in der Architektur gefunden zu haben: Ein Haus muss nicht schön, sondern zweckmäßig sein.»97 Nach dem Zusammenbruch des allgemeingültigen Schönheitsideals der griechischen Klassik war dies eine gegen alle Stildiskussionen gefeite Haltung. Doch es gibt keine nichtnarrative Architektur. Auch die scheinbar rationalistischen Maschinenmetaphern der klassischen Moderne waren narrative Bauten. Sie erzählten von einer besseren Zukunft, von Werten wie Gleichheit und Demokratie. Wenn wir heute über Schönheit nachdenken, meinen wir damit vor allem die emotionale Berührung der Betrachter:innen. Architektur soll zu uns sprechen. Doch wovon? Von Zukunft, Geschichte, Demokratie, Offenheit, Gastfreundschaft, Vielfalt oder Klarheit? In pluralistischen Zeiten großer Diversität der Lebensmodelle und zunehmender Individualisierung der Gesellschaft lässt sich diese Frage nicht mehr auf Stile oder ästhetische Ismen reduzieren. Ähnlich wie beim Leitbild in Prozess 3 sollten wir deshalb von der Diskussion über Form und Gestalt zu einer Diskussion über Werte kommen. Weil Gebäude zu uns sprechen, erzählen sie auch von den ihrer Geburt zugrunde liegenden Werten, ob wir es wollen oder nicht. «Was wir in einem Werk der Architektur suchen, unterscheidet sich letztlich […] nicht sonderlich von dem, was wir in einem Freund suchen. Die Dinge, die wir schön nennen, sind Spielarten der Menschen, die wir lieben. […] Unsere Fähigkeit, in Gestalten, Texturen und Farben Parallelen zum Menschlichen auszumachen, ist derart ausgeprägt, dass wir selbst den simpelsten Formen einen Charakter zu unterlegen vermögen.»98 «Als wahrhaft schön lässt sich definieren, was ausreichend innere Qualität besitzt, um unseren positiven wie negativen Projektionen zu widerstehen. Ein solches Objekt verkörpert das Schöne, statt uns einfach nur daran zu erinnern, […] weshalb es uns selbst dann noch etwas sagen kann, wenn sein ursprüngliches Publikum längst verschwunden ist.»99

166 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

Der Schönheitsbegriff wird zukunftsfähig, wenn wir die den baulichen Strukturen zugrunde liegenden Werte in den Fokus rücken. Wir finden Gebäude schön, wenn sie Assoziationen wecken zu Werten, welche wir in unserem eigenen Leben positiv konnotiert haben. Im Rahmen des integralen Planens und Entwerfens sollten wir darüber hinaus aber auch transpersonale Werte des gesellschaftlichen Tragwerks in die Diskussion miteinbeziehen. Langfristig gesehen ist diese Form von Schönheit ökonomisch, weil sie nicht einzelne Parameter optimiert, sondern das Gesamtsystem der Mitwelt im Blick hat, mit all den räumlichen und funktionalen Ausprägungen der Haltungen und Wertmaßstäbe der ansässigen Menschen. Integrales Planen und Entwerfen sichert auf diese Weise Akzeptanz und langfristige Gültigkeit. So kann sich ein Gebäude im kollektiven Gedächtnis einprägen und eine eigene Identität entwickeln. Wenn Menschen ein Gebäude wertschätzen und als schön empfinden, werden sie es lange benützen und Sorge dafür tragen.

167 Übersicht Prozess 4

Übersicht Prozess 4 Ziel: Integraler Entwurf zukunftsfähiger Lebensräume — Integrieren des Bestandes als Ressource mit kulturellem, gestalterischem, ökologischem, ökonomischem, strukturellem, emotionalem und sozialem Wert. — Durchbilden der Raumkörper und Baukörper in verschiedenen Dimensionen und Maßstäben mit Bezug zum Kontext. — Befördern einer integrativen Ensembleleistung für die Gemeinschaft der Menschen durch stetes Pendeln zwischen objektiver und subjektiver Ebene. Schritt 1: Rolle und Wirkung im Kontext klären — Aus dem Leitbild in Prozess 3 eine klare Vorstellung der zukünftigen Rolle und Wirkung des Projekts in seinem Kontext entwickeln. Gestaltungsabsichten formulieren, welche dieser Rolle und Wirkung entsprechen. — Porosität des Siedlungsgewebes mit Bezügen zu benachbarten Bauten und Freiräumen sicherstellen, um Zugänglichkeit und Interaktion zu befördern. Freiräume im Projektperimeter mit den Freiraumsequenzen der Nachbarschaft koordinieren und vernetzen. Raumsequenzen gestalten. — Transdisziplinäre Erkenntnisse integrieren. Den Entwicklungsprozess nachvollziehbar dokumentieren. Mehrwerte aufzeigen. Schritt 2: Strukturelle, räumliche und atmosphärische Qualitäten entwerfen — Die Gestaltungsabsichten in der Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen, gestalterischen, räumlichen und atmosphärischen Wesensmerkmalen und Eigenarten des Kontexts zu einem ortsspezifischen Entwurf weiterentwickeln. — Durch kleinteilige Parzellierung eine möglichst große Vielfalt von Gebäudetypologien und Eigentumsverhältnissen

168 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens









ermöglichen, um Diversität (und damit die Resilienz der Nachbarschaft) durch die Anwesenheit unterschiedlicher Nutzungen, Nutzergruppen und sozialer Milieus zu befördern. Freiräume mit einer einfachen und nutzungsoffenen Grundstruktur entwerfen, in denen verschiedene Nutzergruppen und soziale Milieus friedlich und sinnstiftend interagieren können. Dadurch werden Orte nicht nur räumlich, sondern auch atmosphärisch dicht. Bauten mit einer einfachen, robusten und adaptierbaren Grundstruktur entwerfen, um sicherzustellen, dass sich die Räume über eine möglichst lange Zeit an veränderte Bedürfnisse anpassen lassen. Nur Gebäude, die einen langen Bestand haben, können eine robuste Identität und einen starken Charakter entwickeln. Poröse Fassaden mit Schwellenräumen für differenzierte Arten der Verknüpfung zwischen privatem Innenraum und öffentlichem Außenraum entwerfen. Die individuelle Gestaltbarkeit der Schwellenräume ermöglichen, sodass der Grad der Abgrenzung oder der Interaktion zwischen öffentlich und privat entsprechend den persönlichen Vorlieben, der Tages- oder der Jahreszeit verändert werden kann. Einen Dialog mit bestehenden Bauten und Nutzungen herstellen, um die neuen Interventionen in der Geschichte des Ortes zu verankern und im Siedlungsgewebe zu verorten. Partizipation der Akteur:innen ermöglichen, um Identifikation und Quartierbezug (und damit die Langlebigkeit der Nachbarschaft) zu unterstützen.

169 Übersicht Prozess 4

Themenfelder — Interpretation des Genius Loci: Bezug zum atmosphärischen Feld des Ortes, zur bildhaften Ortserinnerung, zu Geschichte, zu Topografie, zu Formen, Oberflächen, Gerüchen und Geräuschen. Innovative Verknüpfung von Spannungsfeldern zu einem Projekt. — Strukturelle, räumliche und atmosphärische Durchbildung der Freiraumkörper: Ensemblewirkung und Bezug zur Nachbarschaft. Kohärenz zwischen Funktion, Gestalt, Materialisierung und Bepflanzung. Zugänglichkeit, Adaptierbarkeit und Aneigenbarkeit für verschiedene Nutzergruppen. Kohärenz zwischen Raumatmosphäre und formaler Ausprägung der raumdefinierenden Elemente. Intensität der gestalterischen Verbindung zwischen Freiraumkörpern und Baukörpern. — Strukturelle, räumliche und atmosphärische Durchbildung der Baukörper: Ensemblewirkung und Bezug zur Nachbarschaft. Kohärenz zwischen Identität, Gestalt, Funktion und Nutzung. Funktionale Angemessenheit von Tragstruktur und innerer Organisation. Situative Angemessenheit von Maßstäblichkeit, Hierarchien, Plastizität, Materialisierung und Farbgebung. Porosität und Aneigenbarkeit der Schwellenräume an den Übergängen zwischen öffentlich und privat. Räumliche Beziehung der Erdgeschosse zu angrenzenden Freiräumen und zur Topografie. Antwort auf Immissionen und Besonnung. Haltung zu Konvention, langfristiger Gültigkeit, sozialer und kultureller Akzeptanz. Kohärenz zwischen Wirtschaftlichkeit, Dauerhaftigkeit, Nachhaltigkeit und Adaptierbarkeit im Verlauf der Nutzungsdauer. Stringenz der Systemtrennung in Primär-, Sekundär- und Tertiärsystem. — Integration der bestehenden Bauten und Nutzungen: Beitrag zu Identitätsbildung und Kontinuität, Wiederverwendung, Umnutzung, Aufwertung, Erneuerung, Verdichtung, Eingriffstiefe (Rückbauen, Ausbauen, Einbauen, Umbauen, Anbauen, Überformen). — Sozialräumliche Qualitäten der Bauten und Freiräume: Maßnahmen zur Unterstützung der urbanen Qualitäten Diversität, Interaktion und Zugänglichkeit100 auf der Betrachtungsebene «Gebäude». Öffentliche Einrichtungen für Versorgung, Betreuung und Bildung. Partizipation der Akteur:innen.

