Fluss.Raum.Entwerfen: Planungsstrategien für urbane Fließgewässer 9783034611749, 9783034606868

Comprehensive handbook of river planning Urban riverbanks are attractive locations and highly prized recreational envi

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Fluss. Raum. Entwerfen. Planungsstrategien für urbane Fließgewässer

Planungsstrategien für urbane Fließgewässer Martin Prominski Antje Stokman Susanne Zeller Daniel Stimberg Hinnerk Voermanek Birkhäuser · Basel

Ist nicht jeder Fluss etwas ganz Besonderes? Keiner gleicht in seiner Morphologie, Limnologie und Atmosphäre dem anderen. Flüsse als Adern unserer Landschaften sind spannend und lebendig. Sie können sanft das Sonnenlicht zum Tanzen bringen und am nächsten Tag unberechenbar wild aufbrausen und alles, was sich ihnen in den Weg stellt, wegspülen und mit sich reißen. Flüsse sind weit mehr als das sich bewegende Wasser – das wäre eine unzulässige Reduktion. Gerade die Wechselwirkungen des Strömenden mit dem Untergrund, die Ausformung der Ufer und deren Umgebung machen Flüsse zu jenen unverwechselbaren Persönlichkeiten mit Charakter, wie sie uns in Sagen, Liedern und Geschichten von alters her beschrieben wurden und vertraut sind. Nahezu alle Städte und urbanen Kulturräume sind an Flüssen entstanden. Ihre Entwicklung und das Wohlergehen ihrer Bewohner erzählen auch eine Geschichte von ihrer Wechselwirkung mit dem Wasser. So konnten sich Handel, Transport und Industrie gerade wegen der Schiffbarkeit der Flüsse und ihrer Bedeutung als Verkehrsachsen entwickeln. Jahrhundertelang waren die Flüsse eine bedeutende Basis für die Ernährung der nahe dem Wasser lebenden Menschen. Wasser und die Gestalt der von Menschenhand geformten Wasserlandschaften sind die Grundlage unserer Kultur. Doch Flüsse bedeuten nicht nur Segen, sondern können auch Fluch sein! Es kommt nicht von ungefähr, dass die ersten ingenieurtechnischen Bauwerke der Menschheit zum Regulieren der Flüsse errichtet wurden. Das Ziel der Eingriffe war stets der Schutz vor der Flutgewalt und Zerstörungskraft der Wassermassen. Andererseits hat die Bändigung und Regulierung der Gewässer vielerorts besondere Kulturlandschaften überhaupt erst entstehen lassen. Heute sind unsere Flüsse weitestgehend ausgebaut, begradigt und zu technischen Bauwerken überformt – ihre Ursprünglichkeit und ihr landschaftsprägender Charakter sind kaum noch erkennbar. Nicht erst seit den enormen Hochwasserkatastrophen der jüngsten Zeit, den Auswirkungen des Klimawandels und dem Schwinden an Artenvielfalt am und im Wasser werden die vermeintliche menschliche Allmacht und die einseitige technische Betrachtungsweise unserer geradlinig ausgebauten Flüsse heute vermehrt infrage gestellt. Sowohl durch die Formulierung und Umsetzung der EU-Wasserrahmenrichtlinie mit ihrer Zielsetzung, einen guten Zustand für alle europäischen Gewässer zu erreichen, als auch im stets wachsenden öffentlichen Bewusstsein rücken Flüsse in den Fokus der Aufmerksamkeit. Dabei geht es nicht allein um die Gewässerhydraulik und den technischen Hochwasserschutz. Immer wichtiger werden die Möglichkeiten zur Freizeitnutzung, und zusehends entdecken wir Menschen unsere Flüsse zur Besinnung und Erholung. Gepaart mit der erfolgreichen Verbesserung der Wasserqualität durch Abwasserreinigung und Regenwasserbehandlung sind Flüsse nicht mehr die gemiedene stinkende Rückseite der Stadt, sondern werden zu deren erster Adresse und Visitenkarte. Damit kommt der Ästhetik des Flussraumes, ausgeformt in seiner Morphologie und Ufergestalt, eine große Bedeutung zu: Der menschliche Umgang mit dem Fluss verändert sich vom technischen harten Flussausbau hin zu naturnahen ingenieurbiologischen Bauweisen der Flussgestaltung mit multifunktionaler Nutzung für alle Lebewesen am und im Fluss. Gemäß unseren heutigen Ansprüchen wünschen wir uns Flüsse in qualitativ gutem Zustand mit hochwertiger Gestaltung, die als lebendige Organismen auch uns Menschen Vitalität spenden. Wie sind diese Ziele zu erreichen? Welche guten Beispiele regen zur Nachahmung an und worauf kommt es in der Umsetzung an? Das sind heute die brennenden Fragen in der Gewässergestaltung und Flussraumsanierung. Genau aus diesen Gründen ist das nun vorliegende Buch Fluss.Raum.Entwerfen längst überfällig. Nicht nur inhaltlich exzellent bearbeitet, sondern auch äußerst übersichtlich und methodisch systematisch aufgebaut, wendet es sich gleichermaßen an Fachleute und interessierte Laien. Den Entscheidungsträgern aus Politik und Verwaltung werden interdisziplinäre Zusammenhänge verdeutlicht, Planer und ausführende Betriebe werden wertvolle Anregungen für die eigene Arbeit finden. Letztendlich ist das Buch für alle professionell wasserinteressierten Menschen eine Quelle, aus der reichlich zu schöpfen ist! Es ist zu hoffen, dass unsere Flüsse auch in kontrollierten Formen ihre Gestaltpotenz und Ursprungskraft erhalten können, um eine vitale urbane Landschaft für die Bewohner zu fördern.

Vorwort Herbert Dreiseitl

4 5

Vorwort

Grundlagen

Einführung Elbe; HafenCity Hamburg. Viele Städte wenden sich wieder ihren Gewässern zu. In diesen neuen Stadtlandschaften am Wasser werden die vielfältigen Anforderungen aus Städtebau, Hochwasserschutz, Ökologie und Freiraumnutzung auf innovative Weise miteinander verknüpft.

Ziele Urbane Flussräume haben einen enormen Wandel erlebt: Fristeten sie lange Zeit ein Hinterzimmer-Dasein, so entwickeln sie sich heute zu den repräsentativen Salons der Städte. Damit werden eine Vielzahl neuer Anforderungen an sie gestellt, was ihre Gestaltung ungleich anspruchsvoller macht: Sie sollen als attraktive Freiräume zu einem wichtigen Standortfaktor im Wettbewerb der Städte werden; die EU-Wasserrahmenrichtlinie von 2000 fordert flächendeckend einen guten ökologischen Gewässerzustand; und gleichzeitig sind die menschlichen Siedlungsräume vor dem Hintergrund des Klimawandels zunehmend extremen Wetter- und Hochwasserereignissen ausgesetzt. All diesen Ansprüchen müssen die urbanen Gewässer gerecht werden, und das oft auf engstem Raum.

Handlungsimpuls EU-Richtlinien Aus Sicht der Wasserwirtschaft lenken der prognostizierte Klimawandel und vereinzelte extreme Hochwasser- wie auch Niedrigwasserereignisse die Aufmerksamkeit auf die Notwendigkeit der Anpassung urbaner Flussräume. Prognosen für längere Trockenzeiten, vermehrt auftretender Starkregen und der steigende Meeresspiegel verlangen eine Überprüfung sowohl der Hochwasserschutzsysteme als auch der Versorgungs- und Entwässerungssysteme der Städte. Mit der EU-Hochwasserrisikomanagement-Richtlinie von 2007 haben sich die EU-Mitgliedsstaaten verpflichtet, die Gefahren durch Hochwasser genau zu bewerten und Managementpläne zur Verbesserung des Hochwasserschutzes zu erstellen. Die dadurch notwendigen Maßnahmen bringen unter- und oberirdisch Bewegung in die Stadtlandschaften. Parallel dazu werden mit der Umsetzung der EU-Wasserrahmenrichtlinie vor allem ökologische Zielsetzungen wie die Verbesserung der Wasserqualität als auch der Gewässerstruktur verfolgt: Die Richtlinie fordert von den Gemeinden „den Schutz und die Verbesserung der aquatischen Ökosysteme“ [WRRL, Artikel 4]. Umfangreichen Bestandsaufnahmen folgen inzwischen viele Projekte, die die Forderungen der Richtlinie erfüllen sollen. Auch die wasserwirtschaftlichen Fachverbände entwickeln inzwischen Regelwerke [beispielsweise Deutsche Vereinigung für Wasserwirtschaft, Abwasser und Abfall e. V., DWA, 2009] zur Gestaltung von Fließgewässern im urbanen Bereich und fordern ganzheitliche Ansätze zur Vereinbarung der teils gegensätzlichen Nutzungsansprüche. Gleichzeitig ist das Wasser in den Städten seit einigen Jahren sehr stark in den Blick der Stadt- und Freiraumplanung gerückt. Eine generelle Hinwendung zum Wasser ist zu beobachten. Wohnen und Arbeiten am Wasser, Stadtstrände, Hafenumnutzungen und neue Uferpromenaden werden entwickelt, um die Lebensqualität in den Städten zu verbessern. Entsprechend der Aktualität des Themas sind in Europa in den letzten Jahren viele Vorhaben zur Neugestaltung urbaner Gewässerräume, das heißt sowohl der Gewässer selbst als auch ihrer Uferbereiche, entstanden und umgesetzt worden. Insgesamt sind die Aufgabenstellungen an den Gewässern komplex und erfordern eine enge Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure aus Wasserwirtschaft, Städtebau, Architektur, Landschaftsarchitektur, Naturschutz und anderen Disziplinen. Durch die vielen Aspekte, die urbane Gewässer betreffen, wird jedes Projekt zu einer interdisziplinären Herausforderung. Vor allem das Spannungsfeld zwischen Sicherheit und der Suche nach einer neuen Nähe zum Gewässer fordert die Gestalter heraus. Inzwischen gibt es weltweit viele erfolgreiche Umgestaltungsmaßnahmen, die als Referenzen in diversen Fachzeitschriften, Büchern und Datenbanken veröffentlicht wurden. Für diejenigen, die nun selbst einen urbanen Flussraum zu entwerfen haben, ist die Kenntnis guter Referenzen wichtig, aber die Suche ist mühsam und tendenziell unbefriedigend, weil jedes Fallbeispiel so speziell ist, dass es für die eigene Planungsaufgabe nicht passt. Was bisher fehlt ist eine Übersicht, die die Vielzahl der Gestaltungsmöglichkeiten für urbane Fließgewässerräume in systematisierter und übertragbarer Weise aufzeigt. Hier setzt das Buch als Arbeitshilfe für Entwerfende urbaner Flussräume an.

8 9

Grundlagen Einführung

Folgende Ziele stehen im Vordergrund: 1. Übertragbares Wissen schaffen Aus realisierten Entwürfen für urbane Flussräume, die aus verschiedenen Gründen vorbildlich sind, wurden die verwendeten Gestaltungsmittel abstrahiert und in eine typologische Ordnung gebracht. Ein Katalog daraus abgeleiteter Entwurfsstrategien erleichtert den Praktikern eine Übertragung auf die eigene Entwurfsaufgabe. Anschauliche Darstellungen ermöglichen ein schnelles Verständnis der Strategien und Gestaltungsmittel und deren räumlicher Relevanz. 2. Eine interdisziplinäre Sprache finden Die entwickelte typologische Ordnung integriert die Aspekte aller an der Gestaltung urbaner Flussräume beteiligten Disziplinen. Durch diese fachübergreifende Darstellungsweise und Sprache wird die gemeinsame Projektarbeit zwischen Landschaftsarchitekten, Wasserwirtschaftlern, Ökologen, Architekten und Stadtplanern befördert, was angesichts der Komplexität des Entwerfens urbaner Flussräume von hoher Bedeutung ist. 3. Prozesse in Fließgewässern darstellen Flüsse sind ständig im Fluss – so kann die offensichtliche Tatsache auf den Punkt gebracht werden, dass sich Flussräume durch die verschiedenen Wasserprozesse in ständigem Wandel befinden. Prozessorientierung ist daher unabdingbar für das Entwerfen von Flussräumen und sollte sich in den Entwurfsdarstellungen wiederfinden. Viele Entwurfsdarstellungen von Flussräumen sind aber nur auf einen Zustand orientiert und greifen damit zu kurz. Für ein prinzipielles Verständnis des Prozessgeschehens innerhalb von Fließgewässersystemen werden in diesem Buch visuelle Darstellungsformen und anschauliche Beschreibungen der gewässerbezogenen Prozesse entwickelt. 4. Bezüge zwischen Ökologie, Hochwasserschutz und Freiraumnutzung herstellen Die Bedeutung prozessorientierten Gestaltens für die drei großen Themengebiete der Flussgestaltung im urbanen Raum – Hochwasserschutz, Freiraumgestaltung und Ökologie – wird verdeutlicht. Mögliche Synergien, aber auch Konflikte zwischen diesen drei Themenschwerpunkten in der räumlichen Gestaltung werden offengelegt. Die interdisziplinäre Zusammensetzung des Autorenteams aus Landschaftsarchitekten und Wasserbauingenieuren ermöglichte die Untersuchung der für dieses Buch ausgewählten Projekte unter verschiedenen Blickwinkeln. Aus den Gesprächen mit Experten

D∂.3 gesetzte Steinbuhnen

Zwei Beispiele für übertragbare Gestaltungsmittel aus den untersuchten Projektbeispielen: Bei der Revitalisierung der Birs in Basel wurden Steinbuhnen in den Lauf gesetzt, in Wörth am Main wurden spektakuläre, aufklappbare Fluttore in die zur Hochwasserschutzmauer transformierten Stadtmauer integriert.

vor Ort, Literaturrecherchen sowie eigenen Analysen wurden Entwurfsstrategien abstrahiert und eine Systematik zur Einordnung der Gestaltungsmittel und -maßnahmen erarbeitet. Als Basis dieser Systematik diente die Analyse der Gewässerprozesse, deren Verständnis die konzeptionelle Einordnung und Beschreibung der verschiedenen Gestaltungsmöglichkeiten erlaubt.

Projektauswahl Die Studien für dieses Buch begannen mit einer Auswahl von Beispielen guter Praxis, die vorher definierte Kriterien erfüllen mussten. Erstens sollten sie von den drei Zielsetzungen Hochwasserschutz, Ökologie und Gestaltung als nutzbarer Freiraum mindestens zwei erfüllen. Das heißt, die Vorhaben mussten einen integrativen Ansatz verfolgen, der mindestens zwei der oben genannten Anforderungen im Sinne der Mehrfachkodierung so kombiniert, dass der knappe urbane Raum auf unterschiedliche Weise zu nutzen ist und öffentliche Mittel effektiv eingesetzt werden. Projekte, die eine singuläre Zielsetzung verfolgen, wurden nur in Ausnahmefällen hinzugezogen. Bewusst wurden Projekte mit unterschiedlichen Absichten und Charakteren nebeneinandergestellt. Ökologische, wasserbauliche oder architektonische Ziele können den Anstoß für die Vorhaben gegeben haben. Entsprechend unterschiedlich waren die Zusammensetzung der Verfasserteams und die Gestaltsprache der Projekte. Die Gegenüberstellung der verschiedenen Projekte insbesondere im Hinblick auf deren Umgang mit Gewässerprozessen schuf neue interdisziplinäre Einsichten und Synergien. Zweitens sollte in den Projekten eine bewusste entwerferische Auseinandersetzung mit den Gewässerdynamiken deutlich werden. Das Spektrum reicht hier von kleinsten Eingriffen an der Uferpromenade zur Verdeutlichung unterschiedlicher Wasserstände bis hin zu großräumigen Veränderungsprozessen im Gewässerbett. Drittens sollte mindestens ein besonders innovatives Gestaltungsmittel vorhanden sein, das heißt, die Projekte decken einen Aspekt ab, der das jeweilige Projekt von anderen Projekten unterscheidet, oder zeigen einen spezifischen Aspekt, der in anderen Projekten nicht zu finden ist. Die gestalterische Gesamtqualität und Einmaligkeit der Projekte war nicht das Hauptauswahlkriterium. Die Gewässer in den verschiedenen Referenzprojekten sind sehr unterschiedlich. Nicht alle dargestellten Gestaltungsmittel oder -maßnahmen sind daher auf alle Projekte übertragbar.

B5.3 aufklappbare Schutzelemente

∂0 ∂∂

Grundlagen Einführung

Buchstruktur Das Buch gliedert sich in zwei Bände. Der erste, linke Band beginnt mit grundlegenden Erläuterungen zu den Bedingungen qualitätsvoller Gestaltung urbaner Flussräume sowie den verschiedenen Prozesstypen, die die Gewässer, ihr Aussehen und ihre Veränderung bestimmen (Teil 1, Grundlagen). Diese Grundlagen legen das theoretische Fundament für das Herzstück des Buches, den Katalog der systematisch geordneten Entwurfsstrategien mit ihren jeweiligen Gestaltungsmitteln und -maßnahmen. Der Katalog gliedert sich in fünf unterschiedliche Prozessräume A bis E, in denen in definierten räumlichen Bereichen des Flusses die Wasserprozesse jeweils unterschiedlich durch gestalterische Maßnahmen gesteuert werden (Teil 2, Entwurfskatalog). Der zweite, rechte Band beinhaltet die untersuchten Projektbeispiele guter Praxis, aus denen die Gestaltungsmittel abgeleitet wurden (Teil 3, Projektkatalog). Diese Referenzen werden hier ausführlich mit Bildern und Karten erläutert und in ihrem Entstehungskontext beschrieben. Die oberste Ordnungskategorie für die Projekte sind die fünf Prozessräume, innerhalb dieser sind sie nach Flussnamen alphabetisch geordnet. Weiterhin findet sich im zweiten Band im Anhang ein ausführliches Fachwortglossar.

E2

Laufentwicklung initiieren



Kombinationsmöglichkeiten für

alle Gestaltungsmittel aus E2 –––––––– C∂.4 Vorland abgraben C3.5 großräumige Naturgebiete E∂.∂ Ufer- und Sohlsicherung entfernen E∂.2 Gewässerunterhaltung extensivieren E3.∂ mäandrierenden Gewässerlauf vorgeben E3.2 begradigten Lauf einbeziehen E3.3 Gewässerverzweigung anlegen E4.∂ „schlafende“ Ufersicherung E4.2 Ufersicherung im Bedarfsfall E4.3 punktuelle Ufersicherung

Durch punktuelle Eingriffe im Gewässerlauf in Form einer gezielten Umschichtung von Substraten im Uferbereich oder Gewässerbett werden morphodynamische Prozesse angeregt. Diese Strategie kommt zum Einsatz, wenn die gewünschten Effekte einer eigendynamischen Entwicklung sich erst nach sehr langer Zeit einstellen würden. Das Ziel dieser Strategie ist es, die Randbedingungen für die eigendynamische Gewässerentwicklung zu optimieren, um den gewünschten Zustand eines strukturreicheren Gewässers schneller zu erreichen. Diese Umschichtungen dienen also nur als Startpunkt für eine stark eigendynamische Entwicklung, die das Initialstadium bald wieder verschwinden lässt. Innerhalb kurzer Zeit können durch Initialmaßnahmen Habitate entstehen, die ein rasches Ansiedeln von Fauna und Flora ermöglichen. Gleichzeitig kann auch das Erscheinungsbild schnell verändert werden, was die Kommunikation der Eingriffe in der Öffentlichkeit erleichtert. Der eigentliche Verlauf des Fließgewässers wird dabei zunächst nicht verändert. Die meisten Gestaltungsmittel zur Einleitung morphodynamischer Prozesse nehmen Einfluss auf die Strömung im Gewässer. Durch die gezielte Differenzierung der Strömung können Erosions- und Anlandungsprozesse in Gang gesetzt werden. Punktuelle Aufweitungen führen zur Verlangsamung der Strömung und somit zu Auflandungen; Störelemente können durch die gezielte Lenkung der Strömung auf die Ufer Erosionsprozesse initiieren. Gestalterisch besteht die Möglichkeit, ein naturnahes Bild anzustreben, indem man zum Beispiel Totholz verwendet. Andererseits kann der Eingriff aber auch durch offensichtlich künstliche Elemente zur Strömungslenkung sichtbar gemacht werden. Das Einbringen von Störelementen bedeutet auch eine Vergrößerung der Habitatvielfalt. Außerdem können die Elemente als Trittsteine im Gewässer den direkten Kontakt zum Wasser ermöglichen. Eine weitere Option ist die Beeinflussung der Rahmenbedingungen für die Abfluss- und Transportprozesse im Gewässer. Das künstliche Einbringen von Sedimenten ins Flussbett erleichtert die Bildung von Sand- und Kiesbänken oder natürlichen Stränden. Eine Verstärkung der Abflussdynamik unterstützt die wirkenden Kräfte und beschleunigt damit die Entwicklung.

E2.∂

E2.2

E2.3

Gewässerprofil differenzieren

Störelemente einbringen

Geschiebezugaben

Isar, München

Schunter, Braunschweig

Isar, München

Durch das Abgraben des Vorlandes und das Abflachen der Ufer wird das Gewässer in die Lage versetzt, sich über die ehemalige Uferlinie hinaus zu entwickeln. Das punktuelle Ausbaggern oder Verlagern von Substrat innerhalb des Gewässerbetts schafft Senken oder Flachwasserzonen. Durch die Profildifferenzierung wird die Strömungsvarianz erhöht und in den schneller fließenden Bereichen bildet sich eine Niedrigwasserrinne heraus, die dem Erhalt eines kontinuierlichen Gewässerlaufs bei extremer Trockenheit dient. Je nach Strömungsgeschwindigkeit lagern sich wie an der Isar in München unterschiedlich große Sedimente von Sand über Kies bis hin zu größeren Steinen im Gewässerbett ab, was die Strukturvielfalt im Gewässer zusätzlich erhöht.

Störelemente werden gezielt in das Gewässerbett eingebracht, um die Strömung auf die Ufer zu lenken und dort Erosionsprozesse auszulösen oder eine Sedimentation in ihrem Strömungsschatten zu fördern. Störelemente können sowohl am Ufer angelehnt als auch mittig im Gewässer platziert werden. An der Schunter lenkt befestigtes Totholz die Strömung auf die gegenüberliegenden Ufer und führt dazu, dass diese erodieren und sich kleine Steilufer ausbilden. Die Störelemente bereichern die Strukturvielfalt und sorgen für Spiel- und Aufenthaltsorte im Gewässer.

Viele urbane Fließgewässer sind durch einen Mangel an natürlichen Sedimenten geprägt. Durch Staustufen oder andere Querbauwerke wird eine Verlagerung des Geschiebes verhindert, und die Gewässer leiden so an einem Geschiebedefizit. Das gezielte Einbringen von gewässertypischen Sedimenten stellt Material für die Bettbildung zur Verfügung. Bei der Isar in München wurden künstliche Sand- oder Kiesbänke aufgeschüttet, die beim nächsten Hochwasser weitertransportiert werden. Wenn das Geschiebedefizit durch Querbauwerke verursacht wird, kann durch die gezielte Öffnung der Bauwerke das Geschiebe die Barriere überwinden und zur Entwicklung des folgenden Flussabschnitts beitragen.

–––––––– Isar, München ∆ 260 Losse, Kassel ∆ 264 Schunter, Braunschweig ∆ 266 Werse, Beckum ∆ 270

–––––––– Emscher, Dortmund ∆ 256

–––––––– Isar, München ∆ 260

Isar, München ∆ 260 Wahlebach, Kassel ∆ 268 Werse, Beckum ∆ 270

∂36 ∂37

Entwurfskatalog Dynamisierte Flusslandschaften

Verweise zwischen den beiden Bänden verknüpfen Gestaltungsmittel und Projektbeispiele.

Verknüpfungen

Die beiden Bände sind durch Verweise zueinander in Beziehung gesetzt, sodass sie parallel benutzt werden können. Verschiedene Leserichtungen sind möglich: Einerseits können die abstrahierten Entwurfsstrategien im linken Band durch Nachschlagen der Projektbeispiele im rechten Band in konkreten Zusammenhängen nachvollzogen werden, denn den Gestaltungsmitteln sind durch Verweise diejenigen Projekte zugeordnet, die diese verwenden. Andererseits haben die Projekte im rechten Band Verweise auf die Gestaltungsmittel im linken Band. Wenn also jemand von einem konkreten Element in einem Projekt fasziniert ist, kann sie oder er durch die Verweise auf die abstrahierten Gestaltungsmittel das Verständnis vertiefen und somit prüfen, ob das Element auf den eigenen Planungsfall übertragbar ist. Die Verweise erfolgen in Form kleiner Pfeile am Seitenende oder am Seitenrand. Ein Pfeil nach links ∫ verweist auf den ersten, linken Band. Ein Pfeil nach rechts ∆ auf den zweiten, rechten Band. Das gesamte Buch ist durch diese Verknüpfungsstruktur auf vielfältige Weise lesbar: Sowohl die theoretische Einführung (Teil 1) als auch die Entwurfsstrategien (Teil 2) oder die Projektbeispiele (Teil 3) sind als Einstiegsmöglichkeiten in das Buch geeignet.

2

1

Isar Isar-Plan, ab 2000 München, Deutschland Flussdaten Projektgebiet Gewässertyp: große Flüsse des Alpenvorlandes Einzugsgebiet: 2814 km² Mittlerer Abfluss (MQ): 64 m³/s Hundertjährlicher Hochwasserabfluss (HQ100): 1050 m³/s Breite Flussbett: 50–60 m, Breite Aue: 150 m Standort: 48° 06’ 35“ N – 11° 33’ 35“ O ∫ Gestaltungsmittel –––––––– B3.∂ unsichtbar stabilisieren C∂.4 Vorland abgraben C5.∂ Fischaufstiegsanlagen D∂.2 Totholz E∂.∂ Ufer- und Sohlsicherung entfernen E∂.2 Gewässerunterhaltung extensivieren E∂.3 Wasserentnahme regulieren E2.∂ Gewässerprofil differenzieren E2.2 Störelemente einbringen E2.3 Geschiebezugaben E3.3 Gewässerverzweigung anlegen E4.∂ „schlafende“ Ufersicherung E4.3 punktuelle Ufersicherung

260 26∂

Projektkatalog Dynamisierte Flusslandschaften

Schon Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Isar kanalisiert und begradigt. Die „Reißende“, wie die Kelten den Fluss nannten, wurde nach und nach mit gepflasterten Uferböschungen, streng gemähten Vorländern und Sohlschwellen versehen, die die Fließgeschwindigkeit drosselten, aber auch Wanderungen von Fischen sowie den Geschiebetransport verhinderten. Außerdem wurde im Süden von München fast die gesamte Wassermenge zur Stromgewinnung in einen parallel verlaufenden Seitenkanal abgeleitet. Nur etwa 5 m3/s flossen dort noch, einem Rinnsal gleich, in dem strengen Profil. Mit den Verhandlungen um die Festsetzung einer neuen Restwassermenge in diesem Abschnitt begann die Diskussion um den Umbau der Isar. Heute fließen 15 m3/s durch das eigentliche Flussbett. Die Isar ist ein kiesgeprägter, voralpiner Gebirgsfluss mit heftigen, zum Teil plötzlichen Hochwasserereignissen. Das Projektgebiet des sogenannten Isar-Plans beginnt vor der eigentlichen Kernstadt und verläuft über 8 km bis zur zentral gelegenen Museumsinsel. Der Isar-Plan ist ein Gemeinschaftsprojekt der Landeshauptstadt München und des Freistaates Bayern, vertreten durch das Wasserwirtschaftsamt München. Mit dem Isar-Plan sollten gleichzeitig mehr Naturnähe, eine Verbesserung des Hochwasserschutzes und eine Qualitätssteigerung für Erholungsuchende erreicht werden. Durch die ökologisch wertvolle Aufweitung des Mittelwasserbetts von 50 auf teilweise 90 m wurde der Abflussquerschnitt vergrößert. Durch die Aufweitung konnte auf eine Erhöhung der Deiche verzichtet und der alte Baumbestand auf den Deichen erhalten werden. Die bestehenden Deiche wurden nur stabilisiert, indem im Deichkern eine Dichtwand eingezogen wurde.

Wilder Fluss mit dynamischen Grenzen Das Konzept sieht hinsichtlich der Gewässerentwicklung die Förderung von raumgreifenden morphodynamischen Prozessen mit definierten Grenzen vor – so kann das Gewässer bis zu einer festgelegten Linie im Vorland seinen Lauf selbst bestimmen. Um der Isar einen Teil ihrer ursprünglichen Eigendynamik zurückzugeben, war es zunächst nötig, sie aus ihrem kanalartigen Korsett zu befreien: Das mit Steinen und Beton befestigte trapezförmige Profil wurde aufgebrochen und die Sicherungen entfernt. Um die Deiche zu schützen, wurde im Vorland eine „schlafende“ Ufersicherung eingebaut, eine unterirdische Sicherung in Form einer Steinpackung, die die dahinterliegenden Flächen vor Erosion schützt. Die kiesgeprägten Ufer sind in ständiger Veränderung begriffen und werden vor allem im Sommer von den Münchnern als großer Stadtstrand genutzt. Zum Baden, Grillen, Sonnen und für Ballspiele ist genauso Platz wie für Kleinkinder, die im seichten Wasser planschen, Hunde und sogar Reiter mit ihren Pferden. Nur vor den Brückenbauwerken, wo eine Befestigung der Ufer notwendig ist, wird der Kiesstrand durch Treppen aus Naturstein und gemauerte Ufer unterbrochen. An den Treppenstufen ist es möglich, die Dynamik der Pegelschwankungen zu erkennen. Die Treppe schafft einen interessanten Kontrast in der wilden Kiesaue und Sitzgelegenheiten am Wasser.

1 Treppen sichern kritische Engstellen und machen die Ufer bis an das Wasser nutzbar [E4.3]. 2 Prinzipschnitt: Hier wird die Lage der „schlafenden“ Sicherung deutlich [E4.∂]. Die Deiche wurden mit einem Betonkern stabilisiert [B3.∂]. 3 Flache und sich dynamisch verändernde Kiesstrände wie hier am Flaucher prägen nun statt steiler Rasenböschungen den umgestalteten Abschnitt. 4 Die baulich fixierten Totholzstrukturen initiieren Erosions- und Sedimentationsprozesse, werden aber auch von Kindern spielerisch genutzt [D∂.2]. 5 Die Wassermenge, die zur Wasserkraftnutzung von dem eigentlichen Lauf abgezweigt wurde, wurde verringert [E∂.3].

Lernprozesse Das Hochwasserereignis 2005 hat Erosionsschäden hinterlassen, die über das geplante Maß hinausgingen, und damit auch Erkenntnisse geliefert, mit denen die Strategie angepasst werden konnte. Da es kein geplantes und befestigtes Wegenetz in direkter Nähe der Uferkante gibt, entstand dort, teilweise direkt auf der „schlafenden“ Ufersicherung, ein Trampelpfad, der die schützende Grasnarbe zerstörte. Mit Absperrungen wird versucht, die Fußgänger auf andere Wege zu lenken. An einigen Stellen wurde die „schlafende“ Sicherung hinterspült. Teilweise wurde dies belassen, die Aktivitäten des Flusses werden weiter beobachtet. So kann der gesamte Umgang mit dem Isarumbau als Lernprozess bezeichnet werden.

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Grundlagen Einführung

Planungsvoraussetzungen für urbane Flussräume Die Umgestaltung von Gewässerräumen in der Stadt kann gleichzeitig eine ökologische Aufwertung, ein Verbesserung des städtischen Wohnumfelds und eine Reduzierung der Hochwassergefahr bewirken. Die Birs in Basel 1987 und nach ihrer Revitalisierung 2005

Wenn die komplexe Aufgabe der Gestaltung urbaner Flussräume auf hohem Niveau gelingen soll, braucht es nach unserer Einschätzung drei grundlegende Voraussetzungen: erstens die Berücksichtigung der verschiedenen Ansprüche an den Flussraum – Multifunktionalität; zweitens eine konstruktive Zusammenarbeit der verschiedenen für die Gestaltung verantwortlichen Professionen – Interdisziplinarität, und drittens eine prinzipielle Berücksichtigung und gründliche Kenntnis der unterschiedlichen Gewässerprozesse – Prozessorientierung.

Multifunktionalität Gerade in der Stadt offenbaren Flussräume ihren hybriden Charakter: Sie sind künstlich und natürlich zugleich. Sie sind räumlich stark begrenzte, kunstvoll gesteuerte wasserbauliche Infrastrukturen. Sie sind wichtige Erholungsräume in der Stadt. Sie sind lineare Ökosysteme, die Städte und Regionen mit ihrem gesamten Fließgewässereinzugsgebiet verbinden – das Wasser der im Oberlauf gelegenen Regionen fließt durch die flussabwärts gelegenen Regionen und schafft so bei den Anrainern sowohl ein Gefühl der Verbundenheit als auch ein Verhältnis der Abhängigkeit, denn Veränderungen im Oberlauf der Flüsse wirken sich immer auf seine Unterlieger aus. Die Frage beim aktuellen Umbau von Flusssystemen in der Stadt lautet nun, wie sich die vielfältigen funktionalen Anforderungen an die Gestaltung der urbanen Gewässer miteinander verbinden lassen. Weiterhin geht es darum, wie sich diese Anforderungen mit der natürlichen Eigendynamik der Gewässer kombinieren lassen. Die Veränderung der eigendynamischen Prozesse der Gewässer hat in der Vergangenheit verschiedene Probleme nach sich gezogen: Die Sichtweise, dass gewässernahe urbane Räume nur optimal nutzbar sind, wenn sie vor Überflutungen geschützt und den dynamischen Flussprozessen nicht unterworfen sind, führte zu einer engen Begrenzung der direkt wasserbeeinflussten Räume oder sogar zu ihrer völligen Überbauung. Zusammen mit der oftmals sehr schlechten Wasserqualität in der Vergangenheit hatte dies zur Folge, dass die Gewässer fast völlig aus dem Bewusstsein und dem Leben der Stadtbevölkerung rückten. Gleichzeitig verschwanden viele gewässertypische Tier- und Pflanzenarten aus den technisch überformten Gewässern: Wehre und Sohlschwellen stellen unüberwindbare Hindernisse für viele Arten dar, und der kanalartige Ausbau mit starken Befestigungen von Gewässersohle und Ufern führt zum Verlust von Lebensräumen. Ein weiterer Grund ist die oft sehr intensive Reinigung und Ausbaggerung von Gewässern mit dem einseitigen Ziel, den Wasserabfluss und die Fließgeschwindigkeit zu optimieren, ohne Rücksicht auf ökologische und gestalterische Ansprüche. Trotzdem bieten die engen Gewässerquerschnitte oft nicht mehr genügend Raum, um die aufgrund zunehmender Flächenversiegelung und extremer Starkregenereignisse verstärkt anfallenden Wassermassen schadfrei abzuführen. Die Zielsetzung des urbanen Hochwasserschutzes war bisher meist das möglichst schnelle Abfließen der Hochwasserwelle. Erst seit einigen Jahren setzt sich ein neuer Ansatz durch, das anfallende Wasser durch Versickerung, Rückhaltung und Speicherung des Regenwassers so weit wie möglich schon im Einzugsgebiet zurückzuhalten und so auch die Folgen für die Unterlieger an den Flüssen zu verringern.

Zusammenspiel von Freiraumnutzung, Ökologie und Hochwasserschutz Das Verständnis der eigendynamischen Prozesse der Gewässer wird in diesem Buch als Ausgangsbasis für nachhaltige und interdisziplinäre Projekte gesehen. Es will einen Beitrag zur besseren Integration der vielfältigen Anforderungen an die Gewässergestaltung leisten. Drei Aspekte stehen bei dieser Zielsetzung im Vordergrund: mehr Platz für das Wasser, mehr Platz für die Pflanzen und Tiere, mehr Platz für den Menschen. Es geht darum, Möglichkeiten einer neuen Synergie zwischen sich oft scheinbar unvereinbar gegenüberstehenden Anforderungen aufzuzeigen. Dazu werden bei den verschiedenen Gestaltungsansätzen und Projektbeispielen grundsätzlich Hinweise zum Zusammenspiel der Zielsetzungen Hochwasserschutz, Ökologie und Freiraumnutzung gegeben. Wenn die Gewässer viel Raum haben, wie zum Beispiel die urbane Erholungslandschaft

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Grundlagen Planungsvoraussetzungen

Flaucher an der Isar in München, stellt es keine große Schwierigkeit dar, diese Ansprüche miteinander zu vereinbaren. Das Leitbild eines natürlichen Flusses mit hoher Eigendynamik und einer standorttypischen begleitenden Aue, die wie am Flaucher gleichzeitig als wichtiger Erholungsraum mit unmittelbarem Bezug zum Wasser dient, lässt sich aufgrund von Platzmangel jedoch in den seltensten Fällen im urbanen Raum umsetzen. Insofern wird ein besonderer Schwerpunkt im Buch auf die Darstellung von Projektbeispielen und Gestaltungsansätzen gelegt, die die verschiedenen Ansprüche auf engstem Raum miteinander verbinden. Dies soll den Ideenreichtum der Entwerfenden beim Finden intelligenter Kombinationen, Überlagerungen und Verschränkungen der verschiedenen Nutzungen auch bei scheinbar geringen Handlungsspielräumen fördern – selbst dort, wo zuerst nur eine spezifische Anforderung den Anlass für die Planung darstellt.

Interdisziplinarität Die zukünftige Gestaltung von Wasserräumen stellt eine Herausforderung dar, die nicht allein durch eine Disziplin zu lösen ist. Vor diesem Hintergrund ist es sinnvoll, die wechselseitige räumliche Bedingtheit von wasserwirtschaftlichen, ökologischen, stadtplanerischen und landschaftsarchitektonischen Entscheidungen zu betrachten und zu reflektieren.

Eine gemeinsame Sprache entwickeln Oft ist die Zusammenarbeit schwierig, da eine gemeinsame Sprache, grundlegendes Fachwissen aus den jeweils anderen Bereichen und interdisziplinäre Arbeitsstrukturen fehlen. Häufig werden Projekte unter Federführung einer Disziplin bearbeitet und die anderen Disziplinen erst zu einem späten Zeitpunkt hinzugezogen ohne die Möglichkeit, sie in die grundlegenden konzeptionellen Planungsentscheidungen einzubeziehen. Im Zuge der Revitalisierung urbaner Gewässer, der Verbesserung des Hochwasserschutzes sowie der städtebaulichen Integration und Erlebbarkeit des Wassers gibt es seit einigen Jahren eine Vielzahl interdisziplinärer Wettbewerbe und Aufgabenstellungen, die eine enge Zusammenarbeit zwischen Wasserwirtschaftlern, Landschaftsarchitekten und Stadtplanern vorschreiben. Diesen Projekten fehlt jedoch eine systematische Grundlage, sie sind jeweils am Einzelfall orientiert. Allerdings stellen sie die Grundlage für die Bildung neuer Planungskoalitionen und innovativer Planungsstrukturen dar. Die Zusammensetzung der Planungsteams hat maßgeblichen Einfluss auf die Qualität der Projekte. Systemverständnis als Grundlage

Das Buch möchte einen Beitrag zur besseren Verständigung der Disziplinen untereinander leisten. Es richtet sich nicht nur an eine Fachdisziplin, sondern an Vertreter aller an der Gewässergestaltung beteiligten Professionen. Indem wir die Projektbeispiele und ihre Gestaltungsansätze aus den jeweils spezifischen

Basis für ein interdisziplinäres Arbeiten an Gewässern ist das Entwickeln einer gemeinsamen Sprache und eines übergreifenden Systemverständnisses. Dies war der Ansatz für das gemeinsame kreative Arbeiten im IBA-Labor Klimafolgenmanagement in Hamburg 2009, das auch durch Exkursionen gefördert wurde.

Perspektiven der ökologischen Revitalisierung, der Verbesserung des Hochwasserschutzes als auch der städtebaulichen oder freiraumplanerischen Integration darstellen, ermöglichen wir einen interessenbezogenen Zugang für die verschiedenen Fachdisziplinen. Gleichzeitig trägt die Darstellung der disziplinübergreifenden Zusammenhänge zu einem besseren Verständnis der komplexen Anforderungen an die Gewässergestaltung bei. Dabei dienen insbesondere ein Systemverständnis für die Gewässerprozesse und eine gemeinsame Sprache als Basis der Zusammenarbeit. Insofern kann das Buch als Handbuch für interdisziplinäre Teams dienen und eine Verständigungsgrundlage darstellen.

Prozessorientierung Können urbane Flussräume gestaltet werden, ohne die verschiedenen Prozesse der Wasserschwankungen und Wasserkräfte aktiv zu berücksichtigen? Selbstverständlich nicht, aber ein Blick in Veröffentlichungen zu Flussraumgestaltungen zeigt, dass kaum Darstellungen verschiedener Prozesszustände zu finden sind. Meist wird der eine von den Entwerfenden als ideal angesehene Zustand abgebildet und nicht gezeigt, wie die Gestaltung auf die verschiedenen Wasserrhythmen reagiert.

Mit Dynamiken gestalten Eine mangelnde Auseinandersetzung mit Prozessen ist aber nicht nur bei der Gestaltung von Flussräumen festzustellen, sondern ein grundsätzliches Problem der räumlichen Gestaltung. Schon vor 20 Jahren fragte der amerikanische Landschaftsarchitekt George Hargreaves: „Why are static landscapes – frozen in space and time – the norm? Maybe it’s time to change that and the concept of beauty.“ [Hargreaves, 1993, S. 177]. Bis heute hat sich an dieser Feststellung wenig geändert, und die meisten Auftraggeber (aber auch manche Gestalter) präferieren die Hochglanzdarstellung des Projekts bei Sonnenschein und Normalwasser. Wir halten das für nicht zielführend und möchten in diesem Buch einen Beitrag zu einem prozessorientierten Verständnis von Gestaltung leisten. Zwei Aspekte stehen bei dieser Zielsetzung im Vordergrund: Einerseits geht um ein besseres Verständnis der gewässerdynamischen Prozesse, wofür wir auf den folgenden Seiten neue Systematisierungen entwickeln, andererseits verwenden wir Darstellungsmethoden, die die komplexen, raum-zeitlichen Wechselwirkungen zwischen Wasserdynamik und Gestaltungsmitteln abbilden können. Diese Vermittlung der dynamischen Prozesse ist notwendig, um die Gestaltung urbaner Flussräume effektiv kommunizieren zu können. Prozessorientiertes Arbeiten als Zukunftsaufgabe

Für eine derartige Prozessorientierung sind urbane Flussräume ein hervorragendes Untersuchungsobjekt, denn hier überlagern sich Naturprozesse, Systeme des Ingenieurbaus sowie entworfene Landschaften, die sich ständig verändern und auf sich ändernde Rahmenbedingungen (zum Beispiel Klimawandel) reagieren müssen. Das in diesem Buch entwickelte Prozessverständnis und die Darstellungsmethoden ermöglichen es durch ihre Übertragbarkeit, alle denkbaren Flussraumsituationen prozessorientiert zu betrachten und schließlich zu gestalten. Jedes Projekt hat seine eigenen Herausforderungen, jedes Gewässer reagiert anders, an jedem Gewässer steht unterschiedlich viel Raum zur Verfügung. Weiterhin gilt es zu akzeptieren, dass die Entwicklung des Projekts nicht vollständig vorherzusagen ist. Prozessorientiertes Gestalten bedeutet das Denken und Planen in Optionen, Nachsorge und Reaktion auf spontane Entwicklungen. Für viele Gemeinden und Planer ist diese evolutionäre Art des Gestaltens neu; sie ist aber für die Zukunft von großer Bedeutung. Aber nicht nur für Flussräume ist Prozessorientierung eine wichtige Gestaltungsgrundlage, sondern prinzipiell für alle Bereiche der Landschaft, denn diese sind durch eine Vielzahl von kulturellen und natürlichen Prozessen geprägt: Siedlungswachstum, Verkehrserschließung, Wechsel der Jahreszeiten, Wachstumsprozesse von Vegetation, geologische Prozesse und Klimaveränderungen. Unsere Hoffnung ist es, mit der hier entwickelten Systematik und den Darstellungsmethoden ein Beispiel zu geben für zukünftiges prozessorientiertes Forschen und Entwerfen insbesondere in urbanen Landschaften.