170 Prozesse des integralen Planens und Entwerfens

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Vgl. Peter Zumthor, Mari Lending: Die Geschichte in den Dingen, Scheidegger & Spiess, Zürich 2018, S. 72 ff. Angelika Juppien, Richard Zemp: Vokabular des Zwischenraums. Gestaltungsmöglichkeiten von Rückzug und Interaktion in dichten Wohngebieten, Park Books, Zürich 2019 Michael Mönninger: Die Bedeutung des Raums für die zeitgenössische Theorie und Architektur der Stadt, in: Vittorio Magnago Lampugnani, Rainer Schützeichel (Hrsg.): Die Stadt als Raumentwurf. Theorien und Projekte im Städtebau seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, Deutscher Kunstverlag, Berlin 2017, S. 254 Andreas Denk: Der Raum der Wand als Bedeutungsträger. Architektur als Ausdrucksmittel in der Stadt, in: Vittorio Magnago Lampugnani, Rainer Schützeichel (Hrsg.): Die Stadt als Raumentwurf. Theorien und Projekte im Städtebau seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, Deutscher Kunstverlag, Berlin 2017, S. 275 Angelika Juppien, Richard Zemp: Vokabular des Zwischenraums. Gestaltungsmöglichkeiten von Rückzug und Interaktion in dichten Wohngebieten, Park Books, Zürich 2019 Barbara Hans: Inszenierung von Politik. Zur Funktion von Privatheit, Authentizität, Personalisierung und Vertrauen, Springer Fachmedien, Wiesbaden 2017 Andreas Denk: Der Raum der Wand als Bedeutungsträger. Architektur als Ausdrucksmittel in der Stadt, in: Vittorio Magnago Lampugnani, Rainer Schützeichel (Hrsg.): Die Stadt als Raumentwurf. Theorien und Projekte im Städtebau seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, Deutscher Kunstverlag, Berlin 2017, S. 268 Vgl. Simon Kretz, Lukas Kueng (Hrsg.): Urbane Qualitäten. Ein Handbuch am Beispiel der Metropolitanregion Zürich, Edition Hochparterre, Zürich 2016, S. 73 Vgl. Patricia Kaszynska, James Parkinson, Will Fox: Re-thinking Neighbourhood Planning. From Consultation to Collaboration, The ResPublica Trust, London 2012 Peter Degen: Stadtraumkultur. Eine Einführung in die Kultur des Zwischenraums, vdf Hochschulverlag, Zürich 2013, S. 10 Angelika Juppien, Richard Zemp: Vokabular des Zwischenraums. Gestaltungsmöglichkeiten von Rückzug und Interaktion in dichten Wohngebieten, Park Books, Zürich 2019 Vgl. Simon Kretz, Lukas Kueng (Hrsg.): Urbane Qualitäten. Ein Handbuch am Beispiel der Metropolitanregion Zürich, Edition Hochparterre, Zürich 2016, S. 67 Ebenda, S. 68 Patrick Marcolli: Ethnologe Wolfgang Kaschuba über die boomende Stadt Basel, in: bz Basel, 17.11.2019; www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/ethnologe-uber-dieboomende-stadt-basel-wir-sollten-unsere-anspruche-relativieren-ld.1397044 Vgl. Gyorgy Kepes: The Language of Vision, Paul Theobald, Chicago 1944, S. 77 Bernhard Hoesli: Kommentar und Bildreihen, in: Colin Rowe, Robert Slutzky: Transparenz, Birkhäuser Verlag, Basel/Stuttgart 1974, S. 49. Robert Venturi: Complexity and Contradiction in Architecture, Museum of Modern Art, New York 1977 Bernhard Hoesli: Kommentar und Bildreihen, in: Colin Rowe, Robert Slutzky: Transparenz, Birkhäuser Verlag, Basel/Stuttgart 1974, S. 62 Dieter Schnell: Vom Kontrast zur Annäherung, in: Heimatschutz, 3/2015 Thomas Will: Grenzübergänge. Weiterbauen am Denkmal, in: Werk, Bauen + Wohnen, 6/2003 Vgl. Thomas Lötscher, Georg Germann: Währschafft, nutzlich und schön. Bernische Architekturzeichnungen des 18. Jahrhunderts, Katalog zur Ausstellung im Bernischen Historischen Museum, Bern 1994 Vgl. Erklärung von Davos. Eine hohe Baukultur für Europa, 2018; https://davosdeclaration2018.ch/de/dd;nav/index/davos-declaration Vgl. https://new-european-bauhaus.europa.eu Tom Avermaete, Ariane Widmer, Ludovica Molo, Markus Burkhalter: Einleitung, in: Stadt und Baukultur. Fünf Thesen, Stiftung Baukultur Schweiz, Bern 2021, S. 4 Dietmar Eberle: Zwischen Architektur und Architekturlehre, in: Dietmar Eberle, Florian Aicher (Hrsg.): 9 × 9. Eine Methode des Entwerfens. Von der Stadt zum Haus weitergedacht, Birkhäuser, Basel 2018, S. 22 Georg Schmidt: Wie sollen wir wohnen? In: National-Zeitung, Abendblatt vom 17. Februar 1928 Alain de Botton: Glück und Architektur, S. Fischer, Frankfurt am Main 2008, S. 60 Ebenda, S. 89 Ebenda, S. 98 Vgl. Simon Kretz, Lukas Kueng (Hrsg.): Urbane Qualitäten. Ein Handbuch am Beispiel der Metropolitanregion Zürich, Edition Hochparterre, Zürich 2016

171 Übersicht Prozess 4

Fallstudien: Rückkopplungen aus der Praxis

C

173 Fallstudien: Rückkopplungen aus der Praxis

Anhand der nachfolgenden Beiträge sollen Rahmenbedingungen und Denkprozesse kritisch diskutiert werden, welche bei der Transformation von siedlungsräumlichen Situationen eine integrale Planung und Realisierung begünstigen. Für das Überprüfen des integralen Planens und Entwerfens haben die gewählten Ensembles eine ideale Größe. Sie sind ein Feld, auf dem integrative Vorgehen getestet werden können mit dem Ziel, Räume und Architekturen für die Gemeinschaft zu gestalten und Prozesse des Entstehens und Betreibens zu überdenken.

175 Interview mit Philippe Cabane (zu den Prozessen 1–4)

Interview mit Philippe Cabane (zu den Prozessen 1–4) Philippe Cabane, Urbane Strategien & Entwicklung GmbH, Basel Welche Rahmenbedingungen braucht es, um Tabula-rasa-Lösungen zu vermeiden, sodass bestehende Siedlungsstrukturen, Gebäudestrukturen, soziale Strukturen und Nutzungsstrukturen zum Fundament des Neuen werden können? Philippe Cabane: Rahmenbedingungen gibt es immer, und sie wandeln sich über die Zeit. Tabula rasa steht spätestens seit der postmodernen Kritik an der programmatischen Modernen nicht mehr auf der Tagesordnung. Was zu erhalten ist und was nicht, wird heute weniger von idealistischen als von harten ökonomischen Fakten bestimmt. Sogar in der Denkmalpflege, sofern der Erinnerungswert oder ästhetische Wert nicht so absolut ist wie der Nutzwert, um hier einige Kategorien des Denkmalwerts von Alois Riegl anzusprechen.

Robert Braissant:

Heute, wo graue Energie immer teurer wird, setzen sich Entwickler:innen vermehrt mit dem Erhalt von Gebäudestrukturen auseinander. Auch dass im Städtebau zunehmend in den bestehenden Footprints des Bestandes gearbeitet wird, ist dem ökonomisch motivierten Anspruch auf Flexibilität im Realisierungsprozess geschuldet. Man hat auch gelernt, dass Zwischennutzungen und Umnutzungen sehr viel ökonomischer sein können. Was soziale Strukturen und Nutzungsstrukturen angeht, ist es etwas schwieriger als bei einer Arealentwicklung. Der Wandel zu gentrifizierenden Quartieren vollzieht sich langsamer, aber effizient. Was können wir tun, damit lokale Geschäfte und Kleinbetriebe überlebensfähig bleiben? Was können wir tun, damit die sozial Schwächeren nicht aus dem Quartier verdrängt werden? Ich glaube nicht, dass das in erster Linie eine Frage von Erhalt versus Abbruch ist, wenn wir uns die Welle von Sanierungen und die Mietpreisentwicklungen in boomenden Stadtquartieren ansehen. Da gehen Altbauwohnungen und Gewerberäume für Kreativunternehmer:innen zu Spitzenpreisen weg. Der Umgang mit dem Bestehenden stellt das Formen urbaner Räume vor ungewohnte Herausforderungen: physische in der Beziehung zwischen Alt und Neu, kulturelle durch das Weiterschreiben oder Neudeuten und soziale durch die Anteilnahme der Menschen am Prozess. Welche Denkprozesse begünstigen einen ganzheitlichen und nachhaltigen

Robert Braissant:

176 Fallstudien: Rückkopplungen aus der Praxis

Projektstart? Welche Rolle haben dabei die verschiedenen am Projekt beteiligten Parteien? Philippe Cabane: Es ist wohl kaum von der Hand zu weisen, dass an Planungsprozessen viele Personen beteiligt sind und damit auch ein ganzer Haufen von Denkmustern im Spiel ist. Bereits die Interdisziplinarität bedeutet die Zusammenarbeit einer Vielzahl von Fachleuten mit je eigenen wissenschaftstheoretischen Paradigmen und darauf aufbauenden Methoden. Im Ingenieurwesen wird auf Komma genau berechnet, die Behörden stützen sich auf Gesetzeskonformität, die Immobilienexpert:innen auf ökonomische Modelle und die gestaltenden Parteien schließlich auf gut konzipierte und gestaltete Gebäude und Umgebungen. Aufseiten der Auftraggeberschaft ist das Ganze auch sehr komplex. Personen aus der Politik entscheiden sich tendenziell für das, was ihnen zur Wiederwahl verhilft. Grundeigentümer:innen oder Investor:innen für das, was Rendite, und Entwickler:innen für das, was Bauvolumen bringt. Die Bevölkerung und Interessengruppen entscheiden nach dem Mainstream der sie vertretenden Organisationen. Was am Schluss dabei rauskommt, ist das Produkt jener Denkweisen und Interessenkonstellationen, die sich im Aushandlungsprozess haben durchsetzen können. Ich glaube, dass der Städtebau dringend eine Revision seiner Maximen und der dazugehörigen Planungsgesetze braucht. Diese sind vom Prinzip her so angelegt, dass gebaute Zustände und grobe Nutzungskategorien definiert werden. Je dynamischer aber der Wandel von Bedürfnissen, desto kürzer der Zeithorizont, in dem der enger definierte Rahmen einer Planung Sinn macht. Bebauungspläne sollten kaum mehr als einen Horizont von fünf Jahren haben. Das heißt: keine großflächigen Planungen mehr, sondern ein Mosaik von Baufeldern, wo zwar ein Zielrahmen festgelegt wird, aber die Verfahren zur Sicherung der gesuchten Qualität klar definiert sind. Wir kennen das schon von den Architekturwettbewerben. An die Stelle detaillierter Bauregularien treten die Auswahl eines Entwurfs und das Entwurfsteam. Das lässt sich ausweiten auf die anderen für die Stadtentwicklung wichtigen Segmente. So sind Konzeptverfahren für die Vergabe von Baufeldern an Investitionsparteien ein Schlüssel für die Qualität. Und schließlich auch der öffentliche Dialog. Es braucht eine Art Monitoring, das nicht nur mit klassischen Messinstrumenten, sondern auch im Dialog mit der Öffentlichkeit evaluiert. Wir müssen unsere Planungsgesetze oder Normen weg vom herrschenden substanziellen Recht hin zu mehr Verfahren der Qualitätssicherung verschieben. Wir müssen nicht regulieren, was sein soll, sondern wie wir in einem zeitlich nicht abgeschlossenen Prozess einer

177 Interview mit Philippe Cabane (zu den Prozessen 1–4)

Quartierentwicklung zu tragfähigen Ergebnissen kommen. Natürlich braucht es übergeordnete Planungen in den Bereichen Verkehr, Energie oder Grünflächen und eine übergeordnete Vorstellung von den Entwicklungsleitlinien in Form von Leitbildern und Ähnlichem. Doch bei den Baufeldern plädiere ich für strukturelle Deregulierung zugunsten eines kooperativen Städtebaus, wo mehr das «Wie» als das «Was» reguliert wird. Szenarien erlauben es, in einer frühen Phase des Prozesses Konzepte zu evaluieren, ohne vorschnell in starre Lösungen zu verfallen. Welche Rahmenbedingungen begünstigen eine breite Vielfalt der evaluierten Szenarien? Philippe Cabane: Szenariotechnik ist an sich eine sehr gute Methode, wenn sie richtig verstanden wird. Ich verweise hier auf die Forschungsarbeiten von Christian S ­ alewski101. Leider wird in der Praxis nur zu häufig Szenario mit Variante verwechselt. Auch werden Szenarien häufig als dreimal das gleiche Konzept mit einer niedrigen, mittleren und höheren Ausprägung vorgestellt, wobei das mittlere Szenario in der Regel gewinnt. Das liegt daran, dass das Bildungsniveau offenbar zu gering ist. Szenariotechnik will gelernt sein wie Klettern an einem Felsen. Sonst stürzt man ab. Wenn ich nach begünstigenden Rahmenbedingungen gefragt werde, dann kann ich nur antworten: Professionalisierung des Städtebaus und Schaffen eines Berufsregisters. Es kann doch nicht sein, dass jedes Architekturbüro, das schon mehr als ein Haus auf einer Parzelle gebaut hat, sich jetzt auch noch mit dem Prädikat Städtebau auszeichnet. Städtebau ist eine Ausbildung und muss als kooperative Aufgabe einer Vielzahl von Akteur:innen gesehen werden.

Robert Braissant:

Robert Braissant:

evaluiert?

Welche Rolle spielen Mehrwerte und wie werden sie

Es gibt die direkten monetären und indirekte Mehrwerte, wie soziale oder ökologische Mehrwerte. Es gibt aber auch kurzfristige und langfristige Mehrwerte. Die größte Rolle spielt natürlich das Geld und zu welchem Zeitpunkt es verdient werden kann. Pensionskassen zum Beispiel haben einen kurzfristigen Renditedruck und können nicht wie Stiftungen auf lange Sicht Werte schaffen. Indirekte Mehrwerte wurden schon häufig zu quantifizieren versucht. Das Problem ist aber nicht, wie sie evaluiert werden, sondern dass sie evaluiert werden müssen, damit sie als Maßnahme akzeptiert werden. Die faktischen Beweise haben wir zuhauf. Müssen wir sie denn noch ­berechnen können, damit wir glauben, dass sie existieren? Das Gleiche mit dem Klima. Es ist doch ein Drama, dass zuerst einmal der quantitative Beweis erbracht werden muss, wie viel CO2 mit einer Maßnahme gespart wird, damit die Maßnahme überhaupt beschlossen wird. Philippe Cabane:

178 Fallstudien: Rückkopplungen aus der Praxis

Erfolgreiche Nachbarschaften sind ein Gemeinschaftswerk. Sie sind die Bausteine unserer Siedlungen und Städte. Mit welchen Mitteln können die für ein Gemeinschaftswerk fundamentalen sozialen, räumlichen und formalen Mehrdeutigkeiten und Diversitäten im Planungsprozess gefördert werden? Philippe Cabane: Ich frage mich, warum wir so drauf versessen sind, ein soziales Leben zu animieren. Nachbarschaft entsteht überall, wo es überschaubar bleibt. Das heißt: kleinere Einheiten mit vielen Möglichkeiten für hybride Flächen, wo Menschen selbst entscheiden können, was sie da machen wollen. Man muss den Menschen nur Raum geben und die Freiheit, sich dort entfalten zu können. Dazu braucht es ein paar wesentliche Spielregeln, jemand, der sich kümmert, und eine Ombudsstelle. Nachbarschaft ist in erster Linie keine gestalterische, sondern eine organisatorische Frage.

Robert Braissant:

179 Burgfeldenpark Basel: Vom Fragment zum integralen Park (zu Prozess 1)

Burgfeldenpark Basel: Vom Fragment zum integralen Park (zu Prozess 1) Daniel Baur, Bryum Landschaftsarchitektur, Basel Der Burgfeldenpark liegt zwischen der Stadt Basel und SaintLouis (Frankreich). Was heute als Park erlebbar ist, war bis vor wenigen Jahren ein fragmentiertes Nebeneinander an Nutzungen, die man nicht in der Stadt haben wollte. Dazu gehören unter anderem die Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK), Familiengärten, das Casino, die Klinik REHAB und das Bürgerspital. Jede dieser Organisationen hat sich auf ihrer Parzelle eingerichtet und einen eigenen Kosmos geschaffen. Durch das Projekt Burgfeldenpark wurden die teilweise hochwertigen Areale über den Freiraum zu einem Park zusammengefügt. Es entstand ein stimmungsvoller Stadtraum, der Arbeiten, Erholung, Genesung, Begegnung und Integration gleichermaßen ermöglicht. Den Hinweis auf das Potenzial dieses Stadtraums gaben die Nutzungsspuren, die vor Ort gefunden wurden. Abkürzungen und Schleichwege zeigten, dass das Alltagsleben die Parzellengrenzen seit längerem überwunden hat. Beispielsweise wies der Grenzzaun seit Jahren aufgeschnittene Bereiche auf und die Spuren zeigten, dass pendelnde, joggende und spazierende Personen den Raum grenzübergreifend nutzen. Die Spuren des Ortes haben maßgeblich Aufschluss über das Potenzial und die Planung gegeben.