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Grundlagen Planungsvoraussetzungen

Gewässerräume und ihre Prozesse Historische Landkarte alter Flussläufe von Rhein und Neckar bei Mannheim. Die unterschiedlichen Farben zeigen die Verlagerung der Flussläufe im Laufe der Zeit (6. Jahrhundert bis 1850).

Das Wort „Prozess“ leitet sich von dem lateinischen Wort procedere ab, was „voranschreiten“ bedeutet. Bei einem Prozess handelt es sich um eine Bezeichnung für den gerichteten Ablauf eines Geschehens. Es geht also um Bewegung, um Dynamik und um ein Geschehen, dessen Abläufe bestimmten Gesetzmäßigkeiten folgen. „Du steigst nie zweimal in denselben Fluss“, lautet das berühmte Diktum des Heraklit. Diesen Satz könnte man auch so verstehen, dass Wasser und Prozesse nie getrennt von‑ einander gesehen werden können. Bereits das Strömen des Wassers lässt die Gewässer in jedem Augenblick als sehr dynamische Elemente in der Landschaft erscheinen, und die Betrachtung über längere Zeiträume zeigt, dass sich der gesamte Gewässerraum in einem ständig fortschreitenden, kontinuierlichen Veränderungsprozess befindet.

Gewässer sind dynamisch

Der ganze Umfang der Dynamiken eines Flusses ist auf den ersten Blick kaum wahrnehmbar und heute weitgehend bewusst eingeschränkt und damit großenteils in Vergessenheit geraten. Doch sind die Kräfte, die ihnen zugrunde liegen, ständig anwesend und wirksam. Meist ist für Menschen nur das Schwanken der Wasserstände deutlich wahrnehmbar, vor allem bei extremem Hoch- oder Niedrigwasser, wenn die Veränderungen sehr auffällig sind. Wie dynamisch vom Menschen unbeeinflusste Gewässer wirklich sind, wird jedoch erst bei der Betrachtung der historischen Entwicklung von Gewässern über lange Zeiträume deutlich. Die stetige Verlagerung des Gewässerlaufs, die ganze Landschaften prägen kann, schafft ein komplexes, sich ständig veränderndes System. Nur laufen die Prozesse in Zeiträumen ab, die wir nicht direkt wahrnehmen können. Der heutige Flusslauf ist vor diesem Hintergrund nur eine Momentaufnahme innerhalb dieses andauernden Prozesses.

Prozesse und ihre Antriebskräfte Die der Dynamik zugrunde liegende Energiequelle ist die Sonne. Sie lässt Wasser verdunsten, und dieser Wasserdampf steigt in große Höhen auf, wo er kondensiert und sich in Schnee oder Regen verwandelt. Die so aufgenommene Lageenergie setzt sich beim Abregnen und Herabfließen des Wassers in Bewegungsenergie um. Je steiler das Gelände, desto mehr Energie kann sich entfalten. Die Bewegungsenergie des Wassers kann im Kontakt mit dem umgebenden Boden oder Gestein Material abtragen und so das Gelände verformen. Die Schleppkraft bewirkt den flussabwärts gerichteten Transport des gelösten Materials. Prinzipiell tragen die Gewässer durch Erosion und Sedimentation höher gelegene Landschaften kontinuierlich ab und höhen die tiefliegenden Flussräume auf. Die Prozesse laufen nicht kontinuierlich linear, sondern in einem unregelmäßigen Rhythmus ab. Es gibt ruhige und dynamische Phasen, aber auch plötzliche Ereignisse wie extreme Starkregen und daraus resultierende Hochwasserabflüsse bis hin zu Katastrophen wie Erdrutsche oder dem Durchbruch einer ganzen Flussschleife.

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Die Energie, die alle gewässerdynamischen Prozesse antreibt und dem natürlichen Wasserkreislauf zugrunde liegt, ist Sonnenenergie. Trifft das energiereiche Wasser auf die anstehenden Böden, bilden sich die unterschiedlichen Flusslandschaften aus.

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Grundlagen Gewässerprozesse

Prozesstypen In Fließgewässern ablaufende Prozesse sind hochkomplex. Im Folgenden werden vier räumlich wirksame Prozesse unterschieden: vertikale Wasserstandsschwankung und horizontale Ausbreitung (blaue Pfeile), Umlagerungsprozesse (Kreispfeile) und die durch Erosion (schwarze Pfeile) und Sedimentation (weiße Pfeile) sich entwickelnde Laufverlagerung des Flusses (graue Pfeile).

Fließgewässer sind hochkomplexe Systeme, in denen miteinander vernetzte Prozesse parallel ablaufen. Physikalische, chemische und biologische Prozesse beeinflussen sich gegenseitig. In diesem Buch wird der Fokus auf die räumlich wirksamen physikalischen Prozesse gelegt, da sie bei der räumlichen Gestaltung im Vordergrund stehen. Grundsätzlich werden hierzu jeweils zwei Dynamiken mit wiederum je zwei Teilprozessen unterschieden: 1. Temporäre Abflussschwankungen Teilprozess 1: Vertikale Wasserstandsschwankungen Teilprozess 2: Horizontale Ausbreitung des Wassers 2. Morphodynamische Prozesse Teilprozess 1: Umlagerungsprozesse im Gewässer Teilprozess 2: Eigendynamische Laufverlagerung

Temporäre Abflussschwankungen

Die Ausbreitung des Wassers bei großen Abflussmengen führt zu regelmäßigen Überflutungen der Auen, wie hier in der Leineaue bei Hannover.

Das periodische Ausbreiten und Zurückziehen des Wassers, verursacht durch die Abflussdynamik des Gewässers, nimmt Räume temporär in Beschlag. Die Wasserschwankungen äußern sich sowohl in einem vertikalen Anstieg des Wasserspiegels als auch in einer horizontalen Ausdehnung in den Überflutungsbereich hinein. Die Wasserstandsschwankungen sind vollständig reversibel, und das Gewässer kehrt in den Ausgangszustand zurück.

Die Wassermenge, die ein Gewässer durchfließt, schwankt je nach Niederschlag und auch Schneeschmelze innerhalb eines Jahres stark. Die Abflussmenge ist in jedem Gewässersystem und auch an jedem Punkt innerhalb eines Gewässersystems unterschiedlich. Sie ist abhängig von der Größe und Beschaffenheit des Einzugsgebiets und des örtlichen Klimas. Stark versiegelte oder steile Einzugsgebiete führen zu stärkeren Abflussspitzen im Gewässer. Starke Niederschläge verursachen Hochwasser, das vom Entstehungsort aus in einer Welle flussabwärts fließt. Teilprozess 1: Vertikale Wasserstandsschwankungen Der Abfluss und der daraus resultierende Wasserstand eines Gewässers ändern sich nahezu täglich, wahrgenommen werden aber meist nur die extremen Hoch- oder Niedrigwasserereignisse. Der Wasserstand im Gewässer und bei Hochwasser im Überflutungsgebiet ist eine direkte Reaktion auf den aus dem Einzugsgebiet kommenden Wasserabfluss. Entsprechend dem zur Verfügung stehenden Raum und der Rauigkeit der Gewässersohle, der Ufer und des Gewässervorlandes führt ein bestimmter Abfluss zu einem korrespondierenden Wasserstand. Dieses Verhältnis kann für einzelne Punkte in einem Gewässer mit einer Wasserstand-Abfluss-Beziehung beschrieben werden. Hochwasserereignisse werden deshalb in der Regel auch in m3/s, also der Abflussmenge und nicht als Pegelstände angegeben. Die unterschiedlichen Wasserstände, sowohl Niedrigwasser als auch Hochwasser, haben vielfältige Auswirkungen auf das Ökosystem und die menschliche Nutzung. Während Hochwasser eine Gefahr für die Uferbereiche darstellt und Ökosysteme durch die Kraft und Tiefe der Überflutung in ihrer Artenzusammensetzung nachhaltig verändert werden können, kann Niedrigwasser in der Schifffahrt sowie bei der Kühlung von Kraftwerken große Probleme bereiten. Ist der Wasserstand sehr niedrig oder trocknet der Lauf ganz aus, stellt dies auch für das Ökosystem eine große Herausforderung dar.

cm

Leine

500

Main Isar

400 300 200 100 0 J

M

F

A

M

J

J

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2008 cm 500 400 300 200 100 0 1

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05. 2010

cm 500 400 300 200 100 0 0h

6h

12h

18h

0h

15. 04. 2010

Teilprozess 2: Horizontale Ausbreitung des Wassers Besonders anschaulich wird Hochwasser durch Überflutungen. Kleinere Steigerungen der Abflussmenge können zumeist noch im Gewässerbett aufgenommen werden. Doch bei größeren Hochwasserereignissen ufert das Gewässer aus und überflutet die angrenzende Gewässeraue. Dies hat auf das System eine ausgleichende Wirkung. Durch die Ausuferung in die Vorländer, die in der Regel eine vergleichsweise höhere Rauigkeit haben, findet bei Hochwasser eine Verteilung der Energien statt, die die Höhe und Geschwindigkeit einer Hochwasserwelle vermindern. Die Ausuferung ist bei anthropogen unbeeinflussten Gewässern durch den Talrand begrenzt. Maßnahmen zum Schutz vor Hochwasser, wie zum Beispiel Deichanlagen, führen zu einer künstlichen Begrenzung der Ausbreitung von Wasser in der Landschaft und somit der Überschwemmungsgebietsfläche.

Jedes Gewässer hat eine individuelle Hochwassercharakteristik. Der Pegelstand ändert sich ständig, auch wenn oft nur extreme Hoch- oder Niedrigwasserereignisse wahrgenommen werden.

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Grundlagen Gewässerprozesse

Die Primärströmung führt das Wasser talwärts. Die Sekundärströmung entsteht innerhalb des Wasserkörpers: Im Lauf bilden sich zwei gegeneinander drehende, walzenförmige Strömungen aus.

Reversible Umlagerungsprozesse: dynamische Kiesbänke in der Isar in München

Morphodynamische Prozesse

Das Erscheinungsbild eines Gewässers in der Landschaft stellt das Ergebnis eines vielfältigen und komplexen morphodynamischen Entwicklungsprozesses dar. Die treibende Kraft ist die Strömung des Wassers, die aufgrund ihrer zahlreichen komplexen Teilprozesse in ihrer Gesamtheit bisher kaum mit naturwissenschaftlichen Ansätzen beschrieben werden kann. Exakte Voraussagen zu Gewässerentwicklungen sind daher nicht möglich. Mit der primären Strömung wird das Wasser talwärts geführt. Als Sekundärströmung bezeichnet man das Drehen des Wassers um die Hauptströmungsrichtung herum. Diese Drehbewegung entsteht durch die unterschiedlichen Strömungsgeschwindigkeiten in Ufernähe, wo das Wasser durch die Reibung gebremst wird, und in der Laufmitte, wo es schneller fließt. Es entsteht eine Sekundärströmung, die das Wasser am Rand nach oben drückt und in der Laufmitte nach unten zieht. Es bilden sich zwei walzenförmige, sich gegeneinander drehende Spiralströmungen im Lauf aus. In den Kurven wird die äußere Spiralströmung komprimiert und beschleunigt, während sich an der Innenkurve die Strömung aufgrund des kürzeren Weges verlangsamt. Die Strömung verursacht innerhalb des Gewässerlaufs Erosion und Sedimentation, die den Gewässerraum einem kontinuierlichen morphologischen Wandel unterwerfen. Bei diesen morphodynamischen Prozessen können Umlagerungsprozesse (Teilprozess 1) innerhalb des Gewässerlaufs von der sogenannten Laufentwicklung (Teilprozess 2) unterschieden werden. Die Umlagerungsprozesse im Gewässer stellen sich vor allem durch die Ausprägung und Strukturierung der Gewässersohle dar und sind teilweise reversibel. Bei

der eigendynamischen Laufentwicklung hingegen verlagert sich der gesamte Gewässerlauf und es kommt zu irreversiblen Umstrukturierungen innerhalb des gesamten Gewässerraums. Teilprozess 1: Umlagerungsprozesse Die langsamere Strömung in den Innenkurven der Gewässer führt zum Absetzen von Sedimenten, es bildet sich ein Gleitufer. In den Außenkurven, dem Prallufer, bewirkt die schnelle, walzenförmige Strömung die Erosion der Ufer und eine Eintiefung der Sohle. So entsteht in den Kurven ein asymmetrisches Sohlprofil: Das Ufer der Innenseite einer Kurve ist flach und in der Sohle am Prallufer findet sich eine Eintiefung (Kolk). Durch die Sekundärströmung entsteht in der Gewässersohle eine vertiefte Rinne, die bei Niedrigwasser den größten Teil des Abflusses führt. Man nennt sie daher die Niedrigwasserrinne. Sie schwingt durch die Fliehkraft, die die Strömungswalze erzeugt, innerhalb des Gewässerbetts hin und her, jeweils in den Außenkurven befindet sie sich am äußeren Rand. In den geraden Flussabschnitten ist die Sohle flach und dort bilden sich durch Auflandungen die sogenannten Furten aus. Durch die dynamischen Prozesse verändert sich die Lage der Gewässersohle ständig. Bei Niedrigwasser herrscht eine niedrigere Fließgeschwindigkeit und die tiefen Stellen verfüllen sich mit Sediment. So entsteht ein fast ausgeglichenes Profil. Bei Hochwasser geschieht das Gegenteil: Die Schleppkraft erhöht sich und die Kolke tiefen sich weiter ein. An der Furt verlangsamt sich die Strömung, das Sediment bleibt liegen und die Sohle höht sich dort auf. Dadurch wird das Profil weiter differenziert, das Wasser wird durch die Unregelmäßigkeiten abgebremst und verwirbelt. Durch diese abwechselnden Prozesse von Erosion und Sedimentation kann sich das System Fluss selbst regulieren und das Längsprofil der Sohle schwankt um eine relativ stabile Mittellage. [Schaffernak, 1950, S. 45]. Unebenheiten und störende Elemente, wie beispielsweise größere Steine oder Totholz, erzeugen weitere Variationen des Strömungsbildes innerhalb des Laufes. Diese wechselnden Strömungszustände lösen kleinräumige Erosions- und Sedimentationsprozesse aus, wobei sich feineres Material in den strömungsberuhigten Bereichen ablagert, während in den Bereichen mit hoher Fließgeschwindigkeit nur gröberes Sohlmaterial der Strömung widerstehen kann. So kann es zur temporären Bildung von Inseln oder Sandbänken kommen.

Teilprozess 2: Eigendynamische Laufentwicklung Ein unbefestigter Gewässerlauf befindet sich in einem kontinuierlichen Verlagerungsprozess. Die Verlagerung des Laufes findet aber in so großen Zeiträumen statt, dass sie kaum wahrnehmbar ist. Mithilfe historischer und geologischer Karten und Bodenanalysen kann man die alten Verläufe der Gewässer rekonstruieren und diese Entwicklung sichtbar machen. Die dann entstehenden Bilder machen die große Dynamik natürlicher Wasserläufe deutlich. Alle Gewässer verlagern sich aufgrund von Erosions- und Sedimentationsprozessen. Die Geschwindigkeit dieser eigendynamischen Laufentwicklung ist abhängig von der Verformbarkeit der Geologie der Umgebung und der Dynamik des Gewässers. Gewässer mit großem Gefälle, die durch extreme Hochwasserereignisse geprägt sind, können sich wesentlich schneller entwickeln als träge Tieflandgewässer oder durch stetige Quellen gespeiste Bachläufe. Die Mäanderbildung eines Gewässers ist ein sich selbst verstärkender Prozess, da in den entstehenden Außenkurven, den Prallufern, das Wasser schneller fließt und weitere Erosion nach sich zieht. Das Ufer wird hier regelrecht „weggefressen“ und es bilden sich

Niedrigwasser

Furt Kolk

Kolk

Hochwasser

Furt Kolk

Kolk

In Gewässern finden reversible Umlagerungsprozesse statt. Bei Niedrigwasser füllen sich die Kolke mit Sediment, während die Furten sich eintiefen. Die Niedrigwasserrinne bleibt durchgängig. Bei Hochwasser tieft sich die Sohle in den Kurven ein, das Profil wird unregelmäßiger. Der Abfluss wird gebremst.

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Grundlagen Gewässerprozesse

steile Abbruchkanten. Die Flussschleife, die so entsteht, verlagert sich durch die Uferabbrüche immer weiter in Richtung Talrand und gleichzeitig flussabwärts. In der Innenkurve des Gewässers, dem sogenannten Gleitufer, an dem geringere Fließgeschwindigkeiten herrschen, landet Sediment an, sodass der Flusslauf sich insgesamt verschiebt. Die Flussschleife wird immer größer und runder. Sie nähert sich der Kreisform an. Wenn der Kreis fast geschlossen ist, kann es zu einem Durchbruch kommen und die Schlinge wird abgetrennt. Dann beginnt der Prozess von vorn. Der Fluss bewegt sich so in einer seitlichen, flussabwärts gerichteten Pendelbewegung. Die ehemalige Flussschleife wird zu einem Altarm, der langsam verlandet und nur noch bei Hochwasser geflutet wird. Die Entwicklung kann sowohl kontinuierlich und als auch plötzlich stattfinden, etwa bei einem Mäanderdurchbruch. Die entstehenden Mäanderformen fördern die Verlangsamung des Abflusses und verlängern den Lauf des Gewässers. Die morphodynamischen Prozesse der Laufverlagerung tragen ebenfalls zur Selbstregulation des Systems bei. Sie schützen das System zum Beispiel davor, dass bei starken Hochwasserereignissen die Form des Laufes zerstört wird oder der Lauf sich unkontrolliert eintieft. Im Gewässerraum entsteht durch die dynamischen Prozesse eine große Vielfalt mit unterschiedlichsten Lebensbedingungen für Flora und Fauna. Die Altarme entwickeln sich zu Stillgewässern, die in direkter Nachbarschaft der „aktiven“ Flussläufe liegen. Die dynamischen Erneuerungsprozesse lassen spezielle temporäre Lebensräume wie Sand- und Kiesbänke oder Uferabbrüche entstehen. Innerhalb des Gewässers bildet sich eine große Strömungs- und Sedimentdiversität aus.

Durch Erosion in den Außenkurven und Sedimentation an den Gleitufern innen bilden sich immer größer werdende Flussschlingen. Die Schlingen wandern dabei auch flussabwärts. Nach einem Durchbruch entstehen Altarme, die nur bei Hochwasser Wasser führen.

Gewässerlandschaften als Ausdruck raum-zeitlicher Prozesse Auch wenn in allen Gewässern im Prinzip dieselben Prozesse ablaufen, so gleicht doch keines genau dem anderen. Da an keinem Ort zweimal exakt dieselben Bedingungen vorzufinden sind, ist jeder Fluss prinzipiell einzigartig. Daher sind auch die Maßnahmen bei der Gestaltung sehr genau auf das jeweilige Gewässer abzustimmen. Die Gewässersysteme überziehen wie ein dichtes Adernnetz die gesamte Erdoberfläche. Abhängig vom Geländerelief bilden sie verzweigte Systeme, in denen sich alles Wasser eines Gebiets in immer größeren Wasserläufen zusammenfindet. Man spricht vom „Einzugsgebiet“ dieses Gewässers. Kammlinien in der Landschaft wirken als Wasserscheiden. Je nachdem ob sich dort nur Quellen oder Gebiete mit viel Niederschlag, versiegelte Gebiete oder Waldlandschaften finden, unterscheiden sich die Menge und der Rhythmus des abfließenden Wassers.

Wechselwirkungen zwischen Gewässer und Landschaft

Jedes Gewässer formt die umgebende Landschaft in unterschiedlicher Weise und gleichzeitig wirkt die Umgebung über viele Faktoren auf die Gestalt des Gewässers ein. Die landschaftsgestaltende Kraft des Wassers ergibt sich aus der engen Wechselbeziehung zwischen der Topographie, dem Gestein sowie den klimatischen Bedingungen und der oben beschriebenen erosiven und akkumulativen Tätigkeit des fließenden Wassers. Jedes Gewässer verändert sich innerhalb unterschiedlicher Zeiträume und in unterschiedlicher räumlicher Ausdehnung – Gewässerlandschaften sind also Ausdruck komplexer raum-zeitlicher Prozesse. Diese Formgebungsprozesse basieren auf dem Transportmedium Wasser, das durch sein Fließen Boden- und Gesteinsmaterialien aus den Einzugsgebieten verlagert. Das erodierte Material wird durch den stromabwärts gerichteten Transport in den Gewässern zerkleinert. Abhängig von dem Gefälle und der resultierenden Fließgeschwindigkeit wird das mitgeführte Material dabei vom Oberlauf in den Bergregionen mit starkem Gefälle hin zu den langsam fließenden Tieflandgewässern immer feiner. Weitere Dynamiken Mäanderschlingen eines Flusses im Norddeutschen Tiefland: die Leine bei Hannover

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Grundlagen Gewässerprozesse

Gewässer durchziehen wie ein dichtes Adernsystem die gesamte Landschaft.

führen dazu, dass sich entlang des Ober-, Mittel- und Unterlaufes eines Gewässers unterschiedliche Gewässerlandschaften herausbilden. Im Oberlauf findet durch den kontinuierlichen Stoffverlust eine Ausbildung von steilen, sich weiter eintiefenden Flusstälern statt. Die Stärke der Erosion steht dabei in direktem Zusammenhang mit der Geologie des anstehenden Untergrunds und der Abflussdynamik eines Gewässers. Zu einer nennenswerten Mäanderbildung kommt es wegen des starken Gefälles nicht. In Bereichen, in denen sich viele Sedimente auf einmal ablagern, zum Beispiel in einer Ebene am Fuße eines Gebirges, kann es zu einer Aufsplitterung des Laufes in viele parallel verlaufende Flussarme kommen. In den Mittelläufen wird Material aus den Oberläufen eingetragen und teilweise zusammen mit dem vor Ort erodierten Material wieder ausgetragen. Dadurch bilden sich Gewässer, die durch den ausgeglichenen Geschiebehaushalt eine relativ stabile Sohltiefe entwickeln. Hier und in den Tiefländern des Unterlaufes kann man bei stark verlangsamter Fließgeschwindigkeit und stärkerer Ablagerung von Sedimenten eine ausgeprägte Mäanderbildung der Flüsse beobachten.

Flussablagerungen formen die Landschaft

In den Tiefland- und Deltabereichen von Fließgewässern ist eine kontinuierliche Anhebung des Landes durch die angeschwemmten Sedimente zu erwarten. Die unterschiedlichen Strömungsverhältnisse bewirken dabei eine ungleichmäßige Erhöhung der Auengebiete. In der Nähe des Gewässerlaufs lagern sich bei einem Übertreten des Gewässers über seine Ufer zunächst die schweren Sedimente ab, also Kiese und Sande. Diese bilden in unmittelbarer Nähe des Gewässers die höher gelegenen sogenannten Flussrücken, die weniger oft überschwemmt werden und auf denen sich oft die ältesten Siedlungen entlang großer Flussläufe finden. Hinter diesen Flussrücken beruhigt sich die Strömung bei Überschwemmungen stark, die feineren Sedimente, das heißt Tone und Schluffe, sinken ab und bilden Lehmböden, auf denen sich die historisch lange unbesiedelten Moorlandschaften entwickelten. Diese liegen tiefer als die sandigen Flussrücken und konnten nur durch die starke Entwässerung und durch den Deichbau besiedelt und bewirtschaftet werden. Ein gutes

Beispiel für eine entsprechende Zonierung ist das Alte Land an der Elbe bei Hamburg. Seine ältesten Siedlungen befinden sich auf dem schmalen Uferstreifen entlang der Elbe, von dem aus das tiefer liegende Hinterland erst durch die Entwässerung und den Bau von „Marschhufendörfern“ nutzbar gemacht werden konnte, während die tiefsten und am weitesten von der Elbe entfernt liegenden Moorbereiche bis heute nicht besiedelt sind und nur extensiv genutzt werden. Besonders stark ist diese Aufhöhung, wenn der Meeresspiegel steigt und den Abfluss zurückstaut. Durch den Rückstau kommt das Wasser beinah zum Stillstand, Sedimente setzen sich ab und Sohle und Ufer höhen sich dadurch auf. In Deltagebieten kann sich außerdem durch das angeschwemmte Geschiebe neues Land im Meer entwickeln. Da sich durch die zurückgestaute Strömung viel Geschiebe ablagert und so die Fließwege des Gewässers behindert und umgelenkt werden, finden in Deltagebieten oft erneute vielfältige Verzweigungen des Hauptlaufes statt. Es entstehen großräumige Deltagebiete mit mehreren parallelen, sich verzweigenden Wasserläufen. Einen Sonderfall bilden Deltagebiete im Landesinneren. Ein sogenanntes Binnendelta entsteht, wenn ein Fluss durch die Gezeitenwellen von Flut und Ebbe des nahen Meeres beeinflusst wird. Im Landesinneren kommt das Wasser durch das Aufeinandertreffen von Flutwelle und abfließendem Wasser zum temporären Stillstand und Sedimente setzen sich ab. Der Strom verzweigt sich. Bremen und Hamburg wurden an diesen besonderen Stromverzweigungen gegründet. Dieser kurze Abriss zur raum-zeitlichen Dynamik von Gewässerprozessen macht deutlich, dass die stattfindenden Prozesse prinzipiell gleich sind, durch die unterschiedlichen Eigenschaften jedes Ortes aber dazu führen, dass keine Gewässerlandschaft einer anderen gleicht.

Verschiedene Rahmenbedingungen beeinflussen die stattfindenden Gewässerprozesse und führen in Ober-, Mittel- und Unterlauf zu unterschiedlichen Landschaftsbildern und Flusstypen.

Oberlauf

Mittellauf

Unterlauf Sedimentablagerung

durchschnittlicher Abfluss

Flussbreite

Flusstiefe

26 27

Korngröße Sohlmaterial Gefälle Einzugsgebiet

Grundlagen Gewässerprozesse

Gewässerräume entwerfen Die Isar in München erhielt durch einen kreativen Umgang mit den Übergängen vom Wasser zum Land ein neues Gesicht. Die Flussbegrenzungen wurden zum Teil zurückverlegt, um wieder natürliche Strände entstehen zu lassen. Notwendige Uferbefestigungen wurden als Sitztreppen ausgebildet.

Das wichtigste Ziel dieses Buches ist es, durch eine Systematisierung der unzähligen konkreten urbanen Flussräume eine überschaubare Ordnung zu entwickeln, aus der übertragbares Wissen für zukünftige Entwurfsaufgaben gewonnen werden kann. Entscheidend für eine derartige Ordnung ist das Aufdecken von gemeinsamen Prinzipien, die in allen denkbaren Flussräumen wirken. Nach intensivem Studium insbesondere der in den Gewässern stattfindenden Prozesse haben wir festgestellt, dass die Setzung der Flussgrenzen entscheidend ist. Der Raumcharakter eines Gewässers ergibt sich aus der Ausbildung der Grenzen für die zwei oben beschriebenen Prozesstypen – die Abflussschwankungen und die morphodynamischen Prozesse. Jeder Fluss im urbanen Raum hat diese zwei Typen von Grenzen. Das Entwerfen in urbanen Flussräumen beinhaltet daher immer ein Eingehen auf die Prozessgrenzen des Gewässers.

Gewässerräume und ihre Grenzen Die in einem natürlichen Gewässer ablaufenden raum-zeitlichen Prozesse stellen eine große Herausforderung für die Nutzung der Gewässerräume als menschliche Lebensräume dar. Die unkontrollierten Verlagerungen des Gewässerbetts und das raumgreifende Verhalten von hochwasserführenden Gewässern verursachen Gefährdungen der besiedelten und bewirtschafteten Kulturlandschaften und haben die Menschen schon immer darin herausgefordert, ihre Gestaltungskraft als „Herren und Meister der Natur“ [Blackbourn, 2008, S. 53] mit den Dynamiken der Gewässer zu messen und den Fließgewässerprozessen Grenzen zu setzen. Diese Grenzen beschreiben wir in diesem Kapitel als sogenannte Prozessgrenzen. Die Bedeutung von Grenzsetzungen für die natürlicherweise ablaufenden Prozesse beschreibt Schaffernak 1950 in seinem Buch zum Flussbau: „Flüsse, die sich selbst überlassen werden, verwildern. […] Es kommt zu Schädigungen in der Landwirtschaft durch Zerstörung von Kulturgründen infolge von Ufereinrissen, Überschwemmungen und Grundwasserspiegeländerungen, in der Schifffahrt zu ungünstigen Talwegsverlegungen und Wassertiefenveränderungen, und in der Wasserkraftnutzung erhöhen sich die Baukosten, weil nur an geregelten Flussläufen eine erfolgreiche Wasserkraftnutzung möglich ist.“ [Schaffernak, 1950, S. 5] Die Art der Prozessgrenzen, die den Gewässerdynamiken durch den Menschen entgegengesetzt werden, hat sich im Laufe der Zeit jedoch sehr verändert. In der vorindustriellen Zeit war der Umgang mit dem Fluss geprägt durch das kleinräumige Setzen von Prozessgrenzen, die sich stark an den unterschiedlichen Dynamiken des Flusses in den verschiedenen Landschaftsräumen orientierten und die auf einer großen Vertrautheit mit den Gewohnheiten des Flusses basierten. Bereits im frühen Mittelalter fanden kleinräumige Umlegungen und Aufstauungen von Gewässern statt, um Mühlennutzungen zu ermöglichen oder Verteidigungsanlagen anzulegen. Außerdem wurden Deiche und Gräben errichtet sowie erste Durchstiche in der Mäanderzone angelegt, um das Wasser an gefährdeten Stellen umzuleiten [Strobl, Zunic, 2006, S. 81]. Am Rhein entwickelte sich ab dem 12. Jahrhundert eine ganze Bandbreite von Begriffen, die die unterschiedlichen Arten von Haupt- und Nebenarmen, Inseln, schmalen Rinnen, Altarmen und verschiedenen Formen von Auenbereichen entlang des Flusses mit einem differenzierten Vokabular beschrieben [Blackbourn, 2008, S. 102–103]. Die Dynamiken des Flusses wurden durch die kleinräumigen und unkoordinierten Maßnahmen jedoch wenig beeinflusst, sondern erst die Versuche, die Prozessgrenzen an wenigen Stellen neu zu definieren, veränderten die Dynamiken des Flusses weiter flussabwärts so stark, dass die Gefährdungen hier stiegen – eine Situation, die Blackbourn als „hydrologisches Bockspringen“ bezeichnet. [Blackbourn, 2008, S. 105]

Großräumiger Verbau im 19. Jahrhundert

Durch die Industrialisierung nahmen die Flüsse als Transportwege an Bedeutung zu und die Flusstäler wurden entsprechend immer dichter besiedelt. Mit Beginn des 19. Jahrhunderts begann man, dank zunehmender technischer Fähigkeiten, mit dem großräumigen Verbau und der Regulierung der großen Flusstäler. Sie beinhalteten grundsätzliche Eingriffe wie die Begradigungen der stark mäandrierenden Flussläufe zugunsten von Schifffahrt, Landgewinnung und Hochwasserschutz sowie den Bau großer Wehranlagen.

28 29

Grundlagen Gewässerräume entwerfen

Der Fluss Wiese bei Basel wird durch Sohlschwellen und das befestigte Trapezprofil komplett festgelegt.

Sehr bekannt aus dieser Zeit ist die durch den als „Bändiger des Rheins“ verehrten Ingenieur Johann Gottfried Tulla durchgeführte Rheinbegradigung, deren erster Plan 1809 vorgelegt wurde. Diese von ihm als „Rheinrektifikation“, also Rheinkorrektur, bezeichnete Maßnahme beruhte auf der Überzeugung, dass „kein Strom, kein Fluss, also auch nicht der Rhein, mehr als ein Bett brauche“ [Tümmers, 1999, S. 145]. Die Rheinbegradigung mit ihren Durchstichen und dem Beseitigen von mehr als 2000 Inseln war das größte Bauvorhaben seiner Zeit, durch das der Rhein im Bereich zwischen Basel und Worms um fast ein Viertel seiner Länge, von 345 auf 273 km, gekürzt wurde. Dies verbesserte die Bedingungen für die Schifffahrt maßgeblich. Zusätzlich sorgten Buhnen und Ausbaggerungen für ganzjährig befahrbare Gewässer. Im Zuge der Industrialisierung erreichte das Setzen von Prozessgrenzen also eine völlig neue Dimension, sowohl im Sinne der Großmaßstäblichkeit als auch im Sinne der Dauerhaftigkeit. Gewässer wurden nicht nur punktuell, sondern in ihrem gesamten Lauf in starke und durchgehende Begrenzungen gezwungen, indem die Ufer durch Deiche und Uferbefestigungen sowie die Gewässersohlen durch Buhnen, Wehre, Sohlschwellen gesichert wurden. Diese Veränderungen der Prozessgrenzen führten zu starken Veränderungen der Flussdynamiken: Aufgrund des schnelleren Abfließens des Wassers nahmen die Erosionskräfte an Ufer und Sohle stark zu. Dadurch tieften sich die Gewässer immer mehr ein, was zum Sinken des Grundwasserspiegels in der Umgebung führte. Technische Eingriffe machten weitere Befestigungsmaßnahmen notwendig, beispielsweise wurde in kleineren Gewässern zum Teil die komplette Sohle befestigt. Die Deichanlagen rückten immer näher an die Flüsse heran. Während Tulla davon ausging, dass der Rhein in seinem neuen Bett ein neues Gleichgewicht finden würde, und ein umfassendes System von Deichen nicht vorsah, wurden diese im Zuge der Veränderungen unerlässlich. Im Rahmen der Moderne wurden Flüsse also zu technisch geprägten Ingenieursbauwerken. Heute werden nur noch etwa ein Drittel der ehemaligen Auenbereiche von Flüssen in Deutschland bei großen Hochwasserereignissen überflutet. An den Strömen Rhein, Elbe, Donau und Oder sind dies teilweise sogar nur noch 10–20 % [BMU, 2009, S. 4]. Immer stabilere und höhere Deiche verbessern punktuell den Hochwasserschutz, stellen aber auch Barrieren in der Landschaft dar. Durch Begradigungen und das Abschneiden von Nebengewässern wird eine schnellere Ableitung des Wassers gefördert. Gleichzeitig verringert sich jedoch der zur Verfügung stehende Rückhalteraum, wodurch die Hochwassergefahr wiederum zunimmt. Diese seitlichen Begrenzungen der Flüsse werden ergänzt durch die technische Veränderung des Gewässerprofils selbst. Querbauwerke wie Staustufen, Abstürze und Verrohrungen verhindern die ökologische Durchgängigkeit, das heißt, sie stellen für die

Klassisches Trapezprofil eines befestigten Gewässers

—— —— ---

Überflutungsgrenze Grenze der eigendynamische Laufentwicklung Sohlbefestigung

meisten Arten unüberwindbare Hindernisse dar. Die Versiegelung der Ufer und die glatte Gestaltung des Gewässerbetts bieten keine Lebensräume, der Verlust der Auen bedeutet fehlende Räume für die verschiedenen Lebensstadien der Bewohner der Gewässer- und Uferbereiche.

Neue Zielsetzungen Wie die Ergebnisse der Bestandsaufnahme im Zuge der EU-Wasserrahmenrichtlinie zeigen, befinden sich heute noch 21 % aller Flüsse und Bäche in Deutschland in einem naturnahen Zustand. Bei diesen Gewässern handelt es sich vor allem um solche abseits der Ballungsgebiete [Umweltbundesamt, 2010]. Besonders starken Veränderungen unterliegen Fließgewässer in urbanen Räumen, die den Fokus dieses Buches darstellen und die sowohl in ihrer räumlichen Struktur als auch in ihren Dynamiken von Menschen stark verändert wurden. Eine Renaturierung hin zu einem natürlichen Gewässer ist in diesen Bereichen aufgrund der starken räumlichen Restriktionen durch ufernahe Nutzungen und Gefährdungen durch Überschwemmungen meist weder möglich noch sinnvoll. Welche Spielräume bieten sich hier für die Gestaltung der Prozessgrenzen, um Multifunktionalität in Bezug auf Hochwasserschutz, Freiraumnutzung und Ökologie zu erreichen? Welche baulich-räumlichen Möglichkeiten passen zu den verschiedenen Gewässertypen und den verschiedenen Rahmenbedingungen? Nur wenn man die Prozessgrenzen gut kennt, kann man diese auch verändern und die entsprechenden Gestaltungsspielräume ausloten.

Grenztypen Um systematisch erfassen und darstellen zu können, welche Gestaltungsmöglichkeiten für urbane Flussräume bestehen, werden in diesem Buch zwei unterschiedliche Prozessgrenzen definiert. Diese beiden Grenzlinien entsprechen den zwei unterschiedlichen im Abschnitt „Prozesstypen“ erläuterten Prozessen der Gewässerdynamik: den temporären Abflussschwankungen, die die Ausbreitung des Wassers betreffen, und den morpho‑ dynamischen Prozessen, die eine Laufveränderung bewirken. Entsprechend definieren wir diese beiden Prozessgrenzen als 1. die Überflutungsgrenze und 2. die Grenze der eigendynamischen Laufentwicklung.

Überflutungsgrenze Bis zu einer definierten Überflutungsgrenze hin ist die Ausbreitung des Wassers möglich. In den Zeichnungen in diesem Buch ist diese Prozessgrenze als grüne Linie markiert, in der Realität kann es sich zum Beispiel um einen Deich oder eine Hochwasserschutzmauer handeln. Vor dieser Grenze finden im Hochwasserfall vertikale Schwankungen des Wasserspiegels sowie eine Ausdehnung der Wasserfläche in die Breite statt. Hinter dieser Linie ist dies nicht mehr eingeplant, Überflutungen stellen dort eine Katastrophe dar. Die Grenze ist in der Landschaft als Deich, Ufermauer oder natürlicher Talrand ausgeprägt. Die Grenze ist immer eine relative Grenze, denn sie ist auf einen definierten Hochwasserstand abgestimmt; da Hochwasser nicht vollständig vorhersagbar sind, kann theoretisch ein Hochwasserstand eintreten, der alle Schutzsysteme überflutet und somit die Grenze übertritt. Die Höhenlage der grünen Linie wird für ein definiertes Schutzziel anhand von statistisch errechneten Hochwasser-Eintrittswahrscheinlichkeiten oder Jährlichkeiten festgelegt. Das Risiko, mit dem diese Grenze überströmt wird, kann

30 3∂

Grundlagen Gewässerräume entwerfen

unbegrenzte Gewässerdynamik

Beschränkung des Überflutungsraums

Festlegung des Laufes

kein Ausufern mehr möglich

+

natürliche Grenze

Zur besseren Kontrolle wurden an vielen Gewässern die natürlichen Fließgewässerprozesse eingeschränkt oder ganz unterbunden: Durch Überflutungsgrenzen (grüne Linie) wie zum Beispiel Deiche wird der Überflutungsraum eingegrenzt. Grenzen der eigendynamischen Laufentwicklung (rote Linie) wie Ufersicherungen und Sohlschwellen verhindern eine Verlagerung des Laufes.

=

Überflutungsgrenze

+

=

+

Grenze der Laufentwicklung

=

Überlagerung der Grenzen

zum Beispiel auf der statistisch errechneten Höhe eines 100-jährlichen Hochwassers (HQ100) liegen, also eines Hochwassers, das theoretisch alle 100 Jahre einmal eintritt. In stark bebauten und besonders hochwassergefährdeten Bereichen, wie zum Beispiel in Rotterdam, finden sich Deichringe, die eine theoretische Überflutungswahrscheinlichkeit von einmal in 10 000 Jahren aufweisen. Die Linie stellt gestalterisch eine entscheidende Schnittstelle dar, da vor und hinter ihr grundsätzlich unterschiedliche Nutzungsvoraussetzungen herrschen und darum völlig anders geplant, gebaut und gelebt wird. Die in den Zeichnungen im Buch als grüne Linie dargestellte Grenze des Überflutungsbereichs repräsentiert keinen bestimmten Schutzstatus, sondern steht stellvertretend für das jeweils definierte Schutzniveau. Die Linie verläuft stets etwas unterhalb der Deichund Mauerkronen, da bei der Berechnung der Höhe der Krone immer noch ein Sicherheitszuschlag für Wellen und Windaufstau, das sogenannte Freibord, angesetzt wird.

Grenze der eigendynamischen Laufentwicklung

Als zweite Prozessgrenze wird in diesem Buch die Grenze der eigendynamischen Laufentwicklung eingeführt, die in den Zeichnungen als rote Linie kenntlich gemacht ist. Sie begrenzt den Raum, in dem Erosions- und Sedimentationsprozesse zugelassen werden – der Flusslauf kann sich in diesem Bereich eigendynamisch verändern. Häufig liegen die Befestigungen dieser Grenze direkt am Ufer, sodass keine raumgreifende eigendynamische Laufentwicklung des Gewässers stattfinden kann. Das Gewässer ist in seinem Verlauf festgelegt und die Grenze der eigendynamischen Entwicklung ist mit der Grenze des Gewässerlaufs identisch. Häufig wird zusätzlich noch die gesamte Sohle befestigt und das Gewässer ist dann wie von einem Korsett umgeben. Liegt die Grenze der Laufentwicklung dagegen im Vorland, sind sichtbare Erosions- und Sedimentationsprozesse möglich.

Gewässerlandschaften zwischen Kontrolle und Dynamik Das Diagramm der vier Flussräume veranschaulicht, wie die beiden Grenzen und das Prozessgeschehen eines Fließgewässers zusammenhängen: Wird eine Überflutungsgrenze (grün) gesetzt, so finden weiterhin Erosions- und Sedimentationsprozesse statt, diese können aber beeinflusst werden. Die abfließende Wassermenge wird in einem kleineren Gewässerraum gebündelt, wo dann der Wasserstand und zumeist auch die Fließgeschwindigkeit ansteigen. Die erodierenden Kräfte nehmen dort ebenfalls zu. Die rote Grenzlinie verhindert die Erosion der Ufer und die Eintiefung des Gewässers. Eine eigendynamische Entwicklung des Laufes findet nicht mehr statt. Wird nun die grüne Überflutungsgrenze sogar bis an den Gewässerrand verlegt, schieben sich die beiden Grenzen aufeinander und es finden auch keine Überflutungen, sondern nur noch vertikale Wasserstandsschwankungen statt. In solchen zumeist auch begradigten Gewässern steigt bei Hochwasser der Wasserstand schnell an und die Strömung wird sehr stark. Dies erfordert eine starke Befestigung der Ufer und der Sohle, damit sie nirgends angegriffen werden können. Die Probleme verschärfen sich also, wenn das System zur besseren Kontrolle immer mehr eingeengt wird. Je kleiner der zur Verfügung stehende Überflutungsraum ist, desto höher müssen die Bauwerke für den Hochwasserschutz werden. Je größer die Einengung der Gewässerdynamiken, desto stärker werden die auf die Befestigungs‑ anlagen einwirkenden Kräfte. Erosion oder größere Umlagerungsprozesse finden nicht statt und können keine Energien binden.