Abkürzungen und Schleichwege als Nutzungsspuren des Ortes.

180 Fallstudien: Rückkopplungen aus der Praxis

Als Planende haben wir die Spuren in perspektivische Szenarien übersetzt. So wurden aus den Spuren Bilder und aus den Bildern ein Bedürfnis nach Transformation. Konkret wurden aus Trampelpfaden Wege und aus Grünflächen ein gemeinsamer Park. Da die Organisationen nun Teil des Parks, aber nach wie vor autonom in ihrer Entwicklung sind, erarbeitet die Interessengemeinschaft Burgfeldenpark ein gemeinsames Leitbild. Dieses beschreibt das Entwicklungsziel und lässt gleichzeitig die Maßnahmen und den Entwicklungshorizont offen. Das Leitbild stellt ein zentrales Kommunikationsmittel nach innen und nach außen dar. Nutzungs- und Raumtransformationen werden nun anhand des Leitbildes geführt. So entstehen trotz der Verschiedenartigkeit der vertretenen Organisationen immer mehr Räume, welche die Gestalt des Burgfeldenparks ausmachen. Aus Organisationen entstanden Nachbarn – aus Raumfragmenten ein integraler Park.

181 Burgfeldenpark Basel: Vom Fragment zum integralen Park (zu Prozess 1)

Vom Fragment zum integralen Park: Das Leitbild kommuniziert das Entwicklungsziel, lässt aber die Maßnahmen und den Entwicklungshorizont offen.

182 Fallstudien: Rückkopplungen aus der Praxis

Industriestrasse Luzern: Wertschätzung des Vorhandenen (zu Prozess 2) Rolf Mühlethaler, Rolf Mühlethaler Architekten AG, Bern In der Geschichte des Areals «Industriestrasse» überlagern sich zahlreiche, teils kaum auseinanderzuhaltende Phasen. Das Projekt steht zu dieser Komplexität in einem affirmativen, bejahenden Verhältnis, sucht die Erinnerung an Wandel und Prozesse der Vergangenheit und versteht den Widerstand des Bestandes als Chance, eine spezifische Situation und Identität zu schaffen. Weiterbauen und verwenden, was brauchbar ist, hat im Umgang mit historischen und gewerblichen Bauten eine große Selbstverständlichkeit und Tradition. Der Aufbau auf dem Vorhandenen und das Weiterbauen nach dem Prinzip, nichts zu zerstören, wenn es nicht notwendig ist, lässt der seit Jahren in der Industriestrasse gelebten Transformation den notwendigen Freiraum. Der Bedeutungswandel vollzieht sich nicht in der bereits heute etablierten vielfältigen Mischnutzung, sondern vielmehr in der Verdichtung des Zusammenlebens. Dichte wird verstanden als Chance, soziale Orte der Nähe und Nachbarschaft zu schaffen, welche die Gemeinschaft fördern. Mit der sanften Wandlung und Transformation des Ortes entstehen neue Werte, aber insbesondere wird günstiger Wohnraum geschaffen. Nicht nur städtebaulich trägt die Metamorphose zu einer Vielfalt bei, auch sozial begünstigt die «sanierte Stadt» lebendige, durchmischte Orte. «Zusammen sind wir schöner.» Die Attraktivität und Anmutung der Gruppe oder des Ensembles ist höher als die ihres schönsten Einzelteils. Etwas, was beschädigt ist und sorgfältig repariert werden kann, kann mehr Schönheit entfalten als etwas Neues. Im Vorhandenen ist eine tragfähige städtebauliche und freiräumliche Ordnung mit hohem Identitätspotenzial eingeschrieben. Insofern bietet sich die einmalige Chance, die Planung aus der Transformation heraus zu verstehen. Die sukzessive, selbstredend in Etappen voranschreitende Aneignung lässt Zeit und Raum, die Menschen an ihrer Quartierentwicklung teilhaben zu lassen. Essenziell für die Idee ist, den proklamierten «Möglichkeitsräumen» entsprechende Planungsfreiräume zu hinterlegen; Anbauten, Aufbauten, Erweiterungen und Freiräume werden explizit zum unberechenbaren Kalkül eines wandlungsfähigen Quartiers und beziehen gesellschaftliche und quartierbezogene Themen in die Verhandlungen mit ein. In den Häusern, rund um die Häuser, auf den Dächern und in den Freiräumen lassen frei bespielbare «Möglichkeitsräume» der Partizipation den Bewohner:innen Aneignungs- und Gestaltungsspielraum. Das können ganze Häuser, Erdgeschossflächen, Anbauten, Gewächshäuser, Spielhäuser,

183 Industriestrasse Luzern: Wertschätzung des Vorhandenen (zu Prozess 2)

Wertschätzung des Vorhandenen. Rossstall.

Freiräume als frei bespielbare «Möglichkeitsräume» der Partizipation und Aneignung. Arbeitsmodell.

184 Fallstudien: Rückkopplungen aus der Praxis

Gemeinschaftsräume oder schlicht die Leere des Raumes sein. Das Käselager, der Rossstall, die Hangars, die Eisenwarenhalle, die Porzellanmanufaktur, das Lager und das Bürogebäude der Getränkehandelsfirma sind die hervorstechenden, identitätsstiftenden Quartiermerkmale. Das Projekt verbindet und verwebt die bewegte Geschichte des Ortes mit dem Gedankengut und Lebensentwurf der Nachbarschaft und Gemeinschaft. Soziale Räume entstehen da, wo sich Menschen begegnen: in den nach allen Seiten durchlässigen Erdgeschossen, in den Wohnstraßen und Freiräumen, in den Aneignungsräumen und den An- und Aufbauten sowie letztlich in den die Wohnungen erschließenden Räumen, welche dank ihrer hohen Frequentierung die Begegnung begünstigen. Die Zufälligkeit der Begegnungen und sozialen Kontakte ist planbar. Das Projekt bietet für 250–300 Bewohner:innen eine neue Heimat. Ergänzt mit ca. 150 Arbeitsplätzen entsteht ein ergebnis­ offenes Idealbild einer offenen Gesellschaft und Gemeinschaft.

Charta als Regelwerk.

185 Gurten Brauerei Areal: Bestehendes respektieren und Neues zulassen (zu Prozess 2)

Gurten Brauerei Areal: Bestehendes respektieren und Neues zulassen (zu Prozess 2) Donat Senn, GWJ Architektur, Bern Das Gurten Brauerei Areal ist in den letzten hundert Jahren am Gurtenfuß zwischen Sandsteinfluh und Bahnlinie in Etappen gewachsen. Die jeweiligen Bedürfnisse und die technologischen Entwicklungen der Fabrikation haben zu den einzelnen Ausbauetappen geführt. Schon mehrfach wurden hier in der Vergangenheit Projekte verfolgt, mangels tragfähiger Nutzungen und fehlender ökonomischer Grundlagen gelangte aber keines davon zur Umsetzung. In diesem Humus wurzelt die Idee, das Areal zu revitalisieren und zu transformieren. Ohne Festlegung auf ein Projekt, wohl aber mit der Haltung, Bestehendes wertzuschätzen, Vorhandenes zu nutzen und dabei Neues zuzulassen, wurde im Jahr 2006 der Dialog unter den Akteur:innen gestartet. Zu Beginn stand nicht das Projekt im Vordergrund, sondern der gemeinsame Such- und Lernprozess, die Einladung zum Gespräch mit den Beteiligten und Betroffenen, um herauszufinden, ob ein Konzept oder eine Projektidee einen tragfähigen Beitrag leisten kann. Diese Dialogkultur schaffte unter den Beteiligten und in der Region eine spürbare Sympathie und ein breites Engagement für die Revitalisierung und Transformation des Industrieareals. Die nun erfolgte und in Teilen andauernde Transformation ist das Abbild einer intensiven Zusammenarbeit und der Bereitschaft der Bauträgerschaft, sich auf einen kooperativen und integrativen Entwicklungsprozess einzulassen. Zur Sicherung der Qualitäten dienen Vereinbarungen mit unterschiedlichen Zielen. Dazu gehören Wettbewerbs- und Dialogverfahren, denkmalpflegerische und kulturhistorische Aspekte, soziale, ökologische und ökonomische Ziele in Bau und Betrieb. Die Transformation lässt sich nur erfolgreich gestalten, wenn die Ziele und Werte sowie die Handlungsfelder und Entwicklungsperspektiven bekannt sind. Dabei gilt es, während des gesamten Prozesses in einer integrativen Denk- und Arbeitsweise die zum Teil divergierenden Anliegen und Vorgaben gemeinsam abzuwägen und zu gewichten. Der Entwicklungsprozess hat deutlich gemacht, dass mit der Klärung projektspezifischer Fragestellungen allein eine Areal- und Quartierentwicklung nicht geklärt und das Areal nicht profiliert werden kann. Aus der Diskussion entwickelten sich für das Gurten Brauerei Areal drei wesentliche, übergeordnete Punkte: der Umgang mit dem industriellen Erbe, der Bestand als Ressource sowie ein Ort zum Wohnen und Arbeiten. Die Themen strukturierten den Diskurs und halfen die Projektideen zu kanalisieren und die spezifische Arealstrategie zu entwickeln. Dabei bildete das Denken in Szenarien und

186 Fallstudien: Rückkopplungen aus der Praxis

Linke Zeile: Gewerbegasse mit inwertgesetzten Bestandsbauten. Mittlere Zeile: Teilabbruch und Ergänzung des Sudhauses. Rechte Zeile: Verdichtung mit einem Neubau zum Wohnen.

Teilabbruch für einen Ersatzneubau in der mittleren Zeile. Transformation des Sudhauses von 1890 und der Aufstockung von 1957.

187 Gurten Brauerei Areal: Bestehendes respektieren und Neues zulassen (zu Prozess 2)

Fabrikantenvilla am Ostende des Areals. Blick in Richtung des Sudhauses und der Zeile mit dem neu geschaffenen Wohnraum.

Umnutzung der großflächigen Flaschenabfüllanlage zu Schulungs-, Gastronomie-, Arbeits- und Freizeiträumen.

188 Fallstudien: Rückkopplungen aus der Praxis

Varianten eine wertvolle Methode, um Orientierung zu schaffen, die Ideen im Areal zu verorten und schlussendlich die Ausprägungen zu gewichten. Räume aus und mit dem Bestand zu formen bedeutet immer, Räume zu transformieren. Nutzen, Umnutzen und Verdichten sind die strategischen Optionen im Umgang mit dem Gebäudeund Infrastrukturbestand. Sich mit dem Bestand zu beschäftigen bedeutet häufig, sich mit Bauten ohne aktuelle Bedeutung auseinanderzusetzen. Die Industriebauten auf dem Gurten Brauerei Areal überzeugen nur in Teilen mit klassischen Denkmalwerten, sondern vielmehr mit räumlichen und ortsbaulichen Qualitäten. Daraus abgeleitet entwickelte sich die Strategie der Revitalisierung: Mit Revitalisieren meinen wir Inwertsetzen und zugleich das Respektieren des Bestehenden und das Zulassen von Neuem. Die arealprägende historische Gewerbestruktur blieb dabei erhalten, die Gebäude wurden in Wert gesetzt und werden durch Gewerbetreibende weitergenutzt. Die großen, mächtigen und strukturbildenden Gebäude, die Flaschenabfüllanlagen, wurden einer neuen Nutzung zugeführt. Hier steht flexibler Raum für neue Arbeits- und Lebenswelten zur Verfügung. Und nur da, wo sinnvoll und tragfähig, wurde rückgebaut, verdichtet und zusätzlich neuer Wohnraum geschaffen. Die differenzierte Arealbetrachtung und die daraus abgeleiteten Nutzungskonzepte und baulichen Maßnahmen erzeugen ein Nebeneinander von Alt und Neu und schaffen ökonomische, soziale und baukulturelle Mehrwerte. Dass die Präsenz der Geschichte dabei Identität stiftet und für Atmosphäre sorgt, ist ein willkommener Effekt.

189 Zentrale Pratteln: Ein Ensemble im Kontext entwerfen (zu Prozess 3)

Zentrale Pratteln: Ein Ensemble im Kontext entwerfen (zu Prozess 3) Cédric Bachelard, Bachelard Wagner Architekten AG, Basel Bei städtebaulichen Wettbewerben oder Studienaufträgen werden in der Schweiz meistens fertige Produkte mit Gipsmodell und Grundrissen erwartet, im Wissen, dass diese fertigen Produkte erst den Anfang von Verhandlungsverfahren darstellen. Diese Praxis sollte man kritisch hinterfragen. Es wäre wichtig, zwischen Informationen, welche die DNA eines Entwurfs darstellen, und der Abbildung davon zu unterscheiden. Dieses Missverständnis ist auch in Fachgremien weit verbreitet. Die professionellen Mitglieder verstehen den Prozess, aber sehr oft fokussieren die nichtprofessionellen Mitglieder zu stark auf das Ergebnis. Deshalb versuchen wir immer, das Wettbewerbsprojekt lediglich als Richtprojekt, als Nachweis zu deklarieren und darüber hinaus die weiteren Absichten lediglich mit Schemata darzustellen.

Vielfalt in der kontextuellen Großform durch sechs unterschiedliche Bauträger mit unterschiedlichen Vorstellungen.

190 Fallstudien: Rückkopplungen aus der Praxis

Ein Leitbild definiert und beschreibt die Ziele. Bei einem Projekt in der Größenordnung der Zentrale in Pratteln ist Vielfalt ein wichtiges Ziel. Normalerweise ist für die Entwicklung der Stadt die Parzellierung grundlegend. Die Stadt wird über Parzellen rhythmisiert. Die Vielfalt entsteht durch kleinteilige Parzellen. Doch bei der Zentrale wurde die Form nicht durch die Parzellenstruktur generiert, sondern durch verschiedene Bauherrschaften in einer Großform. Bereits beim Abschluss des Richtplanverfahrens hat die Logis Suisse AG angefangen, Partner zu suchen. Vielfalt wird hier nicht durch unterschiedliche Architekturen produziert, sondern durch die sechs unterschiedlichen Bauträger, die unterschiedliche Vorstellungen darüber haben, was man baut, wie man baut, für wen man baut und zu welchem Preis man baut. Dies hat einen massiven Einfluss auf die Architektur. In dieser Situation braucht es robuste Prinzipien für den Städtebau. Der Städtebau kann nicht an der Architektur hängen. Eine einheitliche architektonische Sprache ist hier nicht zielführend. Das Leitbild muss die Architektur vor allem ermöglichen, denn es kann niemanden zwingen. Verpflichtend ist nur der Quartierplan. Der weitere Prozess ist eine Kollaboration. Im Steuerungsausschuss haben wir uns gemeinsam über die Ziele unterhalten und sie gemeinsam beschlossen. Die grafische Darstellung ist dabei sehr wichtig. In der Formulierung mussten wir darauf achten, nichts vorzuschreiben, sondern alles als Ziel zu formulieren und nicht als Pflicht. Das ist wichtig, denn es ist auch eine zwischenmenschliche Frage. Die Projektorganisation ist ein wesentlicher Aspekt, der sehr viel Energie und hunderte von Stunden braucht. Nach dem ersten Wurf geht es darum, das Vertrauen der Auftraggeberschaft zu gewinnen. Man muss sich einsetzen. Viele Sitzungen. Immer dabei sein. Dranbleiben. Das Verfahren steuern. Denn am Anfang wollte die Logis Suisse AG als Landbesitzerin in Anbetracht der vielen Bauherrschaften mit ihren Architekt:innen ein Totalunternehmen. Nach intensiver Überzeugungsarbeit hat die Landbesitzerin zur Sicherung der Qualität einem alternativen Modell zugestimmt, bei dem wir zusammen mit einer Baumanagementfirma als Generalplaner auftreten. Die Projektorganisation

Die Großform ermöglicht dank besserer Belichtung auch Wohnen im erhöhten Erdgeschoss.