Grenzen der Beherrschbarkeit

Heute, rund 200 Jahre nach dem Beginn des großmaßstäblichen Flussbaus, zeigen sich diese negativen Effekte der Kontrolleingriffe in die Gewässersysteme. Sowohl im Sinne einer nachhaltigen, zukunftsfähigen Wasserwirtschaft als auch unter ökologischen Gesichtspunkten sowie aus Sicht der Freiraumgestaltung ist eine Neuausrichtung erforderlich. Die Politik des möglichst schnellen und schadfreien Abführens von Wasser, das mithilfe von Begradigungen und Eindeichungen umgesetzt wurde, führt zwar punktuell zu einem besseren Hochwasserschutz, an anderen Stellen im Gewässerlauf jedoch zu umso größeren Problemen. Die engeren Überflutungsgrenzen verursachen eine Beschleunigung und Erhöhung der Hochwasserwelle. Darüber hinaus werden so wertvolle und kaum wiederherstellbare Retentionsräume zum Zwischenspeichern von Hochwasser in der Landschaft vernichtet. Strukturen, die eine rückhaltende Wirkung haben, wie zum Beispiel Auwälder, wurden entfernt und Retentionsbereiche, wie zum Beispiel Altarme,

DYNAMISCH

STATISCH

←––––––––––––––––––––––––––––––––––––→ temporäre Wasserschwankungen natürliche Ausbreitung

Begrenzung der horizontalen Ausbreitung

Mehr Kontrolle verursacht mehr zu beherrschende Kräfte. Je enger der Überflutungsraum, desto höher steigt das Wasser bei Hochwasser; je kleiner der Raum für eigendynamische Entwicklung, desto stärkere Kräfte wirken auf die Befestigungsanlagen.

keine Ausbreitung

horizontale Ausdehnung Hochwasserschutzhöhe

morphodynamische Prozesse unbeeinflusste Gewässerentwicklung

kontrolliert ablaufende Prozesse

keine Prozesse

Laufentwicklung und Umlagerungsprozesse

32 33

auf Befestigungen wirkende Kräfte

Grundlagen Gewässerräume entwerfen

vom Hauptlauf abgeschnitten. Unterhaltungsmaßnahmen, die auf ein Freihalten des Gewässerlaufs und der abflussrelevanten Vorländer zielen, haben denselben beschleunigenden Effekt. Totholz, Sand- und Kiesbänke sowie Gehölze, die den Abfluss des Wassers verzögern können, werden aus dem Abflussprofil entfernt. Eine immer weiter fortschreitende Versiegelung in den Siedlungsbereichen verschärft die Problematik, denn bei Starkregenereignissen werden große Wassermengen von den befestigten Flächen über die Kanalisation in die Flüsse geleitet. Die urbanen Gewässersysteme, die in der Regel wenig Pufferkapazität vorhalten, erzeugen extreme und kurzfristig auftretende Abflussspitzen. Kommt es dort zu Überflutungen, sind die Folgen schwerwiegend, da das scheinbar „sichere“ Hinterland in keiner Weise auf Überschwemmungen vorbereitet ist. Durch den Klimawandel ist vermutlich mit vermehrt auftretenden und ergiebigeren Starkregenereignissen zu rechnen. Die Systeme erweisen sich heute oftmals als nicht flexibel genug, um diesen neuen Anforderungen gewachsen zu sein. Oberste Priorität sollten nach der Hochwasserrisikomanagement-Richtlinie der EU der Erhalt und die Schaffung von Retentionsräumen entlang der Gewässer sowie das Vorsehen von Rückhaltemaßnahmen im Siedlungsraum haben [HWRM-RL §14]. So können die Systeme entlastet werden und es entsteht eine größere Flexibilität, um Extremereignisse abzupuffern.

Strukturvielfalt als Ziel Einen wichtigen Impuls zur zukünftigen Gestaltung der Gewässer gibt die EU-Wasserrahmenrichtlinie , indem sie als wichtige Bewertungskriterien für die Einstufung der ökologischen Qualität eines Gewässers nicht nur die Gewässergüte ansetzt, sondern auch die strukturellen Eigenschaften, wie die Laufform, die biologische Durchgängigkeit, die Uferausbildungen und die Auenstruktur. Die Eingriffe der letzten 200 Jahre haben zu einem starken Rückgang der Biotopvielfalt und der Anzahl der Tier- und Pflanzenarten geführt: Wichtige aquatische oder amphibische Lebensräume wie Flachwasserzonen, Röhrichte, Auwälder, Hochstaudenfluren und Feuchtwiesen sind auf weiten Strecken einem einheitlichen strengen Trapezprofil mit befestigten Ufern und kleinen Überflutungsbereichen gewichen. Durch die symmetrische und einförmige Befestigung der Gewässerläufe ging die Strömungsvarianz innerhalb der Gewässer stark zurück. Mit der Befestigung verschwanden Lebensräume wie Kies- und Sandbänke oder Uferabbrüche fast vollständig. Wehre und Sohlschwellen verhindern Wanderbewegungen und die Ausbreitung von vielen Fisch- und Amphibienarten. Ziel der Umsetzung der EUWasserrahmenrichtlinie ist die Wiederherstellung der natürlichen Strukturvielfalt, für die der potenziell natürliche Zustand des Gewässers als Leitbild dient. Diese ist im urbanen Raum selten umsetzbar, allerdings gibt es interessante Annäherungen, wie insbesondere die Beispiele des Prozessraums E im Projektkatalog (Teil 3) zeigen. Auch aus Freiraumsicht werden Begradigung und starke Regulierung der urbanen Gewässer als „tot“ und langweilig erlebt. Steile Ufer, das Fehlen von Flachwasserzonen, Furten, Sand- oder Kiesbänken sowie starke Strömungen im Gewässer erschweren einen direkten Zugang zum Fluss. Flache, strandähnliche Situationen sind selten geworden. Durch die Verbesserung der Wasserqualität wird ein Spielen und Baden am und im Fluss zwar theoretisch wieder möglich, durch die starken Strömungen und steilen Ufer ist es aber nicht ratsam oder sogar gefährlich.

Neue Überflutungsgrenzen

Auch ein verbesserter Hochwasserschutz mit höheren Deichen und Flutschutzwänden bedeutet oft die Trennung der Stadtgebiete von ihren Gewässern aufgrund der verminderten Zugänglichkeit und Sichtbeziehungen. Andererseits schaffen Erhöhungen der Uferbereiche sichere Aufenthaltsflächen, und von den Schutzbauwerken ist eine gute Aussicht auf den Fluss möglich. Auf den linearen Sicherungsbauwerken sind reizvolle Wander- und Fahrradrouten entstanden. In den letzten Jahren erfolgte eine Hinwendung der Städte zum Wasser. In vielen Gemeinden gibt es neue Projekte zum Wohnen und Arbeiten am Wasser. Auch in diesem Zusammenhang wird viel über eine attraktive Ufergestaltung der Gewässer sowie einen neuen Umgang mit Hochwasserrisiken nachgedacht. Problematisch sind jedoch die durch den Klimawandel mit häufigeren Starkregenereignissen sowie durch die zunehmende Flächenversiegelung

in den Einzugsgebieten zu erwartenden neuen Hochwasserstände, die eine Erhöhung der bestehenden Schutzsysteme notwendig machen. Stadtfronten am Wasser sowie Deiche, die innerhalb dichter Bebauung liegen, sind nur schwer besser zu sichern, ohne die Beziehung zwischen Stadt und Fluss nachhaltig zu beeinträchtigen. Aufgrund dieser Planungsherausforderungen findet in der jüngsten Zeit eine neue Auseinandersetzung mit den starren Grenzen früherer Eingriffe in die Gewässersysteme statt. Grenzen werden rückverlegt und der Flussraum damit erweitert. Gleichzeitig bieten sich im Zuge geplanter Um- oder Neubaumaßnahmen Möglichkeiten, den räumlichgestalterischen Umgang mit den Prozessgrenzen zu überdenken und neue Ansätze zu finden. Alle untersuchten Projekte zeigen diesen innovativen Ansatz im Hinblick auf die Überflutungsgrenzen, die Grenzen der Laufentwicklung oder die Räume zwischen den Grenzen. Ziel des Buches ist es, die aus den Referenzprojekten abstrahierten Entwurfsstrategien sowie Gestaltungsmittel und -maßnahmen zu systematisieren. Die vorgeschlagene Ordnung in Form von Prozessräumen orientiert sich an den Wechselwirkungen von Wasserprozessen und räumlichen Gegebenheiten. Mit diesen Kategorien müssen sich alle an der Gestaltung von Flussräumen beteiligten Fachdisziplinen grundsätzlich beschäftigen. Der daraus resultierende Zugang soll dazu beitragen, mögliche Handlungsspielräume aufzuzeigen und ein disziplinübergreifendes Verständnis zu fördern, das ein sektorales, eindimensionales Herangehen zu überwinden vermag.

Quellen Blackbourn, David, 2008. Die Eroberung der Natur – Eine Geschichte der deutschen Landschaft. München: Pantheon Verlag. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU), Referat Öffentlichkeitsarbeit, 2009. Auenzustandsbericht, Flussauen in Deutschland. Berlin. http://www.bmu.de/files/pdfs/allgemein/application/ pdf/auenzustandsbericht_bf.pdf, 31.3.2010 Deutsche Vereinigung für Wasserwirtschaft, Abwasser und Abfall e. V. (DWA), 2009. Entwicklung urbaner Fließgewässer. Teil 1: Grundlagen, Planung und Umsetzung, DWA-M 609-1. Europäische Hochwasserrisikomanagement-Richtlinie (HWRM-RL), 2010. Richtlinie 2007/60/EG des europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2007 über die Bewertung und das Management von Hochwasserrisiken (HWRM-RL). http://www.fgg-weser.de/hwrm_rl.html, 1.11.2010 Europäische Wasserrahmenrichtlinie (WRRL), 2000. Richtlinie 2000/60/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 23. Oktober 2000, Artikel 4. http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ. do?uri=CELEX:32000L0060:DE:NOT, 31.3.2010 Hargreaves, George, 1993. Most Influential Landscapes. In: Landscape Journal, Bd. 12 (2), S. 177. Schaffernak, Friedrich, 1950. Grundriss der Flussmorphologie und des Flussbaues. Wien: Springer. Strobl, Theodor und Zunic, Franz, 2006. Wasserbau: Aktuelle Grundlagen – Neue Entwicklungen. Heidelberg: Springer. Tümmers, Horst Johannes, 1999. Der Rhein – Ein europäischer Fluss und seine Geschichte. München: C. H. Beck. Umweltbundesamt, 2010. Daten zur Umwelt – Umweltzustand in Deutschland, Gewässerstruktur. http://www.umweltbundesamt-daten-zur-umwelt. de/umweltdaten/public/theme.do;jsessionid=7F5F 20741A6285889BC6576F04EA6671?nodeIdent=2 393, 1.11.2010

Neue Überflutungsgrenzen für den Fluss in Wörth am Main: der Deichpark und die mit temporären Elementen verschließbare Schutzmauer

34 35

Grundlagen Gewässerräume entwerfen

Entwurfskatalog

PROZESSRAUM

A

Ufermauern und Promenaden



ENTWURFSSTRATEGIE

A6 mitgehen

Einführung



GESTALTUNGSMITTEL

A6.2 schwimmende Inseln

Der folgende Entwurfskatalog bildet das Herzstück des Buches: Diese Sammlung macht Ideen und Entwurfsansätze aus den untersuchten Projekten in Form abstrahierter Gestaltungsmittel und -maßnahmen übertragbar auf zukünftige Projekte und erleichtert den Entwerfenden das Auffinden von geeigneten Maßnahmen für ihren spezifischen Kontext. Der Katalog ordnet zu diesem Zweck die einzelnen Gestaltungsmittel fünf verschiedenen „Prozessräumen“ zu, in denen sie angewandt werden. Innerhalb des jeweiligen Prozessraums werden sie gruppenweise zu unterschiedlichen „Entwurfsstrategien“ zusammengefasst.

Prozessräume Eine der größten Herausforderungen dieser Arbeit war es, innerhalb der Vielzahl der untersuchten urbanen Flussräume Gemeinsamkeiten herauszufiltern und diese in Form einer überschaubaren Anzahl von räumlichen Typen zusammenzufassen – nur mit einer derartigen Abstraktion der vielen Fallstudien ist eine Übertragung der vielfältigen Gestaltungsmittel auf unterschiedliche Entwurfsfälle gut möglich. Grundlage dieser Kategorisierung stellen bestimmte Situationen des urbanen Flussraumes dar, wo räumliche Gegebenheiten und die Wasserprozesse (von Wasserstandsschwankungen bis zu morphodynamischen Prozessen, siehe Teil 1) in einem klar definierten und je nach Prozessraum unterschiedlichen Verhältnis zueinander stehen. Diese Bereiche des Flussraumes nennen wir Prozessräume. Es sind grundsätzlich fünf Typen unterscheidbar: Im Prozessraum A Ufermauern und Promenaden sind die Ufer sehr steil und es stehen kaum Überflutungsflächen zur Verfügung. Daher finden dort vor allem vertikale Wasserschwankungen statt, morphodynamische Prozesse des Gewässers sind hingegen ausgeschlossen. Im Prozessraum B Deiche und Flutwände begrenzen in einiger Entfernung vom Ufer große vertikale Elemente die zur Verfügung stehenden Überflutungsflächen. Es finden sowohl vertikale als auch horizontale Wasserschwankungen statt, die Grenzlinien des Prozessraums lassen allerdings nur sehr kleinräumige morphodynamische Prozesse zu. Der Prozessraum C Überflutungsflächen umfasst Räume in der Nähe des Gewässers, die regelmäßig durch die horizontale Ausbreitung des Wassers überflutet werden und in denen eine räumlich-gestalterische Auseinandersetzung mit diesen Prozessen stattfindet. In diesen drei Prozessräumen A bis C ist keine Veränderung des Flussraumes selbst beabsichtigt, nur die unterschiedlich strömende Wassermenge sorgt für ein sich stets wandelndes Erscheinungsbild. In den Prozessräumen D und E dagegen dominieren morphodynamische Prozesse wie zum Beispiel die Umlagerung von Sedimenten oder Laufverlagerungen, sodass sich Dynamik nicht nur an unterschiedlichen Wasserständen ablesen lässt, sondern auch an Veränderungen des Flussraumes selbst. Im Prozessraum D Flussbette und Fließräume können durch teils unbefestigte Gewässersohlen reversible Anlandungs- und Erosionsprozesse innerhalb des Gewässerbetts stattfinden, die sich auf die Form des Flussbettes und auch der Ufer auswirken. Der Prozessraum E Dynamisierte Flusslandschaften ist durch Prozesse geprägt, wie sie auch an natürlichen Gewässern zu finden sind. Durch Einbeziehen der Überflutungsflächen in die Erosions- und Anlandungsprozesse kann das Gewässer unter Umständen seinen gesamten Lauf verlagern. In den grafischen Darstellungen der Prozessräume sind die in den jeweiligen Räumen stattfindenden Prozesse und deren Grenzen in gleicher Weise dargestellt wie in Teil 1: Die Überflutungsgrenze wird als grüne Grenzlinie angegeben, und die Grenze der eigendynamischen Laufentwicklung als rote Grenzlinie. Die Lage und Ausdehnung des Prozessraums ist mit einem grauen Rechteck angegeben. Die meisten in diesem Buch dargestellten Projekte sind durch einen Prozessraumtyp bestimmt, sehr umfangreiche Projekte können aber auch mehrere Prozessräume umfassen. Zum Beispiel war der Kern des Projekts an der Isar in München die Revitalisierung des Gewässerlaufs, dessen Gestaltungsmaßnahmen dem Prozessraum E Dynamisierte Flusslandschaften zuzuordnen sind. Doch wurden an der Isar gleichzeitig auch die Deiche verstärkt. Diese räumliche Situation entspricht dem Prozessraum B Deiche und Flutwände und verwendet dessen Gestaltungsrepertoire. In einem Projekt können also Gestaltungsmittel und -maßnahmen verschiedener Prozessräume auftauchen. In der Regel entstammen aber die eingesetzten Gestaltungsmittel dem Prozessraum, dem die Projekte in Teil 3 des Buches zugeordnet wurden.

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Entwurfskatalog Einführung

PROZESSRÄUME

A

Ufermauern und Promenaden

Grenzen

Grenzen Prozessraum Überflutungsgrenzen Grenzen der eigendynamischen Laufentwicklung Sohlbefestigung

B

Grenzen der vertikalen Wasserschwankungen

Deiche und Flutwände Prozesse

vertikale Wasserschwankung horizontale Ausbreitung Umlagerungsprozesse

C

Überflutungsflächen

Sedimentation Erosion Abbruchkante Sedimente

D E

Flussbette und Fließräume

Dynamisierte Flusslandschaften

Entwurfsstrategien Die Entwurfsstrategien machen deutlich, auf welche Art und Weise bei der Gestaltung des Raumes mit den Fließgewässerprozessen umgegangen wurde. Sie beschreiben einen Ansatz oder eine Haltung, die die Entwerfenden dem Wasser gegenüber einnehmen: Sie können es tolerieren, mit ihm mitgehen, die Strömung lenken und vieles mehr. Eine Entwurfsstrategie fasst jeweils mehrere konkrete Gestaltungsmittel oder -maßnahmen zusammen, die sämtlich von dieser Haltung geprägt sind. Im Prozessraum A zum Beispiel setzen sich alle Gestaltungen hauptsächlich mit den vertikalen Wasserschwankungen auseinander. Eine Entwurfsstrategie ist es dabei, Elemente so zu gestalten, dass sie bei steigendem Wasser überflutet werden können, ohne Schaden zu nehmen. Sie sind imstande, das steigende Wasser zu „tolerieren“. Eine andere Strategie ist es, Elemente zu entwerfen, die bei steigendem Wasserspiegel „mitgehen“, wie es Wohnboote oder schwimmende Stege tun. Das Spektrum der verschiedenen Entwurfsstrategien macht deutlich, welche unterschiedlichen Weisen es innerhalb eines Prozessraums gibt, gestalterisch mit den einzelnen Gewässerdynamiken umzugehen. Für jeden Prozessraum konnten durch die Analyse der Fallbeispiele vier bis sechs unterschiedliche Entwurfsstrategien identifiziert werden. Gestaltungsmittel und -maßnahmen

Die einzelnen, konkreten Gestaltungsmaßnahmen vor Ort wurden mithilfe von Planzeichnungen und Literatur sowie Gesprächen und Ortsbesichtigungen identifiziert, anschließend in Form übertragbarer Gestaltungsmittel abstrahiert und durch Prinzipschnitte oder -grundrisse dargestellt. Bei den Gestaltungsmitteln kann es sich sowohl um kleinste Maßnahmen wie einzelne Sitzgelegenheiten am Ufer handeln als auch um großräumige Eingriffe wie die Anlage von Retentionsgebieten. Für die Aufnahme eines Gestaltungsmittels in den Entwurfskatalog waren zwei Kriterien von Bedeutung: eine konstruktive Auseinandersetzung mit den Gewässerdynamiken sowie die Multifunktionalität des Eingriffs. Es wurden bevorzugt solche Mittel ausgewählt, die kreativ auf die komplexen Anforderungen der urbanen Gewässerräume reagieren und als Inspiration für zukünftige Projekte dienen können. Der Katalog will keine vollständige Liste aller möglichen Maßnahmen an Gewässern sein, sondern er soll sowohl anhand der übertragbaren Gestaltungsansätze wie auch der konkreten Beispielprojekte vielfältige Anregungen für die eigene Arbeit an Gewässerprojekten geben. Jedes Gestaltungsmittel wird durch eine Prinzipdarstellung anhand einer kleinen Schnitt- oder Grundrisszeichnung dargestellt und mit einem Foto aus einem konkreten Projektbeispiel illustriert. Von jedem Gestaltungsmittel aus werden Verknüpfungen zu den Projekten im Teil 3 angegeben. Der Projektkatalog wiederum beinhaltet für jedes Projekt die Verknüpfung zur Erklärung der verwendeten Gestaltungsmittel im Entwurfskatalog als Rückkopplung.

Kombination der Gestaltungsmittel

Kaum eine Entwurfsaufgabe in urbanen Flussräumen kommt mit nur einem einzigen Gestaltungsmittel aus. Häufig werden mehrere Gestaltungsmittel innerhalb eines Prozessraums kombiniert. Auf der Grundlage von bei der Analyse der Fallbeispiele gemachten Erfahrungen, welche Kombinationen in der Praxis häufig anzutreffen sind oder sich gut ergänzen, werden im Entwurfskatalog Kombinationsvorschläge gemacht. Bei jeder Entwurfsstrategie steht daher eine Liste empfehlenswerter Kombinationen mit Gestaltungsmitteln anderer Entwurfsstrategien. Zum Beispiel lassen sich Hochwasserschutzmauern (B2.1) aus der Entwurfsstrategie B2 (vertikal widerstehen) gut mit einem Deichparkkonzept (B1.1 Deichparks) kombinieren, indem die Mauer als Sitzelement oder zur Raumgliederung aufgenommen wird. Ebenso könnte die Mauer gut mit temporären Hochwasserschutzelementen (B5.1–5.3 Schutzelemente) ergänzt werden, die Durchlässe und Sichtfenster in der Mauer möglich machen.

40 4∂

Entwurfskatalog Einführung

Übersicht Prozessräume und Entwurfsstrategien

A

Ufermauern und Promenaden

B

Deiche und Flutwände

A∂

B∂

Raum linear erweitern

Widerstand differenzieren ∫ 72

∫ 52

A2

B2

Raum punktuell erweitern

vertikal widerstehen ∫ 76

∫ 54

A3

B3

temporär widerstehen

Widerstand verstärken

∫ 56

∫ 78

A4

B4

darüberstellen

Widerstand integrieren

∫ 58

∫ 80

A5

B5

tolerieren

temporär widerstehen

∫ 60

∫ 82

A6

B6

mitgehen

Wasserdynamik wahrnehmbar machen

∫ 64

∫ 84

C

Überflutungsflächen

D

Flussbette und Fließräume

E

Dynamisierte Flusslandschaften

C∂

D∂

E∂

Raum erweitern

Strömung lenken

Laufentwicklung ermöglichen

∫ 92

∫ ∂∂4

∫ ∂34

C2

D2

E2

darüberstellen

Gewässerlauf modellieren

Laufentwicklung initiieren

∫ ∂∂8

∫ ∂36

C3

D3

E3

tolerieren

Gewässerbett differenzieren

neuen Gewässerlauf gestalten

∫ 96

∫ ∂00

∫ ∂20

∫ ∂38

C4

D4

E4

ausweichen

Ufersicherung differenzieren

Laufentwicklung begrenzen

∫ ∂22

∫ ∂40

∫ ∂04

C5

D5

mitgehen

Sohlsicherung differenzieren

∫ ∂06

∫ ∂26

42 43

Entwurfskatalog Einführung

Übersicht Gestaltungsmittel und -maßnahmen

A

Ufermauern und Promenaden

Raum linear erweitern ∫ 52 A∂.∂ Zwischenebenen ∫ 53 A∂.2 Terrassen ∫ 53 A∂.3 große Ufertreppen ∫ 53 A∂

A2

Raum punktuell erweitern ∫ 54

A2.∂ uferparallele Flusszugänge ∫ 55 A2.2 Flusszugänge senkrecht zum Ufer ∫ 55 A3

temporär widerstehen ∫ 56

A3.∂ verschließbare Zugänge ∫ 57 A3.2 Sicht erhalten ∫ 57

darüberstellen ∫ 58 A4.∂ Balkone ∫ 59 A4.2 Überhänge ∫ 59 A4.3 schwebende Wegeverbindungen ∫ 59 A4

tolerieren ∫ 60 A5.∂ Unterwassertrittstufen ∫ 6∂ A5.2 Stör- und Trittsteine ∫ 6∂ A5.3 Vorufer ∫ 6∂ A5.4 überflutbare Uferwege ∫ 62 A5.5 überflutbare Stege ∫ 62 A5.6 Ufermauern überwinden ∫ 62 A5.7 überflutbares Mobiliar ∫ 63 A5.8 überflutbare Bepflanzung ∫ 63 A5.9 neue Ufermauern ∫ 63 A5

B B∂

Deiche und Flutwände

Widerstand differenzieren ∫ 72

B∂.∂ Deichparks ∫ 73 B∂.2 Bäume auf Deichen ∫ 73 B∂.3 Deichprofil modellieren ∫ 74 B∂.4 Deiche als Wegeverbindungen ∫ 74 B∂.5 Deichtreppen und -promenaden ∫ 74 B∂.6 Superdeiche ∫ 75 B2

vertikal widerstehen ∫ 76

B2.∂ Hochwasserschutzmauern integrieren ∫ 77 B2.2 Mauerhöhen relativieren ∫ 77

Widerstand verstärken ∫ 78 B3.∂ unsichtbar stabilisieren ∫ 79 B3.2 Glaswände ∫ 79 B3

Widerstand integrieren ∫ 80 B4.∂ Nutzung der historischen Stadtmauer ∫ 8∂ B4.2 wasserdichte Fassaden ∫ 8∂ B4

B5 temporär widerstehen ∫ 82 B5.∂ frei bewegliche

Schutzelemente ∫ 83 B5.2 aufsetzbare

Schutzelemente ∫ 83 B5.3 aufklappbare

mitgehen ∫ 64 A6.∂ schwimmende Stege ∫ 65 A6.2 schwimmende Inseln ∫ 65 A6.3 vertäute Schiffe ∫ 65 A6

Schutzelemente ∫ 83 B6 Wasserdynamik wahrnehmbar machen ∫ 84 B6.∂ Hochwassermarken ∫ 85 B6.2 Kunstobjekte und Mobiliar ∫ 85

C

Überflutungsflächen

D

Flussbette und Fließräume

C∂

Raum erweitern ∫ 92 C∂.∂ Deiche rückverlegen ∫ 93 C∂.2 Nebenarme ∫ 93 C∂.3 Flutmulden ∫ 93

D∂

C∂.4 Vorland abgraben ∫ 94

D∂.4 geschüttete Steinbuhnen ∫ ∂∂6 D∂.5 ingenieurbiologische Buhnen ∫ ∂∂6

C∂.5 stehende Gewässer im Vorland ∫ 94 C∂.6 Poldersysteme ∫ 94 C∂.7 Rückhaltebecken ∫ 95

darüberstellen ∫ 96 C2.∂ Warften ∫ 97 C2.2 Warftprinzip bei Gebäuden ∫ 97 C2.3 Pfahlbauten ∫ 98 C2.4 Fluchtwege ∫ 98 C2.5 Seilbahnen ∫ 99 C2

Strömung lenken ∫ ∂∂4 D∂.∂ große Einzelsteine ∫ ∂∂5 D∂.2 Totholz ∫ ∂∂5 D∂.3 gesetzte Steinbuhnen ∫ ∂∂5

D∂.6 überströmte Buhnen ∫ ∂∂6 D∂.7 Sohlriegel ∫ ∂∂7 D2 Gewässerlauf modellieren ∫ ∂∂8 D2.∂ Gewässerlauf aufweiten ∫ ∂∂9

D3 Gewässerbett differenzieren ∫ ∂20 D3.∂ Sand- und Kiesstrände an Gleitufern ∫ ∂2∂

E3

D2.2 Lauf verlängern ∫ ∂∂9

tolerieren ∫ ∂00 C3.∂ Wege in der Aue ∫ ∂0∂

D3.2 Sand- und Kiesstrände in Buchten ∫ ∂2∂

C3.2 Sport- und Spielanlagen ∫ ∂0∂ C3.3 hochwasserfeste Gebäude ∫ ∂0∂

D3.3 Kolkbildung ∫ ∂2∂

C3.4 Park in der Aue ∫ ∂02

D4 Ufersicherung

C3.7 Zelt- und Campingplätze ∫ ∂03 C3.8 Veranstaltungsgelände ∫ ∂03 C4

ausweichen ∫ ∂04

C4.∂ Warnschilder und Absperrungen ∫ ∂05

Laufentwicklung ermöglichen ∫ ∂34 E∂.∂ Ufer- und Sohlsicherung entfernen ∫ ∂35 E∂.2 Gewässerunterhaltung extensivieren ∫ ∂35 E∂.3 Wasserentnahme regulieren ∫ ∂35 E∂

Laufentwicklung initiieren ∫ ∂36 E2.∂ Gewässerprofil differenzieren ∫ ∂37 E2.2 Störelemente einbringen ∫ ∂37 E2.3 Geschiebezugaben ∫ ∂37

C3

C3.5 großräumige Naturgebiete ∫ ∂02 C3.6 Landwirtschaft ∫ ∂03

E

Dynamisierte Flusslandschaften

differenzieren ∫ ∂22 D4.∂ Ufer teilweise entsichern ∫ ∂23 D4.2 Lebendverbau ∫ ∂23 D4.3 Steinverbau ∫ ∂24 D4.4 abgetreppter Steinverbau ∫ ∂24 D4.5 gemauerter Uferverbau ∫ ∂24 D4.6 bestehende Sicherung überbauen ∫ ∂25

E2

neuen Gewässerlauf gestalten ∫ ∂38 E3.∂ mäandrierenden Gewässerlauf vorgeben ∫ ∂39 E3.2 begradigten Lauf einbeziehen ∫ ∂39 E3.3 Gewässerverzweigung anlegen ∫ ∂39 Laufentwicklung begrenzen ∫ ∂40 E4.∂ „schlafende“ Ufersicherung ∫ ∂4∂ E4.2 Ufersicherung im Bedarfsfall ∫ ∂4∂ E4.3 punktuelle Ufersicherung ∫ ∂4∂ E4

C4.2 elektronische Warnsysteme ∫ ∂05 D5 Sohlsicherung C5 mitgehen ∫ ∂06 C5.∂ schwimmende und amphibische Wohnformen ∫ ∂07 C5.2 Yachthäfen ∫ ∂07

differenzieren ∫ ∂26 D5.∂ Fischaufstiegsanlagen ∫ ∂27 D5.2 Sohl- und Querbauwerke differenzieren ∫ ∂27 D5.3 Rampen und Gleiten ∫ ∂27

44 45

Entwurfskatalog Einführung

A

Ufermauern und Promenaden

Leine, Hannover

Von der harten Uferkante zum differenzierten Uferbereich. Als Gestaltungsspielraum steht häufig nur die steile Ufermauer zur Verfügung. Durch die Transformation verlieren die Grenzen ihren trennenden Charakter und es entsteht ein nutzbarer Übergangsraum zwischen Wasser und Land.

46 47

Entwurfskatalog Ufermauern und Promenaden

A

Ufermauern und Promenaden

Räumliche Situation

Der Prozessraum A umfasst die senkrechten, künstlich gestalteten Ufer, die oft im innerstädtischen Bereich zu finden sind. Sie dienen gleichzeitig als Hochwasserschutz und als Uferbefestigung. Sie wurden schon vor Jahrhunderten errichtet und stehen insofern meist im Kontext des alten Stadtkerns oder ehemaliger Industrie- und Hafengebiete. Sie waren die Entwicklungszellen der Städte – hier wurde zuerst gesiedelt und es entstanden innerstädtische Umschlagplätze am Wasser. Nicht nur an Kaianlagen finden sich die steilen befestigten Ufer dieses Prozessraums sondern auch entlang alter Mühlgräben, durch die, zum Teil bis heute, Wasserkraft genutzt wird. Einen besonderen Fall stellen Gewässer dar, die nach ihrer kompletten Verbannung in unterirdische Kanäle wieder offengelegt wurden. Die hohen senkrechten Uferkanten haben durch die Eintiefung und Einengung des Gewässerlaufs das Verschwinden der Flüsse aus dem Stadtbild zur Folge. Der Wasserspiegel liegt bei Mittel- oder Niedrigwasser so tief, dass er kaum noch wahrnehmbar ist. Allerdings sind gerade diese Flusslagen für die Transformation der Städte und die Entwicklung qualitätvoller innerstädtischer Freiräume von entscheidender Bedeutung. Mehr Platz steht für all diese Gewässer und ihre Ufer meist nur sehr beschränkt zur Verfügung, und die senkrechten Uferkanten müssen daher bei Neugestaltungen weitestgehend beibehalten werden.

Wirksame Prozesse

Bei den Flussabschnitten des Prozessraums A mit ihren senkrechten Uferkanten und fehlenden Vorländern bewirken die Schwankungen in der Abflussmenge nur einen vertikalen Wasserspiegelanstieg. Ein Ausbreiten in die Fläche wird verhindert. Die Überflutungsgrenze (grüne Linie) fällt daher im Grundriss mit der Grenze der Laufentwicklung (rote Linie) zusammen und überlagert sich in einem baulichen Element, da die Ufermauer gleichzeitig dem Hochwasserschutz wie auch der Uferbefestigung dient. Das Zulassen morphodynamischer Prozesse des Gewässers ist in diesen Räumen nahezu ausgeschlossen. Kleinräumige Strömungsvarianzen und Anlandungszonen werden allerdings durch Einbauten am Rand des Gerinnes und durch ein punktuelles Ausbrechen aus dem Kastenprofil erreicht.

Entwurfsansätze

Die Gestaltungsmittel oder -maßnahmen, die für diesen Prozessraum geeignet sind, transformieren die Grenzen abschnittsweise oder punktuell so, dass aus der schmalen Grenzlinie eine Schnittstelle oder ein Grenzraum wird. Die Gestaltung des Grenzraumes führt sowohl zu einer verstärkten Wahrnehmbarkeit des Gewässers mit seinen Wasserstandsschwankungen als auch zu einer differenzierteren Nutzbarkeit.

A∂ Raum linear erweitern

A∂.∂ Zwischenebenen A∂.2 Terrassen A∂.3 große Ufertreppen

A2 Raum punktuell erweitern

A2.∂ uferparallele Flusszugänge A2.2 Flusszugänge senkrecht zum Ufer

A3 temporär widerstehen

A3.∂ verschließbare Zugänge A3.2 Sicht erhalten

A4 darüberstellen

A4.∂ Balkone A4.2 Überhänge A4.3 schwebende Wegeverbindungen

A5 tolerieren

A5.∂ Unterwassertrittstufen A5.2 Stör- und Trittsteine A5.3 Vorufer A5.4 überflutbare Uferwege A5.5 überflutbare Stege A5.6 Ufermauern überwinden A5.7 überflutbares Mobiliar A5.8 überflutbare Bepflanzung A5.9 neue Ufermauern

A6 mitgehen

A6.∂ schwimmende Stege A6.2 schwimmende Inseln A6.3 vertäute Schiffe

48 49

Entwurfskatalog Ufermauern und Promenaden

A

Ufermauern und Promenaden

Steigendes Hochwasser überflutet den gegliederten Grenzraum sukzessive und macht so die Ausbreitung des Wassers wahrnehmbarer. Die Gestaltung kann eine gesamte städtische Uferkante umfassen oder auch nur eine Installation einzelner markanter Elemente sein. Mit den Wasserschwankungen wird dabei sehr unterschiedlich umgegangen. Dies zeigen die unterschiedlichen Entwurfsstrategien. Teils werden die eingesetzten Elemente Überflutungen ausgesetzt (A5 tolerieren), teils entziehen sie sich, indem sie oberhalb des Überflutungsraums agieren (A4 darüberstellen), oder sie bewegen sich auf der Wasseroberfläche mit den Schwankungen auf und ab (A6 mitgehen). Obgleich der zur Verfügung stehende Raum beschränkt ist, zeigen die zahlreichen hier dargestellten Gestaltungsmittel und -maßnahmen, dass die Handlungsoptionen trotzdem vielfältig sind.

Freiraumgestaltung

Viele der steilen und hohen Ufer dieses Prozessraums erlauben heute keinen direkten Zugang zum Wasser. Oft stellen Verkehrswege entlang des Ufers eine zusätzliche Barriere und Beeinträchtigung dar. Neue Aufenthaltsräume am Wasser machen den Fluss wieder sichtbar und erreichbar, Wasserschwankungen werden wieder erlebbar. Der Höhenunterschied kann außerdem genutzt werden, um mitten in der Stadt ruhige Aufenthaltsorte von besonderer Qualität entstehen zu lassen, die vor Verkehrslärm geschützt sind. In den beengten Situationen sind neue Fuß- und Radwege entlang des Wassers oft nur schwer zu realisieren. Besondere Lösungen, wie schwimmende Stege oder Pontons, können aber dazu beitragen, qualitätvolle und charakteristische Orte in einer Stadt zu schaffen.

Hochwasserschutz

Im Prozessraum A ist der natürliche Überflutungsraum des Gewässers durch die künstlichen Uferbefestigungen eingeengt. Wegen der dichten Bebauung lässt sich an dieser Situation grundsätzlich wenig ändern. Jegliche Interven‑ tionen sollten daher in diesen Räumen den Abflussquerschnitt nicht zusätzlich verkleinern. Eine Terrassierung der Ufermauern kann helfen, den Raum etwas zu vergrößern. Zur Verbesserung des Hochwasserschutzes können die Ufermauern erhöht werden. Dazu empfehlen sich temporäre Lösungen, um nicht eine zusätzliche Barriere zwischen Stadt und Fluss zu schaffen.

Ökologie

Die stark befestigten Ufer sind ökologisch meist wenig interessant. Amphibische Zonen fehlen ganz, Ufervegetation ist meist nicht vorhanden. Im Flussbett fehlen Strömungsvarianz und oft auch die Durchgängigkeit des Gewässers für viele gewässertypische Tierarten. Die Wasserläufe gelten nach EU-Wasserrahmenrichtlinie als „künstliche“ oder zumindest „stark veränderte“ Wasserläufe und unterliegen damit abgeschwächten Qualitätskriterien: Der ökologische Zustand muss nach Möglichkeit verbessert, aber nicht „gut“ werden. Trotzdem können kleinräumig ökologische Verbesserungen realisiert werden. Im Gewässerbett können punktuelle Strömungsschatten für Fische angelegt und kleine amphibische Zonen geschaffen werden, um als Trittsteinbiotop Fischen und Amphibien das Wandern zu erleichtern. Vereinzelt können Ufermauern aufgebrochen werden, um für Tiere und Pflanzen Wasser-Land-Verbindungen herzustellen.

An den senkrechten Ufermauern liegen die Überflutungsgrenze und die Grenze der eigendynamischen Laufentwicklung direkt übereinander. Durch den Bau einer Treppenanlage am Pleißemühlgraben in Leipzig werden die Grenzen auseinandergezogen und zwischen ihnen entsteht neuer Überflutungsraum und gleichzeitig ein Aufenthaltsraum am Wasser.

50 5∂

Entwurfskatalog Ufermauern und Promenaden

A∂ Raum linear erweitern

∫  Kombinationsmöglichkeiten für alle Gestaltungsmittel aus A∂ ­– – – – – – – – A3.∂ verschließbare Zugänge A5.∂ Unterwassertrittstufen A5.2 Stör- und Trittsteine A5.3 Vorufer A6.∂ schwimmende Stege A6.3 vertäute Schiffe

Diese Entwurfsstrategie stellt unterschiedliche lineare Erweiterungsmöglichkeiten der engen Flussräume vor, sodass das Ufer stärker gegliedert wird und gleichzeitig etwas mehr Raum für eine horizontale Ausbreitung des Wassers entsteht. Dies geschieht durch eine Terrassierung der Ufermauern. Die Überflutungsgrenze (grüne Linie) wird landeinwärts verschoben, der Raum in Terrassen oder Stufen zum Wasser hin abgetreppt. Dadurch entstehen differenzierte Räume im Überflutungsbereich mit direktem Zugang zum Wasser. Komplett steinerne Elemente, wie beispielsweise Treppen, aber auch begrünte Terrassen sind möglich. Wichtig ist ihre Beständigkeit gegen Erosion, da die Terrassen oder Ufertreppen gleichzeitig die Funktion der Ufersicherung übernehmen. Sie legen den Gewässerlauf fest (rote Linie) und ermöglichen gleichzeitig den Zugang zum Wasser. Die Terrassen oder Treppen können kleinräumig sein oder einen längeren Gewässerabschnitt säumen. Die entstehenden Räume sind je nach der gewählten Terrassenhöhe in unterschiedlichem Maße den Hochwasserschwankungen des Flusses ausgesetzt. Die unterschiedlichen Höhenlagen haben unterschiedliche Überflutungshöhen und -häufigkeiten zur Folge. Wasserschwankungen werden so anders als zuvor an der steilen Ufermauer erfahrbar, zum Beispiel anhand der Anzahl überfluteter Stufen: Stehen ein oder zwei Stufen unter Wasser? Die verschiedenen Gestaltungsmittel, die von dieser Strategie geprägt sind, unterscheiden sich in der Höhe und Breite der Stufen oder Terrassen. Die Entscheidung für eine oder mehrere, kleine oder große Stufen wirkt sich direkt auf die möglichen Nutzungen der neuen Räume aus, etwa als Treppen, als Sitzstufen oder als Zwischenebene. Die Gliederung des Ufers führt zu einer direkten Verzahnung der Stadtstruktur mit dem Gewässerraum und kann so ehemals untergeordnete oder degradierte Gewässer als Teil des Stadtbildes hervorheben und wieder erreichbar machen. Ein direkter Zugang zum Wasser wird geschaffen und Nutzungen wie Baden oder Kanufahren werden ermöglicht.

A∂.∂

A∂.2

A∂.3

Zwischenebenen

Terrassen

große Ufertreppen

Nahe, Bad Kreuznach

Rhône, Lyon

Nahe, Bad Kreuznach

Eine breitere Zwischenebene bietet Raum für den Aufenthalt am Wasser sowie temporäre Nutzungen wie Sommercafés. Dieses gern auch über längere Strecken angewandte Element bietet sich an, wenn wenig Raum zur Verfügung steht. Der trennende Charakter eines senkrechten Ufers wird gemindert und der Hochwasserabfluss wird durch die Profilaufweitung verbessert. In Bad Kreuznach entstand so ein neuer Raum mit Bootsverleih und Gastronomie am Wasser.

Ein über mehrere breite Terrassen abgestufter Übergang zum Gewässer erlaubt verschiedene Nutzungen nebeneinander. In Lyon finden sich auf den Terrassen neben Baumpflanzungen auch Ballspielfelder. Die Gestaltung unterstreicht die doppelte Funktion dieses Bereiches als Erschließung und interessanter Aufenthaltsraum am Gewässer. Um seine Wirkung zu entfalten, bietet sich dieses Vorgehen für längere Uferstrecken an. Es kann ein fließender Übergang zum angrenzenden städtischen Raum gestaltet werden, ohne dass eine exakte Grenze wahrnehmbar wird.

Breite Ufertreppen schaffen öffentliche Räume am Wasser. Sie eröffnen bei verschiedenen Wasserständen die Möglichkeit des unmittelbaren Kontakts zum Gewässer. Durch die Öffnung neuer Sichtverbindungen können sie eine markante Anbindung des städtischen Umfeldes an das Gewässer leisten. Unterschiedliche Gestaltungen der Treppen unterstützen ihre verschiedenen Funktionen als Bewegungsund als hochwertiger Aufenthaltsbereich. Es entsteht ein tribünenartiger Raum. Die neue Ufertreppe in Bad Kreuznach eröffnet einen weiten Blick über die Nahe.