191 Zentrale Pratteln: Ein Ensemble im Kontext entwerfen (zu Prozess 3)

erfolgt horizontal pro Ebene übers Ganze (alle Bauherrschaften, alle Architekturbüros, alle Fachplanungsbüros) und vertikal pro Baustein (einzelne Bauherrschaften mit ihren Planer:innen). Die Baumanagementfirma ist bei allen Sitzungen dabei. Hauptleitmotiv ist die Idee der kontextuellen Großform. Dies hat mit dem vor Ort vorgefundenen Industriemaßstab zu tun. Es hat aber auch mit der Ausnützungsziffer von 1,8 bis 2,0 mit ­Wohnen im Erdgeschoss zu tun. Normalerweise erreicht man diese Dichte mit öffentlichen Nutzungen im Erdgeschoss relativ gut. Doch an diesem Ort war ein Erdgeschoss mit Drittnutzungen nicht möglich. Die Großform des Hofes ermöglicht das Wohnen im Erdgeschoss, weil der größere Raum für eine bessere Belichtung sorgt. Die Großform ermöglicht zudem, jede Nutzung über Schichten mit dem Außenraum zu verbinden, das Wohnen zum Beispiel über eine Vorgartenschicht. Um Monumentalität zu vermeiden, wird die Großform nicht in ihrem Großmaßstab unterstützt, sondern gegliedert und in der Höhe verformt. Es geht nicht darum, die Großform zu zeigen, sondern die Form als Gefäß zu verstehen, als Primärstruktur. Für die Ensemblewirkung konnten wir uns nicht ausschließlich am Bestand anlehnen, womit automatisch eine Identität entstehen würde. Dafür sind zu viele Teile Neubauten. Es gibt kein historisches Zusammenwachsen, da alles gleichzeitig entsteht. Was es gibt, sind gute Kommunikationstools und das ComputerAided Design, welches uns ermöglicht, zeitgleich die Projekte zu entwickeln und einen Austausch zu pflegen. Diese zeitgleiche Entwicklung ermöglicht eine kontextuelle Entwurfshaltung, wobei der Kontext nicht physisch, sondern digital ist. Für die Ensemblewirkung haben wir im Leitbild Spielregeln und Ziele zu vier Themenfeldern beschrieben: Assemblage (Regeln zum Fügen der Bauteile), Raumhaltigkeit (raumbildendes Zusammenfügen der Fassaden), Gliederung (Höhen, Feintopografie, durchgehendes Hochparterre auf 1,30 Meter Höhe) und Farben, wobei die Farbigkeit eine wesentliche Rolle spielt. Das Vorprojekt war noch farblos, aber materialisiert. Im Bauprojekt haben wir für das Farbkonzept eine externe Fachperson beigezogen. Ziel ist es, die Vielfalt weitgehend zum Ausdruck kommen zu lassen und über eine einheitliche, breit ausgelegte Materialund Farbpalette den Block als Ensemble zu stärken. Für die Integration in den Kontext ist der Hof wichtig. Als Quartierspielplatz ist er nicht nur für diese Überbauung gedacht. Es gibt insgesamt fünf Durchgänge durch den Hof und eine halböffentliche Shedhalle. Gewerberiegel und Silo werden nur minimal instand gestellt und werden auch zukünftig für Zwischennutzungen zur Verfügung stehen.

192 Fallstudien: Rückkopplungen aus der Praxis

Zentrale Pratteln: Gemeinsames Planen und Bauen (zu Prozess 3) Jörg Vitelli, Präsident der Wohnbaugenossen­ schaften Nordwestschweiz Die Wohngenossenschaften der Region Basel waren in den letzten Jahren schwergewichtig in Basel-Stadt aktiv. Es war ein Glücksfall, dass durch den Wegzug von COOP aus der Verteilzentrale in Pratteln das Areal frei wurde. Die Logis Suisse AG konnte sich als gemeinnütziger Wohnbauträger das Areal Ende 2015 durch den Kauf sichern. Den kleineren am Projekt beteiligten Wohngenossenschaften wäre es nicht möglich gewesen, diese Vorinvestition kurzfristig zu tätigen. Für Wohngenossenschaften ist die Sicherung des Bodens der Schlüssel für erfolgreiche Projekte. In der Folge schlossen sich sechs gemeinnützige Wohnbauträger zusammen, um ein attraktives und lebendiges Quartier mit unterschiedlichen Wohn- und Gewerbenutzungen Wirklichkeit werden zu lassen. Die Gewona Nord-West entwickelt im historischen Gewerberiegel (14 000 Quadratmeter) entlang der Bahn einen Ort für Handwerk, Produktion, Kultur und Kreativität, basierend auf dem Kostenmietmodell. Auf den dahinterliegenden Baufeldern entsteht ein vielfältig durchmischtes Wohnquartier. Die Gewona Nord-West legt den Schwerpunkt auf das Wohnen in der zweiten Lebenshälfte. Das Mietshäuser Syndikat baut im Sinne von Re-Use ein Lagergebäude zu Wohnungen um. Für die Wohnbau-Genossenschaft Nordwest entstehen Familienwohnungen im Holzbau. Gemeinschaftliche Aktivitäten sollen nicht nur im Hof, sondern auch auf Dachterrassen mit Urban Gardening möglich sein. Homebase plant Wohnmodule à 35 Quadratmeter, welche die Bewohner:innen im Sinne von Smart Housing im Selbstausbau anpassen können. Auf dem westlichen und nördlichen Areal realisieren die Logis Suisse AG und Terra Schweiz / Habitare Schweiz Wohnungen mit durchmischtem Angebot. Das Projekt von Bachelard Wagner Architekten mit der fürs ­ aselbiet untypischen Blockrandbebauung ging als Sieger aus B dem Wettbewerb hervor. Pratteln ist vor allem im Wirtschaftsboom der 1960er-Jahre stark gewachsen. Zeilenorientierte Wohnblocks sind dominant. Die Zentrale mit den 460 Wohnungen wird das Quartier nördlich der SBB-Geleise prägen und das «neue Pratteln» schaffen. Bisher ist dieses Gebiet, abgesehen von einigen wenigen Einfamilienhäusern, nur industriell genutzt worden.

193 Zentrale Pratteln: Gemeinsames Planen und Bauen (zu Prozess 3)

Die sechs Bauträger erarbeiten das Projekt in verschiedenen Arbeitsgruppen, unterstützt durch Generalplaner und Baumanagement. Eine Herausforderung, die bisher gut gelungen ist. Baubeginn ist 2024. Mit zwei Arealfesten wurden die Bevölkerung von Pratteln sowie Interessierte, welche auf dem Areal wohnen oder arbeiten möchten, angesprochen. In der großen Shedhalle, welche später als Dorf- und Marktplatz dienen wird, wurden die Grundrisse künftiger Wohnungen dreidimensional aufgebaut. Dies erzeugt ein reales Bild, auch wenn die Bauarbeiten erst in zwei Jahren starten. Mit der Zentrale Pratteln, nördlich der Bahn, wird eine Quartieridentität geschaffen, die es bis heute nicht gegeben hat, denn als Wohnort wird das «Industriedorf» nur südlich der Bahn wahrgenommen.

194 Fallstudien: Rückkopplungen aus der Praxis

Westfeld Basel: Community first (zu Prozess 4) Andreas Courvoisier, Vizepräsident der Baugenossenschaft wohnen&mehr, Courvoisier Stadtentwicklung GmbH, Basel Unsere allerersten Überlegungen galten der Frage, was das Spezifische des ehemaligen Spitalareals im Westen Basels ist, der Genius Loci, die Bestimmung dieses Ortes für die Zukunft. Beim Westfeld bestand die große Chance darin, für einen ganzen Stadtteil eine neue Mitte zu schaffen, verkehrsfrei, kinder- und altersfreundlich. Ein Zentrum mit einem Quartierplatz und einer Grünpromenade, mit Gassen und Gärten, dazu mit einem identitätsstiftenden Flaggschiff, dem alten Spitalgebäude, das wir in ein Wohn- und Quartierhaus umnutzen wollten. Das Weite, Offene sollte auch im Namen «Westfeld» zum Ausdruck kommen. Wir haben diesen als Programm, aber auch als Einladung gewählt: «Liebe Bevölkerung, lasst uns das Feld gemeinsam bestellen. Säen Sie mit, ernten Sie mit.»

Ein Ensemble aus verschiedenen Gebäudetypen und Zeitepochen, die durch den Freiraum miteinander verwoben sind.

195 Westfeld Basel: Community first (zu Prozess 4)

Gerade weil längere, schriftliche Leitbilder oft in Vergessenheit geraten, sind «leitende Bilder» umso wichtiger. Für das Westfeld haben wir schon früh das Motto kommuniziert: «Ein lebendiges Stück Stadt entsteht.» Wir bauen keine Siedlung für wenige, wir bauen einen Ort für viele, wir bauen Basel weiter, mit kurzen Wegen und hoher Dichte, mit nachbarschaftlichen Wohn- und Quartiernutzungen, sich überlagernd und gegenseitig befruchtend. Ein weiteres Bild, das den Planenden und uns immer vor Augen stand, war das «Miteinanderhaus» als Leitmotiv für die Umnutzung des Felix Platter-Spitals. Ein lebendiges Stück Stadt entsteht, ein Ort für viele, mit kurzen Wegen und hoher Dichte.