Rhône, Lyon  Δ ∂60

­– – – – – – – –

­– – – – – – – –

Nahe, Bad Kreuznach  Δ ∂84

Limmat, Zürich, Fabrik am Wasser  Δ ∂56

Elster- und Pleißemühlgraben, Leipzig  

Rhône, Lyon  Δ ∂60

Δ ∂50

Nahe, Bad Kreuznach  Δ ∂84

Limmat, Zürich, Wipkingerpark  Δ ∂58

+ Limmat, Zürich, Badeplatz Oberer

IJssel, Doesburg  Δ ∂72

Letten  Δ 280

Nahe, Bad Kreuznach  Δ ∂84

­– – – – – – – – Leine, Hannover  Δ ∂54

+ Elbe, Hamburg, Neue Elbpromenade   Δ 279

52 53

Entwurfskatalog Ufermauern und Promenaden

A2

Raum punktuell erweitern

∫  Kombinationsmöglichkeiten für alle Gestaltungsmittel aus A2 ­– – – – – – – – A∂.2 Terrassen A3.∂ verschließbare Zugänge A5.2 Stör- und Trittsteine A5.3 Vorufer A5.8 überflutbare Bepflanzung

Im Gegensatz zu A1 (Raum linear erweitern) wird hier die durchgehende senkrechte Begrenzung des Raumes nur an einer Stelle aufgebrochen oder punktuell geöffnet. Dort wird ein schmaler Zugang zum Wasser über eine Rampe oder Terrassen geschaffen, der in einer flachen Strandsituation endet und fließend in die Gewässersohle übergeht. Der flache Zugang kann als Badestelle, Wasserspielplatz, Slipanlage oder Kanueinstieg genutzt werden. Die Überflutungsgrenze (grüne Linie) wird hier, wie auch bei der Entwurfsstrategie A1 (Raum linear erweitern), nach hinten verschoben. Der entstehende Raum ist den verschiedenen Wasserständen des Flusses ausgesetzt. Hier werden Wasserschwankungen, anders als an der steilen Ufermauer, als Ausdehnung des Wassers in die Breite sichtbar. Je nach Ausführung kann die Ufersicherung (rote Linie) punktuell für die entstehende Bucht entfallen. Da in der flachen Einbuchtung ein strömungsberuhigter Bereich entsteht, wirken dort verminderte Kräfte auf das Ufer, und aufgrund der geringeren Strömungsgeschwindigkeit ist mit Sedimentation zu rechnen. Je nach Gewässertyp kann sich ein Kies- oder Sandstrand entwickeln oder auch Verschlammung eintreten. Die Zonen mit verringerter Strömung wirken als kleine ökologische Nischen. In stark ausgebauten, urbanen Gewässern mit meist hohen Strömungsgeschwindigkeiten schafft ein solches Vorufer Raum für Wasser- und Sumpfpflanzen. Die verschiedenen Sedimente vergrößern die Biotopvielfalt, und es bilden sich Wasser-Land-Übergänge für Amphibien, Vögel und Säugetiere. So können sich auch trotz einer hohen Künstlichkeit des Gewässers durch diese Maßnahme kleine Habitate entwickeln. Die zwei hier vorgestellten Gestaltungsmittel zeigen verschiedene Möglichkeiten, eine punktuelle Öffnung zum Wasser anzulegen. Durch die Wahl der Richtung, in der der Zugang angelegt wird, parallel zum Ufer (A2.1 uferparallele Flusszugänge) oder senkrecht zum Ufer (A2.2 Flusszugänge senkrecht zum Ufer), ergeben sich unterschiedliche Konsequenzen für die Organisation der umgebenden Räume.

A2.∂

A2.2

uferparallele Flusszugänge

Flusszugänge senkrecht zum Ufer

Leine, Hannover

Limmat, Zürich, Fabrik am Wasser

Wupper, Müngsten

Wird die Ufermauer punktuell aufgebrochen, kann ein Aufenthaltsort direkt am Wasser entstehen. Eine platzsparende Lösung, um den Ort zu erschließen und den Höhenunterschied zu überwinden, ist eine parallel zum Ufer angelegte Erschließung. Die Laufrichtung der Treppe oder Böschung verläuft parallel zur Ufermauer. Der Zugang entwickelt sich aus der Uferpromenade heraus. In Hannover am Hohen Ufer, neben dem schwimmenden Gastronomiebetrieb Leine Suite, erlaubt ein rampenförmig angelegter Weg die direkte Annäherung an die Leine.

Im Projekt Fabrik am Wasser an der Limmat in Zürich wurde ein alter, ehemals verfüllter Seitenkanal dazu genutzt, wieder einen terrassierten Zugang zum Wasser zu schaffen.

Eine senkrecht zum Ufer konzipierte Öffnung zum Gewässer stellt das räumliche Gegenkonzept zu den uferparallelen Zugängen (A2.1) dar. Die Topographie des Vorlandes wird bei dieser Lösung stärker beeinflusst, da der Zugang in die höher liegenden Flächen einschneidet. Die Neigung der Böschung beeinflusst dabei die Länge des Zugangs. Dafür eröffnen sich von oben an diesen Stellen reizvolle Blicke aufs Wasser. Der Brückenpark Müngsten arbeitet mit dem Wechsel von weit vom Wasserspiegel entfernten, höher liegenden Freiräumen und strandähnlichen Buchten.

­– – – – – – – – Leine, Hannover  Δ ∂54 Limmat, Zürich, Fabrik am Wasser  Δ ∂56

­– – – – – – – – Wupper, Wuppertal  Δ ∂68 Wupper, Müngsten  Δ 230 Ahna, Kassel  Δ 234 Soestbach, Soest  Δ 248

54 55

Entwurfskatalog Ufermauern und Promenaden

A3 temporär widerstehen

∫  Kombinationsmöglichkeiten für alle Gestaltungsmittel aus A3 ­– – – – – – – – A∂.∂ Zwischenebenen A∂.2 Terrassen A2.∂ uferparallele Flusszugänge A2.2 Flusszugänge senkrecht zum Ufer A5.4 überflutbare Uferwege A5.5 überflutbare Stege B6.∂ Hochwassermarken

Mobile Hochwasserschutzelemente können Schutzmauern bei Hochwassergefahr ergänzen und bieten dadurch die Möglichkeit, Durchlässe in Hochwasserschutzmauern anzulegen oder den Schutzmauern moderate Höhen zu geben. Mobile Elemente kommen nur temporär im Hochwasserfall zum Einsatz. Dauerhaft stellen jedoch die Verankerungen und die vor Ort installierten wasserdicht verschließbaren Tore oder Fenster gestalterische Hinweise auf die Hochwasserereignisse dar. Diese Wahrnehmbarkeit der Schutzmaßnahmen sensibilisiert die Menschen für Hochwassergefahren. Die Verwendung mobiler Elemente bedingt eine differenzierte Hochwasserstrategie mit der Erstellung von Einsatzplänen zum Aufbau der mobilen Elemente und setzt Lagermöglichkeiten für sie voraus. Ausreichende Vorwarnzeiten vor Hochwasserereignissen sind allerdings Voraussetzung für den Einsatz dieser Elemente. Durch den Erhalt der Sichtbeziehungen (A3.2 Sicht erhalten) und der Zugänglichkeit (A3.1 verschließbare Zugänge) mittels mobiler Elemente können urbane Räume, die einen größeren Hochwasserschutz benötigen, eine bestehende enge Beziehung zum Gewässer behalten. Je nachdem wie hoch über dem Mittelwasser die Elemente eingesetzt werden, kommen die temporären Ergänzungen nur bei extremen Hochwasserereignissen und damit sehr selten zum Einsatz oder müssen relativ häufig aufgebaut werden.

A3.∂

A3.2

verschließbare Zugänge

Sicht erhalten

Waal, Zaltbommel

IJssel, Kampen

Öffnungen in den Hochwasserschutzmauern können direkte Zugänge in den vom Hochwasser beeinflussten Bereich schaffen. Dazu werden beispielsweise verschließbare Türen oder Lücken angelegt, die die Voraussetzung für die Nutzung des Freiraumes vor der Hochwasserschutz‑ linie darstellen. Neben mobilen, temporär zu installierenden Dammbalken sind hier auch dauerhaft installierte, wasserdicht verschließbare Tore oder Klappen möglich. In Zaltbommel sichert eine mit Dammbalken verschließbare Zufahrt den Zugang zu den tiefer liegenden Hafenanlagen.

Durch die Installation von mobilen Aufbauten oder Fensterklappen können Sichtund Blickbeziehungen trotz einer notwendigen Erhöhung des Hochwasserschutzes bestehen bleiben. Neben dem freien Blick auf das Gewässer werden darüber hinaus Blicke vom Wasser oder dem gegenüberliegenden Ufer auf historische Stadtfronten freigehalten. In Kampen konnte durch den Einsatz temporärer Elemente, die im Hochwasserfall auf die Mauer montiert werden, die Sicht auf die IJssel und das historische Stadtbild unverstellt bleiben.

­– – – – – – – –

­ ––––––– – IJssel, Kampen  Δ ∂74

Seine, Choisy-le-Roi  Δ ∂64 IJssel, Kampen  Δ ∂74 Nahe, Bad Kreuznach  Δ ∂84 Waal, Zaltbommel  Δ ∂90

56 57

Entwurfskatalog Ufermauern und Promenaden

A4 darüberstellen

∫  Kombinationsmöglichkeiten für alle Gestaltungsmittel aus A4 ­– – – – – – – – A5.6 Ufermauern überwinden

An Fließgewässern mit einem dichten urbanen Umfeld und hoher Nutzungsintensität werden durch auskragende Plattformen oder Balkone, die als Teil des Ufers über das Gewässer hinausragen, zusätzliche Freiräume geschaffen. Sie sind von Hochwasserereignissen nicht betroffen, da sie sich auf Höhe der Oberkante der Schutzbauwerke befinden, stellen sich also über die ablaufenden Prozesse. Sie erstrecken sich unmittelbar in den Gewässerraum hinein und ermöglichen eine gute Sicht auf den Fluss und die ablaufenden Prozesse. Gleichzeitig inszenieren sie die Gewässerräume und rücken sie wieder ins Bewusstsein der Stadt. Durch diese Strategie bleibt die Hochwasserschutzlinie unverändert. Balkone und Überhänge im überflutungssicheren Bereich beeinträchtigen den Abflussquerschnitt und den Retentionsraum des Fließgewässers nicht. Die Plattformen auf Höhe der Uferoberkante verschmelzen mit den angrenzenden Freiräumen und sind das ganze Jahr über nutzbar. Zum Wasser hin sind die Plattformen meist von einer halbhohen Brüstung eingefasst. Die Formgebung der Geländer beeinflusst dabei wesentlich die Sichtbeziehungen auf das Wasser. Balkone und Überhänge bilden dem Wasser zugewandte exponierte Freiräume mit hoher Aufenthaltsqualität. Je nach Lage entstehen stark frequentierte Räume für Gastronomie oder abgeschiedene Orte zum Erholen und Naturerleben (A4.1 Balkone). In beengten Situationen kann mit Überhängen zusätzlicher Raum geschaffen werden (A4.2 Überhänge) oder es können durch seitlich angefügte Stege in unzugänglichen Uferräumen neue attraktive Wegeverbindungen entstehen (A4.3 schwebende Wegeverbindungen).

A4.∂

A4.2

A4.3

Balkone

Überhänge

schwebende Wegeverbindungen

Ebro, Zaragoza, Ufergestaltung Innenstadt

Elstermühlgraben, Leipzig

Elstermühlgraben, Leipzig

Balkone ragen punktuell in den Gewässerraum hinein und laden zum Verweilen am Fluss ein. Über dem Fluss schwebend, eröffnen sich dem Besucher neue Perspektiven. Die exponierte Lage ermöglicht Blicke über den gesamten Fluss, die vom Ufer aus so nicht möglich sind. Durch eine transparente Bauweise, wie am Ebro in Zaragoza, kann der Effekt des Schwebens verstärkt werden.

Bei der Offenlegung von ehemals verrohrten oder überbauten Gewässern kann sich eine inzwischen über dem Gewässer verlaufende Straße als großes Problem erweisen. In Leipzig wurde die Offenlegung in ganzer Breite nur möglich, indem ein Teil der Straße in Form eines Überhangs ausgeführt wurde. Durch die transparenten Geländer bleibt der teilweise unter der Straße liegende Elstermühlgraben sichtbar.

­ ––––––– – Leine, Hannover  Δ ∂54

­ ––––––– – Elster- und Pleißemühlgraben, Leipzig  

Wupper, Wuppertal  Δ ∂68

Δ ∂50

In historischen Innenstädten wurden Gebäude aus Platzgründen oft direkt ans Wasser gebaut, sodass neue Wegeverbindungen am Wasser schwierig zu realisieren sind. Das Anbringen von auskragenden Steganlagen, die ausschließlich an den Wänden befestigt sind, ist nicht nur eine funktionale, sondern auch eine ästhetisch ansprechende Lösung. Die „schwebenden“ Stege in Leipzig am Elstermühlgraben bereichern das Stadtbild und ermöglichen in den engen Stadträumen attraktive gewässerbegleitende Wegeverbindungen. Sie sind zwar in ihrer Konstruktion aufwendig, beeinträchtigen aber den Abflussquerschnitt nicht und sind hochwasserfrei.

Leutschenbach, Zürich  Δ 240 Neckar, Ladenburg  Δ 242 + Ebro, Zaragoza, Ufergestaltung Innenstadt  Δ 279

­ ––––––– – Elster- und Pleißemühlgraben, Leipzig   Δ ∂50

58 59

Entwurfskatalog Ufermauern und Promenaden

A5 tolerieren

∫  Kombinationsmöglichkeiten für alle Gestaltungsmittel aus A5 ­– – – – – – – – A∂.3 große Ufertreppen A2.∂ uferparallele Flusszugänge A2.2 Flusszugänge senkrecht zum Ufer A3.∂ verschließbare Zugänge A4.∂ Balkone A6.∂ schwimmende Stege A6.3 vertäute Schiffe B6.∂ Hochwassermarken

Die spannendsten Räume an Gewässern befinden sich direkt am Ufer. Am Wasser zu sitzen, die Füße hineinzuhalten oder die Fische und die Strömung zu beobachten ist nicht nur für Kinder ein Vergnügen. Diese Räume zu erschließen, obwohl sie regelmäßig von Hochwasser überflutet werden, ist die Herausforderung, der sich die Entwurfsstrategie „tolerieren“ stellt. Urbane Freiräume, die zwischen der Mittelwasserlinie und der Hochwasserlinie liegen, müssen so ausgestattet werden, dass sie eine temporäre Überflutung ohne größere Schäden ertragen, also „tolerieren“ können. In den Innenstädten finden sich solche Räume meist nur als schmale Bänder oder punktuelle Nischen am Fuße der Ufermauern. Dort müssen Mobiliar, Bepflanzung und Oberflächen stabil und gut verankert sein, damit sie den Strömungskräften des Wassers standhalten und durch den Aufprall von Treibgut nicht beschädigt werden. Als zusätzlicher Schutz können flussaufwärts Pfeiler, die Treibgut zur Flussmitte ableiten, montiert werden. Die Orte am Wasser werden bei Hochwasser überflutet und sind dann nicht nutzbar. Dies fördert die Wahrnehmung des sich verändernden Wasserspiegels. Durch vorgehängte Stegkonstruktionen können neue Orte am Wasser geschaffen werden. Künstliche Vorufer, die durch das Einbringen von Substrat entstehen, können bepflanzt werden und stellen ökologische Nischen in schnell strömenden Gewässern dar. Amphibische Lebensräume, die auf diese Weise entstehen, sind im Bereich der steilen Ufermauern entlang der Gewässer sehr selten. Einzelne kleinere Biotope, die so geschaffen werden, können im Gewässer als sogenannte Trittsteinbiotope Rückzugsmöglichkeiten für wandernde Organismen bieten. Die Bepflanzung entlang der steinernen Ufermauern ist außerdem durch den starken Kontrast ästhetisch besonders reizvoll. Gestaltungsmittel wie Vorufer, Unterwassertrittstufen oder Trittsteine verbessern die Zugänglichkeit zum Wasser und erhöhen die Erlebnisqualität der Räume stark. Am Fuß der Ufermauern können so mitten in der Stadt sehr attraktive und durch ihre Lage relativ intime und geschützte Aufenthaltsorte entstehen.

A5.∂

A5.2

A5.3

Unterwassertrittstufen

Stör- und Trittsteine

Vorufer

Limmat, Zürich, Wipkingerpark

Limmat, Zürich, Wipkingerpark

Seine, Choisy-le-Roi

Eine Treppe oder Plattform, deren letzte Stufe unterhalb der Mittelwasserlinie liegt, ermöglicht die Benutzung bei verschiedenen Wasserständen und vor allem den direkten Kontakt zum Wasser. In Zürich lädt die geringe Wasserhöhe auf dieser letzten Stufe regelrecht zu einem Fußbad ein. Eine solche Lösung stellt auch einen wichtigen Sicherheitsaspekt dar. Da die Absturzhöhe am Ufer selbst sehr gering ist, kann häufig auf störende Geländer oder Brüstungen verzichtet werden.

Stör- und Trittsteine oberhalb der Mittelwasserlinie erhöhen die Erlebbarkeit des Fließgewässers, indem sie den direkten Kontakt mit dem Wasser erlauben. An der Limmat in Zürich sind die Steine mehrere Meter weit ins Gewässer hinein verlegt. Sie sind in unterschiedlichen Höhen angeordnet und machen so die Wasserschwankungen des Flusses wahrnehmbar. Durch die raue Oberfläche der Steine werden interessante Strömungsbilder auf der Wasseroberfläche erzeugt.

­– – – – – – – –

­– – – – – – – –

Limmat, Zürich, Wipkingerpark  Δ ∂58

Limmat, Zürich, Wipkingerpark  Δ ∂58

Wupper, Wuppertal  Δ ∂68

Wupper, Wuppertal  Δ ∂68

Entlang des Gewässerrands werden Zonen aufgeschüttet und bepflanzt. Zum Teil müssen die Aufschüttungen, bis sie ausreichend bewachsen sind, gesichert werden, zum Beispiel durch eine Abdeckung aus Geotextilien. So entsteht eine grüne, amphibische Zone entlang der steinernen Kante. Die flachen, strömungsberuhigten Zonen stellen in großen Gewässern ökologische Trittsteinbiotope für wandernde Fische und Amphibien dar. Sie eignen sich besonders für innerstädtische Gewässer, die mit einem harten, einförmigen Kastenprofil ausgestattet sind, und sind durch den starken Kontrast mit der zumeist steinernen Umgebung auch ästhetisch besonders reizvoll. An der Seine in Choisy-le-Roi, am Stadtrand von Paris, wurde eine neue Aufenthaltszone am Wasser geschaffen. Diese amphibische Zone dient als Vermittler zwischen Steg und Fluss und vermindert die Absturzgefahr.

Soestbach, Soest  Δ 248

­ ––––––– – Seine, Choisy-le-Roi  Δ ∂64 Wupper, Wuppertal  Δ ∂68 Soestbach, Soest  Δ 248

60 6∂

Entwurfskatalog Ufermauern und Promenaden

A5.4

A5.5

A5.6

überflutbare Uferwege

überflutbare Stege

Ufermauern überwinden

IJssel, Doesburg

Seine, Choisy-le-Roi

Rhône, Lyon

Das Bedürfnis von Menschen, direkt am Wasser entlangzugehen, ist groß. Ein durchgängiges Plateau am Fuß der Ufermauer bietet diese Möglichkeit und schafft gleichzeitig einen intimen und geschützten Raum am Wasser. Durch die Möglichkeit zum Aufenthalt sowohl auf der Mauer als auch unten am Wasser entstehen unterschiedliche Wahrnehmungsperspektiven entlang des Gewässers. Die Wege sind regelmäßigen Überflutungen ausgesetzt. Eine Reinigung nach Hochwasserereignissen kann erforderlich sein. In Doesburg an der IJssel wurde am Fuße der neuen Ufermauer eine breite Promenade angelegt, die gleichzeitig als Anlegestelle dient.

In vielen Situationen gibt es keine durchgängigen Wege entlang des Wassers. Eine Wegeverbindung in Form eines überflutbaren Steges ist eine sehr gute Möglichkeit, Verbindungen zu ergänzen, Lücken zu schließen und gleichzeitig attraktive Plätze nahe der Wasseroberfläche entstehen zu lassen. Ein solcher Steg schuf für die Bewohner von Choisy-le-Roi die Möglichkeit, sich an der Seine aufzuhalten. Der Steg wurde mit der Anlage von grünen Vorufern kombiniert. Eine stabile Stahlkonstruktion und eine gute Verankerung der Holzelemente sorgen hier dafür, dass der Steg bei Hochwasser den starken Strömungskräften widerstehen kann.

Treppen, Rampen und Stege, die die Krone der Ufermauer mit den überflutbaren Bereichen am Wasser verbinden, können durch eine attraktive Gestaltung zu Blickfängen und Aufenthaltsorten am Wasser werden. Die Ausführung kann quer oder längs zum Gewässer erfolgen. Die Konstruktionen müssen besonders stabil sein, damit sie bei Hochwasser den Strömungskräften und dem mitgerissenen Treibholz standhalten. In Lyon wurde der Höhenunterschied zwischen Ufermauer und Fluss zur Anlage eines Spielplatzes genutzt.

­– – – – – – – –

­– – – – – – – –

Rhône, Lyon  Δ ∂60

Seine, Choisy-le-Roi  Δ ∂64

IJssel, Doesburg  Δ ∂72

IJssel, Kampen  Δ ∂74

IJssel, Kampen  Δ ∂74

+ Limmat, Zürich, Badeplatz Oberer

­ ––––––– – Rhône, Lyon  Δ ∂60 + Ebro, Zaragoza, Ufergestaltung

Letten  Δ 280

Innenstadt  Δ 280

A5.7

A5.8

A5.9

überflutbares Mobiliar

überflutbare Bepflanzung

neue Ufermauern

Rhône, Lyon

Rhône, Lyon

Ebro, Zaragoza, Ufergestaltung Innenstadt

Bei Uferpromenaden, die oft überflutet werden, sind eine stabile Befestigung und die Wahl von besonders schwerem oder hochwasserbeständigem Material für das Mobiliar wichtig. Bei häufigen Überflutungen sollte die Lage und Ausrichtung des Mobiliars den hydraulischen Anforderungen entsprechen. Durch eine besondere Formgebung kann das Mobiliar genutzt werden, um auf die Hochwassersituation aufmerksam zu machen. Die Uferpromenade in Lyon befindet sich im Überflutungsbereich und ist dennoch mit einer großen Vielfalt an Sitzgelegenheiten und Spielgeräten mit verschiedenen Oberflächenmaterialien ausgestattet. Hier wurde sich bewusst für eine aufwendige Gestaltung entschieden und erforderliche Pflegemaßnahmen nach Hochwasserereignissen wurden in Kauf genommen.

Bepflanzungen im Überflutungsbereich am Fuß der Ufermauer können den Raum erheblich aufwerten. Viele Pflanzen, die aus den amphibischen Lebensbereichen der Auen stammen, können den Wechsel von Überflutungen und Trockenzeiten gut vertragen. Von Einzelgehölzen über linienhafte Pflanzungen bis hin zu großflächigeren Pflanzfeldern im Voruferbereich bieten sich viele Gestaltungsmöglichkeiten. Entlang der Rhône in Lyon wurde auf der neuen Uferpromenade mit Stauden- und Gehölzpflanzungen eine grüne Atmosphäre geschaffen.

Werden Ufermauern umgestaltet oder neu angelegt, tragen die Form und die Materialwahl wesentlich zur ökologischen und vor allem ästhetischen Qualität des Gewässerraums bei. Die Wahl attraktiver Natursteine, besonderer Betonsorten (Leutschenbach, Zürich) oder eine Bepflanzung (Ebro, Zaragoza) beleben die Wände. Die Anlage von großen Fugen kann ökologische Nischen für Tiere und Pflanzen schaffen. Im Brückenpark in Müngsten an der Wupper wird außerdem durch die Oberkante der Natursteinbefestigung der Wasserspiegel für ein 100-jährliches Hochwasser für Besucher sichtbar.

­– – – – – – – – Rhône, Lyon  Δ ∂60 Seine, Choisy-le-Roi  Δ ∂64

­– – – – – – – – Wupper, Müngsten  Δ 230 Leutschenbach, Zürich  Δ 240 + Ebro, Zaragoza, Ufergestaltung Innenstadt  Δ 280

­ ––––––– – Rhône, Lyon  Δ ∂60 Seine, Choisy-le-Roi  Δ ∂64

62 63

Entwurfskatalog Ufermauern und Promenaden

A6 mitgehen

∫  Kombinationsmöglichkeiten für alle Gestaltungsmittel aus A6 ­– – – – – – – – A∂.∂ Zwischenebenen A∂.2 Terrassen A∂.3 große Ufertreppen A5.4 überflutbare Uferwege

Diese Entwurfsstrategie arbeitet mit Elementen, die auf der Wasseroberfläche schwimmen und unmittelbar mit den Wasserschwankungen der Fließgewässer mitgehen. Aufschwimmende Elemente folgen sichtbar jeder vertikalen Wasserstandsänderung, während das Wasser ungehindert unter ihnen hindurchströmen kann. Durch die exponierte Lage auf freien Wasserflächen können schwimmende Elemente das Stadtbild entscheidend beeinflussen und besitzen daher einen hohen Stellenwert für die Freiraumgestaltung. Traditionell findet das Prinzip Anwendung bei Schiffsanlegern an großen Flüssen. Gerade in den letzten Jahren hat sich jedoch die Nutzungsvielfalt deutlich erhöht. Neben Hausbooten sind heute auch Badeschiffe und schwimmende Inseln aus dem Stadtbild vieler europäischer Städte nicht mehr wegzudenken. Je nach Grad der Verflechtung mit dem Freiraum der angrenzenden Ufer sind diese Elemente temporär oder permanent an einen bestimmten Ort gebunden. Die direkte Gewässernähe und die Abhängigkeit vom Abflussgeschehen steigern die Wahrnehmung von Gewässerprozessen – von der Strömung bis hin zu den unterschiedlichen Wasserständen. Weil das Prinzip der schwimmenden Elemente an der Wasseroberfläche ansetzt und diese sich flexibel dem Wasserstand anpassen, werden die Rauigkeit und der Abflussquerschnitt des Fließgewässers nur gering beeinträchtigt. Sind die Pontons vom Ufer aus zugänglich, muss der veränderliche Höhenunterschied zwischen der starren Uferkante und dem schwimmenden Element durch flexible Konstruktionen ausgeglichen werden. Schwimmende Elemente können leichter in strömungsärmeren Gewässern eingesetzt werden. Bei starken Strömungen empfehlen sich neben einer massiven Sicherung gegen das Abtreiben Schutzvorrichtungen, die im Hochwasserfall gefährliches Treibgut ablenken.

A6.∂

A6.2

A6.3

schwimmende Stege

schwimmende Inseln

vertäute Schiffe

Elstermühlgraben, Leipzig

Leine, Hannover

Spree, Berlin

Eine häufige und einfache Variante eines mitgehenden Elements ist der schwimmende Steg. Er kann als Bootsanlegestelle oder Badesteg dienen und schafft Freiräume mit hohem Aufenthaltswert, die direkt am Wasser liegen. Die flexiblen Konstruktionen können architektonisch interessant sein und machen die Dynamik des Gewässers bewusst. Der Steg am wieder offengelegten Elstermühlgraben in Leipzig erlaubt den Zugang zum Wasser und dient als Kanuausstieg.

Schwimmende Inseln erschließen zuvor gänzlich unzugängliche Räume. In Hannover wurde am Rande der alten Stadtbefestigung eine schwimmende Insel geschaffen, die durch ein Bistro genutzt wird. Der Aufenthalt direkt am Wasser wird so möglich. Kleine Inseln sind unmittelbar den Wasserschwankungen, dem Wellenschlag und der Strömung des Fließgewässers ausgesetzt, sodass das Gewässer fast wie von einem Boot aus erlebt werden kann.

Ehemalige oder eigens angefertigte Schiffe können als fest verankerte Wohnboote, schwimmende Ateliers, Diskotheken, Cafés oder Restaurants dienen. In Berlin und Wien ermöglichen Badeschiffe mit gesonderten Wasserbecken das Gefühl, im Fluss zu baden, und können an Stellen eingesetzt werden, wo die Wasserqualität zum Baden unzureichend ist. Die Schiffe sind wasserstandsunabhängig und stellen eine gute Möglichkeit dar, den innerstädtischen Gewässerraum zu beleben.

­– – – – – – – – ­– – – – – – – –

Leine, Hannover  Δ ∂54

­– – – – – – – –

Elster- und Pleißemühlgraben, Leipzig  

Elbe, Hamburg  Δ 202

Rhône, Lyon  Δ ∂60

Δ ∂50

Spree, Berlin  Δ ∂66

+ Limmat, Zürich, Frauenbad Stadthaus-

+ Donau, Wien, Badeschiff  Δ 279

quai  Δ 280

64 65

Entwurfskatalog Ufermauern und Promenaden

B

Deiche und Flutwände

Main, Wörth am Main

Von der starren Schutzlinie zum multifunktionalen Freiraum. Die Grenzen des Überflutungsraums liegen deutlich entfernt vom Gewässerlauf und sind somit nur periodisch vom Wasser beeinflusst. Deiche oder Flutwände werden so gestaltet, dass sie die vorhandenen Freiräume bereichern und zur verbindenden Schnittstelle zwischen Flusssystem und geschütztem Hinterland werden.

66 67

Entwurfskatalog Deiche und Flutwände

B

Deiche und Flutwände

Räumliche Situation Deiche sind die ältesten und einfachsten baulichen Konstruktionen, um gefährdete Bereiche vor Hochwasser zu schützen. Im urbanen Raum werden sie wegen der beengten Verhältnisse häufig durch senkrechte Hochwasserschutzwände ersetzt. Das Schutzsystem wird von Infrastrukturlinien wie Straßen oder Bahntrassen überlagert. Fluttore können an den Kreuzungspunkten diese Barrieren zwar durchlässig machen, grundsätzlich bewirken Deiche und Flutwände aber eine starke räumliche und funktionale Trennung zwischen Siedlungsgebiet und Flussraum. Wirksame Prozesse

Die unterschiedlichen begrenzenden Elemente wie Hochwasserschutzwände oder Deiche liegen deutlich vom Ufer entfernt und sind somit nur periodisch vom Wasser beeinflusst. Es sind Ingenieurbauwerke, die den Gewässerraum begrenzen und wesentlich prägen. Die Deiche und die Hochwasserschutzwände sind innerhalb bestimmter periodisch wiederkehrender Zeitabschnitte den Wasserschwankungen der Hochwasserereignisse ausgesetzt. Sie müssen dann den Schleppkräften der Strömung und dem Druck des sich anstauenden Wassers widerstehen. Von erhöhten Deichen aus können die Wasserschwankungen und die Ausdehnung von verschiedenen Wasserständen im Deichvorland gut wahrgenommen werden.

Entwurfsansätze

Das Ziel der gestalterischen Maßnahmen in diesem Prozessraum ist es, Schutzlinien nicht als starre, monofunktionale Linien, sondern als multifunktionale, ihre Umgebung bereichernde Elemente auszubilden. Der Prozessraum B umfasst die Hochwasserschutzlinien (grüne Grenzlinie) entlang der Gewässer. Diese Hochwasserschutzlinien bilden die Grenze des Überflutungsraums und können weit vom eigentlichen Gewässer entfernt liegen. Die Überflutungsgrenze steht somit nicht mit der Grenze der eigendynamischen Laufentwicklung (rote Grenzlinie) in Verbindung und kann daher unabhängig gestaltet werden. Angesichts zu erwartender extremer Hochwasserereignisse durch Klimaänderungen und durch ein neues Hochwasserrisikomanagement als Folge der EU-Hochwasserrisikomanagement-Richtlinie werden viele Hochwasserschutzsysteme saniert oder erhöht. In einigen Fällen wird auch der Bau neuer Deichanlagen notwendig, wenn der Gewässerraum durch Deichrückverlegungen vergrößert wird oder Stadtteile zusätzlichen Schutz erhalten sollen. Durch eine innovative Gestaltung dieser Schutzlinien kann die Verzahnung des Flussraumes mit dem geschützten Hinterland verbessert werden. Öffnungen in der Schutzlinie können zum Beispiel für Durchlässigkeit sorgen und ermöglichen

B∂ Widerstand differenzieren

B∂.∂ Deichparks B∂.2 Bäume auf Deichen B∂.3 Deichprofil modellieren B∂.4 Deiche als Wegeverbindungen B∂.5 Deichtreppen und -promenaden B∂.6 Superdeiche

B2 vertikal widerstehen

B2.∂ Hochwasserschutzmauern integrieren B2.2 Mauerhöhen relativieren

B3 Widerstand verstärken

B3.∂ unsichtbar stabilisieren B3.2 Glaswände

B4 Widerstand integrieren

B4.∂ Nutzung der historischen Stadtmauer B4.2 wasserdichte Fassaden

B5 temporär widerstehen

B5.∂ frei bewegliche Schutzelemente B5.2 aufsetzbare Schutzelemente B5.3 aufklappbare Schutzelemente

B6 Wasserdynamik wahrnehmbar machen

B6.∂ Hochwassermarken B6.2 Kunstobjekte und Mobiliar

68 69

Entwurfskatalog Deiche und Flutwände

B

Deiche und Flutwände

Sichtbeziehungen. Bei Hochwasser werden sie temporär verschlossen. Andere für diesen Prozessraum geeignete Gestaltungsmittel beschäftigen sich damit, die Schutzlinie durch Multifunktionalität effektiver zu nutzen oder sie auf andere Weise besser zu integrieren. Bei der Verstärkung und Erhöhung bestehender Systeme sind zum Beispiel Ideen gefragt, welche die negativen Auswirkungen auf die Umgebung minimieren. Alle Entwurfsstrategien im Prozessraum B Deiche und Flutwände setzen sich mit dem Thema Widerstand auseinander. Die Hochwasserschutzelemente widerstehen der horizontalen Ausbreitung des Wassers und können so den Überflutungsraum begrenzen. Die Gestaltungsmittel zeigen unterschiedliche Weisen, diesen Widerstand zu organisieren und ihn gleichzeitig optimal in seine Umgebung zu integrieren.

Freiraumgestaltung

Die Überflutungsgrenze (grüne Linie) verläuft in Zaltbommel an der Waal an der Oberkante der neuen Schutzmauer entlang. Die Mauer kann teilweise durch temporäre Elemente erhöht werden (grüne Linie, gestrichelt). Die Grenze des Gewässerlaufs verläuft entlang der Uferbefestigungen. Zwischen beiden Linien befindet sich das Vorland, das regelmäßigen Überflutungen ausgesetzt ist.

Aufgrund ihrer Höhe sowie ihrer trennenden Wirkung sind Deiche und Flutwände prägende Elemente in der Landschaft. Die meiste Zeit im Jahr stehen sie fern der Uferlinie am Rande des Flutraumes der Fließgewässer, können dort aber neben dem Hochwasserschutz weitere Freiraumfunktionen erfüllen. Die topographische Erhöhung kann beispielsweise zur Gestaltung eines Aussichtspunktes, zur Aufnahme von Tiefgaragen oder als Deichpark genutzt werden. Außerdem bietet es sich an, die linearen Strukturen der Hochwasserschutzlinie mit einem Wegesystem auf verschiedenen Höhenniveaus zu kombinieren. Besonders bei Fahrradfahrern sind Wege auf den Deichen sehr beliebt, weil die erhöhte Position eine gute Aussicht auf die Umgebung ermöglicht. Eine Kombination mit Wohnungsbau ist eine weitere Möglichkeit. Wenn Wohnen nicht hinter dem Deich, sondern auf Höhe der Deichkrone realisiert wird, kann qualitativ hochwertiger Wohnraum mit Sicht auf den Fluss entstehen. Die Gebäude können dabei ein Teil der Deichkonstruktion sein oder auf angeschütteten, unabhängigen Flächen entstehen.

Hochwasserschutz

Der Bau einer Hochwasserschutzlinie schützt die dahinterliegenden Siedlungen und Objekte, bedeutet aber eine künstliche Begrenzung des Überschwemmungsgebiets und somit eine Verkleinerung des natürlichen Retentionsraums eines Fließgewässers. Wegen des eingeschränkten Retentionsraums erhöhen sich der

Spitzenhochwasserabfluss und die Gefahr von Überschwemmungen flussabwärts. Durch Deiche und Ufermauern hat das Bewusstsein für die Hochwassergefahr in vielen natürlichen Überflutungsräumen stark abgenommen. Wohnsiedlungen und Gewerbegebiete wurden gebaut. Die Räume hinter den Deichen galten als sicher. Die Schäden sind daher bei einem Versagen der Deiche sehr hoch. Wenn die Klimaforschung mit ihren Prognosen recht behält, werden Wetterlagen mit Starkregenereignissen in den nächsten Jahrzehnten häufiger auftreten. Für viele Fließgewässer wurden die maximalen Pegelstände in den letzten Jahren neu berechnet und die Anforderungen an den Hochwasserschutz erhöht. Bisher gibt es keine sicheren Vorhersagen, wie sich durch den Klimawandel die Hochwasserereignisse verändern werden. Die Höhe der Schutzbauwerke musste in der Vergangenheit immer wieder neu angepasst werden und kann nicht abschließend berechnet werden. Ideen für flexible Lösungen sind gefordert. Die Erhöhung der traditionellen Deichsysteme verursacht hohe Kosten und ist aus Platzmangel oft nur schwer realisierbar. Ein überregionales Denken und gemeinsames Planen von Maßnahmen, wie es die EU-Hochwasserrisikomanagement-Richtlinie fordert, wird auch vor diesem Hintergrund immer wichtiger. In vielen Fällen muss ein Deich nicht erhöht werden, wenn im Oberlauf zusätzlicher Retentionsraum geschaffen wird oder wenn die Abflusskapazität des Gewässers vergrößert werden kann. Die Senkung des hochwasserbedingten Schadenspotenzials durch Minimierung der Folgeschäden einer Überflutung ist eine andere Strategie des Hochwasserrisikomanagements. Gebäude in Überflutungsräumen können so entworfen oder umgebaut werden, dass im Hochwasserfall die Schäden möglichst klein bleiben. Außerdem gibt es Möglichkeiten, durch doppelte Deichlinien oder Kompartimentierung die Größe des überfluteten Gebiets zu minimieren.

Ökologie Grundsätzlich bedeutet das Abtrennen von natürlichen Überschwemmungsgebieten durch eine Hochwasserschutzlinie einen Eingriff in die Auendynamik, welcher den ökologisch wertvollen, von dynamischen Wasserschwankungen geprägten Raum verkleinert. In urbanen Gebieten können Deichsysteme und die davorliegenden Auengebiete aber auch große zusammenhängende Grünkorridore darstellen. Durch begleitende Maßnahmen, wie zum Beispiel das Modellieren einer amphibischen Zone am Deichfuß, tragen diese zur Vernetzung bedeutender Lebensräume bei. Die im Gegensatz zur feuchten Auenvegetation steilen und trockenen Deichflanken können die biologische Vielfalt erhöhen. Durch entsprechende Ansaat und Pflegemaßnahmen können sich hier artenreiche Biotope bilden. Die Maßnahmen müssen jedoch sorgfältig mit den Anforderungen der Hochwassersicherheit abgestimmt werden.

70 7∂

Entwurfskatalog Deiche und Flutwände

B∂ Widerstand differenzieren

∫  Kombinationsmöglichkeiten für alle Gestaltungsmittel aus B∂ ­– – – – – – – – B2.∂ Hochwasserschutzmauern integrieren B3.∂ unsichtbar stabilisieren C∂.∂ Deiche rückverlegen

Steht genügend Platz zur Verfügung, besteht die Hochwasserschutzlinie in der Regel aus Deichen. Deiche sind künstlich aufgeschüttete Erdwälle, die aus einem Sandkern bestehen, der von einer Schicht aus bindigem Kleiboden bedeckt und mit Gras bepflanzt wird. Sie sind technische Konstruktionen, deren Aufbau und Form im Laufe vieler Jahrhunderte vor allem unter dem Aspekt der Sicherheit perfektioniert wurde. Die Deiche wurden dabei immer breiter und höher. Sie bilden heute dominante Strukturen in der Landschaft mit hohem gestalterischem Potenzial. Das Profil, also die Form des Querschnitts der Deiche, ist dabei für ihre Funktionalität entscheidend. Vielerorts werden die Gewässer von Deichen im standardisierten monofunktionalen Trapezprofil begleitet. Durch die gezielte Gestaltung und Gliederung des Deichprofils können neue räumliche Situationen in der Landschaft entstehen. Eine Modellierung oder eine Verbreiterung des Profils kann gleichzeitig die Stabilität des Deichs erhöhen und dessen Gestaltungsund Nutzungsmöglichkeiten verbessern. Beispielsweise können Liegewiesen oder eine abwechslungsreiche Bepflanzung mit Bäumen vorgesehen werden (B1.2 Bäume auf Deichen) oder in der Übergangszone am Deichfuß zwischen trocken und nass gezielt die Biotopvielfalt gefördert werden (B1.3 Deichprofil modellieren). Je flacher die Böschungen des Deiches gestaltet werden, desto mehr verschmilzt er mit der Landschaft und ist als Barriere zwischen Gewässerraum und Hinterland kaum noch wahrnehmbar. Der Deich kann so zu einem Deichpark werden (B1.1 Deichparks). Schmale Deiche mit steileren Böschungen erzeugen das Gefühl, über der Landschaft zu schweben (B1.4 Deiche als Wegeverbindungen). Ein gestuftes Profil dagegen kann das Hochwasserschutzelement selbst in Szene setzen (B1.5 Deichtreppen und -promenaden).

B∂.∂

B∂.2

Deichparks

Bäume auf Deichen

Main, Wörth am Main

Maas, Waalwijk, Maasdeich

Nahe, Bad Kreuznach

Durch die Ausgestaltung eines Deiches als Park entsteht ein attraktiver Freiraum in Gewässernähe. Anstatt der üblichen schmalen Trapezform wird das Deichprofil sehr viel breiter und flacher ausgebildet. Dabei kann es sich sowohl um einen neuen Deich oder um die Überformung eines bestehenden Deiches handeln, der zum Beispiel erhöht werden muss. Der flache Deich ist stabiler und kann verschiedene Freiraumnutzungen aufnehmen. Am Main in Wörth wurden beispielsweise auf der flussabgewandten Seite des neuen Deiches Kleingärten und Parkplätze angelegt, zum Fluss hin befinden sich Liegewiesen und Sitzgelegenheiten. Aufgrund des flachen Profils und der vielfältigen Gestaltung verschmilzt der Deich mit den Grünzügen der Umgebung und ist als Hochwasserschutzelement kaum noch wahrnehmbar.

Früher waren Deiche häufig mit Bäumen bestanden. Diese boten Schatten und die Baumreihen waren als markante Landschaftselemente weithin erkennbar. Ein schönes Beispiel dafür ist der Maasdeich bei Waalwijk in den Niederlanden. Heute können Deiche in der Regel auf der wasserzugewandten Seite nicht mit Bäumen bepflanzt werden. Hohlräume im Deichkörper oder Lücken in der Grasnarbe, die durch abgestorbene Wurzeln oder umgestürzte Bäume entstehen, können die Standsicherheit gefährden. Werden die Deiche aber anderweitig stabilisiert, wird eine Bepflanzung wieder möglich. Eine Methode ist, den Deichkörper zu überdimensionieren, wie am Main in Wörth, oder eine stabilisierende Spundwand in den Deichkörper zu integrieren.

In Bad Kreuznach an der Nahe verläuft eine Spundwand, die auch zur Regulierung des Grundwassers dient, in der Deichmitte. Der Deich erhielt eine landschaftliche Formgebung, wurde etwas überdimensioniert und mit Gehölzen bepflanzt. ­ ––––––– – Main, Wörth am Main  Δ ∂80 Nahe, Bad Kreuznach  Δ ∂84

­ ––––––– – Main, Wörth am Main  Δ ∂80 Nahe, Bad Kreuznach  Δ ∂84 + Nieuwe Maas, Rotterdam, Dakpark  Δ 280

72 73

Entwurfskatalog Deiche und Flutwände

B∂.3

B∂.4

B∂.5

Deichprofil modellieren

Deiche als Wegeverbindungen

Deichtreppen und -promenaden

Waal, zwischen Afferden und Dreumel

Waal, zwischen Afferden und Dreumel

Waal, Zaltbommel

Das Profil eines Deiches wird im Wesentlichen durch Sicherheitserwägungen bestimmt. Doch die Form des Profils bestimmt auch die Wirkung des Deiches in der Landschaft. Das Profil eines Deiches in Ladenburg wurde zur Wasserseite hin treppenartig gestaltet, sodass er als Sitztribüne genutzt werden kann. Im Falle der Deicherhöhung des Waaldeiches bei Afferden in den Niederlanden gaben die Landschaftsarchitekten dem Deich ein tailliertes Profil. Trotz identischer Breite des Deichfußes wirkt der Deich dadurch weniger massiv. Von der Deichkrone aus ist der obere Teil der Deichböschung kaum wahrnehmbar und ermöglicht so ein intensiveres Landschaftserlebnis. Am Deichfuß auf der Gewässerseite liegt eine Mulde, die bei Hochwasser überflutet wird und als amphibische Zone funktioniert.

Auf alten Deichanlagen befinden sich traditionell Wege auf der Deichkrone. Deiche als gewässerbegleitende, linienhafte Landschaftselemente bieten sich als Erschließungs- und großräumige Verbindungsachsen an. Diese verbinden sowohl Räume innerhalb der Stadt als auch die Stadt mit ihrer Umgebung. Wegen ihrer Exponiertheit in der Landschaft und der Lage zwischen dem zum Teil hoch verdichteten städtischen Raum und der ruhigen, grünen Gewässerlandschaft sind Wege auf der Deichkrone besonders lohnend. Der für Deiche vorgeschriebene landseitige Deichverteidigungsweg am Deichfuß nutzt diese landschaftlichen Potenziale nicht und ist daher als Fuß- und Radweg nur bedingt geeignet. Der neue Waaldeich zwischen Afferden und Dreumel wird als überregionale Fahrradroute besonders an den Wochenenden intensiv genutzt.

Im Herzen der Städte kann es sich anbieten, die Schutzbauwerke als große Flaniermeilen, Sitztreppen oder Terrassen zu entwickeln. Sie können dann ähnliche Funktionen erfüllen wie die städtischen Ufermauern im Prozessraum A. Der Unterschied liegt darin, dass die Bauten gegenüber der Stadt erhöht liegen. In Zaltbommel an der Waal wurde im Zuge einer Deichverstärkung auf der Deichkrone eine kleine Promenade mit Sitzgelegenheiten angelegt, von wo aus weite Blicke über den Fluss möglich sind. In Hamburg wird dasselbe Prinzip im größeren Maßstab beim Bau der neuen Elbpromenade angewandt. Bei den Landungsbrücken wird die Schutzhöhe um 1,40 m erhöht und es entstehen geschwungene Sitztreppen und eine breite Promenade am Wasser. ­– – – – – – – –

­ ––––––– – Waal, zwischen Afferden und Dreumel  Δ ∂88

­– – – – – – – –

IJssel, Doesburg  Δ ∂72 Waal, Zaltbommel  Δ ∂90

Neckar, Ladenburg  Δ 242

Waal, zwischen Afferden und Dreumel  Δ ∂88

+ Elbe, Hamburg, Neue Elbpromenade  

Ebro, Zaragoza  Δ ∂98

Δ 279

B∂.6 Superdeiche

IJssel, Doesburg

Nieuwe Maas, Rotterdam, Dakpark

Deiche können zu einer ganzen Stadtlandschaft ausgebaut werden. In Doesburg wurde der ehemalige Deich durch eine Konstruktion ersetzt, die gleichzeitig Raum für eine neue Promenade am Wasser bietet, Fundament für die Wohngebäude darstellt und Tiefgaragen aufnimmt. Auf Niveau der Deichkrone befinden sich Apartmenthäuser mit Aussicht auf den Fluss. Die gesamte Wasserseite des alten Deiches wurde in Form einer Schutzmauer und einer großen Ufertreppe neu gestaltet. Diese Deichkonstruktionen mit sehr großen Querschnitten firmieren häufig unter dem Begriff „Superdeich“. Wegen des Klimawandels erforderliche neue Schutzsysteme können so durch ihre Multifunktionalität besser in die bestehende Stadtlandschaft integriert werden.

Im alten Hafengebiet von Rotterdam entsteht derzeit ein Einkaufs- und Bürozentrum, der sogenannte Dakpark, dessen Rückseite zur Maas hin als Park gestaltet ist. Das Gebiet dient gleichzeitig als Hochwasserschutzanlage. ­ ––––––– – IJssel, Doesburg  Δ ∂72 + Nieuwe Maas, Rotterdam, Dakpark  Δ 280

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Entwurfskatalog Deiche und Flutwände

B2 vertikal widerstehen

∫  Kombinationsmöglichkeiten für alle Gestaltungsmittel aus B2 ­– – – – – – – – B∂.∂ Deichparks B∂.5 Deichtreppen und -promenaden B4.∂ Nutzung der historischen Stadtmauer B5.∂ frei bewegliche Schutzelemente B5.2 aufsetzbare Schutzelemente B5.3 aufklappbare Schutzelemente

Häufig werden im urbanen Bereich aufgrund des Platzmangels Hochwasserschutzlinien nicht als Deiche, sondern als sehr viel aufwendigere Schutzmauern ausgebildet. Da das Hochwasser senkrecht an den Wänden hochsteigt, wird ein starker einseitiger Druck auf die Wände ausgeübt. Die Konstruktionen müssen gut gegründet, sehr stabil und wasserdicht sein. Außerdem müssen oft zusätzliche Maßnahmen getroffen werden, um Grundwasserströme unter den Konstruktionen einzudämmen. Die Errichtung vertikaler Schutzelemente ist aus verschiedenen Gründen notwendig: Innerhalb der bestehenden städtischen Strukturen ist der Raum zur Errichtung eines neuen Deiches oder zur Verbreiterung der bestehenden Deiche oft zu schmal. Die vertikalen Hochwasserschutzmauern brauchen nur ein Minimum der Grundfläche und eignen sich daher besonders für dicht besiedelte Gebiete. Außerdem lassen sich Mauern oft besser als Deiche in die Stadträume integrieren. Sie können als Begrenzungen oder als Sitzelemente eingesetzt werden, Räume strukturieren oder gleichzeitig Lärmschutzaufgaben erfüllen. Die Gestaltungsmöglichkeiten sind groß. Höhere Mauern stellen allerdings eine Barriere für Sicht- und Wegebeziehungen dar. Öffnungen in der Mauer, eventuell kombiniert mit temporären Elementen zum Hochwasserschutz, wirken dem entgegen. Ein weiterer Vorteil von Ufermauern ist, dass sie bei veränderten Prognosen erhöht werden können, wenn im Vorfeld die Fundamente entsprechend konzipiert werden.

B2.∂

B2.2

Hochwasserschutzmauern integrieren

Mauerhöhen relativieren

Nahe, Bad Kreuznach, Roseninsel

Nahe, Bad Kreuznach, Inhalationsplatz

Die Hochwasserschutzmauern werden gezielt als Parkgrenze, ergänzende Sitzmöglichkeiten oder als Sicht- und Lärmschutz eingesetzt. Durch ihre Multifunktionalität lassen sie sich gut in die bestehenden Freiräume integrieren. Durch Formgebung, Materialwahl und die Qualität der Detaillierung können die Mauern zur Aufwertung des Stadtbildes beitragen. In Bad Kreuznach an der Nahe wurden die Zugänge zur Parkanlage Roseninsel durch eine Hochwasserschutzmauer inszeniert. Die Linienführung der Mauer gliedert den Raum in Promenade und Sitznischen.

Schutzmauern zwischen Stadt und Fluss können zu einem Problem werden, wenn die erforderliche Schutzhöhe oberhalb der Augenhöhe liegt. Um den Verlust wichtiger Sichtbeziehungen zu verhindern, kann die relative Höhe der Mauer verringert werden. Dazu wurde in Bad Kreuznach und in Zaltbommel das Bodenniveau aufseiten der Stadt ansteigend ausgeführt, sodass an der Promenade am Wasser die Sicht über den Fluss erhalten bleibt. In Miltenberg wurde dasselbe Prinzip angewandt und dabei gleichzeitig der gesamte städtische Uferraum in eine erhöht liegende Promenade und einen tiefer liegenden wassernahen Freiraum gegliedert.

­– – – – – – – – Main, Miltenberg  Δ ∂78 Main, Wörth am Main  Δ ∂80

­– – – – – – – –

Nahe, Bad Kreuznach  Δ ∂84

Main, Miltenberg  Δ ∂78 Nahe, Bad Kreuznach  Δ ∂84 Waal, Zaltbommel  Δ ∂90

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Entwurfskatalog Deiche und Flutwände

B3 Widerstand verstärken

∫  Kombinationsmöglichkeiten für alle Gestaltungsmittel aus B3 ­– – – – – – – – B∂.∂ Deichparks B∂.2 Bäume auf Deichen B∂.3 Deichprofil modellieren B5.∂ frei bewegliche Schutzelemente B5.2 aufsetzbare Schutzelemente B5.3 aufklappbare Schutzelemente

In vielen Städten werden derzeit Hochwasserschutzsysteme stabilisiert oder erhöht. Grund für die verstärkten Hochwasserschutzmaßnahmen sind die Umsetzung der EU-Hochwasserrisikomanagement-Richtlinie und Prognosen für eine steigende Gefahr von extremen Hochwasserereignissen im Rahmen des Klimawandels. Für viele Fließgewässer wurden die Schutzhöhen daher in den letzten Jahren neu berechnet und die Anforderungen an den Hochwasserschutz neu definiert. Die Erhöhung der Deiche und Schutzmauern im Bestand ist häufig mit vielen Schwierigkeiten verbunden: Sie kann zu Beeinträchtigungen der Sicht- und Wegebeziehungen in der Stadt führen. Weiterhin entstehen besonders bei der Erhöhung älterer Deiche hohe Kosten. Kreuzende Straßen, Brücken sowie Wehre und Schleusen müssen mit angehoben werden. Die Erhöhung eines Deiches macht außerdem eine Verbreiterung des Profils notwendig und oft steht hierfür der benötigte Raum nicht zur Verfügung. Bei älteren, baumbestandenen Deichen müssen die Gehölzbestände im Zuge einer Erhöhung weichen. Dies kann die Qualität der öffentlichen Räume beeinträchtigen und ruft – insbesondere bei großflächigen Rodungen in Stadtgebieten – den Widerstand der Bevölkerung auf den Plan. Die hier vorgestellten Gestaltungsmaßnahmen minimieren oder umgehen diese Beeinträchtigungen.

B3.∂

B3.2

unsichtbar stabilisieren

Glaswände

Isar, München

Rhein, Köln, Hochwasserschutz in Westhoven

Wenn die Stärke eines Deiches nicht ausreichend ist, besteht die Möglichkeit, statt einer Verbreiterung des Profils den Deich durch eine Dichtwand aus Stahl oder Beton im Deichkern zu stabilisieren. Von außen ist diese Maßnahme in der Regel nicht sichtbar. An der Isar in München ging es darum, den Baumbestand entlang eines beliebten Erholungswegs an der Isar zu bewahren und trotzdem den Deich zu stabilisieren.

Ist es notwendig, die Hochwasserschutzlinie vor Promenaden oder Terrassen zu erhöhen, können Glaswände auf den vorhandenen Schutzelementen angebracht werden. Auf diese Weise können Sichtbeziehungen zwischen dem Fließgewässer und dem Gewässervorland erhalten werden. Die besonders stabilen, wasserdichten Glaselemente ermöglichen im Hochwasserfall auch eine interessante Perspektive auf das Wasser. In Köln am Rhein konnte durch den Einsatz der Glaswände die Sicht aus den Privatgärten in die umgebende Landschaft gewahrt bleiben.

­ ––––––– – Nahe, Bad Kreuznach  Δ ∂84 Isar, München  Δ 260

­– – – – – – – – + Rhein, Köln, Hochwasserschutz in Westhoven  Δ 28∂

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Entwurfskatalog Deiche und Flutwände

B4 Widerstand integrieren

∫  Kombinationsmöglichkeiten für alle Gestaltungsmittel aus B4 ­– – – – – – – – B2.∂ Hochwasserschutzmauern integrieren B5.∂ frei bewegliche Schutzelemente B5.2 aufsetzbare Schutzelemente B5.3 aufklappbare Schutzelemente B6.∂ Hochwassermarken

In kompakten Innenstädten, historischen Altstadtgebieten oder Wohnsiedlungen am Wasser sind Hochwasserschutzelemente, die sich zwischen Stadt und Fluss schieben, nicht erwünscht. Daher wurde an mehreren Orten die Hochwasserschutzlinie in die bestehenden Bebauungsstrukturen integriert. Dazu werden Stadtmauern oder geschlossene Häuserfronten baulich so verändert, dass sie dem ansteigenden Wasser widerstehen können. Die einzelnen Elemente werden abgedichtet, statisch stabilisiert und unterirdisch mithilfe von Spundwänden gegen Unterströmen abgesichert. Die vorhandenen Strukturen werden so umgestaltet, dass die Hochwasserschutzlinie im Stadtbild kaum wahrnehmbar ist und dass höchstens geringfügige Nutzungseinschränkungen auftreten. Eine andere Möglichkeit ist es, die neuen Schutzsysteme gezielt zu inszenieren und der Stadt damit einen besonderen Akzent zu verleihen. Dies trägt auch dazu bei, das Bewusstsein für die Gefahr von Hochwasserereignissen bei den Stadtbewohnern wachzuhalten. Bei der Suche nach der besten Linienführung kann es sinnvoll sein, bestimmte Gebäude und Infrastrukturen außerhalb der Hochwasserschutzlinie stehen zu lassen. Eine finanzielle Entschädigung für den schlechteren Schutzstatus, ein individueller Schutz der Gebäude oder die Ausstattung mit überflutungstoleranter Inneneinrichtung können akzeptable Lösungen für die Besitzer sein. Da die Häuser bisher auch den Hochwasserereignissen ausgesetzt waren, stellt sich keine Verschlechterung der Situation ein. Die bestehenden (historischen) Strukturen bekommen durch ihren Ausbau als Schutzelement eine zusätzliche wichtige Funktion. Synergien zwischen Hochwasserschutz und Bestandsschutz können dazu beitragen, historische Bauwerke zu erhalten.

B4.∂

B4.2

Nutzung der historischen Stadtmauer

wasserdichte Fassaden

Main, Wörth am Main

Historische Verteidigungslinien, wie zum Beispiel die Reste alter Stadtmauern, können zum Hochwasserschutz verwendet werden. Wegen ihrer geschlossenen Linienführung und Lage bieten sie sich zur Umnutzung an. Die Statik der Mauern muss den erhöhten Anforderungen angepasst werden. Ihre Oberfläche muss bearbeitet werden, sodass sie auch bei hohen Wasserständen wasserundurchlässig sind. In Wörth am Main wurde hierfür die gesamte alte Mauer durch eine neue Mauer aus Stahlbeton ersetzt, die dann teilweise mit den Steinen der alten Mauer verblendet wurde. In Kampen an der IJssel konnte dagegen die bestehende Mauer abgedichtet und stabilisiert werden. ­ ––––––– – IJssel, Kampen  Δ ∂74

IJssel, Kampen

Die hochwassersichere Ausrüstung von Gebäudefassaden ist ein eleganter Weg zur Verbesserung des Hochwasserschutzes, wenn aus Platzmangel andere Maßnahmen schwierig sind. Hierzu werden die bestehenden Fassaden abgedichtet. In Kampen an der IJssel wurde zu diesem Zweck das Mauerwerk wasserdicht verfugt und Fenster aus speziellem Sicherheitsglas eingesetzt. Die Türen werden durch mobile Hochwasserschutzelemente geschützt.

Main, Wörth am Main  Δ ∂80 Waal, Zaltbommel  Δ ∂90

­ ––––––– – IJssel, Kampen  Δ ∂74 Main, Wörth am Main  Δ ∂80

80 8∂

Entwurfskatalog Deiche und Flutwände

B5 temporär widerstehen

∫  Kombinationsmöglichkeiten für alle Gestaltungsmittel aus B5 ­– – – – – – – – B2.∂ Hochwasserschutzmauern integrieren B2.2 Mauerhöhen relativieren B3.2 Glaswände B4.∂ Nutzung der historischen Stadtmauer B4.2 wasserdichte Fassaden B6.∂ Hochwassermarken

Temporäre Schutzelemente dienen im Hochwasserfall der Schließung von Lücken oder der Erhöhung der Hochwasserschutzlinie. Sie werden auch mobile Hochwasserschutzelemente genannt, da sie beweglich sind. Dieses Prinzip ermöglicht Öffnungen in der Hochwasserschutzlinie und eine niedrigere oder weniger massive Gestaltung. Temporäre Hochwasserschutzsysteme kommen nur bei Hochwasserereignissen zum Einsatz und werden in der übrigen Zeit entweder geöffnet und vor Ort belassen oder aber entfernt und an anderen Orten gelagert. Bei Hochwasser schließen sie die Hochwasserschutzlinie und schützen das Hinterland vor Überschwemmungen. Bei mittleren und niedrigen Wasserständen dagegen verschwinden sie entweder aus dem Stadtbild oder erinnern durch ihr Verbleiben an die Lage der Stadt im Überflutungsraum. Durch die mobilen Elemente können Wegebeziehungen zwischen dem hochwasserbeeinflussten Gewässervorland und dem Hinterland intakt bleiben. Fluttore schließen Durchgänge für Straßen, Fuß- und Fahrradwege nur im Hochwasserfall ab. Schutzmauern können in einer moderaten Höhe oder mit kleinen Lücken erstellt werden und im Hochwasserfall aufgestockt werden. So werden Sichtbeziehungen zwischen Stadt und Fluss gewahrt. Temporäre Hochwasserschutzelemente lassen sich unterteilen in frei bewegliche Elemente, die komplett entfernt und zwischengelagert werden, aufsetzbare Elemente, deren Fundament vor Ort verbleibt, und in aufklappbare Elemente, die als bewegliche Teile am Einsatzort montiert sind. Der Einsatz von mobilen Elementen erfordert eine gute Logistik, um die Elemente im Ernstfall rechtzeitig zu montieren. Lagerräume, ein geübtes Einsatzteam und ein gutes Hochwasserwarnsystem sind erforderlich. Das Anbringen der mobilen Elemente muss perfekt organisiert und trainiert sein. Die Vorwarnzeit für Hochwasserereignisse bestimmt die Zeit, die zur Installation der mobilen Elemente zur Verfügung steht.

B5.∂

B5.2

B5.3

frei bewegliche Schutzelemente

aufsetzbare Schutzelemente

aufklappbare Schutzelemente

Donau, Regensburg, Mobile Elemente

Waal, Zaltbommel

Main, Wörth am Main

Frei bewegliche Schutzelemente kommen ohne Vorkonstruktionen oder Fundamente aus und können im Bedarfsfall an jedem beliebigen Ort spontan eingesetzt werden. Neben den traditionellen Dämmen aus Sandsäcken stehen heute sehr viel handlichere Systeme aus Plastik und Metall zur Verfügung; ebenso gibt es innovative Systeme, wie zum Beispiel große Schläuche, die mit Wasser gefüllt werden. Die Elemente stellen entweder einen festen Bestandteil des bestehenden Hochwasserschutzkonzepts dar oder sie dienen der gezielten Abwehr unerwarteter Flutkatastrophen. Sie werden von Gemeinden auch in Übergangsphasen eingesetzt, wenn sich das Schutzsystem noch in der Planung oder im Bau befindet, wie zum Beispiel an der Donau in Regensburg. Hier werden bis dahin im Hochwasserfall leichte Elemente aus Kunststoff eingesetzt.

Aufsetzbare Hochwasserschutzelemente werden temporär an vor Ort fest montierten Verankerungen befestigt. Der Verlauf der Hochwasserschutzlinie ist bei normalen Wasserständen nur an den Vorrichtungen erkennbar. Aufsetzbare Elemente können feste Schutzvorrichtungen ersetzen oder ergänzen und dienen häufig dazu, Zugänge und Türen zu verschließen. Die Elemente können aber auch über größere Längen verwendet werden. An der Waal in Zaltbommel werden zum Beispiel Aluminiumdammbalken auf die bestehende Hochwasserschutzmauer aufgesetzt, um diese bei extremen Hochwasserereignissen zu erhöhen.

Öffnungen in Schutzmauern, Deichen oder an Gebäuden können bei Hochwasser durch verschließbare Klappen und Tore gesichert werden. Bei steigendem Wasserspiegel werden Schutztüren oder Metallplatten ausgefahren oder umgeklappt. Die Schutzvorrichtungen sind sehr eindrucksvoll, aber auch teuer, da sie meist aufwendig für jeden einzelnen Durchlass in der Schutzlinie gefertigt werden müssen. In Wörth am Main wurde für alle Zugänge und jedes Fenster in der alten Stadtmauer eine wasserdichte Klappe maßgeschneidert. Die großen Schutztore haben sich inzwischen zu einem Markenzeichen der Stadt entwickelt.

­– – – – – – – –

­– – – – – – – –

Limmat, Zürich, Fabrik am Wasser  Δ ∂56

IJssel, Kampen  Δ ∂74

IJssel, Kampen  Δ ∂74

Main, Wörth am Main  Δ ∂80

Main, Miltenberg  Δ ∂78

Elbe, Hamburg  Δ 202

Main, Wörth am Main  Δ ∂80 ­– – – – – – – –

Nahe, Bad Kreuznach  Δ ∂84

+ Donau, Regensburg, Mobile Elemente  

Waal, Zaltbommel  Δ ∂90

Δ 279

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Entwurfskatalog Deiche und Flutwände

B6

Wasserdynamik wahrnehmbar machen

∫  Kombinationsmöglichkeiten für alle Gestaltungsmittel aus B6 ­– – – – – – – – A3.∂ verschließbare Zugänge A5.4 überflutbare Uferwege A5.7 überflutbares Mobiliar B4.∂ Nutzung der historischen Stadtmauer B5.3 aufklappbare Schutzelemente

!

Neben konkreten Hochwasserschutzmaßnahmen ist das Bewusstsein der in Überflutungsgebieten lebenden Bevölkerung für die potenzielle Überflutungsgefahr ein wichtiger Baustein im Sicherheitskonzept einer Stadt. Das richtige Verhalten der Menschen kann im Ernstfall Leben retten. Der Hochwasserschutz in vielen europäischen Ländern ist aber inzwischen technisch so ausgereift, dass das Bewusstsein für die Gefahr der hinter den Schutzlinien lebenden Menschen teilweise völlig verschwunden ist. Gestalterische Maßnahmen können dazu beitragen, das Bewusstsein für die Dynamik des benachbarten Flusses wachzuhalten. Eine solche Maßnahme ist das bewusste Inszenieren der Schutzlinie selbst. Hochwasserschutzmauern und -tore erinnern täglich und unaufdringlich an ein mögliches Hochwasser. Die Höhe und die Struktur der Mauern geben einen Hinweis auf die möglichen Pegelstände der Hochwasserspitzen. Auch wenn viele Jahre kein kritisches Hochwasser eintritt, bleibt so die Hochwassergefahr präsent. Eine relativ einfache Maßnahme ist das Anbringen von Markierungen ehemaliger Hochwasserstände an Gebäuden oder am Ufer. Dies sensibilisiert die Menschen und trägt durch die Inszenierung von Geschichte gleichzeitig zur Identität des Ortes bei. Objekte oder Kunstinstallationen im und am Wasser können ebenfalls dazu beitragen, die im täglichen Erleben teilweise schwer wahrnehmbaren Wasserdynamiken bewusst zu machen.

B6.∂

B6.2

Hochwassermarken

Kunstobjekte und Mobiliar

IJssel, Doesburg

Petite Gironde, Coulaines

Das Markieren von Hochwasserständen kann an Gebäuden durch das Anbringen von Messlatten und Gedenksteinen, aber auch durch eine darüber hinausgehende gestalterische Umsetzung erfolgen. Es hat nicht nur chronistischen Belang, sondern kann von künstlerischem und gestalterischem Wert sein: das Sichtbarmachen des Unsichtbaren oder das Bewusstmachen der Dynamik des Gewässers und auch der potenziellen Gefahr. In Choisy-le-Roi an der Seine findet sich eine Skulptur aus Cortenstahl, auf der Pegel und Wasserstände gekennzeichnet sind. An der Skulptur ist der letzte Hochwasserstand noch an der wechselnden Farbe des Rostes erkennbar. In Doesburg an der IJssel wurden mit weißen Steinen in der schwarzen Ufermauer die verschiedenen Wasserstände des Jahres 1995 markiert. Eine Tafel erläutert die Installation.

Im Rückhaltebecken der Petite Gironde, das als Park gestaltet wurde, finden sich überflutungstolerante Sitzgelegenheiten, deren höchster Punkt dem maximalen Wasserstand entpricht.

­– – – – – – – – Seine, Choisy-le-Roi  Δ ∂64 IJssel, Doesburg  Δ ∂72 Waal, Zaltbommel  Δ ∂90

­– – – – – – – – Waal, Zaltbommel

Waal, Zaltbommel  Δ ∂90 Petite Gironde, Coulaines  Δ 2∂4

Kunstobjekte und Installationen, die sich mit dem Element Wasser oder den stattfindenden Prozessen auseinandersetzen, bewirken eine Inwertsetzung des Gewässers. An der Waal in Zaltbommel markieren zwei Figuren, eine vor und eine auf der Deichpromenade, jeweils mit ihrer Hand die Schutzhöhe des Deiches. Durch diese Installation wird subtil auf die Möglichkeit der Überflutung angespielt und die Aufmerksamkeit auf die starken Wasserschwankungen des Flusses gelenkt. Auch eine besondere Formgebung des Mobiliars im hochwasserbeeinflussten Raum durch Künstler oder Designer kann eine Verbindung vom Freiraum und Wasserdynamik herstellen.

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Entwurfskatalog Deiche und Flutwände

C

Überflutungsflächen

Ebro, Zaragoza

Von der monofunktionalen Flutwiese zur mehrfach nutzbaren Überflutungslandschaft. Der Raum zwischen der Überflutungsgrenze und dem Gewässerlauf wird so gestaltet, dass er trotz der sich hier frei entfaltenden periodischen Hochwasserereignisse als Freiraum nutzbar ist und sich eine artenreiche Auennatur entwickeln kann.

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Entwurfskatalog Überflutungsflächen

C

Überflutungsflächen

Räumliche Situation

Durch industrielle Nutzung, Siedlungsbau und die Intensivierung der Landwirtschaft, die mit Eindeichungsmaßnahmen und künstlichen Landerhöhungen einhergingen, sind in den vergangenen Jahrhunderten viele natürliche Auengebiete verloren gegangen. Der Erhalt und die Schaffung zusätzlicher hochwasserbeeinflusster Zonen entlang der Fließgewässer sind heute ein wichtiger Beitrag zum Hochwasserschutz. Die Retentionsbereiche schaffen Raum, in dem sich das Gewässer bei steigendem Wasserspiegel ausbreiten kann. Neben dem Hochwasserschutz dienen die Auengebiete im urbanen Raum überwiegend Erholungszwecken. Für viele Städte stellen die gewässerbegleitenden Freiräume mit direktem Bezug zum Wasser die wichtigsten Naherholungsgebiete dar. Ein System aus Fahrrad- und Fußwegen entlang der Aue stellt außerdem eine Verbindung zwischen dem urbanen und dem ländlichen Raum außerhalb der Stadt dar. Der Prozessraum C lässt sich auch beschreiben als der überflutbare Raum zwischen der befestigten Grenze des Gewässerlaufs (rote Linie), die gleichzeitig die Grenze der natürlichen Laufentwicklung bildet, und der Überflutungsgrenze (grüne Linie): die Gewässeraue, die bei Hochwasser regelmäßig überflutet wird.

Wirksame Prozesse

Der Prozessraum der Fließgewässeraue wird bei Hochwasser in unregelmäßigen Abständen überflutet. Die Höhe des Wasserstandes kann dabei, je nach Flussgröße, um mehrere Meter variieren. Es besteht die Möglichkeit, den Flutraum zu vergrößern, indem die Hochwasserschutzlinie in Richtung Hinterland verschoben wird. Eine andere Möglichkeit ist, das Vorland abzugraben. Die Größe des Raumes beeinflusst die Höhe des Wasserstandes bei einem Hochwasserereignis. Wird das Überschwemmungsgebiet eines Flusslaufes vergrößert, sinkt der Wasserspiegel in diesem Flussabschnitt ab. Außerdem wird die Flutwelle durch die Ausbreitung des Wassers verlangsamt und abgeschwächt. Die Fläche dient als Retentionsraum. Vor allem nach langen Regenperioden im Winterhalbjahr, nach der Schneeschmelze im Frühling, aber auch nach Starkregenereignissen im Sommer steigen die Wasserpegel der Fließgewässer an und die Auen können zwischen ein paar Tagen und mehreren Wochen unter Wasser stehen. Abseits des Hauptstromes nimmt die Fließgeschwindigkeit ab, Sedimente können sich absetzen und können vor allem bei Tieflandgewässern zu einer langsamen, aber kontinuierlichen Aufhöhung der Aue führen. Nach dem Hochwasser trocknen zunächst die höher gelegenen Auenbereiche ab, während in tieferen Zonen Tümpel und Feuchtgebiete verbleiben, die das Wasser über längere Zeiträume speichern. Falls sie in Kontakt mit dem Grundwasser stehen, erhalten sie sich als isolierte Wasserflächen das ganze Jahr.

C∂ Raum erweitern

C∂.∂ Deiche rückverlegen C∂.2 Nebenarme C∂.3 Flutmulden C∂.4 Vorland abgraben C∂.5 stehende Gewässer im Vorland C∂.6 Poldersysteme C∂.7 Rückhaltebecken

C2 darüberstellen

C2.∂ Warften C2.2 Warftprinzip bei Gebäuden C2.3 Pfahlbauten C2.4 Fluchtwege C2.5 Seilbahnen

C3 tolerieren

C3.∂ Wege in der Aue C3.2 Sport- und Spielanlagen C2.3 hochwasserfeste Gebäude C3.4 Park in der Aue C3.5 großräumige Naturgebiete C3.6 Landwirtschaft C3.7 Zelt- und Campingplätze C3.8 Veranstaltungsgelände

C4 ausweichen

C4.∂ Warnschilder und Absperrungen C4.2 elektronische Warnsysteme

C5 mitgehen

C5.∂ schwimmende und amphibische Wohnformen C5.2 Yachthäfen

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Entwurfskatalog Überflutungsflächen

C

Überflutungsflächen

Entwurfsansätze

Die Herausforderung bei der Gestaltung ist die bestmögliche Kombination der verschiedenen Aufgaben als Retentions-, Natur- und Erholungsraum. Eine Rückverlegung der Deiche und die Absenkung des Deichvorlands vergrößern den Retentionsraum und schaffen neue Speichermöglichkeiten für Wasser, haben aber gleichzeitig auch Auswirkungen auf das ökologische Potenzial und die Nutzbarkeit der entstehenden Uferräume. Die Grundvoraussetzung für die Gestaltung dieser Räume ist eine Anpassung der geplanten Nutzung an die Häufigkeit und Dauer des Hochwassers und an die unterschiedlichen Ausdehnungen und Wassertiefen bei den verschiedenen Ereigniswahrscheinlichkeiten ( jährlich stattfindendes Hochwasser bis 100-jährliches Hochwasser HQ100). Dazu gehört auch eine hochwasserbeständige und teilweise auch bei Hochwasser begehbare Erschließung; alternativ kann eine durch unterschiedliche Informations- und Warnsysteme gestützte Evakuierung über erhöht liegende Fluchtsysteme vorgesehen werden. Obwohl sich die Flussauen vor allem für verschiedene Freiraumnutzungen anbieten, entstehen in den Überschwemmungsgebieten entlang der Flüsse auch hochwasserangepasste Bauformen wie aufgeständerte, schwimmende oder auf Warften errichtete Gebäude als erste Zeichen für ein zunehmendes Interesse, hochwassergefährdete Räume baulich in den Stadtraum zu integrieren und damit den Stadtraum gleichzeitig als Flutraum zu betrachten. Weite Räume, die bei mittleren Wasserständen kein Wasser führen, aber bei Hochwasser überflutet werden, können durch hochwasserangepasste Nutzungen aufgewertet werden. Die Gestaltungsmittel und -maßnahmen zeigen, welche Möglichkeiten es gibt, den Prozessraum sinnvoll zu vergrößern, zu erschließen oder zu nutzen. Dabei passen sich die Elemente und Nutzungsformen den Wasserschwankungen des Fließgewässers auf unterschiedliche Weise an. Die Entwurfsstrategie kann darin bestehen, den Überflutungen mehr Raum zu geben, die temporäre Überflutung zu tolerieren oder sich ihr zu entziehen. Durch schwimmende Elemente ist es möglich, sich den wechselnden Wasserständen in der Aue anzupassen. Bei Maßnahmen im Prozessraum C sind meistens Zielsetzungen im Hochwasserschutz oder im Naturschutz ausschlaggebend. Vor allem bei großräumigen Projekten bietet sich im Hinblick auf die Pflege- und Unterhaltungskosten eine Kombination von Vergrößerung des Retentionsraums und Entwicklung natürlicher Auenlandschaften an. Im innerstädtischen Raum dagegen überwiegen Erholungsnutzungen.

Freiraumgestaltung

In Überflutungsarealen können durch ihre Großräumigkeit und den engen Kontakt zum Wasser attraktive Freiräume entstehen, die gut zugänglich sind und eine hohe Nutzungsvielfalt ermöglichen. Diese Auen bieten Platz für Veranstaltungen, Sport- und Freizeitanlagen, Liegewiesen sowie für Grill- und Spielplätze. Die Nutzungen sind temporär, da sie auf den hochwasserfreien Zeitraum beschränkt sind. Fließgewässerauen, die als Naturgebiete oder extensive Kulturlandschaften entwickelt werden, können einen hohen Erlebnis- und Erholungswert haben, wenn sie entsprechend erschlossen sind. Sie bilden dauerhafte Freiraumstrukturen im dicht besiedelten urbanen Raum, da sie einerseits für den Hochwasserschutz unentbehrlich sind und andererseits Nutzungen wie Wohnen oder Gewerbe im Überschwemmungsgebiet von Ausnahmen abgesehen nicht möglich sind. Aufgrund dessen stellen hochwasserbeeinflusste Räume eine Chance für die langfristige Sicherung von Erholungsraum für die Stadtbewohner dar und deren Entwicklung kann einen positiven Impuls für die Stadtentwicklung bedeuten. Eine gute Zonierung zur Vermeidung von Konflikten zwischen Naturschutz und Erholungsuchenden ist wichtig. Durch die Linearität der Räume können sie ein strukturell wichtiger Teil der Grünsysteme einer Stadt sein.

Hochwasserschutz

Fließgewässerauen leisten einen wichtigen Beitrag zum Hochwasserschutz. Die Vergrößerung der Auen kann eine kostengünstige Alternative zu einer Deicherhöhung sein. Bei steigendem Wasserspiegel kann sich das Gewässer innerhalb des Retentionsraums ausbreiten. Dadurch verringern sich die Fließgeschwindigkeit sowie die Hochwasserspitzen und es werden flussabwärts gelegene Gebiete entlastet. Zur Vergrößerung dieses Entlastungseffekts gibt es verschiedene Möglichkeiten. Durch Maßnahmen wie

beispielsweise die Verschiebung der Hochwasserschutzlinie in Richtung Hinterland oder die Vergrößerung des Flutraumes durch Abgrabungen kann das Retentionsvermögen der Aue erhöht werden. Ein Poldersystem kann den vorhandenen Raum effektiver nutzen. Die Gestaltung des Flutraumes beeinflusst die Rauigkeit und somit auch die Strömungsverhältnisse bei Hochwasser. Eine hohe Rauigkeit führt zu einem Aufstau des Wassers, was eine Erhöhung des Wasserstandes und eine Verzögerung des Abflusses zur Folge hat. Sind die Auen stark eingeengt, werden zum Hochwasserschutz daher oft alle Elemente, die den Abfluss weiter verzögern, aus der Aue entfernt, oder die Pflanzung von Bäumen oder die Entstehung von Auwald kann nicht zugelassen werden. Bei einer Neugestaltung kann dies zu Konflikten mit den Zielen des Naturschutzes, der Stadtentwicklung oder der Erholungsnutzung führen. Eine Lösung kann die Überdimensionierung der Rückhalteräume sein, die die größere Rauigkeit ausgleichen kann.

Ökologie Natürliche, sich frei entwickelnde Gewässerauen sind durch ihre Seltenheit und große Strukturvielfalt ökologisch besonders wertvoll. Aufgrund der Biotoptypen im wechselfeuchten Bereich beherbergen die Auwälder, Sumpfzonen und Feuchtwiesen eine große Vielfalt an Tier- und Pflanzenarten. Die Flächen bieten sich deshalb besonders zur Naturentwicklung an, zumal in den Überflutungsflächen eine intensive landwirtschaftliche Nutzung oder der Bau neuer Wohn- und Gewerbegebiete nur in Ausnahmefällen möglich ist. Die Schaffung von mehr Fluträumen kann auch großmaßstäblich umgesetzt werden. Im niederländischen Hochwasserschutzprogramm „Ruimte voor de Rivier“ (Mehr Raum für den Fluss) zum Beispiel wird auf nationaler Ebene die Idee verfolgt, bei der erforderlichen Schaffung neuen Flutraumes entlang der großen Flüsse ein zusammenhängendes System von naturnahen, dynamischen Auengebieten zu schaffen, das in urbanen Gebieten durch hochwasserangepasste Stadtentwicklungsvorhaben ergänzt wird. Die Vermarktung von punktuellen Bauprojekten am Wasser kann dabei auch zu einer Finanzierung großräumiger Gewässerentwicklungsmaßnahmen beitragen. Die inzwischen realisierten Gebiete haben sich zu wertvollen Naturgebieten und reizvollen urbanen Stadt- und Erholungslandschaften entwickelt.

In Zuera am Gallego wurde in den Überflutungsflächen ein neuer Nebenarm angelegt, um das Wasser näher an die Stadt zu bringen. Außerdem wurde die Überflutungsgrenze (grüne Linie) so definiert, dass die neue Stierkampfarena bei Hochwasser geflutet wird. Das Wasser bleibt danach noch einige Tage stehen und bildet einen See.

90 9∂

Entwurfskatalog Überflutungsflächen

C∂ Raum erweitern

∫  Kombinationsmöglichkeiten für alle Gestaltungsmittel aus C∂ ­– – – – – – – – B∂.3 Deichprofil modellieren B∂.4 Deiche als Wegeverbindungen C2.∂ Warften C2.3 Pfahlbauten C3.∂ Wege in der Aue C3.2 Sport- und Spielanlagen C3.4 Park in der Aue C3.5 großräumige Naturgebiete C3.6 Landwirtschaft C4.∂ Warnschilder und Absperrungen C4.2 elektronische Warnsysteme C5.∂ schwimmende und amphibische

Wohnformen

C5.2 Yachthäfen E∂.∂ Ufer- und Sohlsicherung entfernen E2.∂ Gewässerprofil differenzieren E3.∂ mäandrierenden Gewässerlauf

vorgeben

Im Sinne des Hochwasserschutzes, aber auch aus ökologischen Gründen haben viele aktuelle Gewässerprojekte das Ziel, mehr Überflutungsraum für die heute stark eingeengten Gewässer zu schaffen. Um die Ausbreitung des Wassers wieder zu erlauben, können verschiedene Methoden angewandt werden. Sie unterscheiden sich vor allem in ihrem Raumbedarf und in den Möglichkeiten das Hochwassergeschehen zu steuern. Deichverlegungen oder neue Rückhaltebecken weiten den Flutraum horizontal aus, während das Abgraben des bestehenden Vorlandes einen größeren Abflussquerschnitt für das abfließende Wasser im Hochwasserfall schafft und die alten Grenzen, das heißt die befestigte Grenze des Gewässerlaufs und die Hochwasserschutzlinie, nicht berührt. Das Abgraben des Vorlandes kann in dicht besiedelten Räumen die einzige Option zur Schaffung von mehr Retentionsraum darstellen. Rückhaltebereiche sind entweder als Hochwasserpolder steuerbar und werden eingesetzt, um gezielt Hochwasserspitzen im Gewässer zu kappen, oder sie werden bei steigendem Wasserspiegel ungesteuert überflutet. Ungesteuerte Maßnahmen haben zwei unterschiedliche Effekte bei Hochwasserereignissen. Zum einen wird durch den größeren Flutraum in diesem Bereich der Wasserspiegel gesenkt und der Retentionsraum vergrößert, in dem Wasser zwischengespeichert werden kann. Zum anderen sorgt ein vergrößerter Abflussquerschnitt für eine schnellere Ableitung des Hochwassers. Polder dagegen können solange geschlossen gehalten werden, bis der höchste Hochwasserstand erreicht ist. Dann werden sie geflutet, sodass in Extremsituationen gezielt Hochwasserspitzen gekappt und Überflutungen verhindert werden können. Die Häufigkeit, Dauer und Tiefe der Überflutung ungesteuerter Bereiche wird von der Topographie und den hydraulischen Eigenschaften des Flusses bestimmt. Diese Faktoren beeinflussen die mögliche Gestaltung und Nutzbarkeit der Flächen. Die Spanne der Hochwasserereignisse reicht von regelmäßig vorkommenden Wasserständen bis hin zu Extremsituationen, die nur alle 50 oder 100 Jahre eintreten. Für die Sicherheit der Nutzer ist vor allem die Vorwarnzeit, die Schnelligkeit mit der die Überflutung eintritt und die Höhe der Überflutung relevant. Die Ausweitung von wasserbeeinflussten Lebensräumen mit Hochwasserdynamik schafft Potenzial für Naturentwicklung auch in Stadtnähe. Da die Überflutungsflächen in der Regel nicht bebaut werden dürfen, können zum Beispiel durch die Anlage von Flutmulden Freiräume und Erholungsgebiete gesichert und das Grünraumsystem der Stadt gestärkt werden.

C∂.∂

C∂.2

C∂.3

Deiche rückverlegen

Nebenarme

Flutmulden

Emscher, Dortmund, Rückhaltebecken Mengede

IJssel, Zwolle

Elbe, Magdeburg, Umflutsystem

Die Maßnahme ist relativ aufwendig, da eine zweite neue Deichlinie errichtet werden muss. Alte Deichstrukturen oder ehemalige niedrige Sommerdeiche können gut als erhöht liegende Wege in die neue Planung integriert werden. Deichrückverlegungen sind sehr wirksam, um Engstellen im System zu entschärfen. Die großen neuen Rückhalteflächen an der Emscher, an denen die Deiche, die zuvor direkt entlang des begradigten Gewässers verliefen, bis zu mehreren Hundert Metern zurückverlegt wurden, bieten inmitten des Ruhrgebiets die Möglichkeit, großräumige Naturflächen zu entwickeln.