196 Fallstudien: Rückkopplungen aus der Praxis

Auf dem Westfeld gibt es Alt und Neu. Wir sind überzeugt, dass ein reines Neubauquartier nicht diesen Charme und die Vielseitigkeit gehabt hätte. So aber haben wir jahrzehntealte Eichen auf dem Areal, die «Villa» aus den 1890er-Jahren, das elegante, umgenutzte Spitaldenkmal aus den 1960er-Jahren, dazu kleinere und größere Neubauten. Entstanden ist ein wirkliches Ensemble, ein kommunikativer Ort, wo sich Baustile und Bauepochen verweben und wo man sich gut aufgehoben fühlt. Kein Gebäude «tanzt für sich», alles dient dem großen Ganzen und ist durch den Städtebau und den Freiraum miteinander verwoben. Im Planungsprozess immer wieder alle Planungs- und Nutzungspartner:innen auf diesem Common Ground zu vereinen, war aufwendig und manchmal auch nervenaufreibend. Aber es hat sich gelohnt. Erfolgreiche Nachbarschaften sind ein Gemeinschaftswerk. Der frühe Miteinbezug von Nutzungspartner:innen hat neue Sichtweisen und Zielgruppen auf das Westfeld gebracht. Das hat zwar die ohnehin schon sehr komplexe Planung nicht weniger komplex gemacht. Es hat sie aber eindeutig bereichert. So gab es beispielsweise von Beginn weg eine enge Zusammenarbeit mit der Genossenschaft LeNa, die als Generalmieterin ein großes Gebäude auf dem Westfeld mietet und ein innovatives, gemeinschaftliches Wohnmodell beisteuert. Mit ihrer Basisarbeit und ihrem Mut zu unkonventionellen Lösungen ist sie ein wichtiges Mitglied im Netzwerk Westfeld. In diesem Netzwerk sind inzwischen 24 Organisationen zusammengeschlossen, unter anderem das Bürgerspital Basel mit dem Bio Bistro und Gemeinschaftswohnen mit Service, der Quartierverein Dynamo Iselin, Pro Senectute beider Basel und Familycare Basel mit einer Kita. Sie alle wirken künftig auf dem Westfeld – ein großer Schatz an Vernetzung, Engagement und künftiger Nachbarschaft. Ein gutes, engagiertes Planungsteam ist das A und O, das hat sich in der Planung immer wieder gezeigt. Dazu kommen die Förderinstrumente des genossenschaftlichen Wohnungsbaus und des Kantons. So wäre etwa der hochwertige öffentliche Raum ohne die À-fonds-perdu-Mittel aus dem kantonalen Mehrwertabgabefonds nicht möglich gewesen. Für die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft haben uns die kollektiven Räume immer besonders interessiert. Uns war wichtig, die ganze Quartierumgebung auf das Westfeld einzuladen. Mit öffentlichen Räumen für alle – etwa einem Platz für Quartierfeste und einem Garten, wo sich die Bewohner:innen und die Patient:innen des benachbarten Spitals begegnen, mit Treffräumen und einer öffentlichen Querung durch das ehemalige Spitalgebäude, das bisher eher wie ein Riegel wirkte. Darüber hinaus gibt es halböffentliche, intimere Orte, wo sich die Bewohner:innen treffen. Zum Beispiel den begrünten Wohnhof mit dem regengeschützten Umgang. Oder die durch Treppen

197 Westfeld Basel: Community first (zu Prozess 4)

verbundenen Gänge quer durch das umgenutzte Spital, wo man sich spontan begegnet. Oder den Gemeinschaftsraum auf dem Dach, wo man abends noch auf einen Schwatz hochgeht und die Sonne über dem Elsass untergehen sieht.

Die identitätsstiftende, gefaltete Südfassade konnte dank dem Einbau einer dahinterliegenden zweiten Schicht erhalten werden.

198 Fallstudien: Rückkopplungen aus der Praxis

Die zweigeschossige Eingangshalle ist zentraler Begegnungs- und Zirkulationsraum.

199 Westfeld Basel: Community first (zu Prozess 4)

200 Anhang Fallstudien: Rückkopplungen aus der Praxis

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Christian Salewski: Dutch New Worlds. Scenarios in Physical Planning and Design in the Netherlands. 1970–2000, 010 Publishers, Rotterdam 2012 Christian Salewski: A Scenario of Scenarios. A Scenario of Urban Planning Scenarios, in: Camenzind 10, 12/2012

Anhang

202 Anhang

203 Verzeichnis der Abbildungen

Verzeichnis der Abbildungen Cover Klappe Inhalt 27

Christian Schwager, Siedlung Hardegg, Bern Klaus Frahm / Artur Images, Eingang zum Museo di Castelvecchio in Verona von Carlo Scarpa

Akkelies van Nes, Claudia Yamu, Publikation https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-03059140-3. Creative Commons license http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/ 31 Robert Braissant 33 Stefano Schröter 34–35 Tiia Monto 36 Philip Heckhausen 37 Dan Hiltbrunner 38 Yoshiko Kusano 39 Christian Schwager 40–41 Dencity (Berner Fachhochschule) 44 Jürg Maeschi 46–47 SpY 48, 49, o. Robert Braissant 49, u. Tristan Schmurr 50–51 Simon Menges 53, o. Alexander Gempeler 53, u. Robert Braissant 54, o. Joseph Jérôme de La Lande 54, u. Bibliotheca Hertziana – Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte, Rom 55 Luca Bruno, Mike Hunziker / BFH Entwurfstheorie Prof. Robert Braissant 56, o. Elisabeth Eppler, Nachlass Lehrstuhl Prof. Bernhard Hoesli, ETH Zürich / gta 56, u. Samulili / Wikimedia Commons, retouched by :lb:User:Cornischong 57 A. Savin 63 Bundesamt für Landestopografie swisstopo 64 Reto Koenig 65, o. U.S. Department of Housing and Urban Development, Office of Policy Development and Research 65, u. (2) Philippe Ruault 67 Daniel Baur 69 David Jakob, Guido Reichenbach, Sébastien Wehrli, Foto Roger Baumer / BFH Atelier Prof. Robert Braissant 70, 71, o. Robert Braissant 71, u. Hadi / Wikimedia Commons 72–73 Jeffrey Milstein 74, l. Friedrich Magnussen 74, r. Daniel Baur 75 Philip Heckhausen

204 Anhang

76 77 78, o. 78, u. 79

Dan Hiltbrunner Robert Braissant Theodor Hoffmann Robert Braissant Luca Bruno, Mike Hunziker / BFH Entwurfstheorie Prof. Robert Braissant 80 Daniel Baur 81 Robert Braissant 82 Andréa Zemp Nascimento / Forschungsprojekt Interface Fassadenraum – Gestaltung von Privatheit und Öffentlichkeit in dichten Wohngebieten, Hochschule Luzern, 2015–2018 83, l. Robert Braissant 83, r. Alexander Gempeler 87 pool Architektur 91, l. Georg Aerni 91, r. Philip Heckhausen 92 Myrabella / Wikimedia Commons / CC BY-SA 3.0 93, o. Martin Hoch 93, u. Robert Braissant 95, o. Jürg Maeschi 95, u. Büro B Architekten 96 baubüro in situ ag / Foto: Martin Zeller 98–99 Robert Braissant 101 Wojciech Czaja 102 Reto Oeschger 104, o. Lucas Ziegler 104, u. Robert Braissant 106, o. Schneider Studer Primas Architekten 106, u. Nele Trautwein, Moritz Henes 107 Sanna Frischknecht 110–111 Robert Braissant 112 Nick Lüthi 114–115 Bundesamt für Landestopografie swisstopo 116 Manuel Zingg 117 Pierre-Selim / Wikimedia Commons 118–119 Robert Braissant 120 Dan Hiltbrunner 121 Rafael Wiedenmeier 122 Joanna Shaw / Jan Gehl 123 Alexandra Schürch 129, o. Robert Braissant 129, u. Michael Moran / OTTO 130–132 Robert Braissant 133 Klaus Kinold 134 Alexander Gempeler 135 Metron 136 Blog Bärner Meitschi 137 Angelika Juppien / Forschungsprojekt Interface Fassadenraum – Gestaltung von Privatheit und Öffentlichkeit in dichten Wohngebieten, Hochschule Luzern, 2015–2018

205 Verzeichnis der Abbildungen

138

Ger van der Vlugt, Collection Het Nieuwe Instituut / HERT, f220 139 Klaus Frahm / Artur Images 140–141 Robert Braissant 142 Philippe Ruault 143 Thecommondesk 144 Fred Romero 145 Heiko Breckwoldt 146 Jürg Maeschi 147 Juan Gris / Wikimedia Commons 148 Nachlass Lehrstuhl Prof. Bernhard Hoesli / gta 149, o. Richard Meier 149, Mi., u. Nachlass Lehrstuhl Prof. Bernhard Hoesli / gta 151 Nachlass Lehrstuhl Prof. Bernhard Hoesli / gta 153 Damian Poffet 154 Dominique Uldry 155 Georg Aerni 157 James Ewing / JBSA 158, o. (2) Ute Zscharnt for David Chipperfield Architects 158, Mi. Janericloebe 158, u. l. Carola Radke, Museum für Naturkunde Berlin 158, u. r. Christian Richters 159, o. Ruedi Walti 159, u. Miller Maranta 160 Alexander Gempeler 162, o. Haus Bastian, Zentrum für kulturelle Bildung / Foto: Ute Zscharnt 162, u. l. Joël Tettamanti 162, u. r. Jürg Maeschi 162, u. l. Filip Dujardin 162, u. r. Damian Zimmermann 163, o. l. Unbekannt / Library of Congress’s Prints and Photographs Division 163, o. r. W. Bulach 163, u. l. Peter Hubert Tillmann / Burgerbibliothek Bern / Nachlass Agathon Aerni 163, u. r. Robert Braissant 179, 181 Bryum 183, o. Kooperation Industriestrasse Luzern 183, u. Stefano Schröter 184 Kooperation Industriestrasse Luzern 186–187 Roger Frei 189, 190 Bachelard Wagner Architekten 194 Enzmann Fischer Partner Architekten / K-Atelier 195 Baugenossenschaft wohnen&mehr / Erich Meyer 197–199 Kathrin Schulthess

207 Verzeichnis der Schlüsselbegriffe

Verzeichnis der Schlüsselbegriffe Adaptierbarkeit 30, 38, 142 Analytische gestalterische Strategie 154 Aneignung 39, 135 Collage als gestalterische Strategie 96, 161 Dichte 34, 109, 112, 122 Diversität 32, 102, 105, 117, 120 Ensemble 91, 99, 129, 152, 189, 194 Freiraum 70, 79, 92, 117, 123, 128, 132, 179 Genius Loci 43, 194 Identität 25, 27, 71, 77, 155, 159 Inklusion 120, 164 Interaktion 26, 30, 34, 74, 79, 90, 97, 121, 123, 132, 137 Kontextintegration 133, 152 Leitbild 68, 87, 89, 180, 190 Mehrdeutigkeit 145 Mehrwert 25, 81, 88, 177 Nachbarschaft 16, 68, 79, 82, 97, 100, 103, 108, 117, 133, 137, 152, 178, 182 Porosität 36, 46, 123, 128, 134, 137 Raum 46, 56, 78 Raumdefinition 46, 79 Raumeigenschaften 52, 77 Raumhaltige Fassade 128, 132 Raumkörper 46, 54, 79 Raumsequenz 77, 79, 122 Raumübergang 138 Schwellenraum 82, 132 Siedlungsstruktur 28, 88, 91, 142 Synthetische gestalterische Strategie 155 Szenario 62, 67, 81, 177, 188 Transformationspotenzial 63 Transparenz 146 Urbane Qualitäten  30, 109 Urbanität 30, 108, 117 Zentralität 30, 116 Zugänglichkeit 36, 123 Zukunftsfähigkeit 70, 75, 80, 97, 100, 103, 117 Zwischennutzung 143, 175, 191

209 Autoren der Fallstudien

Autoren der Fallstudien Cédric Bachelard Cédric Bachelard gründete 2006 zusammen mit Anne Marie Wagner das Büro Bachelard Wagner Architekten in Basel. Nach seinem Architekturdiplom 1996 an der ETH Lausanne war er Mitarbeiter bei Stefan Sterf Architekten in Berlin und bei Zwimpfer Partner Architekten in Basel. Von 2002 bis 2006 führte er das Büro Bachelard Geser Architekten in Basel. Zwischen 2008 und 2017 unterrichtete er als Professor für Entwurf an der Hochschule für Technik und Architektur Freiburg. Seit 2002 ist er Mitglied im SIA und seit 2012 Mitglied im BSA.

Daniel Baur Daniel Baur studierte Landschaftsarchitektur an der HSR Rapperswil. Nach einer mehrjährigen Berufstätigkeit in den USA gründete er 2008 das interdisziplinäre Büro für urbane Interventionen und Landschaftsarchitektur Bryum, das seine Standorte in Basel und Berlin hat und das er als Teilhaber und Geschäftsleiter führt. Daneben ist er als Professor für Landschaftsarchitektur an der Berner Fachhochschule tätig.

Philippe Cabane Philippe Cabane studierte Soziologie, Philosophie und Humangeografie an der Universität Basel sowie Stadtplanung am Institut français d’urbanisme in Paris. Er ist Teilhaber der Beratungsfirma Cabane Partner – Urbane Strategien und Entwicklung GmbH in Basel. Zuvor entwickelte und moderierte er das Zwischennutzungsprojekt nt*/Areal in Basel, arbeitete als Redakteur bei der Zeitschrift «Tec21» und als höherer wissenschaftlicher Mitarbeiter am Departement Architektur der ETH Zürich.

210 Anhang

Andreas Courvoisier Andreas Courvoisier verfügt über 25 Jahre Praxis in den Bereichen Areal- und Quartierentwicklung und Umnutzung sowie in der Gründung und im Aufbau von Institutionen. Seit 2010 ist er Geschäftsführer des Büros Courvoisier Stadtentwicklung GmbH in Basel. Zudem ist er Co-Initiator und Vizepräsident der Basler Baugenossenschaft wohnen&mehr. Zu seinen wichtigsten Projekten zählen der Landschaftspark Parc des Carrières, die Paulus- und die Martinskirche in Basel, das Westfeld Basel und das Begegnungszentrum Hirzbrunnen.

Rolf Mühlethaler Rolf Mühlethaler hat nach einer Lehre als Hochbauzeichner und dem Studium der Architektur an der HTL Burgdorf bei Max Schlup in Biel und Frank Geiser in Bern gearbeitet. Ab 1985 hat er neben einer engagierten Jurytätigkeit im In- und Ausland zahlreiche Wettbewerbsprojekte realisiert. Rolf Mühlethaler ist Mitglied in diversen Beiräten und war 2015/16 Gastprofessor an der Universität der Künste Berlin.

Donat Senn Donat Senn studierte Architektur an der Berner Fachhochschule. Seit 1992 ist er Teil des Architektenkollektivs GWJ Architektur in Bern und Zürich. Als Partner zeichnet er mitverantwortlich für den Aufbau, die Ausrichtung und die kontinuierliche Weiterentwicklung von GWJ. Von 2014 bis 2021 war er Professor für Architektur an der Berner Fachhochschule. Er ist Mitglied verschiedener Beurteilungs- und Begleitgremien.

Jörg Vitelli Jörg Vitelli studierte Vermessung an der Ingenieurschule Muttenz. 1982 gründete er die Firma Vitelli Velobedarf, welche er 2016 der nächsten Generation übergab. Er ist seit 40 Jahren in verschiedenen Funktionen im genossenschaftlichen Wohnungsbau tätig, aktuell als Präsident der Wohnbaugenossenschaften Nordwestschweiz und der Gewona Nord-West. Zwischen 1984 und 2021 war er mit Unterbrechungen 26 Jahre Mitglied des Grossen Rates Basel-Stadt.

211 Autor

Autor Robert Braissant Robert Braissant studierte Architektur an der ETH Zürich bei Bernhard Hoesli, Franz Oswald und Mario Campi sowie an der CEPT School of Architecture in Ahmedabad, Indien. In jungen Jahren arbeitete er bei Olson/Walker Architects in Seattle, Mario Campi in Lugano, Andrea Roost und Franz Oswald in Bern. 1990 gründete er mit Freunden das Büro B Architekten in Bern. Neben der Arbeit im Büro ist er in diversen Expertenkommissionen und Jurys tätig. Seit 2015 unterrichtet er als Professor für Architektur und Städtebau an der Berner Fachhochschule, wo er auch Forschungsprojekte im Kompetenzbereich Dencity – Urbane Entwicklung und Mobilität betreut. In seiner Brückenstellung zwischen Praxis, Forschung und Lehre setzt er sich für eine Synthese von Praxisnähe und progressiven, zukunftsfähigen Werthaltungen ein. [email protected] Die vorliegende Publikation ist eine vollständige Überarbeitung des methodischen Lehrgerüsts für die Module Entwurfstheorie und Atelier «Areal» an der Berner Fachhochschule, Fachbereich Architektur. Ich danke Donat Senn für die intensive und fruchtbare Zusammenarbeit beim Entwickeln der Methodik und für wichtige Textbausteine. Ich danke Daniel Baur für seine stets inspirierenden Beiträge. Regula Sommer und Marianne Martignoni danke ich für ihre Unterstützung während meiner Arbeit.

Acquisitions Editor: Baharak Tajbakhsh, Birkhäuser Verlag, CH-Basel Content & Production Editor: Angelika Gaal, Birkhäuser Verlag, A-Wien Korrektorat: Thomas Lederer, A-Wien Layout, Covergestaltung und Satz: Floyd E. Schulze, D-Berlin Litho: Pixelstorm Litho & Digital Imaging, A-Wien Druck: Holzhausen, die Buchmarke der Gerin Druck GmbH, A-Wien

Library of Congress Control Number: 2023933388 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
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