Durch eine Abflussaufteilung und Schaffung eines neuen Nebenarms wird Vorland abgegraben, wie zum Beispiel an der Vreugderijkerwaard bei Zwolle an der IJssel. Der Retentionsraum der Aue vergrößert sich. Ein bei Normalwasserabfluss durchflossener Nebenarm schafft neue Wasserflächen und Ufer, die nicht den strengen Regeln eines schiffbaren Hauptlaufes unterliegen. Flachwasserzonen und morphodynamische Prozesse werden zugelassen und so können wertvolle Naturgebiete entstehen. Die Aufteilung der Wassermengen und die Art des Anschlusses an den Hauptlauf – ein- oder zweiseitig, in oder gegen die Stromrichtung – sind im Einzelfall genau abzustimmen, um Mindestabflüsse für die Schifffahrt zu gewährleisten oder bei kleinen Gewässern Mindesttiefen nicht zu gefährden.

Flutmulden sind alternative Fließwege, über die bei extremen Hochwasserereignissen Wasser schadfrei umgeleitet werden kann. Über die Ufer tretendes Wasser wird in den Mulden kanalisiert und weiter flussabwärts wieder dem Fluss zugeführt. Sie können durch die Stadt führen, wie zum Beispiel die Flutmulde der Fulda in Kassel, oder auch das Hochwasser über das Hinterland an sensiblen Gebieten der Stadt vorbeiführen, wie der Umflutkanal für die Elbe bei Magdeburg. Flutmulden dürfen in der Regel nicht bebaut werden und können daher in Städten helfen, Freiflächen zu sichern. Die regelmäßig überfluteten Flächen können sich bei entsprechender Anlage und Pflege zu wertvollen Biotopen entwickeln wie zum Beispiel an der Kyllmündung in Trier.

­ ––––––– – Bergsche Maas, zwischen Waalwijk und Geertruidenberg  Δ ∂94 Emscher, Dortmund  Δ 256

­– – – – – – – – ­ ––––––– – Gallego, Zuera  Δ 204

Kyll, Trier  Δ 2∂0

IJssel, Zwolle  Δ 208

+ Elbe, Magdeburg, Umflutsystem  Δ 279

Waal, Gameren  Δ 224

+ Fulda, Kassel, Flutmulde  Δ 279

Schunter, Braunschweig  Δ 266

92 93

Entwurfskatalog Überflutungsflächen

C∂.4

C∂.5

C∂.6

Vorland abgraben

stehende Gewässer im Vorland

Poldersysteme

Isar, München

Ebro, Zaragoza

Rhein, Brühl

Durch das Abtragen des Vorlandes wird ein größerer Abflussquerschnitt für das abfließende Hochwasser geschaffen, ohne dass mehr Fläche benötigt wird. Eine Um‑ gestaltung des Vorlandes und der Uferbereiche hin zu öfter überfluteten Flächen und flachen Ufern bietet sich an. Dies kann den ökologischen Wert der oft landwirtschaftlich genutzten Vorlandflächen erhöhen und die Zugänglichkeit zum Wasser verbessern. In München entstanden durch die Abgrabungen breite Kiesstrände und Flachwasserzonen, die zum Spielen einladen.

Im Vorland können Tümpel und Teiche angelegt werden, die dann wertvolle Feuchtbiotope bilden. Bei Hochwasserereignissen füllen sie sich mit Wasser. Wenn sie nicht in Kontakt mit Grundwasser stehen, trocknen sie zeitweise aus. Sie stellen ein Refugium für viele amphibisch lebende Tier- und Pflanzenarten dar und bereichern die Erlebnisqualitäten der Aue. Tiefe und Größe können je nach ökologischer Zielsetzung und im Hinblick auf bestimmte Arten festgelegt werden. In Zaragoza im Parque del Agua wurden im Vorland des Ebro illegal deponierter Bauschutt entfernt und kleine Auenbiotope angelegt und sogar bepflanzt.

Polder sind von allen Seiten eingedeichte Räume mit einem Einlassbauwerk, über das der Zu- und Abfluss gesteuert werden kann. Gesteuerte Polder erlauben durch die gezielte Kappung von Hochwasserspitzen einen sehr effektiven Hochwasserschutz. Wegen der technischen Ein- und Auslassbauwerke ist die Anlage gesteuerter Poldersysteme relativ aufwendig. Die Gestaltung der Poldergrenzen sowie der Ein- und Auslassbauwerke ist dabei ein wichtiger Faktor des entstehenden Landschaftsbildes. Der Polder Kollerinsel bei Brühl am Rhein hat sich durch seine Umnutzung in einen Hochwasserpolder von einem rein landwirtschaftlich genutzten Gebiet zu einem Natur- und Erholungsraum mit einem Schwerpunkt auf Pferdesport entwickelt.

­– – – – – – – – IJssel, Zwolle  Δ 208 Kyll, Trier  Δ 2∂0

­– – – – – – – –

Waal, Gameren  Δ 224

Ebro, Zaragoza  Δ ∂98

Seille, Metz  Δ 246

Kyll, Trier  Δ 2∂0

Isar, München  Δ 260

Waal, Gameren  Δ 224

­– – – – – – – –

Losse, Kassel  Δ 264

Rhein, Brühl  Δ 2∂8 + Rhein, Ingelheim, Polder Ingelheim  Δ 28∂

C∂.7 Rückhaltebecken

Petite Gironde, Coulaines

Ein Rückhaltebecken ist eine Stauanlage zur Regulierung der Abflussmenge eines Fließgewässers bei Hochwasser. Dieses Becken kann so angelegt werden, dass das Gewässer hindurchfließt (Hauptschluss) oder dass es seitlich neben dem Gewässer liegt und durch eine Überleitung geflutet wird (Nebenschluss). Durch eine Aufteilung eines Rückhaltebeckens in mehrere Kammern, die nacheinander geflutet werden, besteht die Möglichkeit, die selten gefluteten Bereiche zu nutzen. Das erste Becken wird am häufigsten unter Wasser stehen. Durch die Kammerung ist es auch möglich, die aus Deichen und Kammern bestehenden Anlagen besser in die Landschaft einzubinden, da so ein zu großer Geländesprung mit einem hohen Deich vermieden werden kann. Am Rückhaltebecken der Petite Gironde, die in einer Rinne inmitten der Becken verläuft, ist die erste Kammer stark befestigt, da das Wasser mit großer Kraft einströmt. Die hinteren Kammern werden seltener geflutet und sind als Park gestaltet. Eine Variante sind Regenrückhaltebecken, wie an der Seille in Metz, als Speicherräume zur kurzfristigen Rückhaltung von Regenwasser, um den Fluss zu entlasten. ­ ––––––– – Petite Gironde, Coulaines  Δ 2∂4

94 95

Seille, Metz  Δ 246 Emscher, Dortmund  Δ 256

Entwurfskatalog Überflutungsflächen

C2 darüberstellen

∫  Kombinationsmöglichkeiten für alle Gestaltungsmittel aus C2 ­– – – – – – – – C∂.∂ Deiche rückverlegen C∂.3 Flutmulden C∂.4 Vorland abgraben C∂.6 Poldersysteme C∂.7 Rückhaltebecken

Die Auen als Siedlungs- und Wirtschaftsräume zu nutzen forderte schon immer besonders angepasste Bauformen. Die ältesten Siedlungen in Flussräumen machten sich das Prinzip des Darüberstellens zunutze: In Norddeutschland entstanden auf natürlichen Erhebungen, wie zum Beispiel auf Dünen, erste Ansiedlungen mit der Kirche auf dem höchsten Punkt. Später dienten künstliche Erhöhungen in Form von aufgeworfenen Erdhügeln, die als Warften oder Wurten bezeichnet werden, als Siedlungsorte. Dorthin floh man bei drohendem Hochwasser und Mensch und Vieh konnten oberhalb der Flut ausharren, bis das Wasser wieder sank. Eine andere Möglichkeit am Wasser zu wohnen sind Pfahlbauten. Am Bodensee bereits in der Stein- und Bronzezeit gebaut, stellen sie in wassergeprägten Ländern wie Vietnam und den Philippinen noch heute eine weitverbreitete Bauweise dar. In Europa galten die überflutungsgefährdeten Bereiche vor den Deichen lange nicht als Raum für neue Siedlungen. Heute wird vor allem wegen ihrer attraktiven Lage am Wasser wieder diskutiert, ob sich die Auen nicht doch zur Entwicklung neuer Wohn- oder Gewerbegebiete am Wasser nutzen lassen, und die alten Prinzipien werden neu belebt. Neue Wohngebiete auf Warften und neue Pfahlbauten entstehen. Parallel dazu entwickeln sich erhöht liegende Wegesysteme auf Dämmen oder Stegkonstruktionen, die eine sichere Erschließung dieser Gebiete ermöglichen. Im Katastrophenfall dienen sie als Fluchtwege zur Evakuierung von Personen oder wertvollen Sachgütern. Eine relativ seltene, dafür aber sehr attraktive Erschließungsform hoch über dem Wasser sind Seilbahnen. Sie können in urbanen Flusslandschaften besondere Akzente setzen, und haben sich nicht nur als temporäre Installationen bei Gartenschauen, sondern auch als dauerhafte Ergänzung der Wegenetze am Fluss bewährt. Die hier vorgestellten Gestaltungsmittel sind sämtlich für den Einsatz in Auenlandschaften geeignet. Sie tragen zur Entstehung neuer Landschaftsbilder in den Auen bei, die zum Wohnen und Arbeiten wieder entdeckt werden. Die erhöhten Wege und Warften schaffen neue Blickbeziehungen und Aussichten. Bei Flut verändert sich die Landschaft: Die Warften werden zu Inseln oder Halbinseln, während die tiefer gelegenen Bereiche sich in offene Wasserflächen verwandeln.

C2.∂

C2.2

Warften

Warftprinzip bei Gebäuden

Rhein, Brühl, Warft mit Pferdehof

Waal, Gameren

Elbe, Hamburg

Das Prinzip der Warften ist sehr alt; sie sind schon seit dem 3. Jahrhundert n. Chr. bekannt. Es handelt sich um künstlich aus Erde aufgeschüttete Siedlungshügel. Bei Brühl am Rhein wurde diese Strategie neu belebt, um einen Pferdehof im Hochwasserpolder erhöht anzusiedeln. Im Overdiepse Polder an der Bergschen Maas wurde ein Deich rückverlegt und die Bauernhäuser entlang des Deiches auf aufgeschütteten Warften neu erbaut. Dieses Konzept ermöglicht es, Teile der bestehenden Agrarlandschaft bei starken Hochwasserereignissen zur Entlastung unter Wasser zu setzen. Die Warften bleiben über einen Deich auch bei Hochwasser erreichbar. Warften bestehen genau wie Deiche meist aus einem Sandkern, der von einer Schicht aus bindigem Material (Kleiboden) bedeckt und mit Gras bepflanzt wird.

Bei der Ausweisung und Entwicklung von Naturschutzgebieten im Überflutungsbereich werden Fluchthügel aufgeschüttet, die wie Warften funktionieren und die die Tiere im Gebiet bei Hochwasser aufsuchen können. Vor allem bei Beweidungskonzepten mit Pferden oder Rindern zur Offenhaltung der Gebiete, wie in der Gamerense Waard an der Waal, ist dies für die Herden überlebensnotwendig. Aber auch für wild lebende Tiere sind hochwasserfreie Rückzugsmöglichkeiten in Naturgebieten wichtig.

In Hamburg wurde auf ehemaligen Hafenflächen außerhalb der Hochwasserschutzlinie ein neuer Stadtteil, die HafenCity, errichtet. Dazu wurden auf den Kaianlagen Warften aufgeschüttet, die durch Mauern abgefangen sind, in die auch die Gebäude direkt integriert sind. Die Gebäude am Rand der Warften stehen auf einem Sockelgeschoss, in dem sich Tiefgaragenzufahrten, Geschäfte und Cafés befinden, die entsprechend der Flutschutzverordnung der HafenCity durch flutsichere Verschlüsse geschützt werden müssen. Auch das Straßensystem liegt auf dem Warftniveau und wird ergänzt durch neue Brücken und Fußwegeverbindungen, die als Fluchtrouten die HafenCity mit der hinter einer Hochwasserschutzmauer liegenden Innenstadt verbinden.

­ ––––––– – Bergsche Maas, zwischen Waalwijk und Geertruidenberg  Δ ∂94 Rhein, Brühl  Δ 2∂8 Waal, Gameren  Δ 224

­– – – – – – – – Elbe, Hamburg  Δ 202

96 97

Entwurfskatalog Überflutungsflächen

C2.3

C2.4

Pfahlbauten

Fluchtwege

Rhein, Mannheim, Strandrestaurant

Wantij, Dordrecht

Elbe, Hamburg

Pfahlbauten finden sich an vielen Orten der Welt in Küstennähe oder in Sumpfgebieten. Auch für Neubauten am Wasser wird diese Bauweise gern genutzt. Die Gebäude sind dann im Hochwasserfall geschützt und das Hochwasser kann unter ihnen hindurchfließen. Der Abfluss wird somit nur geringfügig behindert. In Mannheim auf der Reißinsel wurde das neue Strandrestaurant auf diese Weise erbaut. Führt der Rhein Hochwasser, ist das Gebäude zwar nicht erreichbar, aber vor Hochwasser geschützt.

In Dordrecht in den Niederlanden wurde ein Wohngebiet in dieser Bauweise in den Auen vor der Deichlinie errichtet. Die Wege und Terrassen liegen auf Deichniveau. Die Häuser bleiben also auch bei Hochwasser zugänglich. Das eigene Boot kann direkt vor der Terrasse verankert werden.

Damit auch bei hohem Wasserstand das Verlassen der Wohnungen möglich ist, wird in neuen Wohngebieten in hochwassergefährdeten Gebieten die gesamte Erschließung oder ein zusätzlicher Fluchtweg oberhalb des Hochwasserspiegels geplant. In der HafenCity in Hamburg geschah dies in Form von hoch aufgeständerten Brücken- und Stegkonstruktionen. Sie ermöglichen Wohnen im Überflutungsbereich und gewährleisten Anbindung und Sicherheit. Sie stellen gleichzeitig das ganze Jahr über attraktive Fußwegeverbindungen dar. In der neuen Siedlung mit Pfahlwohnungen in Dordrecht wurden alle Erschließungsstraßen auf Höhe der Deichkrone angelegt.

­ ––––––– – Maas, Maasbommel  Δ 2∂2 Rhein, Mannheim  Δ 220 Wantij, Dordrecht  Δ 228

­– – – – – – – – Elbe, Hamburg  Δ 202 Wantij, Dordrecht  Δ 228

C2.5 Seilbahnen

Wupper, Müngsten, Draisine im Brückenpark

Rhein, Köln, Rheinseilbahn

Eine besondere Attraktion an Flüssen sind Seilbahnen, mit deren Hilfe man Aue und Fluss hoch über dem Wasser schwebend überqueren kann. An der Wupper im Brückenpark Müngsten stellt eine kleine, auf parallelen Seilen montierte Schwebefähre, die wie eine Draisine von den Besuchern selbst über den Fluss bewegt werden kann, eine Besucherattraktion und ein wichtiges Bindeglied innerhalb des dortigen Rundwanderwegs dar.

Die Rheinseilbahn in Köln, die seit der Bundesgartenschau 1957 die beiden Rheinufer verbindet, bietet eine spektakuläre Aussicht über den Fluss und ist gleichzeitig Touristenattraktion und alternatives Verkehrsmittel.

­ ––––––– – Wupper, Müngsten  Δ 230 + Rhein, Köln, Rheinseilbahn  Δ 28∂

98 99

Entwurfskatalog Überflutungsflächen

C3 tolerieren

∫ â•›Kombinationsmöglichkeiten für alle Gestaltungsmittel aus C3 Â�– – – – – – – – C∂.∂ Deiche rückverlegen C∂.2 Nebenarme C∂.3 Flutmulden C∂.4 Vorland abgraben C∂.5 stehende Gewässer im Vorland C∂.6 Poldersysteme C∂.7 Rückhaltebecken C4.∂ Warnschilder und Absperrungen C4.2 elektronische Warnsysteme

Freiräume in der Aue müssen den Kräften von Hochwasser standhalten und ein temporäres Überfluten tolerieren. Während eines Großteils des Jahres, wenn die Fließgewässer niedrige oder mittlere Wasserstände führen, ist eine uneingeschränkte Nutzung der Fluträume möglich. Bei Hochwasser sind die Orte nicht mehr oder nur noch teilweise zugänglich. Daher müssen temporäre Nutzungen gefunden werden, die Hochwasser tolerieren können, beispielsweise Sportanlagen, Spiel- und Campingplätze, Festivalgelände oder auch naturnahe Bereiche mit typischer Auenvegetation. Die Anlagen sind fest installiert und das Material ist so gewählt, dass es auch eine längere Einstaudauer überstehen kann. Elemente, die der Flut nicht standhalten, müssen überflutungssicher gelagert werden. Die dauerhaft installierten Elemente im Überflutungsraum dürfen den Hochwasserabfluss nicht beeinträchtigen. Bei der großräumigen Gestaltung von Fluträumen spielen Art und Lage der Freiräume in der Topographie eine wichtige Rolle. Aufwendigere und pflegeintensivere Bereiche, wie beispielsweise Sportanlagen, können an höher gelegenen Stellen in der Aue geplant werden, weil diese seltener überflutet werden. Dadurch können die Anlagen längere Zeit im Jahr genutzt werden und müssen weniger oft nach Hochwasserereignissen von Sedimenten gereinigt werden.

C3.∂

C3.2

C3.3

Wege in der Aue

Sport- und Spielanlagen

hochwasserfeste Gebäude

Ebro, Zaragoza, Ufergestaltung Innenstadt

Gallego, Zuera, Stierkampfarena

Elbe, Hamburg, Fischauktionshalle

Über ein Wegekonzept kann eine Zonierung der Nutzung in nicht betretbare, selten und häufig genutzte Bereiche der Aue erfolgen. Wege können als schmale Fußgängerpfade oder breite, befestigte Erschließungen ausgeführt sein. Aufwendige Stegkonstruktionen wie in Zaragoza am Ebro setzen die Auennatur in Szene. Eine Reinigung der Wege von Ablagerungen nach einem Hochwasser kann, je nach Sedimentführung des Flusses, notwendig sein. Niedrige Deichlinien in der Aue, die kleinere Sommerhochwasser zurückhalten, können wegen ihres linearen Charakters und ihrer erhöhten Position besonders gut zur Anlage von Wegen genutzt werden.

Spiel- und Sportanlagen befördern die Erholungsnutzung einer Gewässeraue. Sie können sehr unterschiedlich gestaltet sein. Das Spektrum erstreckt sich von der Nutzung von Wiesen als Bolzplätze über komplexere Sportanlagen oder Golfplätze bis hin zu Sondernutzungen wie der Stierkampfarena in Zuera, deren runde Arena bei Hochwasser bis zu 1 m unter Wasser steht. Eine hochwasserfeste Ausstattung ist erforderlich. Am Wasser finden sich oft Wasserspielplätze, die zwar teilweise nicht direkt das Flusswasser nutzen können, aber Wasser erlebbar machen.

Ein hochwasserfest ausgestattetes Gebäude kann geflutet werden, ohne erheblichen Schaden zu nehmen. Dies bedeutet zum Beispiel gekachelte Wände und Böden und besonders geschützte Elektroinstallationen. Traditionell waren viele Gebäude in Überflutungsgebieten wie in der Innenstadt von Köln oder die Fischhalle in Hamburg entsprechend ausgestattet. Heute werden diese Konzepte im Rahmen der sich verschärfenden Hochwasserschutzregelungen wieder neu diskutiert. In Kampen an der IJssel wurden Teile der existierenden Bebauung wegen ihrer ungünstigen Lage nicht in das neue Schutzsystem integriert, sondern stattdessen hochwasserfest gemacht. Ein tolerierender Umgang mit Hochwasser kann den Aufwand für Schutzsysteme vermindern.

Â�– – – – – – – – Gallego, Zuera â•›Δ 204

Â�– – – – – – – –

+ Rhein, Düsseldorf, Golfplatz Lausward â•›

Ebro, Zaragoza â•›Δ ∂98

Δ 28∂

Gallego, Zuera â•›Δ 204 IJssel, Zwolle â•›Δ 208

Â�– – – – – – – –

+ Ebro, Zaragoza, Ufergestaltung

IJssel, Kampen â•›Δ ∂74

Innenstadt â•›Δ 279

+ Elbe, Hamburg, Fischauktionshalle â•›Δ 279

∂00 ∂0∂

Entwurfskatalog Überflutungsflächen

C3.4

C3.5

Park in der Aue

großräumige Naturgebiete

Petite Gironde, Coulaines

IJssel, Zwolle, Aue mit schottischen Hochlandrindern

IJssel, Zwolle, Vogelbeobachtungshütte

Eine Gewässeraue kann als hochwasserâ•‚ resistenter Park gestaltet werden. Bepflanzung und Möblierung müssen so beschaffen sein, dass sie die mehrtägige Überstauung tolerieren können, wie zum Beispiel Sumpfzypressen oder schwere steinerne Bänke. Diese verleihen dem Park eine prägnante Note, die ihn von anderen unterscheidet. Um eine schnelle Nutzbarkeit nach Überflutungen zu erreichen, können die Grünflächen auch dräniert werden – an der Petite Gironde in Coulaines wurden hierfür unter der gesamten Rasenfläche Dränagerohre verlegt.

Die Gewässervorländer bieten sich an, um auf den ehemals agrarisch genutzten Flächen großräumig neue Auennatur entstehen zu lassen. Eine natürliche Sukzession zuzulassen, bis die selten gewordenen Auwälder sich wieder entwickeln, ist aber oft nicht möglich, da die dichten Auwälder die Abflusskapazität vermindern. In den Niederlanden, wie zum Beispiel in der Vreugderijkerwaard oder der Gamerense Waard, wurden für solche Flächen daher extensive Beweidungskonzepte mit Ponys, schottischen Rindern oder Wildpferden entwickelt. Die Tiere zeigen wenig Angst vor Menschen und bereichern das Landschaftsbild auf ganz besondere Weise. Da die Tiere aber nicht allen Aufwuchs verhindern, sind im Moment auch alternative Konzepte, wie zum Beispiel ein regelmäßiger Kahlschlag alle zehn bis 15 Jahre in der Diskussion.

Zwischen den Eingriffen kann sich die Vegetation ungehindert entwickeln. In manchen Gebieten lenkt eine gezielte Erschließung die Besucher und entlastet empfindliche Zonen, sodass das Gebiet gleichzeitig als Erholungsraum dienen kann. In der Vreugderijkerwaard hingegen ist die Zugänglichkeit stark eingeschränkt. Das Gebiet kann nur über einen Steg begangen werden, der zu einer Vogelbeobachtungshütte führt.

Â�– – – – – – – – Besòs, Barcelona â•›Δ ∂96 Ebro, Zaragoza â•›Δ ∂98 Gallego, Zuera â•›Δ 204 Petite Gironde, Coulaines â•›Δ 2∂4 Seine, Le Pecq â•›Δ 222 Wupper, Müngsten â•›Δ 230

Â�– – – – – – – – Ebro, Zaragoza â•›Δ ∂98 IJssel, Zwolle â•›Δ 208 Kyll, Trier â•›Δ 2∂0 Waal, Gameren â•›Δ 224 Emscher, Dortmund â•›Δ 256 + Elbe, Naturschutzgroßprojekt Lenzener Elbtalaue â•›Δ 279

C3.6

C3.7

C3.8

Landwirtschaft

Zelt- und Campingplätze

Veranstaltungsgelände

Rhein, Ingelheim, Polder Ingelheim

Rhein, Mannheim, Campingplatz Reißinsel

Neckar, Ladenburg, Veranstaltungsbühne

Je nach Überflutungshäufigkeit werden heute viele Flächen in den Flussauen für extensives Grünland oder auch für Ackerbau genutzt, wie ein Blick vom Deichrand in den Polder bei Ingelheim am Rhein zeigt. Durch finanzielle Anreize können Betriebe ermutigt werden, auf ihren Flächen wieder Überflutungen zuzulassen. An der Bergschen Maas in Holland initiierten Landwirte selbst eine Rückverlegung der Deiche, sodass der Overdiepse Polder in Zukunft wieder als Flutraum dienen kann. Die Höfe werden auf Warften verlegt. In stadtnahen Räumen können landwirtschaftliche Nutzungen der Flächen die Naherholungsgebiete bereichern und die Kommunen von den Pflegekosten für die Flächen entlasten.

Zelt- oder Campingplätze in der Gewässeraue sind sehr attraktiv, da die Lage unmittelbar am Wasser den Wassersport ermöglicht und als erholsam gilt. Der Campingplatz auf der Reißinsel in Mannheim ist durch den benachbarten großen Kiesstrand besonders attraktiv. Die Plätze werden vor allem in den Sommermonaten genutzt, wenn die Hochwassergefahr gering ist. Um eine Gefährdung auszuschließen, müssen die möglichen Hochwassergefahren deutlich an die Besucher kommuniziert werden, sodass die Plätze bei unerwartet auftretendem Hochwasser schnell evakuiert werden können. In Maasbommel am Gouden Ham vermieten die Campingplätze ergänzend kleine Bungalows auf Pfählen, die bei Hochwasser stehen bleiben können.

Gewässerauen als große freigehaltene Flächen in Städten können Raum für Open-Air-Konzerte oder andere große Veranstaltungen bieten, wie zum Beispiel das jährlich stattfindende Rheinkultur-Festival bei Bonn, die an anderer Stelle wegen ihres Platzbedarfs oder Lärms nur schwer realisierbar sind. Diese Ereignisse finden meist in den trockenen Sommermonaten statt und es sind nur wenige feste Installationen wie der Bühnenuntergrund hierfür nötig. Festzelte, WC-Anlagen und Imbissstände können aufgebaut und wieder entfernt werden. In Ladenburg wurde eine dauerhafte Veranstaltungsbühne als flache und leichte Konstruktion am Neckarufer installiert, die kein Abflusshindernis für das Hochwasser darstellt und die für die jährlich stattfindenden Feste genutzt wird.

Bergsche Maas, zwischen Waalwijk und

Â�– – – – – – – –

Â�– – – – – – – –

Geertruidenberg â•›Δ ∂94

Maas, Maasbommel â•›Δ 2∂2

Main, Miltenberg â•›Δ ∂78

Rhein, Brühl â•›Δ 2∂8

Rhein, Mannheim â•›Δ 220

Petite Gironde, Coulaines â•›Δ 2∂4

Â�– – – – – – – –

+ Rhein, Ingelheim, Polder Ingelheim â•›Δ 28∂

Neckar, Ladenburg â•›Δ 242 + Fulda, Kassel, Flutmulde â•›Δ 279 + Rhein, Bonn, Musikfestival „Rheinkultur“ â•›Δ 28∂

∂02 ∂03

Entwurfskatalog Überflutungsflächen

C4 ausweichen

∫ â•›Kombinationsmöglichkeiten für alle Gestaltungsmittel aus C4 Â�– – – – – – – – C∂.6 Poldersysteme C∂.7 Rückhaltebecken C3.∂ Wege in der Aue C3.2 Sport- und Spielanlagen C3.4 Park in der Aue C3.5 großräumige Naturgebiete C3.6 Landwirtschaft C3.7 Zelt- und Campingplätze

Der Sicherheitsaspekt spielt bei der Nutzung von Überschwemmungsflächen eine entscheidende Rolle. Hochwasservorhersagen, Absperrungen, Warnschilder und digitale Warnsysteme ermöglichen die temporäre Nutzung von Überschwemmungsgebieten. Entscheidend für die Sicherheit ist zum einen, wie schnell und wie hoch der Raum überflutet wird, und zum anderen, wie erkennbar die Gefahr ist. Sind sich die Nutzer der Gefahr bewusst, können sie im Hochwasserfall bei einer Warnung rechtzeitig in überflutungssichere Bereiche ausweichen. Die Information der Besucher spielt daher eine entscheidende Rolle für ihre Sicherheit. Wichtig ist auch, wie oft die Überflutung eintritt. Werden Bereiche häufig überflutet, ist dies besser im Bewusstsein der Anwohner verankert. Dauerhaft installierte Warnsysteme geben einen Hinweis auf die potenzielle Gefahr von steigenden Wasserständen. Diese können ergänzt werden durch Hinweise, die im Hochwasserfall zusätzlich angebracht werden. Einen Beitrag kann auch eine Gestaltung leisten, die klar erkennen lässt, dass man sich in einem Überflutungsraum befindet. Es ist fast immer möglich, durch Warnsysteme die Gefahren durch Hochwasser auf ein Minimum zu reduzieren. Die Grundvoraussetzung dafür ist der Mut, ein Restrisiko zu tragen, und der Wille, die Nutzung von Fluträumen nicht von vornherein auszuschließen. Beispiele wie das Rückhaltebecken an der Petite Gironde in Coulaines und das Projekt am Besòs in Barcelona illustrieren diese Haltung. Durch die doppelte Nutzbarkeit der Räume werden Retentionsräume für den Hochwasserschutz und Freiräume für die Stadt gesichert.

C4.∂

C4.2

Warnschilder und Absperrungen

elektronische Warnsysteme

!

!

Schanzengraben, Zürich, Fußgängerpromenade

Ihme, Hannover, gesperrter Radweg

Besòs, Barcelona

Bei langsam steigenden, gut einsehbaren Hochwassersituationen wird es von manchen Gemeinden als ausreichend angesehen, ein Bewusstsein für die Hochwassergefahr zu erzeugen, sodass die Menschen zu eigenverantwortlichem Handeln aufgefordert werden. Die Hinweise hierfür können einfache Schilder oder aufklärende Infotafeln am Eingang oder inmitten der Gewässeraue sein. Eine weitere Möglichkeit ist eine sprechende Gestaltung, zum Beispiel in Form einer Inszenierung der Einlassbauwerke, der Deiche oder das Anbringen von Hochwassermarken.

Die überfluteten Flächen im Hochwasserfall abzusperren, ist die sicherste Maßnahme. Die Verantwortung liegt dann allerdings ganz bei der Gemeinde. Die Nutzer entscheiden nicht selbst, wann ein Aufenthalt zu gefährlich wird. Außerdem erfordert dieses Vorgehen eine permanente Überwachung der Wasserstände und die Einsatzbereitschaft der Gemeinde. In unübersichtlichem Gelände können diese Maßnahmen allerdings unverzichtbar sein.

Eine Warnung bei Hochwassergefahr kann auch über ein elektronisches Warnsystem erfolgen, das die Hochwasservorhersagen direkt erhält und verarbeitet. In Barcelona wurde am Besòs ein solches Warnsystem mit elektronischen Anzeigetafeln und Schranken an den Zugängen in die Aue kombiniert. So kann der Zugang zur Aue ermöglicht oder untersagt werden. Dieses System kann sehr rasch auf die starken, schnell eintretenden Hochwasserwellen am Besòs reagieren und macht es so erst möglich, den Raum als Park zu nutzen.

­– – – – – – – – + Schanzengraben, Zürich, Fußgängerpromenade  Δ 282

­ ––––––– – Besòs, Barcelona  Δ ∂96

∂04 ∂05

Entwurfskatalog Überflutungsflächen

C5 mitgehen

∫  Kombinationsmöglichkeiten für alle Gestaltungsmittel aus C5 ­– – – – – – – – C∂.2 Nebenarme C∂.5 stehende Gewässer im Vorland

Um Tiere und Menschen zu retten, baute Noah nach biblischer Überlieferung die Arche und machte sich diese Strategie zunutze: Schwimmende Elemente werden bei Überflutungen mit nach oben getragen. Besonders bei einer geplanten Wohnnutzung der Auen wird aktuell viel mit schwimmenden Formen gearbeitet. Auch bei der Entwicklung neuer Yacht- und Sporthäfen werden häufig schwimmende Stegkonstruktionen eingesetzt. Auf Altarmen und Kiesteichen innerhalb der Gewässerauen sind die schwimmenden Elemente vor starken Strömungen weitgehend geschützt. Ist ein hochwassersicherer Zugang vom Ufer aus gewährleistet, sind die Elemente das ganze Jahr über nutzbar. In jedem Fall werden sie durch das Aufschwimmen vor Schäden bewahrt. Durch die aufschwimmenden Elemente wird das Retentionsvermögen der Aue nicht oder nur geringfügig beeinträchtigt; diese Strategie ist somit ein sinnvoller Baustein für großräumige Hochwasserschutzkonzepte. Des Weiteren wird die Auenlandschaft bereichert und Wasserschwankungen werden unmittelbar erlebbar.

C5.∂

C5.2

schwimmende und amphibische Wohnformen

Yachthäfen

Maas, Maasbommel

Waal, zwischen Afferden und Dreumel, Wohnboote

Wantij, Dordrecht, Freizeithafen

Die Formen schwimmenden Wohnens sind inzwischen sehr vielfältig geworden. Auf einem Nebenarm der Waal zwischen den niederländischen Städten Afferden und Dreumel liegen bei Beneden-Leeuwen rund 20 schwimmende Häuser – von umgebauten Lastkähnen bis zu schwimmenden Luxusvillen mit Terrasse und Bootsanleger – und zeigen ein breites Spektrum schwimmender Wohnmöglichkeiten. Anders als bei Wohnformen an den innerstädtischen Kaianlagen im Prozessraum A Ufermauern und Promenaden (A6.3 vertäute Schiffe) bietet sich auf größeren Wasserflächen in den Auen die Möglichkeit, großflächig ganze schwimmende Siedlungen auf dem Wasser zu errichten. In den Niederlanden sind derzeit mehrere solcher schwimmenden Wohngebiete in Planung.

In Maasbommel sind in der Wassersportund Freizeitanlage Gouden Ham 14 permanent schwimmende und 32 „amphibische“ Häuser gebaut worden, die sich mit dem Wasserstand der Maas bewegen. Die Internationale Bauausstellung Fürst-Pückler-Land in der Lausitz in Brandenburg lobte einen Wettbewerb zu schwimmenden Wohn- und Feriendomizilen aus, die zur Belebung der neuen Seen in ehemaligen Tagebaulandschaften in Ostdeutschland dienen können. Zwei Bootstypen aus diesem Wettbewerb wurden als Prototypen gebaut.

Mit der Anlage von Sportboot- oder Yachthäfen kann in Gewässerauen durch die Schaffung von Parkmöglichkeiten, Gastro‑ nomie und teilweise auch Übernachtungsmöglichkeiten ein Impuls für eine intensivere Freizeitnutzung der Aue geschaffen werden. Die Steganlagen können bei steigenden Wasserständen gemeinsam mit den anliegenden Booten aufschwimmen. Eine direkte Verbindung zur Erschließung auf Deichniveau bedeutet, dass sie auch bei Hochwasser erreichbar bleiben. Sind die Häfen nicht zugänglich, bedeutet dies allerdings nur eine geringe Nutzungseinschränkung, da bei Hochwasser der Freizeitbootsverkehr ohnehin stark reduziert ist. Das Wohngebiet Plan Tij wurde als Pfahlsiedlung im Überflutungsbereich der Wantij neben einem bestehenden Freizeithafen angelegt. Hinter den Wohnungen wurden schwimmende Anlegestege errichtet, die direkt von den Terrassen der Wohnungen aus erreichbar sind.

­– – – – – – – – Waal, zwischen Afferden und Dreumel   Δ ∂88 Maas, Maasbommel  Δ 2∂2 + Geierswalder und Gräbendorfer See, Großräschen, Schwimmende Häuser  Δ 280 + IJsselmeer, Amsterdam, IJburg  Δ 280

­– – – – – – – – Maas, Maasbommel  Δ 2∂2 Wantij, Dordrecht  Δ 228

∂06 ∂07

Entwurfskatalog Überflutungsflächen

D

Flussbette und Fließräume

Birs, Basel

Vom vollständig kontrollierten zum differenzierten und künstlich dynamisierten Gewässerbett. Bei der Gestaltung werden Prozesse eines natürlichen Gewässers künstlich geschaffen, die dem kanalisierten Lauf verloren gegangen waren. Es entsteht ein differenziertes Strömungsbild mit Wirbelungen, strömungsberuhigten Bereichen, Teilen mit hohen Fließgeschwindigkeiten und amphibischen Zonen.

∂08 ∂09

Entwurfskatalog Flussbette und Fließräume

D

Flussbette und Fließräume

Räumliche Situation

Der Prozessraum D umfasst das Gewässerbett innerhalb der beiden Uferbefestigungen sowie die Ufersicherungen selbst, die in ihrer Lage nicht verschiebbar sind und somit die Grenze der eigendynamischen Laufentwicklung bilden (rote Grenzlinie). Die definierte Hochwasserlinie (grüne Grenzlinie) und der Überflutungsbereich zwischen Uferlinie und Hochwasserlinie liegen somit außerhalb des Prozessraums und werden hier nicht thematisiert. Hier werden Möglichkeiten beschrieben, kanalisierte, begradigte Fließgewässer innerhalb eines engen Rahmens umzugestalten und wieder morphodynamische Prozesse zu erlauben. Dabei kann im Gegensatz zum Prozessraum E das Vorland nicht als Entwicklungsraum für das Gewässer genutzt und die festgelegte Uferlinie in ihrer Lage nicht oder nur geringfügig geändert werden, da ufernahe Freiräume kaum oder gar nicht zur Verfügung stehen oder aufgrund anderer Funktionen wie unterirdisch verlaufende Kabel- und Leitungstrassen nicht einbezogen werden können. Manchmal existiert gar kein Vorland mehr, zum Beispiel bei ehemals verrohrten Gewässern. In vielen Städten besteht dennoch der Wunsch, begradigte und kanalisierte Fließgewässer zu revitalisieren.

Wirksame Prozesse

Ebenso wie in den Prozessräumen A, B und C sind hier temporäre Wasserschwankungen relevant, die sich sowohl in einem vertikalen Anstieg des Wasserspiegels als auch in einer horizontalen Ausdehnung in den Überflutungsbereich hinein äußern. Darüber hinaus werden in diesem Prozessraum auch morphodynamische Umlagerungsprozesse innerhalb des Gewässerbetts zugelassen oder gefördert. Erosionsund Sedimentationsprozesse führen zu einer ständigen Veränderung des Gewässerbetts mit der Entstehung von Prall- und Gleitufern, Kolken und Stromschnellen sowie Inseln, die den visuellen Eindruck eines abwechslungsreichen, naturnahen Gewässerbetts vermitteln. Im Unterschied zum Prozessraum E wird jedoch keine eigendynamische Laufentwicklung zugelassen, da das urbane Gewässervorland des Prozessraums D aufgrund bestehender Bebauung oder Infrastruktur keinen Platz für eine natürliche Entwicklung des Laufes lässt. Deshalb bleiben die Gewässerläufe ebenso wie ihr Ausgangszustand eines stark begradigten Gewässers vollständig gesichert und kontrolliert und lassen nur innerhalb des festgelegten Rahmens Sedimentverlagerungen zu.

Entwurfsansätze

Innerhalb dieses gesetzten Rahmens werden Bedingungen geschaffen, die denen eines natürlichen Gewässers ähneln. In der Regel handelt es sich um kleine und mittelgroße Flüsse, deren Lauf sich durch strömungslenkende Maßnahmen im Gewässerbett beeinflussen lässt. Bei der Gestaltung des Gewässerbetts werden typische

D∂ Strömung lenken

D∂.∂ große Einzelsteine D∂.2 Totholz D∂.3 gesetzte Steinbuhnen D∂.4 geschüttete Steinbuhnen D∂.5 ingenieurbiologische Buhnen D∂.6 überströmte Buhnen D∂.7 Sohlriegel

D2 Gewässerlauf modellieren

D2.∂ Gewässerlauf aufweiten D2.2 Lauf verlängern

D3 Gewässerbett differenzieren

D3.∂ Sand- und Kiesstrände an Gleitufern D3.2 Sand- und Kiesstrände in Buchten D3.3 Kolkbildung

D4 Ufersicherung differenzieren

D4.∂ Ufer teilweise entsichern D4.2 Lebendverbau D4.3 Steinverbau D4.4 abgetreppter Steinverbau D4.5 gemauerter Uferverbau D4.6 bestehende Sicherung überbauen

D5 Sohlsicherung differenzieren

D5.∂ Fischaufstiegsanlagen D5.2 Sohl- und Querbauwerke differenzieren D5.3 Rampen und Gleiten

∂∂0 ∂∂∂

Entwurfskatalog Flussbette und Fließräume

D

Flussbette und Fließräume

Merkmale und Prozesse eines natürlichen Fließgewässers künstlich neu geschaffen, die im kanalisierten Lauf nicht mehr existierten. Ziel vieler Gewässerausbaumaßnahmen in der Vergangenheit war es, Erosionsprozesse möglichst zu verhindern und eine gleichmäßige Durchströmung wie in einem Kanal herbeizuführen. Wichtige Gestaltungsmittel zur Herstellung einer größtmöglichen Dynamik innerhalb des Gewässerbetts hingegen sind strömungslenkende Elemente, die für ein differenziertes Strömungsbild mit Wirbelungen, strömungsberuhigten Zonen und Bereichen mit hohen Fließgeschwindigkeiten sorgen. Dadurch können gezielte Sedimentverlagerungen in Gang gesetzt werden. Durch die Kombination vieler verschiedener Strömungslenker und die Neumodellierung des Mittelwasser- oder Niedrigwasserlaufs entsteht innerhalb der festgelegten Ufergrenzen ein künstlich schwingender Lauf mit unterschiedlichen Wassertiefen. Weitere Maßnahmen betreffen die differenzierte Umgestaltung der unabdingbaren Ufer- und Sohlsicherungen. Ziel ist es, innerhalb der vorgegebenen Grenzen ein Gewässer zu gestalten, in welchem möglichst viele natürliche, morphodynamische Fließgewässerprozesse stattfinden. Mit dem Einbringen von strömungslenkenden Elementen wie Buhnen oder Inseln wird eine Differenzierung der Strömung erreicht. Dabei werden Strömungsrichtung und Fließgeschwindigkeiten im Gewässer sichtbar und erlebbar. Es entstehen Stromschnellen und Wirbel, aber auch strömungsberuhigte Zonen. Die Varianzen in der Strömung aktivieren natürliche Prozesse der Sedimentumlagerung, welche durch das gezielte Einbringen der Strömungslenker gesteuert werden können. Je nach Fließgeschwindigkeit kommt es zu Abtragungs- oder zu Anlagerungsprozessen von Sedimenten unterschiedlicher Korngröße und es bilden sich unterschiedliche Sohlsubstrate und Sohltiefen aus. Dazu ist auch ein Umbau der vorhandenen Sohlschwellen erforderlich. Es werden weiterhin Elemente zur Sohlsicherung benötigt, doch durch differenziertere, durchlässigere Strukturen wird die Durchgängigkeit des Gewässers für Organismen und den Sedimenttransport wiederhergestellt. In der Regel sind diese Sedimentverlagerungen reversibel. Bei Niedrigwasser finden verstärkt Anlandungsprozesse statt. Bei Hochwasser werden aufgrund erhöhter Fließgeschwindigkeiten viele Anlandungen wieder abgetragen. Nur an sehr geschützten Orten bilden sich dauerhafte Anlandungszonen. Erosionsprozesse, die den Gewässerlauf verändern, werden durch die Ufer- und Sohlsicherungen ausgeschlossen. Insgesamt entsteht durch das bewusste Zulassen morphodynamischer Prozesse im Prozessraum D ein differenziertes Gewässerbett mit Flachwasserzonen, Stromschnellen, Kolken und Kiesbänken. Für die Stadtbewohner ist die Neugestaltung der kanalisierten Gewässerläufe eine große Bereicherung: Auf engem Raum entstehen zugängliche, lebendige und abwechslungsreiche Fließgewässer, die der Stadt ein neues Gesicht verleihen und einen hohen Erholungswert bieten.

Freiraumgestaltung

Durch die Maßnahmen des Prozessraums D werden abwechslungsreiche Fließgewässerstrukturen im dicht besiedelten urbanen Raum möglich. Die Umgestaltung der Uferkanten und der Einsatz von multifunktionalen Strömungselementen lassen eine Vielzahl zugänglicher Orte im und am Gewässer entstehen. Trittsteine und begehbare Buhnen ermöglichen einen direkten Kontakt mit dem Wasser, Anlandungszonen laden Kinder zum Spielen im und am Wasser ein. An größeren Flüssen entstehen an Kies- und Sandstränden gut besuchte Badeplätze. Die lebendigen Gewässerräume stellen einen Kontrast zum versiegelten Stadtraum dar und sind wertvolle Naherholungsgebiete für die Stadtbevölkerung.

Hochwasserschutz

Bei der Neumodellierung des Gewässerbetts verändert sich der Abflussquerschnitt im Gewässer. Wegen des höheren Fließwiderstands durch Störelemente, Strömungslenker und Pflanzenbewuchs muss mit verlangsamtem Wasserabfluss gerechnet werden. Dies kann den Wasserstand bei Hochwasser vor Ort erhöhen. Gleichzeitig führen die Maßnahmen häufig zu einem erhöhten Retentionsvermögen mit gleichzeitiger Entlastung flussabwärts gelegener Räume. Wo es durch die erhöhten Wasserstände zu Problemen kommt, können diese durch eine Kombination mit Maßnahmen zur Erweiterung des Abflussquerschnitts, wie zum Beispiel Deichrückverlegungen oder Vorlandabgrabungen, ausgeglichen werden (siehe Prozessraum C).

Ökologie Varianzen in der Strömung, die Differenzierung des Sohlsubstrats und unterschiedliche Gewässertiefen bedeuten eine große Strukturvielfalt im Fließgewässer und führen zur Entstehung unterschiedlicher Biotope im amphibischen und im aquatischen Bereich. Durch Lage, Form und Material der eingebauten Elemente können zusätzlich neue Habitate geschaffen werden. So entwickeln sich durch ingenieurbiologische Maßnahmen oder in den Zwischenräumen von Steinschüttungen geschützte Orte für verschiedene Tier- und Pflanzenarten. Ein weiteres ökologisches Ziel der vorgestellten Projekte des Prozessraums D ist die Ausbildung einer Niedrigwasserrinne im Gewässerlauf, sodass auch während längerer Trockenperioden tiefere Zonen als Lebensraum für Fische vorhanden sind. Außerdem wird die Durchgängigkeit des Gewässers wiederhergestellt, indem etwa Schwellen durch Rampen ersetzt werden. So können Fische und Kleinstorganismen im Gewässer ihre arttypischen Wanderbewegungen ausführen. Aus ökologischer Sicht erfolgt eine Revitalisierung, denn in den strukturreichen Gewässern halten verschiedene Fisch-, Amphibienund Libellenarten wieder Einzug in die Stadt.

An der Birs in Basel wurde der Raum innerhalb der Grenzen des Gewässerlaufs (rote Linie) neu gestaltet. Das Vorland bis zur Überflutungsgrenze (grüne Linie) konnte wegen dort liegender Leitungen nicht in die Gestaltung einbezogen werden. Die Sohlschwellen wurden entfernt und der Lauf mithilfe strömungslenkender Elemente differenziert.

∂∂2 ∂∂3

Entwurfskatalog Flussbette und Fließräume

D∂ Strömung lenken

∫  Kombinationsmöglichkeiten für alle Gestaltungsmittel aus D∂ ­– – – – – – – – D3.∂ Sand- und Kiesstrände an Gleitufern D3.2 Sand- und Kiesstrände in Buchten D3.3 Kolkbildung D4.∂ Ufer teilweise entsichern D4.2 Lebendverbau D4.3 Steinverbau D4.4 abgetreppter Steinverbau D4.5 gemauerter Uferverbau D5.2 Sohl- und Querbauwerke

differenzieren

D5.3 Rampen und Gleiten

Der Ansatz der Strömungslenkung kommt eigentlich aus der Kontrolle von schiffbaren Flüssen. Mithilfe von Buhnen oder Dammkörpern, die ins Gewässer vorspringen, wird hier die Strömung vom Ufer in Richtung Strommitte gelenkt. Dies dient sowohl dem Schutz der Ufer wie auch dem Offenhalten einer schiffbaren Fahrrinne in der Mitte des Gewässers. Bei den vorgestellten Projekten des Prozessraums D wird das Prinzip der Strömungslenkung heute im Gegensatz dazu für eine prozessorientierte Revitalisierung der Gewässer eingesetzt. Mithilfe von Stör- und Lenkelementen wird eine Differenzierung der Strömung erzeugt und damit morphologische Umlagerungsprozesse initiiert. Die Abweisung der Strömung vom Ufer wird genutzt, um auf harte Verbaumaßnahmen wie beispielsweise die Sicherung mit schweren Flussbausteinen verzichten zu können. Die Stör- und Lenkelemente können direkt am Ufer oder mittig im Gewässer eingebracht werden. Durch die gezielte Anordnung mehrerer Elemente können abwechslungsreiche Strömungsmuster erzeugt werden. Durch eine versetzte Anordnung können geschwungene Fließwege entstehen, während zwei sich gegenüberstehende Buhnen zu einer geraden und beschleunigten Strömung in der Gewässermitte führen. Die Neigung der Buhne gegen oder mit der Strömung – inklinant oder deklinant – ist entscheidend für die Richtung, in die die Strömung gelenkt wird und das Entstehen von Anlandungszonen oder Kolken. Wichtig dabei ist auch, ob die Buhnen vollständig überströmt werden oder über die Mittelwasserlinie hinausragen. Werden sie überströmt, wird der Weg des Wassers senkrecht zur Buhne abgelenkt und hinter der Buhne entsteht eine Eintiefung. Fließt das Wasser um die Buhne herum, bilden sich am Ende der Buhne Verwirbelungen und hinter der Buhne entsteht eine strömungsberuhigte Zone. Dort kann es zu Sedimentablagerungen kommen. Vollständig überströmte Buhnen behindern bei Hochwasser den Abfluss des Wassers kaum. Daher sollten bei einer vorhandenen Hochwasserproblematik überströmte Buhnen bevorzugt eingesetzt werden. Es gibt verschiedene Varianten von Strömungslenkern, wie Buhnen, Stör- und Trittsteine oder im Gewässer befestigtes Totholz. Die Art der Ausführung hat eine Bedeutung für die Freiraumgestaltung und den ökologischen Mehrwert. Die Elemente können sich durch Materialwahl und Formgebung in die Umgebung einfügen oder aber bewusst in Kontrast dazu gesetzt werden, was die Intervention akzentuiert. Außerdem besteht die Möglichkeit, die Elemente für verschiedene Freiraumnutzungen zugänglich zu machen. So sind begehbare Buhnen mit Sitzelementen beliebte Erholungsorte direkt am Fließgewässer und Trittsteine erlauben einen unmittelbaren Kontakt mit dem Wasser.

D∂.∂

D∂.2

D∂.3

große Einzelsteine

Totholz

gesetzte Steinbuhnen

Wupper, Müngsten

Isar, München

Birs, Basel

Strömungslenker in Form von Steinen werden einzeln oder in kleinen Gruppen ins Gewässerbett eingebracht. Formgebung und Auswahl des Materials können gut dem Gewässer und seiner Umgebung angepasst werden, indem zum Beispiel lokal vorkommende Gesteinsarten gewählt werden. Strömungslenker können aber auch in Szene gesetzt werden, indem bewusst künstliche Elemente benutzt werden, die im Kontrast zur Umgebung stehen. Die Steine müssen in Größe und Gewicht so gewählt werden, dass sie auch bei stärkeren Strömungen nicht wegtreiben können. An der Wupper im Brückenpark Müngsten können die Strömungslenker gleichzeitig als Trittsteine benutzt werden und erlauben daher den direkten Kontakt mit dem Wasser. Die so geschaffene kleinräumige Strömungsvarianz und Substratdifferenzierung lassen wichtige fließgewässertypische Habitate für die wassergebundenen Kleinstlebewesen entstehen.

Stämme mit oder ohne Äste können als strömungslenkende Elemente ins Gewässer eingefügt werden. Das Totholz wird in seiner Lage fixiert, was entweder über das teilweise Eingraben im Ufer oder die Fixierung mit Stahlseilen und Pflöcken im Gewässerbett oder am Ufer geschehen kann. Die Ausrichtung der Stämme kann quer zum Fluss oder in Strömungsrichtung geneigt erfolgen. Als Sonderfall besteht auch die Möglichkeit, die Stämme nur an einer Seite zu befestigen, sodass sie sich in der Strömung frei bewegen können („Pendelbaum“). An der Isar in München wurde ein großer Baumstamm im Flussbett fixiert, der gleichzeitig ein attraktiver Spielplatz und eine optische Bereicherung ist.

Wenn eine Buhne als Sitzgelegenheit benutzt werden soll, bietet es sich an, sie aus gesetzten Steinen zu fertigen, wie an der Birs in Basel. Dazu werden gebrochene oder behauene Natursteine so verlegt, dass sie eine vergleichsweise glatte Oberfläche aufweisen, die auch hydraulische Vorteile bietet. Für die Standsicherheit müssen die Steine entsprechend groß gewählt werden. Die Konstruktion ist deutlich aufwendiger als bei einer geschütteten Steinbuhne (D1.4 geschüttete Steinbuhnen). Auch an der Wiese in Basel wurden die Buhnen zur Strömungslenkung nach diesem Prinzip ausgeführt. Von den großen Steinblöcken aus kann der Verlauf des Flusses und die Ufer, aber auch die Strömungen und Temperaturunterschiede besonders gut wahrgenommen werden.

­ ––––––– – Isar, München  Δ 260 Werse, Beckum  Δ 270

­– – – – – – – – Birs, Basel  Δ 238 Wiese, Basel  Δ 250

­– – – – – – – – Wupper, Müngsten Δ230 Ahna, Kassel  Δ 234 Alb, Karlsruhe  Δ 236 Neckar, Ladenburg  Δ 242 Wiese, Basel  Δ 250

∂∂4 ∂∂5

Entwurfskatalog Flussbette und Fließräume

D∂.4

D∂.5

D∂.6

geschüttete Steinbuhnen

ingenieurbiologische Buhnen

überströmte Buhnen

Wiese, Lörrach

Birs, Basel

Wiese, Lörrach

Eine Buhne aus geschütteten, möglichst unterschiedlich großen Steinen ist vergleichsweise einfach herzustellen. Die Formen und Größen dieser Buhnen können sehr unterschiedlich sein. Sie reichen von sehr schlanken Spornen, die kaum ins Gewässer ragen, bis hin zu dreieckigen Buhnen mit einer breiten Basis am Ufer, die weit ins Gewässer hineinreichen. Geschüttete Buhnen können auch als eine Kombination mit ingenieurbiologischen Buhnen (D1.5 ingenieurbiologische Buhnen) erstellt werden. Die lose geschütteten Buhnen an der Wiese in Lörrach erzeugen eine lebendige Strömungsvielfalt im Gewässer, sind dafür aber nicht begehbar.

Buhnen können auch aus lebenden Weidenflechtwerken, Weidenfaschinen oder schräg eingebauten Weidenästen errichtet werden. Aufgrund der Fähigkeit der Weiden, die Verbauung dauerhaft zu durchwurzeln und zu wachsen, stellen diese natürlichen Buhnen einen wertvollen Lebens- und Rückzugsraum für verschiedene Organismen dar. Die Weiden wirken als Pioniere, weitere Gehölze können sich ansiedeln und stabilisieren zusätzlich. Als grüne Ufersäume sind sie, wie an der Birs in Basel, kaum noch als technisches Bauwerk wahrnehmbar. Kombinationen aus Steinen oder anderen „harten“ Materialien mit lebendem Astmaterial zur Begrünung bieten viel Gestaltungsspielraum. Bei vergleichsweise großen Buhnen sind aber der Verwendung von lebenden Materialien Grenzen gesetzt, da starken Strömungen nur mit massiven Buhnenbauwerken widerstanden werden kann.

Überströmte Buhnen aus geschütteten Steinen, die nicht in das Ufer eingebunden sind, können gut zur Strömungslenkung bei mittleren und größeren Gewässern eingesetzt werden. Ihre Ausrichtung zur Strömung bestimmt die entstehenden Strömungsbilder und die hierdurch bedingten Gewässerprozesse, wie die Bildung von Strömungswalzen, Anlandungen und Kolken. In der Wiese in Lörrach wurden durch den Einbau mehrerer überströmter Buhnen in Form eines Strömungstrichters die Hauptströmungen im Gewässer so gelenkt, dass besondere Sohl- und Laufstrukturen (wie Kolke und Bänke) entstanden sind, die das Gewässer strukturell und optisch aufwerten.

­ ––––––– – Wiese, Lörrach  Δ 265

­– – – – – – – – Birs, Basel  Δ 238

­– – – – – – – – Wiese, Lörrach  Δ 250

D∂.7 Sohlriegel

Birs, Basel

Auch sohlsichernde Maßnahmen, die zum Schutz vor zu starker Eintiefung der Gewässer dienen, können zur Strömungslenkung eingesetzt werden. Quer im Gewässer liegende Sohlriegel, die in der Regel aus großen Steinen bestehen, können geneigt zur Strömung erstellt werden. Im Gegensatz zu traditionellen Sohlschwellen sind Sohlriegel unregelmäßig hoch und damit durchlässig für Wasserorganismen. Durch die Neigung der Sohlriegel kann die Hauptströmung im Gewässer gezielt gelenkt werden. Die Strömung wird immer senkrecht zum querliegenden Riegel abgelenkt. Im Querprofil sollten diese Riegel so gegliedert werden, dass tiefere Bereiche mit stärkerer Strömung und flachere strömungsberuhigte Bereiche entstehen. Die Abfolge mehrerer Riegel hintereinander kann als eine sogenannte Pendelrampe gestaltet werden, die durch wechselseitig geneigte Sohlriegel die Strömung immer wechselnd vom einen zum anderen Ufer lenkt. Dadurch entsteht bei niedrigen und mittleren Abflüssen ein „pendelnder“ Stromstrich und damit ein verlängerter Fließweg mit einem mäandrierenden Strömungsbild. ­ ––––––– – Birs, Basel  Δ 238

∂∂6 ∂∂7

Wiese, Basel  Δ 250

Entwurfskatalog Flussbette und Fließräume

D2 Gewässerlauf modellieren

∫  Kombinationsmöglichkeiten für alle Gestaltungsmittel aus D2 ­– – – – – – – – D3.∂ Sand- und Kiesstrände an Gleitufern D3.2 Sand- und Kiesstrände in Buchten D5.2 Sohl- und Querbauwerke

differenzieren

D5.3 Rampen und Gleiten

Um den gesamten Gewässerlauf zu differenzieren, können nicht nur Strömungslenker eingesetzt werden, sondern das Mittelwasserbett des Fließgewässers kann im Sinne eines kompletten Gewässerumbaus neu modelliert werden. Dadurch bekommt das Gewässer sofort nach Beendigung der Baumaßnahmen in dem betreffenden Abschnitt ein völlig verändertes Aussehen. Es entsteht ein neuer Fließgewässerabschnitt mit verlängertem Lauf, unterschiedlichen Wassertiefen und veränderten Uferstrukturen. Als Folge setzen Umlagerungsprozesse im Gewässer ein, die zu einer Differenzierung der Strömung, des Sohlesubstrats und des Querprofils führen. Eine Aufweitung des Gewässers führt dabei zu Zonen mit geringerer Fließkraft. Dort können sich Furten entwickeln. Bei Aufweitungen ist immer darauf zu achten, dass auch bei Niedrigwasser noch genug Wassertiefe für wandernde Organismen zur Verfügung steht. Eine kurvenreiche Ausbildung ermöglicht Strömungsvarianz und fördert die Ablagerung von Sedimenten unterschiedlicher Korngrößen. Eine Abflachung der Ufer verbessert die Zugänglichkeit, schafft ökologisch interessante Übergangszonen und strömungsberuhigte Niedrigwasserzonen im Gewässer. Wo die Strömung durch den Einbau von Strömungslenkern vom Ufer weggelenkt wird, kann auf eine starke Ufersicherung verzichtet werden. In großem Maßstab ist dies auch an den Gleitufern großer Flüsse möglich, da es sich dort um natürliche Anlandungszonen handelt und kaum erosive Kräfte auftreten. Durch die Modellierungen entsteht ein strukturreicheres Gewässerbett mit flachen Vorufern und Kiesbänken, amphibischen Bereichen und Tiefwasserzonen für Fische. Als Freiräume können durch die Differenzierung des Gewässerlaufs stark frequentierte Bereiche wie Sandstrände zur Naherholung oder stille abgeschiedene Orte zum Naturerleben angelegt werden.

D2.∂

D2.2

Gewässerlauf aufweiten

Lauf verlängern

Alb, Karlsruhe

Ahna, Kassel

Eine Aufweitung des Mittelwasserbetts ist möglich, wenn die Ufersicherung etwas in das Vorland zurückverlegt werden kann. Die Maßnahme kann punktuell entweder als Bucht oder nur als kleine Gewässeraufweitung ausgebildet werden. An der Alb in Karlsruhe wurde die Aufweitung nur einseitig vorgenommen, da die andere Seite keinen Spielraum bot. Durch die Aufweitung fließt das Wasser hier langsamer und dadurch bilden sich Kies- oder Sandbänke im Gewässer. An strömungsberuhigten Stellen wurden die Ufer abgeflacht und kleine Strände angelegt. Das Mittelwasserbett kann auch stark verbreitert werden, um das Gewässer zu teilen, sodass eine Insel entsteht. Ein weiterer Vorteil der Aufweitung ist die Verbesserung des Hochwasserabflusses.

Durch die Kombination von Strömungs‑ lenkern und die bauliche Modellierung des Mittelwasserprofils wird die Strömung im Gewässer gezielt in Kurven gesteuert. Dies führt zu einer künstlichen Laufdifferenzierung in Prall- und Gleitufer. Die Länge des Niedrig- oder Mittelwassergerinnes verlängert sich. Die modellierten Bereiche müssen vor Erosion geschützt werden. In Anlehnung an eine natürliche Laufentwicklung entsteht ein differenziertes Fließgewässer. An der Ahna in Kassel hat sich in dem umgestalteten Bett eine üppige Auenvegetation entwickelt, sodass der Fluss im Stadtbild wie eine grünblaue Oase wirkt. ­ ––––––– – Ahna, Kassel  Δ 234 Birs, Basel  Δ 238 Leutschenbach, Zürich  Δ 240

­– – – – – – – –

Soestbach, Soest  Δ 248

Alb, Karlsruhe  Δ 236 Birs, Basel  Δ 238

∂∂8 ∂∂9

Entwurfskatalog Flussbette und Fließräume

D3 Gewässerbett differenzieren

∫  Kombinationsmöglichkeiten für alle Gestaltungsmittel aus D3 ­– – – – – – – – D∂.2 Totholz D∂.3 gesetzte Steinbuhnen D∂.4 geschüttete Steinbuhnen D∂.5 ingenieurbiologische Buhnen D2.∂ Gewässerlauf aufweiten D2.2 Lauf verlängern D4.∂ Ufer teilweise entsichern D4.4 abgetreppter Steinverbau

Ein differenziertes Gewässerbett mit unterschiedlichen Ufersituationen in Form von Stränden, Inseln und Kolken entspricht den Vorstellungen einer Gewässerrenaturierung. Diese können jedoch nur indirekt durch Maßnahmen der Strömungslenkung, gezielte Ausnutzung von Anlandungs- und Erosionsprozessen sowie die bauliche Modellierung von Gewässerläufen erzeugt werden. Um Sedimentationsprozesse zu befördern, die Inseln und Strände bilden, werden strömungslenkende Elemente oder eine punktuelle Aufweitung der Ufer vorgesehen. Diese reduzieren die Strömung in bestimmten Bereichen; je nach Fließgeschwindigkeit ändert sich die Schleppkraft und Geschiebe bis zu einer bestimmten Korngröße lagert sich ab. Nur bei sehr geringen Strömungen können auch feine Materialien wie Sande sedimentieren, daher lässt sich über die Beeinflussung der Strömung steuern, ob eine Kies- oder Sandablagerung entsteht. Umgekehrt lässt sich die Bildung von Kolken beeinflussen, indem durch Strömungslenker Zonen mit starker Strömung geschaffen werden, die die Erosionsprozesse verstärken. Strände, Inseln und Kolke sind Ausdruck morphodynamischer Prozesse und zeigen an, dass sich innerhalb des Gewässerbetts ein dynamisches Fließgleichgewicht eingestellt hat. Das bedeutet aber auch, dass sie sich bei hochwasserbedingten Änderungen der Strömungsverhältnisse verlagern oder wieder verschwinden können. Allerdings können in geschützten Buchten oder hinter Buhnen auch permanente Anlandungszonen entstehen. Diese eignen sich besonders für die Freiraumnutzung in den Sommermonaten als gut zugängliche Kies- und Sandstrände, die nur eines geringen Unterhalts bedürfen – während künstlich angelegte Aufschüttungen an ungeeigneten Stellen am Gewässer nach jedem Hochwasser komplett erneuert werden müssen. Insbesondere vor dem Hintergrund der stark verbesserten Wasserqualität wird die Entwicklung von Badestellen an Fließgewässern zunehmend wichtiger.

D3.∂

D3.2

D3.3

Sand- und Kiesstrände an Gleitufern

Sand- und Kiesstrände in Buchten

Kolkbildung

Rhein, Mannheim, Strand Reißinsel

Rhein, Mannheim, Bucht an der Rheinpromenade

Birs, Basel

In strömungsberuhigten Zonen an Gleitufern von Gewässern kann es zur Anlandung kommen, und es können je nach Strömungsgeschwindigkeit Kies- oder Sandbänke geschaffen werden. Natürliche Strände, wie zum Beispiel auf der Reißinsel in Mannheim, sind sehr beliebte Spielund Erholungsräume. Durch den Einbau von Strömungslenkungselementen in das Fließgewässer können künstliche Anlandungszonen erzeugt werden, und so können auch in sehr engen Gewässern kleine Strände entstehen, wie zum Beispiel an der Birs in Basel. In schiffbaren Gewässern finden sich Buhnenreihen am Gewässerrand, zwischen denen sich auch kleine Strände bilden können.

Uferaufweitungen und künstliche Buchten schaffen strömungsberuhigte Zonen und fördern auf diese Weise das Ablagern von Sedimenten. Dadurch bilden sich Anlandungszonen, die an gut zugänglichen Orten als Badestrand genutzt werden können. So konnte am Rhein in Mannheim selbst im eigentlichen Prallhang des Flusses eine Strandsituation entwickelt werden. Wichtig ist es, die stromaufwärts gelegene Ecke der Einbuchtung durch ihre Befestigung gegen die Strömungswirbel zu schützen. Über die Form und die Größe der Uferaufweitung kann die Anlandung gezielt beeinflusst werden.

Strömungslenker können dazu eingesetzt werden, die Fließgeschwindigkeit in Teilbereichen des Gewässers zu erhöhen. Ist die Gewässersohle unbefestigt, wie bei der Birs in Basel, leiten die Strömungsbündelungen einen punktuellen Abtrag von Sohlmaterial ein und es bildet sich ein Kolk aus. Die tiefen Stellen im Gewässer stellen einen besonderen Lebensraum dar und dienen Fischen als Rückzugsgebiet. Mit den Abflussschwankungen in einem Gewässer verändern sich auch dessen Strömungsverhältnisse. Erosions- und Ablagerungsprozesse führen zu laufenden Formveränderungen der Kolke.

­ ––––––– – Wupper, Müngsten  Δ 230

­ ––––––– – Birs, Basel  Δ 238

­ ––––––– – Rhein, Mannheim  Δ 220

Neckar, Ladenburg  Δ 242

Wiese, Lörrach  Δ 252

Birs, Basel  Δ 238

Wiese, Lörrach  Δ 253

Wiese, Basel  Δ 250 + Rhein, Mannheim, Rheinpromenade  Δ 28∂

∂20 ∂2∂

Entwurfskatalog Flussbette und Fließräume

D4 Ufersicherung differenzieren

∫  Kombinationsmöglichkeiten für alle Gestaltungsmittel aus D4 ­– – – – – – – – D∂.∂ große Einzelsteine D∂.3 gesetzte Steinbuhnen D∂.4 geschüttete Steinbuhnen D∂.5 ingenieurbiologische Buhnen D3.∂ Sand- und Kiesstrände an Gleitufern E4.∂ „schlafende“ Ufersicherung E4.2 Ufersicherung im Bedarfsfall E4.3 punktuelle Ufersicherung

Die Ufersicherung (rote Grenzlinie) muss in Prozessraum D erhalten bleiben, da das Vorland nicht als Entwicklungsraum für das Gewässer zur Verfügung steht. Unterschiedliche Sicherungsarten, die auch abwechselnd verwendet werden können, bieten aber viele gestalterische Variationsmöglichkeiten. Eine offenporige Oberfläche mit Hohlräumen, beispielsweise eine lockere, unbefestigte Steinschüttung am Ufer, kann einen ausdifferenzierten Lebensraum für aquatische und amphibische Organismen bilden. Naturnahe, ingenieurbiologische Sicherungsbauweisen aus lebenden Weiden bieten einen hohen ökologischen Wert und schaffen den Eindruck eines grünen, natürlichen Ufers. Mit Kombinationen aus naturnahen Bauweisen und explizit künstlichen Elementen, wie Sitzstufen oder Ufertreppen, können ästhetisch ansprechende Kontraste gestaltet werden. Außerdem können so gleichzeitig die Ufer gesichert und Möglichkeiten zum Verweilen am Fluss geschaffen werden. Je nach Gestaltung eines Uferabschnitts können dabei unterschiedliche Fließgewässerprozesse hervorgerufen oder inszeniert werden. An glatten Ufermauern sind Strömungen im Fließgewässer kaum wahrnehmbar. Bepflanzte oder mit Steinschüttungen gesicherte Uferböschungen dagegen weisen eine hohe Rauigkeit auf und verursachen Varianzen in der Fließgeschwindigkeit und Verwirbelungen, welche die Strömungen im Gewässer sichtbar machen.

D4.∂

D4.2

Ufer teilweise entsichern

Lebendverbau

Birs, Basel

Waal, Zaltbommel

Birs, Basel

Das Entfernen der Ufersicherung zum Anlegen natürlicher Uferböschungen ist nur möglich an Gleitufern oder in Buchten, wo geringere Strömungen und dadurch weniger erosive Kräfte herrschen. Durch den Einsatz von Strömungslenkern können solche Zonen auch künstlich erzeugt werden. Auch unter beengten Verhältnissen können Ufer kleinräumig entsichert werden wie an der Birs in Basel. Ein großräumiger Rückbau ist insbesondere bei großen Strömen nur an den Gleitufern oder durch das Anlegen großflächiger Buhnenfelder möglich.

An der Waal in Zaltbommel haben sich zum Beispiel zwischen den – aus Gründen der Schiffbarkeit – angelegten Buhnen kleine Strände gebildet. Die Anwendung dieser Maßnahme erfordert eine genaue Kenntnis der Abfluss- und Strömungs‑ dynamik im Gewässer und macht eventuell Nacharbeiten zur Böschungssicherung an gefährdeten Gewässerabschnitten nötig.

Die Ufersicherung mithilfe lebender Pflanzen ist ein naturnahes Verfahren zur Sicherung von erosionsgefährdeten Ufern. Hierzu werden insbesondere Weiden, teilweise auch mit Stein- oder Holzbauweisen kombiniert, eingesetzt. Sie können flächig, beispielsweise als Spreitlagen aus Weidenstecklingen oder als Ansaaten, erfolgen oder punktuell als Pflanzungen von Einzelgehölzen an der Uferlinie zum Einsatz kommen. Neben dem Schutz der Ufer wird durch diese ingenieurbiologische Bauweise ein vielfältiger Lebensraum hergestellt. Die grünen Ufer bewirken eine gute Einbindung des Gewässers in die Landschaft. Zu beachten ist, dass bis zur Entfaltung der vollen Widerstandskraft der Ufersicherung eine Entwicklungszeit erforderlich ist.

­– – – – – – – – Waal, Zaltbommel  Δ ∂90 Rhein, Mannheim  Δ 220 Alb, Karlsruhe  Δ 236 Birs, Basel  Δ 238 Wiese, Basel  Δ 250

­– – – – – – – – Birs, Basel  Δ 238

∂22 ∂23

Entwurfskatalog Flussbette und Fließräume

D4.3

D4.4

D4.5

Steinverbau

abgetreppter Steinverbau

gemauerter Uferverbau

Gallego, Zuera

Birs, Basel

Sarthe, Le Mans, Île aux Planches

Die Sicherung der Ufer mit Steinsetzungen bietet vor allem gestalterisch attraktive Möglichkeiten, wie bei der neuen Uferbefestigung des künstlichen Nebenarms in Zuera. Die Materialien, oft große Natursteinblöcke, können anhand von Größe, Form und Material bewusst ausgewählt und gestalterisch inszeniert werden. Genauso wie bei einer kostengünstigeren Steinschüttung, bei der die Steine nicht eingebaut werden, sondern nur locker geschüttet aufeinanderliegen, sind die Ufer aber relativ schlecht zugänglich und bieten kaum ökologische Nischen. Die Steine können, wenn sie ein aufeinander abgestimmtes Format haben, mit einem möglichst geringen Fugenabstand wie eine Mauer gesetzt werden, um die Fugenbreite zu reduzieren. Es besteht auch die Möglichkeit, bei der Setzung bewusst unterschiedliche Formate zu verwenden und Fugen zu belassen, die bepflanzt oder natürlich besiedelt werden können und so einen ökologischen Mehrwert schaffen.

Abschnittsweise können erosionsgefährdete Ufer durch einen abgetreppten Steinverbau befestigt werden, der gleichzeitig als Treppe oder Sitzstufe benutzt werden kann. Neben der wasserbaulichen Bedeutung kann mit diesem Element also auch ein Aufenthaltsbereich direkt am Wasser entstehen, der im Gegensatz zu einer Ufertreppe (A1.3 große Ufertreppe) jedoch vor allem eine Ufersicherungsfunktion hat. Die Stufen können auch ins Wasser hineinreichen und so ein Betreten des Gewässers ermöglichen oder als Kanuausstieg dienen. Besonders bei eingetieften Gewässern kann damit das zumeist sehr steile Ufer überwunden werden. Die Materialwahl und die Größe dieser künstlichen Elemente am Gewässerrand können das Erscheinungsbild des Gewässerraums wesentlich mitprägen. Bei der Revitalisierung der Birs wurden besonders erosionsgefährdete Uferabschnitte mit Treppen aus Natursteinblöcken gesichert.

Durch einen gemauerten Uferverbau lassen sich senkrechte Wände herstellen, die es gleichzeitig ermöglichen, einen uferbegleitenden Weg in unmittelbarer Nähe zum Gewässer zu führen. Sie bilden einen steilen Uferabschluss, der es gestattet, direkt an das Gewässer heranzutreten. Auch wenn diese Lösung von ökologisch geringem Wert ist, kann sie bei einem unmittelbar an das Gewässer angrenzenden intensiv gestalteten Park sinnvoll sein, wie auf der Flussinsel Île aux Planches in der Sarthe in Le Mans. Nach einem Hochwasser müssen die Flächen jedoch meist von Sedimenten gereinigt werden. Eine Neigung der Oberfläche und das Vermeiden von strömungsberuhigten Zonen sorgen dafür, dass nicht so viel Material abgelagert wird.

Wupper, Müngsten  Δ 230

Seille, Metz  Δ 246 Wiese, Lörrach  Δ 252 + Sarthe, Le Mans, Île aux Planches  Δ 28∂

­– – – – – – – – ­ ––––––– – Gallego, Zuera  Δ 204

­– – – – – – – –

Ahna, Kassel  Δ 234 Birs, Basel  Δ 238

D4.6 bestehende Sicherung überbauen

Rhône, Lyon

An vielen Gewässern befinden sich existierende Ufersicherungen aus Flussbausteinen oder Beton, deren Umgestaltung oder Entfernung auf ganzer Länge nicht möglich oder zu teuer ist. Da der Fluss dann nur schwer zu erleben und zugänglich zu machen ist, bietet es sich an, diese durch einen Weg zu überbauen, der auch durch punktuelle, in den Fluss hineinragende Elemente ergänzt werden kann. Auf ihnen kann man sich gleichsam „auf“ das Wasser begeben, einen Ausblick über den Fluss genießen. Außerdem entstehen entlang des Weges Nischen, in denen man geschützt verweilen kann. In Lyon am südlichen Ende der neu gestalteten Berges du Rhône wurden kleine hölzerne Balkone mit Bänken angebracht, die über wenige Stufen vom Uferweg aus zu erreichen sind und einen direkten Kontakt zum Wasser ermöglichen. ­– – – – – – – – Rhône, Lyon  Δ ∂60 Seille, Metz  Δ 246

∂24 ∂25

Entwurfskatalog Flussbette und Fließräume

D5 Sohlsicherung differenzieren

∫  Kombinationsmöglichkeiten für alle Gestaltungsmittel aus D5 ­– – – – – – – – D∂.∂ große Einzelsteine D∂.2 Totholz D∂.3 gesetzte Steinbuhnen D∂.4 geschüttete Steinbuhnen D∂.5 ingenieurbiologische Buhnen D∂.6 überströmte Buhnen D∂.7 Sohlriegel D2.∂ Gewässerlauf aufweiten D2.2 Lauf verlängern

In vielen Fließgewässern werden der Gewässerlauf und der Wasserhaushalt durch künstliche Querbauwerke wie Schwellen, Staustufen oder Wehre geregelt. Sie dienen der Reduzierung der Fließgeschwindigkeit, der Sohlsicherung sowie der Überwindung von Höhenunterschieden. Durch die Querbauwerke geht die Grundlage für Fließgewässerprozesse und somit eine natürliche Laufentwicklung verloren. Außerdem werden die ökologische Durchgängigkeit des Gewässers beeinträchtigt und die Fischwanderwege unterbrochen. Infolgedessen ist der Aufstieg in die Seitengewässer, die für die Fortpflanzung von Fischarten wie beispielsweise dem Lachs von großer Bedeutung sind, unterbunden. Mittels Differenzierung oder Umgestaltung der Sohlsicherung wird die Durchgängigkeit eines Fließgewässers sichergestellt und die Grundlage für natürliche Gewässerprozesse zurückgewonnen. Viele der Querbauwerke können zwar nicht gänzlich entfernt, aber umgestaltet oder durch Rampen und Sohlgleiten ersetzt werden. Dabei werden vermehrt wechselnde Wasserstände und höhere Fließgeschwindigkeiten im Gewässer zugelassen und natürliche Gewässerprozesse bis zu einem gewissen Grad wieder in Gang gesetzt. Zusätzlich sorgen sie für eine Durchgängigkeit der Gewässer. Der Umbau von Querbauwerken zu naturnah gestalteten Rampen und Sohlgleiten lässt abwechslungsreiche Gewässer entstehen. Durch den Höhenunterschied und das Rauschen und Strömen über große Steine wird das Wasser erlebbar. Wenn Querbauwerke nicht zurückgebaut werden können, sollte mit Umgehungsgerinnen oder technischen Fischaufstiegshilfen die Situation verbessert werden.

D5.∂

D5.2

D5.3

Fischaufstiegsanlagen

Sohl- und Querbauwerke differenzieren

Rampen und Gleiten

Neckar, Ladenburg, Fischtreppe Kandelbach

Wiese, Basel

Nahe, Bad Kreuznach

Querbauwerke wie Wehre und Schleusen stellen ein unüberwindbares Hindernis für die Wanderungsbewegungen der Fische dar. Deshalb können Fischaufstiegsanlagen in naturnaher und technischer Bauweise errichtet werden, um die Durchgängigkeit des Gewässers zu gewährleisten. Zu den naturnahen Fischaufstiegshilfen gehören vor allem sogenannte raue Rampen und Umgehungsgerinne aus Naturstein-Riegeleinbauten. Technische Fischaufstiegshilfen sind aus Natur- oder Betonstein gebaute Schlitz- oder Beckenpässe oder Fischlifts. Ein naturhaft gestaltetes Umgehungsgerinne kann sich je nach gestalterischem Kontext besser in die Landschaft einpassen, dafür bietet im urbanen Raum eine technische Rinne durch die konzentrierten Strömungen eine willkommene Abwechslung, wie zum Beispiel in Ladenburg. So können sie zur inszenierten Attraktion werden. In Gambsheim am Rhein wurde ein Fischaufstieg so gestaltet, dass durch Fenster die wandernden Fische zu sehen sind.

Bestehende Sohl- und Querbauwerke können in ihrem Bestand teilweise erhalten werden, wobei das Gewässer trotzdem weiterentwickelt werden kann. An der Wiese in Basel wurde unter Beibehaltung der sohlsichernden Funktion der mittlere Teil einer Sohlschwelle bis zur Gewässersohle abgetragen, sodass ein verändertes Profil mit einer stärker strömungsdifferenzierenden Funktion entstand. Zu beachten ist, dass bei der Umgestaltung eines Sohlbauwerks auch die direkt ober- und unterhalb gelegenen Gewässerabschnitte einbezogen und gestaltet werden müssen. Veränderte Strömungen erfordern teilweise eine entsprechende Sicherung der Ufer und der Sohle.

Rampen und Gleiten sind adäquate Maßnahmen zur Sohlsicherung von Fließgewässern und können störende Querbauwerke ersetzen. Eine Sohlschwelle wird durch eine Rampe mit einem Gefälle zwischen 1:10 und 1:100 ersetzt. Steine unterschiedlicher Größe sichern die Sohle weiterhin. Rampen und Gleiten verleihen dem Gewässer ein natürliches Erscheinungsbild und sorgen für dessen Durchgängigkeit. Die Zwischenräume in den Steinschüttungen bilden einen Lebensraum für strömungsliebende Wasserlebewesen. An der Nahe in Bad Kreuznach machen das laute Rauschen und die sichtbare Strömung des Wassers an der neuen Rampe diese zu einem deutlich wahrnehmbaren Gewässerabschnitt des Flusses.

­ ––––––– – Birs, Basel  Δ 238

­– – – – – – – –

Wiese, Basel  Δ 250

Nahe, Bad Kreuznach  Δ ∂84 Birs, Basel  Δ 238 Neckar, Ladenburg  Δ 242 Wiese, Lörrach  Δ 252 Werse, Beckum  Δ 270

­ ––––––– – Alb, Karlsruhe  Δ 236 Neckar, Ladenburg  Δ 242 Wiese, Lörrach  Δ 252 Isar, München  Δ 260 Werse, Beckum  Δ 270 + Rhein, Gambsheim, Fischtreppe  Δ 280

∂26 ∂27

Entwurfskatalog Flussbette und Fließräume

E

Dynamisierte Flusslandschaften

Isar, München

Vom gesicherten Gewässer zum dynamisierten Flusslauf. Die statische, an der Mittelwasserlinie liegende Ufersicherung wird verschoben oder aufgelöst. Es entsteht ein Flussraum mit eigendynamischer Entwicklung, in dem sich über einen langen Zeitraum hinweg die Ufer und die Lage des gesamten Gewässerlaufs immer wieder verändern können.

∂28 ∂29

Entwurfskatalog Dynamisierte Flusslandschaften

E

Dynamisierte Flusslandschaften

Räumliche Situation

Im Prozessraum E wird die bestehende Ufersicherung, also die rote Grenzlinie, aufgelöst oder zurückverlegt, sodass eine eigendynamische Entwicklung des gesamten Gewässerlaufs möglich wird. Im Gegensatz zum Prozessraum D steht hier auch das Vorland, also der Raum zwischen roter und grüner Grenzlinie, für die eigendynamische Entwicklung zur Verfügung. Das bedeutet, dass zum einen noch ein Vorland vorhanden sein muss und zum anderen dieses nicht durch andere Nutzungen belegt sein darf, die einer stärkeren Fließgewässerdynamik entgegenstehen. Einen entsprechend großen Entwicklungsspielraum haben nicht viele Gewässer im innerstädtischen Bereich, ausreichende Flächen finden sich meist nur in den Vororten oder innerhalb von Naherholungsgebieten.

Wirksame Prozesse

Das Entfernen der statischen, direkt an der Mittelwasserlinie liegenden Ufersicherung (rote Grenzlinie) ist die Grundvoraussetzung für die Gestaltung sich eigendynamisch entwickelnder Fließgewässer. Auf diese Weise können die Ufer an einigen Stellen, insbesondere bei Hochwasserereignissen, durch Erosionskräfte abgetragen werden. An anderen Stellen können Anlandungszonen entstehen. Die Sedimentations- und Erosionsvorgänge sind nicht nur auf das Gewässerbett beschränkt, sondern wirken raumgreifend in das Vorland hinein; über einen längeren Zeitraum hinweg kann sich so die Lage des gesamten Gewässerlaufs verändern. Im Gewässerbett bilden sich Furten und Kolke, die Strömung variiert stark. Raumgreifender und dynamischer als im Prozessraum D bildet sich ein differenziertes Gewässerprofil mit Gleit- und Prallufern sowie unterschiedlichen Sohlsubstraten aus. Je nach Gewässertyp und Randbedingungen verläuft die Entwicklung unterschiedlich schnell. Dynamische Mittelgebirgsbäche können sich beispielsweise schneller entwickeln als langsam fließende Tieflandgewässer. Maßnahmen müssen daher für jedes Gewässer maßgeschneidert werden.

Entwurfsansätze

Entsprechende Gestaltungsansätze stellen im urbanen Kontext eine Besonderheit dar, denn das Zulassen einer eigenständigen Laufentwicklung bewirkt eine ungewöhnliche Wildheit und freie Entfaltung des Flusses. Durch die stärkere Ausdifferenzierung des Flusses mit flacheren Ufern, Sandbänken, Uferabbrüchen und Nebengewässern wird seine Lebendigkeit als Kontrast zur statischen Stadtlandschaft sehr geschätzt, sie erlaubt einen intensiven Wasserkontakt mit neuen Nutzungsmöglichkeiten und einem Erleben der ständigen Veränderung nach jedem Hochwasserereignis. Die Maßnahmen zeichnen sich dadurch aus, dass nach Abschluss der initialen Bauarbeiten

E∂ Laufentwicklung ermöglichen

E∂.∂ Ufer- und Sohlsicherung entfernen E∂.2 Gewässerunterhaltung extensivieren E∂.3 Wasserentnahme regulieren

E2 Laufentwicklung initiieren

E2.∂ Gewässerprofil differenzieren E2.2 Störelemente einbringen E2.3 Geschiebezugaben

E3 neuen Gewässerlauf gestalten

E3.∂ mäandrierenden Gewässerlauf vorgeben E3.2 begradigten Lauf einbeziehen E3.3 Gewässerverzweigung anlegen

E4 Laufentwicklung begrenzen

E4.∂ „schlafende“ Ufersicherung E4.2 Ufersicherung im Bedarfsfall E4.3 punktuelle Ufersicherung

∂30 ∂3∂

Entwurfskatalog Dynamisierte Flusslandschaften

E

Dynamisierte Flusslandschaften

das Ergebnis des gestalterischen Eingriffs nicht unmittelbar vorliegt, sondern sich seine Besonderheiten erst über die Zeit entwickeln. Dynamisierte Flusslandschaften unterliegen einer dauerhaften Entwicklung und verändern sich und ihre Eigenschaften (unter anderem Abflusskapazität, Beschaffenheit der Ufer, Lage des Bettes) immer wieder. Dies erfordert bei den Planern und Verantwortlichen den Mut, innerhalb der Städte Entwicklungen zuzulassen, die kein klares Endergebnis haben, sondern einen Prozess in Raum und Zeit darstellen. Eine kontinuierliche Beobachtung der Veränderungen und eventuell steuernde Eingriffe sind unter Umständen notwendig, insbesondere wenn sich das Gewässer zu sehr der grünen Grenze annähert, die es nicht überschreiten darf. Ein derartiger offener Entwurfsprozess ist oft nur schwer in die üblichen Planungsabläufe zu integrieren. Falls aber die kontinuierliche Betreuung und Weiterentwicklung der jeweiligen Projekte sichergestellt wird, kann die Qualität besser gewährleistet werden als bei Planungen, die ein konkretes Ergebnis anstreben. Das gezielte Fördern einer eigenständigen Laufentwicklung findet seine Anwendung häufig im Rahmen von Revitalisierungs- und Renaturierungsmaßnahmen. In diesem Kapitel werden Entwurfsstrategien und Gestaltungsmittel vorgestellt, die den Balanceakt einer dynamischen Gewässerentwicklung innerhalb des gebauten Stadtgefüges möglich machen. Dabei gilt: Je kleiner ein Gewässer ist, desto leichter ist dieser Ansatz in der Praxis umsetzbar. Das Beispiel der Isar in München zeigt aber, dass mit einer starken Vision auch bei einem größeren Gewässer im Zentrum einer Großstadt das Konzept eines dynamischen, sich selbst entwickelnden Flussraumes umgesetzt werden kann. Ein gutes Verständnis der natürlichen Gewässerprozesse ist in allen Fällen eine grundlegende Voraussetzung für diese Art der Gewässerentwicklung. Die Entwurfsstrategien in diesem Prozessraum unterscheiden sich vor allem nach der Art des initialen Eingriffs: Werden nur die alten Sicherungen entfernt oder wird darüber hinaus die Entwicklung durch bauliche Maßnahmen initiiert, beschleunigt oder gefördert? Innerhalb des urbanen Raumes ist eine völlig unbegrenzte Entwicklung der Gewässer oft nicht möglich. In der Kategorie der Entwurfsstrategie E4 (Laufentwicklung begrenzen) werden daher alternative Sicherungskonzepte vorgestellt, die einen klaren Rahmen vorgeben, innerhalb dessen eine Entwicklung zugelassen wird. Im Prozessraum E finden sich überwiegend Projekte und Maßnahmen mit einer vorrangig ökologischen Zielsetzung. Trotzdem entstehen hier auch Räume mit einem sehr hohen Erholungswert. Die ökologischen Maßnahmen können gut mit Hochwasserschutzmaßnahmen kombiniert werden, da das Abgraben des Vorlandes zur Schaffung neuer Nebenarme und amphibischer Zonen den Hochwasserabfluss positiv beeinflusst.

Freiraumgestaltung

Die eigendynamische Entwicklung des Flusses schafft vielfältige räumliche Situationen im Gewässer und am Gewässerrand. Es entsteht ein abwechslungsreicher, multifunktionaler Freiraum. Strände ermöglichen einen direkten Zugang zum Wasser und laden zum Grillen, Sonnen und Baden ein. Sand- und Kiesbänke oder Flachwasserzonen sind begehrte Naturspielplätze und ermöglichen Naturerlebnisse mitten in der Stadt. Konflikte mit Naturschutzzielen sollten durch eine ausgewogene Zonierung in der Gewässeraue bereits in der Planung vermieden werden. Wandern, Fahrradfahren und Reiten entlang der sich eigendynamisch entwickelnden Gewässer sind sehr abwechslungsreich. Für Hunde und deren Besitzer ergeben sich attraktive Auslaufflächen. Anlandungs- und Erosionsprozesse machen die Dynamik einer Flusslandschaft im Laufe eines Jahres sichtbar und erlebbar. Im städtischen Bereich kann der Kontrast zwischen den dauerhaften baulichen und den sich wandelnden natürlichen Elementen sehr reizvoll sein. Eine Maßnahme, die die Umgestaltung des Gewässers als solche erkennen lässt – zum Beispiel durch punktuellen Erhalt von Teilen der früheren Uferbefestigungen oder alter Industriegelände –, trägt dabei zu einer lesbaren Stadtlandschaft bei.

Hochwasserschutz

Durch die Eigendynamik im Fließgewässer entsteht ein weites dynamisches Flussbett mit flacheren Ufern. Dabei können sich unterschiedliche Auswirkungen auf die Hochwassersituation ergeben. Wird Vorland abgegraben, um die Ufer und gewässernahen Vorländer unter einen stärkeren Einfluss des Wassers zu bringen,

wird der Abflussquerschnitt vergrößert. Dies kann ein schnelleres Abfließen des Wassers ermöglichen und trägt so zum Hochwasserschutz vor Ort bei. Durch die Einführung eines mäandrierenden Laufes kann aber auch der Fließwiderstand (die Rauigkeit) zunehmen, was die Abflusskapazität vermindert. Dies sollte schon bei der Planung berücksichtigt werden. Der verlangsamte Abfluss vergrößert andererseits den Retentionsraum des Gewässers in diesem Abschnitt. Dies führt bei flussabwärts gelegenen Gebieten im Hochwasserfall zur Entlastung. Die Einpassung der Maßnahmen in ein überörtliches Hochwasserkonzept ist frühzeitig vorzusehen. Durch die Dynamik im Gewässerlauf kann sich der Abflussquerschnitt kleinräumig immer wieder verändern, zum Beispiel durch angespültes Totholz. Dementsprechend sind bei der Ermittlung der Abflusskapazität entsprechende Sicherheiten einzuplanen, und eine regelmäßige Kontrolle des Abflussverhaltens sollte besonders in hochwassergefährdeten urbanen Räumen durchgeführt werden.

Ökologie Durch die morphodynamischen Prozesse im Fließgewässer entsteht eine große Vielfalt unterschiedlicher Strukturen und Habitate im aquatischen, amphibischen und terrestrischen Bereich mit einer hohen Biodiversität. Lebensräume, die durch regelmäßige Überflutungen einem ständigen Verjüngungsprozess ausgesetzt sind, wie zum Beispiel Kies- und Sandbänke, Strände oder Abbruchkanten, sind an Gewässern selten geworden. Sie bieten ökologische Nischen für Tier- und Pflanzenarten, die an diese extremen Bedingungen angepasst sind. Ökologisch interessant sind auch vom Lauf abgetrennte, verlandende Wasserstellen, die bei Hochwasser überflutet werden. Bei der Revitalisierung von Bachläufen können dazu Teile des alten Bettes genutzt werden. Das Schaffen von ökologisch wertvollen Flächen kann in städtischen Räumen mit einem hohen Erholungsdruck auf den Freiflächen zu Nutzungskonflikten führen, die durch Besucherlenkung entschärft werden können. Eine gänzliche Ausgrenzung von Menschen aus den neu entwickelten Gebieten würde monofunktionale Bereiche innerhalb der urbanen Landschaftsgefüges schaffen – eine vertane Chance, Menschen für die sie umgebenden Ökosysteme zu sensibilisieren. Solche Umgestaltungen können auch als Ausgleichsmaßnahme für Eingriffe in Natur und Landschaft an anderer Stelle im Sinne der im Bundes‑ naturschutzgesetz vorgeschriebenen Eingriffs-Ausgleichsregelung geplant werden.

Durch das Auflösen der alten Uferbefestigung kann die Isar ihren Lauf verlagern, Inseln bilden und Strände entwickeln. Als Sicherung wurden im Vorland unterirdische, sogenannte „schlafende“ Sicherungen eingebaut (rote gestrichelte Linie), damit die Stabilität der Deiche (Überflutungsgrenze: grüne Linie) nicht gefährdet wird.

∂32 ∂33

Entwurfskatalog Dynamisierte Flusslandschaften

E∂

Laufentwicklung ermöglichen

∫  Kombinationsmöglichkeiten für alle Gestaltungsmittel aus E∂ ­– – – – – – – – C∂.4 Vorland abgraben C3.5 großräumige Naturgebiete E2.∂ Gewässerprofil differenzieren E2.2 Störelemente einbringen E2.3 Geschiebezugaben E3.∂ mäandrierenden Gewässerlauf

vorgeben

E3.3 Gewässerverzweigung anlegen E4.∂ „schlafende“ Ufersicherung E4.2 Ufersicherung im Bedarfsfall E4.3 punktuelle Ufersicherung

Die einfachste und grundlegendste Möglichkeit, um Gewässern wieder eine eigendynamische Laufentwicklung zu ermöglichen, ist das Entfernen der bestehenden Befestigungen. Vorhandene Ufersicherungen und Sohlschwellen, die das Bett befestigen und den Lauf festlegen, werden entfernt, um allein durch eigendynamische Prozesse einen naturnäheren Zustand mit einem mäandrierenden Lauf zu erreichen. Ist ein Gewässer in der Lage, sein dynamisches Gleichgewicht innerhalb eines angemessenen Zeitraumes selbst wiederzufinden, bietet sich dieser Ansatz ohne zusätzliche künstliche Eingriffe aus ökonomischen sowie ökologischen Gründen an. Bei stark begradigten Flussläufen ist eine Entfernung der Ufersicherung allein aber oft nicht ausreichend. Ist das Gewässer sehr wenig dynamisch, kann es Jahrzehnte dauern, bis sich das Gewässer wieder naturnahen Strukturen annähert. Herrschen hohe Fließgeschwindigkeiten mit entsprechender Schleppkraft vor, besteht die Gefahr, dass sich das Gewässer zunächst unerwünscht eintieft, bis sich eine Laufform entwickelt, in der sich ein dynamisches Gleichgewicht einstellen kann. Neben der Entnahme der Ufersicherung ist auch eine Anpassung der Maßnahmen zur Gewässerunterhaltung ein wichtiger Aspekt. Traditionelle Gewässerunterhaltung hat meist das Freihalten des Abflussquerschnitts zum Ziel, um Wasser möglichst schnell abzuleiten. Zuständig für die Gewässerunterhaltung sind die jeweiligen Gewässereigentümer, das sind bei kleineren Gewässern die zuständigen kommunalen Wasser- und Bodenverbände und bei Bundeswasserstraßen die Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes. Traditionell war die Gewässerunterhaltung auf den Erhalt eines bestimmten Zustands der Gewässer beschränkt, daher wurde das Gewässerbett regelmäßig entschlammt, Auflandungen und Auskolkungen beseitigt, Ufer gesichert oder Uferabbrüche befestigt und der Uferaufwuchs regelmäßig gemäht. Heute verfolgt die Gewässerunterhaltung – nach der neuen Fassung des Wasserhaushaltsgesetzes (WHG) vom 31. Juli 2009 – das Ziel der ökologischen Verbesserung der Gewässer mit einer stärkeren eigendynamischen Entwicklung, die durch „störende“ Elemente befördert wird (siehe auch E2 Laufentwicklung initiieren). Grundsätzlich ist zu beachten, dass diese eigendynamische Entwicklung ausreichenden Raum voraussetzt. Die Entfernung einer steilen Ufersicherung wirkt sich direkt positiv auf die Zugänglichkeit des Gewässers aus. Das Zulassen natürlicher Vegetations- und Anlandungsprozesse erhöht die Erlebnisqualität der Gewässer, kann aber auch den Eindruck von Ungepflegtheit und Verwilderung erzeugen. Um eine Akzeptanz der Maßnahmen bei den Anwohnern zu erreichen und Ängste zu entkräften, empfiehlt sich im Vorfeld eine breite Informations- und Beteiligungsarbeit.

E∂.∂

E∂.2

E∂.3

Ufer- und Sohlsicherung entfernen

Gewässerunterhaltung extensivieren

Wasserentnahme regulieren

Wahlebach, Kassel

Losse, Kassel

Isar, München

Das Auflösen der Ufer- und der Sohlsicherung kann vollständig oder nur teilweise erfolgen. Durch die Art und Größe des Eingriffs kann die eigendynamische Entwicklung des Gewässers gezielt beeinflusst werden. Das Entfernen der Befestigung kann zum Beispiel nur auf einer Uferseite erfolgen wie an der Isar in München oder beidseitig in einem größeren Gewässerabschnitt durchgeführt werden wie am Wahlebach in Kassel. Es besteht die Möglichkeit, entnommenes Material als Störelemente im Gewässerbett oder zur Gestaltung einer neuen Sicherungslinie wiederzuverwenden.

Eine extensive, angepasste Gewässer‑ unterhaltung lässt natürliche Entwicklungsprozesse im Fließgewässer zu. Das Unterlassen der regelmäßigen Entschlammung, der Beseitigung von Auflandungen, Auskolkungen und Uferabbrüchen sowie das Belassen bzw. bewusste Einbringen von Störelementen wie Totholz oder Wasserpflanzen führen zu einer Differenzierung der Strömungsverhältnisse und wirken im Gewässerbett als Initiatoren für Sedimentations- und Erosionsprozesse. Die eigendynamische Entwicklung eines mäandrierenden Gewässerlaufs mit Prallund Gleitufern beginnt. Im Lossedelta in Kassel ist nach der Anlage des Gebietes das Unterlassen der regelmäßigen Unterhaltung das eigentliche Gestaltungsmittel, das eigendynamisch neue Seitenarme und Vegetationszonen entstehen lässt. Nur bei Gefahren wie einem Rückstau bei Hochwasser oder zu weit fortschreitender Erosion greift die Gewässerunterhaltung gezielt ein.

Durch Wasserkraftanlagen mit Kraftwerkskanälen wie entlang der Isar in München und für die Bewässerung von Agrarflächen in trockeneren Gebieten werden einigen Fließgewässern große Mengen Wasser entnommen. Im Gewässer verbleiben, insbesondere in den trockenen Sommermonaten, nur geringe Wassermengen, das sogenannte Restwasser, was sich einerseits negativ auf das Erscheinungsbild und die Ökologie des Fließgewässers auswirkt und andererseits für die eigendynamische Gestaltung des Gewässers nicht ausreicht. Durch eine Neuregulierung der Wasser‑ entnahme kann die Restwassermenge den ökologischen und den ästhetischen Ansprüchen des Gewässers angepasst werden. Das kann wie in München eine Drosselung oder sogar Unterbrechung des Kraftwerksbetriebs in besonders trockenen Monaten bedeuten.

­ ––––––– – Emscher, Dortmund  Δ 256 lsar, München  Δ 260 Schunter, Braunschweig  Δ 266 Wahlebach, Kassel  Δ 268 Werse, Beckum  Δ 270

­– – – – – – – – Isar, München  Δ 260

­ ––––––– – Kyll, Trier  Δ 2∂0 Emscher, Dortmund  Δ 256 Isar, München  Δ 260 Losse, Kassel  Δ 264 Schunter, Braunschweig  Δ 266 Werse, Beckum  Δ 270

∂34 ∂35

Entwurfskatalog Dynamisierte Flusslandschaften

E2

Laufentwicklung initiieren

∫  Kombinationsmöglichkeiten für alle Gestaltungsmittel aus E2 ­– – – – – – – – C∂.4 Vorland abgraben C3.5 großräumige Naturgebiete E∂.∂ Ufer- und Sohlsicherung entfernen E∂.2 Gewässerunterhaltung extensivieren E3.∂ mäandrierenden Gewässerlauf

vorgeben

E3.2 begradigten Lauf einbeziehen E3.3 Gewässerverzweigung anlegen E4.∂ „schlafende“ Ufersicherung E4.2 Ufersicherung im Bedarfsfall E4.3 punktuelle Ufersicherung

Durch punktuelle Eingriffe im Gewässerlauf in Form einer gezielten Umschichtung von Substraten im Uferbereich oder Gewässerbett werden morphodynamische Prozesse angeregt. Diese Strategie kommt zum Einsatz, wenn die gewünschten Effekte einer eigendynamischen Entwicklung sich erst nach sehr langer Zeit einstellen würden. Das Ziel dieser Strategie ist es, die Randbedingungen für die eigendynamische Gewässerentwicklung zu optimieren, um den gewünschten Zustand eines strukturreicheren Gewässers schneller zu erreichen. Diese Umschichtungen dienen also nur als Startpunkt für eine stark eigendynamische Entwicklung, die das Initialstadium bald wieder verschwinden lässt. Innerhalb kurzer Zeit können durch Initialmaßnahmen Habitate entstehen, die ein rasches Ansiedeln von Fauna und Flora ermöglichen. Gleichzeitig kann auch das Erscheinungsbild schnell verändert werden, was die Kommunikation der Eingriffe in der Öffentlichkeit erleichtert. Der eigentliche Verlauf des Fließgewässers wird dabei zunächst nicht verändert. Die meisten Gestaltungsmittel zur Einleitung morphodynamischer Prozesse nehmen Einfluss auf die Strömung im Gewässer. Durch die gezielte Differenzierung der Strömung können Erosions- und Anlandungsprozesse in Gang gesetzt werden. Punktuelle Aufweitungen führen zur Verlangsamung der Strömung und somit zu Auflandungen; Störelemente können durch die gezielte Lenkung der Strömung auf die Ufer Erosionsprozesse initiieren. Gestalterisch besteht die Möglichkeit, ein naturnahes Bild anzustreben, indem man zum Beispiel Totholz verwendet. Andererseits kann der Eingriff aber auch durch offensichtlich künstliche Elemente zur Strömungslenkung sichtbar gemacht werden. Das Einbringen von Störelementen bedeutet auch eine Vergrößerung der Habitatvielfalt. Außerdem können die Elemente als Trittsteine im Gewässer den direkten Kontakt zum Wasser ermöglichen. Eine weitere Option ist die Beeinflussung der Rahmenbedingungen für die Abfluss- und Transportprozesse im Gewässer. Das künstliche Einbringen von Sedimenten ins Flussbett erleichtert die Bildung von Sand- und Kiesbänken oder natürlichen Stränden. Eine Verstärkung der Abflussdynamik unterstützt die wirkenden Kräfte und beschleunigt damit die Entwicklung.

E2.∂

E2.2

E2.3

Gewässerprofil differenzieren

Störelemente einbringen

Geschiebezugaben

Isar, München

Schunter, Braunschweig

Isar, München

Durch das Abgraben des Vorlandes und das Abflachen der Ufer wird das Gewässer in die Lage versetzt, sich über die ehemalige Uferlinie hinaus zu entwickeln. Das punktuelle Ausbaggern oder Verlagern von Substrat innerhalb des Gewässerbetts schafft Senken oder Flachwasserzonen. Durch die Profildifferenzierung wird die Strömungsvarianz erhöht und in den schneller fließenden Bereichen bildet sich eine Niedrigwasserrinne heraus, die dem Erhalt eines kontinuierlichen Gewässerlaufs bei extremer Trockenheit dient. Je nach Strömungsgeschwindigkeit lagern sich wie an der Isar in München unterschiedlich große Sedimente von Sand über Kies bis hin zu größeren Steinen im Gewässerbett ab, was die Strukturvielfalt im Gewässer zusätzlich erhöht.

Störelemente werden gezielt in das Gewässerbett eingebracht, um die Strömung auf die Ufer zu lenken und dort Erosionsprozesse auszulösen oder eine Sedimentation in ihrem Strömungsschatten zu fördern. Störelemente können sowohl am Ufer angelehnt als auch mittig im Gewässer platziert werden. An der Schunter lenkt befestigtes Totholz die Strömung auf die gegenüberliegenden Ufer und führt dazu, dass diese erodieren und sich kleine Steilufer ausbilden. Die Störelemente bereichern die Strukturvielfalt und sorgen für Spiel- und Aufenthaltsorte im Gewässer.

Viele urbane Fließgewässer sind durch einen Mangel an natürlichen Sedimenten geprägt. Durch Staustufen oder andere Querbauwerke wird eine Verlagerung des Geschiebes verhindert, und die Gewässer leiden so an einem Geschiebedefizit. Das gezielte Einbringen von gewässertypischen Sedimenten stellt Material für die Bettbildung zur Verfügung. Bei der Isar in München wurden künstliche Sand- oder Kiesbänke aufgeschüttet, die beim nächsten Hochwasser weitertransportiert werden. Wenn das Geschiebedefizit durch Querbauwerke verursacht wird, kann durch die gezielte Öffnung der Bauwerke das Geschiebe die Barriere überwinden und zur Entwicklung des folgenden Flussabschnitts beitragen.

­– – – – – – – – Isar, München  Δ 260 Losse, Kassel  Δ 264 Schunter, Braunschweig Δ 266 Werse, Beckum  Δ 270

­– – – – – – – –

­ ––––––– – Isar, München  Δ 260

Emscher, Dortmund  Δ 256 Isar, München  Δ 260 Wahlebach, Kassel  Δ 268 Werse, Beckum  Δ 270

∂36 ∂37

Entwurfskatalog Dynamisierte Flusslandschaften

E3 neuen Gewässerlauf gestalten

∫  Kombinationsmöglichkeiten für alle Gestaltungsmittel aus E3 ­– – – – – – – – C∂.2 Nebenarme C∂.4 Vorland abgraben E∂.∂ Ufer- und Sohlsicherung entfernen E∂.3 Wasserentnahme regulieren E2.∂ Gewässerprofil differenzieren E2.2 Störelemente einbringen E2.3 Geschiebezugaben

Diese Entwurfsstrategie sieht die künstliche Umgestaltung eines begradigten Gewässerlaufs innerhalb eines größeren Fließgewässerabschnitts vor. Ziel der Strategie ist es, dass sich möglichst rasch wieder morphodynamische Gewässerprozesse einstellen. Dafür wird der langwierige Entwicklungsprozess von einem begradigten zu einem mäandrierenden Gewässerlauf vorweggenommen und ein dynamischerer Ausgangszustand für die weitere Gewässerentwicklung geschaffen. Neben oder statt des begradigten Gewässerlaufs wird ein neues Bett mit mäandrierendem Lauf ausgebildet. Bei großen Gewässern darf häufig wegen der Nutzung als Wasserstraße der Hauptlauf nicht angetastet werden. In diesem Fall werden als Alternative in der benachbarten Aue neue Seitenarme geschaffen, die sich dann freier entwickeln können. Die Erdarbeiten erfordern den Einsatz von Baggern und möglicherweise Transportfahrzeugen. Zur Bestimmung der natürlichen Mäanderstruktur des neuen Gewässerlaufs dienen natürliche Referenzgewässer als Leitbilder, die ähnliche naturräumliche Voraussetzungen haben. Wenn gewünscht ist es auch möglich, den ursprünglichen Gewässerverlauf oder zumindest die Weite der natürlichen Mäanderschlingen auf der Grundlage historischer Karten oder noch sichtbaren Strukturen in der Landschaft zu rekonstruieren. Ist der Bau des neuen Flussbettes abgeschlossen, erfolgt die weitere Laufentwicklung auf der Grundlage eigendynamischer Entwicklungsprozesse. Bei nicht schiffbaren Gewässern kann der alte, begradigte Abschnitt zu einem Nebenoder Altarm und damit zu einem besonderen Habitat entwickelt werden – bei schiffbaren Gewässern kann nur der neue Nebenarm auf diese Weise entwickelt werden.

E3.∂

E3.2

E3.3

mäandrierenden Gewässerlauf vorgeben

begradigten Lauf einbeziehen

Gewässerverzweigung anlegen

Wahlebach, Kassel

Werse, Beckum

Losse, Kassel

Durch den Bau eines mäandrierenden Gewässerabschnitts wie beim Wahlebach in Kassel entsteht ein Gewässer mit einem vergleichsweise naturnahen Erscheinungsbild. Der Bau ist relativ aufwendig und stellt einen deutlichen Eingriff dar. Besteht die Möglichkeit, bereits vorhandene Senken im Vorland zu verbinden oder einen alten Gewässerlauf wiederherzustellen, kann dies viel Erdbewegung und Kosten einsparen. Da das Gewässer einen größeren Raum in Anspruch nimmt und in der Landschaft deutlich wahrnehmbar ist, empfiehlt sich diese Maßnahme für eine strukturelle Aufwertung von Landschaftsoder Stadträumen.

Beim Bau eines neuen Gewässerlaufs können Abschnitte des alten, begradigten Bettes als Altarm oder Auenbiotop einbezogen werden. Die Bereiche werden so angebunden, dass sie entweder permanent oder nur bei Hochwasserereignissen von den Wasserschwankungen und der Strömung des Fließgewässers beeinflusst werden. So entstehen wertvolle amphibische Rückzugsräume für Fauna und Flora. Wie bei der Werse in Beckum entsteht dadurch parallel zum Fließgewässer noch ein lineares Stillgewässer mit einer dazwischen liegenden Insel. Wird das alte Gewässerbett am oberen Ende mit einer Schwelle versehen, die nur bei Hochwasser überströmt wird, kann es Teile des Hochwasserabflusses abführen. Der alte Lauf kann so die erhöhte Rauigkeit, die durch die neue mäandrierende Form des Gewässers entstanden ist, etwas kompensieren.

Der Bau eines Nebenlaufes oder die Teilung des Gewässers kann die Strukturvielfalt und den Erholungswert des Gewässers deutlich steigern. Die Gestaltung kann unter ökologischen und ästhetischen Gesichtspunkten vorgenommen werden. Es ist allerdings zu beachten, dass die Laufverzweigung nicht zu einer deutlichen Verbreiterung des Niedrigwasserprofils führen sollte, da ein hierdurch bedingter zu niedriger Wasserstand bei geringen Abflüssen die Durchgängigkeit des Gewässers einschränkt. Bei der Teilung des Laufes wie bei der Losse in Kassel entstehen Inseln, die aufgrund ihrer Unzugänglichkeit als Rückzugsort für Vögel und Amphibien dienen und das Landschaftsbild beleben.

­– – – – – – – – IJssel, Zwolle  Δ 208 Emscher, Dortmund  Δ 256 Losse, Kassel  Δ 264

Isar, München  Δ 260 Losse, Kassel  Δ 264

Wahlebach, Kassel  Δ 268 Werse, Beckum  Δ 270

­ ––––––– – IJssel, Zwolle  Δ 208

­– – – – – – – – Losse, Kassel  Δ 264 Wahlebach, Kassel  Δ 268 Werse, Beckum  Δ 270

∂38 ∂39

Entwurfskatalog Dynamisierte Flusslandschaften

E4

Laufentwicklung begrenzen

∫  Kombinationsmöglichkeiten für alle Gestaltungsmittel aus E4 –––––––– D4.2 Lebendverbau D4.3 Steinverbau D4.4 abgetreppter Steinverbau E∂.∂ Ufer- und Sohlsicherung entfernen E∂.3 Wasserentnahme regulieren E2.∂ Gewässerprofil differenzieren E2.2 Störelemente einbringen E2.3 Geschiebezugaben

Vor dem Hintergrund der hohen Nutzungsintensität des urbanen Raumes ist der Platz, der dem Gewässer für eine eigendynamische Laufentwicklung zur Verfügung steht, oft begrenzt. Irgendwo im natürlichen Einflussbereich des Gewässers befindet sich meist ein Gebäude, eine Straße oder eine unterirdische Leitung, die nicht durch das Gewässer beeinträchtigt werden darf. Sicherungskonzepte setzen dem Fließgewässer einen Rahmen, innerhalb dessen sich morphodynamische Prozesse frei entfalten können, ohne ihre Umgebung zu gefährden. Eine „schlafende“ Ufersicherung und die Praktik der Ufersicherung im Bedarfsfall sind Gestaltungsmöglichkeiten zur Schaffung dieses meist unsichtbaren Rahmens. Im Prozessraum E ist das Leitbild der Projekte meist vergleichsweise naturnah und massive technische Bauten sind unerwünscht. Sogenannte „schlafende“ Sicherungen im Gewässervorland, beispielsweise in Form von eingegrabenen Steinriegeln, begrenzen die gewollte Laufentwicklung auf den zur Verfügung stehenden Entwicklungsraum. Erreicht die Erosion diese bis dahin unsichtbare Sicherung, bildet der durch Erosion freigelegte Steinriegel einen befestigten Uferschutz. Die Lösung der Ufersicherung im Bedarfsfall setzt der freien Laufentwicklung nicht von vornherein eine bauliche Grenze. Ausgehend von angrenzenden zu schützenden Bauwerken wie Deiche, Straßen oder Gebäude, werden Sicherheitsabstände für die Begrenzung der Eigendynamik des Gewässers definiert. Diese Sicherheitsabstände müssen regelmäßig und insbesondere im Hochwasserfall im Zuge der Gewässerunterhaltung überprüft werden. Läuft das Gewässer Gefahr, durch Erosion und Laufentwicklung den Sicherheitsabstand zu unterschreiten, wird erst in diesem Bedarfsfall das Ufer durch verschiedene Sicherungsmaßnahmen wie beispielsweise Steinschüttungen oder Vegetationsfaschinen stabilisiert. Diese Praktik erfordert eine kontinuierliche Überwachung und Begleitung des Entwicklungsprozesses. Dadurch werden im Laufe der Jahre wichtige Kenntnisse über das Gewässer gewonnen, welche dabei helfen, dessen Entwicklung zu optimieren. Die Maßnahmen ermöglichen eine systematische Einteilung des Vorlandes in Zonen, die langfristig durch die Laufentwicklung in Anspruch genommen werden, und solche, die davor geschützt sind. Die Räume können entsprechend unterschiedlich gestaltet werden. An Engstellen der Gewässer, an denen keine eigendynamische Entwicklung der Ufer möglich ist, bietet sich eine punktuelle Ufersicherung in Kombination mit Sicherungskonzepten aus Prozessraum D an, wie zum Beispiel der abgetreppte Steinverbau (D4.4 abgetreppter Steinverbau).

E4.∂

E4.2

E4.3

„schlafende“ Ufersicherung

Ufersicherung im Bedarfsfall

punktuelle Ufersicherung

Isar, München

Wahlebach, Kassel

Isar, München

Die versteckte oder „schlafende“ Ufersicherung besteht aus einem unterirdisch verlegten Steinriegel, der, wenn der sich verlagernde Gewässerlauf ihn erreicht, eine weitere Entwicklung ins Vorland unterbindet. Für den Bau dieser „schlafenden Ufersicherung“ an der Isar in München wurde Material des alten Uferschutzes wiederverwendet. Eine Kombination der unterirdischen Ufersicherung mit einem darüberliegenden befestigten Weg kann sehr interessant sein, allerdings dürfen sich auf der Sicherung keine Trampelpfade aus ungeschützter Erde bilden. Wichtig ist, dass die Vegetationsdecke oder der Wegbelag das Erdreich über der „schlafenden Sicherung“ bei Hochwasser vor Erosion schützt, da die Sicherung sonst hinterspült und dann in ihrer Funktion gefährdet werden kann.

Hier wird eine Grenze für die Laufentwicklung des Gewässers anhand eines Sicherheitsabstands definiert, damit Gebäude, Straßen oder Deiche nicht gefährdet werden. Diese Grenze wird jedoch baulich nicht gefasst, sondern nur durch fortlaufende Kontrolle und die Umsetzung von Ufersicherungsmaßnahmen bei Bedarf gesetzt. Das bedeutet, dass die Gewässerverantwortlichen auf der Grundlage ihrer Erfahrungen abschätzen, bis wohin sich das Gewässer durch Erosion ausdehnen darf, ohne beim nächsten Hochwasser sensible Bereiche zu gefährden; weiterhin dokumentieren sie regelmäßig seine Entwicklung. Besteht die Gefahr, dass der Fließgewässerlauf die gedachte Grenze überschreitet, wird durch gezielte punktuelle Eingriffe die weitere Erosion gestoppt. Das unbefestigte Gewässer des Wahlebachs in Kassel drohte einen Fußweg zu gefährden und wurde daher durch Weidenpflanzungen festgelegt. Die Maßnahme zielt darauf ab, Eingriffe zu minimieren und Kosten für präventive, aber möglicherweise überflüssige Sicherungsmaßnahmen zu vermeiden.

An Engstellen oder direkt genutzten Uferlagen ist es oft unumgänglich, innerhalb des Konzepts einer freien Uferentwicklung eine punktuelle Ufersicherung durch bauliche Befestigung zu erreichen. Dies muss die Gesamtqualität des Projekts jedoch nicht negativ beeinflussen. Diese Stellen können im Gegenteil dazu genutzt werden, interessante Aufenthaltsorte am Wasser zu schaffen. Die Sicherung kann auch sehr kleinräumig sein, indem sie die erodierende, die Ufer angreifende Kraft gezielt vom zu schützenden Ufer ablenkt und dieses so sichert. An der Isar in München wurden die zum Schutz der Brückenanlagen notwendigen punktuellen Ufersicherungen als Treppenanlagen ausgeführt und verstärken dadurch den urbanen, belebten Charakter des Gewässers im unmittelbaren Bereich der Brücke.

­ ––––––– – Birs, Basel  Δ 238 Isar, München  Δ 260

­ ––––––– – Birs, Basel  Δ 238 Wahlebach, Kassel  Δ 268

­ ––––––– – Isar, München  Δ 260 Wahlebach, Kassel  Δ 268

∂40 ∂4∂

Entwurfskatalog Dynamisierte Flusslandschaften

Projektkatalog

19 We ser

28 15 14 29 16 23

21 09

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s Em

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Elbe

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as Ma

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Do nau

24 41 Loire

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ne Rhô

05

Eb ro

20 18 17

Einführung ∂44 ∂45

Projektkatalog Einführung

34 03 04

­– – – – – – – –

A



1 2 3 4 5 6 7 8

­– – – – – – – –

B



9 10 11 12 13 14 15

­– – – – – – – –

C

16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30

­– – – – – – – –

D

31 32 33 34 35 36 37 38 39

­– – – – – – – –

E



40 41 42 43 44 45

Prozessraum A: Ufermauern und Promenaden Elster- und Pleißemühlgraben, Leipzig: Neue Ufer ∆ ∂50 Leine, Hannover: Leine Suite ∆ ∂54 Limmat, Zürich: Fabrik am Wasser ∆ ∂56 Limmat, Zürich: Wipkingerpark ∆ ∂58 Rhône, Lyon: Berges du Rhône ∆ ∂60 Seine, Choisy-le-Roi: Quai des Gondoles ∆ ∂64 Spree, Berlin: Badeschiff ∆ ∂66 Wupper, Wuppertal: Wuppertal 90° ∆ ∂68

Prozessraum B: Deiche und Flutwände IJssel, Doesburg: Wohngebiet IJsselkade ∆ ∂72 IJssel, Kampen: Hochwasserschutz in Kampen-Midden ∆ ∂74 Main, Miltenberg: Hochwasserschutzkonzept ∆ ∂78 Main, Wörth am Main: Hochwasserschutz für die Altstadt ∆ ∂80 Nahe, Bad Kreuznach: Hochwasserschutzkonzept ∆ ∂84 Waal, zwischen Afferden und Dreumel: Taillierter Deich ∆ ∂88 Waal, Zaltbommel: Uferpromenade Waalkade ∆ ∂90

Prozessraum C: Überflutungsflächen Bergsche Maas, zwischen Waalwijk und Geertruidenberg: Overdiepse Polder ∆ ∂94 Besòs, Barcelona: Ökologische Restauration ∆ ∂96 Ebro, Zaragoza: Parque del Agua ∆ ∂98 Elbe, Hamburg: HafenCity ∆ 202 Gallego, Zuera: Parque Fluvial ∆ 204 IJssel, Zwolle: Vreugderijkerwaard ∆ 208 Kyll, Trier: Renaturierung der Kyllmündung ∆ 2∂0 Maas, Maasbommel: Schwimmende Häuser im Gouden Ham ∆ 2∂2 Petite Gironde, Coulaines: Parc de la Gironde ∆ 2∂4 Rhein, Brühl: Polder Kollerinsel ∆ 2∂8 Rhein, Mannheim: Uferrenaturierung und Strandrestaurant Reißinsel ∆ 220 Seine, Le Pecq: Park Corbière ∆ 222 Waal, Gameren: Auenrenaturierung Gamerense Waard ∆ 224 Wantij, Dordrecht: Wohnsiedlung Plan Tij ∆ 228 Wupper, Müngsten: Brückenpark Müngsten ∆ 230

Prozessraum D: Flussbette und Fließräume Ahna, Kassel: Renaturierung ∆ 234 Alb, Karlsruhe: Naturnahe Umgestaltung ∆ 236 Birs, Basel: Birsvital ∆ 238 Leutschenbach, Zürich: Umgestaltung Leutschenbach ∆ 240 Neckar, Ladenburg: Grüner Ring ∆ 242 Seille, Metz: Parc de la Seille ∆ 246 Soestbach, Soest: Freilegung des Soestbachs ∆ 248 Wiese, Basel: Revitalisierung ∆ 250 Wiese, Lörrach: Wiesionen ∆ 252

Prozessraum E: Dynamisierte Flusslandschaften Emscher, Dortmund: Rückhaltebecken Mengede und Ellinghausen ∆ 256 Isar, München: Isar-Plan ∆ 260 Losse, Kassel: Lossedelta ∆ 264 Schunter, Braunschweig: Renaturierung ∆ 266 Wahlebach, Kassel: Naturnahe Umgestaltung ∆ 268 Werse, Beckum: Naturnahe Entwicklung ∆ 270

Auswahl der Projekte

In diesem Buch werden 45 sehr unterschiedliche Projekte vorgestellt, die sich auf innovative Weise mit den natürlichen Dynamiken der Fließgewässer auseinandersetzen. Bei allen Projekten handelt es sich um realisierte oder im Bau befindliche Planungen. Die Projektauswahl fand im Rahmen eines Forschungsprojekts statt und konzentrierte sich auf die Schweiz, Frankreich, Spanien, die Niederlande und Deutschland. Die Auswahl erfolgte aufgrund von Empfehlungen, der Lektüre aktueller Publikationen im Bereich der Wasserwirtschaft und der Landschaftsarchitektur, Internetrecherchen sowie des Besuches von Tagungen. Grundsätzlich wurden die Projekte besucht und die meisten wurden vor Ort mit den Planern, Ökologen und zuständigen Behörden besprochen. Die Auswahl erfolgte mit dem Ziel, möglichst viele unterschiedliche Gestaltungsansätze zu präsentieren. Es werden daher nicht nur besonders spektakuläre Projekte gezeigt. Auch wenn ein Projekt einen Aspekt repräsentiert, den kein anderes Projekt aufweist, war dies ein Kriterium zur Aufnahme in die Auswahl. Das Spektrum reicht von kleinräumigen Eingriffen, wie die Aufwertung einer Uferpromenade durch ein schwimmendes Café oder eine Ufertreppe, bis zu großräumigen Projekten, die über mehrere Kilometer verrohrte Bachläufe revitalisieren oder viele Hektar große Retentionsräume zum Schutz der Städte vor Hochwasser schaffen. Gemeinsam ist allen Projekten ein multifunktionaler Ansatz, der mindestens zwei der drei im Teil 1 (Grundlagen) beschriebenen Zielsetzungen – Hochwasserschutz, Verbesserung der ökologischen Situation und Aufwertung der Freiräume – berücksichtigt.

Ordnung der Projekte

Die Sortierung des Projektkatalogs erfolgt nach den im Teil 2 (Entwurfskatalog) entwickelten Prozessräumen. Dadurch stehen Projekte ähnlicher räumlicher Situationen zusammen, wie zum Beispiel Ufermauern und Promenaden im Prozessraum A oder Deiche und Flutwände im Prozessraum B. Innerhalb der Prozessräume sind die Projekte alphabetisch nach Flüssen geordnet. Verschiedene Projekte am selben Fluss finden sich so nebeneinander, selbst wenn sie in verschiedenen Ländern liegen. Die Projekte sind immer demjenigen Prozessraum zugeordnet, der den Hauptaspekt der Gestaltung bildet. Dieser Prozessraum, dem dann auch die wesentlichen Gestaltungsmittel entstammen, wird durch einen dunkelblauen Reiter am Blattrand gekennzeichnet. Bei großräumigen Projekten oder solchen mit wechselnder topographischer Ausprägung können sich Maßnahmen aus unterschiedlichen Prozessräumen finden. Die Isar zum Beispiel ist dem Prozessraum E (Dynamisierte Flusslandschaften) zugeordnet, da es vor allem um das Zulassen und Initiieren von dynamischen Prozessen im Flussraum geht. Im Projekt wurden aber auch stellenweise die Deiche verstärkt oder punktuell Treppen zur Uferbefestigung angelegt. Diese Maßnahmen sind charakteristisch für andere Prozessräume; sie werden durch einen hellblauen Reiter markiert.

Dokumentation der Projekte

∂46 ∂47

Projektkatalog Einführung

Die wichtigste Verknüpfung zwischen der Projekt‑ beschreibung und dem Entwurfskatalog stellt die Auflistung aller bei dem Projekt verwendeten Gestaltungsmittel und -maßnahmen am linken Seitenrand dar. Durch die Zuordnung zum Prozessraum sowie der Nummerierung können diese Beschreibungen im ersten Band rasch gefunden werden. So lassen sich sowohl weitere Gestaltungsmittel entdecken, die in diesen Prozessraum passen, als auch andere Projekte, die dieselben Gestaltungsmittel oder -maßnahmen verwenden. Neben Fotos verdeutlichen Prinzipschnitte den Projektansatz. In den Schnitten wird, ebenso wie in den Beschreibungen der Prozessräume im zweiten Teil, mit der Farbe Grün die Überflutungsgrenze angegeben, mit der Farbe Rot die Grenze der eigendynamischen Laufentwicklung angezeigt. Durch das Einzeichnen dieser Begrenzungen, die im urbanen Raum und in der Kulturlandschaft immer künstlich gesetzt sind, wird ein vertieftes Verständnis des Projekts im Hinblick auf die Gewässerprozesse möglich und die Zuordnung zu einem Prozessraum nachvollziehbar. Neben Anlass und Projektzielen liegt in den Projektbeschreibungen ein besonderer Akzent auf der Frage, mit welchen Mitteln sich die Planer mit den dynamischen Gewässerprozessen beim jeweiligen Projekt auseinandergesetzt haben.

Zur geographischen Einordnung gibt es für jedes Projekt am linken Rand eine kleine Übersichtskarte unterschiedlichen Maßstabs, die seine Lage im Stadtraum zeigt. Daneben finden sich die wichtigsten Daten zum Gewässer im Projektgebiet: Größe des Einzugsgebiets; der mittlere und der 100-jährliche Abfluss sowie die Breite des Flussbettes und der Aue vermitteln einen Eindruck von Größe und Charakter des Fließgewässers. Für die deutschen Projekte wurde auch der Flusstyp gemäß der Einteilung in 25 verschiedene Fließgewässertypen der LAWA (Länderarbeitsgemeinschaft Wasser) angegeben [Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, 2008]. Für die Projekte in den Niederlanden wurde die „Übersicht über natürliche Gewässertypen“ herangezogen [Stichting toegepast onderzoek waterbeheer, 2005]. Da für die übrigen untersuchten Projekte keine vergleichbaren Kategorisierungen gefunden wurden, war hierzu keine Angabe möglich. Zur genauen Auffindbarkeit des Standortes sind die geographischen Koordinaten angegeben. Die Projektbeteiligten, soweit sie zu ermitteln waren, werden im Anhang genannt.

Quellen Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU), 2008. Wasserblick. Bund-, Länder-, Informations- und Kommunikationsplattform. Fließgewässertypen. Berlin. http://wasserblick.net/servlet/is/18727/?lang=de, 31.3.2010 Stichting toegepast onderzoek waterbeheer (stowa), 2005. Overzicht natuurlijke watertypen 2005–08. Utrecht: Selbstverlag. http://www.stowa.nl/uploads/themadownloads2/ mID_4910_cID_3900_97529197_gids%20totaal.pdf

A

Ufermauern und Promenaden

∂48 ∂49

Projektkatalog Ufermauern und Promenaden

Leine, Hannover

1

Elster- und Pleißemühlgraben Neue Ufer, ab 1996 Leipzig, Deutschland Flussdaten Projektgebiet Gewässertyp: künstlich angelegter Mühlkanal Einzugsgebiet: