Möglichkeitsräume gestalten: Eine urbane Rekartografie des Sulzer-Areals in Winterthur, 1989-2009 [1. Aufl.] 9783839419977

Das ehemals von der Metallindustrie geprägte Sulzer-Areal in Winterthur hat sich binnen der letzten 20 Jahre von einem I

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German Pages 300 Year 2014

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Table of contents :
INHALT
Vorwort
Einführung
Möglichkeitsräume und Stadterneuerung
Das Sulzer-Areal in Winterthur
Strukturwandel, Kulturökonomie und Industriekultur in der spätmodernen Stadt: Das Beispiel Winterthur
Die Produktion des Raumes und dessen Rekartografie
Möglichkeitsräume (er)finden Das Sulzer-Areal Stadtmitte
Das Umgestaltungskonzept „Winti-Nova“
Die Opposition wendet sich gegen „Winti-Nova“
Die Motive der Bürgerinitiative
Die Sitzungen der Veranstaltungsreihe
Der Raum und das kollektive Gedächtnis
Die Inventarisierung des Sulzer-Areals
Die Werkstatt ’90 als Auftakt der Stadtentwicklung
Anhörungen und Empfehlungen
Methoden des Stadtumbaus
Das Megalou-Projekt von Jean Nouvel
Der Architektur-Wettbewerb „Sulzer-Areal Zürcherstraße“
Die Präsentation des Umnutzungskonzeptes
Die Planungen und Projekte nach Megalou
Wahrnehmung und Imagination — Die Freiraumgestaltung
Möglichkeitsräume auf dem Sulzer-Areal
Temporäre Umnutzungen
Heterotopien und die „anderen Räume“
Die Stadt als medialer Raum
Die nachhaltige Stadt
Literatur
Experteninterviews
Anhang
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Möglichkeitsräume gestalten: Eine urbane Rekartografie des Sulzer-Areals in Winterthur, 1989-2009 [1. Aufl.]
 9783839419977

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Hermann-Josef Krug Möglichkeitsräume gestalten

Urban Studies

Hermann-Josef Krug (Dr. phil.) arbeitet als Medienwissenschaftler, Pädagoge und Künstler. Sein Forschungsschwerpunkt bewegt sich im Spannungsverhältnis zwischen Kunst und Stadtgestaltung.

Hermann-Josef Krug

Möglichkeitsräume gestalten Eine urbane Rekartografie des Sulzer-Areals in Winterthur, 1989-2009

Dissertation der Universität Konstanz Tag der mündlichen Prüfung: 5. Mai 2011 Referent: Professor Dr. Stefan Kramer Referent: Professor Dr. Albert Kümmel-Schnur.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Hermann-Josef Krug | Sulzer | 2003 | Öl auf Leinwand über Digi-Print Korrektorat: Tanja Jentsch, Bottrop Satz: Hermann-Josef Krug Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1997-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

I NHALT Vorwort | 7 Einführung | 11 Möglichkeitsräume und Stadterneuerung | 20 Das Sulzer-Areal in Winterthur | 24 Strukturwandel, Kulturökonomie und Industriekultur in der spätmodernen Stadt: Das Beispiel Winterthur | 35 Die Produktion des Raumes und dessen Rekartografie| 49 Möglichkeitsräume (er)finden Das Sulzer-Areal Stadtmitte | 57 Das Umgestaltungskonzept „Winti-Nova“ | 57 Die Opposition wendet sich gegen „Winti-Nova“ | 79 Die Motive der Bürgerinitiative |79 Die Sitzungen der Veranstaltungsreihe | 88 Der Raum und das kollektive Gedächtnis |113 Die Inventarisierung des Sulzer-Areals |115 Die Werkstatt ’90 als Auftakt der Stadtentwicklung |151 Anhörungen und Empfehlungen |153

Methoden des Stadtumbaus |163 Das Megalou-Projekt von Jean Nouvel |177 Der Architektur-Wettbewerb „Sulzer-Areal Zürcherstraße“ | 177 Die Präsentation des Umnutzungskonzeptes |183 Die Planungen und Projekte nach Megalou |200 Wahrnehmung und Imagination — Die Freiraumgestaltung |205 Möglichkeitsräume auf dem Sulzer-Areal |213 Temporäre Umnutzungen |214 Heterotopien und die „anderen Räume“ |221 Die Stadt als medialer Raum |241 Die nachhaltige Stadt |247

Literatur | 259 Experteninterviews | 269 Anhang |271

V ORWORT Die vorliegende medienwissenschaftliche Arbeit befasst sich mit dem „SulzerAreal Stadtmitte“ in Winterthur (Schweiz), das sich in den Jahren 1989 bis 2009 von einem monofunktionalen Industriegebiet zu einem durchmischten Stadtteil entwickelte. Sie dokumentiert den sukzessiven Abschied der Weltfirma Sulzer von einem ihrer traditionsreichen Industriestandorte und untersucht die politische, ökonomische, soziale und kulturelle Bedeutung des Sulzer-Areals für die Stadt Winterthur. Während meiner mehrjährigen Forschungstätigkeit blieben mir trotz zahlreicher Anfragen die Türen des Sulzer-Archives verschlossen. Erst beim Abschluss dieser Arbeit erhielt ich Zutritt in das Fotoarchiv der Firma Sulzer, um die historischen Bilder für dieses Buch zusammenstellen zu können. Meine Recherchen stützen sich auf zahlreiche Interviews von Schlüsselpersonen und Dokumenten aus privaten und öffentlichen Archiven. Sie begannen mit der Kontaktaufnahme zu dem Züricher Architekten Roger Nussbaumer. Er empfahl mir, mit seinem Kollegen Beat Rothen in Winterthur zu sprechen, der sich mit dem Sulzer-Areal eingehend auseinandergesetzt hatte. In mehreren Gesprächen gab mir dieser wertvolle Einblicke in die aktuelle Entwicklung. Für weitere Nachforschungen verwies er mich auf Walter Muhmenthaler, den Leiter der Areal- und Projektentwicklung der Sulzer Immobilien AG. Seine Kenntnisse über das Industriegelände erlaubten mir tief greifende Einblicke in die Geschichte des neu zu schaffenden Winterthurer Stadtteils. Er gewährte mir freundlicherweise einen Einblick in die Wettbewerbsunterlagen des französischen Architekten Jean Nouvel aus dem Jahre 1992. Auch konnte ich mit seiner Unterstützung eine Verbindung zum ehemaligen Leiter der Sulzer Immobilien AG, Paul Wanner, herstellen, der mich über die Gesamtplanungsstudie „Winti-Nova“ ausführlich informierte. Die Architekten Peter Stutz und Heinrich Irion halfen mir bei der Forschung über die oppositionelle Veranstaltungsreihe „Die Neustadt aus der Werkstadt“, die im Jahre 1990 auf die Präsentation der Gesamtplanungsstudie „Winti-Nova“ reagierte. Sie öffneten ihre privaten Archive und händigten mir zahlreiche Dokumentationen aus. Eine freudige Überraschung erlebte ich, als mir Heinrich Irion mitteilte, der Architekt Arnold Amsler habe zahlreiche Ordner und Tonbandmitschnitte der Veranstaltungsreihe gefunden. Die Architekten stellten

mir diese zusätzlichen Quellen zur Verfügung und leisteten damit einen wertvollen Beitrag für meine Beschreibung der sozialen Bewegung Winterthurs. Der Industriearchäologe Dr. Hans-Peter Bärtschi brachte mir die Entstehungsgeschichte des Sulzer-Areals näher. Um die Unterlagen zur Unterschutzstellung aus dem Jahre 1990 zu finden, empfahl er, das Archiv der Kantonalen Denkmalpflege Zürich aufzusuchen. Der dortige Ressortleiter Thomas Müller ermöglichte mir den Einblick in die Gutachten und Stellungnahmen der Inventarisierung des Sulzer-Areals. Ohne seine Hilfe hätte ich die zwischen den Denkmalschützern und der Firma Sulzer stattgefundenen Diskussionen nur unzureichend dokumentieren können. Der Winterthurer Stadtbaumeister Michael Hauser, der Denkmalpfleger Dr. Daniel Schneller und der Stadtplaner Beat Suter gaben mir Auskunft über die „Werkstatt ’90“ und die Stadtentwicklung in Winterthur. Weitere Informationen fand ich im Winterthurer Stadtarchiv, dessen Mitarbeiter mich bei meiner Forschung engagiert unterstützten. Viele wichtige Schlüsselpersonen der Arealentwicklung zeigten sich für meine Arbeit aufgeschlossen. Luise Hilber, die Geschäftsführerin der „intosens ag“, stellte mir die Dokumente der Vermarktungsgeschichte Megalous zur Verfügung. Der Winterthurer Stadtpräsident Ernst Wohlwend erläuterte mir die Rolle der Stadt bei der Umgestaltung des Sulzer-Areals. Die Vertreter des „Arealvereins Lagerplatz“, Manuel Lehmann und Marco Frei, sowie der Mitbegründer der Baseler Kantensprung AG, Eric Honegger, erteilten mir zahlreiche Auskünfte zur Geschichte des Lagerplatzes in Winterthur und des Gundeldinger Felds in Basel. All diesen genannten Kontaktpersonen danke ich für ihre freundliche Unterstützung bei meiner Arbeit. Ein ganz besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Stefan Kramer, welcher die Bedeutung des Themas für die medienwissenschaftliche Forschung erkannte. Er begleitete und förderte mich mit vielen wertvollen Anregungen. Darüber hinaus prägte er unsere Zusammenarbeit mit seinem Entgegenkommen und seiner Offenheit. Diese Atmosphäre ermutigte mich zur Weiterentwicklung und Umsetzung meiner Ideen während dieser arbeitsintensiven Zeit. Herrn Prof. Dr. Albert Kümmel-Schnur danke ich für das Interesse an meiner Arbeit und für die Betreuung als zweiter Gutachter. Die Gewissheit, seinen Rat stets einholen zu können, bestärkte mein Vertrauen in den Erfolg dieses Projektes. Aufschlussreiche Diskussionen und anregende Gespräche mit meinen Freunden und Kollegen gaben dieser Arbeit immer wieder neue Impulse. Besonders erwähnen möchte ich Waltrud Fabian, Dr. Rüdiger Rogoll, Manfred Montwé und Anita Petersen, die meine Untersuchung mit konstruktiver Kritik und ermutigenden Anmerkungen begleiteten. Eine große Stütze bei der Recherche waren mir die Mitarbeiterinnen der Stadtbücherei Bad Saulgau.

Mein großer Dank gilt meiner Lebensgefährtin Solweig Fischer, die in Winterthur wohnt. Gemeinsam entdeckten wir das Sulzer-Areal und als wichtigste Ansprechpartnerin hatte sie stets ein offenes Ohr und unterstützte mich in vielfältiger und liebevoller Weise.

E INFÜHRUNG „Der Urbanismus aller Zeiten war und bleibt der plastische Ausdruck der herrschenden Macht und der massgebenden Kräfte in der Gesellschaft.“ Hannes Meyer, 1945 An einem kalten Dezemberabend des Jahres 2003 entdeckte ich das SulzerAreal in Winterthur. Zufällig lief ich über einen großen leeren Platz und fand eine lang gezogene Halle, aus deren großen Fenstern buntes Licht leuchtete. Da die schwere Stahltür einen Spalt geöffnet war, schob ich neugierig den Türflügel auf und betrat das Gebäude. Dort befand sich eine Gruppe junger Menschen, die eine Technoparty vorbereiteten. Als ich mich umblickte, sah ich einen riesigen Raum mit gewaltigen Stahlsäulen, verschiedenen Lastkränen, Arbeitsbühnen, Rampen und Abluftinstallationen. Um die Ton- und Lichttechniker nicht allzu sehr zu stören, machte ich schnell einige Aufnahmen, verließ den Raum und beschloss, am nächsten Tag zurückzukehren, um mir das Gebäude nochmals genauer anzusehen. Bei meinem zweiten Besuch entdeckte ich nicht, wie erwartet, ein einzelnes Industriegebäude, sondern ein ganzes Ensemble von Gebäudekomplexen. Da einige Gebäude gerade umgebaut wurden und die Arbeiter die Räume offen ließen, konnte ich unbehelligt die ehemaligen Industriebauten betreten. Fasziniert lief ich durch die riesigen Bauwerke, deren Ausstattung ich bei Tageslicht noch genauer wahrnehmen konnte. Da ich mich bereits in den 1990er Jahren mit der künstlerischen Umsetzung von industriellen Produktionsanlagen befasst hatte, fiel mein sensibilisierter Blick zunächst auf die ästhetische Erscheinung und geisterhafte Anmutung dieser beeindruckenden Gebäude. Am meisten imponierten mir die Hektarenhalle und die Eisengießerei. Die technischen Stahlskelette, die gespenstische Leere, die Gerüche und die gedämpfte Akustik hinterließen einen so starken sinnlichen Eindruck, dass ich beim Durchqueren plötzlich das Gefühl hatte, mich nicht mehr in einem industriellen Gebäude zu befinden, sondern in einer Kathedrale. Die ausgeräumte Eisengießerei und die marode Hektarenhalle – in ihr wurden die gigantischen Schiffsmotoren für Ozeandampfer gebaut – erinnerten mich mit ihren gewaltigen Stahlträgern und Abluftrohren, mit ihren verschiedenen Arbeitsebenen und hohen Räumen an Fritz Langs Filmkulisse von „Metropolis“. Vor meinem

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geistigen Auge standen unzählige Arbeiter vor riesigen Maschinen und bedienten verschiedene Regler, Steuerknüppel, Ventilräder und elektrische Schalter. In diesem Augenblick erschien dieser Ort in Winterthur wie eine verlassene Theaterbühne und ich stellte mir die Frage, wie sie eine neue Aufgabe in einer künftigen Aufführung erhalten könne. Um eine Antwort darauf zu finden, besuchte ich während meiner Studienzeit an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Zürich regelmäßig das Sulzer-Areal. Bei einem Ausflug im Sommer 2004 erlebte ich eine weitere Überraschung. Ich blickte hinter die Hallen des Teilareals Lagerplatz und entdeckte auf den ehemaligen Bahngleisen eine kleine Gartenanlage. Die Mieter hatten auf den kontaminierten Böden unterschiedliche Beete angelegt und die brachliegenden Flächen zu kleinen grünen Oasen verwandelt. 1 Später hörte ich, dass sich diese Guerillagärtnerei, die sich der heimlichen Aussaat von Pflanzen zur Verschönerung trister Innenstädte verschrieben hat, in 2 vielen ehemaligen Industriestädten dieser Welt wiederholt. Aufgrund dieser Entdeckungen begann ich, intensiv über Industriebrachen und ihre Umnutzungen zu forschen. Im Laufe meiner Recherchen erfuhr ich, dass es Orte gibt, die angesichts der veränderten ökonomischen Situ3 ation schrumpfen. Während in den letzten 100 Jahren die Bevölkerung rapide anwuchs und sich in großstädtischen Ballungsräumen konzentrierte, zeichnete sich am Ende des 20. Jahrhunderts in vielen Städten eine gegenläufige Bewegung ab. Ehemalige Industriegebiete, darunter Städte wie Manchester, Birmingham, Bitterfeld, Wolfen-Nord, Halle oder Detroit erfuhren durch den Nieder4 gang der industriellen Produktion einen Bevölkerungsschwund.

Abbildung 1: Karte Sulzer-Areal/Eisengießerei. Die den Fotografien beigefügten Karten werden nachfolgend nicht mehr als gesonderte Abbildungen gekennzeichnet. Der besseren Übersicht halber sind die beiden Fabrikgelände der Schweizerischen Lokomotiv- und Maschinenfabrik (SLM), das SLM-Werk 2 und das SLM-Werk 3, bei den meisten Karten nicht aufgeführt. Quelle: Modifiziert übernommen aus: http://sulzerareal.com/sulzerareal/ arealplan.html, Stand: 30.3.2007. 1| 2| 3| 4|

Vgl. http://www.guerrillagardening.org, Stand: 16.3.2010. Vgl. Lauinger (2005), S. 156ff. Vgl. Oswalt (2004). Vgl. Oswalt (2005).

Einführung

Ähnlich, allerdings nicht mit der gleichen politischen, sozialen und demografischen Härte wie in Ostdeutschland, erging es Winterthur in den 1990er Jahren. Nachdem der Großkonzern Sulzer verschiedene Teile seiner Produktionsflächen stilllegte und die Bereiche der Motorenproduktion und der Textilmaschinenherstellung verkauft hatte, blieben riesige Industrieareale in zentraler Lage zurück. Noch in den 1980er Jahren war das Sulzer-Areal ein klassisches Industriegelände, in dem sich ein verschachteltes Ensemble von Fabrikhallen, Verwaltungs- und Lagergebäuden befand. Weil das Areal bewacht, abgeschlossen und nur für Betriebsangehörige der Firma Sulzer zugänglich war, bezeichneten die Stadtbewohner diesen Bezirk als die „Verbotene Stadt“. Seit der Öffnung der Werktore in den 1990er Jahren bietet das Sulzer-Areal eine ideale Projektionsfläche für städtebauliche Ideen und Visionen. Gleichzeitig öffnet sich das Quartier mit den riesigen, leer stehenden Gebäudekomplexen auch als Möglichkeitsraum für soziale und wirtschaftliche Experimente wie etwa Start-upFirmen, Theater oder Bars.

Abbildung 2: Eisengießerei. Quelle: Krug, 2003.

Da ich einige Jahre zuvor die Schrumpfungsprozesse in Bitterfeld und Wolfen5 Nord dokumentiert und die Ergebnisse in Kunstausstellungen vorgestellt hat6 te, wollte ich meine künstlerische Arbeit mit den Erfahrungen aus Winterthur erweitern. Wie in Bitterfeld bedeuteten für mich die Industriehallen den Abgesang einer zu Ende gehenden Epoche. Mehr noch, mit der Einstellung der Produktion drohte ein Abriss dieser für mich so faszinierenden technischen Archi5 | Vgl. Drabe (2002). 6 | Vgl. Fabian (2004), S. 44.

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tektur. Um die Bilder vor dem drohenden Rückbau rechtzeitig festzuhalten, dokumentierte ich mit dem Fotoapparat die Veränderungen des Sulzer-Areals. Während dieser Arbeit fragte ich mich, weshalb verlassene Industrieareale eine so große Faszination ausüben können.

Abbildung 3: Werkgelände in Bitterfeld, Deutschland. Quelle: Krug, 2004.

Einen ersten Hinweis auf diese Fragen erhielt ich durch den Film „Stalker“ von 7 Andrei Tarkoswski. Der Science-Fiction-Film handelt von einem seit Jahren 8 zurückliegenden Besuch Außerirdischer. In der Landezone des Raumschiffs, einem ehemaligen Industriegebiet, ereignen sich seit der Ankunft der exterrestrischen Wesen unerklärliche Dinge. Naturgesetze scheinen aufgehoben, merkwürdige Gegenstände werden gefunden und seltsame Fallen bedrohen jeden Eindringling. Um die Menschen vor den Gefahren zu schützen, sperrt die Regierung diese bedrohliche Zone ab und lässt sie von Polizei und Militär streng bewachen. Trotzdem dringen in dieses Areal immer wieder tollkühne Menschen mit Hilfe von ortskundigen Pfadfindern, den Stalkern, ein. Ihr Ziel ist es, einen sagenumwobenen Raum zu finden, in dem sich – so die Legende – die geheimsten Wünsche der Menschen erfüllen sollen. Mit diesem Versprechen entwickelt sich dieser geheimnisvolle Raum zu einem Ort der Hoffnung. Die Gebrüder Strugatzki, die für Tarkowskis Film die Vorlage lieferten, verbinden 7 | Vgl. Spielfilm: Stalker, Regisseur: A. Tarkowski, Deutschland/Sowjetunion, 1979. 8 | Die literarische Vorlage des Films ist der Roman Picknick am Wegesrand. Tarkowski weicht von dieser Vorlage ab. Während der Roman die Fähigkeit der Wunscherfüllung einer goldenen Kugel zuweist, handelt es sich im Film um einen geheimnisvollen Raum. Vgl. Strugatzki (1981).

Einführung

mit diesem Raum ihre Forderung nach einem menschenwürdigen Leben für alle. In diesem Sinne mündet der Wunsch ihres Protagonisten in einen utopischen Appell: „Der Teufel soll mich holen, aber mir fällt tatsächlich nichts ande9 res ein […]: Glück für alle, umsonst, niemand soll erniedrigt von hier fortgehn!“ Das Sulzer-Areal und die Zone betrachtete ich als Synonyme: Sowohl der Film als auch das Winterthurer Industriegelände besitzen einen lokalisierbaren Möglichkeitsraum, den die Menschen aufsuchen, um ihre Träume und Wünsche zu erfüllen. In erster Linie bedeutete das Areal für mich einen Ort der künstlerischen Imagination und Inspiration.

Abbildung 4: Hektarenhalle. Ein Fernsehgerät wurde von Unbekannten in das Holzparkett eingegraben. Quelle: Krug, 2004. Abbildung 5: Hektarenhalle, historische Aufnahme. Quelle: Sulzer-Archiv, Winterthur. Notiz | Wahrnehmung und Imagination während meines Besuches der Hektarenhalle im Oktober 2004: In den Innenräumen des Sulzer-Areals gibt es merkwürdige Funde. Der Fussboden in der Hektarenhalle ist aufgerissen und wie in einer klaffenden Wunde steckt ein Fernsehgerät im Holzparkett, so als hätte jemand das Gerät mit voller Wucht in die Halle geschleudert. „Welche merkwürdigen Dinge geschehen hier?“ überlege ich. Scherzhaft frage ich mich: „Erwarten mich hier, wie in Strugatzkis Roman, seltsame Phänomene, welche die naturwissenschaftlichen Gesetze aufheben?“ Die Lastwagen in der riesigen Hektarenhalle wirken, von einer Empore aus betrachtet, unwirklich und wie kleine Spielzeugautos. Gerade dieses Wechselspiel

9 | A.a.O., S. 188.

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von Wahrnehmung und Imagination, Zone und Sulzer-Areal, Realität und Fiktion fasziniert mich.

Um herauszufinden, wie dieser Raum auf andere Menschen wirkt und welche Assoziationen er bei ihnen auslöst, organisierte ich im Rahmen der Veranstal10 tungsreihe „13 OPTIONS FOR A DIALOGUE“ einen Workshop. Ich lud Studierende und Lehrende der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich ein, die Werkhallen des Sulzer-Areals zu besichtigen und Ideen für eine Kunstaktion zu entwickeln. Bevor wir am Abend des 24. Oktober 2004 den Rundgang begannen, umriss ich mit wenigen Worten die Aufgabenstellung: Die Teilnehmer sollten mit mir drei ausgewählte Industriegebäude – die Eisengießerei, die Hektarenhalle und den Block – besuchen, dabei wortlos durch die Hallen wandern und anschließend ihre Erfahrungen, Empfindungen und Imaginationen innerhalb der Arbeitsgruppe austauschen.

Abbildung 6: 13 OPTIONS FOR A DIALOGE – Führung durch das Sulzer-Areal. Quelle: Michael Held, 2004.

Die Führung begann in der ehemaligen Eisengießerei. Da sie spärlich ausgeleuchtet war, betraten die Besucher vorsichtig und zögerlich das erste Gebäude. Sie liefen durch die riesige Halle, schauten in die unbeleuchteten Ecken und Winkel und kehrten anschließend zur Kleingruppe zurück. Als einige Studierende eine etwa fünf Meter hohe Leiter entdeckten, kletterten sie auf den 10 | „13 options for a dialogue“ war eine Veranstaltungsreihe des Studiengangs „design culture“ an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich. Joachim Maier thematisierte das Design-Forschungskonzept und diese Veranstaltungsreihe in seinem Buch. Vgl. Maier (2006), S. 50ff.

Einführung

Eisensteg, hangelten sich am Geländer entlang und betrachteten von einer Stahlplattform die Kräne und technischen Geräte. Nach einer halben Stunde führte ich die Gruppe zur zweiten Halle, der Hektarenhalle. Wir standen in einem riesigen dunklen Raum, in den das gedämpfte Licht der Straßenlaternen durch die zersplitterten Glasfenster fiel. Die Teilnehmer nahmen einen modrigen Geruch von Abraumerde und alten Baustoffen wahr und betrachteten in eisiger Kälte die riesigen Abluftrohre, die vormals für die zahlreichen Testläufe der dort gebauten Schiffsmotoren benutzt worden waren.

Abbildung 7: Sulzerdreams, Fotomontage. Im Atelier stelle ich eine Reihe von Collagen und Fotomontagen her, die sich mit meinen Imaginationen befassen. Der Torus erinnert mich an die Kupferscheiben, die sogenannten Nullen in Strugatzkis Roman, die frei schwebend und nur von einem bläulichen Fluidum getrennt aus der Zone geschmuggelt und auf dem Schwarzmarkt verkauft wurden. Quelle: Krug, 2004.

Wir durchschritten vorsichtig den durch Bauzäune abgesicherten Raum. Da der Industrie-Estrich aufgerissen und der Boden uneben war, fiel es manchen Teilnehmern schwer, sich sicher zu bewegen. Gelegentlich stolperten sie über einen Gesteinsbrocken oder ein umherliegendes Brett. Nach dieser Erkundung begaben wir uns zum Ausgang, und ich führte sie in die dritte Halle, den Block. In diesem ehemaligen Industriegebäude, das inzwischen als Freizeitanlage genutzt wird, fanden wir eine Kartbahn, eine Sportanlage und ein Bistro vor. Nach dem Öffnen der großen Türe wurde es laut und die verschiedenartigen Geräusche der Menschen und Fahrzeuge drangen zum Eingang. Wir betraten einen hellen, beheizten Raum und im Gegensatz zu den beiden vorherigen Hallen fanden wir dort ein reges Leben vor.

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Zum Abschlussgespräch wechselten wir in das Gründergebäude. Die Teilnehmer schilderten ihre Eindrücke und Empfindungen beim Durchwandern der alten Industriehallen. Sie sprachen von einer „speziellen Atmosphäre“ der Räume, von ihrer Neugier und ihren Imaginationen. Ein Student berichtete über ein zurückliegendes Erlebnis, bei dem er in einer ähnlichen Halle eine Schlägerei hatte. Aus diesen Gründen empfand er diese Gebäude als bedrückend. Andere erinnerten sich beim Anblick der riesigen Abluftrohre an das Bühnenbild eines Theaters. Manche hatten den Eindruck, dass sie die Funken der ehemals dort arbeitenden Schweißer und die Geräusche der Maschinen „förmlich gespürt“ hätten. Während ihnen die große Hektarenhalle wie ein überdimensionales Schiff vorkam, nahmen sie die Unebenheiten des Bodens wie Wasserwellen wahr. Die Eisengießerei beeindruckte die Besucher der Stille, der Dunkelheit und der Leere wegen. Aufgrund dieses Dreiklangs empfanden viele eine Spannung im Raum. Sie sprachen von einem „Walderlebnis“, da die Stahlskelettsäulen wie große Bäume im Raum standen und, je weiter man nach hinten blickte, in der Dunkelheit verschwanden. Die Ideen einer künstlerischen Intervention kreisten zwischen verschiedenen Videoinstallationen, welche die Geschichte der ehemaligen Produktion reflektieren sollten, bis hin zum Vorschlag, einen gewaltigen Stahltorus in der Hektarenhalle schweben zu lassen. Eine wagemutige Empfehlung lautete, einen kompletten 100.000 PS Sulzer-Schiffsdieselmotor in der Eisengießerei nachzubauen und dort unter ohrenbetäubendem Lärm laufen zu lassen. Manche Teilnehmer vertraten dagegen die Meinung, dass es vollkommen genügen würde, die leeren Hallen als begehbares Kunstwerk zu öffnen. Eine entscheidende Rolle für diese wissenschaftliche Arbeit spielte Lau11 rent Malone. Der französische Konzeptkünstler fand auf dem Boden eine alte Fotografie, worauf ein Arbeiter der Firma Sulzer abgelichtet war. Nachdem er den Teilnehmern das Foto gezeigt hatte, empfahl er mir, das Augenmerk auf den sozialen Raum, vor allem auf die Ursache und die Auswirkung der Werksschließung, zu richten. Erst nach einer genauen Recherche sollte das künstlerische Konzept entwickelt werden. Sein Einwand bewog mich, die Pläne für eine künstlerische Rauminstallation zunächst zurückzustellen und mich anderen Kunstprojekten zuzuwenden. Erst zwei Jahre später sollte ich Laurents Idee wieder aufnehmen. Während eines medienwissenschaftlichen Forschungskolloquiums an der Universität Konstanz ermunterten mich die Professoren Ste11 | Der französische Konzeptkünstler Laurent Malone war zusammen mit dem deutschen Grafiker Axel Steinberger mein Mentor bei der Planung, Durchführung und Auswertung dieses Workshops. Beide Personen gehörten zum Netzwerk „Intégral concept“. Ruedi Baur, der Begründer dieses internationalen Kunst- und Design-Netzwerkes, leitete den Studiengang „design culture“ an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Zürich. Vgl. http://designculture.zhdk.ch/pages/home.php?lang=DE, Stand: 24.10.2010.

Einführung

fan Kramer und Albert Kümmel-Schnur dazu, meine künstlerische Arbeit mit einer wissenschaftlichen Forschungsarbeit über das Sulzer-Areal zu vertiefen. Nach einer kurzen Bedenkzeit nahm ich diesen Vorschlag an und begann, diese Forschungsarbeit zu schreiben. Wie der Schatzsucher in Tarkowskis Film begab ich mich von Neuem in die Winterthurer „Zone“, um die verschiedenartigsten Schätze, wie Fotos, Skizzen, Pläne, Zeichnungen oder Tonbandkassetten zu „bergen“. Ich interviewte Stadtplaner, Architekten, Investoren, Grundeigentümer und Denkmalpfleger, recherchierte in Archiven, durchforstete Zeitungsartikel, Planungsstudien und die Fachliteratur. Aus diesen Quellen entwickelte ich meine „Landkarte“ der vorliegenden Arbeit, die ich als die Rekartografie des Sulzer-Areals bezeichne. Mit ihr will ich den sozialen Raum untersuchen und diese Forschungsarbeit dokumentieren.

Abbildung 8: Hektarenhalle. Im 20. Jahrhundert noch emsiges Arbeiten – danach Leerstand. Die Schiffsmotoren füllten den Raum – der Lastwagen wirkte wie ein Spielzeugauto. Quelle: Krug, 2004.

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Möglichkeitsräume und Stadterneuerung Bei dieser Forschungsarbeit geht es um das von der Metallindustrie geprägte Sulzer-Areal in Winterthur/Schweiz, das sich binnen zweier Dekaden von einem Industriegebiet zum multifunktional durchmischten Raum mit Wohnungen, Freizeiteinrichtungen, Geschäften und Arbeitsplätzen entwickelte. Dieses Areal kann man als ein Palimpsest betrachten, welches wie ein Manuskript immer wieder neu beschrieben wird und als Erinnerungsraum und Speichermedium des Räumlichen zu verstehen ist. Zwar besitzen Orte kein 12 immanentes Gedächtnis, doch sind sie für die Konstruktion kultureller Erinnerungsräume durchaus von Bedeutung, weil sich darin die Spuren vergangener Ideen und Raumkonstruktionen in Form von Architektur, Lebensstilen oder Atmosphären spiegeln. Im Hinblick auf diese Vorüberlegungen gehe ich davon aus, dass sich die Einschreibungen der Vergangenheit am Ort ablesen lassen, und damit zusammenhängend die zukünftige Raumproduktion beeinflussen. Die Macht der Pläne und Konzepte, d.h. die Art und Weise, wie sie die politischen Diskussionen beeinflussen, wie sie Reaktionen bei Bürgern und Fachleuten auslösen und wie sie als Katalysator der Erzeugung von Möglichkeitsräumen dienen können, soll anhand verschiedener Darstellungen aufgezeigt werden. So etwa am Beispiel 13 des im Jahre 1989 von Sulzer vorgestellten Masterplans „Winti-Nova“, der zunächst einen Totalabbruch des Areals ins Auge fasste und damit unbeabsichtigt eine Bürgerbewegung ins Leben rief. Weitere Beispiele findet man in der Veranstaltungsreihe des Schweizerischen Ingenieur- und Architektenvereins (SIA), der die öffentliche Diskussion über eine zukünftige Gestaltung des Areals eröffnete und die Stadtplanung als eine öffentliche Angelegenheit betrachtete, aber auch am Beispiel der „Werkstatt ’90“, einer von der Stadt Winterthur durchgeführten Planungsveranstaltung, welche die Ideen der sozialen Akteure sammelte und die Grundlagen für eine Neugestaltung des Sulzer-Areals schuf. Große Bedeutung für die Transformation des Sulzer-Areals hatte das legendäre „Megalou-Projekt“ von Jean Nouvel, das zwar als Bauprojekt scheiterte, aber als eine Art „Roadmap“ die Richtung für die weitere funktionale und ästhetische Umgestaltung des Areals vorgab. Diese Vorgeschichte ermöglichte die Transformation des Sulzer-Areals von einem ehemaligen Industriegebiet zu einem 14 der lebendigsten Stadtviertel Winterthurs. Letztlich soll mit dieser Arbeit die Frage beantwortet werden, ob das Sulzer-Areal als funktionaler, sozialer und

12 | Vgl. Assmann (1999), S. 299ff. 13 | In den Unterlagen wird dieser Masterplan auch als Gesamtplanungsstudie bezeichnet. 14 | Vgl. Angst/Klaus/Michaelis (2010), S. 36ff.

Einführung

ästhetischer Raum die Voraussetzungen dafür schafft, ein nachhaltiges Modell für eine „Stadt des 21. Jahrhunderts“ anbieten zu können. Noch vor wenigen Jahren war das Sulzer-Areal ein klassisches Industriegelände, in dem sich ein verschachteltes Ensemble von Fabrik-, Verwaltungsund Lagergebäuden befand. Das Areal war bewacht, abgeschlossen und für die Bürger Winterthurs ein verbotenes Gelände. Seit der Schließung bietet das Sulzer-Areal eine ideale Projektionsfläche für städtebauliche Strategien und Ideologien. Gleichzeitig eröffnet das Industriegelände mit seinen riesigen, leer stehenden Gebäudekomplexen einen Möglichkeitsraum für Versuche und Imaginationen. Dieses Spannungsverhältnis bewog mich dazu, meine früheren künstlerischen Studien mithilfe dieser wissenschaftlichen Arbeit weiterzuentwickeln. Während die industrielle Geschichte Winterthurs und des SulzerAreals vom 19. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts zum Teil wissenschaftlich aufgearbeitet ist, klafft im weiteren Verlauf der Arealentwicklung ab dem Jahre 1989 eine deutliche Lücke. So ist die Geschichte der Neugestaltung des Areals seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts noch nicht wissenschaftlich untersucht. Diese Lücke will ich mit dieser Arbeit schließen. Die These dieser Arbeit lautet: Auf dem „Sulzer-Areal Stadtmitte“ in Winterthur entwickelten sich aus einer Industriebrache zahlreiche soziale Möglichkeitsräume. Die Art und Weise der politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Aneignungen dieser Möglichkeitsräume durch die sozialen Akteure ist mit Methoden demokratischer Partizipation verbunden. Diese stellen die 15 Grundlagen eines nachhaltigen Stadtentwicklungsprozesses dar. 16 Möglichkeitsräume sind wahrgenommene, konzipierte und gelebte Orte, deren Funktion wandelbar, flexibel und offen bleibt. Sie lassen soziale und ökonomische Experimente zu und eröffnen den Menschen ein Potenzial für unterschiedliche Erfahrungen. Sie bestehen aus flexiblen und offenen Räumen, die neu gestaltet werden können; es sind dies nach Deleuze die „glatten Räume“, in denen sich noch keine oder nur wenige Eingriffe und Veränderungen be17 finden. Auf dem Sulzer-Areal sind sie in den leer stehenden Gebäuden und Industriehallen zu finden, die entweder abgerissen oder umgenutzt werden, oder in den Räumen, in denen außerordentliche Erfahrungen gemacht werden 18 können. Welche Räume damit genau gemeint sind, werde ich im Verlaufe dieser Arbeit herausarbeiten. Möglichkeitsräume umfassen aber auch die Visionen und Konzepte der sozialen Akteure. Es sind dies die Pläne der Architekten 15 | 16 | 17 | 18 |

Vgl. Hauff (1987), S. 46. Vgl. Lefebvre (1974). Vgl. Deleuze/Guattari (2002). Vgl. Chlada (2005), S. 8.

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und Politiker oder die Wünsche der Bewohner. Möglichkeitsräume beschreiben einen sozialen Raum, der für die private oder berufliche Gestaltung offen steht und der, je nach Interessenlage, realisiert werden kann. Es ist ein gelebter Raum, der wie auf dem Lagerplatz ersichtlich, die Orte für zahlreiche Startup-Firmen zur Verfügung stellt. Es sind dies aber auch die Gegenräume, die „Counterspaces“, die nicht durch die Mechanismen der herrschenden Macht okkupierbar sind, und die abseits der bestehenden Ordnung stehen und diese unter Umständen sogar bedrohen können. Ebenso sind dies die Räume, die auf etwas „Drittes“ verweisen, „eine göttliche Macht, den Logos, den Staat, das Männliche oder das Weibliche. Diese Dimension der Produktion des Raumes bezieht sich auf den Bedeutungsprozess, der sich an einer (materiellen) Sym19 bolik festmacht.“ Im Hinblick auf diese Vorbemerkungen ergeben sich folgende Fragestellungen: Wie verlief der Stadtentwicklungsprozess des Sulzer-Areals in Winterthur in den Jahren 1989 bis 2009? Auf welche Weise wurde auf dem Sulzer-Areal ein sozialer Raum produziert? Welche Möglichkeitsräume entstanden auf dem Sulzer-Areal und wie drücken sie sich medial aus? Kann die Stadtentwicklung in Winterthur eine Perspektive für eine nachhaltige urbane Planungspolitik aufzeigen? Um diese Fragen beantworten zu können, erscheint es notwendig, den Blick auf das Industriegelände, das sich im Zentrum Winterthurs befindet, zu richten. Er gibt die ersten Hinweise darüber, welche Bedeutung das Sulzer-Areal für die kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung der Stadt Winterthur anbietet.

19 | Schmid (2005), S. 319.

Einführung

Abbildung 9: Blick über das SLM-Werk. Quelle: Krug, 2010.

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Das Sulzer-Areal in Winterthur

Abbildung 10: Luftbild Sulzer-Areal. Quelle: Sulzer Immobilien AG: Sulzer-Areal – Winterthur Stadt, Stand: Mai 2003.

Das Luftbild veranschaulicht die genaue Verortung des Sulzer-Areals inmitten der Stadt Winterthur: Während auf der östlichen Seite die Altstadt liegt, befindet sich ihr gegenüber das Sulzer-Areal. Dazwischen verläuft in einer diagonalen Linie die Bahnstrecke nach Zürich und St. Gallen. Als geometrischer Drehpunkt verbindet der Hauptbahnhof die beiden Stadtflügel miteinander. Chronisten beschrieben die globale Bedeutung der Firma Sulzer anhand eines Blickes von oben: Jeder könne sich in einem Flugzeug sitzend von der Größe und Ausdehnung der Winterthurer Sulzer-Gebäudekomplexe und Fabrikanlagen ein eindrückliches Bild machen. Wolle man aber das gesamte Wirken des schweizerischen Konzerns erfassen, dann müsse man eine Erdkugel konstruieren und überall dort, wohin eine Sulzer-Maschine geliefert worden sei, eine Stecknadel befestigen. All die vielen Nadeln ergäben ein dichtes Netz, das Zeugnis über die gewaltige Produktionskraft dieses mächtigen Unterneh20 mens ablege. Die eigentliche Geschichte des Sulzer-Areals beginnt mit der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts: Das einst von der Metallindustrie geprägte Industriegebiet, das seine Entstehung der Winterthurer Eisen- und Metallgießerei ver21 dankt, wurde 1834 durch die Gebrüder Sulzer an der Zürcherstraße gegründet. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Firma zu einem führenden Unternehmen der schweizer Maschinenindustrie, das mit seinen Erfindungen in stetig neue Produktionszweige vorstieß. Hierbei bot Sulzer vielfältige Produkte an, darunter „Heizungen, Dampfmaschinen, Zentrifugalpumpen, Gesteinsbohrmaschinen und Kältemaschinen, später auch Kompressoren, 20 | Vgl. Dejung/Ganz/Kläui (1945). 21 | Vgl. Labhart (1984).

Einführung

Turbinen und jene legendären Dieselmotoren, mit denen die grössten Schiffe 22 der Welt die Meere durchpflügten“. Die hochwertigen technischen Erzeugnisse brachten die Firma an die Spitze des Weltmarkts. Als weltweit operierender Konzern – mit über 33.000 Mitarbeitern – besaß er in den 1960er Jahren einen 23 Anteil von 35 Prozent des globalen Dieselmotorengeschäfts.

Abbildung 11: Der Sulzer-Konzern im Jahre 1971. Quelle: Sulzer-Archiv, Winterthur: Sulzer – Neu erschienene Inserate, 1971, S. 244.

In den 1970er Jahren setzte ein allgemeiner Rückgang der Nachfrage an Sulzer-Produkten ein. Es folgten massive Restrukturierungen und Reorganisierungen, bei denen die Firmenleitung die unrentablen Produktionslinien abschaffte und profitablere, wie z.B. die der Medizintechnik, aufbaute. Nach dem Beschluss der Firma Sulzer, die industrielle Produktion aus der Innenstadt nach Oberwinterthur auszulagern, wurde im Jahre 1990 die Winterthurer Maschinenfabrik auf dem Sulzer-Areal aufgelöst, das Gründungsareal geräumt und die Dieselmotorenproduktion verkauft. Die Planungen des Sulzer-Konzerns für eine nicht-industrielle Nutzung des Sulzer-Areals Stadtmitte begannen mit der 1989 vorgestellten Projektstudie „Winti-Nova“, die einen weitgehenden Abbruch der bestehenden Bausubstanz ins Auge fasste. Um eine umfassende Diskussion über die Zukunft des Sulzer-Areals in Gang zu setzen, schloss sich eine Gruppe von Architekten mit Politikern zusammen, um die Pläne des Großkon22 | Arb/Pfrunder (1992), S. 21. 23 | Vgl. a.a.O., S. 21.

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zerns innerhalb einer Vortragsreihe öffentlich zu thematisieren. Aufgrund dieser öffentlichen Diskussion orientierte sich der Konzern um, beteiligte sich an dem nachfolgenden Stadtentwicklungsprozess und schrieb einen Architekturwettbewerb aus, den im Jahre 1992 Jean Nouvel mit seinem Megalou-Projekt 25 gewann. Jean Nouvels Umnutzungs-Konzept - mit einer Verbindung von Geschäften, Wohnungen, Büroflächen und Restaurants - konnte aber nicht realisiert werden. Nachdem die Baubewilligung für das Megalou-Projekt verfallen war, entschied sich Sulzer für einen partiellen Verkauf der Grundstücke und für die Vermietung einzelner Objekte für verschiedene Zwischennutzungen.

Abbildung 12: Luftbild Sulzer-Areal. ca. 1989. Quelle: Burkhardt+Partner AG: Gesamtplanungsstudie „Sulzer Areale in Winterthur“, Basel, 1989.

In den frühen 1990er Jahren erfolgte eine temporäre Vermietung von Büros und Werkstätten im Teilareal „Lagerplatz“. Seit diesem Zeitpunkt werden die Gebäude von kleinen Betrieben, verschiedenen Bars, Ateliers, Theatern und für soziale Projekte genutzt. Parallel zu den Zwischennutzungen entwickelte die Sulzer Immobilien AG eine neue Vermarktungsstrategie, die neben Großprojekten auch kleinere Vorhaben unterstützte.

24 | Vgl. Koll-Schretzenmayr/Müller (2002), S. 4. 25 | „Megalou“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet „doppelte Metropole“

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Abbildung 13: Kesselhaus. Quelle: Krug, 2003.

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Im Laufe der Jahre gewann das Areal zunehmend an Bedeutung und nach Aus26 sagen der Sulzer Immobilien AG waren im Jahre 2007 etwa 30.000 m² Büround Dienstleistungsflächen inklusive 300 Wohnungen in Planung oder bereits realisiert. Ebenso gab es politisch eine Veränderung, die auf die Arealentwicklung nicht ohne Einfluss blieb: 2002 wurde die bisherige Stadtregierung abgewählt. Es regierte nun wieder eine linksliberale Mehrheit im Winterthurer Stadtparlament. Dieser politische Wandel hatte weitreichende Folgen für die Entwicklung des Areals, denn das Parlament der Stadt Winterthur konnte erstmals einen Erhaltungsplan für das Sulzer-Areal verabschieden. Hans-Peter Bärtschi würdigte diese Entscheidung als richtungsweisend für die weitere Entwicklung: „Und diese Exekutive hat festgesetzt, was während der 12 Jahre zuvor nicht hatte festgesetzt werden dürfen: einen Erhaltungs-Gestaltungsplan für das Sulzer-Areal. Es ermöglicht Neubauten, Denkmalpflege und Rücksicht auf 170 Jahre lang 27 gewachsene Aussen- und Zwischenräume.“ Bereits sechs Jahre nach dem Schutzvertrag – im Jahre 2009 – befand sich das Sulzer-Areal in einer dynamischen Transformation von einer ehemaligen Industriebrache zu einem Mischgebiet mit neuen Überbauungen und modernen Übergangsnutzungen. Da die Veränderung von der industriellen zur postindustriellen Gesellschaft nicht nur im Raum, sondern auch an den Karten ablesbar ist, will ich nachfolgend einen Blick auf die Karten des Sulzer-Areals werfen. Der Übersichtlichkeit halber übernehme ich bei der Beschreibung des Areals die Grobgliederung der 28 Inventarisierungspläne von Hans-Peter Bärtschi und den Plan der Sulzer Immobilien AG mit seiner Dyade von SLM und Sulzer sowie der Feingliederung 29 aus weiteren sechs Teilräumen (vgl. Anhang).

26 | Vgl. http://www.sulzerareal.com/sulzerareal/arealentwicklung-einfuehrung.html, Stand: 30.3.2007. 27 | Bärtschi ( 2006), S. 7. 28 | Die Inventarisierung wurde von Hans-Peter Bärtschi und Thomas Juchler verfasst. Der Einfachheit halber verweise ich im Verlauf der Arbeit nur noch auf den Namen von Hans-Peter Bärtschi. Vgl. Büro ARIAS, Dr. Hans-Peter Bärtschi und Thomas Juchler, im Auftrag der Stadt Winterthur/Dep. Bau: Bauinventar Areale Sulzer/SLM, Winterthur, 1989/90. 29 | Auf einer rund 20 ha großen Fläche beinhaltete das Sulzer-Areal auf engstem Raum zwei ehemals rivalisierende Industriefirmen, die Firma Sulzer und die Schweizerische Lokomotiv- und Maschinenfabrik (SLM). Die SLM wurde 1961 in den Sulzerkonzern eingegliedert. Vgl. Bärtschi (1990).

Einführung

Da diese sechs Teilareale unmittelbar aneinandergrenzen und von ihrer Entste30 hungsgeschichte her gesehen einen engen Zusammenhang bilden, betrachte 31 ich sie als eine städtebauliche Einheit. Das „Sulzer-Areal Stadtmitte“ besteht aus folgenden Zonen: der SulzerZone I, dem Gründerareal mit der ehemaligen Fabrik Zürcherstraße mit 20.870 m², der Sulzer-Zone II, dem heutigen Lagerplatzareal mit 46.874 m², der SulzerZone III, dem ehemaligen Sulzer-Hochhaus mit 7.795 m² und dem Verwaltungstrakt mit 18.320 m², dem SLM-Werk 1 mit 60.987 m², dem SLM-Werk 2 32 mit 23.846 m² und dem SLM-Werk 3 mit 20.870 m² Grundfläche.

Abbildung 14: Sulzer-Areal. Das SLM-Werk 3 ist in dieser Skizze weitgehend ausgeschnitten. Die detaillierten Ansichten der Teilareale befinden sich im Anhang. Quelle: Modifiziert übernommen aus: http://sulzerareal.com/sulzerareal/arealplan.html, Stand: 30.3.2007.

Die Sulzer-Zone I, das Sulzer Gründerareal, stellt eine hoch verdichtete Stadtzone dar. Hans-Peter Bärtschi vergleicht sie in seinem Bauinventar „Areale (Sulzer/SLM)“ mit einer mittelalterlichen Stadt: Im Stammareal [...] wurde die Bebauung 125 Jahre lang verdichtet, verbessert und modernisiert. [...] 1889 war das Gründerareal bereits fast vollständig überbaut, 1905 entstand auf der letzten freien Grundstücksecke die Radiatorengiesserei. [...] Die Begrenztheit des Areals war die Grundbedingung für die einmalige Qualität und Dichte von Industriebauten, die hier im Vergleich zu den anderen 30 | Vgl. Interview mit Hans-Peter Bärtschi, Büro ARIAS, Winterthur, vom 7.8.2007 und 14.4. 2008. 31 | Vgl. Denkmalpflegekommission des Kantons Zürich: Gutachten Nr. 23-1990, S. 2. 32 | Vgl. Burckhardt+Partner AG: Gesamtplanungsstudie Sulzer Areale in Winterthur, Basel, 1989.

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Arealen die höchste Urbanität im städtebaulichen Sinne von dichten, überschaubaren, gut erreichbaren und begehbaren Räumen erreicht: Die Staatsstrasse Winterthur-Zürich, der Rangierbahnhof mit dem Lokdepot an der Tössfeldstrasse und das Konkurrenzunternehmen SLM bilden die Arealgrenzen und den Grund für die mangelnde Expansionsmöglichkeit im Gründerareal. So erhielt das Areal die Geschlossenheit einer Altstadt, und die Qualität der Fabrikhofräume kann mit derjenigen von barocken und mittelalterlichen Gassen- und Platzräumen ver33 glichen werden.

Abbildung 15: Hektarenhalle. Quelle: Krug, 2004.

Dieser Teil beherbergt die City Halle (Bau 87), in der Theater- und Musikauf34 führungen stattfinden und die leer stehende Hektarenhalle (Bau 11), die als ehemalige Sulzer-Schiffsmotorenhalle stilgeschichtlich zu den Vertretern des 33 | Büro ARIAS, Dr. Hans-Peter Bärtschi und Thomas Juchler, im Auftrag der Stadt Winterthur/Dep. Bau: Bauinventar Areale Sulzer/SLM, Winterthur, 1989/90, S. 6. 34 | Die Hektarenhalle spielte im letzten Jahrhundert eine wichtige politische Rolle. Nachdem die Sulzer-Belegschaft eine Lohnerhöhung gefordert und mit Kampfmassnahmen gedroht hatte, nahm der Arbeitgeber Robert Sulzer-Forrer an der Betriebsversammlung teil. Er kletterte auf einen großen Motorblock und hielt vor etwa 1000 Belegschaftsmitgliedern seine historische Rede. Sulzer warb für ein Bündnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Der Streik wurde abgesagt und am 19. Juli 1937 unterzeichneten Gewerkschaftsfunktionäre und Unternehmer der Metall- und Maschinenindustrie ein Friedensabkommen. In diesem Bündnis erklärten sich die Arbeiternehmer bereit, während der politischen Krisenzeit auf das Mittel des Streiks zu verzichten. Vgl. Arb/Pfrunder (1992), S. 184.

Einführung

„Neuen Bauens“ in der Schweiz zu zählen ist. Hinzu kommen die Eisengießerei (Bauten 52, 53), die als Parkhaus genutzt wird, eine Schule (Bau 50), Büros, Geschäfte (Bau 39), Restaurants (Bau 62), zahlreiche Lofts (Bauten 34, 36, 37, 48) und das Zentrum für Ausbildung im Gesundheitswesen (ZAG). Das ehemalige Kesselhaus (Bauten 19, 20) wurde im Jahre 2010 neu eröffnet (vgl. Anhang). Die Sulzer-Zone II, deren Gebäudesubstanz jünger ist als die der Sulzer-Zone I, besitzt eine geringere Überbauungsdichte. „Baukonstruktionsgeschichtlich und formal stehen einige Bauten im Sulzer-Areal 2 auf dem Niveau von gleichzeitig erstellten Fabrikgebäuden im Areal 1. Die Stellung der Bauten zueinander 35 bilden auch im Lagerplatzareal wertvolle Gassen- und Platzräume [...].“ Der Lagerplatz ist in seiner Architektur und räumlichen Struktur weitgehend unverändert geblieben, da sich an dessen räumlicher Gliederung und äußerer Gebäudesubstanz nur wenig verändert hat. Lediglich die Innenbereiche einzelner Gebäude (z.B. die „Zürcher Hochschule“ oder der „Block“) wurden umgebaut. Wie bereits erwähnt, befanden sich in diesem Gelände bis zum Jahre 2009 zahlreiche Zwischennutzungen (vgl. Anhang). Die Sulzer-Zone III besteht aus dem ehemaligen Sulzer-Hochhaus – dem heutigen Wintower – der sich im Besitz der von Bruno Stefanini gegründeten Stiftung für Kunst, Kultur + Geschichte Winterthur (KKG) befindet. In unmittelbarer Nähe des Wintower steht das Verwaltungsgebäude der Sulzer AG (vgl. Anhang). Im Unterschied zur Sulzer-Zone weist das SLM-Werk eine andere gebaute Struktur auf, was Hans-Peter Bärtschi auf dessen geschichtliche Entwicklung zurückführt: Hier hat nicht ein Familienunternehmen 125 Jahre lang an- und ausgebaut, hier hat eine Aktiengesellschaft von Anfang an eine orthogonale Rasterplanung parallel zur Jägerstrasse ins Tössfeld gelegt. Im Unterschied zu den Sulzer-Arealen stammt die architekturgeschichtlich wertvollste Bausubstanz mehrheitlich aus der Bauzeit vor 1905, da das Unternehmen von Anfang an mit bekannten Architekten wie Ernst Jung grosszügig gebaut hat. [...] Die wertvollsten Raumbildungen sind hier im T-förmigen Bereich Zürcherstrasse - Jägerstrasse entstanden, dort, wo die drei Werksbereiche aneinanderstossen. Einmalig ist das Ineinandergreifen von Fabriken, Werkinfrastrukturbauten und Wohnhäusern: Mit der Werksgründung wurde der Bau von Arbeiterreiheneinfamilienhäusern nach englischem Vorbild beschlossen. Die Cottages-Siedlungen und die Sichtbacksteinhäuser gegenüber Werk 1 und im Werkarealbereich 2 sind entsprechend den Vergleichsmöglichkeiten auf dem gegenwärtigen 36 Inventarisierungsstand in der Schweiz einzigartig. 35 | Stadt Winterthur/Dep. Bau: Bauinventar Areale Sulzer/SLM, Büro ARIAS, Dr. Hans-Peter Bärtschi und Thomas Juchler, 1989/90, S. 6. 36 | A.a.O., S. 9.

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Abbildung 16: Cottages, Reiheneinfamilienhäuser-Siedlung aus den Jahren 1872-1873. Quelle: Krug, 2011.

Das SLM-Werk I ist wie der Lagerplatz in seiner Architektur und räumlichen Gliederung weitgehend intakt geblieben; lediglich das ehemalige Schreinereiund Magazingebäude von 1906 (Bau 1029) wurde zum Technopark umgebaut. Während im Jahr 2009 der Technopark 2 errichtet wurde, war der Technopark 3 noch in Planung. Den größten Teil dieses Raumes nimmt die Firma Stadler, die 37 Nachfolgerin der SLM, ein. Hierbei handelt es sich um eine traditionsreiche Firma, die seit 1871 am selben Ort in der Lokomotivenproduktion tätig ist (vgl. Anhang). Von den drei Werkarealen weist nur das SLM-Werk II eine ähnliche Überbauungsdichte wie die Sulzer-Zone auf. Dort wurden das ehemalige Kessel- und Maschinenhaus (Gebäude 1055), die ehemalige Gussputzerei (Gebäude 1051), die ehemalige Eisengießerei (Gebäude 1050) sowie die ehemalige Leichtmetallgießerei (Gebäude 1049) abgerissen und durch die Wohnüberbauung Lokomo-

37 | Bis zum Verkauf des Unternehmens im Jahre 1998 produzierte die Firma über 5500 Lokomotiven für den weltweiten Markt. Danach erfolgte die Änderung des Firmennamens in „Sulzer-Winpro“ und der Verkauf der Abteilungen. Die Zahnradfahrzeuge gingen an „Stadler“, das Engineering an „ABB“, später an „DaimlerChrysler“ und schließlich an „Bombardier“. Gleichzeitig wurde die Belegschaft auf 350 Personen reduziert. Nachdem drei leitende Mitarbeiter die Produktion mit einem Management Buy Out übernahmen und die Firma „Winpro AG“ gründeten, konnte die Produktion von Maschinenteilen, Systemen und Anlagen zum Fahrzeugbau, aber auch Reparatur-, Service- und Wartungsarbeiten an Schienenfahrzeugen wieder erfolgreich aufgenommen werden. Vgl. aus: http://www.nzz.ch/2005/07/23/zh/articleczz6k_1.159155.html, Stand: 23.12.2011.

Einführung

tive ersetzt. Auf dem ehemaligen Hallengebiet (1056, 1057, 1059) entstand das Einkaufszentrum Lokwerk (vgl. Anhang). Auf dem SLM-Werk III wurde das ehemalige Direktoren- und Angestelltenwohnhaus mit den Waschhäusern vollständig abgerissen. Hier findet man heute ein Schnell-Restaurant und eine Tankstelle (vgl. Anhang).

Abbildung 17: Diesellokomotive. Quelle: Sulzer-Archiv, Winterthur. Abbildung 18: Lokomotivenproduktion im SLM-Werk. Quelle: Sulzer-Archiv, Winterthur.

Abbildung 19: Zur Kesselschmiede. Quelle: Krug, 2005.

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Zeit

Verantwortliche Akteure

Thema

1989

Sulzer

Winti-Nova

1990

SIA

Die Neustadt aus der Werkstadt

1989/90

Büro ARIAS

Inventarisierung

1990

Stadtregierung Winterthur Werkstatt ’90

Seit 1991

Planungsorganisation StadtentStadtregierung Winterthur wicklung und Forum Stadtentwicklung

1992

Stadtregierung Winterthur Testplanung Stadtmitte

1992

Sulzer

Studienwettbewerb

Seit 1992

Sulzer, Stadtregierung Winterthur, Investoren

Testplanungen, Projekte und Umnutzungen

1994/95

Stadtregierung Winterthur Rahmenplan

2003

Stadtregierung Winterthur, Sulzer

Schutzvertrag

2009

Grundeigentümer (Sulzer und Post) und Pensionskasse Stiftung Abendrot

Verkauf des Areals Lagerplatz

Abbildung 20: Historie. Entwicklung Sulzer-Areal 1989-2009.

Einführung

Strukturwandel, Kulturökonomie und Industriekultur in der spätmodernen Stadt: Das Beispiel Winterthur Winterthur ist mit über 100.000 Einwohnern die sechstgrößte Stadt der Schweiz. Sie befindet sich im Kanton Zürich und liegt innerhalb einer der wirtschaftlich leistungsstärksten Regionen Europas. Bereits bei der 1992 stattgefun38 denen „Testplanung Stadtmitte“ wurde der Stadt Winterthur ein wirtschaftlicher Aufschwung vorausgesagt. Diese positive Prognose beruht unter anderem auf der guten Erschließung an das nationale und internationale Verkehrsnetz: Die europäischen Großstädte wie München, Wien, Mailand oder Paris können in kurzer Zeit vom nahegelegenen Flughafen Zürich-Kloten angesteuert werden, die näheren Regionen sind mühelos mit der Bahn oder dem Auto erreichbar. Kulturelle Angebote, wie Theater und Museen, sowie Schulen und Hochschulen, ergänzen die Anziehungskraft dieser nordschweizerischen Stadt. Im 19. und 20. Jahrhundert war Winterthur als Arbeiterstadt noch vorwiegend von der Metall- und Maschinenbauindustrie geprägt. Während in dieser Zeit das produzierende Gewerbe einen wesentlichen Beitrag zur Aufwertung der Region leistete, sorgte der wirtschaftliche Strukturwandel dafür, dass sich die Stadt zu einem Dienstleistungsstandort mit einem starken tertiären Sek39 tor entwickelte. Kultur-, Freizeit- und Sporteinrichtungen, Einkaufszentren, Büros, Hotels, Schulen, Banken oder Versicherungsunternehmen veränderten den vormals industriell geprägten Wirtschaftsraum. Nachdem die großen Unternehmen, wie z.B. Sulzer oder Rieter, ihre Bereiche der industriellen Produktion verkleinert oder ganz aufgegeben hatten, begann sich am Ende des 20. Jahrhunderts das Stadtbild Winterthurs zu verändern. Da große Industrieareale inmitten der Stadt stillgelegt oder rückgebaut wurden, folgte eine Zeit der sozialen und wirtschaftlichen Neuorientierung, bei der die Stadtregierung bestrebt war, das alte Vorurteil, nämlich das einer disziplinierten Arbeiterstadt, zu widerlegen: Winterthurs Image leidet unter dem Attribut „Arbeiterstadt“. Und Vorurteile über die Stadt der Arbeit gibt’s viele, nennen wir nur drei davon: Die Polizeistunde sei in Winterthur darum so früh, weil die Fabrikherren ihre Arbeiter auch früh wieder hinter den Maschinen sehen wollen und nicht spät noch hinter dem Bierglas. Winterthur, das sei Sulzer und Rieter, Metall- und Maschinenindustrie, und sonst 40 gar nichts. Darum sei das Beste an Winterthur der Schnellzug nach Zürich. 38 | Vgl. Testplanungsteam Sulzer, Sieverts/Bott/von Haas/Schwarz/Gloor/Krebs/ Muhmenthaler: Testplanung Stadtmitte Winterthur, Vernetzung und Schnittstellen, Winterthur, April 1992, S. 3. 39 | Vgl. Bell (1975), S. 32. 40 | Gmür/Wolfensberger (1996), S. 62.

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Im 21. Jahrhundert ist die Polizeistunde nicht mehr anders geregelt als im nahegelegenen Zürich und vielfältige Unterhaltungsangebote locken zahlreiche Besucher in die Stadt. Neue Bildungsangebote, wie die zahlreichen Hoch-, Berufs- und Fachschulen – darunter die Zürcher Hochschule für angewandte 41 Wissenschaften, aber auch innovative Einrichtungen wie der Technopark – gewährleisten den Wissenstransfer zwischen Wissenschaft und Wirtschaft. Wie in vielen Städten veränderte der Strukturwandel auch in den Winterthurer Betrieben die industriell geprägten Lohnarbeitsverhältnisse: „Die vergleichsweise pittoresken Zeiten, wo in Hallen schöne Maschinen inmitten einer Schar fleißiger Arbeiter standen, sind vorbei. Die künftige Industrie wird dezentraler sein, aber auch immaterieller. Sie wird nicht mehr nur Güter produzieren und anbieten, sondern vermehrt unsichtbare Realitäten: Know-how, 42 Beratung, Beziehungen, geistige Welten.“ Um die wirtschaftliche Transformation in Winterthur besser verstehen zu können, sei im Folgenden ein allgemeiner Überblick über die Veränderung der global ausgerichteten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen gegeben. Dieser Überblick soll das Verständnis für die kulturellen Veränderungen, welche auf dem Sulzer-Areal stattfinden, und welche im Zusammenhang mit der Bedeutung der kreativen Klasse und der Kulturökonomie stehen, schärfen. Im 21. Jahrhundert realisiert sich die geografische Aufteilung der einzelnen Produktionseinheiten in Form eines globalen Standortrasters, wobei auf der Suche nach niedrigen Arbeitskosten die Produktionen in beliebige geografische 43 Gebiete verlagert werden können. Mit dieser Firmenpolitik entwickeln sich zwei Hauptgruppen von Belegschaften heraus: Auf der einen Seite gibt es „eine Masse unqualifizierter Arbeitskräfte, die mit Routinearbeiten bei der Montage 44 und mit Hilfsarbeiten beschäftigt sind […]“, auf der anderen Seite eine hoch qualifizierte, wissenschaftlich-technologische Berufsgruppe, die das wirtschaftliche Netzwerk organisiert. Obwohl die Zunahme elektronischer Kommunikation zu einem Rückgang ortsgebundener Interaktion führt, hat die „Face-toFace-Kommunikation“ nicht an Bedeutung verloren. 41 | Der TECHNOPARK® Winterthur als finanziell eigenständige AG ist ein Beispiel einer Public Private Partnership. Das Aktionariat besteht aus Stadt, Kanton und Wirtschaft. In dieser Einrichtung befinden sich Start-up-Firmen, etablierte Unternehmen und Wissenschaftseinrichtungen, die in einem engen Austausch miteinander stehen. Vgl. http:// www.technopark-winterthur.ch, Stand: 23.12.2011. 42 | Wolfensberger/Stahel (1994), S. 307. 43 | Dieser Prozess zeichnete sich in den 1960er Jahren ab, als die amerikanische Elektronikfirma „Fairchild“ in Hongkong nach neuen Organisationsmustern zu produzieren begann. Als „Blaupause“ des beginnenden Informationszeitalters verknüpfte es ihre Fabrikation mit einer globalen Arbeitsteilung. Vgl. Castells (2004), S. 442. 44 | A.a.O., S. 442.

Einführung 45

Aus diesem Grunde spielen die Innovationsmilieus eine große Rolle. Ihre Aufgaben bestehen darin, die Unternehmensnetzwerke zu koordinieren und auf dem aktuellen Stand zu halten. Sie befinden sich in den führenden metropolitanen Ballungsräumen, in denen die Planungs- und Steuerungszentren der globalen Wirtschaft liegen. Zu Beginn der Jahrtausendwende ließen sich diese Knoten vornehmlich in den drei Städten New York, Tokio und London 46 verorten. Philipp Klaus unterscheidet zwischen Alpha World Cities (London, New York, Paris, Tokio) und Beta World Cities (San Francisco, Sydney, Toronto, Zürich); Winterthur mit seinen mittlerweile 100.000 Einwohnern kann als 47 Teil des „Zürich Networks“ betrachtet werden. Die Steuerung der Netzwerke übernehmen die dominierenden Eliten des Managements. Sie entwickeln ihre eigene Subkultur mit symbolisch abgesonderten Gemeinschaften, die auf persönlicher Vernetzung und räumlich abgegrenzten Standorten beruhen. Der Raum der Ströme besteht aus Mikro-Netzwerken, die ihre Interessen auf die Makro-Netzwerke übertragen und die Interaktionen des Raumes steuern. Exklusive Restaurants sowie private Wohn- und Freizeiträume bilden die neuen sorgfältig abgeschotteten Räume. Sicherheitskontrollen bewachen das Terrain 48 und bieten deren Eliten einen Raum für ungestörte Entscheidungsfindungen. Parallel dazu entsteht eine weitere hierarchische Segregation: Die symbolischen Hierarchien wirken auf die niedrigeren Ebenen des Managements zurück und veranlassen diese, „zweitrangige räumliche Gemeinschaften (zu) errichten, die 49 ebenfalls dazu neigen, sich vom Rest der Gesellschaft zu isolieren“. In der spätmodernen Gesellschaft wandelt sich nicht nur die Art und Weise der Arbeit, sondern auch die Form der Arbeitssuche. Während bis zum Ende des 20. Jahrhunderts die Arbeiter ihre Wohnorte in der Nähe des jeweiligen Unternehmens suchten, beginnt sich dieser Prozess umzukehren. Wie auch in vielen anderen europäischen Regionen müssen im 21. Jahrhundert Städte wie Zürich oder Winterthur nicht nur um Investitionen, sondern auch um gut ausgebildete Menschen konkurrieren. Das bedeutet, dass die Arbeitssuchenden nicht mehr zu den Arbeitsplätzen, „sondern umgekehrt die Arbeitsplätze zu

45 | Die Innovationsmilieus stellen die Beziehungsmuster in Produktion und Management dar, deren gemeinsame Arbeitskultur und Zielsetzungen vor allem auf Wissens- und Produktinnovationen zugeschnitten sind. Diese Milieus sorgen für Synergien, Innovationen und ökonomische Wertschöpfung. Vgl. a.a.O., S. 445. 46 | Das Phänomen „Global City“ bezeichnet eine neue Form der wechselseitigen Beziehung zwischen den Städten, da sie über größere Distanzen als Einheit interagieren. Castells (1999), S. 42. 47 | Vgl. Klaus (2006), S. 98. 48 | Vgl. Castells (1999), S. 70/71. 49 | A.a.O, S. 70.

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den (qualifizierten) Menschen“ wandern. Für die Kommunen werden nun die weichen Standortfaktoren, d.h. die sozialen und kulturellen „Aspekte der Lebensqualität, aber auch das regionale Milieu, die Mentalitäten, die Lebensweisen, die Qualität des Beziehungsgeflechts zwischen Unternehmen, der Politik 51 und der Bevölkerung, kurz: das soziokulturelle Milieu“, immer bedeutsamer. Im Rahmen der Globalisierung entwickeln sich die wichtigsten Städte zu Knotenpunkten und Kommandozentralen für transnational tätige Unternehmen. 52 Da sie sich innerhalb einer Hierarchie der Städte positionieren müssen, 53 kommt der Attraktivität der Stadt eine bedeutende Rolle zu. Mit einer Wiedergewinnung und Neuschaffung von öffentlichen Räumen, Funktionsmischungen, kulturellen Angeboten und einem Ausbau an öffentlichen Verkehrs54 mitteln wollen die Stadtregierungen eine attraktive soziale und technische Infrastruktur anbieten, die gut ausgebildete Fachkräfte anlockt. 55 Von dieser Entwicklung profitiert das Sulzer-Areal. Wohnungen oder Büros, die wenige Gehminuten vom Hauptbahnhof entfernt liegen und eine Anschlussmöglichkeit an das nationale und internationale Verkehrsnetz bieten, sind vor allem für Menschen und Unternehmen attraktiv, die im Großraum Zürich arbeiten. Aus diesen Gründen haben Investoren bereits Grundstücke erworben und zahlreiche Wohn- Gewerbe-, Büro- oder Gastronomie-Projekte realisiert. Als Beispiel sei an dieser Stelle die Wohnüberbauung Lokomotive genannt. Der Wohnkomplex befindet sich auf dem ehemaligen SLM-Werk zwischen Obere Briggerstraße und Agnesstraße. Die Wohnanlage umfasst 120 Wohneinheiten mit unterschiedlichsten Wohnungstypen, die von der Maisonette-Wohnung mit Vorgarten oder Dachterrasse, über moderne unkonventionelle Geschosswohnungen mit zentraler Kücheninsel bis hin zu eleganten Ateliers mit großer Wohnhalle oder Lofts mit Kinderzimmern reichen. Die Planer kombinierten die historische und von Grund auf sanierte Bausubstanz mit neu erstellten Gebäuden. Die riesige, denkmalgeschützte Gießereihalle wurde in den Neubau integriert und beinhaltet als überdachter Außenraum einen ebenfalls überdachten Innenhof, der für nachbarschaftliche Kontakte sorgen soll. 50 | Häußermann/Läpple/Siebel (2008), S. 249. 51 | A.a.O, S. 251. 52 | Vgl. Friedmann (1995), S. 24. 53 | In diesem Zusammenhang führte Saskia Sassen die „Global Cities“ als zentrale Standorte für hoch entwickelte Dienstleistungen und Telekommunikationseinrichtungen ein. Neben den Hauptquartieren bedeutender Unternehmen und Regierungs- bzw. Nichtregierungsorganisationen finden sich in diesen Weltmetropolen, wozu auch Winterthur als Teil des Zürich-Netzwerks zu zählen ist, spezialisierte und hoch differenzierte Arbeitsmärkte. Vgl. Sassen (1996). 54 | Vgl. Bodenschatz/Laible (2008), S. 11ff. 55 | Vgl. Schwarz/Gloor (1991).

Einführung

Die Anbindung an Zürich ist optimal, da sich nur wenige Gehminuten entfernt der Bahnhof befindet; innerhalb kürzester Zeit kann mit dem Zug der Züricher Arbeitsplatz erreicht werden. Die spätmoderne Stadt versteht sich nicht nur als ein räumlich lokalisier56 bares Element, sondern auch als ein Prozess. Das bedeutet, dass der neue industrielle Raum – er ist durch die hochtechnologische industrielle Fertigung geprägt – eine neue Logik des Standortes mit sich bringt. Zwar hängt die Produktion immer noch wie in Zeiten der klassischen Industriegesellschaft von den Faktoren Kapital, Arbeit und Rohstoff ab, doch bilden zu Beginn des 21. Jahrhunderts das Wissen und die Information den wichtigsten Treibstoff für den sozialen, ökonomischen und politischen Motor.

Abbildung 21: Technopark. Quelle: Krug, 2004.

Richard Florida fasst die Rahmenbedingungen einer florierenden Wirtschaft mit den drei „Ts“ – Talent, Technologie und Toleranz – zusammen. Unter Talent versteht er diejenigen Personen, die hervorragende Fachkenntnisse vorweisen können, und die als gefragte Experten mitunter rund um die Welt reisen. Gerade weil sie oft ihren Wohnort wechseln, wird es für die Kommune wichtig, 56 | Vgl. Castells (2004), S. 431ff.

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diese Personengruppe möglichst an den Ort zu binden. Für die Wirtschaftsentwicklung der Städte – und damit auch für Winterthur – sind die kreativen Milieus unentbehrlich geworden. Richard Florida teilt sie in zwei Kategorien ein: Die Creative Professionals und die Super Creatives. Die Creative Professionals sind Menschen, die in wissensbasierten Berufen arbeiten, wie zum Beispiel die Angestellten im Gesundheits-, Finanz- oder Bildungswesen. Als Super Creatives bezeichnet er die Wis57 senschaftler, Forscher, Ingenieure, Künstler, Designer, Autoren und Musiker. Diese beiden Gruppen bilden die Grundlage für eine florierende Wirtschaft. Die Technologie ist für die Entwicklung neuer Produkte unentbehrlich. Für die zukunftsorientierte Stadtentwicklung spielen vor allem die Hochschulen 58 und Universitäten als zentrale Knotenpunkte der Innovation eine bedeutsame Rolle: „The presence of a major rersearch university is a huge advantage in the Creative Economy. [...] In my view, the presence of a major research university is a basic infrastructure component of the Creative Economy – more important than the canals, railroads and freeway systems of past epochs – and a huge po59 tential source of competitive advantage.” Die Toleranz stellt eine wesentliche Voraussetzung für eine sozial ausgeglichene und weltoffene Stadtentwicklung dar. Zwar versuchen Städte ihre Attraktivität durch verschiedenartige Programme, wie z.B. den Bau von Sportstadien, Museen oder Flughäfen zu erhöhen, doch reicht dies für die Herausbildung eines kreativen Umfeldes bei Weitem nicht aus. Nur in einem Zusammenspiel von technologischen, psychologischen und sozialen Einflussgrößen kann es ge60 lingen, die Bildung solcher Milieus zu fördern. In seinen Empfehlungen für eine erfolgreiche Stadtentwicklung betont Charles Landry das Vorhandensein sozialer Einstellungen und Kompetenzen der Stadtbewohner. Auch er weist sie 61 als Formen von Toleranz und Offenheit aus. Da die Anwesenheit der Kreativen ein ausschlaggebender Standortvorteil im Wettstreit um wissens- und wertschöpfungsstarke Unternehmen bedeutet, müssen die sozialen und materiellen Voraussetzungen dafür geschaffen werden, damit sich die Menschen wohlfühlen. Das bedeutet, dass sie ihre Freundschaften pflegen und kulturelle Angebote wahrnehmen können; vor allem aber muss die Stadt ein Platz der Gastfreundschaft und Aufgeschlossenheit gegen62 über Fremden und Außenseitern sein. 57 | Vgl. Quenzel (2009), S. 13. 58 | Vgl. Streich (2005), S. 488. 59 | Florida (2002), S. 291f. 60 | Landry beschreibt diese Umgebungen als einen Platz, an welchem sich die Bewohner persönlich entfalten können. Vgl. Landry (2000), S. 133. 61 | Vgl. a.a.O., S. 4. 62 | Florida (2002), S. 227.

Einführung

Die Kulturökonomie nimmt für eine erfolgreiche Stadtentwicklung eine be63 deutende Rolle ein. In ihr finden sich zahlreiche Berufsfelder der vorher beschriebenen kreativen Klasse. Sie äußert sich innerhalb dreier Akteursformen: Der erste Typ bezeichnet die Gruppe von Firmengründern, die sich in einem Einpersonenunternehmen, beziehungsweise in freiberuflichen Büros mit wenigen Mitarbeitern, organisieren. Mittels experimenteller Arbeitsweisen erzeugen sie vorwiegend Unikate und Prototypen. Nach der Etablierung des ersten Typus können kleinere und mittlere Unternehmen gegründet werden, die mit dem ersten Modell in engem Kontakt und Austausch stehen, so etwa Tonstudios, 64 Musikensembles, Künstlerateliers, Galerien, Architektur- und Designbüros. Der dritte Typ der Kreativwirtschaft umfasst Großunternehmen, die ihre Produkte und Dienstleistungen überregional vermarkten. Oft handelt es sich um den Bereich allgemeiner Formen der Kreativität, der in der technisch-wissenschaftlichen Sparte, im Handels- und Finanzsektor oder in den Bereichen der Verwaltung, Sicherheit und Justiz zu finden ist. Die Grenze zwischen allen drei Gruppen verläuft fließend. Die Akteure stehen in einem formellen und informellen Austausch miteinander. Dabei entwi65 ckeln und vermarkten sie ihre neuen Produkte zum Teil gemeinsam. Die notwendigen Geschäftskontakte führen zu einer hohen Anzahl an Absprachen, Meetings und Sitzungen, wozu auch die informelle Netzwerkpflege in Form von Apéros zählt. Um sich in diesen sozialen Netzwerken bewegen zu können, sollte der eigene Arbeits- und Wohnbereich zentral gelegen sein und einen guten Anschluss an das Verkehrsnetz bieten. Darüber hinaus sind die kurzen Wege für die „Kreativschaffenden“ von immenser Bedeutung, da sie zu Beginn ihrer Karriere oft einer Teilzeitbeschäftigung nachgehen müssen. Um genügend Zeit zu finden, das eigene Projekt zu entwickeln, muss ein rascher 66 Wechsel zwischen den verschiedenen Wohn- und Arbeitsorten möglich sein. Diese Lebensweise bringt es mit sich, dass das Wohnen und Arbeiten nicht mehr ausschließlich an getrennten Orten stattfindet, sondern in zunehmender Weise miteinander verflochten ist. Da der Wohnraum in Zürich teuer ist, kann sich ein Teil der „Kreativschaffenden“ die hohen Mieten nicht leisten. Deshalb nutzen sie die gewerbliche Immobilie, auch wenn dies gesetzlich nicht erlaubt 67 ist, gelegentlich als Wohnraum. Unter Umständen sind sie dazu gezwungen, auf andere Orte auszuweichen, weshalb Winterthur, das an Zürich verkehrsgünstig angeschlossen ist, und das seit Jahren auf dem Lagerplatz eine lebendige Kulturwirtschaft vorzuweisen hat, eine besondere Bedeutung einnimmt. 63 | 64 | 65 | 66 | 67 |

Vgl. Weckerle (2008), S. 9. Die ersten beiden Typen finden sich vorwiegend auf dem Lagerplatz. Vgl. Salvini/Heye (2008), S.26ff. Vgl. Koll-Schretzenmayr/Kunzmann/Heider (2008), S. 60f. A.a.O., S. 62.

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Die Vorgeschichte des Lagerplatzes sei an dieser Stelle kurz skizziert: Um in den 1990er Jahren einen Leerstand des Sulzer-Areals zu vermeiden, vermieteten die Grundbesitzer einen Teil ihrer Immobilien. Mit dieser Entscheidung öffneten sie das Areal für zahlreiche Zwischennutzungen. Wie in Zürich West war zu dieser Zeit das Teilareal Lagerplatz einem Verwertungsdruck des Immobilienmarktes entzogen, was dazu führte, dass dieses Areal für die kreativen Kleinunternehmer als unkonventioneller und experimenteller Möglichkeitsraum zur Verfügung stand. Es etablierten sich dort erste Pioniernutzungen, wie Architekturbüros oder Freizeiteinrichtungen, später kamen immer mehr Unternehmen hinzu. Als Beispiel sei hier die Sportanlage Block genannt: Die Firma Sulzer erbaute diese Fabrikhalle zu Beginn des 20. Jahrhunderts und nutzte sie bis Mitte der 1980er Jahre als Speditionshalle. Dort verpackten die Arbeiter die Einzelteile der Schiffsmotoren. Als Ende der 1980er Jahre im Zuge der Umstrukturierung des Sulzer-Konzerns die Entscheidung fiel, den Produktionsstandort im Zentrum von Winterthur aufzugeben, kaufte „Die Post (PTT)“ das Gebäude, um darin ein Paketverteilzentrum zu errichten. Dieser Plan wurde allerdings bald wieder fallen gelassen, nachdem die neue Postsammelstelle nach Frauenfeld verlegt wurde. Die für die PTT überflüssig gewordene Halle mieteten junge Unternehmer an und eröffneten nach viermonatiger Bauzeit im Dezember 1995 eine IndoorKartbahn. Die neue Sportanlage fand vor allem bei der jungen Bevölkerung Winterthurs großen Anklang. Im Frühjahr 2002 bezog nach dreimonatigen intensiven Umbauarbeiten die benachbarte Trendsportanlage Block 37 zusätzlich 68 das zweistöckige Gebäude. Auf dem Lagerplatz siedelten sich in der Folgezeit weitere Werkstätten, Freizeit- und Sporteinrichtungen, Kulturzentren, Ateliers und Tonstudios an. Zwar erfolgte dort keine Wohnnutzungsbewilligung, doch konnten sich die Mieter so gut etablieren, dass sich das gesamte Sulzer-Areal insbesondere in den Abendund Nachtstunden zu einem beliebten Unterhaltungsort Winterthurs entwickelte.

68 | Vgl. http://www.block.ch/info/index.html, Stand: 1.4.2010.

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Abbildung 22: Wohnüberbauung Lokomotive. Der Innenhof und die Wohnungen befinden sich unter der historischen Eisenkonstruktion der ehemaligen Eisengießerei. Quelle: Krug, 2007.

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Die Veränderung des Sulzer-Areals zeigt, wie die Abkehr vom Image der Arbei69 terstadt den Aufbau eines neuen städtischen Images bewirkte. Als Imageträger wird dieses Viertel zu einem bedeutsamen Marketingfaktor der Stadt. Seine Industriekultur – verstanden als Koppelung von Industriearchitektur und deren 70 kultureller Nutzung – weckt nicht nur das Interesse der Besucher, sondern stärkt auch den Bekanntheitsgrad Winterthurs über die Grenzen des Kantons hinaus.

Abbildung 23: Lagerplatz. Quelle: Krug, 2008.

69 | Featherstone weist darauf hin, dass im Zuge der Globalisierung das kulturelle Kapital einen unmittelbaren Einfluss auf die lokale Ökonomie gewinnt. Vgl. Featherstone (1994), S. 399ff. 70 | Crista Reicher definiert den Begriff „Industriekultur“ wie folgt: „Industrie und Kultur, zwei zunächst gegensätzlich erscheinende Phänomene, verbinden sich zu einem neuen spezifischen Aggregatzustand, der städtebauliche Impulswirkungen entfachen kann, zur Industriekultur.“ Reicher (2009), S. 142.

Einführung

Abbildung 24: Freizeitzentrum Block, Lagerplatz. Im Erdgeschoss befindet sich eine Kartbahn und im Obergeschoss verschiedene Sportangebote, wie eine Skaterbahn, Beachvolleyball, eine Kletterwand und ein Bistro. Quelle: Krug, 2004.

Abbildung 25: Freizeitzentrum Block, Kartbahn. Quelle: Krug, 2004.

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Für ein positives Image sorgt zum Beispiel die gut besuchte City Halle. Imaginationen und Sehnsüchte spielen in dieser kulturellen Einrichtung eine bedeutende Rolle. Wenn die Betreiber der zwischengenutzten und unter Denkmalschutz stehenden Industriehalle mit dem Slogan „YOUR DREAM – YOUR PLACE“ werben, dann weisen sie darauf hin, dass an diesem Ort die Träume der Besucher erfüllt werden können. Seit 1998 produziert und vermarktet die „Think Musicals AG“ verschiedene Musical-Eigenproduktionen. Neben den öffentlichen Musikaufführungen können Kunden das gesamte Theater mit oder ohne Show, einzelne Räume und Hallen, Darstellerinnen und Darsteller sowie individuelle Event-Konzeptionen buchen. Mit seinen jährlich 40.000 Besuchern, die vorwiegend aus den nahegelegenen Kantonen kommen, leistet die City Halle einen wesentlichen Beitrag zum Bekanntheitsgrad Winterthurs. Das Kesselhaus, welches sich in unmittelbarer Nachbarschaft zur City Halle befindet, soll in gleicher Weise zum Image des Stadtviertels beitragen. Als neues Wahrzeichen Winterthurs und als Symbol vergangener Industriezeiten präsentiert es eine Kombination von modernisierter Industriearchitektur und 72 vielseitigen Freizeitmöglichkeiten. Dieses Gebäude, in dem sich neben Einkaufs- und Gastronomieangeboten ein Multiplex-Kino befindet, soll der Unterhaltung dienen. In der Baueingabe „Kesselhaus Winterthur“ der Kamata AG stellen die Planer viele Innenräume vor, bei denen die Zitate der Industriegeschichte für eine intelligente Rauminszenierung genutzt werden. In der Kesselbar und in der Zigarrenlounge, um nur zwei Beispiele zu nennen, wurden die ehemaligen Kohlesilos des Kraftwerkgebäudes in die Raumplanung einbezogen. Im Dialog zwischen alter Bausubstanz und neuer Nutzung soll das Kesselhaus die Industriegeschichte als ästhetische Erfahrung ausdrücken. Auch hier wird deutlich, dass die Architekten die Industriekultur als einen wichtigen Motor der urbanen Regeneration begreifen. Trotz der vielen ambitionierten Umgestaltungsprojekte auf dem Sulzer-Areal darf nicht vergessen werden, dass die Zielgruppe der Reurbanisation vornehmlich auf die gut verdienende Mittelschicht ausgerichtet ist. Mit einem solchen Vorgehen können Konflikte vorprogrammiert sein, wenn es nicht gelingt, der Gefahr einer Zerstörung gewachsener sozialer Räume zu begegnen. Kritische Einwände gibt es im Hinblick auf die sozialen Verlierer: Urban Renaissance ist eine Risikostrategie und beansprucht gewaltige öffentliche Ressourcen, die vor allem den Mittelschichten zugutekommen. Die Förderung der sozialen Verlierer des Abschieds von der Industriegesellschaft 71 | Vgl. Stadt Winterthur: Potenzialstudie für eine Tagungs- und Eventlokalität , Winterthur, 2009, S. 24. 72 | Reicher schreibt hierzu: „Die Wirkung des weichen Standortfaktors ‚Kultur‘ wird verstärkt, wenn dieser mit dem Faktor ‚Freizeit‘ überlagert wird.“ Reicher (2009), S. 141.

Einführung

wird zwar nicht vergessen, bleibt aber im Schatten der politischen und öffentlichen Aufmerksamkeit sowie des Stadtmarketings. [...] Eine Angebotspolitik für Mittelschichten ist zwar unverzichtbar. Eine solche Angebotspolitik darf aber nicht als Gegensatz zu einer aktiven sozialen Stadtpolitik für die Verlierer angesehen werden, sondern muss sorgfältig mit dieser abgestimmt und abge73 wogen werden.

Ähnlich weist Manuel Castells auf die Gefahr einer bevorstehenden Segmentierung und Desorganisierung der Gesellschaft hin, wenn die herrschenden Füh74 rungseliten vor allem ihre eigenen Interessen durchsetzen wollen. In diesem Spannungsverhältnis muss sich auch Winterthur bewegen. Einerseits soll sich Winterthur in der Konkurrenz zu anderen Städten behaupten und andererseits muss die Stadt allen Bürgern eine ausreichende Lebensqualität anbieten. In welcher Weise Winterthur diese Herausforderung annimmt und wie sie den Spagat zwischen Anspruch und Wirklichkeit bewerkstelligt, soll in dieser Arbeit geklärt werden.

Abbildung 26: Sulzer-Areal mit City Halle. Quelle: Krug, 2010.

73 | Bodenschatz/Laible (2008), S. 63. 74 | Vgl. Castells (2004), S. 471.

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Abbildung 27: Musical – Plakat. Quelle: http://www.thinkmusicals.ch/ downloads/CityHalle_Doku.pdf, Stand: 14.8.2010.

Abbildung 28: Kesselhaus vor dem Umbau. Fassten die Grundeigentümer noch im Jahre 1989 in den Plänen von „Winti-Nova“ den Totalabbruch dieses Gebäudes ins Auge, soll es 20 Jahre später als neues Wahrzeichen das städtische Selbstbewusstsein verkörpern. Quelle: Krug, 2005.

Einführung

Die Produktion des Raumes und dessen Rekartografie Die Methode meiner Arbeit ist die Rekartografie. Sie steht in unmittelbarer Be75 ziehung zur „Produktion des Raumes“, die Henri Lefebvre in einer Triade aus der „räumlichen Praxis“, aus der „Repräsentation des Raumes“ und aus den 76 „Räumen der Repräsentation“ beschreibt. Die räumliche Praxis umfasst die sozialen und beruflichen Netzwerke der Interaktion und Kommunikation. Sie ermöglicht die Reproduktion des Raumes und beinhaltet die Alltagserfahrung der Menschen im Zusammenhang mit ihren Gewohnheiten. Dies sind die Routinen, „wie sie im Alltagsleben (z.B. tägliche Verknüpfung von Wohnort und Arbeitsplatz) oder im Produktions77 prozess (Produktions- und Austauschnetzwerke) entstehen“. Die räumliche Praxis fußt auf der materiellen Infrastruktur – wie Wohnungen, Straßen, Wege oder Telekommunikation – und beeinflusst das Leben der Bewohner. Sie dient in erster Linie dazu, dass das gesellschaftliche Leben funktioniert. Wenn die Studierenden der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften in der umgebauten Industriehalle ihre Seminare und Übungen besuchen, dort mit anderen Studierenden und Lehrenden in Beziehung treten oder ihre Studienprojekte entwickeln, so ist dies ein Beispiel der räumlichen Praxis. Ebenso präsentiert sie sich im Bereich des Wohnens und Einkaufens, so etwa, wenn junge Familien ins Stadtviertel ziehen und ihre Wohnungen einrichten, oder wenn die Arbeiter des SLM-Werks nach Arbeitsschluss im Einkaufszentrum Lokwerk ihre Einkäufe tätigen. Die Repräsentation der Räume drückt das Wissen über den Ort aus. Es ist der kognitive Raum, der von der Gesellschaft und ihren Vertretern – den Wissenschaftlern, Planern und Architekten – entwickelt wird. Als Beispiele seien hier die Gesamtplanungsstudie „Winti-Nova“ von Burckhardt+Partner AG oder das Megalou-Projekt von Jean Nouvel genannt. Dazu gehören die zahlreichen Testplanungen, die für das Sulzer-Areal erstellt wurden, und die als Grundlage für den Umbau vieler Gebäude dienten. Hinzu kommen die Nutzungskonzepte und Umgestaltungspläne, die Karten, Architekturpläne, Exposés oder wissenschaftlichen Untersuchungen. 78 Die Räume der Repräsentation umfassen die Imaginationsräume, die Gegenräume, die nicht entfremdeten Raumaneignungen, die Räume der Poesie 79 und der künstlerischen Interaktion. Sie erzeugen die Bedeutungen, Symbole und Mythen des Raumes. Als symbolische Räume spiegeln sie die Haltungen, 75 | 76 | 77 | 78 | 79 |

Lefebvre (2006), S. 330. Vgl. a.a.O., S. 330ff. Schmid (2005), S. 319. Vgl. Soja (1996), S. 67. Vgl. Schmid (2005), S. 320.

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Lebensstile und Werte der Benutzer wider. Sie stellen Möglichkeitsräume dar, mit denen die Menschen ihre Visionen ausdrücken. Im eigentlichen Sinne handelt es sich hierbei um „Darstellungsräume“, wie Christian Schmid anmerkt: „Die Räume der Repräsentation sind keine Repräsentationen des Raumes und sie verweisen nicht auf den Raum selbst, sondern auf ein Anderes, Drittes. Sie repräsentieren gesellschaftliche ‚Werte‘, Traditionen, Träume – und nicht zu80 letzt auch kollektive Erfahrungen und Erlebnisse.“ Damit können sie auch auf utopische oder alternative, jenseits einer kapitalistischen Raumlogik stehende Räume verweisen. Als Beispiel sei hier das ehemalige Sulzer-Hochhaus, der Wintower, genannt. Dieser Büroturm wurde in den Jahren 1962-1966 von dem Architekturbüro Suter+Suter, Basel, erbaut. Über 30 Jahre diente er dem Sulzer-Konzern als Bürogebäude und symbolisierte als höchstes Hochhaus der Schweiz die Wirtschaftskraft und das Selbstbewusstsein des Weltkonzerns. Während der Blütezeit der Firma arbeiteten in ihm täglich rund 1200 Menschen. Als markanter Bestandteil des Stadtbildes – der Büroturm ist von jedem Ort der Stadt aus sichtbar – gilt er 81 als ein Wahrzeichen Winterthurs. In den 1990er Jahren gab die Firma Sulzer das Hochhaus auf, worauf ein schleichender Verfall dieser Stadtikone einsetzte. Nach der Umstrukturierung der Firma wurde es an die Wintower AG, welche der privaten „Stiftung für Kunst, Kultur und Geschichte“ des Kunstsammlers und Immobilienunternehmers Bruno Stefanini gehört, verkauft. Da sich für das Gebäude keine Mieter finden ließen, stand es jahrelang als Immobilienbrache im Stadtzentrum. Im Februar 2004 wurde das Hochhaus zu einem umkämpften Gebiet, als etwa 300 meist jugendliche Personen in das Gebäude eindrangen und es für mehrere Tage besetzten. Der Winterthurer Stadtrat beschrieb die Hausbesetzung wie folgt: Am Freitagabend, 27. Februar 2004, drangen rund 200-300 meist jugendliche Personen in das Sulzer-Hochhaus (auch Wintower genannt) ein. Sie erklärten, dass sie das Hochhaus über das Wochenende besetzt halten wollten, um damit gegen die verfehlte Stadtentwicklung zu demonstrieren. Während dieser Zeit

80 | A.a.O., S. 223. 81 | Vgl. Stadt Winterthur: Stadtentwicklung Winterthur, Rahmenplan Stadtmitte , 2. Städtebau, Winterthur, 1995, S. 3.

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Abbildung 29: Wintower. Quelle: Krug, 2007.

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sollten in den unteren Stockwerken des Hochhauses verschiedene Workshops, Diskussionsforen, Filmvorführungen und andere Veranstaltungen rund um das Thema Stadtentwicklung stattfinden. Über ihre Anliegen und Forderungen würden sie die Medien am folgenden Tag informieren. Das Sulzer Hochhaus gehört der Stiftung für Kunst, Kultur und Geschichte. Deren Vertretung verzichtete am Freitagabend vorerst darauf, Strafantrag wegen Hausfriedensbruchs und Sachbeschädigung zu stellen und erklärte sich gegenüber den Besetzer/innen bereit, am folgenden Tag über das weitere Vorgehen zu verhandeln. Diese Verhandlungen führten in der Folge zu keiner einvernehmlichen Lösung, weshalb die Eigentümerin am Samstagmittag Strafantrag stellte, gleichzeitig aber die Bereitschaft signalisierte, den Strafantrag wieder zurückzuziehen, falls die Besetzer/innen das Hochhaus bis Sonntag Nachmittag verliessen und bis dahin kein erheblicher Schaden am Gebäude entstünde. Am Sonntag, 29. Februar 2004, verliessen die letzten 60-80 Besetzer/innen um 14 Uhr das Hochhaus. Beim darauf folgenden Rundgang durch die Liegenschaft stellte die Polizei in allen Stockwerken erhebliche Sachbeschädigungen in Form von Sprayereien und Vandalismus fest. Die Gebäudeeigentümerin schätzt den Sachschaden auf über Fr. 300‘000 .--. Aufgrund dieser hohen Schadens82 summe hielt die Eigentümerin an ihrem Strafantrag fest.

Nach der Hausbesetzung begannen die von Bruno Stefanini schon lange versprochenen Renovierungs- und Umgestaltungsarbeiten. Er ließ das Hochhaus entkernen und um zwei weitere Etagen aufstocken. Das Gebäudeinnere wurde bis auf den Rohbau rückgebaut und die gesamte Infrastruktur erneuert. An diesem Beispiel wird deutlich, dass Hausbesetzungen – auch wenn mit ihnen Gewalt und Vandalismus verbunden sind – mitunter auf Missstände aufmerksam machen und Veränderungen in die Wege leiten können. Darüber hinaus weisen solche Proteste immer auch auf Möglichkeitsräume hin, die sich den Mechanismen der herrschenden Macht entziehen. Die Hausbesetzer schufen einen öffentlichen „Gegenraum“, in welchem sie zahlreiche Diskussionen und Veranstaltungen planten. Mit medienwirksamen Aktionen versuchten sie, eine Diskussion über die Winterthurer Stadtentwicklung zu entfachen. An diesem Beispiel lässt sich aufzeigen, dass die Räume der Präsentation auf etwas “ „Anderes verweisen, so auf die Forderung nach einer humaneren

82 | Stadtrat von Winterthur: Beantwortung der Interpellation betreffend Besetzung Sulzer-Hochhaus, eingereicht von Gemeinderätin Natalie Rickli namens der SVP-Fraktion, Nr. 2004/020, Winterthur, 22. September 2004. Aus: www.stadt.winterthur.ch/daten/ weisungen/W04020.pdf, Stand: 23.12.2011.

Einführung

Stadtentwicklung oder auf die Generierung eines Gegenentwurfes zum beste83 henden kapitalistischen Gesellschaftssystem. Nach diesen Vorüberlegungen stellen sich Fragen, wie der soziale Raum des Sulzer-Areals in Winterthur untersucht, wie die Produktion des Raumes kartografiert und welche Methode dazu verwendet werden soll.

Abbildung 30: Blick über das Areal – Rohbau Kranbahn. Quelle: Krug, 2005.

Unter Bezugnahme auf Deleuze & Guattari will ich das kartografische Modell, das raumbezogene Informationen mit Hilfe von zweidimensionalen Karten liefert, weiterentwickeln und für diese Arbeit fruchtbar machen. Mit anderen Worten, ich will die Kartografie aus ihrer geografischen Bindung lösen und als 84 Metatheorie der Räumlichkeit mit dem Politischen erweitern. Heyer verweist darauf, dass die Geophilosophie von Deleuze & Guattari eine Art der Kartografie 85 darstellt. Durch die Verwendung des Rhizoms als Leitkategorie gelingt es ih83 | In einem im Internet veröffentlichten Schreiben wurde dieser Raum wie folgt skizziert: „Gegenentwurf […]. Wir nehmen uns diesen ungenutzten leeren Raum für eine gewisse Zeit, um dort nach unseren Vorstellungen Projekte zu entwickeln und Zeit zu verbringen. […] Dieser Raum soll für diese gewisse Zeit von all jenen genutzt werden, die sonst von den Plänen der offiziellen Politik ausgeschlossen sind. […] Wir schaffen Möglichkeiten für ein solidarisches, kollektives Zusammenleben. […] Wir sind die Stadt. Wir beginnen mit dem Aufbau der nachkapitalistischen Gesellschaft.“ Vgl. Flugblatt der Sulzermer Chindä vom 16.11.2004. Aus: http://www.stadtlabor.ch/urbane-revolte-2/, Stand: 23.12.2011. 84 | Vgl. Dünne/Günzel (2006), S. 381. 85 | Heyer weist darauf hin, dass sich die Kartografie von Deleuze & Guattari auch als eine Geophilosophie des Raumes verstehen lässt: „Die Methode, welche Deleuze &

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nen, die Philosophie selbst als Kartografie zu betrachten. Ich übernehme diese Auffassung für meine Arbeit und verwende das Rhizom als Orientierungssystem meiner Rekartografie. Wie bei Deleuze & Guattari löst sie sich als raumbezogene zweidimensionale Karte auf, und nimmt nicht nur den wahrnehmbaren materiellen Raum in Winterthur, sondern auch das politische Handeln der sozialen Akteure auf. Als „sozialräumliche Datenerhebung“ bewegen sich die Elemente dieses Rhizoms in die Bereiche der Politik und der Wissenschaft und berühren Kunst, Architektur und Literatur. In diesem Rhizom „verweist nicht jeder Strang notwendigerweise auf einen linguistischen Strang: semiotische Kettenglieder aller Art sind hier in unterschiedlicher Codierungsweise mit biologischen, politischen, ökonomischen etc. Kettengliedern verknüpft, wodurch nicht nur unterschiedliche Zeichenregime ins Spiel gebracht werden, sondern 86 auch unterschiedliche Sachverhalte“. Dies bedeutet, dass die Rekartografie mannigfaltige Themen beinhaltet. Sie reichen – wie in der Abbildung unten dargestellt – von soziologischen bis hin zu ästhetischen Themen. Das Rhizom ist eine Karte der Produktion des Raumes in Winterthur. Es bietet eine Orientierung dahin gehend, welche Planungsschritte stattfinden, welche politischen Themen aufgeworfen werden und wie sich die Diskussionen, Konflikte und Lösungen auf das Bild der Stadt auswirken. Diese Karte beinhaltet eine Vielzahl von Spuren des urbanen Palimpsests. Hier finden sich Diskussionen, Auseinandersetzungen, politische Entscheidungen, Visionen, Konzepte, Geschichten und Geschichte, Karten, Orte, Menschen und Räume, 87 Bilder und Imaginationen. Da sich das Rhizom kontinuierlich verändert, da es sich prozesshaft ausweitet und rückbildet, da es sich kerbt und glättet, hält es immer wieder Überraschungen bereit. Diese manifestieren sich in den politischen Aktionen wie den Bürgerprotesten gegen die erste Gesamtplanungsstudie des Sulzer-Areals im Jahre 1989 oder in den Planungen der Architekten, so zum Beispiel in dem Umbauprojekt „Megalou“ von Jean Nouvel. Guattari in ihren Werken entfalten, ist die Kartografie; ihre Philosophie als Konstruktivismus bezeichnend, haben sie Karten angelegt: sie haben ihren Karten verschiedene Namen gegeben, sie nannten sie Rhizom, Plateau, Ritornell, Strata, Gefüge o.ä., was sie damit beschrieben, gezeichnet haben, waren Karten und so ist die Bezeichnung Geophilosophie [...] die Konsequenz aus ihrer Arbeit als Kartografen.“ Vgl. Heyer (2001), S. 13. 86 | Deleuze/Guattari (2002), S. 16. 87 | Die Plateaus von Deleuze & Guattari finden hier ihre Verortung, wobei Rekartografie mehr bedeutet, als Landkarten zu entwerfen. Der kartografische Begriff wird erweitert, indem neben den kognitiven und realen Karten ebenso der reale, konzipierte und symbolische Raum aufgenommen wird: „Deleuze and Guattari compare the rhizome to a map with an infinite number of entrances. In this map power bases, centers of art, science, social struggle, politics and commerce are linked to each other.“ Graafland (2002), S. 289.

Einführung

Die Rekartografie des Sulzer-Areals umfasst eine Zeitspanne von 20 Jahren. In diesem Zeitraum hat sich ein monofunktionales Industriegebiet zu einem multifunktional durchmischten Raum mit Wohnungen, Freizeiteinrichtungen, Geschäften und Arbeitsplätzen entwickelt. Das Rhizom beinhaltet eine Reihe von gesellschaftspolitischen Themen, stadträumlichen Planungen und Umnutzungskonzepten des Sulzer-Areals. Ein Beispiel ist der im Jahre 1989 von der Firma Sulzer vorgestellte Masterplan „Winti-Nova“, der eine Bürgerbewegung ins Leben rief. Ein weiteres Beispiel gibt es in der Veranstaltungsreihe des „Schweizerischen Ingenieur- und Architektenvereins“ (SIA), welche die öffentliche Diskussion über eine zukünftige Gestaltung des Areals eröffnete und die Stadtplanung als eine öffentliche Angelegenheit betrachtete. Auch die „Werkstatt ’90“, eine von der Stadt Winterthur durchgeführte Planungsveranstaltung, welche die Ideen der sozialen Akteure sammelte und die politischen Grundlagen einer Neugestaltung des Sulzer-Areals schuf, sei hier genannt. Große Bedeutung für die Transformation des Sulzer-Areals hatte das legendäre „Megalou-Projekt“ von Jean Nouvel, das die Richtung für die weitere funktionale und ästhetische Umgestaltung des Areals vorgab. Mit dieser Rekartografie soll eine Landkarte der Winterthurer Stadtentwicklung entworfen werden, welche wie eine Folie über die Stadtentwicklungsprozesse anderer Orte gelegt werden kann. Beim Vergleich dieser Folien werden einige Themen deckungsgleich sein, andere werden sich überschneiden, manche werden aus dem Rahmen fallen oder sogar neue Inhalte schaffen. Mit dieser Methode soll nicht nur ein sozialer Raum untersucht, sondern auch ausgelotet werden, ob das Sulzer-Areal für ein Modell einer nachhaltigen Stadtentwicklung geeignet ist. In dem Schema (Abbildung 31) sind die Phasen der Arealentwicklung (linke Spalte) chronologisch festgehalten. Im Hinblick auf eine Umgestaltung des Sulzer-Areals zeigen sich drei Lösungsansätze (mittlere Spalte), die sich zwischen einem Totalabbruch und einem vollständigen Erhalt bewegen. Die stadtrelevanten Themen, welche die Arealentwicklung maßgeblich beeinflussen und die sich parallel zu den einzelnen Planungsschritten lesen lassen, zeigt die rechte Spalte. Diese Arbeit generiert ein Rhizom, das aus zahlreichen Plateaus besteht. Wie eine Website sind die Plateaus miteinander verknüpft und können ergänzt, korrigiert oder weitergeschrieben werden. Die Bilder und Karten, welche den Text ergänzen, sind konstitutive Merkmale dieser Forschungsarbeit. Sie verdeutlichen und klären die Produktion des Raumes in Winterthur. Diese Arbeit ist nicht (ab)geschlossen, sondern für ein Überschreiben geöffnet.

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Die Rekartografie des Sulzer-Areals

Abbildung 31: Rekartografie des Sulzer-Areals 1989 bis 2009.

M ÖGLICHKEITSR ÄUME (ER) FINDEN – D AS S UL ZER -A RE AL S TADTMIT TE D AS U MGESTALTUNGSKONZEP T „W INTI -N OVA“ Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte die Firma Sulzer eine wirtschaftliche Blüte. Im Schiffsmotorenbau wurde sie zum Weltmarktführer. Bei der Webmaschinenherstellung konnten hervorragende Verkaufsergebnisse erzielt werden; noch am Ende des 20. Jahrhunderts sprach man davon, dass jede zweite Jeans 1 auf der Welt auf einer Sulzer-Maschine gewoben werde. In den 1970er Jahren geriet das marktwirtschaftlich orientierte Wirtschaftssystem der westlichen Industriestaaten in den Sog einer tief greifenden Absatz2 krise. Dieser Umschwung berührte auch die Firma Sulzer. Zwar begannen die 1970er Jahre aussichtsreich, doch befand man sich bereits 1975, so der damalige Verwaltungsratspräsident Georg Sulzer, im Zeichen der schwersten wirtschaftlichen Rezession der Nachkriegszeit. Der Bestelleingang an Sulzer-Produkten ging zurück; erstmals sprach man bei Sulzer im Mai 1976 von Kurzarbeit. Zwar blieb die Beschäftigung in den meisten Werkstätten gesichert und Kurzarbeit kam nur ausnahmsweise vor, doch war der Konzerngewinn seit 1976 rückläu3 fig. Obwohl die „Gebrüder Sulzer AG“ im Jahre 1982 die Maschinenfabrik 4 Rüti übernahm und ihr Webmaschinengeschäft ausbaute, „schrieb das Unternehmen zwei Jahre später rote Zahlen und musste auf die Ausschüttung einer 5 Dividende verzichten“. Der 20-jährige Wirtschaftsaufschwung stockte mit Beginn der 1980er Jahre. Bei Sulzer suchte man nun nach neuen Strategien, um die Marktanteile zu vergrößern und neue Märkte zu erschließen. Die Folge war eine Neu- und Restrukturierung der Produktion, die sich an den Kriterien 1 | Vgl. http://www.nzzfolio.ch/www/d80bd71b-b264-4db4-afd0-277884b93470/ showarticle/62fa93fb-69fc-462e-a2cc-8100cfdde7cd.aspx, Stand: 05.05.2012 2 | Vgl. Castells (2004), S. 100ff. 3 | Vgl. Bärtschi-Baumann (2002), S. 226ff. 4 | Der Ausbau des Webmaschinengeschäftes im Jahre 1982 sollte sich später als Fehlentscheidung herausstellen. Im Jahre 1991 führte der Konjunktureinbruch bei Textilmaschinen zu einem weiteren Personalabbau. 5 | Arb/Pfrunder (1992), S.184.

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der größeren Flexibilität des Managements, der Dezentralisierung und der Vernetzung innerhalb der Unternehmen orientierte. Es erfolgten Reorganisationsmaßnahmen und die Straffung der Produktpalette sowie die Auslagerung, der Verkauf oder die Stilllegung traditionsreicher Teile der Produktion, wie etwa die 6 der Dieselmotorenherstellung. Dass dieser Prozess für viele Arbeitnehmer mit schmerzhaften Gefühlen verbunden war, beschreibt Giorgio von Arb: Plötzlich wird eine Halle leer. Das Kesselhaus ist die zentrale Wärmeversorgung. Jetzt ist es schon so, dass wir zum Teil praktisch leere Hallen beheizen. Vielleicht sind da noch zwei Leute drin, und die haben laut Arbeitsgesetz ein Anrecht auf eine Minimumtemperatur von 14 Grad. Es ist manchmal beelendend, wie die Leute hier verschwinden. Wenn ich meinen Rundgang mache: plötzlich ist wieder eine Halle leer. Zu gewissen Zeiten waren doch zum Beispiel in der grossen Montagehalle manchmal fünf Dieselmotoren auf dem Prüfstand. Oder dort, wo die Grossgiesserei war, haben sie ja später die grossen Dieselständer geschweisst, während der Hochkonjunktur dreischichtig. Vor sieben, acht Jahren, wenn ich morgens mit dem Velo zur Arbeit fuhr, überlegte ich mir schon: Heute machen wir das, das und das. Jetzt denke ich jeweils, hoffentlich kommt heute keiner ins Büro, der Arbeit sucht. 1972 hatte ich 24 Mann, jetzt sind wir noch neun, mit mir. Es ist eine Vereinsamung. Früher hat man sich doch an jeder Ecke gegrüsst. Kommt dazu, dass ich während 18 Jahren im Schichtbetrieb gearbeitet habe, da ist man auch ein wenig vereinsamt, konnte in keinem Verein mitmachen. Bei der Arbeit selbst fühlte man sich aber nicht einsam, in der Giesserei zum Beispiel waren praktisch Tag und Nacht Leute. Jetzt ist es am Tag fast einsamer als früher 7 während der Nacht.

Die meisten Industrieaktivitäten wurden an andere Firmen oder an das jeweilige Management (Management-Buy-out) verkauft. Zunächst richtete die Firma Sulzer ihr unternehmerisches Engagement auf die Materialtechnologie, was die Grundlage dafür schaffen sollte, den Wandel vom Maschinenbaukonzern zum Technologiekonzern voranzutreiben. Anstelle der Produktion von Dieselmotoren stand nun die Entwicklung für die Medizinaltechnik, Kraftwerktechnik und 8 Verfahrenstechnik im Mittelpunkt. Die Umstrukturierungen hatten weitreichende Auswirkungen auf den Produktionsstandort Winterthur. Bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts waren 6 | Die Verlagerung von Produktionstätigkeiten ins Umland oder Ausland ging einher mit einer Tertiärisierung der städtischen Ökonomie. Vgl. Häußermann (2003), S. 522. 7 | Vgl. Arb/Pfrunder (1992), S. 130f. 8 | Vgl. a.a.O., S. 22ff.

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die Produktivkräfte in industriellen Produktionszentren – wie im Sulzer-Areal – versammelt. Eine solche örtliche Konzentration hielt die Geschäftsleitung nun nicht mehr für notwendig und – wie an vielen anderen Orten der Industrienationen auch – entstand in dem Winterthurer Konzern eine Dezentralisierung der 9 Produktion und eine Auflösung der großen Fabriken. Sulzer lagerte die zentrale Fertigung in andere Länder aus, behielt aber den Hochtechnologiebereich in der Stadt. Die Firma begann sich nun „auf jene strategisch wichtigen Qualitätsprodukte zu konzentrieren, die ein hohes Niveau an Know-how voraussetzten 10 und deshalb nicht einfach in Niedriglohnländern gefertigt werden konnten“. Nicht nur in Winterthur, sondern auch in der gesamten Schweiz führte in den 1980er Jahren der wirtschaftliche Strukturwandel zu einer Deindustrialisierung der Städte. Zwar wurden sie durch den Dienstleistungssektor, der sich aus den Sparten wie Immobilienwesen, Informatik, Forschung und Entwicklung sowie Rechtsberatungen, Banken und Versicherungen zusammensetzte, weitgehend ausgeglichen, doch veränderte die Deindustrialisierung mit ihrem Leer11 stand an Fabriken das Bild vieler Städte. Der Abschied vom Konzept der zentralen Produktionsstätte bedeutete nicht nur das Ende des Sulzer-Areals als industriellen Standort, sondern auch den 12 Beginn einer Vermarktung der nun leer stehenden Industrieareale. Nachdem im Jahre 1987 die Firma Sulzer die Teilareale „Zürcherstraße“ und „Lagerplatz“ als „nicht betriebsnotwendige Liegenschaften“ abklassifizierte, sollte zwei Jahre später die Entscheidung fallen, die Produktion vollständig auszulagern. Die Abwicklung des „Umstrukturierungsprojektes Sulzer-Areal Stadtmitte“ sollte durch die Liegenschaftstreuhänderin des Sulzer-Konzerns, die Sulzer Immo13 bilien AG, vorgenommen werden. Der im Frühjahr 1988 von Pierre Borgeaud, dem Präsidenten der Sulzer-Konzernleitung, angekündigte Auszug aus den Arealen I und II, d.h. dem Gründerareal und dem Lagerplatzareal, folgte 14 der Umzug nach Oberwinterthur. Die Maschinen wurden demontiert, abtransportiert und an dem neu geschaffenen Standort wieder aufgebaut. Den Entschluss, die Teilareale aufzulösen, kommentierte Othmar Hegi, der bis zu seiner Pensionierung 1991 Mitglied der Sulzer-Konzernleitung war, auf folgende Weise: 9 | Vgl. Bärtschi: (2002), S. 9ff. 10 | Arb/Pfrunder (1992), S. 23. 11 | Vgl. Häußermann/Siebel (1987), S. 32. 12 | Die Zukunft des Sulzer-Areals Stadtmitte erläuterte die Gebrüder Sulzer-Konzernleitung in einem Schreiben vom 4.7.1988 an den Regierungsrat Dr. Honegger/Kantonale Baudirektion. Vgl. Burckhardt+Partner AG: Gesamtplanungsstudie Sulzer Areale in Winterthur, Basel, 1989, S. 1. 13 | Vgl. Koll-Schretzenmayr/Müller (2002), S. 3. 14 | Vgl. Arb/Pfrunder (1992), S. 22.

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Mitte der achtziger Jahre erkannten wir, dass wir für das, was wir noch produzieren wollten, auf unserem Industriegelände in Oberwinterthur genügend Platz haben [...]. Der erste Gedanke an die Stilllegung der Areale I und II hat uns selbst ein wenig erschreckt, bei all den hohen Investitionen darin. Aber in der Konzernleitung setzte sich die Idee durch. Die meisten Gebäude waren so alt, dass bald umfassende Neuerungen nötig geworden wären. Und eine so grosse Produktionsstätte gehört sowieso nicht mitten in eine moderne Stadt. Dann kamen noch die Bodenpreise hinzu und der Druck von aussen. Aktionäre, Financiers und Banken sagten damals: „Ihr sitzt auf so reichen Gütern! Bitte, das Areal ist soundso viel wert, aber ihr verdient damit nicht, was man verdienen 15 müsste.“

Als im Jahr 1990 die Räumung des Gründungsareals in Winterthur begann, blieben zwar einzelne Fertigungsanlagen noch in Betrieb, doch wollte die Firmenleitung das Areal mit Ausnahme der SLM frühestens 1992 vollständig geräumt haben. Der Beschluss der Konzernleitung über die Stilllegung des Gründer-Areals, des Lagerplatzes und des SLM-2-Areals führte zu Überlegungen über eine Neunutzung und Vermarktung des gesamten Sulzer-Areals. Um ein Konzept für die künftige Nutzung zu entwerfen, beauftragte Sulzer die Architektengruppe Burckhardt+Partner AG aus Basel, eine Studie für eine Neuüberbauung auszuarbeiten. In diesem Entwurf wurde das ganze Industriegebiet von Sulzer und der SLM in den Planungsprozess aufgenommen. Dabei konzentrierte sich die Projektbearbeitung auf folgende Parzellen: Das Fabrikationsgelände an der Zürcherstraße (Parzelle 1), das Lagerplatzareal (Parzelle 2), das SLM-Werk 2 (Parzelle 3), das SLM-Werk 1 (Parzelle 4) und das SLM-Werk 3 (Parzelle 5). Diese Planungsstudie erhielt den Namen „Winti-Nova“ und wurde von Oktober 1988 bis April 1989 gemeinsam vom Gesamtplanungsteam des Architekturbüros Burckhardt+Partner AG und der Planungskommission Sulzer erstellt. Für den Konzern sollte diese Studie „intern als Arbeitsinstrument und extern als erste Diskussionsbasis mit der Stadt Winterthur, mit den betroffenen Gremien und allenfalls für die ersten Gespräche mit allfälligen Investoren oder Nutzern 16 dienen“. Die Wortschöpfung „Winti-Nova“ sollte als Form der „Inszenierung 17 des Eigenen“ zur Imagebildung beitragen und eine Marke generieren, um 18 das Areal bekannt zu machen und gewinnbringend zu vermarkten. „Winti15 | A.a.O., S. 24. 16 | Burckhardt+Partner AG: Gesamtplanungsstudie Sulzer Areale in Winterthur, Basel, 1989, S. 2. 17 | Löw (2008), S. 241. 18 | Speer spricht von einer Identität der Stadt und verknüpft die Begriffe Image und Persönlichkeit. Das Image soll der Stadt helfen, sich innerhalb eines globalen Mark-

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Nova“ als das „neu zu schaffende Winterthur“ verdichtete sich damit zu einem vermarktbaren Produkt, welches das Interesse der Investoren wecken sollte. Auch sollte mit dieser Studie das Vertrauen der Bevölkerung in die Neuplanung gewonnen werden.

Abbildung 32: Parzellen des Sulzer-Areals. Ausgenommen war bei der Planung das Areal um das Sulzer-Hochhaus (gelbe Fläche). Quelle: Burckhardt+Partner AG: Gesamtplanungsstudie Sulzer Areale in Winterthur, Basel, 1989, S. 120.

Bei der Umgestaltung des Sulzer-Areals war geplant, ein Drittel der Gesamtfläche für die eigene Nutzung und zur Kapitalanlage der Firma Sulzer zu behalten, 19 ein Drittel zum Verkauf anzubieten und ein Drittel „im Baurecht“ abzugeben. Mit der Schaffung und Vermarktung eines neuen Stadtviertels wollte die Firma nicht nur einen neuen städtebaulichen Akzent setzen, sondern auch eine Erhöhung der Attraktivität von Winterthur erzielen und die Schaffung neuer Arbeitsplätze ermöglichen. Die Planer entwickelten mittels einer Funktionsum20 widmung ein nutzungsgemischtes Konzept. Dieses sollte die Schaffung von

tes zu positionieren: „Angenommen, Städte wären Produkte auf einem globalen Markt, dann müssten sie auch ihre Persönlichkeit feilbieten und betonen, was sie vor anderen Orten auszeichnet, egal ob es sich um historische, europäische oder neue Städte in den Ländern der ‚Emerging Markets‘ handelt.“ Gaines/Jäger (2009), S. 98. 19 | Baurecht bedeutet, dass man das Land auf lange Zeit vermietet (Baurechtsvertrag). Man bleibt Eigentümer des Grundstücks und erhält für den Gebrauch der Liegenschaft einen Baurechtszins. 20 | Vgl. Streich (2005), S. 415f.

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Dienstleistungs-, Industrie- und Gewerbeunternehmen sowie die Möglichkeit 21 des Wohnens gewährleisten. Sulzer bot in seiner Nutzungsstudie an, entweder „eine Zonenplanänderung zu beantragen oder entsprechend der etappierten Bebauung kammerwei22 se private Gestaltungspläne vorzulegen“. Der Konzern versprach eine Zusammenarbeit mit den Stadtbehörden, mit potenziellen Nutzern und interessierten 23 Kreisen, um „einen umfassenden Beitrag zur lebendigen Stadtentwicklung“ zu leisten. Die Mitsprache der Stadtbevölkerung sah Sulzer in der Zusammenarbeit mit dem Stadtparlament und seinen Gremien gewährleistet. Da es sich um industriell genutzte Liegenschaften handelte, stellte sich die Frage, was mit den Gebäuden und der gebauten Struktur des ehemaligen Industrieareals geschehen sollte. Noch waren die Werkleitungen und die Straßeninfrastruktur auf die Anforderungen der früheren industriellen Produktion ausgerichtet, und noch war der Stadtteil nicht auf den notwendigen Standard des bevorstehenden 21. Jahrhunderts mit seinen ökologischen und technologischen Erfordernissen vorbereitet. Wie konnte also eine Industriebrache, deren Boden hoch kontaminiert war, in eine neue Nutzung überführt werden, und was sollte mit der alten historischen Bausubstanz geschehen, die über 100 Jahre das Stadtbild und die Identität der Menschen Winterthurs geprägt hatte? Sollte man alles abreißen und einen neuen Stadtteil bauen oder konnte man eine Lösung finden, welche die industrielle Vorgeschichte aufnimmt und innerhalb einer neuen Nutzung integriert? Nachdem die Konzernleitung den Chef der Sulzer-Liegenschaften beauftragt hatte, einen Planungsvorschlag für das Sulzer-Areal zu entwickeln, kreisten die Gedanken von einem kompletten Abbruch bis zur vollständigen Erhaltung des 24 Areals. Die historische Bedeutung des Areals sollte nach Meinung des Planungsteams durch den Erhalt einzelner, ehemals industriell genutzter Gebäude 25 berücksichtigt werden. Dies bedeutete, dass der Gesamtplan von „Winti-Nova“ 21 | In ihrer Pressemitteilung zählte Sulzer zahlreiche Neunutzungen auf, wie ein „Hotel mit Kongressräumen und Schulungszentren, ein Warenhaus, private und öffentliche Dienstleistungsbetriebe […] neue Wohnungen, ein Senioren-, Quartier- und Kulturzentrum sowie die obligate ‚Quartierbeiz‘“. Vgl. in: Gebrüder Sulzer AG: Pressemitteilung Winti-Nova , Stand: November 1989. 22 | Keller (1990a), S. 17. 23 | Vgl. Gebrüder Sulzer AG: Winti-Nova, Projektinformationen, Stand: November 1989, S. 4. 24 | Vgl. Interview mit Paul Wanner, ehemaliger Sulzer-Immobilienchef, 3. August 2007. 25 | „Zur Identifikation des Quartiers und zur Darstellung der eigenen Unternehmensgeschichte wird Sulzer die Erhaltung einzelner markanter und schützenswerter Gebäude bei der Neugestaltung integrieren.“ Gebrüder Sulzer AG: Winti-Nova, Projektinformationen, Stand: November 1989, S. 4.

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sowohl Neubauten als auch die Erhaltung historischer Baukörper vorsah. Hierbei wollte man unter anderem einen Schwerpunkt auf das Sulzer-Gründungs26 gebäude von 1834 legen, das sich im Zentrum des Areals befand. Vor der Ausformulierung und Prüfung des „Winti-Nova-Konzepts“ lagen weitere Planungsschritte, welche die Neuformulierung des Geländes in verschiedenen Varianten beinhalteten und anschließend zu einer endgültigen Fassung radikalisiert werden mussten. Am 9. Februar 1989 trafen sich die Planungskommission Sulzer und die Mitarbeiter des Planungsteams der Burckhardt+Partner AG im Schloss Böttstein und besprachen die Lösungsvarianten für die Gestal27 tung des Sulzer-Areals. Für die Experten erschien ein Totalabriss, der alle auf dem Areal stehenden Gebäude durch Neubauten ersetzt hätte, als unrealistisch. Ebenso verwarfen sie die Idee eines Totalerhalts, bei welchem die Gebäudesubstanz durch Umbau- und Sanierungsmaßnahmen hätte bewahrt werden können. Um ein wirtschaftliches Überbauungskonzept zu finden, sprachen sich die Mitglieder der Kommission nochmals deutlich für eine Kombination von 28 Neubauten und dem Erhalt historisch wertvoller Bauwerke aus. Nachdem elf Lösungsvorschläge auf dem Tisch lagen, wählte das Team sechs davon aus, um sie weiterzuentwickeln und daraus den Masterplan zu entwerfen. Am 17. März 1989 präsentierte das Planungsteam Burckhardt+Partner AG innerhalb eines Planungsseminars die detailliert ausgearbeiteten Varianten. Unter der Bezeichnung „Konzeptvariante A“ bis „Konzeptvariante F“ wollte es eine Bewertung der Pläne vornehmen, um sie zu einer letzten Variante, der „Synthese“, zusammenzufassen. Als endgültiger Entwurf sollte anschließend 29 der Masterplan der Konzernleitung zur Prüfung vorgelegt werden. Um das Konzept „Winti-Nova“ besser verstehen zu können, ist es hilfreich, einen Blick auf die sechs Varianten zu werfen. Eine detaillierte Auskunft gibt die „Planungsstudie Sulzer-Areale in Winterthur“, welche die Burckhardt+Partner AG 1989 verfasste, und auf die sich die folgenden Angaben beziehen werden. Die „Konzeptvariante A“ zeigte eine totale Neuformulierung der Überbauungsstruktur im gesamten Planungsraum der fünf Parzellen. Konkret hieß das: Abbruch aller bestehenden Bauten und die Neuüberbauung der Planungsareale, die Realisierung großzügiger Plätze an der Fußgängerachse, Bürotrakte in allen Bauten und auf allen Parzellen sowie Realisierung eines ellipsenförmigen Hochhauses im Kopfbereich. Die Hauptnutzung sollte im Bereich privater 26 | A.a.O., S.7. 27 | Dabei stellten sie fest, dass fast ein Dutzend Lösungsmöglichkeiten einer Neugestaltung des Areals vorlagen. Vgl. Burckhardt+Partner AG: Gesamtplanungsstudie Sulzer Areale in Winterthur, Basel, 1989, S. 73. 28 | Vgl. a.a.O., S. 78. 29 | Vgl. a.a.O., S. 79.

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Dienstleistungsbauten erfolgen. Wie bei allen anderen Konzepten war an eine dreistufige Projektierung gedacht, die von 1992 bis 2015 erfolgen sollte.

Abbildung 33: Konzeptvariante A. Im Vordergrund stand die wirtschaftliche Nutzung, bei der durch Anordnung von abgestuften Baukörpern eine optimale Beziehung zwischen überbauter Fläche und Freiräumen geschafft werden sollte. Konzipiert war ein kompletter Abbruch des Areals. Quelle: Burckhardt+Partner AG: Gesamtplanungsstudie Sulzer Areale in Winterthur, Basel, 1989, S. 193.

Die „Konzeptvariante B“ ging von einer Integration schützenswerter Bauten an der Zürcherstraße, Jägerstraße und entlang der SBB-Gleise aus. Die restlichen ehemaligen Industriegebäude, außer Gebäude 87, der heutigen City Halle, und die Gebäude 34, 36, 37, 38, – hier waren massive Umbauten geplant – wollte man abbrechen. Mit der Erstellung neuer Gebäude sollte eine optimale Nutzung des Baulandes für zentrumsorientierte Funktionen sichergestellt werden. Wie bei „Variante A“ wurde dem Bereich der Dienstleistungen großes Gewicht eingeräumt. Das bedeutete eine verdichtete Überbauung der Sulzer-Großparzelle (Parzelle 1), des Lagerplatzes und der SLM-Parzellen für 31 künftige Dienstleistungsbedürfnisse der Stadt. Hauptmerkmale dieses Konzepts waren die Querverbindungen über die Zürcherstraße zu den Stadtvierteln „Waldhof“ und „Neuwiesen“ sowie zwei dreieckige Hochhäuser im Kopfbereich des Sulzer-Areals. Einzelne historisch wertvolle Bauten sollten erhalten und je nach Nutzung umgebaut werden.

30 | Vgl: a.a.O., S. 85f. 31 | Vgl: a.a.O., S. 86.

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Abbildung 34: Konzeptvariante B. Die Flächennutzung, die sich nach den künftigen Bedürfnissen der Stadt richten sollte, war mit einer möglichst optimalen Mischnutzung geplant. Dieses Konzept bewegte sich zwischen Abriss und teilweisem Erhalt der historischen Bausubstanz. Quelle: Burckhardt+Partner AG: Gesamtplanungsstudie Sulzer Areale in Winterthur, Basel, 1989, S. 96.

Eine ähnliche Lösung wie „Variante B“ bot die „Konzeptvariante C“. Auch hier sollten einzelne Bauten, vor allem an der Zürcherstraße, erhalten und für eine Mischnutzung umgebaut werden. Die Überbauung im Bereich SLM-Großparzelle war an drei Erschließungsästen orientiert, wobei dem Wohnen in diesem Plan eine größere Bedeutung beigemessen wurde. Auch bei diesem Konzept dominierte der Bereich der Dienstleistungen. Als Hauptmerkmal dieser Variante waren die Fußgänger-Achse von der Altstadt über die Bahngleise Zürcherstraße und Bauten mit einer Mischnutzungsstruktur bis zur Oberen Briggstraße geplant. Ein sehr großzügiger Freiraum sollte zwischen den Parzellen 1 und 4 entstehen. Die Bewahrung bestehender Bauten war das Anliegen der „Konzeptvariante D“. Hier integrierten die Architekten sämtliche bestehenden Bauten entlang der Zürcherstraße sowie den „Kopfbau“, das Kesselhaus, in eine neue Gesamtstruktur. Während auf den Parzellen, die parallel zur Zürcherstraße verliefen, eine massive Überbauung geplant war, sollte in der Mitte des Planungsraumes eine großzügige Parkanlage entstehen. Ebenso dachte man an eine vollständige Überbauung des Lagerplatzes, der für öffentliche Dienstleistungen vorgesehen war. Die lockere Überbauung der Parzellen um die Jägerstraße sollte für Wohnungen und Büros genutzt werden. Eine radikale, den historischen Gegebenheiten entsprechende Variante, stellte die „Konzeptvariante E“ dar. Sie sah eine weitgehende Erhaltung der be-

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stehenden Bauten vor. Es sollten lediglich die ehemalige Spedition (Halle 193; Lagerplatz), die Gebäude 1026 und 1029 auf dem SLM-Areal 1 und alle Gebäude auf dem SLM-Areal 2 (außer der ehemaligen Kantine, dem Gebäude 1067) abgerissen werden. Der größte Teil des Gesamtareals wäre bei diesem Plan in seiner historischen Bausubstanz erhalten geblieben. Dies drückt die Planungsstudie in folgender Weise aus: Sämtliche SLM- und Sulzer-Produktions- und Lagerbauten sollen für andere Nutzungen umgebaut werden. Fünf Hochhäuser (Türme) ergänzen die Gesamtstruktur des Planungsraumes und ein horizontaler Verbindungsbau auf 18 m Höhe soll die interne (innerhalb vom Planungsraum) und externe Verbindung (zur Altstadt) gewährleisten. Hauptmerkmale dieser Variante sind: Erhaltung der historischen Sulzer-Struktur und stufenlose Realisierungs- und Entwicklungsmöglichkeit der 32 Gesamtanlage.

Die „Konzeptvariante F“ ging in ähnlicher Weise von einer Schonung bestehender Hallen und Bürobauten aus. Charakteristisch war hier die netzartige Ergänzung der Gesamtanlage durch drei bzw. vier Neubaukomplexe. Eine dieser Neubauanlagen sollte über die SBB-Gleise zum anderen Stadtteil wachsen und somit eine direktere Verbindung zur Altstadt bilden.

Abbildung 35: Konzeptvariante C. Hier lag die Lösung zwischen einem Abbruch und Erhalt der bestehenden Gebäude. Quelle: Burckhardt+Partner AG: Gesamtplanungsstudie Sulzer Areale in Winterthur, Basel, 1989, S. 99.

32 | Vgl: A.a.O., S. 86.

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Abbildung 36: Konzeptvariante D. Lösung zwischen Abbruch und Erhalt der historischen Bausubstanz. Quelle: Burckhardt+Partner AG: Gesamtplanungsstudie Sulzer Areale in Winterthur, Basel, 1989, S. 102.

Abbildung 37: Konzeptvariante E. Dieses Konzept sieht eine vollständige Erhaltung der bestehenden Bauten vor. Quelle: Burckhardt+Partner AG: Gesamtplanungsstudie Sulzer Areale in Winterthur, Basel, 1989, S. 105.

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Abbildung 38: Konzeptvariante F. Bei diesem Konzept sind die Neubauanlagen parallel zum SBB-Gleis vorgesehen. Quelle: Burckhardt+Partner AG: Gesamtplanungsstudie Sulzer Areale in Winterthur, Basel, 1989, S. 108.

Um die Einzelkonzepte zu bewerten, erfolgte vom 17. bis zum 18. März 1989 im Rahmen eines zweitägigen Entscheidungsseminars die Beurteilung durch die Planungskommission Sulzer und des Planungsteams Burckhardt+Partner AG. Als Ergebnis wurde die Variante A verworfen, da sie von den beiden Planungsteams als eine zu radikale und städtebaulich unattraktive Lösung erachtet wurde. Ansätze dieser Planung sollten aber eventuell in einer Synthese für ande33 re Konzepte übernommen werden. Die Variante B beurteilte das Team als optimale Lösung: „Die Haupt-Vorteile dieser Variante sieht man in der Überbauungsstruktur im Areal ‚Lagerplatz‘, in der strukturellen Anpassung der geplanten Neubauten, in der Gesamtstruktur des Quartiers, in der optimalen Integration einiger bestehender Bauten in die Gesamtanlage und schliesslich 34 die optimalen Nutzungskombinationsmöglichkeiten des Konzeptes.“ Die Varianten C und D wurden wegen der Etappierungs- und Blockbildungsmöglichkeiten einerseits und der großzügigen Parkanlage im Zentrum des Viertels andererseits gut bewertet. Die Varianten E und F wurden verworfen; das Team vertrat die Ansicht, dass diese Konzepte einer wirtschaftlichen Vermarktung des Areals entgegenstünden: „Diese 2 Varianten werden von den Mitgliedern der Planungskommission einstimmig als eindeutig unrealistisch, unwirtschaftlich und städtebaulich weniger attraktiv eingestuft. Diese Varianten sind mit sehr 33 | Vgl. a.a.O., S. 89. 34 | A.a.O., S. 89.

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vielen Nachteilen behaftet. Gute Ansätze für die Überarbeitung von anderen 35 Varianten bieten sie nicht.“ Die Kommission entschied sich, die Varianten D und C in die engere Auswahl zu nehmen und sie als Vorlage für den Masterplan 36 „Winti-Nova“ zu verwenden. Mit dieser vorgestellten Historie der verschiedenen Planungsversionen wird ersichtlich, dass die Frage nach dem Erhalt der schützenswerten Altbauten von den Planern durchaus gestellt wurde, dass allerdings der kulturelle Wert des Sulzer-Areals mit seiner historischen Bausubstanz und Raumstruktur im Sin37 ne eines „kulturellen Kapitals“ weniger im Mittelpunkt der Planungsstudie stand. Zwar erörterte das Planungsteam die Aufwertung des Stadtzentrums durch eine optimale Integration der schützenswerten Altbauten, doch spielte dieser Punkt bei der Gewichtung und Bewertung der Varianten eine eher untergeordnete Rolle. Die Bedeutung des Sulzer-Areals als kultureller Wert der Stadt Winterthur erkannte erst Hans-Peter Bärtschi in seinem Bauinventar von 1989/90: Die Industriebauten auf dem Sulzer-Areal sind ausschliesslich Resultate der Ingenieurbaukunst [...], beim Bau der SLM-Fabrikhallen waren auch Architekten wie Ernst Jung beteiligt. Industriebaukunst ist hier nicht Kunst im herkömmlichen Sinne, sondern Kunst der statischen Nützlichkeit, der Dauerhaftigkeit, eine konstruktive Kunst, grosse Räume mit Böden für hohe Traglasten zu bauen und nicht zuletzt eine Kunst, in tiefe Räume möglichst viel natürliches Licht und eine natürliche Durchlüftung zu bringen. Die wichtigsten Merkmale dieser Bau38 werke sind ihre technische Beschaffenheit und ihre Innenräume.

Am 5. April 1989 stellte die Architektengruppe der Burckhardt+Partner AG zusammen mit der Planungskommission Sulzer anhand von Dias und Planfolien 39 die Ergebnisse der Konzernleitung vor. 35 | A.a.O., S. 89. 36 | Die Planungskommission fasste diese Entscheidung wie folgt zusammen: „Die Varianten A, E und F werden nicht weiter in Betracht gezogen, während Variante B, C und D weiter überprüft werden sollen. Die Varianten B oder C sollen als Basis für weitere Planungsarbeiten dienen. Die Planungskommission Sulzer beauftragte den Leiter des Planungsteams Burckhardt+Partner AG (Dr. M. Jahrudi) und Leiter des Projektteams Sulzer (P. Wanner) mit einer nachträglichen, systematischen Beurteilung der Varianten zwecks Überprüfung der vorerwähnt, erläuterten Entscheidung.“ A.a.O., S. 89. 37 | Vgl. Featherstone (1994). 38 | Büro ARIAS, Dr. Hans-Peter Bärtschi und Thomas Juchler, im Auftrag der Stadt Winterthur/Dep. Bau: Bauinventar Areale Sulzer/SLM, Winterthur, 1989/90, S. 17. 39 | Vgl. Burckhardt+Partner AG: Gesamtplanungsstudie Sulzer Areale in Winterthur, Basel, 1989, S. 113.

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Die öffentliche Vorstellung der Gesamtplanungsstudie erfolgte sieben Mo40 nate später. Am Abend des 6. November 1989 präsentierte das Team ein Konzept, welches fast das gesamte Areal zum Abbruch ins Auge fasste. Für die Neugestaltung des Sulzer-Areals formulierten die Planer drei Ziele: • die Neuschaffung eines Stadtteils mit einer gemischten Nutzung, • eine umweltfreundliche Erschließung und • die Erhaltung einiger alter Gebäude. 41

Am darauffolgenden Tag zeigte die Tageszeitung „Der Landbote“ einen Plan, welcher vorwiegend eine radikale Neubebauung der Parzellen vorsah, und dessen Rasterbauten kaum die räumliche Struktur berücksichtigte, die sich im Laufe von über 150 Jahren entwickelt hatte. Zwar war die Firma Sulzer bestrebt, schützenswerte Gebäude in die Planung einzubeziehen, doch zielte diese Absicht nur auf Bauten, welche sich am Rande des Areals befanden beziehungsweise auf das im Innenbereich liegende Gründergebäude von 1834.

40 | In der Pressemitteilung vom 6. November 1989 teilte die Firma Sulzer mit: „Der in Zusammenhang mit dem Planungsbüro Burckhardt+Partner, Basel ausgearbeitete Vorschlag stellt eine Synthese umfangreicher Planungsstudien und Varianten dar. Er sieht, nebst der Erstellung von harmonisch aufeinander abgestimmten Neubauten auch die Erhaltung einzelner, gut erhaltener Baukörper von historischer Bedeutung vor. Einen historischen Schwerpunkt wird dabei das Sulzer-Gründungsgebäude 1834 im Zentrum des Areals darstellen. Zudem klärt der Industriearchäologe Dr. Hans-Peter Bärtschi die Schutzwürdigkeit einzelner, das gesamte Stadtbild prägende Gebäudlichkeiten ab.“ Gebrüder Sulzer AG: Pressemitteilung anlässlich des Sulzer-Herbstgespräches vom 6. November 1989. 41 | Vgl. o.V. (1989).

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Abbildung 39: Nutzungskonzept Winti-Nova. Quelle: Firma Gebrüder Sulzer AG: Winti-Nova, Chance für Winterthur, Projektinformation, November 1989.

Nach der Vorstellung dieser Studie erfolgte eine heftige Kritik zahlreicher Winterthurer Architekten. Was für Sulzer als verheißungsvolles Projekt begonnen hatte, was die Hoffnungen des Konzerns beflügelte und was als urbane Vision zahlreiche Investoren anziehen sollte, erwies sich nun als stadtpolitischer Sprengstoff. Als das Projektteam den Masterplan im November 1989 der Öffentlichkeit vorstellte, löste diese Präsentation unerwartet heftige Proteste aus. Vor allem die Darbietung der Karte und des Modells, bei dem Hochhauskomplexe das zukünftige Stadtbild dominierten, bestärkte die Befürchtung, dass das Sulzer-Areal komplett abgerissen werden könne. Die ausgestellten Styropormodelle, die „Klötzli“, schienen ein über 150 Jahre gewachsenes Stadtviertel zu zerstören. Dies kommentierte „Der Tagesanzeiger“ wie folgt: „Zu Missverständnissen haben jene in der Tat ungeschickten Pläne von Burckhardt und Partner in der ‚Winti-Nova‘-Studie geführt, die imaginäre ‚Klötzli‘ als neue Gebäude auf das Areal pflanzten und so diverse Befürchtungen aufkommen liessen, es handle sich doch bereits um ein architektonisches Konzept, und die 42 Bagger würden gleich auffahren.“

42 | Aus: Keller (1990a), S. 17.

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Abbildung 40: Styropor-Arbeitsmodell Winti-Nova, Nutzungskonzept Winti-Nova. Quelle: Firma Gebrüder Sulzer AG: Winti-Nova, Chance für Winterthur, Projektinformation, November 1989.

Kaum waren die Pläne veröffentlicht, setzten Diskussionen und Auseinandersetzungen ein. Es meldeten sich Bürger, Architekten, Denkmalschützer, Stadtplaner und Politiker zu Wort, und begannen den Widerstand gegen dieses 43 Projekt zu organisieren. Plötzlich entdeckten nicht nur die oppositionellen Architektenkreise, sondern auch Teile der Bevölkerung Winterthurs, dass das Sulzer-Areal mehr war als ein industrieller Standort. Das Sulzer-Areal bedeutete für sie ein bildbestimmendes Element der Stadt und trug damit zu ihrer Identität bei. Im Verlauf der Projektentwicklung von „Winti-Nova“ sollte sich zeigen, dass die Pläne der Firma Sulzer in dieser Weise nicht umsetzbar waren. Es folgten parlamentarische Eingaben zur Unterschutzstellung des Sulzer-Areals wie auch 44 eine Initiative für die Erarbeitung eines öffentlichen Gestaltungsplans. Letztlich begann mit diesem Projekt für die Grundeigentümer, die Stadtverwaltung und die Bürgerbewegung eine über „Winti-Nova“ hinausgehende Diskussion über die zukünftige Stadtentwicklung. Die Firma begann ihr Konzept neu zu überdenken und stimmte sich bei ihrem weiteren Vorgehen noch intensiver mit der Stadtregierung ab. Dieser Strategiewechsel führte dazu, dass zukünftige Rekurse vermieden und sehr viel Geld eingespart werden konnten.

43 | Vgl. Arb/Pfrunder (1992), S. 22. 44 | Vgl. Koll-Schretzenmayr/Müller (2002), S. 4.

Möglichkeitsräume erfinden – Das Sulzer-Areal Stadtmitte

Rückblickend sieht Paul Wanner, ehemaliger Sulzer-Immobilienchef, den Widerstand gegenüber „Winti-Nova“ positiv: Diese Opposition ist uns nachher zugutegekommen, weil die Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit sehr früh stattgefunden hat. Wir haben uns damals geärgert, aber im Nachhinein muss man sagen, die Diskussion hat auf diese Weise sehr früh stattgefunden, bevor hier viel Geld ausgegeben worden ist für die Planung. […] Diese grosse Kritik der Architekten […] hat eine breite Diskussion zur Folge gehabt und wir haben natürlich auch dabei gelernt. Und die Denkmalpfleger, die haben mit einem gewissen Recht gesagt, es geht nicht um die einzelnen Gebäude, es geht auch um die Struktur. Es geht auch um das Negativ, nicht nur um die 45 Gebäude. Es geht auch um die Innenhöfe.

Auch wenn „Winti-Nova“ sich zu einer städteplanerischen „Supernova“ entwickelte, deren schnelles und kurzes Aufleuchten zugleich ihr Ende bedeutete, war durch die Bürgerproteste die Initialisierung eines für die Schweiz einzigartigen Stadtentwicklungsprozesses verbunden. Alle Akteure begriffen, dass es bei einem Stadtumbau nicht nur um den Schutz einzelner Gebäude, sondern auch um die sinnvolle Berücksichtigung der Arealstrukturen in Zusammenhang mit einer gesamtstädtischen Konzeption gehen müsse. Zudem erkannten die Grundeigentümer, Politiker und Architekten, dass eine städtische Planung, die technisch und ökonomisch rational angelegt ist und als „Reißbrettprojekt“ vorliegt, kaum noch Überzeugungskraft besitzt. Anzumerken ist, dass die Planungsstudie „Winti-Nova“ zahlreiche Lösungsansätze fand, um die stadträumlichen Probleme des ökonomischen Strukturwandels zu lösen. Durch die Funktionsmischungen als zentrales Element einer Neuformulierung des Sulzer-Areals entwickelten die Planer erstmals ein Vorhaben, das die zukünftigen Bedürfnisse einer Dienstleistungsgesellschaft berücksichtigte. Die Präsentation der Gesamtplanungsstudie „Winti-Nova“ veranschaulicht, dass Karten die kollektiven Programme der sozialen Akteure repräsentieren und damit zum Gegenstand politischer Auseinandersetzungen werden 46 können. Als pragmatische Orientierungshilfe kann die Kartografie den Zugang zur räumlichen Realität regeln und Einfluss auf die Produktion des Rau47 mes nehmen. Die engen Bezüge zwischen Karte, Raum und Politik lassen erkennen, dass sich der Glaube an dessen maßstabsgetreuer Abbildung bisweilen als trügerische Wahrheit erweist. Alle Informationen des Sichtbaren in die Karte einzu45 | Interview mit Herrn Paul Wanner, ehemaliger Sulzer-Immobilienchef, Aargau, 3. August 2007. 46 | Vgl. Schneider (2006), S. 78ff. 47 | Vgl. Hafner (2007), S. 259.

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arbeiten, wäre zum Scheitern verurteilt. Jose Louis Borges beschreibt dies in 48 seiner „Parabel von der Strenge der Wissenschaft“. Eine Karte im Maßstab 1:1 wäre eine Reproduktion der Wirklichkeit und das Wesentliche, die Interpretation und der Anspruch auf wissenschaftliche Erkenntnis, würden ihr fehlen. Karten tendieren immer zur Abstraktion und zur Reduktion von Informationen. Zunächst wird ein Wissen über markante Plätze und Wege durch Erfahrung geschaffen, anschließend entsteht eine interne Repräsentation dieser Informationen als Überblickswissen und am Ende werden diese Kenntnisse in 49 ein abstrakt erworbenes Kartenwissen übertragen. Der Prozess des Kartografierens kann räumliche Programme veranschaulichen und für eine Orientie50 rung im Raum sorgen, er kann aber auch politische Verhältnisse verschleiern 51 und einen Möglichkeitsraum für Mythen öffnen. In der Repräsentation der Räume des Winterthurer Sulzer-Areals drückten sich die Raumprogramme in den verschiedensten Karten aus. Um dies zu verdeutlichen, soll in einem kurzen Exkurs ein Blick auf zwei Internetauftritte der Jahre 2008 gerichtet werden. Die Sulzer Immobilien AG und der Verein Lagerplatz veröffentlichten im Internet zahlreiche Texte, Bilder und Karten, welche uns einen Einblick in ihre Haltungen und Wertmaßstäbe erlauben. Die Webseite des Lagerplatzvereins zeigt verschiedene Karten und Freihandskizzen des Sulzer-Areals. Die historischen Karten sind aus der Gesamtansicht gelöst und beziehen sich ausschließlich auf den Lagerplatz. Mit der Überschrift „Projekt Kauf Lagerplatz“ bekundet der Verein, den gewachsenen sozialen Raum zu erhalten. Weitere Verknüpfungen wie „Konzept“, „Pläne“, „Ansichten“, „Kontakt“ und „Arealverein Lagerplatz“ bieten zusätzliche Informationen zum beabsichtigten Ankauf. Als grafische Artikulationen repräsentieren die Zeichnungen eine traditionelle künstlerische Haltung, welche dem Wunsch nach einer Bewahrung des vorhandenen architektonischen Bestands und der Forderung nach Erhalt des sozialen Raums entspricht. Das Bild einer Gasse, die Perspektive „194“, richtet den Blick auf die ehemalige Modellschreinerei und die historischen Lager- und Bürogebäude entlang 48 | Borges drückt diesen Versuch in seiner Parabel wie folgt aus: „In jenem Reich erlangte die Kunst der Kartografie eine solche Vollkommenheit, dass die Karte einer einzigen Provinz den Raum einer Stadt einnahm und die Karte des Reichs den einer Provinz. Mit der Zeit befriedigten diese masslosen Karten nicht länger, und die Kollegs der Kartografen erstellten eine Karte des Reiches, die die Grösse des Reiches besass und sich mit ihm in jedem Punkte deckte.“ Vgl. Borges (2006), S. 4. 49 | Vgl. Schumann-Hengsteler (1995), S. 183. 50 | Dennis Adams machte während seiner Recherche zu seinem Kunstprojekt „Port of View“ die Entdeckung, dass in der offiziellen Stadtkarte Marseilles der Stadtteil der Migranten fehlte. Vgl. Ausstellungskatalog: Adams (1992). 51 | Vgl. Barthes (1964).

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der Tössfeldstraße. In der Freihandzeichnung wird eine Gebäudefront skizziert, vor der sich Fahrräder, Sitzgelegenheiten und ein parkendes Auto befinden. In diesem Bild gibt es keine Bewegungsdarstellungen. Es wirkt statisch und entspricht dem Programm des Lagerplatzvereins, den Charakter des Areals, seine 52 Architektur, seine Kleinräumigkeit, seine Nischen und seine Nachbarschafts53 beziehungen zu erhalten.

Abbildung 41: Lagerplatzverein, Lagerplatz. Abbildung 42: Perspektive 107. Quellen: http://www.lagerplatz.ch/projekt/ansichten.htm, Stand: 28.1.2008.

Die Sulzer Immobilien AG unterlegt ihre Webseite mit modernen, digital bearbeiteten Grafiken und Fotomontagen. Der neu gestaltete Stadtplan bindet den Lagerplatz in das gesamte Industriegebiet ein und dokumentiert die aktuellen Besitzverhältnisse. In der kartografischen Darstellung fehlen Hinweise auf die ehemalige industrielle Nutzung wie beispielsweise die differenzierte Beschreibung der ehemaligen Industriebauten. Die Fotomontage zeigt einen auf dem Kesselhaus aufgesattelten modernen Containeraufbau. Die Menschen und Fahrzeuge sind in Bewegung, der angeschnittene Ausschnitt der Geleisanlage verweist auf die gute Verkehrsanbindung Winterthurs und die Fassade kündigt die bevorstehenden Veranstaltungen an. Die Abbildung unterstreicht das Programm eines dynamischen, attraktiven neuen Stadtteils, welcher zahlreiche 54 Menschen und Kunden in das Areal locken soll. 52 | Vgl. Klaus (2006), S. 76f. 53 | http://www.lagerplatz.ch/was1.htm, Stand: 11.2.2008. 54 | Die Firma Sulzer beschreibt in der Website das Projekt: „Shopping- und Entertainment-Center Galeria Trocadero Besuchermagnet für Tausende und neues Wahrzeichen der Stadt. Nicht umsonst gilt das Kesselhaus als eines der markantesten und schönsten Wahrzeichen des gesamten Sulzerareals. […] Aus dem trotzigen Symbol vergangener Industrietage soll jetzt ein würdiges Wahrzeichen des neuen, aufblühenden Stadtteils werden: Die ‚Galeria Trocadero‘. Mit dem geplanten Shopping- und Entertainment-Cen-

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Abbildung 43: Karte Sulzer-Areal. Abbildung 44: Ansicht Kesselhaus, Shopping- und Entertainment-Center. Quellen: http://www.sulzerareal.com/projekte/kesselhaus.html, Stand: 11.2.2008.

Der Vergleich beider Internetseiten verdeutlicht die unterschiedlichen Haltungen und Wertmaßstäbe der sozialen Akteure. Die Firma Sulzer AG orientiert sich primär am Tauschwert des Areals, da sie das Industriegelände gewinnbringend vermarkten will. Der Arealverein Lagerplatz richtet mit seiner Forderung, den sozialen Raum zu erhalten, seinen Fokus auf dessen Gebrauchswert. Die Situation des Jahres 2008 ähnelte der des Jahres 1989. In beiden Fällen wurde sichtbar, dass sich die dynamische Entwicklung des Sulzer-Areals in einem Spannungsverhältnis zwischen dessen Tausch- und Gebrauchswert bewegte. Im Jahre 1989 beabsichtigte die Firma Sulzer, das Areal gewinnbringend zu vermarkten. Während die mit der Gesamtplanungsstudie „Winti-Nova“ verknüpfte Karte diese Absicht dokumentierte und zahlreiche Neuüberbauungen in Zusammenhang mit einem Totalabriss ins Auge fasste, lehnten die oppositionellen Kreise diesen Plan entschieden ab und verlangten eine öffentliche Diskussion über die Zukunft des Sulzer-Areals. Im weiteren Verlauf der Arealentwicklung sollte sich herausstellen, dass die Balance zwischen Tauschwert und Gebrauchswert immer wieder von Neuem austariert werden musste. Den Auftakt dieser Auseinandersetzungen machte die Veranstaltungsreihe „Die Neustadt aus der Werkstadt“.

ter darf sich Winterthur auf ein weit herum ausstrahlendes Aushängeschild für die Lebendigkeit der Stadt freuen. Für die architektonische Umsetzung zeichnet das Züricher Büro ‚A2017_architekten‘ verantwortlich. Eine hochwertige architektonische Qualität mit lichtdurchfluteten Geschossen, einem grosszügigen und hellen Ambiente schafft alle Voraussetzungen für einen neuen Treff- und Anziehungspunkt.“ http://www.sulzerareal.com/projekte/kesselhaus.html, Stand: 30.3.2007.

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Abbildung 45: Eisengießerei. Quelle: Krug, 2005.

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D IE O PPOSITION DES V ERBANDES DER S CHWEIZER I NGENIEURE UND A RCHITEK TEN (SIA) GEGEN „W INTI N OVA“

Das eigentliche Verdienst der Gesamtplanungsstudie „Winti-Nova“ war ihr – gleichwohl von den Planern unbeabsichtigtes – provokatives Potenzial, bei welchem plötzlich der soziale und kulturelle Kontext der Winterthurer Stadtgestaltung in den Mittelpunkt der Kommunalpolitik rückte. Die Bürger Winterthurs fühlten sich bei der Planung des neuen Stadtquartiers ausgeschlossen und sie sahen sich mit einem Gesamtkonzept konfrontiert, das bei ihnen die berechtigte Sorge um eine lebenswerte urbane Umwelt in Winterthur auslöste. Ihre Kritik drehte sich in erster Linie um die Fragestellungen der politischen Beteiligung der Bürgerschaft. Um die Diskussion nicht alleine den Grundeigentümern zu überlassen, und um die Partizipation der Bevölkerung einzufordern, veranstaltete die oppositionelle Architektengruppe die Veranstaltungsreihe „Die Neustadt aus der Werkstadt“. Das folgende Kapitel ist diesem Thema gewidmet. In ihm sollen die Fragen beantwortet werden, wie die Architekten den Widerstand organisierten, welche Themen sie diskutierten und welchen Einfluss ihre Intervention auf den Stadtentwicklungsprozess in Winterthur hatte.

Die Motive der Bürgerinitiative Jede Person und jede Gruppe betrachtet die gesellschaftliche Realität aus ihrem 1 eigenen Blickwinkel, sie besitzen ihre spezifischen Perspektiven und entwi2 ckeln dabei ihre eigenen Deutungsrahmen. Nicht anders in Winterthur. Die Gebrüder Sulzer AG war der Meinung, mit „Winti-Nova“ eine gute Arbeit geleistet zu haben. Sie entwarf ein Konzept, welches das Sulzer-Areal in erster Linie gewinnbringend vermarkten sollte. Die Stadtverwaltung Winterthur ordnete 1 | Vgl. Goffman (1980). 2 | Der Deutungsrahmen, auch framing genannt, trägt der Tatsache Rechnung, dass soziales Handeln durch Sinnkonstruktionen der Beteiligten bestimmt wird. Mit diesem Rahmen werden die Gründe, Strategien und Zielsetzungen der sozialen Bewegung festgelegt und strukturiert. Vgl. Rucht/Neidhardt (2003), S. 551.

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sich der Deutungsmacht der Gebrüder Sulzer AG unter und überließ ihr vorerst die Planungshoheit. Mit „Winti-Nova“ schien für das Unternehmen das SulzerAreal für eine renditeorientierte Umgestaltung freigegeben: Es liegt jetzt ein Konzept vor als Grundlage für den Einstieg in die Planungsarbeit mit den Stadtbehörden. Von Anfang an vertrat die Stadt den Standpunkt, dass uns bei Sulzer die Meinungsbildung obliegt und wir dann das Konzept mit den Behörden vorbesprechen. Da nun eine erste Planung vorliegt, können wir potenzielle Nutzer und Investoren ansprechen. […] Es zeigt sich, dass enorme Vorleistungen erbracht werden müssen, bevor ein Ertrag herausschaut. Doch wir gehen davon aus, dass bei der Erstellung der Neubauten die in der Immobilienbranche üblichen Renditen erzielt werden. […] Es ist unser Ziel, einzelne schützenswerte Bauten […] sinnvoll in die neue Nutzung zu integrieren. Würden wir das ganze Areal in seiner alten Struktur erhalten, entstünde eine tote Stadt mit nach wie vor 3 einseitiger und unwirtschaftlicher Nutzung. Und das wollen wir nicht!

Für die Opposition war diese Haltung inakzeptabel. Kritisiert wurde „Winti-Nova“, weil die Deutungsmacht einer zukünftigen städtebaulichen Umgestaltung allein in den Händen der Firma Sulzer lag. Es wurde offensichtlich, dass sich die Vorstellungen und Perspektiven dieser beiden sozialen Akteure widersprachen. Sulzer genügte die Entwicklung und Präsentation von „Winti-Nova“ und dessen anschließende Legitimierung durch die Legislative. Damit sah die Firma ihre Aufgabe vorerst als erledigt an. Nicht so die Gruppe Winterthurer Architekten und Stadtpolitiker. Die SIA-Mitglieder, darunter Arnold Amsler, Alexander Dahinten, Heinrich Irion, Ulrich Isler, Joachim Mantel, Peter Stutz und Hans-Peter Bärtschi, wollten zusammen mit dem Alt-Stadtratspräsidenten Urs Widmer die öffentliche Diskussion über einen zukünftigen Stadtentwicklungs4 prozess anregen. Nachdem sie das Konzept „Winti-Nova“ studiert hatten, interpretierten sie die Gesamtplanungsstudie neu und deuteten sie um. Man war der Meinung, mit „Winti-Nova“ drohe der Abriss eines bedeutenden kulturhistorischen Industrieareals und die Errichtung eines seelenlosen Stadtviertels. Es konkurrierten zwei Deutungsmuster: das der Gebrüder Sulzer AG 5 und das der oppositionellen Kreise. Die Firma Sulzer wollte ihren Grund und Boden verkaufen; ihr Deutungsrahmen basierte auf dem Tauschwert 3 | Sulzer Horizonte 1/1990: Interview mit Paul Wanner, Winterthur, 1990. 4 | Vgl. Interview mit Heinrich Irion und Peter Stutz, Architekten der SIA-Sektion Winterthur, 29.10.2007. 5 | In Form eines identity frame standen sich zwei Parteien, die Firma Sulzer und die Bürgerinitiative, gegenüber. Mittels einer „Ingroup und Outgroup“ wurde der Zusammenhalt und der Bedarf gemeinsamen Handelns der Protestbewegung geschärft: „Man muss die Dinge selber in die Hand nehmen und die eigenen Ziele müssen erreichbar

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des Areals. Anders stellte sich der Deutungsrahmen für die oppositionelle Bewegung dar. Für sie standen der Gebrauchswert der Stadt, ihre Lebensqualität und das kulturelle Gedächtnis im Mittelpunkt. Vor allem drehte sich ihr Handeln um die Fragestellung, wer bei dem bevorstehenden Stadtumbau die entscheidende Rolle zu spielen habe. Waren dies die Grundeigentümer, die Bürger oder alle sozialen Akteure? Und auf welche Weise sollte der Stadtumbau organisiert werden? Diese Fragen sollte die Veranstaltungsreihe klären. Um ihren Deutungsrahmen durchzusetzen, selektierte die Opposition die öffentliche Wahrnehmung von „Winti-Nova“ und skandalisierte den drohenden Abriss des Sulzer-Areals. Die positiven Elemente der Gesamtplanungsstudie klammerte sie aus. Jetzt ging es nur noch um den Wettstreit der Deutungsmacht: Wer hat recht? Wer hat die besseren Argumente? Wer kann sich mit seinem Konzept durchsetzen? Und vor allem: Wer kann die Bürger mobilisieren, um sie von der Legitimität des jeweiligen Deutungsrahmens zu überzeugen? Zunächst identifizierte die Opposition die Ursachen ihrer Unzufrieden7 heit. Die Diagnose lautete: Sulzer sei mit der Aufgabe überfordert und die Gesamtplanungsstudie entspreche in keiner Weise einer professionellen Stadtplanung. „Winti-Nova“ dürfe niemals umgesetzt werden. Anschließend definierte sie das eigentliche Problem: Der Stadtumbau bedeute für Winterthur eine epochale Aufgabe, er könne nicht alleine von den Grundeigentümern gelöst werden und es brauche für diese Transformation einen abgestimmten Gesamtplan, nach dessen Vorgaben die konkreten Teilplanungen zu erfolgen hätten. Mit anderen Worten, die Kritiker sahen das Stadtgefüge durch die bevorstehenden Eingriffe wirtschaftlich, sozial, ökologisch und städtebaulich gefährdet. Es brauchte nicht nur einen Entwicklungsplan für das Sulzer-Areal, sondern für das gesamte Bahnhofsgebiet. Die Stadt wird in grossen Teilen zerstört werden, in ebenso grossen Teilen neu entstehen. […] Gefährlich ist das Unbehagen dieser Situation gegenüber. Sie signalisiert Hilflosigkeit, Ratlosigkeit, Überforderung. […] An diesem Punkt hakt die Arbeitsgruppe der SIA Winterthur ein. Sie hat erkannt, dass jeder kapitulieren muss, der sich die Möglichkeiten der Stadtentwicklung in Winterthur nur einigermassen vor Augen führt; denn die Chance, die sich der Stadt bietet […] ist einmalig, unendlich gross die Gefahr, sie zu vergeben. Es braucht unbedingt eine Art Entwicklungsplan. Er soll die Gestaltung des gesamten Entwicklungsgebiets erscheinen; aus der Differenz zum Gegner leitet man die Notwendigkeit solidarischen Handelns der Ingroup ab.“ Rucht/Neidhardt (2003), S. 551. 6 | Kirchberg (1998), S. 45f. 7 | Die diagnostic frames lieferte der sozialen Bewegung die Definition des Pro testgegenstandes.

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[…] festlegen; die Projekte auf den verschiedenen Arealen könnten nach wie vor einzeln realisiert werden, es geschähe aber städtebaulich abgestimmt. Gerade dieses letzte Erfordernis erfüllt der Gesamtplan der Gebrüder Sulzer AG für ihr Areal aber nicht; denn er berücksichtigt die übrigen Gebiete, […] das benachbarte Sulzer-Areal, nicht. Die Zukunft Winterthurs entscheidet sich nicht auf dem Sulzer-Areal allein. In jedem Fall ist die Aufgabe derart schwierig, „dass es die 8 besten Leute braucht, um sie zu erfüllen“ […].

Die Interpretation der Gesamtplanungsstudie „Winti-Nova“ steuerte das soziale Handeln der SIA-Architekten. Die Opposition wusste, dass sie die Aufmerksamkeit der Winterthurer Bürger benötigte, um das eigene Programm durchzusetzen, denn nur mit guten Argumenten und Ideen konnten sich die Bürger mobilisieren lassen. Da es hierzu einer offensiven und publikumswirksamen Strategie bedurfte, begannen die Architekten der SIA-Sektion Winterthur, eine öffentliche Veranstaltungsreihe unter dem Motto „Die Neustadt aus der Werks9 tadt“ zu organisieren. Das Ziel dieser Vortragsreihe bestand in der Suche nach Ideen und Strategien für einen demokratisch legitimierten Stadtumbau. Zu diesen Einzelveranstaltungen waren nationale und internationale Architekten, Städteplaner, Künstler und Politiker eingeladen, so etwa der Schriftsteller Adolf Muschg, der Städteplaner Carl Fingerhut, der Politiker Johannes Voggenhuber oder die Architekten Luigi Snozzi, Mirko Zardini und Hans Kollhoff. Während in den ersten fünf Veranstaltungen vielfältige Informationen über eine effektive Stadtplanung in Winterthur eingeholt und diskutiert wurden, fassten die Veranstalter in einer letzten Sitzung ihre Forderungen in einem 10-Punkte-Programm zusammen. 10 Ein Deutungsrahmen der Veranstaltungsreihe bezog sich auf die Geschichte des Sulzer-Areals. Mit dem Blick auf die historischen Industriebauten spannten die verantwortlichen Architekten und die eingeladenen Referen8 | Vgl. Schell (1990), S. 21. 9 | Hier sollten die neuen Ziele einer Stadtentwicklung formuliert werden. In einem weiteren Schritt wurden in Form einer prognostic oder agency frames die Strategien, Taktiken und Ziele formuliert. Die Veranstaltungsreihe sollte mit einer klaren Struktur medienwirksam organisiert und mit einer eindeutigen Forderung abgeschlossen werden. Vgl. Rucht/Neidhardt (2003), S. 551  10 | Hinsichtlich der Mobilisierung kommt der zeitlichen Dimension eine besondere Rolle zu, da sie das kollektive Gedächtnis in Form eines memory framing in den Mittelpunkt stellt und damit einen wesentlichen Beitrag für die Legitimation der Protestgruppe leistet: „Die Konstruktion eines kollektiven Gedächtnisses (memory framing) leistet die Stabilisierung der Bewegungsidentität im Zeitverlauf und ist, wie zahlreiche Studien belegen, eine unverzichtbare Ressource für die Mobilisierung von kollektivem Handeln […].“ Kern (2008), S. 143.

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ten einen Vergangenheitshorizont auf, vor dessen Hintergrund die Interpretation der Gegenwart ermöglicht werden sollte. In diesem Deutungsrahmen standen die Industriebauten als Ausdruck des kollektiven Gedächtnisses der Winterthurer Bürger im Mittelpunkt. Mit der Hinwendung auf die Geschichte des Areals wollten die Veranstalter einen wesentlichen Beitrag zur Lösung der 11 Gegenwartsprobleme liefern. In den Gebäuden und baulichen Strukturen des Sulzer-Areals sahen viele Referenten wichtige Erfahrungen und Werte gespeichert, die auf die anstehenden sozialen, funktionalen und ästhetischen Fragestellungen eine Antwort geben sollten. Dies erläuterte die Kunsthistorikerin Irma Noseda am 22. Mai 1990 in ihrer Stellungnahme: Die dominanten Industriebauten mitten in Winterthur sind baulicher Ausdruck, sind Bauzeichen für die Identität unserer Industriestadt. Wer von Zürich per Bahn oder per Auto hierher fährt, erlebt jedes Mal eindrücklich die Präsenz dieser hohen und gleichzeitig freundlichen Backsteingebäude und er weiss: „Jetzt bin ich in Winterthur.“ Wer bei Sulzer gearbeitet hat, weiss noch viel mehr. Er weiss aus eigener Erfahrung, wie viel Lebensenergie, wie viel Arbeiterschicksal, wie viel Arbeiterstolz auch in dieses Areal eingeschrieben ist. Mit einem radikalen Abbruch dieser Fabrikgebäude würde Winterthur ein wichtiges Stück seiner Stadtgeschichte, seiner Wirtschafts-, Sozial- und Baugeschichte und ebenso seine Unverwechselbarkeit verlieren. Das heutige Geschichtsverständnis erfasst ein breiteres Spektrum der Kultur, als dies noch vor 20 Jahren der Fall war. Neben Herrschaftsbauten, Kirchen, bäuerlicher Kultur und mittelalterlicher Altstadt richtet sich das Augenmerk auch auf die Arbeitswelt des Industriezeitalters. Dies hat nichts mit Rückwärtsgewandtheit zu tun, hat nichts mit Nostalgie zu tun, welche gegenüber allem Neuen den Kopf in den Sand streckt. Diese neue Aufmerksamkeit zeugt vielmehr von einem fortschrittlichen Geschichtsverständnis im Sinne eines erweiterten Kulturbegriffes. Die Wertschätzung industrieller Bauzeugen allein ist aber nicht Fortschrittlichkeit schlechthin. Diese muss sich in der Art und Weise bewähren, wie wir mit solchen Bauzeugen umgehen, ob wir sie mit modernem Leben zu neuem Sinn überzuführen vermögen. […] Sollen Fabrikareale nach dem Auszug der Industrie erhalten werden, lebendig erhalten werden, stellt sich natürlich sofort die Frage nach den Möglichkeiten sinnvoller Nutzung und danach, wie wir dies architektonisch realisieren können, wie dies planerisch handhabbar ist. Eine gewisse Ratlosigkeit ist verständlicherweise hier und dort zu beobachten. Adolf Muschg hat uns an einer Veranstaltung hier vor 2 Monaten nachdrücklich aufgefordert, aus der Passivität herauszutreten und Ideen zu entwickeln, wie 12 wir den zukünftigen neuen Stadtteil nutzen wollen. Ideen sind gefragt. 11 | Vgl. a.a.O., S. 145. 12 | Tonbandaufnahme aus der Veranstaltungsreihe Die Neustadt aus der Werkstadt in der Kultursagi, Winterthur, Irma Noseda am 22. Mai 1990.

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Für Irma Noseda stellten die Industriebauten wichtige Bilder dar, aus denen die Geschichte der Stadt abzulesen ist. Indem die Backsteingebäude an der Zürcherstraße und die Industriehallen an der Bahnstrecke jahrzehntelang das Bild Winterthurs als Industrie- und Arbeiterstadt prägten, schufen sie eine Grundlage für die Identitätsbildung der Winterthurer Einwohner. Als industrielles Denkmal repräsentierte das Sulzer-Areal das Leben der Menschen, vor allem derer, die dort gearbeitet und gelebt hatten.

Abbildungen 46: Fotografien der Backsteingebäude entlang der Zürcherstraße. Quelle: Burkhardt+Partner AG: Gesamtplanungsstudie Sulzer Areale in Winterthur, Basel; 1989.

Irma Nosedas Beschreibung entspricht einer persönlichen Wahrnehmung. Hier sprach eine Frau, die sich mit dem Sulzer-Areal intensiv auseinandergesetzt hatte. In ihrer Stellungnahme wird deutlich, dass die Wahrnehmung mit der eigenen Biografie, mit dem eigenen Erleben und den eigenen Erfahrungen verbunden 13 ist. Der Raum wird zum Medium, das die sichtbaren Elemente der Stadt, die Gebäude und Strukturen, mit den Wahrnehmungen und Imaginationen der 14 Menschen verknüpft. Ein solches Raumerlebnis – Bernhard Schlink bezeichnet es als Heimatgefühl – kann den Menschen Orientierung und Sicherheit bieten. In der Regel spüren sie dieses Gefühl besonders dann, wenn die gewohnte Umgebung verloren geht: Dank der Erinnerungen bewahrt die langweiligste Provinz- und die hässlichste Industriestadt, in der wir aufgewachsen sind, etwas vom Glück der ersten Schritte an der Hand der Eltern, von dem guten Gefühl nach dem Fussballspiel mit den Freunden, von der wohligen Trägheit der Sommertage im Schwimmbad und vom Zauber des ersten Kusses. […] Die Erinnerungen machen den Ort zur Heimat, die Erinnerungen an Vergangenes und Verlorenes, oder auch die Sehnsucht nach

13 | Die Wahrnehmung ist mit Erinnerung gesättigt und das individuelle Bewusstsein setzt sich aus der vergangenen Erfahrung zusammen. Vgl. Bergson (1982), S. 18. 14 | Kramer (2008), S. 42ff.

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dem, was vergangen und verloren ist, auch nach den vergangenen und verlorenen 15 Sehnsüchten.

Wenn Irma Noseda von „freundlichen Backsteingebäuden“ spricht, dann erzählt sie auch über den sozialen Raum Winterthurs und über das Leben der Menschen in der Industriestadt. Das Sulzer-Areal mit seinen Industriebauten, so Noseda, repräsentiere die Identität vieler Stadtbewohner. Die Menschen waren stolz, bei Sulzer angestellt zu sein, sie waren stolz auf ihre berufliche Position und sie waren stolz auf den Erfolg ihres Unternehmens. Viele Mitarbeiter und Bewohner Winterthurs identifizierten sich mit der Firma Sulzer. Die Verknüpfung des Begriffes „Arbeiterstolz“ mit dem Sulzer-Areal verdeutlicht, dass 16 die Identität der Menschen mit diesem sozialen Raum verwoben ist. Die Verknüpfung zwischen Raum und Identität stellt Giorgio von Arb in einem seiner zahlreichen Arbeiterinterviews anschaulich dar: Als ich hierher kam, fühlte ich mich vom ersten Moment an sauwohl. Das hing natürlich auch mit meiner Arbeit zusammen. Als Heizkontrolleur – ein etwas hochgestochenes Wort – war ich frei, kam vom ersten Tag an in der ganzen Fabrik herum, lernte Leute kennen. Man war auch stolz, wenn man sagen konnte: Ich arbeite 17 bei Sulzer.

Die Würdigung der Leistungen ihrer Mitarbeiter und dem damit verbundenen Stolz drückte sich auch in Werbestrategien der Firma aus. Mit dem Slogan „Dahinter stehen immer Menschen“ warb die Firma Sulzer für ihr Unternehmen. In der Werbekampagne der 1970er Jahre wies die Firma auf den Verdienst ihrer Mitarbeiter hin. Sie lancierte diese Anzeige zur Zeit ihres wirtschaftlichen Höhepunkts. Im Geschäftsjahr 1970 arbeiteten in Winterthur 14.750 Beschäftigte, weltweit 35.040. Der fakturierte Umsatz in Winterthur betrug etwa 930 Millionen, weltweit über 2 Milliarden Schweizer Franken. Das Fabrikationsprogramm reichte von Dieselmotoren, Webmaschinen, Pumpen, Gussstücken, Anlagebauten, Wasserturbinen, Diesellokomotiven, Schiffsgetrieben, Gasturbinen, Reaktoranlagen, Kältemaschinen bis zur Planung ganzer Textilanlagen. Die Liste ließe sich noch weiterführen. Die Produktpalette und der damit verbundene wirtschaftliche Erfolg schuf die Grundlage für das Selbstbewusstsein dieses Konzerns und dessen Einfluss auf die Stadt Winterthur. 20 Jahre später, zu Beginn der 1990er Jahre, waren immer weniger Arbeiter bei Sulzer beschäftigt. Auch der Einfluss der Firma auf die Stadt Winterthur begann zu schwinden. Das sichtbare Bild bestand nun nicht mehr in der 15 | Schlink (2000), S. 32f. 16 | Vgl. Erikson (1973), S. 123ff. 17 | Arb/Pfrunder (1992), S. 130.

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Produktpalette, sondern in den leergeräumten Arealgebäuden. Nicht mehr Stolz, sondern Wehmut schien diese Entwicklung zu begleiten.

Abbildung 47: Anzeige der Firma Sulzer: Der Mensch unser Mitarbeiter. Quelle: SulzerArchiv, Winterthur. Abbildung 48: Arealführung mit Jürg Hablützel, 2004. Quelle: Krug.

Oft besuchten ehemalige Arbeitnehmer oder ihre Angehörige das Sulzer-Areal, auch nach dessen Stilllegung. Gründe hierfür gibt es viele: Tage der offenen Tür, Frühlingsfeste, Lagerplatzfeste oder einfach ein Sonntagsspaziergang durch das Viertel. Und gerne sprechen sie über ihre ehemaligen Arbeitsplätze, ihre Erfahrungen und Erlebnisse. Das tägliche Leben mit seinen Routinen und Gewohnheiten war in Winterthur bis zum Ende des 20. Jahrhunderts vor allem durch die Firma Sulzer bestimmt. Sie prägte mit ihren Fabrikanlagen das wirtschaftliche, soziale und politische Leben. Das Sulzer-Areal ist auch heute noch ein formbildendes Element, welches 18 das kollektive Gedächtnis der Menschen Winterthurs prägt. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurden geführte Arealbesuche zu einem festen Bestandteil des Winterthurer Stadttourismus. Im Jahre 2010 bot „Winterthur Tourismus“

18 | Maurice Halbwachs begreift die Funktion der materiellen Umwelt als eine formbildende Eigenschaft des kollektiven Gedächtnisses. In dieser Hinsicht bildet das Stadtbild das Fundament einer Identitätsbildung der Individuen. Vgl. Halbwachs (1991).

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monatlich ein bis zwei Führungen an. Die Führungen durch das Areal organisieren auch ehemalige Sulzer-Mitarbeiter. In ihrem Vortrag verknüpfte die Kunsthistorikerin Irma Noseda ihre Erfahrungen mit der kulturellen Frage um eine zukünftige Nutzung des Areals. Noch war unklar, wie dieses Industriegebiet umgestaltet werden konnte. Es fehlten immer noch Handlungsanweisungen, wie man mit dieser epochalen Aufgabe des Winterthurer Stadtumbaus umgehen sollte. Um diese Lücke zu füllen und die noch offenen Fragen zu diskutieren, trafen sich im Jahre 1990 die Veranstalter mit Experten innerhalb eines halben Jahres zu sechs öffentlichen Sitzungen in der „Kultursagi“, einem ehemaligen Industriegebäude, in Winterthur. Dort sollte dem Widerstand gegen „Winti-Nova“ anhand zahlreicher Vorträge und Diskussionen Ausdruck verliehen werden. Innerhalb mehrerer Monate machten sich Fachleute Gedanken über die Art und Weise eines zukünftigen Stadtumbaus. Sie sammelten Informationen, um danach ihre zentralen Forderungen in einem 10-Punkte-Programm an die Stadtregierung und die Grundeigentümer zu stellen. Bevor auf das 10-Punkte-Programm näher eingegangen wird, sollen im folgenden Teil die einzelnen Sitzungen kurz zusammengefasst werden.

19 | Vgl. http://www.sulzerareal.com/veranstaltungen/index.php, Stand: 23.9.2010.

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Die Sitzungen der Veranstaltungsreihe

Abbildung 49: SIA, Einladungskarte zur Vortragsreihe, 1990. Quelle: SIA/Amsler.

Erstes Treffen Am 23. Februar 1990 fand die erste Veranstaltung in der „Kultursagi“, dem heutigen Fotomuseum Winterthur, statt. Zu diesem Treffen wurden der Kantonsbaumeister von Basel Carl Fingerhut, der Alt-Stadtrat aus Salzburg Johann Voggenhuber und der Architekt Luigi Snozzi eingeladen. Das Thema lautete: „Die Chance der Stadtentwicklung“. Die Veranstaltung sollte den Blick auf einen demokratisch legitimierten Stadtumbau schärfen. Luigi Snozzi eröffnete seinen Vortrag mit einer Schilderung seiner subjektiven Wahrnehmung des Sulzer-Areals: „Als ich mit dem Auto kam, habe ich den Geruch […] gespürt von ihrer Stadt. Und das wahre Wesen ihrer Stadt spüre ich auch heute Abend da drin. […] So einen Saal treffen wir nicht irgendwo. Es ist 20 ein Winterthurer […] Saal, der vorher sicher ein Arbeitssaal war.“ Auch wenn ein Raum, in diesem Falle der Innenraum der Kultursagi, seine ursprüngliche Funktion als Industriehalle verloren habe und nun kulturell genutzt werde, enthalte er – so Snozzi – immer noch Informationen, die für eine zukünftige Nutzung brauchbar seien. Übertragen auf den Städtebau bedeute dies, dass 20 | Tonbandaufnahme aus der Veranstaltungsreihe Die Neustadt aus der Werkstadt in der Kultursagi, Winterthur. Luigi Snozzi am 23. Februar 1990.

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auch die historische Stadt Eigenschaften besitze, mit denen die Planer vielfältige Antworten auf die Fragen einer zukünftigen Stadtgestaltung finden könnten. Aus diesem Grunde solle man vor allem die vorgefundene Stadtstruktur möglichst mit in die Planungen einbeziehen. Darin seien zukünftige Lösungen einer urbanen Neugestaltung zu finden. Gleichwohl bedürfe es einer sensiblen Wahrnehmung, um die Struktur des Ortes, in dem sich das Gedächtnis der Stadt materialisiert, richtig lesen zu können.

Abbildung 50: SIA-Veranstaltungsreihe „Die Neustadt aus der Werkstadt“ (Carl Fingerhut, Johann Voggenhuber, Urs Widmer und Luigi Snozzi v.l.n.r.), 1990. Quelle: SIA/Amsler.

Für Snozzi bot Winterthur – wie viele andere europäische Städte – ein gutes Beispiel dafür, wie sich die Ein- und Auslagerungen industrieller Gebiete auf das Stadtbild auswirkt: Vor über 100 Jahren erbauten die Gebrüder Sulzer ihre Metallgießerei außerhalb Winterthurs. Im Laufe von über 100 Jahren wuchs die Stadt und umschloss Schritt für Schritt das Industriegebiet, bis es letztlich zu einem Teil der Innenstadt wurde. Eine neue Situation entstand, nachdem die Gebrüder Sulzer AG ihr Werk an die Peripherie, nach Oberwinterthur, auslagert hatten. Jetzt standen die Areale leer, und die Stadtplanung hatte sich um die alten Areale zu kümmern und die Gebiete neu zu strukturieren. Dieser Prozess müsse, so der Architekt, letztlich immer auch einen bedeutenden städtebaulichen Eingriff nach sich ziehen. Im Vorfeld der bevorstehenden Umstrukturierungsprozesse stellte Snozzi die Frage, wie die Planer mit dieser komplexen Aufgabe umgehen sollten. Da es sich im Falle der Umgestaltung des Sulzer-Areals um einen sensiblen städtebaulichen Prozess handelte, verknüpfte er die Tätigkeit des Architekten

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mit der Forderung zur Umsicht und Sensibilität gegenüber dem vorgefundenen Inventar. Unter dem Motto „Jeder Eingriff bedingt eine Zerstörung, 21 zerstöre mit Verstand!“ sprach er sich für einen sensiblen und behutsamen Stadtumbau aus. Als vorrangiges Ziel forderte er, nicht primär die Gebäude, sondern den urbanen Kontext mit seiner gewachsenen Struktur zu berücksichtigen: Wichtig für ein Projekt ist es jedoch, dass der Architekt das Spezifische eines Ortes erkennt. Jede architektonische Massnahme bedeutet eine Veränderung der Wirklichkeit. Nur eine vertiefte Kenntnis der Wirklichkeit ermöglicht es, die massgebenden Bezugselemente für das Projekt zu bestimmen. Denn: nicht das Gebäude an sich ist vorrangiges Ziel des Entwurfes, sondern die Beziehung, die das Gebäude mit dem Kontext herstellt. Deswegen ist die „Leere“, der Raum zwischen 22 den Gebäuden, der wesentliche Bestandteil des Projektes.

Luigi Snozzi betonte, dass die politischen Führungspersonen, die Architekten, Städteplaner oder Politiker, bei der Stadtplanung von zentraler Bedeutung seien. Zwar hätten die Experten die Leitideen und Visionen der Stadt zu entwickeln, doch müssten sie den Mut aufbringen, Denkanstöße anzuregen und einen zukunftsfähigen Umstrukturierungsprozess in Gang zu setzen. Mit Projektpräsentationen, öffentlichen Anhörungen und Diskussionen sollten sie die Einwohner in den Planungsprozess einbeziehen. Nach Meinung Snozzis könnten die Bürger nicht die Aufgaben der Experten übernehmen, vielmehr sollten sie ihre Meinung zu den vorgelegten Konzepten der Fachleute äußern. Danach sollten die Planungen der Architekten und Städteplaner nochmals intern diskutiert, korrigiert und ergänzt werden. Die Beteiligung der Bürger am Stadtentwicklungs23 prozess stellte für ihn eine Methode dar, die „blinden Flecke“ einer Planung möglichst frühzeitig offen zu legen. Die Forderung des Architekten beinhaltete ein wichtiges Korrektiv der städtebaulichen Planung. Mit einem solchen dialogorientierten Vorgehen könnten nicht nur Fehler frühzeitig erkannt und vermie24 den, sondern auch Konfliktpotenziale reduziert und die Legitimation eines Stadtumbaus ermöglicht werden.

21 | Bürkle/Friedrich (2002), S. 6. 22 | A.a.O., S. 7. 23 | Vgl. Luhmann (1996). 24 | Jahre später sollte dieser Vorschlag im „Forum Stadtentwicklung“ umgesetzt werden. Es handelte sich um ein von der Stadt einberufenes Bürgerforum, in welchem die Themen des Stadtumbaus zusammen mit Experten, Politikern und Bürgern besprochen werden sollten. 20 Jahre später, im Jahre 2009, war die Bürgerbeteiligung bei der zukünftigen Entwicklung in der Zukunftskonferenz des Lagerplatzes realisiert.

Die Opposition gegen Winti-Nova

Während sich Snozzis Vortrag auf die Planbarkeit der Stadt bezog, richtete der Salzburger Alt-Stadtrat Joannes Voggenhuber sein Augenmerk auf die politischen Rahmenbedingungen des Stadtumbaus. Sein Thema umfasste das Spannungsverhältnis zwischen Tausch- und Gebrauchswert urbaner Räume und die gesellschaftliche Beteiligung der Bürger am Planungsprozess. Wie Snozzi begann auch Voggenhuber mit einer eigenen Wahrnehmung. Für ihn war das Sulzer-Areal nicht ein überflüssig gewordenes Industriegebiet, das rasch beseitigt und vermarktet werden sollte. Im Gegenteil, er bezeichnete das Sulzer-Areal als den schönsten und modernsten Ort Winterthurs. Voggenhuber kritisierte, dass dieser Ort eine abgeschlossene und verbotene Zone sei. Kein Außenstehender dürfe sie betreten und könne sich von deren Schönheit und deren städtebaulicher Bedeutung überzeugen. Provokativ fragte er die Anwesenden, wie denn da eine vernünftige Planung stattfinden könne: Ich habe lange überlegt, wie ich meiner Aufgabe gerecht werden könnte, Ihnen von einem Projekt zu erzählen. Und ich habe mich dann entschlossen, mit Ihnen über ein sehr diffiziles Projekt zu sprechen, […] mit dem ich erst sehr, sehr kurzer Zeit beschäftigt bin, genau genommen einen Nachmittag. Nämlich das Projekt des Umbaus eines Industrieareals in Winterthur. Ich brauche dazu keine Pläne, bitte Sie, anstelle des Planes nur Ihr inneres Bild Ihrer eigenen Stadt wach zu rufen. Und ich möchte auch nicht von den Möglichkeiten und Aufgaben der Architektur sprechen, sondern von Ihrer Rolle in dieser Aufgabe. Wie gesagt, habe ich mich mit diesem Projekt einen ganzen Nachmittag beschäftigt. […] Ich behaupte, er war ausserordentlich einträglich und ich nehme die Konkurrenz mit einigen von Ihnen, die Sie hier geboren sind und leben, nach diesem Nachmittag auf. Lassen Sie mich eine Probe machen. Ich frage Sie: „Wo stehen die drei schönsten Häuser von Winterthur?“ Ich frage Sie: „Wo stehen die drei modernsten Häuser von Winterthur?“ Und ich frage Sie: „Wo ist der schönste Platz dieser Stadt?“ Ich werde jetzt nicht auf die Antwort warten. Ich denke, ich würde lange warten. Was mir zu denken gibt, ist, dass Sie mir die Antwort nur sehr schwer geben können, weil der Stadtteil, in dem all diese Schönheiten liegen, nicht einmal einen Namen hat. Es ist ein Areal von 20 Hektar, ein ganz nahe der Altstadt, im Herzen der Stadt gelegener Teil ihrer Stadt, 20 Hektar groß und dennoch „Betreten verboten“. Und eine Frage möchte ich Ihnen gerne stellen, auf die ich bitte, mir auch eine Antwort zu geben, […] dass Sie sagen, wer von Ihnen hat dieses Viertel schon einmal durchwandert, von dem ich rede, […]. Wenn dieser Stadtteil, von dem ich spreche, und von dem ich behaupte, dass er sowohl die drei schönsten, wie die drei modernsten Häuser, wie auch den schönsten Platz dieser Stadt enthält, nun umgebaut wird, und wenn ich von Ihrer Rolle dabei reden darf, so muss man schon […] ganz zu Beginn anmerken: Wie soll eine so ungeheure Aufgabe auf dieser Basis lösbar sein? Ich könnte jetzt die Politiker fragen, wie weit sie diesen

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Stadtteil kennen. Ich nehme an, die Antwort würde ähnlich ausfallen wie die Ihre, 25 und das erklärt am bisherigen Planungsprozess doch einiges.

Für Johannes Voggenhuber stellte der städtische Grund eine Art von Grundstücks- und Spekulantenmarkt dar. Gleichwohl zeigte er Verständnis für das Anliegen der Grundeigentümerin, der Gebrüder Sulzer AG, dieses Areal zu vermarkten. Eine Stadt, die sich hingegen primär als Grundstücksmarkt definiere, schließe die Bürger aus dem Planungsprozess aus. Diese Gefahr bestehe auch für Winterthur. Er warnte davor, dass das Sulzer-Areal – gerade weil es ein gewinnbringendes Renditeobjekt darstellte – von den Besitzern „filetiert“ und „ausgeschlachtet“ werden könne: „So schnell wie möglich, mit so wenig Kosten wie möglich, mit so wenig Schwierigkeiten wie möglich. Die städtebaulichen Regeln heissen: Nachbarabstände, Parkplätze, so hoch wie möglich, so breit wie möglich, so viel Nutzfläche wie möglich, so viel Stockwerke wie möglich, so viele Autos wie möglich. Jeder Park, jeder Garten, jeder Platz ist ein verloren 26 gegebenes Stück Bauland […].“ Der Politiker stellte sich die Frage, welches Selbstverständnis der Bauherr besitze, und ob sein Handeln auf die Prinzipien der Demokratie ausgerichtet sei. Letztlich würde diese Haltung eine Antwort auf die Verfahrensweise eines zukünftigen Stadtumbaus in Winterthur geben. Bei einem Planungsprozess forderte er die Partizipation der Bürger ein. Für ihn durfte der Stadtumbau nicht allein in die Hände der Grundeigentümer gelegt werden, der Stadtumbau musste für ihn zuallererst von den Bürgern der Stadt getragen werden. Um einem demokratischen Vorgehen gerecht zu werden, müsse die Stadtregierung 27 in Winterthur ihre Verantwortung wahrnehmen. Sein Motto lautete: Der Städtebau ist eine öffentliche Angelegenheit! Einen ersten Schritt für die Einbeziehung der Winterthurer Bürger sah er in der Öffnung des damals noch abgeschlossenen Industriegeländes. Mit einer Öffnung der Werktore sollte es den Menschen ermöglicht werden, die Bedeutung des Sulzer-Areals als kulturhistorisches Monument von europäischem Rang zu erkennen. Außerdem hoffte er, dass dadurch eine breite Diskussion über diesen Stadtteil angeregt würde. Als weiterführenden Schritt schlug er die Bildung einer Arbeitsgruppe aus Städtebauern und Architekten vor, die einen städteplanerischen Wettbewerb vorzubereiten hätten. Innerhalb zweier Stufen sollte ein solcher Wettbewerb zuerst die Leitidee eines Stadtumbaus und anschließend die Realisierung von Einzelprojekten in Angriff nehmen. Entschieden rief er die sozialen Akteure nochmals dazu auf, den Stadtumbau als eine öffentliche 25 | Tonbandaufnahme aus der Veranstaltungsreihe Die Neustadt aus der Werkstadt in der Kultursagi, Winterthur. Johannes Voggenhuber am 23. Februar 1990. 26 | A.a.O. 27 | A.a.O.

Die Opposition gegen Winti-Nova

Aufgabe zu verstehen. Es dürfe nicht alleine den Grundeigentümern überlassen 28 werden, einen neuen Stadtteil zu planen. Wenn die Gesellschaft das kulturell Beste wolle, müsse sie weltoffen bleiben und die besten Architekten Europas für die Umgestaltung des Sulzer-Areals heranziehen.

Abbildung 51: Eisengießerei. Quelle: Krug, 2004.

28 | A.a.O.

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Zweites Treffen Während in der ersten Veranstaltung die politischen Rahmenbedingungen des Stadtumbaus diskutiert worden waren, thematisierte die zweite Veranstaltung die kulturelle Bedeutung eines Umgestaltungsprozesses. Unter dem Motto 29 „Industriestadt – Entwicklung“ lud die SIA-Sektion Winterthur am 23. März 1990 die Schriftsteller Adolf Muschg und Ernst Halter, die bildenden Künstler Bendicht Fivian und Werner Hurter, den Architekten Hans Kollhoff und den Kunsthistoriker Stanislaus von Moos in die Kultursagi ein. Obwohl Adolf Muschg das Sulzer-Areal nur kurz besichtigt hatte, zeigte er sich von der Gesamtanlage tief beeindruckt. Für ihn stellte die Besichtigung ein ästhetisches Erlebnis dar. Das Areal, so Muschg in einer spontanen Äußerung, müsse erhalten bleiben, weil es schön sei: „Ich hatte Gelegenheit kurz diese verbotene Stadt zu besuchen, und es ist mir völlig klar, dass man dieses Areal erhalten soll. […] Es ist natürlich 100x urbaner als Zürich oder Rotterdam. Es hat die Großzügigkeit von gewissen Gegenden in Soho im Süden von Manhattan und es hat die Perspektiven, die […] manche italienischen Städte haben. 30 Es ist ein eindrückliches, ästhetisches Erlebnis […].“ Entschieden warnte er vor einer zu schnellen Umgestaltung des Areals und forderte stattdessen eine kreative Denkpause. Eine gute Lösung für die Umgestaltung des Areals könne nicht unter wirtschaftlichem Verwertungsdruck entstehen. Indem er das Sulzer-Areal mit einer historischen Persönlichkeit verglich, sprach er auch über dessen Genius Loci. Wie die Menschen habe auch das Sulzer-Areal seine eigene Biografie. Aus diesem Grunde bedeute für ihn der Stadtumbau eine Art von kollektiver Therapie, welche die Geschichte in das Neue einverleiben müsse. Mit anderen Worten, es sei wichtig, die Geschichte dieses Ortes – analog zur menschlichen Individuation - nicht abzuspalten oder zu verleugnen, sondern anzunehmen. Als Ausdruck der Industrievergangenheit Winterthurs schlug er vor, das Sulzer-Areal in die bestehende Stadt zu integrieren. Nur auf diese Weise könne deren Biografie weitergeschrieben werden: Wenn ich aus einer geistigen Vogelschau über Winterthur urteilen könnte, würde ich sagen: Zur Integration der historischen Persönlichkeit von Winterthur muss man diese verbotene Stadt, die Industrievergangenheit integrieren. Das ist schon beinahe ein kollektiv-psychologisches, therapeutisches Ereignis […]. Diese Sulzer Stadt soll Wohnstadt werden, eine Stadt, wo man lebt. […] Es leuchtet mir 29 | Presse-Einladung für den 23. März 1990 der Arbeitsgruppe der Architekten Schweiz. Ingenieur- und Architektenverein SIA-Sektion Winterthur, Winterthur, 15. März 1990. 30 | Transkription der Tonbandaufnahme aus der Veranstaltungsreihe Die Neustadt aus der Werkstadt in der Kultursagi, Winterthur. Adolf Muschg am 23. Februar 1990.

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ein, dass diese Gebäude wunderbar sind. Es ist schon fast ein architektonischer Fortsetzungsroman wie von Zola in seinem grossen Industrie- und Sozialroman 31 aus dem 19. Jahrhundert, aus der Zeit der Industrialisierung [...].

Gerade weil die Gebäude überflüssig geworden waren, schaffe dies, so der Schriftsteller, auch einen Möglichkeitsraum, der zu einer Diskussion über die Zukunft des Areals anrege. Die Produktion im Zentrum ist obsolet geworden. Wir sind in einem elektronischen Zeitalter. Die wenigsten Leute fassen ihre Werkstücke noch mit eigenen Händen an. Mit anderen Worten: das Sulzer-Areal ist nun deshalb nutzbar für unsere Diskussion, weil es historisch überflüssig wurde. Und das ist genau der Kulturbegriff, mit dem wir aufgewachsen sind: Kultur ist das Überflüssige. Jetzt haben wir diese wunderbaren Hallen, die wunderbaren Perspektiven, und sie sind deshalb so eindrücklich, weil man sie für nichts mehr brauchen kann, und man muss sich nun überlegen, wofür man sie jetzt brauchen kann. Und dann braucht man sie natürlich für einen kulturellen Zweck. Aber das Sulzer-Areal ist zu gross, man kann nicht einfach ein Kulturzentrum daraus machen. Das finde ich sehr gut. Es ist zuerst einmal ein Ort der produktiven Verlegenheit. Wie sollen wir leben? Wie wollen Sie in dieser Stadt leben? Was fällt Ihnen zu diesen Gebäuden ein? In was für ein Diskurs, in was für einen Konflikt verwickeln Sie diese Gebäude? Das sind ganz elementare, existenzielle Fragen, die eher noch akuter wurden als 32 in den 50er Jahren. Für Adolf Muschg verkörperte das Sulzer-Areal das kulturelle Erbe Winterthurs. Es sei so schön wie ein Bühnenbild und lasse eine tief greifende ästhetische Raumerfahrung zu. Die Wahrnehmung des Ortes und die daraus resultierenden Imaginationen sollten die Voraussetzung dafür schaffen, um zu Aussagen einer zukünftigen Raumproduktion gelangen zu können. Die Atmosphäre des Sulzer-Areals mit seinen wahrnehmbaren Bildern, Geräuschen, Gerüchen, Texturen und Strukturen sollte dazu dienen, Tagträume bei den Menschen zu wecken. Mit diesem Vorgehen könne eine zukünftige Nutzung antizipiert werden. Diese Gebäude wurden schon mehrfach verschieden genutzt auch im industriellen Rahmen. Damit sollte es möglich sein, jetzt auch neue Nutzungen zu erfinden. […] und es ist eine Chance, die nicht jede Stadt hat, eine im kantonalen, schweizerischen, sogar im europäischen Rahmen einmalige Chance. Man ist nun hier im Fall von jemandem, der ein Bühnenbild geerbt hat, ein berühmtes Bühnenbild und jetzt herausfinden muss, was für ein Stück man da zu spielen hat. Dieses 31 | A.a.O. 32 | A.a.O.

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Bühnenbild ist so schön, man will nicht daran rütteln, man muss ein Stück dazu 33 erfinden.

Mit der Imagination von Möglichkeitsräumen wollte Adolf Muschg die Landkarten einer zukünftigen Nutzung entwerfen. Gleichwohl war das Sulzer-Areal für ihn – wie auch für Johannes Voggenhuber – eine „verbotene Stadt“. Sie war für die Öffentlichkeit abgeschlossen und nur für Werkangehörige zugänglich. Wie sollten die Menschen die notwendigen Ideen und Visionen entwickeln können, wenn es ihnen nicht erlaubt war, diese Zone zu betreten? Seine Antwort lautete: Man muss sie öffnen! Um brauchbare Ideen entwickeln zu können, brauche es 34 eine offene Stadt. Letztlich seien es die Winterthurer, die darüber zu entscheiden hätten, was mit ihrer Stadt geschehe.

Abbildung 52: Die abgerissene Holzbauhalle am heutigen Standort von Sieb 10. Quelle: Krug, 2004.

33 | A.a.O. 34 | O.V. (1990a).

Die Opposition gegen Winti-Nova

Im Anschluss an Adolf Muschg sprach der Architekt Hans Kollhoff. Er betrachtete das Sulzer-Areal nicht nur aus einem ästhetischen, sondern auch aus einem funktionalen und wirtschaftlichen Blickwinkel. Auch er begriff dessen kunsthistorische Bedeutung. Für ihn nahm dieses Gelände allerdings eher die Rolle einer „Sehschule“ ein. Sie könne dem Betrachter und dem Planer deutlich machen, dass die zahlreichen Bauelemente des Geländes wichtige Hinweise auf eine zukünftige Planung enthalten. Im Sulzer-Areal seien vielfältiges Wissen und zahlreiche Erfahrungen gespeichert. Die Architektur fungierte für ihn als eine Art Datenspeicher, der den Planern Hinweise geben könne, wie in Zukunft zu bauen sei. Zwar empfahl er bei einer Neugestaltung des Areals, auf das bisher Gebaute zu achten, doch mache es keinen Sinn, sämtliche Gebäude zu schützen. Stattdessen sei es besser, alles auf dem Sulzer-Areal abzureissen, was nicht mehr gebraucht werde. Dieser radikale Schnitt sei jedoch nur unter der Vorgabe sinnvoll, wenn sich die nachfolgende Planung an einen hohen städtebaulichen, architektonischen und funktionalen Standard messen lassen würde. Seien wir so realistisch uns einzugestehen, dass es nicht gelingen wird, die alten Hüllen mit neuen lebendigen Inhalten zu füllen. […] Es würde nur den Tod der Bausubstanz auf Raten bedeuten und unerträglich hinauszögern. Es besteht für das Gelände ein ökonomischer Verwertungsdruck mit hohen Quadratmeterpreisen. Und es gibt offensichtlich ein hohes Interesse am Grundstück. [...] Entsteht nicht das Bedürfnis, alte Bausubstanz zu erhalten aus unserer Unfähigkeit […], an die Qualität dieser Bausubstanz anzuknüpfen, eine Stadtstruktur zu schaffen, die in ähnlicher Weise authentischer Ausdruck ihrer Bestimmung, ihrer Funktion und ihrer Zeit ist. Setzen wir nicht deshalb alt und schön gleich? Schleichen wir uns nicht immer wieder aus unserer heutigen Verantwortung, indem wir nicht mehr den Mut haben, etwas Grosses anzupacken und uns stattdessen lieber selbstgefällig um die Historie kümmern? Ich schlage deshalb vor, auf dem Sulzergelände konsequent alles abzureissen, was nicht aus sich heraus lebensfähig ist. Unter einer Voraussetzung, dass das, was nachkommt, zumindest gleichen städtebaulichen, architektonischen, funktionalen Ansprüchen genügt. Und schauen wir uns deshalb die alten Gebäude gut an und vergleichen wir sie mit den Beispielen, die in letzter Zeit hinzugekommen sind. Vergleichen wir die Gebäude an der Bahnunterführung, wo die Verbindung hergestellt wird zwischen altem Stadtzentrum und dem Sulzer-Areal. Achten wir darauf, wie wir uns zwischen den alten und den neuen Gebäuden fühlen, und schauen wir uns das Material, die Oberfläche, das Detail an. Da ist eine ganze Menge Erfahrung zu 35 sammeln. 35 | Transkription der Tonbandaufnahme aus der Veranstaltungsreihe Die Neustadt aus der Werkstadt in der Kultursagi, Winterthur. Hans Kollhoff am 23. Februar 1990.

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Hans Kollhoff forderte die Planer auf, sich bei der Neugestaltung des SulzerAreals nicht mit dem üblichen Durchschnitt zufriedenzugeben. Bei einer Umgestaltung müssten hohe architektonische Maßstäbe angesetzt werden. Nur so könnten die Winterthurer dieser epochalen Aufgabe gerecht werden und ein Zeichen europäischen Formats setzen. Da es bisher noch wenige nennenswerte Beispiele eines solchen Stadtumbaus gebe, könne Winterthur eine wichtige Pionierarbeit leisten; vorher brauche es aber die Abklärung der Rahmenbedin36 gungen eines Stadtumbaus in Winterthur.

Abbildung 53: Sehschule – City Halle, Fotomontage. Die wesentlichen Elemente der Halle sind isoliert: die rotbraune Schindelfassade, die Eisengitterfenster, die Zeichen, die Werbung oder die Holzverschalung. Quelle: Krug, 2008.

36 | A.a.O.

Die Opposition gegen Winti-Nova

Drittes Treffen

Abbildung 54: Eisengießerei. Quelle: Krug, 2004.

In der dritten Veranstaltung „Umnutzung zentraler Industrie-Areale“, die am 28. April 1990 stattfand, diskutierten die eingeladenen Experten über die Rahmenbedingungen einer zukünftigen Umgestaltung der Stadt. Eingeladen waren der deutsche Stadtplaner von Freiburg Klaus Humpert und der Münch37 ner Architekt Peter von Seidlein. Die beiden Stuttgarter Professoren erhielten vom ehemaligen Stadtpräsidenten Urs Widmer den Auftrag, den Stadtrat bei der Umnutzung des Sulzer-Areals und der umliegenden Industriegebiete 38 zu beraten. Um ihre Einschätzungen kennenzulernen, diskutierten sie mit dem Chefredakteur der Zeitschrift „Hochparterre“ Benedikt Loderer über die notwendigen Entwicklungsschritte für eine Umgestaltung des Areals. Nach Benedikt Humpert sei es wichtig, die Rahmenbedingungen einer zukünftigen Umgestaltung zu klären. Die Planungen einer Stadtgestaltung lägen in der Verantwortung der Stadtregierung Winterthurs. Nicht die Grundeigentümer, sondern die Stadt müsse die Stadtplanung lenken: „Die Investitio37 | Vgl. o.V. (1990b). 38 | A.a.O.

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nen des Nutzers sollten von den Vorstellungen der Stadt gelenkt sein. […] Die Partner müssten sich an einen Tisch setzen und die verschiedenen Ansichten ausdiskutieren. Entscheidend sei, dass diese Ansichten genau definiert seien, 39 dass jeder wisse, was er eigentlich wolle.“ Humpert warnte davor, das SulzerAreal aufzuteilen und die Grundstücke je nach Bedarf einzeln zu verkaufen. Wenn ein Areal „filetiert“ werde, gehe es für eine Gesamtentwicklung der Stadt verloren. Nochmals betonte er: Bevor es zur Vermarktung und zum Verkauf komme, müsse ein städtisches Gesamtkonzept entworfen werden. Verbunden damit sei die Festlegung der schützenswerten Gebäude, der Dichte und Höhe der geplanten Neubauten, der Verkehrserschließung und des Bodenrecyclings. Kritik übten die beiden Professoren an einer überzogenen denkmalpflegerischen Position. Da etwa die Hälfte der Gebäude aus bauphysikalischen Gründen nicht mehr nutzbar sei, dürfe man mit einer „retrospektiven“ Haltung nicht zu sehr die zukünftige Planung einschränken. Der Architekt Peter von Seidlein ging über die Gesamtplanungsstudie „Winti-Nova“ weit hinaus und sprach sich für eine radikale Lösung aus. Eine Neuplanung sollte ohne Berücksichtigung der vorhandenen Bausubstanz erfolgen. Erst bei einer konzeptuellen Weiterführung wollte er das vorgefundene 40 Inventar einbezogen wissen.

Viertes Treffen Am Abend des 22. Mai 1990 erwartete die Besucher eine Information über geplante oder bereits durchgeführte ausländische Umnutzungsprojekte. Mit dem angekündigten Thema „Erfahrungen von englischen und amerikanischen Umstrukturierungen zentraler Industrieareale“ richteten die Referenten ihren Fokus auf die Erfahrungen aus Italien, Deutschland, England und Amerika. Der Blick wurde auf verschiedene internationale Umnutzungen, so etwa über das ehemalige Pirelli Areal in Mailand, das Textilviertel in Augsburg oder das Albert41 Dock in Liverpool, gerichtet. Die Veranstalter wollten herausfinden, inwieweit diese Projekte Vorbilder für Winterthur sein könnten. Vor allem stand die Frage im Mittelpunkt, welche Bedeutung die Kultur bei einer Umnutzung einneh39 | A.a.O. 40 | Vgl. a.a.O. 41 | Das Albert-Dock in Liverpool ist ein Hafenviertel, das in den 1980er Jahren zu einem Kultur-, Freizeit- und Wohnquartier umgebaut wurde. Im 20. Jahrhundert war Liverpool die wichtigste Hafenstadt Großbritanniens. Nach der Gründung der Europäischen Gemeinschaft verlor sie an Bedeutung. Es folgten Bevölkerungsrückgang, Arbeitslosigkeit und Kriminalität. Ende der 1980er Jahre wurde das Hafenviertel saniert. 2001 zog in das Albert Dock die Tate Gallery London ein. 2004 wurde Liverpools Hafen zu einem Teil des UNESCO-Weltkulturerbes.

Die Opposition gegen Winti-Nova

men müsse. Eingeladen waren Winterthurs Alt-Stadtpräsident Urs Widmer, der leitende Baudirektor der Stadt Augsburg Dieter Fuchshuber, der Redakteur bei „Lotus international“ Mirko Zardini und der Vertreter des Amtes für Rheinische 42 Denkmalpflege Pulheim Jörg Schulze. Mirko Zardini referierte über den Umgestaltungswettbewerb des italienischen Pirelli-Industrieareals, das sich im nördlichen Stadtgebiet Mailands befand. Im Jahre 1985 organisierte das Industrieunternehmen Pirelli einen Wettbewerb, um die Umnutzung eines Teils ihres Industrieareals zu einem Technologie-Zentrum in die Wege zu leiten. Bei dieser Planung sei ein zentrales Problem zutage getreten. Die Stadt Mailand habe ihre Vorstellungen einer Stadtentwicklung nicht deutlich formuliert. Um eine Umstrukturierung durchzuführen, benötige es, so Zardini, einer präzisen Vorgabe durch die Stadt: 43 „Ohne klare Idee, was zu bauen ist, läuft gar nichts!“ Bezogen auf Winterthur empfahl der Redakteur, einen Ideenwettbewerb auszuschreiben, um die Wünsche nach der Nutzung des Areals zu klären. Der Augsburger Baudirektor Dieter Fuchshuber berichtete über das ehemalige Textil-Industrieareal in Augsburg. Dieses Gelände, das die zehnfache Größe des Sulzer-Areals besaß, sollte nach der Stilllegung der Produktion umgenutzt werden. Die Lösung für einen gelungenen Stadtumbau bestand in der Durchmischung des Stadtteils mit Wohnungen, Gewerbe, Kulturangeboten und Grünflächen. Dem kulturellen Wert der Stadt räumte er einen hohen Stellen44 wert ein. Fuchshuber wies in seinem Vortrag auf die Bedeutung des kulturellen Kapitals von Winterthur hin und empfahl eine kulturelle Nutzung des SulzerAreals. Eine solche Nutzung könne der Stadt erhebliche Wettbewerbsvorteile 45 verschaffen.

Fünftes Treffen „Industriearchäologischer Blick ins Sulzer-Areal“ lautete am 7. Juni 1990 das Motto der fünften Veranstaltung. In ihr wurden die historischen Grundlagen einer zukünftigen Umgestaltung des Sulzer-Areals diskutiert. Eingeladen waren der Industriearchäologe Hans-Peter Bärtschi, der Künstler Urs Raussmüller, der Architekt Theo Spinnler, der Gestalter Hans Bissegger und der Raumplaner Beat Schwarzenbach.

42 | Vgl. Presse-Einladung für Dienstag, 22. Mai 1990, Arbeitsgruppe der Architekten, SIA-Sektion Winterthur. 43 | Vgl. o.V. (1990c). 44 | Vgl. a.a.O. 45 | Vgl. a.a.O.

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Theo Spinnler sprach von der Bedeutung der Geschichte als Wesensmerkmal einer Stadt. Bei der Stadtplanung müssten die historischen Gebäude 46 und Strukturen berücksichtigt werden. Dies gelte auch für das Sulzer-Areal in Winterthur. Das Areal sei für ihn noch kein sozial funktionierender Stadtteil, da ihm wesentliche Merkmale, wie zum Beispiel die Nutzungsmischung fehle. Nur eine Kombination aus Wohnen, Arbeiten und Freizeit sorge für 47 die Lebendigkeit eines Ortes. Damit das Sulzer-Areal ein lebendiger Raum werden könne, müsse dem Wohnen eine zentrale Rolle zukommen. Es schaffe das eigentliche Fundament der Stadt und biete als existenzielles Grundbedürfnis des Menschen Schutz und Sicherheit. Zur Frage der Denkmalpflege meinte 48 der Redner, es sei wichtig, einen Schutzplan für das Sulzer-Areal zu erstellen. Mit einem solchen Plan könne man festlegen, welche Bauten erhalten, welche Gebäude umgenutzt und welche Objekte abgerissen werden könnten. Damit wäre der Weg frei für die Schaffung eines neuen Stadtteils. Hans-Peter Bärtschi fertigte zu dieser Zeit im Auftrag des Kantons ein industriearchäologisches Gutachten über das Sulzer-Areal an. Erwartungsvoll sah man den Ergebnissen seiner Untersuchung entgegen. Nach Bärtschi, der im Auftrag des Kantons bis Ende Juni sein industriearchäologisches Gutachten zum Sulzer-Areal abschliesst, soll eine Umnutzung „möglichst wenig Aufheben machen“. Bärtschi: „Es geht nicht darum, zehn Häuschen zu erhalten, sondern die vorhandene Struktur zu wahren.“ Diese Struktur ist gegeben durch die Eisenbahnschienen, nach denen die Gebäude ausgerichtet sind. Bärtschi möchte einzelne Bereiche wie eine Altstadt behandeln. Minderwertige Bauten könnten ersetzt werden, doch die Gassen und Höfe seien zu bewahren. 49 Die Fabriken seien als Hüllen zu akzeptieren [...].

Hans Bissegger und Beat Schwarzenbacher referierten über die behutsame Umgestaltung des Kulturzentrums „Eisenwerk Frauenfeld“. Der Weg von der Schraubenfabrik „Eisenwerk Frauenfeld AG“ zum Kulturzentrum sei an dieser Stelle kurz beschrieben. Die Frauenfelder Architekten Brenner und Stutz bauten zwischen den Jahren 1905-1910 eine Fabrik, in welcher Schrauben, Muttern und Nieten hergestellt wurden. Im Gegensatz zu vielen anderen Industriebauten der Umgebung ließen die Besitzer ihre Anlage nach ästheti-

46 | Tonbandaufnahme aus der Veranstaltungsreihe Die Neustadt aus der Werkstadt in der Kultursagi, Winterthur. Theo Spinnler am 7. Juni 1990. 47 | Vgl. a.a.O. 48 | Vgl. a.a.O. 49 | O.V. (1990d).

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schen Gesichtspunkten errichten. Nach der Stilllegung der Fabrik drohte im Jahre 1983 deren Abbruch. Aber noch im selben Jahr erfolgte eine unerwar51 tete Wiederbelebung. Eine Gruppe junger Menschen verhinderte den Abriss, indem sie eine Genossenschaft gründete und das Industrieareal zu einem Preis 52 von 1,7 Millionen Franken kaufte. Die Finanzierung erfolgte über Darlehen, Anteilscheine, Zuwendungen der Handwerker in Form von Rabatten und Skonti, Schenkungen, Subventionen von Bund, Kanton und Stadt sowie Mieteinnahmen. Die Käufer hatten das Industriegebäude mit dem Ziel erworben, gemeinschaftliches Wohnen, Leben und Arbeiten zu ermöglichen. Den Ausbau der Fabrik zu Wohnungen mit einem einfachen Grundbaustandard betrachteten sie als eine ökologisch sinnvolle und umweltschonende Methode. Der gewerbliche Teil umfasste zahlreiche Handwerks- und Gewerbebetriebe, Ateliers für Kunsthandwerk, Dienstleistungsunternehmen, Ausbildungsstätten und Büros. Als Kommunikationszentrum übernahm die „Eisen-Beiz“ die Aufgabe einer „öffentlichen Stube“. Interessant erschien dieser Vortrag in Hinsicht einer Erhaltung der historischen Bausubstanz. Statt Abriss rückten hier die Erhaltung des Industrieareals und dessen kulturelle Nutzung in den Mittelpunkt.

Sechstes Treffen Als zur Veranstaltung „Stand der Erkenntnisse“ am 6. Juli 1990 eingeladen wurde, war fast ein halbes Jahr vergangen. Während der zurückliegenden Monate wurde referiert, diskutiert und eine Fülle von Expertenmeinungen eingeholt. Mit jeder Veranstaltung waren immer mehr Besucher in die Kultursagi geströmt und selbst die Stadtpolitiker – sie hatten anfangs abgewartet und waren der Veranstaltung ferngeblieben – besuchten mittlerweile die Sitzungen. Die Kunstwissenschaftlerin Irma Noseda zog Bilanz und erklärte dem 53 Plenum das 10-Punkte-Programm der SIA-Arbeitsgruppe zur städtebaulichen Entwicklung in Winterthur. In diesem Programm waren die Forderungen der oppositionellen Bewegung zusammengefasst. Irma Noseda betonte, dass nicht nur das Sulzer-Areal, sondern alle Areale, die sich im Bahnhofsgebiet befanden, eine gesamtplanerische Lösung erforderten. Es gehe darum, „in die vorhandenen Stadtstrukturen neue Fäden 50 | Die Architekten ließen eine vom Jugendstil und englischem Landhausstil inspirierte Industriehalle errichten. Vgl. http://www.eisenwerk.ch/eisenwerk/geschichte/, Stand: 10.5.2010. 51 | Vgl. http://www.ch-frauenfeld.ch/cset.htm, Stand: 18.7.2009. 52 | Vgl. http://www.eisenwerk.ch/uploads/file/pdf/In-Ku-6.pdf, Stand: 16.7.2009. 53 | Das 10-Punkte-Programm wurde von der Gruppe der Architekten und Ingenieure (GAI) des SIA Winterthur formuliert.

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einzuspinnen […], ein Kleid von neu und alt herzustellen, das Geschichtlichkeit, den ständigen Wandel von der Zeit dokumentiert, […] aber auch unserer Zeit erlaubt, sich gültig einzuschreiben. […] Das Vorgehen geht bewusst von der vorhandenen Stadtstruktur und Aussen- und Innenraum-Qualitäten aus und nicht von einem Totalabbruch, in dem eben allenfalls isoliert ein paar 54 einzelne Altbauten startklar werden.“ Mit den Metaphern „Fäden spannen“ und „Kleider weben“ wollte Irma Noseda die Sichtweise der oppositionellen SIA-Gruppierung verdeutlichen. Diese Gruppe lehnte ein „Tabula-Rasa-Projekt“ ab, welches das Sulzer-Areal dem Erdboden gleichmachen wollte. Sie forderte ein Konzept, das die historischen Bauten und die gewachsenen Stadtstrukturen in einer dialogischen Weise mit dem Neuen verwebt. Die Transformation des Sulzer-Areals zu einem multifunktionalen sozialen Raum sollte die historischen Gebäude und die Arealstrukturen berücksichtigen. Mit diesem Konzept konnte das Sulzer-Areal an die übrige Stadt sozial, funktional und ästhetisch angeschlossen werden. Gefordert wurde eine gemischte Nutzung aus Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Kultur. Bei einer Neugestaltung galt es, das komplexe urbane Beziehungsgeflecht zu berücksichtigen. Da alle Stadtteile durch ihre Entwicklungsgeschichte und Funktion mit der Stadt verwoben seien, so führte Irma Noseda weiter aus, habe eine städtische Transformation immer auch Rückwirkung auf die gesamte Funktion des Stadtraumes. Die Schaffung von Arbeitsplätzen rege den Wohnungsbau an, das Bevölkerungswachstum sorge für eine zunehmende Komplexität der Versorgungs- und Verkehrsstrukturen und ein Stadtumbau beeinflusse das kulturelle 55 Leben der Bürger. Das 10-Punkte-Programm (vgl. Anhang) wies auf die gesellschaftliche Verantwortung des epochalen Umstrukturierungsprozesses der Stadt Winterthur hin. Indem die bevorstehenden Eingriffe das wirtschaftliche, soziale und ökologische Gleichgewicht der Stadt gefährden könnten, dürfe die Verantwortung eines solchen Umstrukturierungsprozesses nicht alleine in den Händen der Grundeigentümer liegen. Die Stadtplanung müsse die Stadt als einen Ausdruck der herrschenden Macht und der maßgeblichen Kräfte der Gesellschaft verstehen. „Der Urbanismus aller Zeiten war und bleibt der plastische Ausdruck der herrschenden Macht und der massgebenden Kräfte in der Gesellschaft. Oder anders herum jetzt gesagt für den aktuellen Fall Winterthur: Die herrschende Macht, das ist in der bürgerlichen Stadt die Öffentlichkeit mit ihrer demokratisch gewählten Regierung und dem Parlament. Die massgeblichen gesellschaftlichen Kräfte für die Gesellschaft, das sind die Wirtschaft und die Bevölke-

54 | Tonbandaufnahme aus der Veranstaltungsreihe Die Neustadt aus der Werkstadt in der Kultursagi, Winterthur. Irma Noseda am 6. Juli 1990. 55 | Vgl. a.a.O.

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rung.“ Dies bedeutete für die Gruppe, dass in erster Linie die Stadtregierung die Verantwortung der Stadtplanung zu übernehmen habe. Unter dem Motto der „Städtebau ist eine öffentliche Sache“ forderte die SIA-Gruppierung bei allen Planungen den Einbezug der Bürgerschaft. Da die Stadt der Lebensraum aller Bürger sei, müsse sich der politische Wille der Bürger in allen Prozessen manifestieren. Es geht uns alle etwas an, wie ein zentrales Stadtquartier in Zukunft genutzt wird, und es geht uns alle an, wie die neuen Stadträume aussehen werden. Denn das wird der Lebensraum von uns allen sein, in dem es uns soll wohl sein. Nicht die zwar legitimen, aber einseitigen Interessen von den Grundeigentümern sollen es in Zukunft festlegen, sondern die übergeordneten Interessen von der Öffentlichkeit. Städtebau ist eine öffentliche Sache. Im Städtebau manifestiert sich der 57 politische Wille von der Öffentlichkeit.

Da es sich beim Sulzer-Areal nicht um das einzige Umstrukturierungsprojekt Winterthurs handelte – es gab rund um das Bahnhofsgelände weitere Areale, die umgestaltet werden sollten – verlangte die SIA-Gruppe nach einer gesamtplanerischen Lösung. Gefordert war ein übergeordnetes Konzept, das die Einzelprojekte in eine Gesamtplanung einzubinden habe. Darüber hinaus sollten bei den Planungen die kulturelle Bedeutung der Areale und deren architektonische Werte berücksichtigt werden. Mit dieser Forderung wollte die Gruppe die historische Kontinuität der Stadt bewahrt wissen. Es müsse – so Noseda – ein Gestaltungsplan entwickelt werden, bei dem die Erhaltung der ehemaligen Bauten und der stadträumlichen Strukturen beachtet wird. Die Inventarisierung des Sulzer-Areals sollte als Grundlage weiterer Planungen dienen. Was in Winterthur passiert, ist ein Stadtumbau. Es geht um ein Stück Stadt in der Stadt, das mit vorhandenen Strukturen enge Bezüge immer gehabt hat und auch wieder Selbiges aufnimmt. Diese Strukturen begründen die Einmaligkeit von Winterthur, und wertvolle Bauten geben den Stadtteilen ihren unverwechselbaren Ausdruck. Neue Quartiere und Gebäude müssen also aufgrund von einem tiefen Verständnis für diese Qualitäten geplant werden, die Regeln müssen studiert werden, wertvolle Bauten müssen in die Planung einbezogen werden. […] Die Lösung für das Neue liegt in der vorhandenen Stadt. Man muss 58 es nur verstehen, sie zu interpretieren.

56 | A.a.O. 57 | A.a.O. 58 | A.a.O.

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Um eine hohe Qualität der bevorstehenden Stadtplanung zu gewährleisten, forderte die Gruppe die Ausschreibung von Wettbewerben. Dieses Verfahren habe in zwei Schritten zu erfolgen. Zunächst solle ein Wettbewerb für ein städtebauliches Konzept stattfinden, um anschließend die darauf ausgerichteten Projektwettbewerbe und Wettbewerbe für Gestaltungspläne ausschreiben zu können. Die Stadt Winterthur habe bei der Ausschreibung des städtebaulichen Wettbewerbs federführend zu sein und dabei die öffentlichen Interessen wahrzunehmen. Dazu seien Gespräche mit den Grundeigentümern und interessierten Kreisen notwendig. Um die Transparenz aller Planungsabläufe für alle Bürger und Interessierten zu gewährleisten, forderte die SIA-Gruppe eine offene und kontinuierliche Informationspolitik über den Planungsprozess. In einem letzten Punkt stellte Irma Noseda die Terminierung der Wettbewerbe vor. Die SIA-Gruppe wollte keine Zeit verlieren. Da aufgrund des enormen Druckes der Flächenvermarktung ein präzis terminierter Planungsablauf unumgänglich erschien, schlug das Gremium vor, den Ideenwettbewerb sofort in die Wege zu leiten. Nachdem die Forderungen der SIA dem Plenum vorgestellt worden waren, 59 verfolgten die Besucher mit Spannung die Reaktionen der Kontrollinstanz, der Stadtregierung und der Grundeigentümerin. Diese beiden Akteure waren 60 für den Erfolg der Bewegung von entscheidender Bedeutung. Eine Veränderungsstrategie in Form der Tolerierung und Zusammenarbeit würden die Stadtverwaltung und die Vertreter der Gebrüder Sulzer AG nur dann einschlagen, wenn sie sich einen Vorteil versprächen. Nur wenn der politische, ökonomische oder soziale Gewinn höher ausfiele als im Falle einer Nichttolerierung, würde ein Konsens möglich sein. Am Ende der Veranstaltungsreihe stellte sich deshalb die Frage, ob die Stadt oder die Grundeigentümerin mit einer Abwehroder einer Veränderungsstrategie reagieren würde. Begriffen die Vertreter der Gebrüder Sulzer AG, dass sich durch eine Zusammenarbeit mit den politischen Gremien mögliche Rekurse vermeiden und kostbare Zeit und Geld sparen ließen? Und würde die Stadtregierung erkennen, dass sie gegenüber der Bürgerinitiative flexibel und offen sein müsse? In Anbetracht des öffentlichen Interesses hatten sie sich gegenüber der Bürgerschaft zu legitimieren. 59 | Vgl. Raschke (1985). 60 | Die Kontrollmacht kann eine Bewegung durch Ignorieren schwächen. Wenn die Kontrollinstanz mit Toleranz und Reformbereitschaft reagiert, kann dies den Erfolg einer sozialen Bewegung bedeuten. „In diesem idealtypischen Fall geht die Tolerierung über das Gewährenlassen hinaus bis zu den verbindlicheren Formen des Verhandelns, der Eröffnung von Partizipationschancen, der Kooperation und schliesslich der Institutionalisierung gewaltloser Formen sozialer Bewegung. […] Sie bieten gleichzeitig die Chancen zu einer Vergrösserung des Einflusses von unten wie der sozialen Kontrolle von oben.“ A.a.O., S.358.

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Eine Ablehnung der Forderungen hätte nicht nur ein negatives Echo in den Medien, sondern auch weitere Diskussionen entfachen können. Was würde jetzt geschehen? Nachdem Irma Noseda die Forderungen der SIA-Gruppierung erläutert hatte, äußerten sich zunächst die Vertreter der Stadt. Der Stadtpräsident Martin Haas teilte den Besuchern mit, dass der Stadtrat von Winterthur die Führungsverantwortung für die Planung des Sulzer-Areals übernehmen werde. Mit einem internationalen Ideenwettbewerb wolle er die Vorschläge für eine neue 61 Nutzung suchen. Bei den Planungen beabsichtige die Stadtregierung, das kulturelle Erbe des Areals zu berücksichtigen. Dies sei bereits aus den vergebenen Gutachten bezüglich der Schutzwürdigkeit von Gebäuden und Fabrikhallen abzulesen. Die Stadt nehme auch die Vorschläge an, die Gespräche zwischen den Grundeigentümern und den interessierten Kreisen aufzunehmen. Hierzu wolle man eine Planungsorganisation Stadtentwicklung gründen, um alle Tätigkeiten zu koordinieren. Der Planungsrahmen solle, wie von der SIA-Gruppe vorgeschlagen, nicht auf das Sulzer-Areal beschränkt, sondern auch auf das im Bahnhofsgebiet gelegene VOLG- und Arch-Areal ausgeweitet werden. Der Stadtrat befürwortete die von der SIA-Gruppe vorgeschlagene Durchführung eines stadtplanerischen Wettbewerbs. Er aber lege großes Gewicht auf dessen Vorbereitung, weshalb er eine Werkstatt für Stadtentwicklung einsetzen wolle. In dieser Werkstatt werde man sich intensiv mit dem Problem der Stadtentwicklung auseinandersetzen. Es sollten verschiedene Verbände und Institutionen eingeladen werden, um Informationen als Grundlage für einen Wettbewerb zu sammeln. Erst nach einem Wettbewerb wolle die Stadt die planungsrechtlichen Instrumente schaffen, um die Gestaltungspläne und Bauvorschriften zu formulieren. Mit den Vorschlägen der Stadt waren die Vertreter der Gebrüder Sulzer AG einverstanden. Aus der Planung wollten sie allerdings zwei Teilareale ausnehmen: die SLM–Fabrik und den Lagerplatz. Das SLM-Werk verzeichnete in der Zwischenzeit eine ausgezeichnete Auftragslage und wollte weiterhin das SulzerAreal als Produktionsstandort nutzen. Einen Teil des Lagerplatzes beabsichtigte „Die Post“ (PTT) zu kaufen, um ein Postvertriebszentrum mit Bahnanschluss zu bauen. Nach den Vorstellungen der Firma Sulzer sollten also nur jene Flächen für den Wettbewerb freigegeben werden, die sich unmittelbar in der 62 Nähe des Hauptbahnhofs befanden. Das Einlenken der Stadtregierung und der Grundeigentümerin überraschte alle Teilnehmer der Veranstaltung. Die Stadtverwaltung und die Firma Sulzer waren damit einverstanden, dass in einem kooperativen Verfahren eine städtebauliche Lösung gefunden werden müsse, dass die Öffentlichkeit in Zukunft 61 | Vgl. Keller (1990b), S. 19. 62 | Vgl. a.a.O.

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über alle relevanten Schritte informieren werde, dass die Stadt die Federführung bei der Planung übernehme und ein Gesamtkonzept für die Arealumnutzung entwickele. Am darauffolgenden Tag verkündete der Tagesanzeiger: „Die Gebrüder Sulzer AG hat sich in der Diskussion um ihr ‚Winti-Nova‘- Projekt bisher sehr lernfähig gezeigt. Sie hat die öffentliche Diskussion – trotz zum Teil harter Kritik – begrüsst und eingestanden, dazugelernt zu haben. Und sie ist auch bereit, dem Stadtrat die Führung in einem Ideenwettbewerb zu überlas63 sen.“ Darüber hinaus reagierte die Gebrüder Sulzer AG an diesem Abend auch auf symbolische Weise. Noch war das Sulzer-Gelände eingezäunt und nur über eine Besuchserlaubnis zugänglich. Für die Bürger Winterthurs gab es bisher keine Möglichkeit, sich vor Ort über das Industriegelände zu informieren. Am Ende der Freitagsveranstaltung versprach der Generaldirektor der Firma Sulzer, Erich Müller, die Werktore an zwei Samstagen (15. September und 29. September 1990) für die Bevölkerung zu öffnen. Er wolle den Bürgern die Gelegenheit 64 bieten, Ideen für eine Umgestaltung zu finden. An diesem Abend stellte sich heraus, dass die Veranstaltungsreihe „Die Neustadt aus der Werkstadt“ eine Kurskorrektur der politischen Planungsarbeit in Winterthur zur Folge hatte. Wie ist dieser überraschende Erfolg zu erklären? Fassen wir das Geschehene nochmals zusammen: Der SIA-Bewegung gelang es durch ihre Veranstaltungsreihe, die Bürger Winterthurs und die Kontrollinstanzen, die Stadt und die Grundeigentümer, zu informieren, zu mobilisieren und zu steuern. Sie analysierte die politische Lage, problematisierte die vorangegangene Gesamtplanungsstudie „Winti-Nova“ und entwickelte neue Lösungsansätze für ein städteplanerisches Vorgehen. In den sechs Zusammenkünften wurden drei Deutungsrahmen herausgearbeitet: die „kollektiven Bedürfnisse“, die „kultu65 relle Identität“ und die „politische Macht“. Die SIA-Referenten wiesen auf die Notwendigkeit einer Durchmischung des neuen Stadtviertels mit Wohnun63 | A.a.O. 64 | Vgl. a.a.O. 65 | Castells beschreibt diese Angebote in einer Strukturformel: „1 To accomplish the transformation of urban meaning in the full extent of its political and cultural implications, an urban movement must articulate in its praxis the three goals of collective consumption demands, community culture, and political self-management. 2 It must be concious of its role as an urban social movement. 3 It must be connected to society through a series of organizational operators, three in particular: the media, the professionals, and the political parties. 4 A sine qua non condition: while urban social movements must be connected to the political system to at least partially achieve its goals, they must be organizationally and ideologically autonomous of any political party. The reason is that social transformation and political struggle, negotiation, and management, although intimately connected

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gen, Geschäften, Büros und Freizeiteinrichtungen – der kollektiven Bedürfnisse – hin, berücksichtigten die Bewahrung der kulturellen Identität der Stadt mit ihrer industriellen Vorgeschichte und erfüllten den Wunsch nach einer Partizipation der Bürger als Ausdruck der politischen Macht. Entscheidend für den Erfolg der Veranstaltungsreihe war das Selbstbewusstsein der SIA-Architekten. Sie verstanden sich als Sprecher der Winterthurer Bürger und bauten mit der Mobilisierung der Bevölkerung den notwendigen Druck für einen demokratisch legitimierten Stadtumbau auf. Mit einer Verknüpfung von organisatorischen Generatoren, den Experten und den politischen Parteien, gelang ihnen die Durchsetzung ihrer Ziele. Unterstützung fanden sie durch Presse, Rundfunk und Fernsehen, die über das Geschehen in der Kultursagi kontinuierlich berichteten. Die Bevölkerung war also stets gut informiert. Die eingeladenen Experten, sie setzten sich aus bekannten Persönlichkeiten der Wissenschaft und Kultur zusammen, brachten das notwendige Fachwissen und die entsprechende Medienwirkung mit, um den Forderungen der sozialen Bewegung einen gebührenden Ausdruck zu verleihen. Trotz ihres stadtpolitischen Engagements blieb die Bewegung politisch unabhängig. Diese Unabhängigkeit ermöglichte die Einbindung der Politiker aller Parteien in den Umdenkungsprozess. Die Protestbewegung wies als soziales Immunsystem auf Unsicherheiten und Inkonsistenzen im laufenden Kommunikationsprozess hin. Sie reagierte auf die Probleme und Unstimmigkeiten des noch ungeklärten Stadtumbaus 66 und auf Störungen und Irritationen der sozialen Kommunikation. Es folgte eine öffentliche Diskussion und die Suche nach alternativen Lösungsvorschlägen zu „Winti-Nova“. Die Gesamtplanungsstudie „Winti-Nova“ diente als symbolischer Aufhänger eines Unbehagens gegenüber einer noch ungeklärten Frage um die Deutungsmacht eines Stadtumbaus. Indem die Firma Sulzer die eigene Gesamtplanungsstudie hinterfragen ließ und im Anschluss daran ihre Deutungsmacht an die Stadtregierung abgab, konnte sie ihr eigenes Funktions67 system stabilisieren. Die Firma erkannte, dass sie durch Konsensbereitschaft einen wirtschaftlichen Nutzen verbinden konnte. Durch ihr Einlenken ließen sich unnötige Vorplanungen, Diskussionen und eventuelle Rekurse, die viel Geld und Zeit gekostet hätten, vermeiden. In der Veranstaltungsreihe entwickelte die SIA-Sektion Winterthur eine Rekartografie, welche in Form von Vorschlägen, Ideen, Karten, Herangehensweisen und praktischen Erfahrungen vorlag. Gleichwohl ist anzumerken, dass die Inhalte der Gesamtplanungsstudie „Winti-Nova“ immer wieder in modifiand interdependent, do not operate at the same level of the social structure.“ Castells (1983), S. 322. 66 | Vgl. Luhmann (1996). 67 | Vgl. Luhmann (1998), S. 858.

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zierter Weise in dieser Rekartografie erschienen. Alle angedachten Lösungen des Stadtumbaus bildeten – wie bereits bei den Konzeptvarianten von „Winti-Nova“ skizziert – einen Spannungsbogen zwischen einem Totalerhalt bis hin zu einem Totalabriss des Sulzer-Areals. Adolf Muschgs Wunsch, das Areal zunächst einmal nicht abzureißen, sondern noch abzuwarten und neue Konzepte zu entwickeln, oder der Vorschlag von Hans Bissegger, mithilfe einer Genossenschaft das Areal zu kaufen, ähneln dem „Winti-Nova“-Vorentwurf E und F. Der Plan A, welcher den Totalabriss des Sulzer-Areals vorsah, kongruiert mit der Idee des Architekten Peter von Seidlein. Er schlug eine Neuplanung ohne Berücksichtigung der alten Gebäude vor. Auch Hans Kollhoff plädierte dafür, alles auf dem Sulzer-Areal abzureißen, wohlgemerkt nur unter der Prämisse, die städtebaulich und architektonisch besten und hochwertigsten Lösungen zu finden. Letztlich sind es die Pläne zwischen Totalerhaltung und Totalabriss, welche die Mehrzahl der Referenten bevorzugten. Diese Ideen sind mit den Vorstudien von „Winti-Nova“, den Plänen B, C und D vergleichbar. Karte: „Winti-Nova“

Karte der SIA-Referenten/Auswahl

Vorgeschlagener Eingriff

Plan A

von Seidlein

Weitgehender Totalabriss

Plan B bis Plan D sowie Masterplan

Kollhoff, von Moos, Humbert, Fuchshuber, Bärtschi

Teilabriss

Plan E-F

Muschg, Voggenhuber, Bissegger/Schwarzenbacher

Erhalt oder temporärer Erhalt

Abbildung 55: Vergleich der Konzepte von „Winti-Nova“ und „Die Neustadt aus der Werkstadt“.

Die Unterschiede zwischen den ersten Projektstudien Sulzers und den Karten der Referenten lagen darin, dass durch die soziale Bewegung die Weichen für eine nachhaltige und demokratische Stadtentwicklung gestellt wurden. In Anbetracht der vielen nachfolgenden Konzepte, die auf diese Planung folgten, ist „Winti-Nova“ als städtebauliche Lösung zu würdigen. Als erstes Stadtumbaukonzept Winterthurs muss es allen nachfolgenden Konzepten an Wertigkeit gleichgesetzt werden. Die Stärke der Veranstaltungsreihe lag also weniger an der Kritik gegenüber der Gesamtplanungsstudie „Winti-Nova“, als vielmehr an der Klärung zentraler stadtpolitischer Fragestellungen: In wessen Hände wollen die Bürger Winterthurs die epochale Aufgabe eines Stadtumbaus legen? Die Antwort war eindeutig: Der Stadtumbau ist eine öffentliche Angelegenheit. Die zweite Frage

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lautete: Auf welche Weise soll der Stadtumbau organisiert werden? Die Antwort lautete: Es sollen Wettbewerbe organisiert und das Sulzer-Areal mit Bedacht umgestaltet werden.

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D ER R AUM UND DAS KOLLEK TIVE G EDÄCHTNIS

Abbildung 56: Ehemalige Holzbauhalle. Quelle: Krug, 2004.

Nach der Stilllegung der Produktion versuchte die Grundeigentümerin, das Sulzer-Areal gewinnbringend zu vermarkten. Die Denkmalpflege, die einen Rückbau der Anlage befürchtete, wollte es als Zeichen der Winterthurer 1 Stadtidentität bewahren. Bei der Diskussion, wie das Areal zu schützen 1 | Halbwachs beschreibt die Bedeutung des Widerstands gegen räumliche Veränderungen: „Die lokalen Gewohnheiten setzen den Kräften, die sie zu verändern bestrebt sind, Widerstand entgegen, und dieser Widerstand erlaubt am besten wahrzunehmen, in welchem Masse das kollektive Gedächtnis sich in derartigen Gruppen auf räumliche Bilder stützt. [...] Wenn eine menschliche Gruppe lange an einem ihren Gewohnheiten angepassten Ort lebt, richten sich nicht nur ihre Bewegungen, sondern richtet sich auch ihr Denken nach der Folge der materiellen Bilder, die ihr die äusseren Gegenstände darbieten.“ Halbwachs (1991), S. 133f.

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sei, bewegten sich die sozialen Akteure innerhalb zweier Deutungsrahmen: Umbau, Vermarktung und finanzieller Gewinn auf der einen Seite, Bewahrung des Areals als kulturelles Erbe auf der anderen. Wie bei der Veranstaltungsreihe „Die Neustadt aus der Werkstadt“ ging es auch hier um die Deutungsmacht: Welche Haltung wird sich durchsetzen? Welche Argumente können überzeugen und welche denkmalpflegerische Position steht für eine erfolgreiche Umnutzung? Bei dieser Auseinandersetzung spielte die Inventarisierung des Sulzer-Areals eine bedeutende Rolle. Im Jahre 1989 erhielt das Büro ARIAS unter Leitung des Industriearchäologen Hans-Peter Bärtschi von der Stadt Winterthur den Auftrag, eine Inventarisierung des Areals vorzunehmen. Die Untersuchung war die Grundlage für zahlreiche Anschlussgutachten, Stellungnahmen und stadtpolitische Entscheidungen. Am 2. Juli 1990 eröffnete der Heimatschutz Winterthur die Diskussion um die Unterschutzstellung und stellte in einem 7-Punkte-Programm seine Vorstellungen über die zukünftige Umnutzung des Sulzer-Areals vor. Einige Tage vorher, am 28.Juni 1990, überreichte das industriearchäologische Büro ARIAS der Stadtverwaltung ihre Inventarisierung mit einer Empfehlung der schutzwürdigen Objekte des Sulzer-Areals. Auf diese Untersuchung folgte am 12.11.1990 eine Stellungnahme der Stadtgestaltung/ Denkmalpflege Winterthur. Die Fachexperten formulierten darin ihre eigenen denkmalpflegerischen Forderungen. Am selben Tag nahm Sulzer zur Inventarisierung des Büros ARIAS Stellung und wies seine Forderungen nach einer Bewahrung der historischen Arealstrukturen und Einzelgebäuden zurück. Zwei Tage später, am 14.11.1990, lehnte der Stadtrat eine Unterschutzstellung des Sulzer-Areals ab; weitere Entscheidungen sollten nach der geplanten 2 „Werkstatt ’90“ stattfinden. Es folgten zahlreiche Gutachten und Stellungnahmen: Am 12.3.1991 wies die Firma Sulzer die Forderungen der Stadtgestaltung/Denkmalpflege Winterthur zurück. Zwei Wochen später legte die Kantonale Denkmalpflege Zürich (KDZ) ein neues Gutachten vor und forderte, das Sulzer-Areal zum großen Teil unter Schutz zu stellen. Dies veranlasste die Firma Sulzer im Juni 1991 zu einer erneuten Stellungnahme, wobei sie die Vorschläge der KDZ ablehnte. Über zehn Jahre später, im Jahre 2003, führte der Regierungswechsel in Winterthur erstmals zu einem Schutzvertrag. Die Firma Sulzer, die Stadt Winterthur, der Heimatschutz und die Denkmalpflege fixierten verbindliche Schutzziele für das Sulzer-Areal. Nach diesem Überblick über die Auseinandersetzung um eine Unterschutzstellung des Sulzer-Areals will ich die einzelnen Gutachten und Stellungnahmen genauer untersuchen und die Fragen beantworten, welche Positionen die 2 | Die „Werkstatt ’90“ war eine Veranstaltung der Stadt Winterthur. In diesem Gremium wurde das Leitbild einer zukünftigen Umnutzungsstrategie für die im Stadtzentrum Winterthurs gelegenen Industriegebiete erarbeitet.

Der Raum und das kollektive Gedächtnis

Akteure einnahmen, wie sie die politischen Entscheidungen beeinflussten und 3 auf welche Weise die Diskussionen die Produktion des Raumes in Winterthur veränderten. 28.06.1990

Inventarisierung des Sulzer-Areals durch das Büro ARIAS

2.07.1990

7-Punkte-Programm des Heimatschutzes Winterthur

12.11.1990

Stellungnahme Stadtgestaltung/Denkmalpflege Winterthur zur Inventarisierung

12.11.1990

Stellungnahme der Firma Sulzer zur Inventarisierung des Büro ARIAS

14.11.1990

Beschluss der Stadt: Ablehnung einer Unterschutzstellung

22.02.1991

Gutachten zur Tragkonstruktion und zukünftigen Nutzung (Bosshard)

12.03.1991

Stellungnahme der Firma Sulzer zur Stellungnahme der Stadtgestaltung/Denkmalpflege Winterthur

26.03.1991

Gutachten der Kantonalen Denkmalpflege Zürich (KDZ) zum Schutz des Sulzer-Areals

Mai 1991

Gutachten der Firma Sulzer durch die Architekten Schwarz+Gloor

Juni 1991

Stellungnahme der Firma Sulzer zum Gutachten der KDZ

26.09.1991

Stellungnahme ARIAS zur aktuellen Situation

Sept. 2003

Schutzvertrag

Abbildung 57: Chronologie der wichtigsten Stellungnahmen und Gutachten einer Unterschutzstellung des Sulzer-Areals.

Die Inventarisierung des Sulzer-Areals Das Ansehen des Sulzer-Areals als florierendes Industriegebiet inmitten Winterthurs war im Jahre 1990 erschüttert. Zahlreiche Industriehallen waren ausgeräumt und standen leer. Eine Inventarisierung sollte die Bedeutung dieser Gebäude klären und die Fragen beantworten, wo sich die markanten Merkzeichen, Wege und Plätze befänden, wie sich diese in einen kunsthistorischen Kontext einbinden ließen und welche Elemente für das zukünftige Bild der Stadt entscheidend seien. In seiner Inventarisierung berief sich Hans-Peter Bärtschi auf die beiden Stadttheoretiker Kevin Lynch und Aldo Rossi. Kevin Lynch untersuchte in den 1950er Jahren die Art und Weise, wie die Bewohner ihre Stadt wahrnehmen. In seinen Untersuchungen klammerte er die histori3 | Vgl. Lefebvre (2006).

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schen und sozialen Komponenten weitgehend aus und konzentrierte sich auf das sichtbare Bild der Stadt. Er erkannte, dass die Stadtstruktur und die Architektur mit ihren Wegen, Merkzeichen, Rändern, Brennpunkten und Bereichen den Menschen Orientierung bieten und ihr Verhalten steuern. Die Bewohner entwickeln ein imaginäres Bild ihrer Stadt, das gefiltert ist und sich gegenüber der Wirklichkeit vereinfacht und verzerrt darstellt. Kevin Lynch definierte das Image als das gemeinsame Vorstellungsbild, das die Bewohner und Besucher 4 von ihrer Stadt entwickeln. Aldo Rossi erweiterte die Stadtforschung hinsichtlich deren historischen Kontexts und deren Verständnis von Raum und Zeit. Er übernahm die von 5 Maurice Halbwachs formulierten Begriffe der „Kollektivimagination“ und des „Kollektivgedächtnisses“ gesellschaftlicher Gruppen und postulierte sie 6 als Merkmale städtebaulicher Phänomene. Die Geschichte und die Identität der Stadt drücken sich für Rossi in der Architektur, vor allem aber an den Baudenkmälern, den „Monumenten“, und in der Stadtstruktur aus. Was Aleida 7 Assmann in einer Dyade von „Speicher- und Funktionsgedächtnis“ als kulturelles Gedächtnis beschreibt, entsprechen bei Rossi die Begriffe „Permanenz“ 8 9 und „Funktion“. Die „Permanenz“ meint die ablesbare Geschichte in den Monumenten, die „Funktion“ die aktuelle Nutzung der Architektur. Sie lassen sich im Sulzer-Areal am Beispiel des Bürohauses Schoch veranschaulichen. Die Sulzer-Gießerei in der Halle 39 wurde im Jahre 1896 als Sichtbacksteinbau erstellt. Die Maschinenfabrik nutzte dieses Gebäude später als Bauschlosserei, Kranwerkstätte, Modellschreinerei, Labor der Qualitätskontrolle und als Werkstatt für den Bau von Transformatoren. Nach der Stilllegung der Fabrik und dem Verkauf an eine Immobilienfirma interessierte sich die Firma Büro Schoch Werkhaus AG für dieses Gebäude. Sie mietete es und beschloss, nur wenig an der ursprünglichen Bausubstanz zu ändern. Die Architekten verknüpften das ursprünglich industriell geprägte Interieur mit einem Büro- und Planungscenter sowie modernen Verkaufs- und Ausstellungsräumen. Mit diesem Umnutzungskonzept entstand in der Verschränkung alter und neuer Nutzung ein medialer Gedächtnisraum, den Rossi als „Archiv“ der Stadt bezeichnet.

4 | Vgl. Lynch (1989), S. 60ff. 5 | Vgl. Halbwachs (1991), S. 131. 6 | Vgl. Brichetti (2006), S. 100. 7 | Assmann (1999), S. 134. 8 | Am Beispiel des Palazzos della Ragione in Padua erklärt Aldo Rossi, dass die Architektur ein Speichergedächtnis besitzt. Es reicht bis zu den Anfängen der Geschichte des Palazzos zurück. Das Funktionsgedächtnis äußert sich in seiner aktuellen Nutzung. Vgl. Rossi (1973), S. 19. 9 | Vgl. a.a.O., S. 42f.

Der Raum und das kollektive Gedächtnis

Abbildung 58: Firma Büro Schoch Werkhaus AG Winterthur in der ehemaligen Sulzer-Eisengießerei. Quelle: Krug, 2010.

Innerhalb der „Funktion“ spiegelt das Büro Schoch eine moderne Planungs-, Verkaufs- und Ausstellungsumgebung wider. Im Rahmen einer „Permanenz“ lässt sich die ehemalige industrielle Nutzung unmittelbar an der historischen Bausubstanz ablesen. Beim Betreten des Geschäfts findet der Besucher zahlreiche Spuren der ehemaligen Produktion. In dem meterhohen Bürohaus sind noch immer die alten Backsteinwände, Betonpfeiler und das Stahlfachwerk für die Krananlagen zu sehen; auch die historischen Dampf-, Druck- und Heißwasserleitungen blieben erhalten. Ebenso zeugen die hohen Bogenfenster und die Scheddächer, die Eisenbahnschienen im Boden, die Manometer an den Wänden 10 und die Flaschenzüge an der Decke von der ehemaligen Nutzung. Die Dyade von „Funktion“ und Permanenz“ lässt sich auch auf die Städte mit ihren inneren und äußeren Interieurs übertragen. Als industriehistorisches Archiv gibt das Sulzer-Areal zahlreiche Informationen über die Vergangenheit des ehemals industriell genutzten Raumes. Die Baudenkmäler, die „primären Elemente“ sind die konstitutiven Bestandteile, welche auf die permanente

10 | Vgl. http://www.werkhaus.ch/unternehmen/das-werkhaus/, Stand: 23.12.2011.

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Entwicklung der Stadt Einfluss nehmen. Auch das Gebäudeensemble wird zu einem solchen Element. Da Rossi diesen Ensembles bisweilen die Wesens12 merkmale von Kunstwerken zuschreibt, übernahm das Büro ARIAS seine Grundgedanken: Die Sulzer- und SLM-Stadt kann in vielen Bereichen als Gesamtkunstwerk betrachtet werden, dementsprechend geht es […] nicht in erster Linie um die Erhaltung von isolierten Einzelbauten, sondern um die Wahrung von gewachsenen Strukturen, d.h. von an Geleisbögen angeschmiegten Gebäudegrundrissen, Strassenrastererschliessungen, um Proportionen, Durchgänge, Passagen, Gassen und Plätze. Das ist das Eindrücklichste an diesen Industriearealen. In der historischen Entstehung und Begründung sind diese Strukturen 13 unwiederbringbar.

Indem Hans-Peter Bärtschi das Sulzer-Areal als ein Gesamtkunstwerk betrachtete, forderte er neben der Erhaltung einer Anzahl von Gebäuden die Bewah14 rung seiner gewachsenen Strukturen. Im Sinne Aldo Rossis forderte er eine wohldurchdachte und sensible Überbauung der stadträumlichen Strukturen. Rossis Theorie forderte eine Entwurfsmethode, die sich analog zu ihrer Region, ihrer Geschichte und ihrer Tradition ausrichtete. Mit dem Schutz der städtebaulichen Strukturen und einer behutsamen Neugestaltung sollte 15 die Eigenart und Identität der Stadt bewahrt werden. Mit dieser Forderung verband Aldo Rossi keineswegs die ausschließliche Konservierung der alten Bausubstanz. Er betonte vielmehr, dass dem Recht der Stadt auf eine dynamische Weiterentwicklung und Entfaltung Rechnung getragen werden müsse. Nur so könne sich der urbane Raum immer wieder in neuen historischen Kontexten entwickeln. Damit erteilte er einer rein konservatorischen Absicht eine Absage und sprach sich für eine modernisierende Stadtentwicklung aus: 11 | In Winterthur stellen diese „primären Elemente“ die Baudenkmäler, wie z.B. die City Halle oder die Eisengießerei, dar. Während diese im 20. Jahrhundert noch eine eindeutig festgelegte industrielle Funktion und Bedeutung besaßen, wurden sie später umgedeutet. Die Spedition wurde zu einem Freizeitzentrum, die Kranbahn zu Lofts und die Gießerei zu einem Parkhaus. 12 | Als wesentliches Merkmal einer Stadt spielen die Baudenkmäler als Kunstwerke eine entscheidende Rolle. Vgl. Brichetti (2006), S. 57. 13 | Büro ARIAS, Dr. Hans-Peter Bärtschi und Thomas Juchler, im Auftrag der Stadt Winterthur/Dep. Bau: Bauinventar Areale Sulzer/SLM, Winterthur, 1989/90, S. 26. 14 | Diese Haltung deckte sich mit Rossis Intention. Er wollte die Geschichte, welche sich in der Architektur und Stadtstruktur verkörpert, bewahren. Vgl. Brichetti (2006), S. 101. 15 | Vgl. a.a.O., S. 8.

Der Raum und das kollektive Gedächtnis

Seine Konservierung widerspricht dem dynamischen Entwicklungsprozess einer Stadt und verhält sich zu deren heutigen Werten wie der einbalsamierte Leichnam eines Heiligen zum Bild seiner historischen Persönlichkeit. […] es soll lediglich festgestellt werden, dass die Dynamik einer Stadt eher zur Weiterentwicklung als zur Erhaltung tendiert, dass die Baudenkmäler aber im Zuge dieser Entwicklung [...] erhalten bleiben und sich sogar stimulierend auf die Entwick16 lung auswirken.

Abbildung 59: Hektarenhalle. Quelle: Krug, 2004.

In Anlehnung an Aldo Rossis Theorie plädierte Hans-Peter Bärtschi nicht für einen musealen Schutz des Sulzer-Areals, sondern für die Notwendigkeit 17 einer Modernisierung. Eine Umgestaltung sollte aber immer Bezug auf die Geschichte nehmen, weshalb bei einem Stadtumbau eine historische Analyse der Stadt angezeigt sei. Die städtebauliche Haltung Hans-Peter Bärtschis weist Parallelen zur „kritischen Rekonstruktion“ auf, die in den 1980er Jahren der Berliner Architekt Josef Kleihues entwickelte. Die im Zusammenhang mit der Internationalen 16 | Rossi (1973), S. 44f. 17 | Vgl. Bärtschi (1992), S. 29.

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Bauausstellung IBA (1984/87) entwickelte „kritische Rekonstruktion“ legte den historischen Stadtgrundriss als Konstante der Stadtentwicklung zugrun18 de. Kleihues beabsichtigte, nicht die Stadt museal zu bewahren, sondern ihre dynamische Weiterentwicklung durch historische Stadtrecherchen zu 19 überprüfen. So wurde in den 1990er Jahren unter dem Leitbild der „kritischen Rekonstruktion“ bei nahezu jedem neu zu planenden Areal in Berlin eine Reihe geschichtlicher Expertisen erstellt. Diese Methode entwickelte sich Jahre später zum „dialogischen Städtebau“, welcher den Fortbestand des Stadtgrundrisses und die Kombination von alten und neuen Bauten bei einer Stadtplanung 20 vorsah, weiter. Wie von der „kritischen Rekonstruktion“ gefordert, stand auch zu Beginn des Umgestaltungsprozesses in Winterthur die historische Recherche. Und wie in Berlin, sollte auch in Winterthur die Inventarisierung des Sulzer-Areals die Grundlage für die weiterführenden Planungen bilden. Nachdem Hans-Peter Bärtschi seine Inventarisierung der Stadtverwaltung 21 vorgelegt hatte, verfasste die Heimatschutzgesellschaft Winterthur am 2. Juli 1990 in einem 7-Punkte-Programm ihren Vorschlag zur „Umnutzung von 22 Industrie- und Zentrumsarealen Winterthurs“. In dieser Schrift formulierte sie ihre Empfehlungen über eine Wiederverwertung bestehender Baustrukturen. Der Heimatschutz betonte, dass ein positives Erscheinungsbild des SulzerAreals ein gegenseitiger Gewinn für die Firma Sulzer und die Stadt Winterthur bedeute. Um ein positives Image zu erzielen, müsse das Sulzer-Areal als Einheit erhalten bleiben, neue architektonische Elemente auf das Bestehende abgestimmt werden und zukünftige Interventionen im Sinne eines Dialogs zwischen Alt und Neu stattfinden. Da sämtliche Teilareale erhaltenswerte Bauten besäßen, erfordere es Konzepte, welche auf die städtebauliche und kulturelle Bedeutung Winterthurs Bezug nehmen. Hierbei sei der bewährteste Weg die Ausschreibung eines Wettbewerbs, der die denkmalpflegerischen 23 Aspekte zu berücksichtigen habe. Die historische Recherche über das Areal müsse dabei als Vorlage dienen.

18 | Vgl. Brichetti (2006), S. 8. 19 | Vgl. Kleinhues (1989), S. 12. 20 | Brichetti weist darauf hin, dass der dialogische Städtebau als Weiterentwicklung der kritischen Rekonstruktion zu verstehen ist. Vgl. Brichetti (2006), S. 110. 21 | Der Heimatschutz ist eine Organisation im Bereich schweizerischer Baukultur. Er setzt sich dafür ein, Baudenkmäler aus verschiedenen Epochen vor dem Abbruch zu bewahren. Vgl. http://www.heimatschutz.ch/d/default.shtm, Stand: 22.6.2008. 22 | Heimatschutzgesellschaft Winterthur: Zur Umnutzung von Industrie- und Zentrumsarealen Winterthurs , 2. Juli 1990. 23 | A.a.O., S. 14.

Der Raum und das kollektive Gedächtnis

Die Inventarisierung des Sulzer-Areals fand in den Jahren 1989/90 statt. Die beiden Industriearchäologen Hans-Peter Bärtschi und T. Juchler legten auf 24 über 1000 Seiten ein Karteiverzeichnis an, welches aus der Beschreibung von Lage- und Umgebungsparametern, aus historischen und nutzungsgeschichtlichen Einflussgrößen, aus Baubeschreibungen und Planungsdokumentationen sowie einem Quellen- und Abbildungsverzeichnis bestand. Ergänzt wurde dieses Dokument durch eine Einstufung von Schutzzielen der baulichen und 25 räumlichen Gestaltungen innerhalb des Areals. Wie bereits vorher erwähnt, bezog sich Hans-Peter Bärtschi auf Kevin Lynch und Aldo Rossi. Auch er begriff das Bild der Stadt als ein Medium, das eine Voraussetzung für die Identitätsbildung der Stadtbewohner schafft. Ablesbar war dieses Bild am Beispiel der 800 m langen Fassade des Sulzer-Areals. Sie diente, so Bärtschi, den Bewohnern und Durchreisenden zur Orientierung. Nach Einschätzung der Industriearchäologen lagen die wichtigsten Ziele eines Gestaltungsplanes in der Erhaltung, Ergänzung und Erneuerung dieser stadtbildprägenden Elemente: Jede Stadt hat ein Kollektivgedächtnis, das prägnante Bauten, Plätze und Strassenzüge als bleibende Erkennungsorte aufnimmt, schreibt Aldo Rossi. [...] In der gleichen Zeit untersuchte Kevin Lynch das Bild von Bewohnern über ihre Stadt [...] und stellte fest, dass Städte mit stark unterschiedlichen, gliedernden Besonderheiten den Leuten am stärksten in Erinnerung bleiben: Architektonische Dominanten dienen den Einwohnern als Orientierung. [...] den Bahnreisenden empfängt oder verabschiedet Winterthur mit seiner 800 Meter langen Sulzer-Bahnfront, der Strassenbenützer fährt an 800 Metern Sichtbacksteinfassaden durch die Zürcherstrasse vorbei in die Altstadt oder Richtung Zü-

24 | Das Büro ARIAS legte eine umfassende Dokumentation der Gebäude und der Strukturen des Areals vor: „Über 104 Bauten und Baubereiche sind in 59 Dokumentationen und in einem Gutachten (Arbeiterhäuser Jägerstrasse) in über 1000 Seiten Material dargestellt. Pro Baugruppe oder Einzelbau besteht ein Deckblatt mit den wichtigsten Angaben: Betriebsinterne Gebäudenummer, Assekuranznummer, Baudaten, Erbauer, Würdigung, Schutzziel, Einstufung und ein Situationsplan. Das Schutzziel bezieht sich auf die zu schützenden Bestandteile im Falle einer Erhaltung, die Einstufung folgt den unten dargelegten Prioritäten und Kriterien ‚Lage und Umgebung‘, ‚Geschichtliche Hinweise‘ bei einzelnen Bauten, Hinweise auf die ‚Nutzungsgeschichte‘ und die ‚Baubeschreibung‘ (Grundriss/Baukörper, Tragkonstruktion, Fassaden, Ausstattung, allenfalls Hinweise auf störende Elemente). Es folgen die ‚Fotodokumentation‘ mit historischen und aktuellen Fotos, die Planungsdokumentation und das Abbildungs- und Quellenverzeichnis.“ Vgl. Büro ARIAS, Dr. Hans-Peter Bärtschi und Thomas Juchler, im Auftrag der Stadt Winterthur/Dep. Bau: Bauinventar Areale Sulzer/SLM, Winterthur, 1989/90, S. 1. 25 | Vgl. a.a.O., S. 1.

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rich. Die Zürcherstrassen-Fassaden sind unter Berücksichtigung dieser Gründe bereits in den 1970er Jahren als kommunale Schutzobjekte festgelegt worden. Als dominantester Bau dieser 22 Hektaren Industriegelände steht an der Spitze, gegenüber dem Hauptbahnhof und der Altstadt das Sulzer-Kesselhaus, das 1952-1957 bewusst monumental gestaltet wurde. Die Erhaltung, Ergänzung und im Lagerplatzbereich die Erneuerung dieser drei das Stadtbild am stärksten prägenden Elemente gehören zu den wichtigsten Zielen einer Gestaltungs26 und Erhaltungsplanung.

Abbildung 60: Kopfbereich des Areals – Kesselhaus. Quelle: Krug, 2006.

Mit seiner Inventarisierung wollte Hans-Peter Bärtschi Einfluss auf die zukünftige städtebauliche Gestaltung nehmen. Seine Forderung nach einer behutsamen Stadterneuerung und der damit verbundenen Ausrichtung auf einen sensiblen Umgang mit dem historischen Bestand unterstrich er mit mehreren Argumenten. Auf dem Winterthurer Sulzer-Areal befänden sich einzigartige 26 | A.a.O., S. 15.

Der Raum und das kollektive Gedächtnis

Industriebauten, das Areal sei baugeschichtlich von gesamtschweizerischer Bedeutung, es zeige beispielhaft die Entwicklung eines Handwerksbetriebs zum Weltkonzern und die Sulzer- und SLM-Areale umfassten Monumente von 27 internationalem Format. Indem der Industriearchäologe das Areal mit barocken und mittelalterlichen Gassen- und Platzräumen verglich, erweiterte er das denkmalpflegerische Verständnis, wonach nicht nur die historischen Gebäude einer Altstadt, die Bürger- oder Rathäuser, schützenswert seien. Auch für Fabrikanlagen müsse ein Denkmalschutz gelten. In seiner Empfehlung sprach Bärtschi sich für eine modernisierende Umnutzung aus und differenzierte drei Ausbauvarianten. Sie bestanden aus Neubaubereichen, „an die keine Gestaltungsvorschriften bezüglich der vorhandenen Bausubstanz notwendig sind. […] Bauten, deren Anordnung und Gesamtform für die Baustruktur des betreffenden Arealbereichs und für die Freiräume wichtig sind – und Bauten, die 28 zweifelsfrei als bedeutende Industriedenkmäler eingestuft werden müssen.“

Abbildung 61:Quelle: Büro ARIAS, Dr. Hans-Peter Bärtschi und Thomas Juchler, im Auftrag der Stadt Winterthur/Dep. Bau: Bauinventar Areale Sulzer/SLM, Winterthur, 1989/90.

Um die Denkmäler dauerhaft bewahren zu können, schlug er eine wirtschaftliche Lösung, wie zum Beispiel in Form provisorischer Umnutzungen und der 29 Realisierung von Park- und Warenhäusern vor. Mit diesen Ideen unterstrich er seine Absicht, den Charakter des Areals erhalten, und einen Totalabbruch verhindern zu wollen. Eine noch zu erstellende Erhaltungs- und Gestaltungsplanung sollte die Rahmenbedingungen der zukünftigen Umgestaltung schaf27 | A.a.O., S. 3. 28 | A.a.O., S. 1. 29 | Vgl. a.a.O., S. 17.

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fen. Hans-Peter Bärtschi vertrat die Ansicht, das Sulzer-Areal biete eine große Chance, das Image der Stadt neu zu definieren. Wie in keiner anderen Stadt vergleichbarer Größe gehöre die Maschinenindustrie-Architektur zur Identität Winterthurs. Mit einer geschickten Erhaltungspolitik eröffne sich eine Chance 30 für eine unverwechselbare, industriell geprägte Stadtidentität. In Anlehnung 31 an den Artikel 6 der Charta von Venedig (1964) forderte er neben der Erhaltung ausgewählter Einzelgebäude den Schutz der Arealstruktur: „Strukturerhaltung heisst, dass der Abbruch von Gebäuden und Gebäudegruppen bei Wahrung der Arealstruktur und der Umgebung der wichtigsten Schutzobjekte möglich ist. Die überlieferte Umgebung aber bleibt erhalten und es verbietet sich jede neue Baumassnahme, die das Zusammenwirken von Bauvolumen, der Materialien 32 und Farbigkeit zerstört [...].“

Abbildung 62: Idee der Strukturerhaltung. Quelle: Büro ARIAS, Dr. HansPeter Bärtschi und Thomas Juchler, im Auftrag der Stadt Winterthur/ Dep. Bau: Bauinventar Areale Sulzer/SLM, Winterthur, 1989/90 .

Die neu zu errichtenden Gebäude hätten die bestehende städtische Struktur und deren Maßstab zu respektieren und bei Abbrüchen müssten sich die Neubau33 ten nach strengen Anforderungen richten. Strukturerhaltung bedeutete für Bärtschi auch die Erhaltung der inneren und äußeren Erscheinungsform der bezeichneten Gebäude, „ihrer Struktur, ihres Stils, ihres Massstabes und ihres Volumens, ihrer Konstruktion und Materialien, ihrer Farben und Zierelemen30 | A.a.O., S. 4. 31 | Vgl. http://www.bda.at/documents/455306654.pdf, Stand: 6.92010. 32 | Büro ARIAS, Dr. Hans-Peter Bärtschi und Thomas Juchler, im Auftrag der Stadt Winterthur/Dep. Bau: Bauinventar Areale Sulzer/SLM, Winterthur, 1989/90, S. 26. 33 | A.a.O., S. 28.

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te und insbesondere ihrer Umgebung“. Er wies in seiner Inventarisierung als einer der Ersten auf den medialen Charakter des Sulzer-Areals hin. Indem er den Raum mit der Geschichte und Kultur verknüpfte und die Struktur, die Substanz und die Semantik des Raums neu verhandeln wollte, begriff er die 35 Stadt auch als medialen Raum.

Abbildung 63: Empfehlung Erhaltungs-Gestaltungsplan. Quelle modifiziert übernommen, aus: Büro ARIAS, Dr. Hans-Peter Bärtschi und Thomas Juchler, im Auftrag der Stadt Winterthur/Dep. Bau: Bauinventar Areale Sulzer/SLM, Winterthur, 1989/90.

Trotz seiner umfangreichen Inventarisierung und den daraus resultierenden Empfehlungen konnte sich Hans-Peter Bärtschi gegenüber der Firma Sulzer AG nicht durchsetzen. Das Unternehmen war an einer wirtschaftlich rentablen Lösung orientiert und wollte dieses Ziel durch eine effiziente Ausnutzung der Flächen und durch eine Erhöhung der Baumasseziffer erreichen. Zwar beabsichtigte die Firma einige Gebäude zu schützen, doch kam ein Schutz der Areal36 strukturen und vieler Gebäude für die Firma nicht infrage.

34 | A.a.O., S. 19. 35 | Vgl. Kramer (2008), S.51. 36 | Bärtschi wies in einem späteren Artikel darauf hin, dass eine überzogene Unterschutzstellung kontraproduktiv für die Entwicklung des Areals sein könne: „[...] doch ist die Angst berechtigt, dass ohne klare Schutzprioritäten bedeutendste Bauten verschwinden könnten und Zufälliges ohne Zusammenhang stehen bleibt. Mit zu grossen Schutzperimetern kann sich diese Gefahr vergrössern. Das Departement Bau der Stadt Winterthur, Abteilung Stadtgestaltung/Denkmalpflege, erweiterte gegenüber dem Gutachten den Schutzperimeter, erachtete aber mit nicht denkmalpflegerisch be-

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Mit dieser Ablehnung war die Diskussion über die Unterschutzstellung des Sulzer-Areals noch nicht beendet. Auf die Inventarisierung folgten die Begutachtungen durch die Stadtgestaltung/Denkmalpflege Winterthur und der Kantonalen Denkmalpflege Zürich.

Abbildung 64: Integral zu schützende Objekte.Quelle: Büro ARIAS, Dr. HansPeter Bärtschi und Thomas Juchler, im Auftrag der Stadt Winterthur/Dep. Bau: Bauinventar Areale Sulzer/SLM, Winterthur, 1989/90.

Die Stadtplanung/Denkmalpflege der Stadt Winterthur antwortete am 12.11.1990 zur Inventarisierung mit eigenen Vorschlägen. In ihrer Stellungnahme wollten die Gutachter, Ulrich Scheibler und Dr. F. Mehlau Wiebking, die Vorarbei37 ten für einen Erhaltungs- und Gestaltungsplan leisten. Ihre Zieldefinition für das Sulzer-Areal lautete, „ein Gewebe von Alt und Neu herzustellen, das die Geschichtlichkeit, den ständigen Wandel der Zeit dokumentiert und auch 38 unserer Zeit erlaubt, sich gültig auszudrücken“. Die Gutachter forderten ein Konzept, das die städtebauliche und kulturelle Bedeutung der Areale und die architektonischen Werte der Bausubstanz berücksichtige. In dieser Stellungnahme formulierte die Stadtgestaltung Winterthur folgende Schutzziele:

gründbaren Kriterien das Wahrzeichen der Anlage, das Sulzer-Kesselhaus, als nicht schutzwürdig.“ Vgl. Bärtschi (1992), S. 34. 37 | Vgl. Stellungnahme Stadtgestaltung/Denkmalpflege Winterthur: Winterthur Bauinventar Areale Sulzer ; 12.11.1990, S. 2. 38 | A.a.O., S. 3.

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- Erhaltung der Fassaden im Original - Erhaltung der bestehenden primären Baustruktur und Konstruktion - Erhaltung der bestehenden primären Baustruktur und Konstruktion mit Ausbauteilen - Erhaltung der bestehenden Baubegrenzungslinie und Gebäudehöhe 39 - Erhaltung der bestehenden Baubegrenzungslinie.

Abbildung 65: Gasse auf dem Lagerplatz. Quelle: Krug, 2010.

Die Fachexperten stützten sich weitgehend auf die Inventarisierung des Büros ARIAS und wichen in ihrer Argumentation nur in wenigen Punkten von der Vorlage der Industriearchäologen ab (siehe Tabelle im Anhang). Das dritte Gutachten erstellte die Kantonale Denkmalpflege des Kantons Zürich (KDZ). Am 18. November 1990 besichtigten die Experten der Kantonalen Denkmalpflege zusammen mit den Vertretern der Grundeigentümerin in 40 einer ganztägigen Sondersitzung die Sulzer- und SLM-Areale. Um die Schutzwürdigkeit der Bauten und Anlagen einstufen zu können, bezogen sich die Experten auf das Bauinventar der Industriearchäologen und die betreffende Stellungnahme der Winterthurer Denkmalpflege. In ihrem Gutachten legte die Kantonale Denkmalpflege Zürich (KDZ) einen Gestaltungsplan vor, der

39 | A.a.O., S. 3. 40 | Denkmalpflege-Kommission des Kantons Zürich: Gutachten Nr. 23-1990; Winter thur, Sulzer- und SLM-Areale zwischen Rangierbahnhof und Zürcher-, Tössfeld-, Schlosshof-, Oberer Schöntal- und Oberer Brigger- und Jägerstrasse , Zürich, 26. März 1991, S. 1.

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weit über die Vorschläge des Büro ARIAS und der Denkmalpflege Winterthur hinausging. Unter Hinweis auf die historisch-kulturelle Verantwortung der Firma Sulzer und der städtebaulichen Bedeutung der Industrieareale für die Stadt Winterthur forderte die KDZ einen Schutz der ausgewiesenen Sulzer-Areale, dem SulzerAreal I und II sowie dem SLM-Areal 1 und 2. Neben der historischen Bedeutung hoben die Experten vor allem den städtebaulichen Einfluss der Industrieareale auf die Stadt Winterthur hervor. Während sich das Innere des Areals durch funktionelle Bauten auszeichne, repräsentiere die Fassadenabfolge mit ihren Eingangsbereichen das Außenbild der Firma Sulzer. Das verbindende Element zwischen innen und außen, das Kesselhaus, sei auch das Wahrzeichen des Sulzer-Areals. „Das Kesselhaus an der Areal-Spitze wirkt gewissermassen als Synthese zwischen der Funktionalität im ‚Innern‘ der Areale und der Repräsentation nach aussen. Hier wurde bewusst und in Repräsentationsabsicht die technisch-funktionelle Architektur in einem quergestellten Kopfbau mit zwei 41 symmetrischen Kaminen zur Wirkung gebracht [...].“ Die KDZ ging über die Forderungen des Büro ARIAS und die Empfehlungen der Winterthurer Denkmalpflege weit hinaus. Neben dem Schutz des 42 klar ablesbaren Arealumrisses und seiner Struktur sollten nun auch die 43 sich darin befindenden Baukörper erhalten bleiben. Die KDZ übernahm in ihrer Argumentation die von den Gutachtern entworfene Analogie zu mittelalterlichen Stadträumen. Die Wechselwirkung zwischen den raum- und platzbildenden Erschließungsachsen und den monumentalen Hallen erinnere an mittelalterliche Stadtanlagen, „wo ebenfalls eine Wechselwirkung, nämlich die Öffnung des Gewirrs von schmalen Gassen in große ‚leere‘ Platzräume das 44 Erlebnis bestimmt“. Die Denkmalpflege vertrat die Ansicht, dass die unmittelbar aneinandergrenzenden Industrieareale in einem entwicklungsgeschichtlich engen Zusammenhang ständen. Da es sich bei der Firma Sulzer um eine „historische Größe“ handele und die Schutzobjekte von kantonaler Bedeutung seien, müsse das Sulzer-Areal I und II sowie das SLM-Areal 1 und 2 als schutzwürdig betrachtet werden: Schutzobjekte von kantonaler Bedeutung sind demzufolge: 1. Die Areale Sulzer I und II als Ganzes und die SLM-Areale 1 und 2 als Ganzes. Bei den Sulzer-Arealen werden unter 2 und 3 die Einzelschutzobjekte näher bezeichnet. Wir beantragen, bei allen drei Arealen Gesamtschutzmassnahmen 41 | 42 | 43 | 44 |

A.a.O., S. 4. Vgl. a.a.O., S. 4. Vgl. a.a.O., S. 6. A.a.O., S. 4.

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anzuordnen, welche eine befriedigende Gesamtwirkung der unter Schutz ge45 stellten Altbauten und der allfälligen Neubauten ermöglicht.

Abbildung 66: Gasse zwischen Hektarenhalle und City Halle. Quelle: Krug, 2004.

Die Denkmalpflegekommission begründete ihre Schutzforderung mit dem besonderen Charakter der Anlage. Als Modellfall eines gewachsenen Industriekomplexes könnten im Sulzer-Areal die lückenlosen Entwicklungsschritte einer funktionellen Bauweise in gesamtschweizerischem Rahmen nachvollzogen werden. Das Sulzer-Areal bilde einen Idealfall für Architekturgeschichte und Denkmalpflege. Als zukünftige Nutzung schlugen die Experten die Einrichtung eines Museums vor. Bei der Größe der Anlage sollte es möglich sein, die Teilareale als technisches Museum für die Industriegeschichte der Schweiz zu nutzen. Dabei könne ein Minimum der Anlage wieder in einen Zustand gebracht werden, der ihrer historischen Funktion als Fabrikationsschauplatz annähernd entspreche: „Für heutige Begriffe und Bedürfnisse wäre natürlich ein Technisches Museum mit nichtmusealer Aufbewahrung, nämlich mit Dokumentation ‚life‘ ein fast 46 selbstverständliches Ziel.“ Während das Büro ARIAS den Schutz der Strukturen und einzelner Gebäude empfahl, wollte die Winterthurer Denkmalpflege vor allem die Gebäudeobjekte, Fassaden und Baubegrenzungslinien bewahren. Einen vollständigen Schutz der ausgewiesenen Teilareale, wie von der KDZ vorgeschlagen, 45 | A.a.O., S. 7. 46 | A.a.O., S. 7.

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hätte eine weitgehende Musealisierung unter Ausschluss einer architektonischen Neuformulierung bedeutet. Mit einem solchen Abbruchverbot hätte die Gebrüder Sulzer AG kaum noch gestalterische und wirtschaftliche Spielräume besessen. Die Forderungen der Denkmalschützer widersprachen dem Interesse der Grundeigentümerin nach einer gewinnorientierten Vermarktung. Die Firma Sulzer nahm umgehend dazu Stellung. Die erste Antwort der Firma Sulzer bezog sich auf die Inventarisierung des Büro ARIAS. In ihrer Stellungnahme betonte sie, dass das Gutachten des Büros eine „wertvolle Dokumentation von Plänen und Abbildungen der bestehenden 47 Gebäude“ darstelle. Die Vertreter der Firma verstanden die Inventarisierung zusammen mit ihrem Kurzgutachten als ausschließlich archivarische Arbeit. Die daraus resultierenden Empfehlungen lehnten sie ab. Sie bemängelten die unzureichende Auseinandersetzung der Gutachter mit der bautechnischen Realität. Mit einer weitergehenden Unterschutzstellung könne kein neuer Stadtteil entstehen. Die Firma wandte sich in ihrer Kritik gegen einen ihrer Ansicht nach übertriebenen denkmalpflegerischen Einfluss und wiederholte 48 nochmals ihre eigenen Ziele. Wie im Entwurf von „Winti-Nova“ vorgesehen, sollte lediglich eine kleinere Anzahl von Gebäuden erhalten bleiben. Auch die Feststellung, die industriellen Objekte seien als städtebauliche Dominanten und als stadtbildprägende Faktoren zu betrachten, wurde abgelehnt. Hinsichtlich der Einzigartigkeit der Fabrikanlagen verwies die Firma Sulzer auf eine Güterabwägung zwischen Erhaltung der Bausubstanz und der Sicherung von Arbeitsplätzen. Ihre Bedenken verknüpften die Vertreter der Firma mit einer rhetorischen Frage: „Kann es sich die Stadt Winterthur tatsächlich leisten, die (relative) ‚Einzigartigkeit‘ zum Anlass zu nehmen, um die Struktur der Indus49 trieanlagen und einen grossen Teil der Gebäude zu erhalten?“ Die Fabrikanlagen seien keineswegs als städtebauliche Dominanten zu betrachten. Diese Ansicht sei eine subjektive Einschätzung. Die 800 m lange Fabrikfassade oder 47 | Die Vertreter der Firma nahmen zur Inventarisierung Stellung: „Den Schlussfolgerungen der Gutachter des Büro ARIAS kann sich Sulzer nicht anschliessen. Für die beim gegenwärtigen Planungsstand relevanten Arealen Zürcherstrasse und Lagerplatz kommen die Gutachter zu folgenden Empfehlungen: - Auf dem Areal Zürcherstrasse soll laut Planskizze im Gutachten ein grosser Teil der Gebäude integral erhalten werden und die übrigen Bereiche und Gebäude sollen in ihrer Gesamtform erhalten bleiben. - Auf dem Areal Lagerplatz ist etwa die Hälfte der Fläche Neubaubereich, die andere Hälfte Strukturerhaltungs- und integraler Erhaltungsbereich.“ Vgl. Gebrüder Sulzer AG: Stellungnahme der Gebrüder Sulzer AG zum Gutachten Winterthur Bauinventar Areale Sulzer/SLM, 12. November 1990, S. 1f. 48 | A.a.O., S. 2. 49 | A.a.O., S. 6.

Der Raum und das kollektive Gedächtnis

die Blechkamine des Kesselhauses könnten den Besuchern auch ein negatives Bild der Stadt vermitteln und ein Wahrzeichen sei nicht auf eine Erhaltung der historischen Bausubstanz angewiesen: Dass das Kesselhaus mitsamt seinen Blechkaminen als ‚Wahrzeichen der Sulzer – Werke im Stadtbild Winterthurs‘ erhalten werden soll, beunruhigt uns. Wir können uns zumindest vorstellen, dass Sulzer den kommenden Generationen ein architektonisch anspruchsvolles, mit neuen nützlichen Funktionen übereinstim50 mendes und darum schöneres Wahrzeichen erstellen kann .

Die Vertreter der Firma Sulzer wehrten sich gegen den Vergleich des Areals mit barocken oder mittelalterlichen Gassen und Plätzen und gegen die Erklärung des Industriegeländes zu einer historischen Stadt. Einer Erweiterung des denkmalpflegerischen Verständnisses, wonach nun auch Industrieanlagen schutzwürdig seien, wurde widersprochen: Die oben zitierten Vergleiche mit einer Altstadt sowie mit mittelalterlichen und barocken Gassen- und Platzräumen sind nur aufgrund einer rein formalen Betrachtungsweise möglich, das heisst, architektonische Formen und Proportionen werden verglichen. Da dies die einzigen Vergleichselemente sind, muss von einer formalistischen Betrachtungsweise gesprochen werden. Sobald weitere architektur- und kunsthistorische oder gar wirtschafts- und sozialgeschichtliche Elemente und Funktionen in den Vergleich miteinbezogen würden, wären die einseitigen Aussagen des Gutachtens nicht aufrechtzuerhalten. Dasselbe lässt sich für den Begriff der Urbanität sagen, der auf Fabrikanlagen angewendet wird: Nur bei einer rein formalistischen Betrachtungsweise kann hier von 51 ‚urbanen‘ Räumen gesprochen werden.

In dieser Stellungnahme lehnte die Firma eine Erhaltung der Strukturen des 52 Sulzer-Areals ab. Sie brachte zum Ausdruck, dass für sie das Gutachten nur 53 in beschränktem Ausmaß verwendbar sei. Der Hinweis, die Bauten seien ein Bestandteil der Winterthurer Stadtidentität, wurde als Nostalgie verworfen. Diese Kritik übernahm die Firma Sulzer auch in ihrer zweiten Stellungnahme gegenüber der Stadtgestaltung/Denkmalpflege Winterthur. Ihr Augenmerk 50 | A.a.O., S. 6. 51 | A.a.O., S. 8. 52 | Kritik gab es an den Umnutzungsvorschlägen der Gutachter, da sie „nicht auf den Bauzustand und die bauphysikalischen Gegebenheiten im Zusammenhang mit einer möglichen Umnutzung eingehen, von wirtschaftlichen Überlegungen ganz zu schweigen“. Vgl. a.a.O., S. 13. 53 | Vgl. a.a.O., S. 14.

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richteten die Vertreter nun auf die technischen, wirtschaftlichen und sozialen Gesichtspunkte einer Unterschutzstellung. Die bautechnischen Voraussetzungen würden große Probleme bei einer Unterschutzstellung bereiten; darüber hinaus könne ein Schutz der Gebäude die Schaffung von Wohnraum verhindern und die Erhaltung von Arbeitsplätzen gefährden. In ihrer Erklärung stellte die Firma Sulzer fest, dass sie sich dem Urteil der Denkmalpflege Winterthur nicht anschließen könne und deshalb die Vorschlä54 ge für eine Unterschutzstellung ablehne. Das Department Bau argumentiere nicht fachlich, sondern subjektiv: Es habe die Fehleinschätzung des Büros ARIAS unkritisch übernommen, habe sich mit der Methode und den Beurteilungskriterien der Gutachter Bärtschi/Juchler nicht kritisch genug auseinandergesetzt und übernähme deren grundsätzliche Fehler und Fehleinschätzungen. Die von der Firma Sulzer formulierte Kritik am Gutachten des Büros ARIAS treffe in den Grundzügen auch auf die Stellungnahme von Scheibler/Mehlau Wiebking zu. Zwar würden Scheibler/Mehlau Wiebking einige Akzente in der Beurteilung der Schutzwürdigkeit von Gebäuden und Baustrukturen verschieben, doch sei auch ihre Beurteilung subjektiv geprägt und könne einer wissenschaftlichen Prüfung kaum standhalten. Sie hätten die bauliche Grundstruktur der Areale nicht verstanden, insbesondere auch diejenige der Hallen nicht, welche den größten Teil der Baumasse bildeten. Darüber hinaus verwies die Firma auf bautechnische Probleme, die mit einer Umnutzung der meisten Gebäude verbunden waren. Sie kritisierte die mangelnde Auseinandersetzung Scheibler/Mehlau Wiebkings mit dem Gebäudezustand und den bautechnischen Optionen einer Erhaltung und Anpassung an neue Nutzungen, ihre Vorschläge seien unverhältnismäßig und realitäts55 fremd. Weder das Gutachten des Büros ARIAS noch Scheibler/Mehlau Wiebkings Stellungnahme hätten sich mit den Gebäudezuständen und den bauphysikalischen Problemen einer Erhaltung bzw. Umnutzung auseinandergesetzt. Soll die als einfachster Wind- und Regenschutz ausgelegte Gebäudehülle an die heute geforderten thermischen Isolationswerte angepasst werden, so entstehen hauptsächlich bei den Verbindungsstellen zwischen Fassade und Tragkonstruktion bauphysikalische Probleme (unkontrollierbares Kondenswasser, Rostbildung, Verrottung). Diese lassen sich – wenn überhaupt – nur mit sehr

54 | Vgl. Gebrüder Sulzer AG: Stellungnahme der Gebrüder Sulzer AG zum Vorschlag des Stadtbaumeisters und der Denkmalpflegerin von Winterthur bezüglich der Erhaltung von Gebäuden und Baustrukturen auf den Sulzer-Arealen Zürcherstrasse und Lagerplatz , 12. März 1991, S. 1. 55 | Vgl. a.a.O., S. 3.

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aufwendigen Massnahmen und mit unverhältnismässig hohem Kostenaufwand lösen (Haus im Haus). [...] Für eine grosse Zahl von Gebäuden schlagen Scheibler/Mehlau Wiebking die Erhaltung der bestehenden primären Baustruktur und Konstruktion sowie der Fassaden im Original vor. Da sie es unterlassen, sich mit den oben erwähnten bauphysikalischen, bautechnischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten und 56 Optionen zu befassen, sind ihre Vorschläge realitätsfremd und unsachlich.

Im weiteren Verlauf ihrer Stellungnahme warnte die Firma Sulzer davor, das öffentliche Interesse dem Wunsch der Denkmalpflege unterzuordnen. Eine Durchsetzung übertriebener denkmalpflegerischer Interessen würde die Möglichkeit einer mannigfaltigen, effektiven und städtischen Verwertung der Areale einengen. Dies könne mit einem drohenden Verlust von Arbeitsplätzen verbunden sein. Die Zukunft Winterthurs werde in beträchtlichem Maße davon abhängen, welche Nutzungen auf den Sulzer-Arealen realisiert werden könnten. „Die Zahl der geschaffenen Arbeitsplätze, der realisierten Wohnungen, der bereitgestellten Räumlichkeiten für kulturelle Aktivitäten im weitesten Sinne usw. wird nicht nur das Steueraufkommen und die Finanzkraft der Stadt Winterthur wesentlich beeinflussen, sondern auch die Lebensqualität in der Stadt und Agglomeration entscheidend bestimmen. Eine Durchsetzung übertriebener denkmalpflegerischer Interessen reduziert die Möglichkeiten einer vielfältigen, produktiven und urbanen Nutzung der Areale ganz entschei57 dend.“ Die Vertreter der Firma Sulzer gaben zu bedenken, dass die Unterschutzstellung eine mögliche Entschädigungspflicht der Stadt nach sich ziehen könne. Gleichwohl betonte sie ihr Bestreben, die Standpunkte der Denkmalpflege zu berücksichtigen. Sie forderte die Stadt Winterthur auf, die notwendigen 58 Vorarbeiten für eine Nutzungs- und Umnutzungsmöglichkeit zu schaffen. Wie von der Denkmalpflege vorgeschlagen, unterstütze sie die Schaffung eines Erhaltungs- und Gestaltungsplans. Bei der Planungsarbeit wollte sie allerdings einbezogen werden, da ein eigenmächtiger Schutz seitens der Stadt Winterthur zu einem Entwicklungsstillstand beitragen und deshalb zum Zerfall des Areals 59 führen könne. Eine weitere Kritik richtete sich auf das architekturgeschichtliche Verständnis der Gutachter. Wie auch in der Stellungnahme zur Inventarisierung des Büro ARIAS, wehrten sich auch hier die Vertreter der Firma gegen die Beschreibung des Sulzer-Areals als eine mittelalterliche oder barocke Stadt. In ihren 56 | 57 | 58 | 59 |

A.a.O., S. 17f. A.a.O., S. 5. Vgl. a.a.O., S. 6. Vgl. a.a.O., S. 7.

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Augen handele es sich nicht um eine Stadt, sondern um ein Industriegelände. Die Gutachter Scheibler/Mehlau Wiebking würden den monofunktionalen Charakter der Struktur des Sulzer-Areals verkennen. Mit ihrer Begrifflichkeit könne man allenfalls eine mittelalterliche oder barocke Stadt beschreiben, aber keinesfalls ein Fabrikareal der Schwerindustrie. Zu hinterfragen sei die Behauptung, dass die Einzelinventare historische Zeugen seien. Im Grunde sei praktisch jedes Gebäude und jede gebaute Struktur ein Zeuge einer wichtigen 60 Epoche. Somit könne jedes beliebige Gebäude unter Schutz gestellt werden. Die Produktionsanlage habe ausgedient, und wenn man das Sulzer-Areal mit Schutzauflagen belaste, würde sie zu einer „unbezahlbaren Attrappe“ verkom61 men. Abschließend bewertete die Firma Sulzer die Stellungnahme von Scheibler/ Mehlau Wiebking ebenso wie die Empfehlung des Büro ARIAS wie folgt: „Die Stellungnahme von Scheibler/ Mehlau Wiebking beschränkt sich auf eine subjektive, nicht nachvollziehbare Sicht. Sie suggeriert so zwar eine hohe Sicherheit, kann aber gerade deshalb nicht als konstruktiver Beitrag zur komplexen Diskussion der Schutzwürdigkeit von Bauten und Strukturen auf den Sulzer62 Arealen dienen.“ Nachdem die Vertreter der Firma Sulzer zwei Empfehlungen zur Unterschutzstellung abgelehnt hatten, stand die letzte Stellungnahme zur Expertenempfehlung des KDZ noch aus. Sie wurde im Juni 1990 vorgelegt. 63 In der Stellungnahme zum Gutachten des KDZ wies die Gebrüder Sulzer AG nochmals darauf hin, auf dem Sulzer-Areal ein neues Stadtviertel mit 64 durchmischter Nutzung schaffen zu wollen. Im weiteren Verlauf der Diskussionen kritisierte sie die Empfehlungen der Kantonalen Denkmalpflege. Deren geforderte Schutzmaßnahmen würde die Entstehung eines neuen Stadtquartiers verhindern. „Wesentlich ist dabei weniger die Kritik an zahlreichen Aussagen des Gutachtens als vielmehr der Umstand, dass durch den […] Umfang der vorgeschlagenen Schutzmassnahmen die Gestaltung eines neuen Stadtquartiers verhindert würde. Es soll auf den Sulzer-Arealen Neues entstehen können, neue Bauten und neue Strukturen bei gleichzeitiger Integration von erhaltens65 werter Bausubstanz!“ 60 | A.a.O., S. 4. 61 | A.a.O., S. 16. 62 | A.a.O., S. 19. 63 | Gebrüder Sulzer AG: Stellungnahme der Gebrüder Sulzer AG zur Erhaltung von Bauten auf den Sulzer-Arealen in Winterthur, einschließlich Stellungnahme zum Gutachten Nr. 23-1990 der Denkmalpflege-Kommission des Kanton Zürich vom 26. März 1991, Winterthur, Juni 1991. 64 | Vgl. a.a.O., S. 1. 65 | A.a.O., S. 1.

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Abbildung 67: Gasse hinter dem Technopark. Quelle: Krug, 2005.

Die Vertreter der Firma Sulzer gaben noch einmal zu bedenken, dass eine extreme Unterschutzstellung arbeitsplatzmäßige und eigentumsrechtliche Probleme aufweisen würde. Sie warnte vor einer möglichen Enteignung, da diese mit 66 einem erheblichen finanziellen Aufwand für die Stadt Winterthur verbunden 67 sei. Um eine akzeptable städtebauliche Lösung zu finden, wiesen die Vertre66 | „Sulzer würde es bedauern und müsste sich auch dagegen wehren, wenn extreme denkmalpflegerische Massnahmen die Schaffung moderner Arbeitsplätze und Wohnungen verunmöglichten. Trotz allem Aufwand können umgebaute, ursprünglich mit einfachsten Mitteln erstellte Gebäude letztlich heutigen Ansprüchen kaum genügen. Durch eine Überbewertung denkmalpflegerischer Interessen würden die regionalen und kommunalen Richtplanungen zur Makulatur gemacht. Auch für den Kanton Zürich und/oder die Stadt Winterthur zufolge Heimschlages oder materieller Enteignung entstehenden Kosten liessen sich dem Steuerzahler gegenüber nicht verantworten.“ A.a.O., S. 2. 67 | Hans-Peter Bärtschi kritisierte diese Warnung, da sie als Druckmittel diene, um die Unterschutzstellungen zu verhindern: „Zusätzlich zur prinzipiellen Bestreitung der Schutzwürdigkeit von Bauten auf den Sulzer-Arealen und der Nichtanerkennung von seit über 100 Jahren gewachsenen Strukturen werden unüberbrückbare Widersprüche zwischen denkmalpflegerischen Bestrebungen und Wohnungsbau, Arbeitsplätzen und Wirtschaftlichkeit postuliert. Nebst diesem Versuch, die aktuellsten wirtschaftspolitischen Fragen gegen die Denkmalpflege auszuspielen, dient das Erwähnen von Entschädigungssummen [...] als Druckmittel gegen allenfalls drohende Unterschutzstellungen. Anderthalb Jahre private, halböffentliche und öffentliche Diskussionen scheinen wenig gefruchtet zu haben und öffentlich geäusserte Versprechungen, mehr als im Winti-Nova-

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ter auf die bevorstehenden Gespräche der geplanten „Werkstatt ’90“ hin. In dieser Veranstaltung sollte ein städtebauliches Konzept für Winterthur erarbeitet 68 werden. Erneut richtete die Firma ihr Augenmerk auf die zu hohen Kosten einer 69 Umnutzung. Ein Neubau erfülle die technischen und ökologischen Erfordernisse und sei im Vergleich zu einem Umbau kostengünstiger. In Bezug auf die Erhaltenswürdigkeit der Bauten waren die Experten völlig konträrer Meinung. Eine offensichtliche „Perle“, ein Bau, der ingenieursmäßig und architektonisch absolut überzeugt, scheine es unter den vorhandenen Gebäuden nicht zu geben. Sobald Umnutzungsstudien und betriebliche Konzepte erarbeitet würden, stoße eine Erhaltung der Fabrikhallen, die meist mit einfachsten Mitteln und für eine begrenzte Lebensdauer erbaut waren, auf größte Schwierigkeiten. Wenn die Hallen nicht mehr als Fabrikhallen genutzt würden, könnten die Umbaukosten aufgrund der zu erfüllenden gesetzlichen Auflagen die Baukosten eines entsprechenden Neubauvolumens beträchtlich übersteigen. Die Firma Sulzer sei überzeugt, dass sich die Entscheidungsinstanzen des Kantons Zürich und der Stadt Winterthur im Klaren seien, was die Umnutzung einzelner Gebäude sowohl an Mehrkosten als auch an Ertragseinbußen mit sich bringen würde. Erste Entwurfsstudien auf den Arealen zeigen auch, dass die Erhaltung von Gebäuden im vorgeschlagenen Umfang unter realistischen Annahmen und unter Beachtung des Umweltschutzgesetzgebung-Minimalstandards zulasten der auch vom Winterthurer Parlament gewünschten Erstellung von Wohnungen geht. Die bisher im Rahmen von Aufträgen öffentlicher Instanzen erstellten Beiträge 70 […] haben die verantwortlichen Instanzen von Sulzer enttäuscht.

Projekt 1989 – speziell auch gewisse Arealstrukturen – zu schützen, sind mit dieser Stellungnahme zurückgezogen worden.“ Büro ARIAS: Zur Stellungnahme der Gebrüder Sulzer AG zur Erhaltung von Bauten auf den Sulzer-Arealen in Winterthur, Dr. Hans-Peter Bärtschi, Winterthur, 26.9.1991. 68 | Gebrüder Sulzer AG Winterthur: Stellungnahme der Gebrüder Sulzer AG zur Erhaltung von Bauten auf den Sulzer-Arealen in Winterthur, Juni 1991, S. 2. 69 | Am 1. Mai 1991 lag Sulzer ein Gutachten von Felix Schwarz und Frank Gloor vor. Dieses Gutachten sollte eine Entscheidungsgrundlage für die Güterabwägung zwischen Umbau und Neubau des Gebäudes Nr. 20, dem ehemaligen Kesselhaus, bilden. Mit dieser Arbeit wollte Sulzer nachweisen, dass die Neubauvariante die ökonomisch sinnvollere Umnutzungsvariante sei. Vgl. Felix Schwarz/Frank Gloor: Gebrüder Sulzer AG, Fabrikareal an der Zürcherstrasse, Gebäude Nr.20, Kesselhaus, Bewertung Umbau/ Neubau, Mai 1991, S. 25ff. 70 | Gebrüder Sulzer AG Winterthur: Stellungnahme der Gebrüder Sulzer AG zur Erhaltung von Bauten auf den Sulzer-Arealen in Winterthur, Juni 1991, S. 3.

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Während die Denkmalpflege die historische Bedeutung des Sulzer-Areals hervorhob und Zusammenhänge zwischen dem kulturellen Erbe und der Stadtidentität herstellte, konzentrierte sich die Firma vor allem auf technische und wirtschaftliche Aspekte einer Umgestaltung. Sie wies auf den schlechten Zustand der Gebäudehüllen und auf die hohen Kosten einer Sanierung hin. Im Falle einer Umnutzung sei eine wirtschaftlich rentable Lösung nur in der Vergrößerung der Nutzfläche durch das Einziehen von zusätzlichen Geschossen gewährleistet. Erhebliche Probleme sahen sie in der Sanierung der schlecht isolierten Fassaden. Die Wärmedämmung von außen würde eine Veränderung des Erscheinungsbildes der Gebäudehülle mit sich bringen, eine Isolierung von innen hätte Kältebrücken zur Folge. Je nach Gebäudezustand und bauphysikalischen Gegebenheiten würden für die zur Unterschutzstellung vorgeschlagenen Gebäude beträchtliche Umbaukosten und Ertragseinbußen anfallen: „Bei einer Umnutzung von bestehenden Gebäuden ist nicht nur mit wesentlich höheren Baukosten zu rechnen als beim Neubau des Vergleichsvolumens, sondern auch mit grossen Ertragseinbussen. Diese entstehen vor allem durch den Verlust an realisierbarer Bruttogeschossfläche (Anpassung an bestehende Raumhöhen und Fassadenöffnungen, Massnahmen zur natürlichen Belichtung der Räume 71 usw.) sowie durch Einbussen an Raumqualität.“ Aus all diesen genannten Gründen wurde eine umfassende Unterschutzstellung der Gebäude abgelehnt. Gleichwohl ersuchte die Firma den Kanton um Klärung, ob und bei welchen Objekten ein Denkmalschutz zutreffe. Erst nach dieser Entscheidung wolle sie mit den zuständigen Behörden eine Güterabwägung vornehmen, „in welcher die denkmalpflegerischen Interessen an einer Erhaltung der Gebäude den städtebaulichen, wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Interessen gegenübergestellt werden, wobei die technische und 72 wirtschaftliche Machbarkeit von Umnutzungen zu berücksichtigen ist“. Eine solche Güterabwägung sollte die Grundlage für einen Studienauftrag bzw. Wettbewerb zur Gestaltung des Sulzer-Areals bilden. Zwar zeigte sich die Firma für Vorschläge hinsichtlich einer Unterschutzstellung offen, doch ließ sich für sie eine Erhaltung der bestehenden Bausubstanz nur dann rechtfertigen, wenn die Kosten einer Umnutzung mit verhältnismäßigem Aufwand erzielt werden könnten. Ein extremer Denkmalschutz sei ihrer Meinung nach kontraproduktiv für die Stadtentwicklung. Sulzer und mit unserer Firma wohl alle verantwortungsbewussten Entscheidungsträger aller Stufen der Stadt Winterthur würden es nicht nur bedauern, sondern sich auch zur Wehr setzen, wenn ein extremer Denkmalschutz die Realisierung eines lebendigen, sich durch gute Architektur auszeichnenden 71 | A.a.O., S. 31. 72 | A.a.O., S. 4.

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Stadtquartiers und damit die richtplanerischen Vorgaben einer nicht unbe73 deutenden Region des Kantons verhindern würde. Wie in den vorhergegangenen Stellungnahmen lehnte es die Firma ab, die Ge74 bäude ihres Areals als Wahrzeichen Winterthurs zu sehen. Ihre Vertreter kamen überein, „dass es auf den Sulzer-Arealen im Zentrum von Winterthur kaum erhaltenswerte Bauten im Sinne des Planungs- und Baugesetzes gibt. Das Gutachten kann den Nachweis nicht erbringen, dass die Bauten und gebauten Strukturen für sich selbst von Bedeutung sind oder wichtige Zeugen 75 darstellen.“ Die Grundeigentümerin betrachtete die alten Hallen als ausgedient, sie sollten abgerissen und das gesamte Areal „einer urbanen Nutzung 76 zugeführt werden“. Den Vorschlag der KDZ, Teile des Sulzer-Areals zu musealisieren, betrachtete sie skeptisch. Es sei nicht sicher, die Wirtschaftlichkeit eines solchen Museums zu gewährleisten und außerdem existiere bereits ein technisches Museum in Winterthur. Gleichwohl sei die Firma Sulzer unter fest definierten Regeln zur Zusammenarbeit bereit: Ohne zu den Details des Vorschlages Stellung nehmen zu wollen, lässt sich Folgendes festhalten: In Winterthur gibt es bereits ein technisches Museum, das Technorama der Schweiz, welches von Sulzer laufend unterstützt wird. Trotz weiterer öffentlicher und privater Beiträge kämpft das Technorama mit betrieblichen und finanziellen Problemen. […] Wenn im Rahmen eines tragfähigen und langfristigen Betriebs- und Museumskonzeptes mit finanzieller Absicherung durch private und öffentliche Beiträge ein detaillierter Vorschlag […] ausgearbeitet werden sollte, in welchem die Nutzung bestehender Räumlichkeiten im Zentrum von Winterthur angestrebt wird, ist Sulzer bereit, zur Realisierung Hand zu bieten. Folgende Elemente müssten in diesem Vorschlag entwickelt werden: - klar strukturierte Trägerschaft - modernes und tragfähiges Museums- und Betriebskonzept - gesicherte Finanzierung für das Gebäude, die Einrichtungen und den 77 Betrieb.

Angesichts dieser konträren Positionen schien ein Konsens zwischen der Grundeigentümerin und den Denkmalpflegern kaum noch möglich zu sein. In einer letzten Stellungnahme appellierte Hans-Peter Bärtschi an alle Beteiligten, 73 | 74 | 75 | 76 | 77 |

A.a.O., S. 10. Vgl. a.a.O., S. 11. A.a.O., S. 13. A.a.O., S. 15. A.a.O., S. 27f.

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sachlich mit dem Thema umzugehen. Er wies auf die bereits erfolgreich realisierte Umnutzung des Technikums (Halle 180) sowie auf eine weiterführende 78 Studie zum Kesselhaus des Architekten Frank Mayer hin. Doch blieb dieser Versuch ohne sichtbare Auswirkung auf die Entscheidungen der Firma Sulzer. Umso mehr richtete sich das Augenmerk der Denkmalpfleger auf das Verhalten der Stadtregierung. Gegen Ende des Jahres 1990 stellte sich die Frage, welche Position der Stadtrat von Winterthur hinsichtlich einer Unterschutzstellung des Areals einnehmen werde. Würde er einem Schutz des ehemaligen Industrieareals zustimmen? Diese Frage wurde im Dezember 1990 in einer Pressemeldung beantwortet. Der „Landbote“ schrieb in seiner Ausgabe vom 11. Dezember 1990: „Der Stadtrat lehnt die Unterschutzstellung grosser Teile des freiwerdenden Sulzer-Areals ab, wie sie der Gutachter Hans-Peter Bärtschi und die kantonale Denkmalpflege vorschlagen. Über Schutzmassnahmen will der Stadtrat erst Ende der Werkstatt 79 sowie nach Absprache mit der kantonalen Baudirektion entscheiden.“ Mit dieser Ablehnung war eine Denk- und Handlungspause verbunden, da über Maßnahmen zur Unterschutzstellung nach Abschluss der „Werkstatt ’90“ entschieden werden sollte. Dieser Beschluss verzögerte nicht nur eine Unterschutzstellung des SulzerAreals, sondern bedeutete für die Firma Sulzer auf Jahre hinaus auch eine Planungsunsicherheit. Die Grundeigentümerin, die Stadtverwaltung und die Denkmalpflege hatten sich in den Genehmigungsverfahren immer wieder von Neuem über den Schutz des umzubauenden Gebäudes auseinanderzusetzen. 80 Erst am 16. September 2003 konnte ein Abkommen zwischen den Vertrags81 partnern unterzeichnet werden. In dem Schutzvertrag über die bauliche Weiterentwicklung des Sulzer-Areals konnten erstmals Schutzobjekte festgelegt, eine Vereinbarung über die Strategie zur Erhaltung und Erneuerung des Areals ausgehandelt sowie gesetzliche und planerische Grundlagen für die Arealgestal78 | Vgl. Büro ARIAS: Zur Stellungnahme der Gebrüder Sulzer AG zur Erhaltung von Bauten auf den Sulzer-Arealen in Winterthur, Dr. Hans-Peter Bärtschi, Winterthur, 26.9.1991. 79 | O.V. (1990e), S. 15. 80 | Vgl. Öffentlich-rechtlicher Vertrag über die bauliche Weiterentwicklung des Sulzer-Areals Stadtmitte Winterthur , 16. September 2003. 81 | Der Vertrag wurde von dem Verwaltungsratspräsidenten der Sulzer Immobilien AG, Bruno Allmendinger, dem Geschäftsführer der Sulzer Immobilien AG, Martin Schmidli, dem Präsidenten des Zürcher Heimatschutzes, Dr. Bruno Kläusli, der Präsidentin der Heimatschutzgesellschaft Winterthur, Maria Bühler, der Baudirektorin und Regierungsrätin des Kantons Zürich, Dorothée Fierz, dem Stadtrat und Vorsteher des Departments Bau Winterthur, Reinhard Stahel, und dem Winterthurer Stadtpräsidenten, Ernst Wohlwend, unterzeichnet. Vgl. A.a.O.

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tung geschaffen werden. Im Vertrag listeten die Vertragspartner die schutzwürdigen Gebäude und ihre Außenräume auf. Für das Teilareal Lagerplatz galt 83 kein Schutz, dafür aber „eine Art ‚Quartiererhaltung‘ “; bei Veränderungen sollten die bestehenden Bauvolumen übernommen werden. Mit diesem Vertrag konnte die Firma Sulzer eine relative Planungssicherheit herstellen, wobei auf 84 eine formelle Unterschutzstellung des Sulzer-Areals verzichtet wurde. Walter Muhmenthaler beschrieb dies wie folgt: Wir wollen nicht bei jedem Bau darüber sprechen, ob er jetzt erhalten werden muss oder nicht. Das war ja das Problem der letzten 13 Jahre. Bei jedem Bau wurden alle Fragen wieder von vorne diskutiert, mit der Denkmalpflege oder dem Heimatschutz. Wir haben Baugesuche eingereicht, wir haben uns mit der Denkmalpflege geeinigt – vielleicht auch mit etwas politischem Druck – dann hat man die Baubewilligung bekommen und dann hat der Heimatschutzverband Rekurs eingelegt. Und dann hat man wieder von vorne begonnen, über die Denkmalpflege zu reden. Diesem Prozess wollte man dann endlich ein Ende setzen. Wir haben das dann 2003 in die Hand genommen und im Herbst einen 85 Vertrag abgeschlossen.

Nach dem Vertragsabschluss entstanden auf dem Sulzer-Areal zahlreiche Umnutzungsprojekte, welche die denkmalpflegerische Position integrierten und marktwirtschaftliche Interessen berücksichtigten. Das Abkommen war für die Grundeigentümerin aber auch mit gemischten Gefühlen verbunden: Man war sich von verschiedenen Seiten nicht einig, ob es gut sei oder schlecht sei, wenn wir die Schutzobjekte festlegen würden. Ich bin auch geteilter Meinung. [...] Jetzt ist eine „relative“ Planungssicherheit gegeben für alle Beteiligten. [...]. Und wenn sie in diese Halle gehen, dann sehen sie riesige Lüftungsinstallationen, sie sehen Heizungsinstallationen, sie sehen Druckluftinstallationen, sie sehen Elektrokästen, Trafostationen, sie sehen jede Menge Kranbahnen, Elektrotrassen etc. Und die Frage ist: Gehören diese Elemente auch dazu? Und was ist, wenn wir das alles raus nehmen? Wie sieht dann die 82 | Die Schutzobjekte sind detailliert in der Zusammenstellung der Stadt Winterthur aufgeführt. Vgl. Schneller (2006), S. 144ff. 83 | O.V. (2003), S. 13. 84 | „Die Heimatschutzverbände werden in Planungs- und Bewilligungsverfahren einbezogen. Sie verzichten aber auf Rekurse, solange die Vereinbarung eingehalten wird. Die Stadt ihrerseits bewahrt sich vor kostspieligen Zwangskäufen, indem im ganzen Areal auf formelle Unterschutzstellungen verzichtet wird.“ A.a.O., S. 13. 85 | Interview mit Walter Muhmenthaler, Leiter Areal- und Projektentwicklungen, Sulzer Immobilien AG, Winterthur, 15. Februar 2008.

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Halle aus? Wenn das alles drinnen bleiben muss, zu was dient das? Wer unterhält das? Kann das jemand bezahlen? Wie kann man das finanzieren? Und auf der anderen Seite, wenn ich das alles rausnehme, dann ist es eine einfache und 86 bescheidene, aber riesige Halle.

Ziehen wir ein Fazit: Wie in diesem Kapitel ausgeführt wurde, unterschieden sich die Vorstellungen der sozialen Akteure voneinander. Ein Konsens schien 87 sich für lange Zeit nicht abzuzeichnen. Da die Kantonale Denkmalpflege Zürich die Empfehlungen des Büros ARIAS hinsichtlich einer weitgehenden Konservierung und Musealisierung des Areals radikalisierte, führte dies bei der Firma Sulzer zu Widerständen. Ihre Vertreter befürchteten, durch einen überzogenen Schutz des Areals die eigene Handlungsfähigkeit einzuschränken. Erst Jean Nouvel gelang es, im Jahre 1992 mit seinem Projekt „Megalou“ eine neue Zukunftsperspektive für das Sulzer-Areal zu eröffnen. Es gelang ihm, 88 das Spannungsfeld zwischen Tausch- und Gebrauchswert, d.h. zwischen den marktwirtschaftlichen Erwägungen und dem Wunsch nach Schutz der historischen Bausubstanz, neu auszubalancieren. Der französische Architekt verknüpfte eine hohe Ausnutzungsziffer der 89 Objekte mit einer Integration der historischen Bausubstanz. Dieses Konzept verband beide Forderungen: die Chance einer Vermarktung durch die Firma Sulzer und die geforderte Berücksichtigung der historisch gewachsenen Struktur.

86 | Interview mit Walter Muhmenthaler, Leiter Areal- und Projektentwicklungen, Sulzer Immobilien AG, Winterthur, 15. Februar 2008. 87 | Während die Denkmalpflege die Dokumentation des Areals als Bestandteil des „Funktionsgedächtnisses“ betrachtete, wollte die Firma Sulzer die Inventarisierung als „Speichergedächtnis“ verstanden wissen. Vgl. Erll (2005), S. 31. 88 | Vgl. Kirchberg/Göschel (1998). 89 | Vgl. Interview mit Paul Wanner, ehemaliger Sulzer-Immobilienchef, Aargau, 3. August 2007.

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Abbildung 68: Außenraumplan für die Erhaltung wertvoller Straßen-, Gassenund Platzräume in den Arealen Sulzer und SLM, aus: Büro ARIAS, Dr. Hans-Peter Bärtschi und Thomas Juchler, im Auftrag der Stadt Winterthur/Dep. Bau: Bauinventar Areale Sulzer/SLM, Winterthur, 1989/90.

Mit seinem Projekt, die gewachsenen Strukturen des Areals zu berücksichtigen und in eine Neuplanung einzupassen, überzeugte Jean Nouvel die sozia90 len Akteure. Indem er sich gegen einen Totalabbruch entschied, konnte er rezeptartig aufzeigen, wie man unter Erhalt der wesentlichen Strukturen die einzelnen Baufelder bebauen konnte. Mit diesem Konzept entwickelte er das Leitbild einer Umgestaltung des Sulzer-Areals, wie Walter Muhmenthaler anmerkt: Jean Nouvel sprach sich gegen ein Tabula rasa Projekt aus. Er wollte keinen Totalabbruch. Falls es aber Sinn macht, ein leer stehendes Gebäude abzubrechen, dann soll es auch abgebrochen werden. Nouvel sagte: „Nehmt doch dies raus und baut hier etwas Neues rein. Lasst das stehen, was funktioniert. Baut nur dort, wo wirklich Bedarf ist. Ihr könnt in der bestehenden Substanz etwas Neues einbauen, ihr könnt vielleicht auf die bestehende Substanz etwas Neues aufbauen, ihr könnt auch unterkellern, ihr könnt aber auch abreissen und etwas vollkommen Neues bauen. Aber versucht die bestehende Struktur nach Möglichkeit irgendwie in die Zukunft zu retten!“ […] Und für mich als Planer war das die eigentliche Erkenntnis, wie wir im Areal planen und bauen sollten. In seinem Modell des Studienauftrags werden die eigentlichen Rezepte plastisch sichtbar. Einmal wachsen da Türme aus der bestehenden Hülle, das 90 | Nicht zu unterschätzen ist die Tatsache, dass ein Stararchitekt die Gelegenheit erhalten sollte, den Startschuss für eine Umnutzung zu geben. Dies sorgte bereits frühzeitig für überregionales Aufsehen.

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andere Mal gibt es über der bestehenden Halle eine vollkommen neue Ebene – sie wird über das andere gebaut -, und da gibt es auch Abbruch und Erhalt. Alle Umgestaltungsformen stehen nebeneinander. Nouvel zeigt eigentlich rezeptartig, wie man unter dem Erhalt der wesentlichen Strukturen einzelne Baufelder bebauen kann. Dabei geht er aber nach ganz anderen Mustern vor. Und das ist das, was wir Planer gelernt haben. Wenn sie heute das alte Modell, das Ursprungsmodell von Jean Nouvel und das neue Modell nebeneinander sehen, dann müssen sie sagen: logische Entwicklung! Ganz normales Wachsen! Organisches Verändern einer Stadtstruktur! Und das ist die Qualität des Sulzer-Areals. Es hat sich natürlich entwickelt. Man sieht die Brüche nicht. Das hat eigentlich zum Paradigmenwechsel geführt. Dass jetzt eben plötzlich die Aussenraumfigur zum Leitbild wurde. Vorher haben wir mit Winti-Nova Klötzli abgefüllt und einzelne Bauten reingestellt. Und seit dem Wettbewerb 92 haben wir gemerkt, dass es wichtig ist, die Freiräume zu erhalten. Das Typische sehen sie jetzt beim neuesten Projekt „Superblock“ von Krischanitz. Rundherum ist es das Gleiche, sogar die Fassade soll erhalten bleiben, und innen befindet sich jetzt anstatt der grossen Hektarenhalle ein Hof. Krischanitz hat die Halle rausgenommen und das ist eigentlich das Fantastische. Wir kennen keine Nutzungen mehr, die solche Raumtiefen benötigen. Früher war es offenbar möglich und nötig. Und trotzdem haben wir jetzt das alte Erscheinungsbild erhalten und innen eine neue Welt geschaffen. Irgendwann kommt man da mal rein in den Hof und hat ein riesen Erlebnis. Oder man ist in einer anderen Welt. Aber von aussen haben sie immer noch das alte 91 Bild der Industrie – dieser riesigen Hallen und die riesig überbauten Flächen.

Dieses Konzept Nouvels, auf das ich im übernächsten Kapitel ausführlicher eingehen werde, verdeutlicht, weshalb der Architekt die Zustimmung aller sozialen Akteure erhielt. Mit einem Mal konnten sich alle in diesem Projekt wiederfinden. Im Ergebnis blieben Nouvels und Bärtschis Raumprogramme gleich. Beide forderten, die Strukturen des ehemaligen Industrieareals mit in die Planung und Neugestaltung einzubeziehen. Mit der Gesamtplanungsstudie „Winti-Nova“ entwickelte das Unternehmen erstmals die Konzeption eines nachindustriellen Stadtraums. „Winti-Nova“ sollte das Vorzeigeprojekt eines gewaltigen Umgestaltungsprozesses für Winterthur werden. Die Dinge entwickelten sich allerdings anders als geplant. Es gab Widerstand. Es wurde kritisiert. Es wurde diskutiert. Diese zahlreichen Diskussionen sind Ausdruck der Ernsthaftigkeit, des Engagements und des Bemühens aller Beteiligten um eine ökonomisch, kulturell und sozial ausgewogene Stadtentwicklung. Das Ringen um den Schutz der Gebäude, aber auch die 91 | Interview mit Walter Muhmenthaler, Leiter Areal- und Projektentwicklungen, Sulzer Immobilien AG, Winterthur, 15. Februar 2008.

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Suche nach einer wirtschaftlich und sozial sinnvollen Lösung ist ein wichtiger Teil dieses Reurbanisierungsprozesses. Im Jahre 1990 waren die meisten Gebäude und Hallen auf dem Sulzer-Areal ausgeräumt. Bis auf das SLM-Werk standen fast alle Produktionsanlagen still. Das Bild des Industriegeländes war bei den Bürgern Winterthurs immer noch von vielen Erfahrungen, Wissen, Erinnerungen, Erzählungen und Imaginationen geprägt. Das Image als Arbeiter- und Industriestadt hatte für Winterthur ausgedient. Ein neues Bild der Stadt war im Entstehen. Doch wie sollte es aussehen? Was sollte mit dem historischen Erbe in Zukunft geschehen? Und waren die Gebäude für ein neues Image überhaupt brauchbar? Bereits bei der Veranstaltungsreihe „Die Neustadt aus der Werkstadt“ wurde die Imagebildung Winterthurs thematisiert. Der Schriftsteller Alfred Muschg sprach von der Stadt als Persönlichkeit und berührte mit dieser Bemerkung die 92 Grundzüge eines City Brandings. Bei dem Konflikt zwischen Denkmalpflege und der Firma Sulzer ging es um mehr als um die Anzahl der schützenswerten Bauten und Plätze. Das Thema, worum es eigentlich ging, war die Stadtsemantik und der noch zu verfassende Text des urbanen Raums. Vergleichbar mit einem Manuskript stellt die Stadt und das Areal mit ihrer Materialität und ihrer räumlichen Praxis den Signifikanten dieses Stadttextes dar. Auf einer zweiten Ebene, der des Signifikats, geht 93 es um ein ganz anderes Thema.

92 | Falls die Menschen eine Stadt als Persönlichkeit erfahren und sie eine Beziehung zu ihr aufbauen, spricht man vom Branding einer Stadt: „Wenn spezifische Merkmale sich als typisch in die Wahrnehmung der jeweiligen Stadt ‚eingebrannt‘ haben, dann wird die Stadt unterscheidbar und identifizierbar. Dies hat zur Konsequenz, dass nur Städte als Persönlichkeiten wahrgenommen werden, welche lesbar erscheinen. […] Das Branding ist die Durchsetzung einiger dominanter Lesearten einer Stadt, welche Besuchern wie auch Einheimischen den Eindruck vermitteln, dass man die Stadt kennen kann.“ Löw (2008), S. 84. 93 | Barthes (1964).

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Abbildung 69: Schutzobjekte. Quelle: Sulzer Immobilien AG, Öffentlich-rechtlicher Vertrag über die bauliche Weiterentwicklung des Sulzer-Areals Stadtmitte, Winterthur 2003.

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Es enthebt sich aus der funktionalen Beschreibung und bildet den narrativ-mythischen Raum der Stadt. Mit anderen Worten, auf der ersten Ebene stellt der Signifikant das optische Bild der Stadt, auf der zweiten Ebene das Signifikat die Bedeutung des „urbanen Textes“ dar. In einer Methodologie der mythischen Stadtanalyse geht es weniger um die funktionellen Untersuchungen und die Fragen, was sich an welchem Ort wie befindet, sondern es geht um die Analyse der Stadtlektüren und der Diskurse: „Deshalb sage ich, die Hauptsache ist nicht so sehr die Anhäufung von funktionellen Untersuchungen und Studien über 94 die Stadt, als vielmehr die Anhäufung von Lektüren der Stadt [...].“ Woran lässt sich das Signifikat einer Stadt messen? In Anlehnung an 95 Roland Barthes behaupte ich, es sind in erster Linie ihre erotischen Qualitäten. Aus dieser These ergeben sich die relevanten Fragen wie: Was macht eine Stadt „sexy“? Was macht sie attraktiv? Was macht sie „cool“ und „trendy“? Welche städtebaulichen Faktoren weisen auf eine Erotik der Stadt hin? Welchen Beitrag kann die Beachtung der historischen Arealgebäude und Arealstrukturen 96 für eine solche Erotik leisten? Und was bedeutet überhaupt die Erotik der Stadt? Roland Barthes spricht in diesem Zusammenhang von der Verführungskraft eines Ortes, von seine Atmosphäre und von dessen Lebensqualität. Für Barthes findet sich diese Erotik nicht in den Vergnügungsvierteln, dies sei rein funktional gedacht, sondern im sozialen Raum: „Semantisch und ihrem Wesen nach ist die Stadt der Ort der Begegnung mit dem anderen, und deshalb ist das Zentrum der Treffpunkt der ganzen Stadt; das Stadtzentrum wird vor allem von der Jugend, von den Jugendlichen, geschaffen. […] Mehr noch, das Stadtzentrum wird immer als Raum erlebt, in dem subversive Kräfte agieren und aufeinandertreffen, Kräfte des Bruchs und des Spiels. Das Spiel ist ein Thema, 97 das in den Untersuchungen über das Zentrum oft betont wird [...].“ Ein Ort „gelingt“, wenn sich seine Semantik auf den spielerischen, erotischen und sozialen Raum bezieht. Für Barthes ist es immer auch ein subversiver Raum, der sich der gängigen Praxis widersetzt. Die subversiven Kräfte, welche sich oft 98 in Form von Heterotopien äußern, schaffen die Bedingungen einer Attraktivität des städtischen Raums. Dieser erhält dadurch erst seine Anziehungskraft und Qualität. Spiel und Erotik können aus vielfältigen Formen der Begegnung 94 | Barthes (1985), S. 208. 95 | Barthes (1985). 96 | Ich verweise hierbei auf die Untersuchungen von Debus/Posner, welche die Erzeugung und Wirkung von Atmosphären auf die Menschen beschreiben. Bezogen auf die fraktale Affektlogik von Luc Ciombi gelingt es ihnen, einen Bogen zwischen Atmosphäre und Architektur zu spannen, und damit die Bedeutung von räumlichen Atmosphären für das Wohlbefinden der Menschen herauszuarbeiten. Vgl. Debus/Posner (2007), S. 21f. 97 | Barthes (1985), S. 207. 98 | Foucault nennt sie auch die „andere Räume“. Vgl. Foucault (2005).

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entstehen: dem Wohnen, dem Arbeiten, dem Einkaufen, der Bildung und der 99 Freizeit. Das kulturelle Kapital der Stadt bildet dabei die Basis des urbanen Settings, „welches den Leuten das Gefühl gibt, den Zeitgeist einzuatmen und in einer Weltstadt zu leben, in der alle Möglichkeiten für Vergnügungen, Bildung, Einkommen, Liebe, Hoffnung offen scheinen. Urbane Settings sind in der Konkurrenz der Städte ein Standortfaktor für eine neue Generation von 100 Menschen, für die Urbanität einen überzeugenden Wert darstellt.“ Die Diskussionen über die Unterschutzstellung des Sulzer-Areals wurden kontrovers geführt. Das war ihre Stärke. Allerdings waren die sozialen Akteure zu sehr auf ihr eigenes Programm fixiert, weshalb sie keinen Konsens herstellen konnten. Das war ihre Schwäche. Mit dem Wissen um die Semantik des Ortes hätte viel früher ein Konsens gefunden werden können. Im Streit um die Deutungsmacht waren die Protagonisten allerdings noch nicht in der Lage, den spielerischen und erotischen Wert der Stadt in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen zu rücken. Einerseits befürchtete die Firma Sulzer eine einseitige Unterschutzstellung und die damit verbundenen Renditeverluste, andererseits befürchteten die Denkmalpfleger eine zu schnelle Verwertung des SulzerAreals und einen zu unüberlegten Abriss vieler Gebäude. Erst als der Architekt Jean Nouvel in die Entscheidungsfindung einbezogen wurde, begriffen die sozialen Akteure, die Produktion des Raumes auch als ein Spiel dieser erotischen Kräfte zu verstehen. Sein Konzept verknüpfte den ökonomischen und funktionellen Wert des Sulzer-Areals mit dem kulturellen Kapital, dem industriellen Erbe Winterthurs. Jean Nouvels Idee stellte die Weichen für einen dialogischen Städtebau in Winterthur. Der neu entstehende Stadtraum begann sich schrittweise in einer Korrespondenz zwischen den umliegenden Gebäuden und Raumstrukturen zu entfalten. Aber nicht nur Nouvels Konzept steuerte die Entwicklung des Sulzer-Areals. Auch die schweizerische Liegenschaftskrise der 1990er Jahre, die eine schnelle Vermarktung verhinderte, wirkte sich nachhaltig auf die Transformation des Geländes aus. Die Liegenschaftskrise „sass damit unsichtbar mit am Planungstisch“ und letztlich ist es ihr zum großen Teil zu verdanken, dass sich die Areal99 | Mike Featherstone beschreibt in seinem Aufsatz das kulturelle Kapital, das in der Architektur aufgehoben ist. Es kann die Attraktivität des Ortes und damit seinen Tauschwert erhöhen: „Before going into these questions in more detail we can briefly refer to a number of factors which point to the ways in which the culture of cities and urban lifestyles have become thematized. Firstly, there is the assumption that particular cities […] are cultural centres containing the art treasures and cultural heritage of the past which are housed both museums and galleries and in the fabric of the buildings and layout which represents the prime source of their cultural capital.“ Featherstone (1994), S. 388. 100 | Klaus (2006), S. 69.

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entwicklung verzögerte und zwangsläufig in kleinen Schritten vollzog. Der Schutzvertrag vom Jahre 2003 schuf die Rahmenbedingungen, welche es ohne größere Diskussionen erlaubte, neue Nutzungen in den Bestand des Areals einzupassen und die historische Kontinuität zu bewahren. Er schuf die Grundlagen einer Neuinszenierung des Geländes, womit die Stadtgeschichte täglich neu erzählt werden kann. „Jede Stadt wird von uns ein wenig nach dem Bild des Schiffs Argo errichtet und gemacht, bei dem kein einziges Teil ein Originalteil war und das dennoch immer das Schiff Argo blieb, das heisst eine Gesamtheit von leicht lesbaren und erkennbaren Bedeutungen. [...] Denn die Stadt ist ein 101 Gedicht [...].“

Abbildung 70: Außenansicht LOKwerk, Winterthur. Quelle: Krug, 2010.

Ein Beispiel einer solchen Erzählung stellt das Einkaufszentrum LOKwerk an der Zürcherstraße dar. Das neue 10.000 Quadratmeter große Einkaufszentrum liegt mit seinen drei Etagen auf dem Grundstück der ehemaligen Schweizerischen Lokomotiven- und Maschinenfabrik (SLM). Nachdem die neuen Besitzer die ehemalige Fabrik bis auf die denkmalgeschützte Backsteinfassade rückgebaut hatten, entstand dort ein Einkaufszentrum. Im Jahre 2009 stellten die Betreiber des LOKwerks in ihrer Medienmittei101 | Barthes (1985), S. 208f.

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lung die gelungene Synthese zwischen den alten und neuen Baustilen heraus: „Hinter den altehrwürdigen Fassaden, wo einst legendäre Schienenfahrzeuge wie der Rote Pfeil und die ‚Landi-Lok‘ entstanden, lädt das LOKwerk in einem 102 modernen Ambiente zum Einkaufen und Verweilen.“ Von außen betrachtet, vermutet man hinter der Sichtbacksteinfassade ein renoviertes Fabrikgebäude; im Inneren trifft man hingegen eine hochmoderne Nutzung an. Der für ca. 80 Millionen Schweizer Franken umgebaute Komplex beherbergt Sportund Bekleidungsgeschäfte, einen Supermarkt, Drogerien, Boutiquen, Restaurants und einen Palmengarten.

Abbildung 71: Innenansicht LOKwerk. Quelle: Krug, 2010.

Die Einzelhandelsgruppe Coop pries ihre neue Lokation als ein „Shopping-Paradies“ an: „Hier kann man ab sofort unter Palmen flanieren, nach Herzenslust 102 | Medienmitteilung LOKwerk, Mai 2009.

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shoppen und sich kulinarisch verwöhnen lassen.“ In der Selbstbeschreibung des LOKwerks wird dieser Raum von den Betreibern als eine Wohlfühloase angepriesen: Wohlfühloase inmitten eines ehemaligen Industriequartiers Auf dem ehemaligen Sulzer Areal in Winterthur entstand Ende Mai 2009 das Einkaufszentrum LOKwerk. Direkt an der belebten Zürcherstrasse und nur wenige Gehminuten vom Bahnhof Winterthur entfernt erwartet die Kunden ein qualitativ hochstehendes und vielfältiges Angebot. Das Einkaufszentrum überzeugt mit einer modernen, einzigartigen Architektur und einer ästhetischen Innengestaltung. Die Fassade der Eingangsfront steht unter Denkmalschutz und bleibt somit den Besuchern, Kunden und Mietern als Zeitzeuge erhalten. Ein perfektes Zusammenspiel zwischen Alt und Neu wurde durch eine schlichte Neukonstruktion der übrigen Fassaden erreicht. Im Inneren zeigt sich das LOKwerk in warmen Tönen – der angelegte Palmengarten schafft zusätzlich eine mediterrane 104 Atmosphäre.

Indem die Betreiber ihr Einkaufszentrum als eine „Wohlfühloase“ beschreiben, schaffen sie einen Mythos. Die sinnlichen Genüsse dieser „Oase“ stellen die Konsumgüter dar. Die zahlreichen Geschäfte wenden sich ebenso wie die beiden Restaurants mit ihren Produkten an die Zielgruppe „Familie“. Dieser Mythos besteht darin, der Mensch könne sich nur dann wohlfühlen, wenn er konsumiere. Damit wird dieser Raum weniger zu einem subversiven, als vielmehr zu einem spektakulären, weshalb an diesem Ort die Forderung Barthes nur beschränkt gilt.

103 | Wincasa, Coopzeitung: 26.5.2009, S. 1. 104 | http://www.lokwerk.ch, Stand: 25.8.2011.

D IE „W ERKSTAT T ’90“ ALS A UF TAK T DER S TADTENT WICKLUNG

Abbildung 72: Rückbau des SLM-Werkes. Quelle: Krug, 2004.

Die europäischen Staaten unterscheiden sich unter anderem im Ablauf politischer Entscheidungsprozesse und im Einbezug der Menschen in die Stadtpolitik. „Die Bandbreite reicht vom lokalistischen System der Schweiz bis zum zentralistischen Modell Frankreichs, in dem die Gemeinden bis vor einigen 1 Jahren faktisch keine Selbstständigkeit hatten.“ Die Schweiz nimmt in Europa eine Sonderstellung ein, weil das System der politischen Entscheidungsfindung auf dem Föderalismus und der direkten Demokratie beruht. Mit dem Mittel des Referendums können die Bürger

1 | Häußermann/Läpple/Siebel (2008), S. 337.

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unmittelbaren Einfluss auf gesetzgeberische Initiativen nehmen. Das Zusammenwirken von Konkordanz und Kompromiss schränkt zwar den Handlungsspielraum der Parteien ein, doch wird dadurch auch eine große Anzahl von Akteuren, welche von Parteien über Verbände bis hin zu Bürgerinitiativen reichen können, in den politischen Prozess einbezogen. Dies führt oft zu Konsenslösungen und erleichtert Entscheidungen. Die Stärke dieses Systems liegt vor allem auf lokaler Ebene, da es flexibel und direkt auf die Stadtpolitik reagieren kann und für die sozialen Akteure einen großen Handlungsspielraum bietet: „Aufgrund der kleinräumigeren und überblickbareren Verhältnisse gelingt es hier Ad-hoc-Koalitionen, spontanen Interessengemeinschaften und kleinen Aktionsgruppen immer wieder, mit überraschenden Vorstössen oder hartnäckig vorgetragenen Forderungen in den politischen Entscheidungs3 prozess einzugreifen.“ Wie ich am Beispiel der „Werkstatt ’90“ aufzeigen werde, kommt es bei stadtpolitischen Entscheidungen zu einer Überschneidung von öffentlichen und privaten Interessen. Es bilden sich hybride Organisationsformen, die aus unterschiedlichen Akteuren bestehen. Indem sich die Grundeigentümer, Planer, Politiker, Bürgerinitiativen und städtischen Vertreter an einen „runden 4 Tisch“ setzen, entwickelt sich die Urban Governance zu einem Regelungsinstrument, das die Zusammenarbeit der gesellschaftlichen Akteure koordiniert. Als Gegenmodell zum Government, das als hierarchisches Steuerungsinstru5 ment zwischen Staat und Gesellschaft fungiert, schafft die Governance eine Enthierarchisierung und entwickelt netzwerkartige Modi der Koordination. Dies zeigte sich in der „Werkstatt ’90“, als sich die Stadtregierung als Weisungsbefugte zurückzog und als Moderator und Anstoßgeber eines Planungsprozesses auftrat. Nach diesen Vorüberlegungen stellen sich in diesem Kapitel folgende Fragen: Welche sozialen Akteure hatten Einfluss auf die Entscheidungen der Stadt? Wie wurden die Bürger an den Entscheidungen beteiligt? Welche 6 Auswirkung hat die „Werkstatt ’90“ für die nachfolgende Stadtentwicklung? 2 | Dabei wird das Instrument der Entscheidungsfindung in der Regel durch bereits vorher ausgehandelte Übereinkünfte bestimmt: „Verfassungs- und Gesetzesänderungen haben nur dann reelle Aussichten auf Erfolg, wenn ihr Inhalt bereits vor der parlamentarischen Beratung zwischen Parteien, Verbänden und Lobbies sorgfältig austariert wurde. Die politische Entscheidungsfindung hat sich deshalb auf ein vorparlamentarisches Aushandlungsverfahren verlagert [...].“ Hitz/Keil/Lehrer (1995), S. 210f. 3 | A.a.O., S. 211. 4 | Vgl. Häußermann/Läpple/Siebel (2008), S. 350. 5 | Vgl. Benz (2007). 6 | Um diese Fragen beantworten zu können, will ich das Governance-Konzept heranziehen. Es vermag das Handlungsgeflecht der öffentlichen und privaten Akteure zu erklären. Im Unterschied zum Government dient der Begriff der Governance einem

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Anhörungen und Empfehlungen Der Konsens zwischen den sozialen Akteuren setzt Gesprächsbereitschaft und eine Gesprächskultur voraus. Das gilt auch für Winterthur. Nicht nur in der Veranstaltungsreihe „Die Neustadt aus der Werkstadt“, sondern auch in den zahlreichen Initiativen wie die „Werkstatt ’90“ und die darauf folgenden Forumsveranstaltungen war diese Gesprächskultur zu spüren. Die Art und Weise miteinander zu streiten, zu diskutieren und gemeinsam Lösungen zu finden, ist fester Bestandteil der politischen Kultur dieser Industriestadt. Wie kam es zu der speziellen politischen Gesprächskultur in Winterthur? Zur Beantwortung dieser Frage schauen wir auf das Jahr 1937 zurück. Nachdem die Firma Sulzer während der Weltwirtschaftskrise den Rückgang der weltweiten Konjunktur schmerzlich zu spüren bekommen hatte, entschloss sie sich zu einem Personalabbau und zu Lohnkürzungen. Dies traf die Arbeiterschaft hart. Als Mitte der 1930er Jahre eine leichte wirtschaftliche Erholung einsetzte, wollten auch die Not leidenden Arbeiter von dieser positiven Entwicklung profitieren. Sie forderten höhere Löhne. Die Firma Sulzer lehnte ab und die Arbeiter drohten mit einem Streik. Mit dieser Kampfmaßnahme wäre das kurz bevorstehende gesamtschweizerische Friedensabkommen, die erste Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer in der Metall- und Maschinenindustrie, gefährdet gewesen. Die Gefahr vor einem neuen Krieg, der Vormarsch faschistischer Bewegungen und die drohende Etablierung ständestaatlicher Ideen in Europa hatten in den 1930er Jahren für ein Umdenken der Linken in der Schweiz gesorgt. Sozialdemokraten und Gewerkschaften waren vom Klassenkampf abgerückt und hatten sich für konsensorientierte Lösungen ausgesprochen. Um dieses Abkommen nicht zu gefährden und um einen Streik zu verhindern, hielt Robert Sulzer vor der versammelten Belegschaft in der Hektarenhalle eine bewegende Ansprache und warb um einen Solidaritätspakt. Max Bösinger, damals noch Lehrling der Firma Sulzer, erinnert sich: Eine provisorische Rednertribüne war aufgebaut worden, von der aus sich verschiedene Redner der Arbeiterschaft zur Streiksituation äußerten. Ich begriff nicht alles, was da gesagt wurde, doch offenbar ging es um eine ernsthafte Auseinandersetzung in Lohnfragen. Für die Arbeitgeberseite trat Dr. Heinrich Wolfer ans Mikrofon. Seine Ausführungen heizten aber nach meiner Erinnerung die ohnehin schon kämpferische Stimmung nur noch mehr an. Es gab viele Zwischenrufe und es wurde auch lauthals geflucht. Ich empfand die Situation als sehr geladen.

Steuerungsverständnis, dessen Trennungslinie sich zwischen Steuerungssubjekt und Steuerungsobjekt verwischt. Vgl. a.a.O., S. 17ff.

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Mir ist unvergessen, wie dann Robert Sulzer ans Rednerpult trat. Er sprach nicht sofort, sondern legte eine Pause ein und liess sich die Gemüter erst etwas beruhigen. „Was ist nur los mit euch?“, fragte er dann in seiner unverkennbaren und sehr direkten Art. „Mir nichts, dir nichts zu streiken, das kommt doch gar nicht in Frage. Bei Sulzer wird nicht gestreikt! Wir haben bis heute bei Meinungsunterschiedenheiten noch immer miteinander gesprochen und das miteinander geregelt, was jeweils zu regeln war. So wollen wir es auch heute machen. Viele von euch sind schon bei mir im Büro gewesen, und wir haben uns noch immer geeinigt. Mit gegenseitig gutem Willen werden wir auch für diesen Lohnstreit eine Lösung finden“ – meinte er sinngemäss und verabschiedete sich und Hein7 rich Wolfer dann mit der Aufforderung: „So macht jetzt eure Abstimmung!“

Der Streik wurde abgewendet und beide Lager einigten sich auf eine Lohnerhöhung, die nur gering unter den Forderungen der Arbeiterschaft lag. Mit dieser Einigung war der Weg frei für den Friedensvertrag, der die Sozialpartnerschaft begründete und die politische Kultur der Schweiz prägte. Arbeitgeber und Arbeitnehmer vereinbarten, den Arbeitsfrieden zu wahren und ihre Meinungsverschiedenheiten nach „Treu und Glauben“ auszutragen. Kampfmaßnahmen wie Streiks und Aussperrungen waren ab sofort ausgeschlossen. Die damit verbundene Streitkultur war verbunden mit einer fast „hemdsärmeligen Herangehensweise“ an Konflikte: „Sprechen miteinander, Konflikte offen austragen und dabei auch einmal auf den Tisch hauen, dabei immer auch das Gegenüber und seine Anliegen respektieren und redlich bemüht sein, Lösungen zu 8 finden, mit denen sich letztlich beide Seiten abfinden können […].“ Diese Haltung war auch kennzeichnend für die Konflikt- und Streitkultur der 1980er und 1990er Jahre in Winterthur. Erinnern wir uns: In der Veranstaltungsreihe „Die Neustadt aus der Werkstadt“ stellte die Architektengruppe die Legitimation von „Winti-Nova“ infrage und bewog die Firma Sulzer dazu, ihr Projekt aufzugeben. Nun erst begriff die Stadtregierung, dass der Wandel von der Arbeiter- zur Dienstleistungsstadt eine epochale Herausforderung bedeutete und nach neuen Lösungen verlangte. Sie übernahm die Federführung bei der Stadtplanung. Da die Stadtentwicklung nicht nur auf das Sulzer-Areal beschränkt bleiben konnte, sollte der gesamte Bereich um den Bahnhof mit in die Planungen einbezogen werden. Während bei der Konzipierung der Gesamtplanungsstudie „Winti-Nova“ die Öffentlichkeit ausgeschlossen war, wollte die Stadt Winterthur einen transparenten und 9 demokratischen Stadtentwicklungsprozess ins Leben rufen.

7 | Griesser/Beutler (2001), S. 57f. 8 | A.a.O., S. 60. 9 | Vgl. Krämer (1992), S. 16

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Abbildung 73: Rede Sulzers (im weißen Kittel) in der Hektarenhalle, 1937. Quelle: Sulzer-Archiv, Winterthur.

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Im Jahre 1990 berief der Stadtrat von Winterthur das Podium die „Werkstatt ’90“ ein, um die Fragen der Gestaltung der ehemaligen Industrieareale zu klären. Das Augenmerk richtete sich auf die Stadtgebiete, welche sich im Zentrum Winterthurs befinden: das Bahnhofsgebiet, das Volg- und das Arch-Areal, die sogenannte „Banane“ und das Sulzer-Areal. In dieses Podium waren verschiedene Experten, Parteien und Verbände eingeladen. Hier sollten sie die Gelegenheit erhalten, ihre Ideen und Vorschläge einzubringen. Aus den gewonnenen Informationen sollte anschließend eine Empfehlung formuliert werden, welche die Grundlage weiterer Planungen schaffen würde. Wie bei vielen Stadtentwicklungsprozessen hatte sich das Podium mit den ökonomischen, sozialen, ökologischen und kulturellen Fragestellungen zu befassen. Mit anderen Worten, es ging der Stadt um die Abklärung der Standortqualitäten Winter10 thurs und dessen Optimierung in Hinsicht auf einen Wettbewerb der Städte.

Abbildung 74: Bahnhofsareal. Quelle: Krug, 2010.

Um eine gute städtebauliche Lösung zu finden, entwickelte der Stadtrat eine Planungsstruktur, in welcher die Bedürfnisse der sozialen Akteure berücksichtigt werden sollten. Die Veranstalter holten eine Vielzahl von Meinungen ein, führten Fachgespräche und ließen ein hohes Maß an Sorgfalt bei der Modera11 tion walten. Für die Vorbereitung der „Werkstatt ’90“ setzte der Stadtrat eine

10 | Vgl. Planconsult, Basel: Arbeitsgrundlage auf der Basis der 1., 2. und 3. Session, Basel, 14. Februar 1991, S. 26 und 30. 11 | Vgl. Krämer (1992), S. 17.

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„Planungsorganisation für Stadtentwicklung“ ein. Ein erster Rahmenkredit 13 von einer Million Franken für den Einbezug von Experten und der Erarbeitung 14 von Planungs- und Projektierungsgrundlagen wurde genehmigt. Die eigentliche Arbeit des Podiums leistete das „Ständige Gremium“. Dieses hatte die Aufgabe, die gewonnenen Informationen zu sammeln, zu ordnen und auszu15 werten sowie die Anträge und Empfehlungen für die Stadt zu formulieren. Unterstützt wurde das Gremium von PLANCONSULT, Basel, welche die organisatorische Leitung innehatte. Da eine fortlaufende Öffentlichkeitsarbeit eine wichtige Rolle spielte, war die Presse fast ausnahmslos eingeladen.

Abbildung 75: Grobe Abgrenzung des Bahnhofsgebiets. Quelle: Stadtentwicklung Winterthur: Ergebnis der Werkstatt ’90, 26. März 1991, S. 14. 12 | Vgl. a.a.O., S. 17. 13 | Vgl. Stadtentwicklung Winterthur: Dokumentation der Tätigkeiten in den Jahren 1990 bis 1999, Winterthur, 26. Februar 1999. 14 | Vgl. Stadtentwicklung Winterthur: Bilanzen-Chancen-Herausforderungen, Winterthur, Januar 2001, S. 6. 15 | Das Ständige Gremium wurde vom Stadtrat wie folgt zusammengesetzt: Stadtrat H. Vogt, Stadtpräsident Dr. M. Haas, Stadtplaner H. Degen, Verkehrsingenieur G. Burgherr, Stadtingenieur H.P. Hulmann, Stadtbaumeister U. Scheibler, Bausekretär Dr. F. Störi, Departementssekretär F. Krämer, Fachexperte C. Fingerhut, Fachexperte H.R. Henz, Fachexperte M. Steiger, Vertreter SIA P. Stutz, Vertreter SIA Th. SchneiderHoppe, Vertreter Heimatschutzgesellschaft R. Steiner, Vertreter Grundeigentümer R. Heuberger, Vertreter Grundeigentümer E. Müller. Vgl. Stadtentwicklung Winterthur: Ergebnis der Werkstatt ’90, Winterthur, 26. März 1991, S. 10.

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Die „Werkstatt ’90“ gliederte sich in fünf Teilveranstaltungen: die „Orientierungen“, die „Anhörungen“, die „Klausur“, die anschließende „Diskussion und 16 kritische Hinterfragung“ und die „Abschlussarbeiten“. 17 Zu den Sitzungen in der Orientierungsphase waren die Grundeigen18 tümer und Investoren sowie Verbände, Gruppen und Parteien geladen. Zunächst informierten die Grundeigentümer über ihre aktuellen Planungen und Projekte. Die Vertreter der Gebrüder Sulzer AG sprachen über die beabsichtigte Vermarktung des Sulzer-Areals und teilten dem Gremium mit, dass ihre Standortentscheide gefallen seien und die Produktion nach Oberwinterthur ausgelagert werden würde. Einige Einrichtungen wie der Hauptsitz des Konzerns, die zentrale Forschung, Büros für Verkaufs- und Engineering-Abteilungen sowie die Schweizerische Lokomotiv- und Maschinenfabrik (SLM) sollten zunächst im Stadtzentrum verbleiben. Zwar würde das Fabrikareal an der Zürcherstraße teilweise noch genutzt, doch wolle die Firma mittelfristig das Areal vollständig räumen. Die Firma Sulzer verwies auf die Projektierung „Winti-Nova“ und wiederholte ihre Absicht, mit den Stadtbehörden, künftigen Nutzern und interessierten Kreisen zusammenzuarbeiten. Sie lehnte die 16 | Die Veranstaltung wollte folgende Ziele erreichen: „> Die vielfältigen Diskussionen, Anregungen und Vorschläge um die Stadtentwicklung werden zusammengetragen. > Es gelingt, im Einvernehmen mit den betroffenen Grundeigentümern und unter Einbezug der interessierten Kreise eine konstruktive Zusammenarbeit zu finden. > In der Werkstatt werden Entscheidungsgrundlagen, Rahmenbedingungen und Strategien erarbeitet, welche es — der Stadt ermöglichen, die für eine gesunde Stadtentwicklung notwendigen Massnahmen einzuleiten — Grundeigentümern und der Stadt ermöglichen, die Ausschreibung von Wettbewerben und die Projektierung ihrer Bauvorhaben anzugehen.“ A.a.O., S. 8f. 17 | Sie fanden am 19. und 20. November 1990 statt. 18 | Die angehörten Gruppen und Parteien setzten sich wie folgt zusammen: die Christliche Volkspartei, die Evangelische Volkspartei, die Freisinnig-Demokratische Partei, die Grüne Partei, die Schweizerische Volkspartei, die Sozialdemokratische Partei, die Winterthurer Opposition, weiterhin der Arbeitgeberverband Winterthur und Umgebung, der Hauseigentümerverband Winterthur und Umgebung, der Kaufmännische Verein, die Kaufmännische Gesellschaft/Handelskammer Winterthur, der VCS Winterthur, die Wirtschaftsförderung Winterthur, der SIA Winterthur, die Heimatschutzgesellschaft Winterthur, der Bewohnerverein „Inneres Lind“, die Gruppe freier Architekten, das Initiativkomitee „Neues Tössfeld“, das Ökozentrum Winterthur, die Rudolf Steiner Schule, das Verkehrsbüro Winterthur etc.; insgesamt über 20 Institutionen. Als Grundeigentümer waren eingeladen: die Gebrüder Sulzer AG, SISKA Heuberger Holding, Schweizerischer Bankverein/Presto, Winterthur-Versicherungen, SBB, PT T und die Planungsgemeinschaft ARCH. Vgl. Stadtentwicklung Winterthur: Ergebnis der Werkstatt ’90, Winterthur, 26. März 1991, S. 11.

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Unterschutzstellungsvorschläge der Stadtgestaltung/Denkmalpflege und des industriearchäologischen Büros ARIAS ab und wiederholte ihren eigenen Entwurf: „Bewahren und in eine Neuüberbauung integrieren möchte die Firma Sulzer nach eigenen Überprüfungen lediglich das Gründungsgebäude aus dem Jahre 1834, das viergeschossige Bürogebäude und die Lehrwerkstatt an der Zürcherstrasse sowie den Rundbau an der Tössfeldstrasse und die Wohnhäuser 19 an der Jägerstrasse.“ Am 10., 11. und 13. Dezember 1990 folgte die „Anhörung“ der Experten aus 20 dem In- und Ausland. Die eingeladenen Teilnehmer erörterten wirtschaftliche, kulturelle und ökologische Themen, so etwa die Schaffung von Arbeitsplätzen oder das Stadtmarketing. Die Mehrzahl legte ihren Schwerpunkt auf die zukünftige Nutzung der Areale und der damit verbundenen Forderung nach einer Mischung aus Wohnen, Arbeiten, Einkaufen, Bildung, Kultur und Freizeit. Nach diesen beiden Sitzungen hatte das „Ständige Gremium“ die gesammelten Informationen zu analysieren. Um das bisher gewonnene Material zu ordnen und auszuwerten, zog es sich im Januar und Februar 1991 in ihrer 21 dritten Sitzung zu den „Klausur- und Planungsarbeiten“ zurück. In der vierten Sitzung Ende Februar folgte die „Diskussion und kritische Hinterfragung“. Der erarbeitete Bericht wurde mit den Vertretern der Grund19 | Stadtentwicklung Winterthur: Werkstatt ’ 90, Dokumentation, 1. Session (19./20. 11.1990) 1. Informationen der Grundeigentümer (Kurzfassung) 1.5. Gebrüder Sulzer AG, Winterthur, 1990, S. 3. 20 | Eingeladen waren H. Degen, Stadtplaner der Stadt Winterthur, Dr. J. Wiegand, Geschäftsführer von PLANCONSULT, Basel, Prof. Dr. Göb, Universität Köln, Dr. Ch. Brassel, Direktor, Leiter der Abt. Information der Öffentlichkeitsarbeit der WinterthurVersicherungen, Dr. F. Walz, Vizedirektor, Leiter des Sektors Kommerz der Abt. Volkswirtschaft beim Schweizerischen Bankverein, Basel, Dr. Ch. Muggli, Freier Berater bei sozioökonomischen Fragen, I. Hübschle, Direktor der Wohngenossenschaft „Wohnstadt Basel“, U. Scheibler, Stadtbaumeister der Stadt Winterthur, Dr. F. Mehlau Wiebking, Denkmalpflegerin der Stadt Winterthur, Dr. H.-P. Bärtschi, Büro ARIAS Industriearchäologie, Winterthur, Prof. Dr. J. Maurer, Institut für Orts-, Regional- und Landesplanung der ETH Zürich, M. Steiger, Teilhaber der Planpartner AG, Zürich, G. Burgherr, Verkehrsingenieur der Stadt Winterthur, Dr. W. Berg, Berater für Verkehrsfragen SNZ, Zürich, Dr. A. Greuter, Leiter des Büros Zürich der Rapp AG, Th. Glatthardt, Inhaber eines Ingenieurbüros in Luzern, Prof. K. Humpert, Technische Universität Stuttgart, R. Steiner, Vorstandsmitglied der Heimatschutzgesellschaft, Winterthur, N. Zambrini, Inhaber eines Architekturbüros in Effretikon, P. Stutz, Teilhaber eines Architekturbüros in Winterthur, H.R. Henz, Metron Raumplanung, Brugg und C. Fingerhut, Kantonsbaumeister des Kantons Basel-Stadt. Vgl. Stadtentwicklung Winterthur: Ergebnis der Werkstatt ’90, Winterthur, 26. März 1991, S. 12. 21 | Vgl. Krämer (1992), S. 17.

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eigentümer, Parteien, Verbänden und Gruppierungen ausführlich diskutiert. In der abschließenden fünften Session, die am 25. März 1991 stattfand, wurden die 22 „Abschlussarbeiten“ der Öffentlichkeit präsentiert. Welche Ergebnisse hatte die „Werkstatt ’90“ vorzuweisen? Der Abschlussbericht des „Ständigen Gremiums“ definierte die Zielsetzung und Strategie einer Umgestaltung der untersuchten Areale. Das Ziel einer zukünftigen Stadtentwicklung solle auf eine aktive Arbeitsplatz-, Umwelt- und Wohnungspolitik sowie auf einen Ausbau der bereits vorhandenen Kulturangebote ausgerich23 tet werden. In der Zwischenzeit seien viele Arbeitsplätze des industriellen Sektors durch solche aus dem Dienstleistungsbereich kompensiert worden. Nur in einer Weiterentwicklung in diese Richtung sehe man die Chance, Winterthur davor zu bewahren, zu einer reinen „Wohn- und Schlafstadt Zürichs“ zu werden. Um eine aktive Arbeitsplatzpolitik anzukurbeln, wurde empfohlen, den Firmen geeignete Flächen bereitzustellen, das Bildungsangebot auszubauen und ein investitionsfreundliches Klima zu schaffen. Für diese Ziele seien 24 die freiwerdenden Areale gut geeignet. Die Standortqualitäten erachtete das „Ständige Gremium“ als optimal in Hinblick auf die Verkehrsanbindung nach Zürich, die Nachbarschaft zur Altstadt, die Anzahl von Grünflächen sowie die 25 Versorgung mit Dienstleistungen. Bei der Bebauung des Bahnhofsgebietes und ihrer angrenzenden Areale sprach sich das „Ständige Gremium“ für eine gemischte Nutzung aus. Das Wohnungsangebot spiele für das Bahnhofsgebiet hierbei eine bedeutende 26 Rolle. Frühzeitig wurde die Bedeutung der kulturellen Einrichtungen für die Stadtentwicklung erkannt. Die Stärke Winterthurs sei in ihrem kulturellen Erbe begründet, vor allem in den vorhandenen Museen, städtebaulichen Akzenten und Kultureinrichtungen. Kunst und Musik würden seit Jahrzehnten nicht nur durch die öffentliche Hand, sondern auch durch private Sponsoren gefördert: „Wichtiger Boden für das aktuelle künstlerische Kulturleben ist die überlieferte Kultur. Winterthur ist in diesem Bereich außerordentlich grosszügig ausgestattet mit öffentlichen und privaten Sammlungen von Malerei und Plastik. Gross ist auch das Angebot im Bereich der technischen Kultur. Das Stadtbild mit einer Vielzahl von Baudenkmälern, beziehungsweise als erhaltenswert 22 | Vgl. Stadtentwicklung Winterthur: Werkstatt ’90, Winterthur, 23.11.1990, S. 11f. 23 | Vgl. Planungskoordination Stadtentwicklung und Stadtentwicklung Winterthur: Dokumentation der Tätigkeiten in den Jahren 1990 bis 1999, Winterthur, 26. Februar 1999. 24 | Vgl. Stadtentwicklung Winterthur: Ergebnis der Werkstatt ’90, Winterthur, 26. März 1991, S. 23. 25 | Vgl. a.a.O., S. 15f. 26 | Vgl. a.a.O., S. 28.

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eingestuften Gebäuden, bildet ebenso ein wichtiges kulturelles Erbe.“ Die Experten bemängelten, dass viele Kunstobjekte in Archiven oder Privathäusern lagerten und aufgrund des fehlenden Raumangebotes nicht ausgestellt werden könnten. Darüber hinaus fehlten für die Förderung junger Künstler und alternativer Kultur geeignete Räume. Diese Lücke solle mit der Umnutzung des 28 Sulzer-Areals geschlossen werden. Das Gremium erkannte die Chance, mit Hilfe von Zwischennutzungen die Stadt zu beleben und deren Attraktivität zu erhöhen. Aus diesem Grunde empfahl sie die Öffnung der ehemaligen Werktore der Firma Sulzer für subkulturelle Gruppen und „Start-up-Firmen“. „Nach Meinung des Ständigen Gremiums soll die Stadt verstärkt die vorübergehende Nutzung freiwerdender Gebäude und Hallen für Zwecke der Kultur fördern. Es besteht nicht nur eine grosse Nachfrage nach solchen Räumen für improvisierte Theateraufführungen, Ausstellungen bzw. Kunstwerkstätten, sie 29 sind häufig auch wegen der Ambiance ein besonderer Publikumsmagnet.“ Während der Anhörungen war der Schutz von Gebäuden in den Hintergrund getreten, im Schlussbericht aber wurde dieser nun explizit thematisiert. Das Gremium trat für einen dialogischen Städtebau ein, empfahl allerdings nicht, einzelne Bauten vertraglich als Schutzobjekte auszuweisen. Zwar erkannte es einen möglichen Konflikt zwischen wirtschaftlichen und denkmalpflegerischen Interessen, plädierte jedoch für eine Konsenslösung. Es empfahl eine Prüfung, inwieweit sich die Gebäude der Sulzer-Areale temporär oder dauerhaft 30 für kulturelle Zwecke nutzen ließen. Dabei geht es bei sehr vielen Bauten bzw. Ensembles um eine Güterabwägung. Es dürfte im wohlverstandenen Interesse derjenigen sein, die für eine besonders intensive Pflege des überlieferten Stadtbildes eintreten, die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt Winterthur nicht zu behindern. Im Gegenzug ist es aber ebenso im Interesse von Grundeigentümern und Investoren, der Pflege des überlieferten Stadtbildes genügend Respekt zu erweisen. Aus einer solchen Haltung heraus können auch sehr wirtschaftliche Kombinationen von Alt- und Neubauten entstehen. [...] Nicht nur Denkmalschutz, sondern lebendige Stadt31 erneuerung und die Nutzung des Vorhandenen ist zu postulieren.

Ein Ergebnis der „Werkstatt ’90“ ist besonders hervorzuheben, nämlich der Vorschlag, auf die Ausschreibung eines groß angelegten städtebaulichen 27 | A.a.O., S. 29. 28 | Vgl. a.a.O., S. 29. 29 | A.a.O., S. 31. 30 | Vgl. Krämer (1992), S. 22. 31 | Stadtentwicklung Winterthur: Ergebnis der Werkstatt ’90, Winterthur, 26. März 1991, S. 31.

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Ideenwettbewerbs zu verzichten. Stattdessen sollten die Aufgabenstellungen und Rahmenbedingungen einer Stadtgestaltung präziser formuliert werden. Zur Veranschaulichung stellten die Experten den „Würfel Stadtentwicklung 32 Winterthur“ vor: ein Modell des komplexen Beziehungsgeflechts zwischen den verschiedenen Arealen. Dieses Modell sollte eine Orientierung über den aktuellen Stand der Winterthurer Stadtentwicklung und ihrer zukünftigen Aufgaben ermöglichen.

Abbildung 76: Würfel Stadtentwicklung Winterthur. Quelle: Stadtentwicklung Winterthur: Ergebnis der Werkstatt ’90, 26. März 1991, S. 17.

Ziehen wir eine Zwischenbilanz: Der „Würfel Stadtentwicklung Winterthur“ hatte ein fest umrissenes Ziel. Er sollte gefüllt werden, erst dann war die Aufgabe des Stadtumbaus gelöst. Garantiert das Auffüllen eines Würfels bereits einen lebenswerten Raum? Wird das Überraschende, das Ungeplante und Unperfekte in diesem Modell genügend berücksichtigt? Das Würfelmodell stellte den ersten Versuch dar, die Komplexität des Stadtentwicklungsprozesses in Winterthur medial sichtbar zu machen. Im Jahre 2009 war es fast vergessen, es kannten nur noch wenige Fachleute. Was würde geschehen, wenn man den Würfel von Neuem diskutierte? Wäre heute nicht eine andere Vorgehensweise notwendig? Aus heutiger Sicht kann die Winterthurer Stadtentwicklung nur ungenügend mit einem dreidimensionalen Würfel verglichen werden, weil sich der 32 | A.a.O., S. 17.

Die Werkstatt ’90

urbane Raum aus einer Vielzahl verschiedener Räume zusammensetzt. Ein neues Modell muss die sozialen Interaktionen integrieren, da es mit der globalen Welt verbunden ist. Es schließt die gesamte Produktion des Raums, die sozialen Akteure und Netzwerke, die städtischen Gebäude und Strukturen, die politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen sowie die Diskussionen und Imaginationen der Menschen ein. Das neue Modell verwandelt sich zum Rhizom – und damit auch zu einer Rekartografie der Stadt –, das sich unabläs33 sig verändert und mannigfaltige Ableger bildet. Der Stadtentwicklungsprozess zeigt sich als ein Dispositiv, welches sich als ein Netz vielgestaltiger Elemente offenbart. Es repräsentiert die Kräfteverhältnisse von Wissen und Macht. „Es ist eine heterogene Gesamtheit, die potenziell alles Erdenkliche, sei es sprachlich oder nichtsprachlich, einschliesst: Diskurse, Institutionen, Gebäude, Gesetze, polizeiliche Massnahmen, philosophische Lehrsätze usw. Das Dispositiv selbst ist das Netz, das man zwischen diesen 34 Elementen herstellen kann.“ In diesem Prozess öffnet sich ein Diskursraum, in welchem die Produktion des Raumes reflektiert und geformt wird. Sichtbar wird dies, wenn sich die politischen Verhältnisse oder die ökonomischen Rahmenbedingungen verändern, so etwa bei der Wahl des neuen Stadtparlaments im Jahre 2003, das zum Schutzvertrag über das Sulzer-Areal führte, bei der Liegenschaftskrise, die einen Stillstand der Vermarktung des Industriegeländes nach sich zog, oder bei der Entwicklung einer nachhaltigen Methodik für den Stadtumbau Winterthurs.

Methoden des Stadtumbaus Die Planungsmethodik der Stadtentwicklung baute auf dem Grundsatz auf, Zielsetzungen, Konzeptionen und Umsetzungen der Umbauprojekte parallel 35 zu verfolgen und in einem „Rahmenplan“ zu dokumentieren. Der „Rahmenplan“ – er wurde am 30. August 1995 vom Stadtrat als verbindliches Arbeits- und 36 Koordinationsinstrument verabschiedet – enthielt alle Aussagen bezüglich der 33 | Vgl. Deleuze/Guattari (2002). 34 | Agamben (2008), S.9. 35 | Vgl. Planungsorganisation Stadtentwicklung: Dokumentation der Tätigkeit in den Jahren 1990 bis 1999, Winterthur, 26. Februar 1999, S. 6. 36 | Das Ziel des Rahmenplans Stadtmitte bestand darin, die planerische und städtebauliche Grundlage der Winterthurer Stadtentwicklung zu beschreiben: „Er dient als Planungs- und Arbeitsinstrument der städtischen Behörden und der Planungsorganisation Stadtentwicklung, welche auch für den Inhalt und die Anwendung verantwortlich sind. Der Rahmenplan unterscheidet sich von den rechtlichen Planungsinstrumenten wie Zonenplan und Gestaltungsplan einerseits durch seine formale Flexibilität – er kann jederzeit geändert und ergänzt werden und ist nicht direkt verbindlich

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Arealnutzung und der Arealentwicklung. Die Stadtbehörde erachtete diesen Plan – er entspricht einer ersten Rekartografie des Sulzer-Areals – „für sich selbst 38 als richtungsweisend zur Steuerung und Koordination der Stadtentwicklung“. Die Einbindung des Sulzer-Areals in eine städtische Gesamtplanung war eine wichtige Erkenntnis der „Werkstatt ’90“. Die Experten wiesen auf die Notwendigkeit einer vernetzen Planung der freigewordenen Areale hin. Indem sie einen groß angelegten städtebaulichen Entwurf verwarfen, sprachen sie sich planungsmethodisch für einen situativen Stadtentwicklungsprozess aus. Um eine Neugestaltung des Areals zu beschleunigen, schlug das „Ständige Gremium“ eine Methodenvielfalt vor. Diese umfasste alle zur Verfügung stehenden Instru39 mentarien, wie Ideenwettbewerbe oder Direktaufträge. Im weiteren Verlauf der „Werkstatt ’90“ empfahlen die Verantwortlichen, die kommenden Planungsschritte auf Grundlage dieses Ergebnisberichts fortzuführen und die zukünftigen Planungen in die Hände der Stadt, speziell der Beauftragten für Stadtentwicklung, zu legen. Parallel dazu sollte die Planungsleitung beauftragt werden, nach dem Vorbild der „Werkstatt ’90“ ein außerparlamentarisches „Forum“ einzurichten. 40 Dieses „Forum“ war eine vom Stadtrat Winterthur ins Leben gerufene Kommission, „welche als Gesprächspartner der Planungsorganisation und als Vertreter der interessierten Öffentlichkeit die weiteren Planungsarbeiten 41 kritisch begleiten“ sollte. Auf dieser Diskussionsplattform konnten sich die Gäste über ein aktuelles Planungsprojekt informieren und sich kritisch dazu äußern. Als Fortsetzung der „Werkstatt ’90“ sollte sie einen Dialog zwischen

–, andererseits durch seine inhaltliche Fülle – er bietet eine Übersicht über alle planerischen Entwicklungsaspekte des Stadtteils. Der Rahmenplan erfüllt 4 Hauptaufgaben: — Darstellung der umfassenden Stadtteilplanung — Grundlage der Behörde zur Steuerung und Koordination der Stadtentwicklung — Verhandlungsbasis mit anderen Planungsträgern — Grundlage für verbindliche Planungsmittel und Entwicklungsentscheide.“ Stadtentwicklung Winterthur: Rahmenplan Stadtmitte, 1. Koordination, Winterthur, 1995, S. 8. 37 | Der Rahmenplan wurde permanent aktualisiert und in den Forumsveranstaltungen thematisiert. Vgl. Stadtentwicklung Winterthur: Bilanz-Chancen-Herausforderungen, Winterthur, Januar 2001, S. 8. 38 | Stadtentwicklung Winterthur: Rahmenplan Stadtmitte , 1. Koordination, Winterthur, 1995, S. 8. 39 | Vgl. Stadtentwicklung Winterthur: Ergebnis der Werkstatt ’90, Winterthur, 26. März 1991, S. 38. 40 | Es bestand aus Vertretern von Parteien, Verbänden und den Grundeigentümern. Die Leitung hatte Stadtrat Heiri Vogt inne. 41 | Stadtentwicklung Winterthur: Forum, Unterlagen zur Eröffnungs-Sitzung 7. November 1991 vom 31. Oktober 1991, Winterthur, 1992, S. 1.

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allen Beteiligten, so den Vertretern von Parteien, Verbänden und ständigen 42 Gruppierungen im Stadtteil, fördern. In diesem städteplanerischen Prozess wollte der Stadtrat weiterhin die Führung übernehmen. Zunächst gründete er die „Planungsorganisation Stadtentwicklung“, die mit der Umsetzung dieser Empfehlungen beauftragt war und sich mit der weiteren Entwicklung der „Planung Stadtmitte“ zu beschäftigen hatte. Sie erarbeitete „unter Einbezug von Experten sowie von betroffenen und 43 interessierten Kreisen“ die Grundlagen und Rahmenbedingungen für die aktuellen Konzeptionen und Projektierungen. Da sich die Stadtregierung gegen einen umfassenden städtebaulichen Wettbewerb entschieden hatte, benötigte sie alternative Verfahren, um die anstehenden Fragen zu klären. Eine solche Methode bietet die „Testplanung“ 44 an. Eine Testplanung ist als „Bindeglied zwischen flächenhafter, umfassender 45 Stadtplanung und einzelnen, konkreten Bauprojekten“ definiert. Nicht nur für Winterthur, sondern auch für die gesamte Schweiz war sie zu Beginn der 1990er Jahre ein methodisch neues Verfahren. Die Durchführung der „Testplanung Stadtmitte“ im Jahre 1992 war eine der ersten Aufgaben der „Planungsorganisation Stadtentwicklung Winterthur“. Eine Testplanung sucht in kooperativer Form vielfältige Vorschläge für eine Stadtentwicklung zu finden. Damit die Aufgabe maximal ausgeleuchtet und nichts Wichtiges übersehen wird, arbeiten alle Teams an derselben Aufgabenstellung. Im Gegensatz zu einem Wettbewerbsverfahren entwickeln sie in einem offenen und transparenten Bearbeitungsprozess die unterschiedlichsten Konzepte. Diese Arbeitsweise beinhaltet eine stark kommunikative Komponente, mit der zahlreiche Ideen für ein räumliches Konzept generiert werden können. Die Organisation besitzt eine klare Rollendifferenzierung und setzt sich aus folgenden drei Akteursgruppen zusammen: Es sind dies die politisch Verantwortlichen, die den Auftrag für das Verfahren geben und am Ende die Empfehlungen der Experten entgegennehmen, die unterschiedlichen Entwurfsteams, die ihre Vorschläge aufgrund der Aufgabenstellung entwickeln und die Experten, die das Verfahren begleiten, den Teams Rückmeldung geben und am 46 Schluss den Auftraggebern ihre Empfehlungen aussprechen. Das Testplanverfahren unterliegt einer festgelegten Zeitstruktur. Der Startveranstaltung folgen in der Regel drei Tage, während derer zahlreiche Werkstatt42 | Vgl. a.a.O., S.2. 43 | Stadtentwicklung Winterthur: Ergebnis der Werkstatt ’90, Winterthur, 26. März 1991, S. 7. 44 | Vgl. Stadtentwicklung Winterthur: Testplanung Stadtmitte Winterthur, Winterthur, August 1992, S.11. 45 | Egli (1992), S. 30. 46 | Vgl. Signer (2007), S. 52.

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gespräche geführt und Zwischenergebnisse präsentiert werden. Zunächst entwickeln die „Entwurfsteams“ verschiedene Ideen, die durchaus gewagt und kühn sein können. Danach diskutieren, korrigieren und präzisieren die „Experten“, welche die Arbeit kontinuierlich begleiten, die vorgelegten Entwürfe. Noch während dieser Phase können die „Entwurfsteams“ auf die Einwände, Ideen und Vorschläge der Experten reagieren und deren Fragen direkt beantworten. Nach der Schlusspräsentation und der Abgabe der verschiedenen Entwürfe erarbeiten die „Experten“ ihren Abschlussbericht und übergeben ihre Empfehlungen den „politisch Verantwortlichen“. Die „Testplanung Stadtmitte Winterthur“ befasste sich mit Umgestaltung verschiedener Areale des Bahnhofgebiets. In dieser Veranstaltung sollten die 47 Grundlagen für ein städtebauliches Konzept der Stadtmitte erarbeitet werden. Da die Verbindung über das Geleisfeld und über die Zürcherstraße als unattraktiv erachtet wurde, erarbeiteten die Experten Lösungen für eine räumliche Vernetzung der verschiedenen Areale. Während der Seminarwoche vom 23.-27. März 1992 führten sechs Entwurfs48 teams im Saal des Hotels Winterthur eine offene Parallelplanung durch. Begleitet wurden sie von den Gutachtern, den Experten und den Vertretern der Planungsorganisation. Für ihre Arbeit stand ihnen eine Modellwerkstatt, ein Stadtmodell im Maßstab 1:500 und ein Videoendoskop zur Verfügung. Nachdem die Teilnehmer ihre ersten Ergebnisse präsentiert hatten, lieferten sie vier Wochen später ihre Berichte ab. Am 7. und 8. Mai 1992 beurteilten die Gutachter die vorgelegten Arbeiten. Ihre Schlussfolgerungen lagen am 1. Juni 1992 den politisch Verantwortlichen vor. Zehn Tage später wurden diese Schlussfolgerungen im Rahmen der Forumveranstaltung Stadtentwicklung Winterthur mit Vertretern von Verbänden, öffentlichen Gruppierungen, Partei49 en und den Grundeigentümern diskutiert. In ihrem Schlussbericht empfahlen die Experten eine Umgestaltung des Sulzer-Areals in Form einer gemischten Nutzung unter Berücksichtigung des kulturellen Erbes. „Es geht um Fragen der Erhaltung von Einzelobjekten und 47 | Die Experten- und Gutachtergruppe bestand aus dem Baseler Kantonsbaumeister Carl Fingerhuth, dem Leiter des städtebaulichen Instituts der Universität Stuttgart, Klaus Humpert, dem Berliner Professor und Architekt, Adolf Krischanitz sowie dem Baseler Architekt Wolfgang Schett. Vgl. Stadtentwicklung Winterthur: Testplanung Stadtmitte Winterthur, Winterthur, August 1992, S. 13. 48 | Die beauftragten Gruppen waren die Gruppe Sieverts (Sieverts, Bott, von Haas, Schwarz, Gloor, Krebs und Muhmenthaler), die Gruppe Zschokke (Zschokke und Michl), die Gruppe Campi (Campi, Rothen, Hoppe, Zardini), die Gruppe Frowein (Frowein und Löffler), die Gruppe Bosshard (Bosshard, Mäder und Mantel) und die Gruppe Atelier 5; Bern. Vgl. a.a.O., S. 14. 49 | Vgl. a.a.O., S. 13.

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des Schutzes von Ensembles; es geht aber auch um die Erhaltung von Denkmälern und um die Bewahrung von Elementen der kollektiven Erinnerung der Bevölkerung; es geht schliesslich um Fragen der politischen oder der wirtschaftlichen Machbarkeit, sowie um die gegenseitige Abwägung aller dieser und noch 50 mehrerer anderer Aspekte.“ Das Sulzer-Areal stand zur damaligen Zeit im Brennpunkt verschiedener politischer Interessen. Eine einheitlich determinierte Lösung war kaum durchzusetzen, politische und planerische Flexibilität war gefordert. Diese Erkenntnis veranlasste die Gutachtergruppe, für das Sulzer-Areal eine offene Planungsstrategie vorzuschlagen, wie sie bereits die „Werkstatt ’90“ empfohlen hatte. Sinnvoll sei die räumliche wie nutzungsgemäße Entwicklung mit möglichst vielen Optionen. Die Gutachter forderten: „Das Sulzer-Areal darf nicht als städtebauliches Projekt aus einem Guss verstanden werden, sondern es muss 51 vielmehr die prozesshafte, schrittweise Entwicklung im Vordergrund stehen.“ Während die Experten für die zukünftige Planung eine „situative Strategie“ vorschlugen und die Details eines Umgestaltungsprozesses nur vage umschrieben, wurden sie bei der Freiraumgestaltung konkreter. Mit dem „Leiterkonzept“ boten sie Lösungsansätze einer Verknüpfung des Bahnhofgebiets mit den freigewordenen Arealen an. Sie bedienten sich verschiedener Metaphern und verglichen die Innenstadtstruktur um den Bahnhof mit einer Leiter. „Die Achsen Bahnhofplatz – Untere Vogelsangstrasse und Rudolfstrasse – Bahnmeisterweg – Zur Kesselschmiede sind die Holmen dieser Leiter, ein 52 System aus bestehenden und neuen Querverbindungen bilden die Sprossen.“ Das Leiterkonzept betrachtet den Bahnkorridor als Fluss, die Bahnlinie als fließendes Gewässer, die Geleisböschungen als Ufer und den angrenzenden Straßenraum als Kai. Die relevanten Stadtteile wie die Altstadt, das Neuwiesenquartier und das Sulzer-Areal bilden das Hinterland des Flussufers. Die Experten vertraten die Ansicht, eine Anwendung dieses Kai-Prinzips verleihe dem Raum eine attraktive Gestaltung. In der Innenstadt sollte das Geleisfeld mit einer von Alleenbäumen abgegrenzten Uferstraße umsäumt werden. Ein Prototyp sei bereits an der Rudolfstraße realisiert. Darüber hinaus sollten die Uferdämme verschiedene Querverbindungen in Form von Brücken und Unterführungen erhalten. Eine wesentliche Rolle bei der Umgestaltung spielten die Brückenköpfe, das Kesselhaus und der Bahnhof. Die Architekten empfahlen, einen spektakulären Steg von der Nordspitze des Sulzer-Areals zum Arch-Areal zu errichten. Mit dieser Brücke sollte ein bedeutungsvoller Beitrag zum Stadtimage geleistet werden. „Die Gutachter glauben, dass mit der Integration der technischen Welt des Sulzer-Areals ins Ensemble der Innenstadt die grosse 50 | A.a.O., S. 37. 51 | A.a.O., S. 33. 52 | Huber (2006a), S. 19.

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Chance besteht, Winterthur als Wohn- und Arbeitsort eine spezielle Identität zu geben, aus welcher in der Standortkonkurrenz zwischen den verschiedenen vergleichbaren Städten entscheidende Vorteile resultieren könnten. Der Steg 53 könnte so zu einem neuen Zeichen dieser Identität werden.“

Abbildung 77: Leiterprinzip, die Holmen. Abbildung 78: Die Sprossen. Quelle: Stadtentwicklung Winterthur: Testplanung Stadtmitte Winterthur, August 1992, S. 28ff.

Zahlreiche Projekte folgten diesem Leiterkonzept, so die Brückenverbindungen Storchen- und Wylandbrücke sowie die „Geleisquerung Stadtmitte Winterthur“. Das Letztgenannte begann die Stadt im Jahre 2009 umzusetzen. In einer Verknüpfung vier angrenzender Orte, so dem Bahnhofsplatz, dem Sulzer-Areal, dem Arch-Areal und der Rudolfstraße, sollte der Übergang dem Erdgeschossniveau der Stadt angepasst und ein großer verbindender Platz geschaffen werden. Die Planer beabsichtigten, die Sichtbeziehung zwischen den Stadtteilen herzustellen, den Fussgängern eine schnelle und bequeme 53 | Stadtentwicklung Winterthur: Testplanung Stadtmitte Winterthur, Winterthur, August 1992, S. 31f.

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Überquerung zum Hauptbahnhof zu ermöglichen und mit diesem markanten städtebaulichen Akzent die Entwicklung der Stadtmitte zu unterstützen.

Abbildung 79: Bau der Geleisquerung Winterthur. Es sollte ein neuer Platz zwischen dem Kesselhaus und der Rudolfstraße entstehen. Quelle: Krug, 2010.

Fassen wir zusammen: Die Winterthurer Architektengruppe organisierte den Widerstand gegen die Gesamtplanungsstudie „Winti-Nova“ und betrat damit als neuer Akteur die „politische Bühne“ Winterthurs. Die Veranstaltungsreihe der SIA und die öffentlichen Diskussionen verschoben die Machtressourcen. Mit einem Mal lagen die Aufgaben der Stadtentwicklung nicht mehr ausschließlich bei den Grundeigentümern, sondern bei der städtischen Exekutive. Mit der Gründung der „Werkstatt ’90“ gab die Architektenkammer SIA ihre oppositionelle Rolle auf und beteiligte sich an der Winterthurer Stadtentwicklung. Damit hatten die 54 Diskussionen über die mangelnde Legitimation des „Winti-Nova“-Projektes zu einer Neuformulierung der Stadtpolitik geführt. Dies hatte zur Folge, dass die „Werkstatt ’90“ Vetopotenziale verringern und Konfliktsituationen entschärfen 55 konnte. Außerdem sorgte sie dafür, die Denkmalpflege bei der Stadtplanung 56 miteinzubeziehen. Neue Projekte sollten dem historischen Erbe Winterthurs, das sich auch in den Industriearealen ausdrückte, gerecht werden. 54 | Blatter verweist auf die Legitimationskrise der westlichen Demokratien und damit zusammenhängend auf die Notwendigkeit von innovativen Formen demokratischer Legitimationen. Die SIA-Veranstaltungen und die „Werkstatt ’90“ sind geprägt von innovativen Partizipationspraktiken. Vgl. Blatter (2007), S. 275. 55 | Vgl. von Blumenthal/Bröchler (2006), S. 10. 56 | Vgl. Stadtentwicklung Winterthur: Rahmenplan Stadtmitte, 2. Städtebau , Winterthur, 1995, S. 16.

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Die „Werkstatt ’90“ verwarf einen groß angelegten städtebaulichen Wettbewerb. Mit dieser Entscheidung löste sich die Stadt von einem fest definierten Gesamtentwurf und konzentrierte sich auf eine situativ ausgerichtete Stadtplanung. Diese Methode erlaubte ihr, Situationspotenziale aufzuspüren und 57 flexibel darauf zu reagieren. Die Stadtplanung sollte sich immer wieder an den aktuellen sozialen, ökonomischen und ökologischen Rahmenbedingungen orientieren und neue Handlungsmöglichkeiten erarbeiten. Mit anderen Worten, die Zielsetzungen blieben latent, immer wandelbar und in einen flexiblen Rahmenplan eingepasst. Ein solches Verständnis begreift die Stadtentwicklung nicht als ein mechanistisches Instrument, sondern als etwas dauerhaft 58 organisch und prozesshaft Modellierbares. Ein grossangelegter städtebaulicher Ideenwettbewerb basiert auf der traditionellen Vorstellung des einmaligen grossen städtebaulichen Wurfes. Ein Projekt wird allenfalls nach einer zweiten Runde als Bestes auserkoren und zur Weiterbearbeitung empfohlen. Bis zur definitiven Ausarbeitung sind sämtliche Planungen blockiert. Die Ausführung solcher Planungen beansprucht enorme Zeit. Damit besteht die grosse Gefahr, dass Entscheidungen, die einmal für richtig erkannt wurden, von der Zeit überholt werden. In einem solchen Moment gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder man realisiert das, was an Sinn verloren hat, oder man versucht, eine langfristig angelegte, städtebauliche Planung umzukrempeln, die in ihrer ursprünglichen Bedeutung fragwürdig wurde. Beides ist äusserst unbefriedigend und stellt das Verfahren des einmalig durchgeführten, gross angelegten städtebaulichen Ideenwettbewerbes mit einem fixierten abschliessenden Ergebnis für eine so komplexe Aufgabe mit einer derart langen Realisierungsphase infrage. Anstelle des einmaligen Wurfes steht ein Planungsprozess, der sich gleichzeitig auf mehreren Geleisen bewegt, ein Prozess des schrittweisen Sich-Annäherns an eine differenzierte Lösung. Wie in diesem formuliert, heisst das, dass kurz- oder mittelfristig auf allen Sachebenen (Arbeiten, Wohnen, Kultur und Umwelt) in allen räumlichen Bezügen (Gesamtstadt, Bahnhofsgebiet und Areale) eine Vielzahl Abklärungen parallel ausgeführt werden müssen. Zur Verfügung steht die ganze Palette vom offenen Ideenwettbewerb über Studienaufträge an mehrere Planer bis zum Direktauftrag. [...] Mit einem solchen Planungskonzept wird es möglich, flexibler auf den zeitlichen Ablauf und die 59 spezifischen Probleme der einzelnen Areale zu reagieren.

57 | Vgl. Jullien (2006), S. 33. 58 | Vgl. Landry (2006), S. 16. 59 | Stadtentwicklung Winterthur: Ergebnis der Werkstatt ’90, Winterthur, 26. März 1991, S. 38.

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Diese Strategie zahlte sich im Hinblick auf den im Jahre 1992 stattgefundenen Wettbewerb „Sulzer-Areal“ aus. Jean Nouvels „Megalou“-Projekt entsprach genau diesen Vorgaben, indem es mit einer sensiblen Planung eine dialogische und offene Umgestaltung des Sulzer-Areals vorschlug. Mit der Forderung nach einer prozesshaften und organischen Stadtentwicklung war auch eine methodische Vorentscheidung getroffen. Die „Testplanung“ hatte sich als Planungsmethode in Winterthur durchgesetzt. Die Stärke der „Werkstatt ’90“ bestand in einer städtebaulichen Flexibilität, die durch vertrauensbildende Maßnahmen, wie Gespräche und Dialoge, flankiert wurde. Es wurde deutlich, dass die sozialen Akteure aufeinander angewiesen waren. Weder die privaten Investoren noch die politischen Akteure konnten in einem Alleingang die Weichen einer Stadtentwicklung stellen. Im Verlauf der nachfolgenden Testplanungen arbeiteten Stadt, Grundeigentümer, externe Fachleute und Planungsbüros eng zusammen. Der für die Durchführung des ständigen Dialogs anzusetzende Zeitaufwand ist zwar beträchtlich, zahlt sich aber letztlich aus. Denn mithilfe der wiederkehrenden Veranstaltungen lernen die zu Beginn des Prozesses mehrheitlich auf Einzel- oder Spezialinteressen ausgerichteten Vertreter von Gruppierungen, Verbänden und Parteien, die Argumente und Wünsche der ‚anderen’ näher kennen. Das Wissen um die zuvor kaum wahrgenommenen gegenseitigen Abhängigkeiten nimmt zu, womit die Kompromissbereitschaft steigt. Verfechter 60 von Extrempositionen verlieren an Gewicht und werden isoliert. Indem die „Werkstatt ’90“ die sozialen Akteure in den aktuellen Stadtentwicklungsprozess einband, konnte sie deren Ressourcen nutzen. Es gelang ihr einen planerischen Rahmen zu entwickeln, bei dem sowohl die öffentlichen als auch die privatwirtschaftlichen Interessen berücksichtigt wurden. Von nun an bewegte sich der Stadtumbau in einem Spannungsverhältnis zwischen öffent61 licher und privater Steuerung. Die Macht, den Raum zu produzieren, hing nicht mehr alleine von einem Akteur, wie dem Grundeigentümer, dem Investor oder der Stadtregierung ab, sondern die Machtkonstellationen befanden sich von nun an fortwährend in Bewegung. Vor allem wurde den Bürgern eine neue Rolle zugewiesen. Bei der Stadtentwicklung konnten nicht nur die Fachexperten und Politiker, sondern auch die „Nichtprofessionellen“, wie die Bürgerinitiativen und interessierte Einzelpersonen, mitsprechen. Diese Bürgerbeteili62 gung schuf die Legitimation einer nachhaltigen Stadtplanung in Winterthur.

60 | Egli (1992), S. 28. 61 | Vgl. Lefebvre (2006). 62 | Vgl. Blatter (2007), S. 271ff.

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Die Erfahrung mit dem Sulzer-Areal in Winterthur hat gezeigt, dass es unmittelbar zu Beginn der Planungen des Einbezugs der Öffentlichkeit bedarf. Die in der Diskussion zwischen Grundeigentümer, Stadt und Öffentlichkeit erarbeiteten Grundlagen sind als Basis für einen – behördenverbindlichen – Rahmenplan zu verstehen, welcher den anschliessenden Handlungsspielraum im Dialog zwischen Grundeigentümer und Stadt bestimmt. Der Einbezug der Öffentlichkeit in dieser – zweiten projektorientierten – Phase beschränkt sich dann im Wesentlichen auf die Möglichkeit eines Rekurses im Rahmen der 63 Erteilung einer Baubewilligung. Die „Werkstatt ’90“ lud Grundeigentümer, Politiker, Architekten und Planer sowie Bürgerinitiativen ein, ihre Vorstellungen und Ideen von der Zukunft des Sulzer-Areals dem „Ständigen Gremium“ vorzutragen. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse sollten als Grundlage für die Entscheidungen der Stadtregierung dienen. Als „Anwälte der Dinge“ betrachtete das „Ständige Gremium“ das Areal mit seinen Fabriken, Gebäuden, Plätzen und Straßen als Entitäten. Diese 64 sollten mit ihrer Hilfe zum „Sprechen gebracht werden“. Damit verwandelten sich die Dinge zu Akteuren, Bruno Latour bezeichnet sie auch als Aktanten. Obwohl das Sulzer-Areal mit seinen Montagehallen nicht als autonom handelndes Subjekt begriffen werden darf – es bildet keine eigene Identität aus –, bringt es dennoch die Menschen mittelbar zum Handeln. Im Industriezeitalter veranlassten die Dieselmotoren in der Hektarenhalle die Arbeiter dazu, ihre Schrauben anzusetzen, neue Stahlteile zu montieren oder die Schiffsdieselmotoren anzuwerfen. Ende der 1980er Jahre beeinflusste das Areal in ganz anderer Weise die Menschen. Ihre Gassenräume, Industriehallen und Geleisanlagen faszinierten zahlreiche Architekten und Denkmalpfleger. Sie kritisierten die Gesamtplanungsstudie „Winti-Nova“, diskutierten alternative Lösungsansätze und traten als Fürsprecher des Sulzer-Areals auf, um dessen Abriss zu verhindern. Ohne dieses Netzwerk der Aktanten, der Menschen und Dinge, wäre die „Werkstatt ’90“ nicht denkbar gewesen. Die von der Stadt Winterthur ins Leben gerufene Veranstaltung bestand aus Personen, die zwischen diesen beiden Kammern, nämlich den nicht-menschlichen Entitäten und den Stadtpolitikern, hin und her zu pendeln und die stumme Welt des Industriegebietes zum 65 Sprechen zu bringen hatten. 63 | Koll-Schretzenmayr/Müller (2002), S. 4. 64 | Vgl. Latour (2010), S. 22ff. 65 | In seinem Vorschlag zur Gewaltenteilung beschreibt Bruno Latour die Expertengruppe als eine Gruppe von „Auserwählten“. Sie sind mit der politischen Fähigkeit ausgestattet, „die stumme Welt zum Sprechen zu bringen, die Wahrheit zu sagen, ohne dass darüber diskutiert zu werden bräuchte, und endlose Debatten durch eine unbestreit-

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Wer ist in diesem Prozess das Subjekt und wer ist das Objekt? Wer handelt und wer wird behandelt? Mehr noch, besitzt diese Unterscheidung überhaupt noch Gültigkeit?

Abbildung 80: Nächtlicher Spuk in der Montagehalle, entstanden zwischen 1935 und 1945. Quelle: Sulzer-Archiv, Winterthur.

In künstlerischer Weise werden diese Fragen im Bild des „nächtlichen Spuks in der Montagehalle“ beantwortet. Wie in einer Märchenwelt verwandeln sich die Dinge zu handelnden Akteuren. Tagsüber scheint die Trennung zwischen Subjekt und Objekt noch gut zu funktionieren. Der Firmenchef trifft die Entscheidungen, die Ingenieure entwerfen ihre Pläne, die Meister kontrollieren die hergestellten Produkte und die Arbeiter montieren die Maschinenteile. Um Mitternacht erweist sich diese Rangordnung als Täuschung. In einem fröhlichen Konzert mutieren die Maschinen zu Hybriden. Die Objekte verwandeln sich in Subjekte, die Dinge nehmen sich selbst in die Hand und handeln als 66 sozial agierende Elemente. Diese Szene ist eine Fiktion. Die Dinge können nicht lebendig werden. Dennoch verdeutlicht dieses Bild, dass Maschinen ihren Objektstatus verlieren können und damit zu einem aktiven Teil des Netzwerk Sulzers werden. Das bare Form von Autorität zu beenden, die sich von den Dingen selbst herleitet“. Latour (2010), S. 27. 66 | Vgl. Latour (2002), S. 213ff.

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Bild weist uns darauf hin, neben den menschlichen auch die nicht-menschlichen Akteure wahrzunehmen. In ihm organisieren sich die Aktanten zu einem wechselseitig abhängigen Kollektiv, das weder der Natur noch der Gesellschaft zugeordnet werden kann. „Erst einmal entstanden, beeinflussen sie ihre gesam67 te Umgebung und breiten sich netzwerkartig aus.“ Das Sulzer-Areal bewegt die Menschen, mit dem Raum in Beziehung zu treten, mit ihm Kontakt aufzunehmen und mit ihm zu interagieren. In diesem Dispositiv ist ein Machtverhältnis eingeschrieben, welches immer auch eine 68 strategische Funktion einnimmt. Dieser Prozess wurde in der „Werkstatt ’90“ sichtbar. Die Politiker, Stadtplaner und Denkmalschützer untersuchten sensibel und aufmerksam die sozialen und funktionalen Prozesse der Industrieareale. Das „Ständige Gremium“ sammelte die Erkenntnisse, wertete sie aus und sprach der Stadtregierung ihre Empfehlungen aus, so beispielsweise das Areal für Zwischennutzungen zu öffnen. Diese Empfehlung führte zu einem nachhaltigen Wandel des Sulzer-Areals. 69 Die Vermietung der Gebäude bedeutete für junge Unternehmer eine große Chance. Der Lagerplatz entwickelte sich im Laufe der Jahre zu einem der attraktivsten und lebendigsten Stadtteile Winterthurs. Gerade die Möglichkeit der Zwischennutzungen erlaubte den Mietern, das Viertel neu zu beleben. Mit den nachfolgenden Umnutzungen wie z.B. des Siebs 10, der Kranbahn, des Lofts G 48 oder der Wohnüberbauung Lokomotive veränderte sich die Industriebrache hin zu einem attraktiven sozialen Raum.

67 | Ruffing (2009), S. 9. 68 | Vgl. Agamben (2008), S.9. 69 | Jean Nouvel begreift die Umnutzungen von Industriearealen als eine einmalige Möglichkeit, den Raum funktional und sozial zu transformieren. Vgl. Baudrillard/Nouvel (2004), S. 69.

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Abbildung 81: Hektarenhalle – Dieselmotorenproduktion im 20. Jahrhundert. Quelle: Sulzer-Archiv, Winterthur.

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D AS M EGALOU -P ROJEK T VON J E AN N OUVEL

Abbildung 82: Jean Nouvel, Skizze Megalou. Quelle: Gebrüder Sulzer AG: Winterthur, Sulzer-Areal, Winterthur 1992, S. 12f.

Der Architektur-Wettbewerb „Sulzer-Areal Zürcherstraße“ Das Image einer Stadt beeinflusst die Attraktivität des Ortes und steuert das Verhalten der Menschen. Ausschlaggebend für die Imagebildung des Sulzer-Areals waren in den 1990er Jahren dessen sozialräumliche Faktoren. Nur noch wenige Menschen arbeiteten auf dem Areal, niemand wohnte dort und es bestand nur die Möglichkeit, das Industriegelände von außen zu betrachten. Ein von der Firma Sulzer ausgeschriebener Studienauftrag sollte die Frage beantworten, wie ein Umgestaltungsprojekt die Zukunft des Sulzer-Areals verändern könne. Jean Nouvel gewann den Wettbewerb mit seinem Projekt „Megalou“. Obwohl dieses Projekt nicht realisiert wurde, gab es für die nachfolgende Transformation des Areals die Richtung vor. Wie sah das Projekt von Jean Nouvel aus, in welcher Weise hat es die weitere Entwicklung des Sulzer-Areals mitbestimmt und welche Mythen waren mit dem Konzept verbunden?

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Blicken wir zurück. Während die Stadtbehörden Winterthurs mit der Testplanung Stadtmitte die Rahmenbedingungen für eine Neugestaltung des Bahnhofsgebietes austarierten, wollte die Firma Sulzer diesen Prozess mit eigenen Vorschlägen begleiten. Im Februar 1992 schrieb sie einen internationalen Studienwettbewerb aus, um „Vorschläge für die Gestaltung des ‚Areals 1 Zürcherstrasse‘ und die Überbauung einer 1. Etappe einzureichen.“ Das Siegerprojekt sollte den Start einer Umgestaltung des Sulzer-Areals in die Wege leiten. Für die künftige Arealentwicklung suchte die Firma nach attraktiven architektonischen und städtebaulichen Lösungen, um eine gute Arbeitsplatz- und Wohnqualität mit einer verdichteten Siedlungsentwicklung und einem Anschluss 2 an den öffentlichen Verkehr zu verbinden. Im Gegensatz zu „Winti-Nova“ sollte der historische Entwicklungsprozess des Sulzer-Areals fortgesetzt werden; es ging bei diesen Konzeptionen allerdings nicht um eine ungeprüfte Bewahrung des Bestehenden, „sondern um die Fortführung des dem Areal innewohnenden Anpassungsprozesses. Die Struktur der alten Industriehallen, ihre Anpassbar3 keit an neue Anforderungen, wird als städtebauliche Strategie fortgeschrieben.“ In einem Dialog zwischen Alt und Neu sollte sich das Siegerprojekt als sensible Lösung in die bestehende Bausubstanz einfügen und weitere Etappierungen andenken. In einer ersten Bauphase sollten die Architekten einen konkreten Umbau im Bereich der Hektarenhalle entwerfen; für die nachfolgenden 4 Bauphasen die Ideen für die weitere Entwicklung der Sulzer-Zone 1 sammeln. Den Studienauftrag legten die Wettbewerbsausrichter in die Hände acht internationaler Architekturbüros: Eisele+Fritz/Darmstadt, Theo Hotz AG/Zürich, Jean Nouvel, Emmanuel Cattani et Associés/Paris, Dominique Perrault-Paris, Richard Rogers Architects Ltd./London, Luigi Snozzi + Bruno Jenni/Lausanne, Peter Stutz und Markus Bolt/Winterthur und Suter + Suter AG, Sasaki Associates/Zürich. Nachdem die Architektenteams ihre Entwürfe vorgelegt hatten, tagte im 5 August 1992 das Beurteilungsgremium. Während am ersten Tag die Entwür1 | Gebrüder Sulzer AG, Winterthur: Sulzer-Areal Chance für Winterthur, September 1992, S. 11. 2 | Vgl. Studienauftrag für die Gestaltung des Sulzer-Areals Zürcherstraße und die Überbauung einer ersten Etappe: Gebrüder Sulzer AG: Bericht des Beurteilungsgremiums , 18. August 1992. 3 | Huber (1992), S. 64. 4 | Vgl. Studienauftrag für die Gestaltung des Sulzer-Areals Zürcherstraße und die Überbauung einer ersten Etappe: Gebrüder Sulzer AG: Bericht des Beurteilungsgremiums , 18. August 1992, S. 3. 5 | Als Beurteilungsgremium war ein Expertenteam eingesetzt, das sich aus folgenden Personen zusammensetzte: „Carl Fingerhut, Kantonsbaumeister/Architekt/Basel (Vorsitz), Adolf Krischanitz, Professor/Architekt/Wien, Inès Lamuniere, Professorin/ Architektin/Genf, Otto Steidle, Professor/Architekt/München, Adolf Wasserfallen,

Megalou

fe von Theo Hotz, Jean Nouvel, Dominique Perrault und Luigi Snozzi in die 6 engere Wahl gelangten, wählte die Jury einen Tag später die Arbeit von Jean 7 Nouvel/Emmanuel Cattani als Siegerprojekt aus. Die Jury sah die Qualitäten von Jean Nouvels Entwurf darin, die Geschichte und das Wesen des Areals als bestimmendes Merkmal der Winterthurer Industrielandschaft erkannt zu haben. Das Projekt nehme Rücksicht auf die Qualität der historischen Bausubstanz und der inneren Strukturen, welche die Geschichte des Areals bezeugten. Nouvel verwende in seinem Projekt das Vorhandene als Grundlage eines neu zu bauenden städtischen Zentrums. Das Ziel des Projektes bestehe nicht in der Wiederherstellung, der Aufrechterhaltung oder der Umwandlung des Bestehenden und damit in der Wahrung einer Fassade mit neuen Funktionen, sondern in der Fortführung eines dem Areal innewohnenden Möglichkeitsraumes. Die Jury bezeichnete Nouvels Vorschläge als „sanft“, da sie jede bauliche Einheit als feste Einzelgröße erachte, diese in ihrer möglichen Verwendung prüfe und sich damit unter Einbeziehung der Etappierbarkeit, welches ein Hauptthema des Projektes gewesen war, an die bestehenden Verhältnisse anpasse: „Wie ein Palimpsest, der das Malerische mit dem Rationellen verbindet, erweist sich das Projekt als sehr eindrücklich und passend. Seine Modernität entsteht durch Fragmente, durch Korrekturen und gelegentlich durch 8 Umbauten, wobei das Veränderte nie völlig vom Ursprünglichen losgelöst ist.“ Nach der Sichtung und Bewertung Jean Nouvels Konzepts lehnte die Jury einen verbindlichen Gesamtplan ab und empfahl, wie in der „Werkstatt ’90“ vorgeschlagen, für die zukünftige Umgestaltung ein situatives Vorgehen. Diese Entscheidung ermöglichte eine schrittweise Transformation des Industriege9 ländes. Die Gesamtgestalt des Areals sollte im weiteren Verlauf des Umbaus angemessen berücksichtigt werden, was bedeutete, dass man Hochhäuser vermeiden und die Begrünungen und Bepflanzungen dem städtischen Charakter anpassen wollte. Darüber hinaus war eine soziale Durchmischung in Verbindung mit verschiedenen Nutzungsmöglichkeiten angestrebt. Um Architekt/Zürich (Ersatz), Dr. Martin Haas, Stadtpräsident/Winterthur, Dr. Viktor Beglinger, Generaldirektor Sulzer/Winterthur, Erich Müller, Generaldirektor Sulzer/Winterthur, Paul Wanner, Stv. Direktor Sulzer/ Winterthur (Ersatz), Hans Degen, Stadtplaner/ Stadt Winterthur, Walter Muhmenthaler, Architekt Sulzer/Winterthur, Felix Schwarz, Professor/Architekt/Zürich und Alwin Suter, Planer BSP/Zürich.“ Aus: Gebrüder Sulzer AG, Winterthur: Sulzer-Areal Chance für Winterthur, September 1992, S. 11. 6 | Vgl. Studienauftrag für die Gestaltung des Sulzer-Areals Zürcherstraße und die Überbauung einer ersten Etappe: Bericht des Beurteilungsgremiums , 18. August 1992, S. 5. 7 | Vgl. a.a.O., S. 5. 8 | A.a.O., S. 23. 9 | Vgl. a.a.O., S. 72.

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das Sulzer-Areal in den gesamtstädtischen Kontext einzubinden, empfahl die Kommission den Aufbau von Verbindungen zu den benachbarten Stadtvierteln, wie dem Bahnhofgebiet und der Altstadt. Bei dieser Umgestaltung sollte der Kopfbereich des Areals nicht mehr abgerissen, sondern neu genutzt werden. Das Projekt „Megalou“ umfasste ein geplantes Investitionsvolumen von 200 10 Millionen Franken. In einer ersten Etappe beabsichtigte Nouvel, rund 40.000 Quadratmeter Geschossfläche für eine gemischte Nutzung zu erschließen. Als besonderes Merkmal integrierte er die ehemalige Hektarenhalle in die Gesamtplanung und versuchte, mit dem Erhalt ihrer Stahlkonstruktion in einer „Hausin-Haus-Lösung“ eine Mischung aus Wohnen, Arbeiten, Einkaufen, Kultur und Freizeit zu realisieren. Bei dem Neubau war eine gemischte Nutzung in Form von Büros, Wohnungen, Schulen, Verkaufsräumen, Restaurants und Kinos vorgesehen, wobei sich die Verkaufsflächen in erster Linie auf die Ebene des Erdgeschosses erstrecken sollten, aber auch das Untergeschoss sowie das erste Obergeschoss wurde von den Planern als zusätzliche Verkaufsfläche in Betracht gezogen. Die alte Halle sollte als Passage genutzt und zweiseitig von Büroneubauten mit Wohngeschossen umgeben werden. Durch den Abbruch niedriger Zwischengebäude an der Zürcherstraße wollten die Planer einen Freiraum für Fußgängerströme mit einem direkten Zugang zur Passage öffnen. In seinem Konzept betonte Nouvel die Bedeutung der Strukturbewahrung des Areals. Neben den vorgefundenen Straßen und Plätzen sollten zahlreiche Gebäude, wie zum Beispiel das Kesselhaus, verschiedene Verwaltungsgebäude oder die Gründergießerei erhalten bleiben. Gleichwohl hätte je nach Bedarf ein 11 Teil der Gebäude abgerissen oder umgebaut werden können. Da Jean Nouvel auf eine radikale Zerstörung der bestehenden Bausubstanz verzichtete und den Erhalt der Arealstruktur vorschlug, befand sich seine Konzeption in Einklang mit den Ergebnissen der „Werkstatt ’90“.

10 | Vgl. Koll-Schretzenmayr/Müller (2002), S. 6. 11 | Dieses Projekt bestätigte die Forderungen der Industriearchäologen nach Strukturerhaltung und Würdigung des kulturellen Gedächtnisses der Stadt Winterthur. Es wurde von allen sozialen Akteuren begrüßt. Vgl. aus: Stadtentwicklung Winterthur: Planung ’91; Arbeitsgruppe Historische Bausubstanz Sulzer-Areal, Protokoll der Sitzung vom 5.11.1992.

Megalou

Abbildung 83: Jean Nouvel, Skizze Megalou, perspektivische Impressionen, 1. Etappe. Quelle: Gebrüder Sulzer AG: Winterthur, Sulzer-Areal, Winterthur 1992, S. 15.

Abbildung 84: Jean Nouvel, Analyse der unterschiedlichen Gebäudetypen auf dem „Sulzer Areal“. Die drei abzureißende Kühltürme werden als Verstärkung und Übertreibung in den drei Wohnzylindern als Zitat aufgenommen. Quelle: Jean Nouvel, Emmanuel Cattani et Associés: Wettbewerbsunterlagen – Winterthur-Sulzer-Areal, Architekt und Stadtplanung, Paris, 1992.

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Wie deren Experten sprach sich Jean Nouvel für eine organische Vorgehensweise aus: „Bis auf wenige Ausnahmen […] kann man Stadtviertel nicht vorzeichnen: Sie entwickeln sich nach und nach, Gebäude nach Gebäude, auf halbem Weg zwischen Zufall und Vorschriften. Der Stadtbau ist auf die Vorplanung der Versorgungsnetze, der Strassen und der Baudichte beschränkt: Die neuen Viertel und neuen Städte sind ein Sprung ins Unbekannte. Das Ziel ist oft überraschend. Eine Stadt entsteht basierend auf dem Vorhandenen, so wie ein Buch, das kontinuierlich mit dem letzten Satz geschrieben wird. Es handelt sich um einen Prozess der Verhärtung-Schaffung. Eine Aufschichtung. Sobald ein Gebiet Geschichte hat, sobald es Lebenszeit, Menschenzeit und Erinnerung gesammelt hat, kann es sich entwickeln und bereichern. Die Stadt entsteht heute nach und nach durch Umwandlung der angesammelten Materie Zeit, durch Wiederholung oder Änderung. Manchmal durch Entdeckung, z.B. Entdeckung der vorexisten12 ten versteckten Schönheit […].

Jean Nouvel vertrat damit eine städtebauliche Position, welche die Bejahung der Lebendigkeit und Wandlungsfähigkeit einer Stadt anerkennt und auch dem Zufälligen und Ungeplanten Raum lässt. In seiner konzeptionellen Offenheit ermöglichte dieses Vorgehen neben der Schaffung neuer Gebäude oder 13 dem Umbau alter Bausubstanz die Verträglichkeit mit Zwischennutzungen. In den Plänen des französischen Architekten war vor allem eines sichtbar: 14 der äußerst sensible Umgang mit dem Umbau dieses Stadtviertels. Sein Projekt zielte auf ein Äquivalent zur alten Industriestadt, bei der das Neue in Form von Museen, Ausstellungsräumen, Forschungsinstituten oder Konferenz15 zentren immer noch mit der Geschichte der Firma Sulzer verwoben blieb. Damit begriff er die Stadt als ein Archiv, welches mit der Entfaltung von mannigfaltigen Möglichkeitsräumen verknüpft war. Im Zentrum des Projekts stand die Umgestaltung der Hektarenhalle. Mit diesem Bau sollte direkt vor dem neuen Sulzer-Verwaltungsgebäude ein neuer einladender Raum entstehen. Da sich eine Neugestaltung auch an den wirtschaftlichen und technischen Erfordernissen zu messen hatte, war ein grundsätzlicher Erhalt der ursprünglichen Bausubstanz des Areals auch für

12 | Jean Nouvel, Emmanuel Cattani et Associés: Wettbewerbsunterlagen – Architektur und Stadtplanung, Winterthur-Sulzer-Areal, 1992. 13 | Huber (1992), S. 69. 14 | Vgl. Jean Nouvel, Emmanuel Cattani et Associés: Wettbewerbsunterlagen – Architektur und Stadtplanung, Winterthur-Sulzer-Areal, 1992. 15 | Vgl. a.a.O.

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Nouvel nicht zwingend vorgesehen. Gleichwohl sollten die übrigen Gebäudeobjekte schrittweise für eine Umgestaltung geprüft und erst danach für einen Abbruch, einen Umbau oder eine Erhaltung ausgewählt werden. Atmosphärisch zahlte sich diese Strategie aus. Für Nouvel ließ der dialogische Stadtumbau den Einbezug der Geschichte als eine attraktive Form der Neueinschreibung in den Raum zu: „Aus der Beziehung zwischen neu und alt entsteht eine enge Verbindung, ein Charme des Ortes, den wir nicht so schnell erreichen würden, wenn man alles dem Erdboden gleichmachen würde. Denn dies ist keine Ideologie der Bewahrung, sondern eine Ideologie der Modernisierung. Wie kommt man am schnellsten in der richtigen Richtung voran? Wie können 17 wir unser Gedächtnis am besten nutzen?³ 

Die Präsentation des Umnutzungskonzeptes Jean Nouvels Raumauffassung ist mit der Generierung eines Bühnenbilds vergleichbar. Sie stellt sein entscheidendes konzeptuelles Vorgehen dar und lässt sich bis auf den Beginn seiner beruflichen Architektentätigkeit zurück18 verfolgen. Diese Idee entwickelte er erstmals bei der Umgestaltung des Theaters Gaïté Lyrique in Paris. In diesem Konzept verknüpfte er Vergangenheit mit Gegenwart. Er bewahrte das aus dem 19. Jahrhundert stammende Dekor, intensivierte die Farbgebung und rekonstruierte die verloren gegange19 nen Bühnenelemente. In seinem „Megalou“-Projekt setzte er den Dialog zwischen alt und neu fort und berücksichtigte den vorgefundenen architektonischen Bestand. Er plädierte zwar für den Abriss der drei Kühltürme auf dem Areal, doch übernahm er deren technische Zylinderform für die Konzeption eines Neubaus dreier Wohn- und Bürohäuser. Dieselbe Haltung spiegelt sich in der Umgestaltung der ehemaligen Hektarenhalle. Sie sollte nicht abgerissen, sondern in einen Neubau integriert werden. Schauen wir uns die Hektarenhalle näher an. Nouvels zentralperspektivisch angelegte Skizze zeigt die umgebaute Hektarenhalle, deren Stahlkonstruktion und deren Krananlagen erhalten blieben. Durch das Glasdach dringt gedämpftes Licht in die Passage, worin sich neben Geschäften und Gaststätten auch ein Kino und ein Jazzklub befinden. Deutlich heben sich an den Seiten die Schaufenster der verschiedenen Geschäfte ab. In der neuen Flaniermeile werden zahlreiche Waren und Dienstleistungen angeboten. Zu sehen sind 16 | Vgl. a.a.O. 17 | A.a.O. 18 | Nachdem Jean Nouvel den Bühnenbildner Jacques Le Marquet kennengelernt hatte, begann er sich für die Verknüpfung von Bühnenbildnerei und Architektur zu interessieren. 19 | Vgl. Boissière (1996), S. 19f.

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weltbekannte Marken wie Nike, McDonald’s oder Rollei. Fitnessstudios und weitere Geschäfte ergänzen das Angebot.

Abbildung 85: Seitenansicht Megalou: Der Komplex ist symmetrisch aufgebaut. Im Untergeschoss befindet sich das Parkhaus, im Erdgeschoss der Zugang zur Passage. Über den Stockwerken der Geschäfte plante Nouvel die Büros und Wohnungen. Der Fußgängerweg auf dem Dach der Hektarenhalle schafft einen zusätzlichen Übergang zur anderen Seite des Gebäudes. Quelle: Gebrüder Sulzer AG: Winterthur, Sulzer-Areal, Winterthur, 1992, S. 12f.

Vergleichbar mit den Pariser Passagen, allerdings größer, heller, voluminöser und moderner, zeigt diese Skizze die Reichhaltigkeit der modernen Warenwelt. In der Hektarenhalle weist sie sich als ein Erlebnisraum mit Unterhaltungswert aus. Die Form dieser Passage ist mit der eines Sakralbaus vergleichbar. Die Raumorganisation bezieht sich auf die räumliche Symmetrie und die Betonung von Längsachsen. Vor der Halle öffnet sich ähnlich eines Domplatzes ein Freiraum, welcher die Besucherströme in die Passage leiten soll. Der Weg durch den Gebäudekomplex wird über die Dächer der Hektarenhalle fortgesetzt, wo sich eine Fußgängerbrücke über das Glasdach spannt. Das Zusammenspiel zwischen Industriegeschichte und Modernität bewirkt die eigentliche Faszination dieses Konzepts. Drei raumprägende Elemente unterstützten diese Wirkung: Licht, Glas und Stahl. Die Oberlichter lassen ein gedämpftes Licht in die Halle strömen, die Stahlkonstruktion erinnert an die frühere industrielle Nutzung und das Glas bietet nicht nur Transparenz, sondern auch Abschottung und Geräuschdämpfung nach außen.

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Abbildung 86: Jean Nouvel – Skizze zu Megalou, bemalte Folie über Fotokopie und bemaltes Transparentpapier, 1992. Quelle: Sulzer Immobilien AG/Jean Nouvel: Winterthur – Sulzer Areal/ Wettbewerbsunterlagen, 1992.

Der Raum soll verführen und das Bedürfnis nach Konsum anregen. Seine Anziehungskraft, worunter man auch die Erotik des Raumes verstehen kann, soll die Menschen in die Hallen locken. Die ehemalige Hektarenhalle verwandelt sich zum Inszenierungsraum und zum Spektakel, das „die Waren und ihre 20 Leidenschaften“ anpreist. Was Benjamin über die Pariser Passagen schrieb, gilt auch hier: „Handel und Verkehr sind die beiden Komponenten der Strasse. Nun ist in den Passagen deren zweite abgestorben; ihr Verkehr ist rudimentär. Sie ist nur geile Strasse des Handels, nur angetan, die Begierden zu wecken. Weil in dieser Strasse die Säfte stocken, wuchert die Ware an ihren Rändern und 21 geht phantastische Verbindungen wie die Gewebe in den Geschwüren ein.“ Wie in den Pariser Passagen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zielt Megalou nicht nur auf Unterhalt und Versorgung, sondern vor allem auf Unterhaltung und Vergnügen. Die Passage übt als eine hypnotisierende Macht einen unmittelbaren Einfluss auf die Betrachter aus und prägt deren Denken, Handeln und Fühlen. Der Flaneur wird zum wichtigen Akteur des Ereignisses 22 und seine Augen zum bedeutendsten Wahrnehmungsorgan des Spektakels.

20 | Debord (1996), S. 53. 21 | Benjamin (1983), S. 93. 22 | Vgl. Debord (1996), S. 19.

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Die Skizzen Nouvels zeigen Menschen, die durch die Gänge flanieren, an den Schaufenstern stehen bleiben, sich mit anderen unterhalten, die große Halle betrachten und über ihre Glasdächer wandern. In der Inszenierung des Spektakels kommt dem Flaneur seine eigentliche Rolle zu. Er hat den Raum zu beleben und als menschliches Versatzstück den anderen Besuchern zu zeigen, dass dort etwas zu erleben ist. Auch wenn sich das Projekt nicht ausschließlich auf den Konsum ausrichtet – es enthält auch Wohnungen und Büros – konzentriert sich das Ganze auf das Spektakel. Nur so lässt sich Aufmerksamkeit erregen und nur so lassen sich Investoren finden. Nachdem die Entscheidung der Jury gefallen war und Jean Nouvel als Gewinner des Studienwettbewerbes feststand, rückte für die Firma Sulzer die Vermarktung des Projekts in den Mittelpunkt. Die Aufgabe des Marketings bestand im Auf bau und der Verbreitung eines Images, das im Kaufentscheidungsprozess der Investoren eine zentrale Orientierungsfunktion einnehmen sollte. Damit verbunden war der Auf bau einer Produktpersönlichkeit, bei der sich das Spektakel als eine „ungeheuere, unbestreitbare und unerreichba23 re Positivität“ darstellt. Teil dieser Vermarktungsstrategie bestand in der Namensgebung. Der Name Megalou stammt aus dem Griechischen „mégas (megal-)“ = groß und „pólis“ = Stadt. Er bezeichnet eine Großstadt, die aus zwei oder mehreren nebeneinanderliegenden Städten besteht. Auf Winterthur übertragen bedeutete dies: Die Altstadt und das Sulzer-Areal korrespondieren miteinander, sie stehen in unmittelbarer Verbindung und bilden den Mittelpunkt Winterthurs. Mit der Wortschöpfung „Megalou“ verband die Sulzer Immobilien AG den Versuch, das Projekt zu mythologisieren und als „Brand“ der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Ein Beleg dieser Werbestrategie findet sich in der Broschüre „megalou – ein Zukunftsangebot“, welche die Firma Sulzer von der Marketinggruppe „Inter-Urban AG, Zürich“ ausarbeiten ließ.

23 | A.a.O., S. 17.

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Abbildung 87: Städtebauliche Einbindung. Der Vorplatz der Hektarenhalle – er steht in Verbindung mit dem Verwaltungsgebäude auf der anderen Straßenseite – ist weit zur Straße hin geöffnet. Er kann die Besucherströme in die Hektarenhalle leiten. Quelle: Bärtschi, Hans-Peter: Piazza-Architekten, Krämer und Einfühlsame, in: Werk, Bauen + Wohnen, 11.11.1992, S. 54.

Abbildung 88: Grundriss Megalou; der Grundriss entspricht mit seiner Rasterbauweise und der gleichförmigen Erschließung einem Warenhaus wie den Les Halles in Paris. Er ist wie ein Sakralbau gerastert; die Geschäfte 24 werden zu Seitenaltären und der Vorplatz zum Domplatz. Quelle: Bärtschi, Hans-Peter: Piazza-Architekten, Krämer und Einfühlsame, in: Werk, Bauen + Wohnen, 11.11.1992, S. 54.

24 | Vgl. Brauns (2007), S. 286.

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Die Marketinggruppe macht Campell‘s Suppendose, welche Andy Warhol in den 1960er Jahren zur Kunstikone erhob, in origineller und kreativer Weise für das „Megalou“-Projekt dienstbar. Das spektakuläre Bauprojekt umfasst als Form einer umfassenden Produktfamilie zahlreiche Dienstleistungen. Diese setzen sich aus Wohnen, Arbeiten, Einkaufen, Bildung, Kultur, Gastronomie und Lifestyle zusammen. Nouvel als Designer hat den Neubau zu inszenieren und den touristischen „Hotspot“ Winterthurs als Dienstleistungsstadt zu erfinden.

Abbildung 89: Das Megalou-Projekt verpackt in Campbells Suppendosen. Quelle: Sulzer Immobilien AG: megalou – ein Zukunftsangebot, 1992, S. 18f.

„Megalou“ soll eine hohe Erlebnisqualität schaffen, Kommunikation ermög25 lichen, Identität vermitteln und damit zur „konsumierbaren Heimat“ werden. Nach diesen Vorgaben richtet sich die Werbung. Sie bietet nicht nur funktionale Informationen über das zu verkaufende Produkt, sondern preist eine Erhöhung der Lebensqualität und eine Erhöhung des Images der Konsumenten an. Mehr noch, die Kampagne erschafft einen Mythos, nur über den Konsum sei für den Menschen Glück erfahrbar. Mit dem Warenkonsum sollen 26 die Menschen ihre Intimität zur Schau tragen, über den Prestigekauf ihren sozialen Status definieren und durch den Konsum die eigene Identität konstruieren. Bei diesem „Glücksversprechen“ tritt der Flaneur als Nebendarsteller der Warenwelt auf. Er gehört zu deren Inszenierung und bespielt zusammen 25 | Vgl. Borries (2004), S. 83. 26 | Debord (1996), S. 54.

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mit den anderen Versatzstücken, den Waren, den Verkäufern oder der Architektur, das Bühnenstück „Megalou“. Das Unterhaltungs- und Erlebnismoment soll sich dabei zur kreativen Leistung der Kunden entwickeln: „Der Konsument wird zum Augenflaneur, und die Poesie des 21. Jahrhunderts kann begin27 nen.“ „Megalou“ ist aber kein freier und kreativer Raum, und noch weniger ein spontaner und spielerischer Erlebnisraum, im Gegenteil. Dieser Raum ist festgelegt, geschlossen und in seiner Funktion eindeutig. Der Deutungsrahmen dieser Inszenierung lautet: Verkauf und Kapitalertrag. Die Sulzer Immobilien AG will „Megalou“ vermarkten, der Welt ein positives Image vermitteln und als wichtigste Aufgabe finanzkräftige Investoren finden. In diesem Rahmen bewegt sich das Marketing, dessen Ziel darin besteht, ein positives Image über das bevorstehende Bauprojekt aufzubauen. Die Druckschrift wirbt um das Umgestaltungsprojekt als ein spektakuläres Ereignis. Dies unterstreichen die Autoren unter Verwendung neuer Wortschöpfungen und zahlreicher Superlative. Aus einer „gemischten Nutzung“ wird eine „multifunktionale“, aus einem „zentralen“ ein „hochzentrales Stadtgebiet“, aus den „Besucherströmen“ eine „Megafrequenz“ und aus dem „Bauprojekt“ ein „magischer Auftritt“. Sie verwenden Großbuchstaben zur Verstärkung der Extravaganz des Projekts, mit der weißen Fläche heben sie die Schlüsselbegriffe und Schlagwörter hervor und mit dem übergroßen Format betonen sie noch einmal die Größe und Bedeutung „Megalous“. Darüber hinaus limitierten sie die Auflage. Die Limitierung unterstreicht die Exklusivität. Im selben Augenblick wird dem Konsumenten sugge28 riert, dass jeder daran teilnehmen könne: „Megalou“ ist ein „Unikat für alle“. Es folgen im Text zahlreiche Schlagwörter, wie „Life-Service“, „Dynamik“ und „Identität“, welche den Deutungsrahmen des Spektakels unterstreichen: Der Standort ist optimal gewählt, das Umfeld erlaubt „Konsumkultur“ und das 29 Projekt entspricht dem Lifestyle-Bedürfnis nach „Sättigung und Erregung.“ Des Weiteren erhebt sich die Marketingagentur zur philosophischen Institution. Sie tritt als spiritueller Sinngeber der Kommerzkultur auf und will 30 für den materiellen Wiederaufbau einer religiösen Illusion sorgen. Mit der Anpreisung des neuen „Pilgerortes“ verkünden die Werbefachleute, „Megalou“ sei nicht nur ein Projekt, sondern vielmehr eine Haltung, ein Wertesystem, ein Lebensstil, sogar eine Philosophie. Für den französischen Philosophen Guy Debord zielt dieses Heilsversprechen „nicht mehr in den Himmel, sondern 31 beherbergt bei sich seine absolute Verwerfung, sein trügerisches Paradies.“

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Sulzer Immobilien AG: megalou - ein Zukunftsangebot , Winterthur, 1995, S. 32. A.a.O., S. 1. A.a.O., S. 17. Vgl. Debord (1996), S.20. A.a.O., S. 20.

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Die Kunden werden zu Pilgern und wallfahren zum angebetenen Kultobjekt: „Im ausgehenden Jahrtausend das erste Mal megalou zu erleben, ist ein 32 magischer Augenblick“, es ist „ […] ein Pilgerort für Leute aus unterschied33 lichen Welten […]“. Das ehemalige Industriegebäude wird zugleich zur faszinierenden Kathedrale und zum heiligen Pilgerort in einem: „Shopping Zentren werden in Zukunft zu Kathedralen, in denen das Begehren stimuliert werden muss, um gegen die Langeweile des heutigen Versorgungskonsums anzukommen. Wichtig dabei sei vor allem, die richtige Dramaturgie von Raum, Zeit und Ort, die in Szene gesetzt werden muss. […] Die Verbindung von Sulzer-Areal und megalou-Zeitgeist ermöglicht das Entstehen von magischem Mythos, 34 mit dem der Markt der Zukunft schon bald zur Realität werden kann.“

Abbildung 90: Flaneure über den Dächern Megalous. Quelle: Gebrüder Sulzer AG: Winterthur, Sulzer-Areal, Winterthur, 1992, S. 15.

„Megalou“ wird zu einem ähnlich spirituellen Ort des Konsums erkoren, wie die Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts, welche Walter Benjamin als 35 „Wallfahrtsstätten zum Fetisch Ware“ beschrieb. In einer Kombination von Industriekathedrale und Konsumort verwandelt sich „Megalou“ zu einem magischen und zauberhaften Bühnen- und Inszenierungsraum, in dem die Waren die materiellen und symbolischen Grundlagen des Glücks verkörpern. Die Kulturindustrie will mit diesem Versprechen das Denken der Menschen beeinflussen, ihr Bewusstsein formen und subtil die Massen dirigieren. Zur 32 | Sulzer Immobilien AG: megalou – ein Zukunftsangebot , Winterthur, 1995, S. 12 33 | A.a.O., S. 27. 34 | Megalou Medien-Service: megalou - ein Projekt der Sulzer Immobilien AG, Winterthur, Zürich, S. 4. 35 | Benjamin (1983), S. 50f.

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gleichen Zeit wird alles, was sich diesem Denken entgegensetzt, als Aberglau36 be und Häresie abgewertet. In diesem Prozess verbindet die postmoderne Ökonomie eine verhängnisvolle Umkehrung von Realität und Ästhetik, bei der die Popkultur mit ihrer schnelllebigen, experimentellen, subjektiven und spielerisch-konventionsfreien Avantgarde als Vorbild dient. Indem die Kunst – so etwa Campell’s Suppendosen oder Nouvels Architekturprojekt – mit ihrer Imaginationskraft eine wichtige Vorreiterrolle der Ästhetisierung des Alltags spielt, wird der Kapitalismus umso produktiver, wandlungs- und erfindungsreicher.

Abbildung 91: Werbung. Quelle: Sulzer Immobilien AG: Druckschrift megalou – ein Zukunftsangebot, 1992, S. 31f.

Wie in den Künsten der Schaffensprozess mit seiner künstlerisch-handwerklichen Technik in den Hintergrund tritt, werden die Produkte des Massenmarktes entstofflicht und mit symbolisch-kulturellen Eigenschaften aufgeladen. Die Firma Sulzer verkauft nicht das „Megalou“-Projekt, sondern „Bedeutung, Ironie und Lebensstil, sinnliche Versprechen und Zugang zu faszinierenden Insider-Kulturen. […] Die Idee der Marke assimiliert sich an die Idee des Künstlerischen. Nicht die materielle Qualität, das Sublime an der Ware bildet ihren 37 Gebrauchswert.“ War die Moderne noch weitgehend vom Primat der Funktionalität geprägt, die analog zur Ökonomie der Knappheit die Maxime „form follows function“ eines Buckminster Fullers vertrat, wandelt sich die Ökonomie der Postmoderne zur Verschwendungsökonomie und zum hedonistischen Gebrauch der 36 | Vgl. Horkheimer/Adorno (1969). 37 | Zielcke (2009), S. 11.

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verfügbaren Güter. Damit verbunden ist eine neue Art des Barocks und des Ornaments in der Architektur. Was innerhalb der Konkurrenz der Städte zählt, ist ihr Image, welches durch gebaute Ikonen wie „Megalou“ produziert wird. Diese Ikonen sind Teil der Inszenierung eines neuen urbanen Bühnenbilds: „Alles was hier gefeiert wird: die Integration der anderen Künste in die Architektur, die Annäherung an die Pop-Art, die Wiederkehr des Ornamentes, die Applikation von Symbolen, ist genau das, was die Ware Architektur zu einer Ware macht, deren Wert wesentlich ein Inszenierungswert ist. Architektur lässt die Grenze zum Bühnenbild verschwimmen. Ihre Funktion besteht darin, Szenisches zu schaffen – im Wesentlichen Szenen für den Konsum. Die Bedeutung ihrer Werte besteht in dem, was sie zum Image einer Stadt beitragen, und 38 sie präsentieren sich selbst als ihre eigene Verpackung.“ Die kapitalistische Gesellschaft hatte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der „protestantischen Haltung“ des Fleißes, der Disziplin und der Sparsam39 keit zu verabschieden begonnen. Anschließend entledigte sie sich in einer Verschwendungsökonomie ihrer ethischen Grundlagen sowie ihrer sozialen 40 und ökologischen Aufgaben. Dies führte zu einer Legitimationskrise, die seit ihren Anfängen immer wieder von Neuem zu bezwingen ist. Ihre fehlende Legitimation wird durch die perfekte Performanz, dem Spektakel, ersetzt. Der Gebrauchswert der Ware tritt hinter deren ästhetischen und symbolischen Wert zurück. In der Architektur drückt sich dieser Pop-Hedonismus in den ikoni41 schen Bauten aus. Deren enormer Zuwachs und „Überproduktion“ haben ihre Ursache darin, dass die Globalisierung und die expandierende Marktwirtschaft immer mehr in die Ästhetik der Stadt eingreifen. Das Symbolische und das Ästhetische, die Marke und das Design, drängen den Tauschwert auf Kosten des 42 Gebrauchswerts in den Vordergrund. „Megalou“ steht für diesen Prozess, auch wenn es ein ästhetisch gelungenes und städtebaulich sensibles Konzept darstellt. In diesem Prozess wurde dem Stararchitekten Jean Nouvel eine neue Rolle zugewiesen. Seine Autorität sollte bei der Vermarktung des Produkts „Megalou“ Orientierung und Vertrauen bei den Investoren schaffen. Damit vermarktete Nouvel nicht nur sein Projekt, sondern auch sich selbst. „Dort personalisiert sich die Regierungsgewalt zu einem Pseudostar, hier lässt sich der Star des Konsums als Pseudogewalt über das Erleben durch Plebiszit akklamieren. 38 | Böhme (2006), S. 10. 39 | Daniel Bell weist auf die Rolle der künstlerischen Avantgarde hin, speziell der amerikanischen Gruppe der „Jungen Intellektuellen“, welche den Puritanismus ablehnte und den Pop-Hedonismus als Ästhetik des Überflusses vorbereitete. Vgl. Bell (1991), S. 79ff. 40 | Vgl. a.a.O., S. 103. 41 | Koolhaas (2006), S. 107. 42 | Vgl. Böhme (1995), S.13f.

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[…] Indem er als Identifikationsmodell ins Spektakel übergeht, hat er auf jede autonome Eigenschaft verzichtet, um sich selbst mit dem allgemeinen 43 Gesetz des Gehorsams gegenüber dem Lauf der Dinge zu identifizieren.“ Der in einem großformatigen Foto abgebildete Architekt tritt als Star dieser Inszenierung auf. Er ist der Pionier, Autor, Schöpfer, Regisseur und das Idol dieser neuen Welt, er repräsentiert den kreativen Lebensstil und er verkörpert all das, wofür „Megalou“ steht: „Zukunftsangebot“, „Kultur“, „Exklusivität“, 44 „Multiperspektive“ und die „Fähigkeit, Dinge dreidimensional zu sehen […]“.

Abbildung 92: Die Autorität Jean Nouvels als Erfolgsmoment der Projektkonzeption von Megalou. Quelle: Sulzer Immobilien AG: megalou – ein Zukunftsangebot, 1992, S. 33f.

In den 1960er Jahren postulierten die Situationisten um Guy Debord die Stadt als Erlebnisraum. Sie forderten eine Stadt der Abenteuer und den Ausbruch aus dem sterilen Funktionalismus der Moderne. „Die Stadt der Zukunft, wie die Situationisten sie imaginierten, ist eine Stadt der Erlebnisse, der Entdeckungen, der Ausbrüche aus den Zwängen des geregelten Lebens. […] Der Architekt dieser Stadt ist nicht mehr der Entwerfer von einzelnen Bauten, er ist der Schöpfer von Prozessen und Atmosphären, die dem Ausleben der 45 individuellen Freiheit ihren Raum geben.“ Entsprach Megalou im Sinne der Situationisten dem Anspruch nach Erlebnis, Freiheit und Abenteuer? Die Forderung nach Erlebnis wird in diesem Projekt im Lifestyle und im Konsum der Marken umgesetzt. Hinter dem Mythos „Glück durch Konsum“ 43 | Debord (1996), S. 49. 44 | Sulzer Immobilien AG: megalou ein – Zukunftsangebot , Winterthur, 1995, S. 6. 45 | Borries (2004), S. 67.

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steht das Interesse nach wirtschaftlichem Ertrag. Mit den Worten des Marke46 tings: „Konsumkultur und Kulturkonsum profitieren voneinander.“ Mehr noch, der Konsum selbst wird zu einem Dienst am Nächsten. Die Werbefach47 leute beschrieben in ihrer Broschüre „die Kunst des Liebens“ als Consumer Loving Quality: „Consumer Loving Quality […] megalou bewegt sich lächelnd gegen den Strom des Versorgungskonsums und geht neue Wege: konsumentenorientiert, marktnah und trendig. Das Orientierungsangebot von megalou ist so überraschend wie stimulierend, ein Feuerwerk der Zukunft. Mehr Freestyle als Kür, schrill aber immer um Ideen voraus. […] megalou gestaltet gemeinsam mit dem Konsumenten die Dienstleistung der Zukunft zu einem stimulierenden Life-Service: gleichzeitig Sättigung und Erregung, Versorgung 48 und Happening, Haben und Sein.“ In Anlehnung an Erich Fromm beantworten die Werbefachleute die Frage nach dem Sinn des Lebens nicht mehr als ein „Haben oder Sein?“, sondern als ein „Haben und Sein!“. „Megalou“ soll sich wie die Weltausstellungen und Messen des 19. Jahrhunderts zu einem Volksfestplatz entwickeln, dessen Zielgruppe die konsumorientierte Mittelschicht ist. Walter Benjamin sah in den Weltausstellungen eine Phantasmagorie der Politik und der Handelswaren, die eine zukünftige Welt des Friedens und des allgemeinen Wohlstands propagierte. Sie schufen den Mythos der beginnenden Moderne, welcher den sozialen Fortschritt der Massen in 49 Verbindung mit dem Konsum versprach. „Die Weltausstellungen verklären den Tauschwert der Waren. Sie schaffen einen Rahmen, in dem ihr Gebrauchswert zurücktritt. Sie eröffnen eine Phantasmagorie, in die der Mensch eintritt, um sich zerstreuen zu lassen. Die Vergnügungsindustrie erleichtert ihm das, indem sie ihn auf die Höhe der Ware hebt. Er überlässt sich ihren Manipu50 lationen, indem er seine Entfremdung von sich und den anderen geniesst.“ Das Projekt „Megalou“ zeigt Parallelen zu Walter Benjamins Kulturanalyse, wenn man „Megalou“ als Synonym für den Begriff „Weltausstellung“ nimmt. Eine Kritik, die sich lediglich am Mythos und dem falschen Bewusstsein orientiert, fasst allerdings zu kurz. Der Mythos „Megalou“ darf nicht nur als Trugbild verstanden werden. Wie bei den Phantasmagorien der Pariser Passagen verbirgt sich auch in Jean Nouvels Projekt „Megalou“ ein geheimes Versprechen. Dieses Versprechen ist erkennbar in den Wunschbildern des Kollektivs, „mit denen es ‚die Unfertigkeit des gesellschaftlichen Produkts sowie die Mängel der gesellschaftlichen Produktionsordnung sowohl aufzuheben wie zu verklären‘

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Sulzer Immobilien AG: megalou - ein Zukunftsangebot , Winterthur, 1995, S. 35. Vgl. Fromm (1980). Sulzer Immobilien AG: megalou - ein Zukunftsangebot , Winterthur, 1995, S. 17. Vgl. Buck-Morss (2000), S. 114. Benjamin (1983), S. 50f.

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[…] suchte“. Auch Ernst Bloch führt aus, dass in den Phantasmagorien eine andere Ordnung der Gesellschaft antizipiert würde: „Die Geschichte der Menschheit in dieser Weise als ihren Traum verstehen, bedeutet nichts anderes, als dass in der Geschichte die wahren Triebe und Wünsche des Menschen, die nach Vollendung und Glück, zwar zum Ausdruck kommen, aber eben nur in ihrer verschobenen, zensierten, verdrängten Form. Solche Traumarbeit hindert die 52 Menschheit am Erwachen […].“ Wie Ernst Bloch sieht auch Walter Benjamin in diesem Traum einen Möglichkeitsraum einer humaneren Gesellschaft. Jean Nouvels „Megalou“-Projekt weist somit auf einen „anderen Ort“ hin und „reagiert genau auf jene Missstände der zeitgenössischen Stadt, die auch von den Situationisten analysiert worden sind; die Abwesenheit des Zauberhaften, des Unbekannten, des Unvorhersehbaren. Die urbanen Markenräume entern also jene Sinneslücke, die der moderne Funktionalismus in die Stadt 53 gerissen hat […].“ In der Hülle eines spektakulären Immobilienprojektes betritt das Fantasievolle und das Träumerische die Bühne des urbanen Raums. „Megalou“ wird zur „Wiederverzauberung“ des Städtischen und gibt uns, indem es einen Zauber in die entzauberte Welt bringt, ein Versprechen auf einen noch nicht eingelösten Möglichkeitsraum. In einem Dialog zwischen alt und neu berücksichtigt es den Erfahrungs- und Erinnerungshorizont der Menschen. Diese Vorgehensweise ermuntert sie, die wahrgenommene Atmosphäre des Sulzer-Areals mit ihren eigenen Wunschbildern oder Tagträumen zu verknüp54 fen. Diese so erzeugten Imaginationen können für eine zukünftige Stadtgestaltung fruchtbar gemacht werden. Mehr noch, die Stimmungen und Atmosphären der Räume auf dem Areal werden zu einem Medium des Nochnicht-Seienden, wie Ernst Bloch in seinem „Prinzip Hoffnung“ schreibt: „Item: wenn die Stimmung das allgemeine Medium des Tagträumens ist, so geben die Erwartungsaffekte […] die Direktion des Tagträumens. Sie geben die Linie, auf der sich die Fantasie der antizipierenden Vorstellungen bewegt und auf der diese Fantasie dann ihre Wunschstrasse baut […]. Die Wachträume ziehen, sofern sie echte Zukunft enthalten, allesamt in dieses Noch-Nicht-Bewusste, ins 55 ungeworden-ungefüllte oder utopische Feld.“ In ihrer utopischen Funktion sorgt Nouvels Methode nicht nur für die Ästhetisierung und Funktionalisierung des Realen, sondern auch für die Errichtung von Möglichkeitsräumen. Solche 51 | A.a.O., S. 27. 52 | Witte (2004), S. 118. 53 | Borries (2004), S. 68. 54 | Die Kraft des kognitiven Kartierens besteht immer auch darin, Möglichkeitsräume zu entwickeln: „Kognitives Kartieren berührt auf mancherlei und verschiedenartige Weise den Verlauf unseres Lebens. […] Wir haben Tagträume und Fantasien über reale und imaginäre Orte.“ Down/Stea (1982), S. 49. 55 | Bloch (1979), S. 127f.

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Räume können durch städtebauliche Strategien angeregt werden, die selbstorganisierenden Prozessen einen Raum bieten. In Winterthur zeigte sich dies am Beispiel Lagerplatz, bei dem eine nachhaltig ausgerichtete Stadtplanung den Erhalt eines gewachsenen sozialen Raums ermöglichte. Diese Möglichkeitsräume sind eine Absage an eine aus dem Funktionalismus abgeleitete Planungstechnik, deren Beschleunigungsmuster in Form groß angelegter Masterpläne 56 und rein profitorientierter Vermarktungsstrategien sichtbar werden. Eine Forderung nach Schaffung von Möglichkeitsräumen ist immer auch mit einer Entschleunigung verbunden, bei der es darum geht, die Autopoesie städtischer Entwicklungen wahrzunehmen, zu begreifen und zu unterstützen. Kehren wir nochmals auf den Verlauf des Projektes zurück. Obwohl es sich um ein sensibles und städtebaulich hervorragendes Projekt handelte, scheiterte Megalou. Wie konnte es dazu kommen? Mit dem „Stararchitekten“ Jean Nouvel hoffte die Sulzer Immobilien AG, ihr Projekt über die Stadtgrenzen Winterthurs hinaus bekannt zu machen und 57 im Sinne eines „Bilbao-Effektes“ ein zahlreiches Publikum anzulocken. Die Absicht war eindeutig: Der Ort sollte durch eine architektonische Zeichenhaftigkeit aufgewertet, der Bekanntheitsgrad des Sulzer-Areals erhöht und das Stadtimage geschickt innerhalb einer Wettbewerbssituation platziert werden. Durch 58 einen „WOW-Faktor“ wollte die Firma Sulzer das Areal medienwirksam als Marke mit immateriellen Facetten ausstatten: mit Atmosphäre, Emotionen, 59 Mythos, Image und Prestige. Die Planer hatten beabsichtigt, mit „Megalou“ nicht nur Investoren, sondern auch ein zahlreiches Publikum anzulocken und das bestehende Konsum- und Freizeitangebot der Altstadt zu ergänzen und zu erweitern. Mit dieser Realisierung wollte man eine städtebauliche Ikone schaffen, die ihren Beitrag zum Stadtbranding Winterthurs leisten sollte. Die Planung sah die Konstitution der Bauträgerschaft für das Jahr 1993 vor. Im Jahre 1994 war die Baueingabe vorgesehen und ein Jahr später sollte mit der Bauausführung begonnen werden. Die planerischen Vorbereitungen 56 | Vgl. Borries (2004), S. 87. 57 | Als „Bilbao Effekt“ ging diese baskische Stadt in die Architekturgeschichte ein. Mit einem neuen Museum gelang es der Stadt Bilbao, zahlreiche Besucher anzulocken. 58 | Das Stadt-Branding will Unterscheidbarkeit und Unverwechselbarkeit schaffen, um sich mit spektakulären Bauten, den sogenannten Wow!-Faktor-Bauten, in der Konkurrenz der Städte behaupten zu können. „Wow!-Faktor-Bauten kennt man auch unter den gleichfalls unscharfen Begriffen ‚Corporate Architecture‚, ‚ikonisches Bauen‘, ‚Signet-Architekturen‘ oder ‚Signature Buildings‘. Häuser sind das, die so identitätsstiftend und unvergleichlich sein sollen wie eine persönliche, charaktervolle Unterschrift. Der Bau ist das Ereignis, die Baukultur ist die Eventgesellschaft. Wow eben.“ Matzig (2008), S. 19. 59 | Vgl. Klaus (2006), S. 55.

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waren so weit gediehen, dass in den Jahren 1995 bis 1998 die erste Neubauetappe hätte realisiert werden können. Zwar bewilligte der Winterthurer Stadtrat im Dezember 1995 den Bau von „Megalou“, doch erfolgte im Jahre 1996 ein Rekurs des Verkehrsklubs der Schweiz (VCS). Der Widerstand richtete sich gegen die geplanten Parkplätze, welche die Stadt bewilligt hatte. Diese Intervention verursachte einen Aufschub des Baubeginns, was für die Firma Sulzer einen herben Rückschlag bei der Vermarktung des gesamten Areals bedeute60 te. Zwei Jahre später lag eine rechtskräftige Baugenehmigung vor, nachdem es zu einer Einigung mit dem VCS gekommen war. In der Zwischenzeit hatten sich jedoch die bisherigen Interessenten aus dem Projekt zurückgezogen. Die Firma Sulzer führte die Hauptgründe des Scheiterns auf die mangelnde 61 Etappierbarkeit und das Fehlen von Investoren zurück. Neben dem Rekurs des VCS gab es noch weitere Ursachen für das Scheitern. Diese lagen in erster Linie in der Wirtschaftsflaute in Kombination mit der Liegenschaftskrise und der Furcht vor einer Baukostenüberschreitung durch Jean Nouvel. Das Bauprojekt schien mit den veranschlagten 200 Millionen Franken vor allem wegen der ungelösten Nutzerfrage für Winterthurer Verhältnisse überdimensioniert 62 zu sein. Angesichts dieser verfahrenen Situation hätte nur noch ein beherztes Einschreiten der Firma Sulzer, nämlich das Umbauprojekt in die eigenen Hände zu nehmen, das Blatt wenden können. Dies geschah jedoch nicht. Da sich die meisten Investoren zurückgezogen hatten, verfiel die Baubewilligung für das Großprojekt am 6. Juli 2001. Was von dem Projekt übrig blieb, war das über die Stadtgrenzen Winterthurs hinausgehende Interesse am SulzerAreal. Nachdem die Vision einer ersten Großüberbauung gescheitert war, orientierte sich der Konzern um und kontaktierte das Planungsbüro Metron AG, Brugg. Dieses Büro leitete ein gemeinsames Marketing zwischen den Projektentwicklern, den Investoren, der Firma Sulzer und dem Stadtmarketing Winterthur in die Wege. Mit dieser Entscheidung nahm die Sulzer Immobilien AG von spektakulären Großprojekten Abstand und förderte stattdessen kleinere Bauvorhaben. Einer erfolgreichen Entwicklung des Sulzer-Areals bereitete diese Entscheidung keinen Abbruch. Im Gegenteil. Auch wenn eine Neuauflage dieses Projekts nicht mehr infrage kam, schritten die Planungen zunächst langsam, aber zu Beginn des neuen Jahrtausends, immer schneller voran. Trotz „Megalous“ Scheiterns hatte Jean Nouvels Konzept tief greifende Auswirkungen auf die Arealentwicklung. Im Vergleich zu den Vorschlägen anderer Mitbewerber, wie etwa Richard Rogers, welcher das Areal weitgehend abbrechen und danach einen neuen Stadtteil aufbauen wollte, oder Luigi Snozzi, welcher vorschlug, eine neue Stadt unter eine Schedhalle zu errichten, schlug 60 | Koll-Schretzenmayr/Müller (2002), S. 6. 61 | Vgl. a.a.O., S. 7f. 62 | Vgl. a.a.O., S. 7.

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der französische Architekt einen völlig anderen Weg ein. Mithilfe ausgedehnter Ortsbegehungen des Industriegeländes entwickelte er gemeinsam mit seinem Team eine kognitive Karte und imaginierte eine zukünftige Umgestaltung des Sulzer-Areals. Seine Entscheidung, die bestehenden Baustrukturen und Baufelder zu erhalten, war die wichtigste Erkenntnis des Studienwettbewerbes von 1992. Damit gab Nouvels Planung die Strategie vor, wie mit dem Raum zukünftig zu verfahren sei. Der französische Architekt hatte für das Sulzer-Areal die grundlegenden Prinzipien aufgestellt, wie man unter Erhalt der wesentlichen Strukturen bauen sollte. Seine Methode nahm zahlreiche Gestaltungsideen vorweg, die erst später umgesetzt wurden, so etwa der Umbau des ehemaligen Magazins zu den Lofts G48, der Gießereihallen zu den Kranbahnen 1 und 2 oder der Schmiede und Werkzeugfabrik zum heutigen Pionierpark (vgl. Anhang).

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Abbildung 93: Lofts G 48. Quelle: Krug, 2010.

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Die Planungen und Projekte nach „Megalou“ 63 Als erste Liegenschaft des Sulzer-Areals wurden die Lofts G48, parallel zum Geleisareal zwischen Pionierstraße und Bahnmeisterweg gelegen, umgebaut. Neben Wohnungen entstanden in dem ehemaligen Hauptmagazin 27 Wohnlofts und rund 600 Quadratmeter moderne Verkaufs- und Dienstleistungsflächen. Beim Umbau berücksichtigten die Architekten Baldinger, Zürich, die denkmalpflegerischen Vorgaben. Sie bewahrten den aus dem Jahre 1912 stammenden Eisenskelettbau mit seiner Sichtbacksteinfassade. Mit einem sensiblen Vorgehen gelang es den Planern, den industriellen Charakter des denkmalgeschützten Lagergebäudes G48 mit seinen genieteten Stahlstützen und den Hourdisdecken in eine Neunutzung zu integrieren. Ergänzt wurde der Bau durch Glascontaineraufbauten, die einen weiten Blick über die Stadt und die Geleisanlagen erlauben. Der Bezug des Gebäudes erfolgte im Dezember 2000. Dieses Projekt ähnelt dem vorgeschlagenen Konzept Jean Nouvels. Der französische Architekt hatte die Absicht, dort ein Empfangsgebäude für Wissenschaftler und Wohnungen zu realisieren. Das bestehende Gebäude sollte wiederhergestellt und aufgestockt werden. Die Kranbahn, zuvor als Gießerei genutzt, wurde in den Jahren 2002 bis 2004 zu Loft- und Geschäftsräumen umgebaut. Die Architekten Kaufmann, van der Meer+Partner AG/Zürich übernahmen die Planungsarbeit. Dieses Überbauungsprojekt orientierte sich, wie auch das Konzept Jean Nouvels, an der gewachsenen Struktur des Areals. Das Architektenbüro schlug eine kammartige Bebauungsstruktur vor, welche die Höhe und Struktur der vorhandenen Bausubstanz übernahm und einen Teil der bestehenden Bauten ins neue Konzept integrierte. Ein dialogischer Umbau von alt und neu erlaubte, die bestehende historische Kranbahn und Teile des ehemaligen Gießereigebäudes zu übernehmen. Es entstand eine großzügige Anlage im Hochpreissegment mit 95 Wohneinheiten und rund 2000 Quadratmeter Dienstleistungs- und Gewerbefläche. Auch dieses Umbauprojekt ähnelt auffallend den Skizzen Nouvels, denn auch hier wurden die Bauvolumen berücksichtigt und Wohncontainer aufgesattelt. Anstelle der restlichen ehemaligen Gießereihallen zwischen Kranbahn I und der Hektarenhalle entstand ein vierstöckiges Schulungsgebäude des Zentrums für Ausbildung im Gesundheitswesen (ZAG), die Kranbahn II. Die Entwürfe für den neuen ZAG-Campus stammen aus der Feder des Architekturunternehmens Kaufmann, van der Meer+Partner AG/Zürich. Das Gebäude konnte im Jahre 2008 eröffnet werden und umfasst auf ca. 13.000 Quadratme63 | Das Kesselhaus und die City Halle wurden bereits in den vorhergehenden Kapiteln skizziert. Die nachfolgende Darstellung der Projekte orientiert sich unter anderem an der Beschreibung von Huber (2006b), S. 26ff.

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tern moderne Lehrsäle, Studienräume und Infrastruktur-Einrichtungen. Das Gebäude fügt sich harmonisch in die ehemalige Industriebaustruktur ein.

Abbildung 94: Kranbahn I. Quelle: Krug, 2010.

Mehrere alte Lagergebäude, darunter die historischen Holzbauhallen von 1859, mussten dem Gebäudekomplex Sieb 10 weichen. Wie bereits bei der Kranbahn übernahm auch hier das Architekturbüro Kaufmann, van der Meer+Partner AG/Zürich die Planung eines Neubaus mit gemischter Nutzung. In den Obergeschossen entstanden Etagen-, Maisonette- und Dachwohnungen. Das Erdgeschoss lässt sich flexibel als Wohn-, Gewerbe-, Geschäfts- oder Gastronomiebereich nutzen. Der Gebäudekomplex liegt durch seine unmittelbare Bahnhofsnähe verkehrstechnisch günstig. Nur wenige Gehminuten vom Hauptbahnhof entfernt realisierte die Intershop Holding AG die Umnutzung der alten Schmiede und Werkzeugfabrik zum Pionierpark. Der Pionierpark mit seinen 7000 Quadratmetern an Büro- und Geschäftsräumen schließt unmittelbar an das Kesselhaus an. Das ehemalige Industriegebäude erhielt einen modernen Aufbau aus Stahl und Glas. Die Rückseite des fünfgeschossigen Neubaus, dessen Fassade in Richtung Zürcherstraße erhalten blieb, wurde aus Sichtbeton gestaltet. Eine Passage führt in einen Innenhof, der die Verbindung zum Sieb 10 herstellt.

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Abbildung 95: Kranbahn II. Quelle: Krug, 2010.

Abbildung 96: Sieb 10. Quelle: Krug, 2010.

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Aus den ehemaligen Verwaltungsgebäuden der Firma Sulzer, an der Zürcherstraße 15-21 gelegen, entstand das Werkhaus. Die Intershop Holding AG richtet darin im Jahre 1999 zahlreiche Büro-, Schulungs- und Einzelhandelsgeschäftsräume ein. Es blieben die Sichtbacksteinfassade und die filigranen Stahlfenster erhalten. Im Gegensatz zum Pionierpark planten die Architekten Max Lutz+Partner/Winterthur bei diesem Gebäude keine Aufstockung. Die ehemalige Radiatorengießerei, ein Hallenbau aus dem Jahre 1896, wurde erhalten. In ihm entstand das Ausbildungszentrum Winterthur. Im Inneren der Halle realisierte der Architekt Markus Bellwald/Winterthur im Jahre 2002 ein Schulungszimmer als „Haus-im-Haus-Konzept“.

Abbildung 97: Werkhaus. Quelle: Krug, 2011.

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Im Jahr 2005/06 fand die Testplanung für den Bereich 2 statt, um auf dem ehemaligen Standort des „Megalou“-Projekts eine neue städtebauliche Lösung zu finden. Als besten Entwurf wählte die Jury das Projekt „Superblock“ der Architekten Krischanitz+Frank aus. Flächenmäßig ist dieses Projekt dem Jean Nouvels vergleichbar und stellt nach „Megalou“ mit seiner Größe, aber auch mit seiner Namensgebung, von Neuem ein spektakuläres Bauprojekt auf dem Sulzer-Areal dar. Die Architekten beabsichtigten, den Gebäudeblock zusammen mit einem ausgedehnten Innenhof in die Struktur der ehemaligen Hektarenhalle einzupassen. Im Gegensatz zu Nouvel soll bei diesem Um- und Neubau jedoch die Geschichte des ehemals industriell genutz64 ten Gebäudes in einem „Raum und Haut-Konzept“ als räumlich-mediale Gedächtnisspur reflektiert werden. Das bedeutet, neben der Strukturerhaltung die geschützten Hallenfassaden in den neuen Baukörper zu integrieren.

Abbildung 98: Superblock. Quelle: http://www.sulzerareal.com/ projekte/superblock.html, Stand: 30.03.2007.

64 | Vgl. Sulzer Immobilien AG: Bereich 2, zweistufiges Planungsverfahren, Testplanung: Bericht des Beurteilungsgremiums , Brugg, 2006, S. 35.

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Wahrnehmung und Imagination – Die Freiraumgestaltung

Abbildung 99: Freiraumgestaltung vor dem Technopark. Neue Geschichten erfinden bedeutet, das Alte mit dem Neuen auf überraschende Weise zu kombinieren. In die Lore ließen die Landschaftsarchitekten Bäume pflanzen. Quelle: Krug, 2010.

Im Jahre 1995 beauftragte die Firma Sulzer die Landschaftsarchitekten Vetsch Nipkow Partner AG, die Grundgedanken eines „Gestaltungsleitbilds Freiraum“ 65 zu formulieren. Die Planer sollten die Charakteristik der Industriearchitektur untersuchen, um daraus Ideen für eine zukünftige Gestaltung entwickeln zu können. Dabei war die architekturhistorisch bedeutsame Einheit des Sulzer-Areals zu respektieren und dessen Erscheinungsbild bei einer Umgestaltung in „Form und Struktur“ zu bewahren. In Anlehnung an Jean Nouvels Vorarbeit empfahlen sie ihren Auftraggebern eine sensible Umgestaltung: Arealstruktur und gestalterischer Ausdruck vermitteln ein für diesen Ort typisches Stimmungsbild, das in den Grundzügen in die Zukunft weitergetragen 65 | Vgl. Vetsch Nipkow Partner AG: Gestaltungsleitbild Freiraum, 2. Auflage, Zürich, 2002.

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werden soll. Die Entwicklung wird deshalb nicht durch kompromisslosen Abbruch und Neubau bestimmt, sondern bedeutet einen rücksichtsvollen Wandel, der mit sehr viel Feingefühl zu vollziehen ist. Dieser Prozess der Wandlung folgt einem gestalterischen Verhalten, das sich von anderen Situationen unterscheidet. Die Intensivierung der Auseinandersetzung mit dem Bestehenden hinterlässt einen „Print“, dessen Eigenheit das Neue auf dem Areal mitbestimmen 66 soll.

In ihrer Untersuchung nahmen die Architekten eine künstlerische Position ein und verknüpften ihre visuellen Wahrnehmungen mit „Tagträumen und Assozia67 tionen“. Anschließend fassten sie die Ergebnisse, worin ein Beitrag für die Generierung einer ästhetischen Formensprache des Areals geleistet werden sollte, in Form von Fotos, Fotomontagen, Collagen, Skizzen, kurzen Erläuterungen und einem Thesenpapier (vgl. Anhang) zusammen. Die mediale Funktion des Raums äußerte sich in dem Gestaltungsleitbild in einer dynamischen 68 Einheit von Substanz, Wahrnehmungen und Imaginationen. Der materielle Raum und seine Wahrnehmung stellten mit den künstlerischen Ausdrucksformen der Gestalter, den Fotos, Collagen und Frottagen, eine dynamische Einheit her, welche die Gestaltung des Areals vorbereiten sollte. In einem schöpferischen Umgang mit der Geschichte des Areals sollte die Freiraumgestaltung die Erzählungen über diesen Raum fortsetzen: „Der gestalterische Entwurf auf dem Sulzer-Areal basiert auf einer Geschichte. Diese ist nie abgeschlossen. Der gestalterische Entwurf auf dem Sulzer-Areal ist ein Weitererzählen und 69 basiert deshalb im Wesentlichen auf der vorgegebenen Arealstruktur.“ Ihr Konzept verstand das Sulzer-Areal als Archiv und atmosphärischen Bühnenraum, in welchem die Spuren der ehemaligen industriellen Produktion immer noch spürbar waren. Die Gebäude, die Straßen, die Plätze, das Inventar mit seinen Kränen, Hochregalen, Waschtrögen, Lüftungskanälen und Kühltürmen verdichteten sich für die Landschaftsarchitekten zu einem wahrnehmbaren Stimmungsbild, das in ihnen zahlreiche Imaginationen und Assoziationen auslöste. Beim Gang durch prägnante Freiräume und beim Durchschreiten lichter Hallen dominieren Gerüche ölgetränkter, blanker Stahlteile, der Lärm ist noch mancherorts beträchtlich und das Chaos gross. Andernorts ist bereits Stille eingekehrt, ist alles noch an seinem Platz, als seien die Räume zur Theaterbühne geworden. 66 | A.a.O., S. 2. 67 | Vgl. a.a.O., S. 49. 68 | Vgl. Kramer (2008), S. 50f. 69 | Vetsch Nipkow Partner AG: Gestaltungsleitbild Freiraum , 2. Auflage, Zürich, 2002, S. 66.

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Im Wissen um die Geschichte sollen gestalterische Qualitäten und typische 70 Merkmale der Arealgestaltung in die Zukunft transferiert werden. 71

Wahrnehmung bedeutet, den Leib einzusetzen. Er übernimmt die Rolle eines sensiblen Geigerzählers, der auf die Umwelt reagiert und die vielfältigen 72 Eindrücke aufnimmt. Die Wahrnehmungen waren für die Architekten und Mieter des Lagerplatzes bedeutsam, um die Möglichkeitsräume aufzuspüren. Die sinnlichen Reize ermöglichten es ihnen, die Informationen über die räumliche Umwelt zu 73 sammeln, zu filtern, abzuspeichern und abzurufen.

Abbildung 100: Fotomontage des Luftbildes und die gestalterischen Interpretationen: Den Gießereiplatz (später Katharina Sulzer Platz) beschrieben die Landschaftsarchitekten wie folgt: „Ausdruck: grosszügig, dynamisch, in sich geschlossen, linear, rückwärtig, geborgen.“ Quelle: Vetsch Nipkow Partner AG: Gestaltungsleitbild Freiraum, 2. Auflage, Zürich, 2002, S.63f.

70 | A.a.O., S. 9. 71 | Bergson (1982). 72 | Wahrnehmung beschreibt Schmitz als leibliche Kommunikation vom Typ der Einleibung, der sich als Eindruck – als Gefahr oder Vergünstigung – äußert. Vgl. Schmitz (2007), S. 33. 73 | Vgl. Downs/Stea (1982), S. 23.

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Das Sehen nahm bei den Ortsbegehungen eine zentrale Rolle ein, da durch das Auge eine Reihe anderer Reize – Geräusche oder Gerüche – eindeutiger bestimmt werden konnte. Erst mit diesem Sensorium ließen sich die ästhetischen Interpretationen über den wahrgenommenen Ort treffen. Da alle Empfindungen des sensorischen Apparates als Erinnerungen ins Ultrakurz-, Kurz- oder Langzeitgedächtnis verschoben werden, ist die Wahrnehmung immer mit dem Gedächtnis gekoppelt. Es gibt keine Wahrnehmung, die nicht mit Erinnerung verknüpft ist: „Die Wahrnehmung ist niemals bloss ein Kontakt des Geistes mit dem gegebenen Gegenstand; sie ist immer von Erinnerungsbildern durchsetzt, 74 welche sie vervollständigen, indem sie sie erklären.“ Wie Nouvel denken, heißt für die Architekten, den Raum stimmungsmässig wahrzunehmen, ihn zu reflektieren, über ihn nachzudenken, dessen Möglichkeitsräume herauszulesen – und dann die Schlüsse daraus zu ziehen. Das heisst, das Alte zu prüfen, es zu zitieren, es zu überhöhen oder gar zu löschen, falls es nicht mehr benötigt wird; es heißt auch, die Geschichten des Raums aufmerksam und sensibel zu lesen und anschließend neue Geschichten zu erfinden. Jahre später gelang es den Landschaftsarchitekten mit behutsamen Eingriffen, ihr erarbeitetes Gestaltungsleitbild umzusetzen. Ein Beispiel dafür ist der Katharina Sulzer Platz, der zwischen Kranbahn und ehemaliger Eisengießerei zu finden ist. Der Platz ist mit einem umlaufenden, rötlich-braun eingefärbtem Betonband eingefasst und im Zentrum fein gekiest – mit Kies, der mit rostenden Stahlabfällen in gleicher Körnung vermischt ist, als ob die Restmaterialien aus den Hallen ins Freie gekehrt worden wären. Je nach Lichteinfall und Luftfeuchtigkeit verändert der Platz seine Farbe, von Grau über Braun bis Rostrot. Unterbrochen wird die Weite nur durch zwei plan in den Boden eingelassene, seichte Wasserbecken, in denen wiederum Stahlkörper liegen, als ob auch hier aus Zeiten der einstigen Giesserei noch Teile vergessen worden wären. Nachts leuchten die Teiche in zartem Licht. [...] Es gibt zahlreiche behutsame Eingriffe, von denen einige nur teilweise erkennbar sind. So gibt es Unebenheiten im Boden, in denen sich Wasser zu Pfützen sammelt und Rostspuren hinterlässt, wenn es verdunstet. […] Das Bild des eben erst verlassenen Industrieareals fasziniert, doch es 75 kann auch zwiespältig sein, denn der Ort wirkt bisweilen auch verlassen.

Das Konzept der Landschaftsplaner beruhte auf einer homogenen Oberflächengestaltung, die sich je nach Witterung verändern kann. Licht und Regen wirken auf die temporäre Gestaltung des Platzes ein. Bei Regenwetter füllen 74 | Bergson (1982), S. 127. 75 | Hornung (2004), S. 41ff.

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sich die künstlich angelegten Pfützen und spiegeln im Wasser die Bilder der Architektur, nachts wird der Platz mit den blauen, an den Gebäudefronten befestigten Lichtbändern eingerahmt. Der Katharina Sulzer Platzes gleicht dann einer Theaterbühne, deren Versatzstücke der historische Kran, die neue, fahrbare Bühne und die Pappelgruppe bilden. Die Freiraumgestaltung auf dem Sulzer-Areal nimmt neben der ästhetischen auch eine soziale Rolle ein. Hier geht es weniger um die ökologische Aufgabe, das Regenwasser zu filtern, die Luft zu reinigen oder die Luftfeuchtigkeit zu regulieren, sondern vielmehr darum, Treffpunkte und Pausenräume für die Menschen zu schaffen. Nach der Fertigstellung der benachbarten Kranbahn I im Jahre 2008 wurde zwischen beiden Gebäudekomplexen ein schmaler Gehweg angelegt. Den Passanten ermöglicht er einen Blick in die Wohnungen und Büros der Kranbahn I und in die Seminarräume der Kranbahn II. Während die jungen Leute in den Vorlesungen sitzen, arbeiten gegenüber die Angestellten in ihren Büros. Der Sichtkontakt lässt Nachbarschaften entstehen und schafft Kommunikation. Die Landschaftsarchitekten ließen im Zwischenraum beider Gebäudekomplexe die Büsche in große „Topfbeutel“, auf dem Katharina Sulzer Platz die Bäume in kreisförmige Stahlöffnungen pflanzen. Die angeketteten Stühle auf dem Katharina Sulzer Platz lassen sich nur wenige Meter verschieben. Hier dominiert das Design, es lässt kaum Veränderungen zu und verweist den kommunikativen Erholungs- und Möglichkeitsraum auf einen fest definierten Platz. Ein völlig konträres Bild vermittelt der Lagerplatz. Im Jahre 2004 hatten die Mieter des angrenzenden Bürogebäudes die Zwischenräume der Schienen mit Erde gefüllt und zahlreiche Beete angelegt. Ergänzt durch das zusammengewürfelte Gartenmobiliar diente hier der Garten als Pausenraum. Sechs Jahre später wuchsen an dieser Stelle anstelle von Gemüse eine Kräuterwiese und junge Bäume. Die Angestellten des Büros verbinden mit diesem Garten einer Verschönerung des ausrangierten und tristen Geleisfeldes durch Begrünung brachliegender Flächen. Während im Jahre 2004 der Garten mit dem Wunsch nach urbaner Selbstversorgung verknüpft war – die Mieter nahmen den brachliegenden Streifen in Besitz und züchteten darauf ihr Gemüse –, dient im Jahre 2010 dieser Grünstreifen ausschließlich als begrünter Biotop und Pausenraum. Ausgeblendet wurde damals der Grund, welcher nach einem Unfall kontaminiert wurde. Tief unter der Erde befindet sich der „Ölsee“, der mittels Grundwasseruntersuchungen in regelmäßigen Abständen untersucht wird.

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Abbildung 101: Katharina Sulzer Platz. Quelle: Krug, 2009.

Abbildung 102: Katharina Sulzer Platz, Außenraumgestaltung. Quelle: Krug, 2011.

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Abbildung 103: Gärten an den Bahngeleisen des Lagerplatzes. Quelle: Krug, 2004.

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Abbildung 104: Sieben Jahre später. Gärten an den Bahngeleisen des Lagerplatzes. Quelle: Krug, 2011.

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Abbildung 105: Portierhäuschen. Quelle: Krug, 2011.

Die Hightech-Branchen, welche in den 1990er Jahren eine hohe Wachstumsdynamik verzeichneten, beeinflussten mit ihren technologischen Innovationen viele Wirtschaftszweige. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts kommt der Kulturwirtschaft 1 2 eine ähnliche Bedeutung zu. Die „kreative Stadt“ ist mit ihrer Kulturökonomie und Kreativwirtschaft zum Hoffnungsträger der Wirtschaftsförderer geworden. Zunehmend erkennen die Kommunen das kreative Kapital als eine Kraft des ökonomischen Aufschwungs und der stadträumlichen Aufwertung der Städte 1 | Die Kulturwirtschaft mit ihrer Innovationspolitik sieht Christof Weckerle eng mit der wissensbasierten Ökonomie verknüpft. Vgl. Weckerle (2008), S. 7. 2 | Vgl. Kunzmann (2008), S. 3.

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und Regionen. Im Jahre 2005 erzielte die Kreativwirtschaft ein Gesamtumsatz3 volumen von insgesamt 61,7 Milliarden Schweizer Franken. Diese Zahlen verdeutlichen das sich verändernde gesellschaftliche Paradigma. Es führt dazu, dass die Bedürfnisse der kreativen Klasse in den Mittelpunkt der Stadtentwicklung rücken. Somit stellen sich in diesem Kapitel folgende Fragen: Mit welchen Strategien reagieren die Städte auf diesen Paradigmenwechsel? In welcher Weise ist die Kulturwirtschaft mit der Neugestaltung des städtischen Raumes verknüpft und welche Bedeutung nimmt die Schaffung von kreativen Möglichkeitsräumen bei der Stadtplanung ein?

Temporäre Umnutzungen Die temporären Zwischennutzungen des Sulzer-Areals führten zu Veränderungen, die sich unbemerkt, schrittweise und unspektakulär vollzogen, sich dafür aber nachhaltig auf die weitere Arealentwicklung auswirkten. Die Zwischennutzungen eröffneten vielen jungen Leuten zahlreiche Möglichkeitsräume für ihr Start-up-Unternehmen und das Raumangebot mit seinen günstigen Mieten bot die besten Voraussetzungen, an diesem Ort eigene Ideen verwirklichen zu können. Den Startschuss für die temporären Umnutzungen gab die Firma Sulzer. Zu Beginn der 1990er Jahre entschloss sie sich, Teile des Sulzer-Areals zu vermieten und für Zwischennutzungen freizugeben. Nachdem die ersten Mieter einzelne Arbeitsräume und Büros angemietet hatten, stellte sich sehr schnell heraus, dass dieser Ort für die Neuankömmlinge einen besonderen Charme ausstrahlte. Nichts war perfekt, vieles war improvisiert und manches voller Überraschungen. Die Gebäude wie der Block oder die Hochschule wurden umgebaut, die Ateliers, in welchen sporadische Apéros stattfanden, entwickelten sich zu gut besuchten Gaststätten und die alten Gemäuer, die anfangs noch nach Öl und Rauch rochen, veränderten sich zu Werkstätten und Büros. Die Möglichkeiten, auf dem ehemaligen Industriegelände Arbeitsräume anzumieten, wurden sehr schnell publik. Dies hatte zur Folge, dass sich auf dem Sulzer-Areal, speziell auf dem Teilareal Lagerplatz, immer mehr Start-up-Firmen niederließen. So hatte im Jahre 2009 der Lagerplatz mit seinen vielfältigen Nutzungen einen Möglichkeitsraum geschaffen, in welchem die Mieter ihre kreativen Netzwerke aufbauen konnten. Die Nutzungen setzten sich aus den Sparten Dienstleistung, Handel, Handwerk, Bildung, Kultur, Gastronomie, Therapie und Freizeit zusammen. Der Lagerplatz leistet damit einen bemerkenswerten Beitrag zum Image der Stadt Winterthur. Obwohl das Wohnen an diesem Ort erst mit dem neuen Zonenplan vorgesehen ist, herrschte dort ein reges, kleinstädtisches Treiben, was Stephan Haoyz, ein Mitarbeiter des Lagerplatzvereins, mit sensiblen Worten beschreibt. 3 | Vgl. Weckerle (2008), S. 13.

Möglichkeitsräume auf dem Sulzer-Areal

Die Handwerker der Gewerbebetriebe […] sind die ersten am Morgen. […] Zwischen acht und neun Uhr kommen die Schüler, Studenten und Lehrer […] sowie die „Bürolisten“ (Architekten, Werbebüros, Computersupport, etc.). Der Bistro-Kiosk ist schon seit dem frühen Morgen offen, während die Läden ein wenig später öffnen. Besonders auffallend sind das Fahrradgeschäft an prominenter Lage, die Brockenhalle, der Snowboard- und Skatebord-Shop und das Möbelgeschäft. Den ganzen Tag über kurven die Velokuriere über den Platz, die sich auf dem zentralen Lagerplatz eingemietet haben. […] Über Mittag nutzen vor allem Schüler die Sitzmöglichkeiten vor dem Kulturbetrieb „Kraftfeld“ und dem Restaurant „Outback“ […]. Noch fehlt mittags auf dem Lagerplatz ein wirkliches Gastronomieangebot. In der Umgebung hat es aber einige Gastrobetriebe, die stark vom Lagerplatz profitieren dürften. Nach dem Mittag bringt der „Block“ mit Kletterhalle, Kartbahn und Skatehalle vermehrt Betrieb auf den Lagerplatz. Vor allem die Jugendlichen mit ihren Skateboards kommen und gehen nun bis etwa 21 Uhr regelmässig und sorgen für optische, aber auch akustische Reize. […] Am Nachmittag ist ein grosses Kommen und Gehen: in den Büros finden Sitzungen und Meetings statt. Jetzt kommen auch die letzten Mieter und Angestellten an ihre Arbeitsplätze: Im Kultur- und Gastronomiebereich gelten andere Arbeitszeiten. Ab 16 Uhr ist eine Bewegung von Schülern und Studenten Richtung Bahnhof und Altstadt auszumachen. Auch die ersten Büros machen Feierabend, während andernorts noch lange Licht brennt, teils bis weit in die Nacht hinein. Anderswo auf dem Lagerplatz finden Kurse und Workshops statt. Um 17 Uhr öffnet das australische Restaurant „Outback“, auf der Kartbahn drehen die ersten Feierabend-Rennfahrer ihre Runden, und auch das Badminton-Center ist jetzt am besten frequentiert. Das Fahrradgeschäft hat noch bis Ladenschluss Hochbetrieb. Am Donnerstagabend und am Samstag öffnet ein Secondhand-Laden seine Tore. Und wenn vor dem „Kraftfeld“ plötzlich unzählige Fahrräder abgestellt werden, hat auch das gut besuchte Kulturlokal geöffnet; unter der Woche etwas früher als am Wochenende. In den Sommermonaten ist auch die Gartenbeiz des Kraftfeldes ein Anziehungspunkt, vor allem während des Sandburgen-Wettbauens in den Sommerferien. Auch von anderen Orten ertönt Musik. Die „Labüsch Bar“, einem Künstleratelier angegliedertes Lokal im Untergeschoss, kann für Anlässe jeglicher Art gemietet werden und das Tonstudio der Funk-Jazz-Band „The Loops“ wird intensiv genutzt; oft herrscht Betrieb bis spät in die Nacht hinein. Für viel Autoverkehr und ausgelastete Parkplätze sorgen am Abend die Veranstaltungen in der an den Lagerplatz angrenzenden Cityhalle. Am Wochenende ist das Sulzer-Areal Hauptroute für Velofahrer und Fussgänger Richtung Stadt – Richtung Bars und Clubs. Um 24 Uhr schliesst das Outback. Im Kraftfeld hat es sich unter der Woche um 24 Uhr und am Wochenende gegen 4 Uhr ausgefeiert. Vereinzelte Besucher von

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Anlässen in der Altstadt kehren auf den Lagerplatz zurück, wo sie nach dem 4 Essen im Outback ihr Auto stehen gelassen haben […].

Abbildung 106: Lagerplatz. Quelle: Krug, 2007.

Als die Mieter der Gewerberäume ihren Arbeitsort durch das bevorstehende Auslaufen der Mietverträge bedroht sahen, schlossen sie sich im Jahre 2006 zum „Arealverein Lagerplatz“ zusammen. Sie befürchteten einen Verkauf des Areals an einen renditeorientierten Investor, der den Lagerplatz hätte räumen und umbauen können. Das hätte das Ende einer 20-jährigen Erfolgsgeschichte bedeutet. Die Vereinsgründung sollte die Mieterinteressen bündeln, um deren sozialen Raum erhalten zu können. Der Vereinsvorstand berief eine Visions5 gruppe ein, welche ein Leitbild und ein Zukunftsszenario erarbeiten sollte. Gefordert wurde ein sanftes und nachhaltiges Wachstum des Areals, bei welchem die Entwicklung aus dem vorhandenen Bestand erfolgen und das Inte6 resse der Mieter berücksichtigt werden sollte. Zur Umsetzung dieser Idee musste ein aufgeschlossener Investor gefunden werden. Die Stadt unterstützte 7 den Lagerplatzverein bei der Suche nach einem solchen Käufer und stellte einen Kontakt zum Gundeldinger Feld in Basel her. In der „Betreibergesellschaft Kantensprung AG“ wurde ein kompetenter Partner gefunden, der bereit war, den Lagerplatzverein zu beraten und zu unterstützen. Hier lagen bereits 4 | Hayoz (2008), S. 103f. 5 | Vgl. a.a.O., S. 108. 6 | Vgl. Stiftung Abendrot: Abendrot Info 43, Basel Frühling 2009, S. 10. 7 | Vgl. Interview mit Ernst Wohlwend, Stadtpräsident der Stadt Winterthur, 27.8. 2009.

Möglichkeitsräume auf dem Sulzer-Areal

ausgiebige Erfahrungen mit dem Ankauf einer Sulzer-Immobilie sowie ausreichende Kenntnisse der Umnutzung eines ähnlich großen Projekts vor. Bei diesem Stadtbezirk, dem „Gundeldinger Quartier“, handelt es sich um eine ehemalige Sulzer-Maschinenfabrik, die Ende des Jahres 2000 stillgelegt wurde. Um die Bedeutung des Baseler Vorbilds für die Entwicklung des Lagerplatzes zu verstehen, sei nachfolgend in kurzer Form das Projekt beschrieben.

Abbildung 107: Lagerplatz, Kunstatelier. Quelle: Krug, 2007.

Nach der Bekanntgabe der Umstrukturierung der Firma Sulzer ergriffen Architekten und Quartierbewohner in Basel die Chance, das Areal anzukau8 fen und für öffentliche und quartierbezogene Nutzungen umzugestalten. Sie gründeten die Initiative „Gundeldinger Feld“ und entwarfen ein Umnutzungskonzept für das Industrieareal. Die „Gundeldinger Feld Immobilien AG“, ein Zusammenschluss dreier Pensionskassen und verschiedener Investoren, erwarben dieses Gelände. Zwar wollten die Investoren ihr Geld auf sozial- und umweltverträgliche Weise anlegen, doch beabsichtigten sie nicht, das Areal in 9 eigener Regie umzubauen. Um die Umnutzung von einer Industriebrache zu einem quartierbezogenen Treffpunkt in Angriff zu nehmen, gründete die Initiative eine Aktiengesellschaft, die Kantensprung AG. Sie erwarb das Gebäude von den Investoren im 90-jährigen Baurecht zu einem symbolischen Franken und organisierte im Spätjahr 2000 die ersten Umbaumaßnahmen. Binnen weniger Jahre entstanden eine Reihe von kulturellen und sozialen Nutzungsfor8 | Vgl. Interview mit Eric Honegger, Stiftung Abendrot und Kantensprung AG, Basel, 23.5.2008. 9 | Vgl. Grau/Scheurer (2005), S. 18.

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men wie ein Familienzentrum, eine Quartierbibliothek, eine Musikschule, ein Restaurant, ein Backpacker-Hotel sowie einige Büros und Unternehmen. Für den Umbau entwarfen die Initiatoren ein Nachhaltigkeitskonzept. Das Projekt war somit eng mit dem architektonischen Bestand verknüpft. Im Gegensatz zu Neubauten konnte die Wiederverwendung der alten Gebäude etwa 30 Prozent der Baukosten einsparen. Um dem Anspruch auf Nachhaltigkeit gerecht zu werden, wurde das Areal begrünt, ökologische Nischen angelegt, durch den Abbruch einiger Werkhallen zusätzlicher freier Raum geschaffen, der Autoverkehr aus dem Gelände verbannt, Fotovoltaikanlagen auf den Dächern installiert, das Quartier an das Fernwärmenetz der Stadt Basel angeschlossen und die Quar10 tierentwicklung mit dem Pilotprojekt der 2000-Watt-Gesellschaft verknüpft. Diese Erfahrungen aus Basel wollte der Verein Lagerplatz in Winterthur 11 nutzen. Der Verein nahm den Kontakt zu den Verantwortlichen des „Gundeldinger Felds“ auf, ließ sich von deren Mitarbeitern beraten und kontaktierte die „Pensionskasse Abendrot“ bezüglich eines Ankaufs des Winterthurer Teilareals. Die Pensionskasse begann sich für dieses Projekt zu interessieren, führte mit den Grundeigentümern „Sulzer Immobilien AG“ und „Die Post“ Kaufverhandlungen und erwarb im Jahre 2009 das 46.000 Quadratmeter große Lagerplatzareal. Nach dem Kauf beabsichtigte die Stiftung in enger Zusammenarbeit mit den Mietern, das Teilareal Lagerplatz umzugestalten. In Anlehnung an das Baseler Modell sollten die Erhaltung und der Ausbau der Lebens- und Arbeitsqua12 lität in Einklang mit einer nachhaltigen Arealentwicklung gebracht werden. Das Beispiel Lagerplatz verdeutlicht, dass die Wiederbelebung von Industriebrachen durch temporäre Zwischennutzungen nicht nur für die Nutzer, wie Kulturschaffende oder Kleinunternehmer, sondern auch für die lokale Wirt13 schaft und die städtische Kultur entscheidende Vorteile bringt. Diese These wird durch die Mieterliste erhärtet. Aufgrund der 2006 vom Arealverein aufgenommenen Bestandsaufnahme hatten sich auf dem Lagerplatz innerhalb von 15 Jahren ca. 90 kleinere und mittlere Betriebe mit 300 neuen Arbeitsplätzen angesiedelt. Die Mieterliste beinhaltet Geschäfte, Restaurants, Therapie- und Freizeiteinrichtungen, Tanzstudios, Werkstätten, Ateliers, Architekturbüros bis hin zu den Hochschulen für Architektur und Medienwissenschaft. 10 | Es verkörperte ein energiepolitisches Modell, wonach der Energiebedarf eines jeden Erdenbewohners der durchschnittlichen Leistung von 2000 Watt entsprechen sollte. 11 | Vgl. Hayoz (2008), S. 121. 12 | Die Forderung nach Nachhaltigkeit drückt die Stiftung wie folgt aus: „Nachhaltigkeit lebt die Stiftung Abendrot, indem sie […] eine Anlagepolitik auf der Basis von ‚Gesundheit, Umwelt und Gerechtigkeit‘ verfolgt und damit bei jeder Anlage nicht nur Bonität und Rentabilität, sondern auch gesellschaftliche und ökologische Kriterien in den Vordergrund stellt […].“ Aus: http://www.abendrot.ch/de/01-02.php, Stand: 22.9.09. 13 | Vgl. Klaus (2008), S. 73.

Möglichkeitsräume auf dem Sulzer-Areal

Abbildung 108: Lagerplatz, Möbelsystem Irion. Quelle: Krug, 2004.

Wenden wir uns einem weiteren historischen Rückblick zu: Zu Beginn der Umnutzungen stellte der Lagerplatz in den 1990er Jahren zahlreiche Nischenräume zur Verfügung, in denen auch ausgefallene Ideen umgesetzt wurden. Zu nennen sei hier die Villa Wahnsinn, die sich als erste Erlebnisgastronomie auf dem Areal niederließ. Im Laufe der Jahre veränderten sich viele dieser Experimentier- und Möglichkeitsräume zu etablierten Einrichtungen der Winterthurer Kulturszene. Das Kulturzentrum Kraftfeld ist mittlerweile eine stadtbekannte Einrichtung, die Departemente Architektur und Medienwissenschaften der Zürcher Hochschule genießen einen überregionalen Ruf und zahlreiche Kunst- und Kulturschaffende erregen mit ihren Kunstaktionen großes Aufsehen.

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Abbildung 109: Lagerplatz, Kraftfeld. Quelle: Krug, 2005.

Die sozialen „Nischenräume“ erhöhen die Attraktivität des Ortes, sie schaffen 14 Freiräume und mildern die Zwänge zu Einheit und Ordnung. Sie verkörpern Rückzugsräume, die Begegnungen und Aktivitäten ermöglichen, sie sind Refugien, die Vertrautheit, Nähe und Intimität zulassen und sie inspirieren die Menschen, indem sie ihnen als Möglichkeitsräume einen Platz für Experimente anbieten. Wenn Menschen auf dem Lagerplatz an einem Sandburgwettbewerb teilnehmen, sich im Block an Kletterwänden oder einer Kartbahn austoben, wenn sie sich im Kraftfeld zu politischen Diskussionen oder zu spontanen Musikveranstaltungen treffen oder wenn sie eine Werkstatt anmieten, um ihrer Arbeit oder ihren Hobbys nachzugehen, dann stellen diese Räume wichtige Möglichkeitsräume der Regeneration und der Kreativität dar. Dort können die Menschen ihre Ideen, Fantasien und Wünsche verwirklichen. Ein lebendiges Stadtviertel benötigt diese Nischenräume: Nischen sollten vorherrschen, Refugien, in die man sich zurückziehen kann, von denen aus aber gleichzeitig zumindest die nähere Umgebung gut überblickt werden kann. Auf allzu viel Perfektion wäre zu verzichten. Denn Perfektion stösst zurück. Ästhetizismus ist letztlich unmenschlich. Man muss Räume aussparen, die unfertig sind, die Platz haben für Kreativität (für eine – begrenzte – kreative UnOrdnung), für Aktionen des Einwohners, die ihn befriedigen und bestätigen. Höhlungen im Quartier wären auszusparen […]. Das heisst also: Anreize, Begegnungen, Aktivitäten sind zu ermöglichen und anzubieten. Identifikationen 14 | Vgl. Willke (2003), S. 8.

Möglichkeitsräume auf dem Sulzer-Areal

sind durch Zusprechen von Verantwortlichkeiten und eventuell sogar durch zu stützen. Demgegenüber wäre alles, was die Sterilität und Isolation fördert – Monotonie, Anonymität, sture Abfolgen, starre Normen – 15 möglichst zu vermeiden.

Das Sulzer-Areal, insbesondere der Lagerplatz, bietet den Kulturschaffenden Möglichkeitsräume, welche ihnen ihre „(Un)Ordnung“ erlaubt. Es handelt sich um Räume, in denen die „Unordnung nicht mehr als Mangel missverstanden wird, der schleunigst zu beheben ist, sondern als unabdingbare andere Seite der 16 Form der Ordnung“. Auf dem Sulzer-Areal sind sie zahlreich zu finden, so beispielsweise die Fabrikkirche, die Musical-Halle oder die zahlreichen Kulturund Freizeiteinrichtungen. Der französische Philosoph Michel Foucault nennt 17 sie die „anderen Räume“ oder die „Heterotopien“.

Heterotopien und die „anderen Räume“ Richten wir den Blick auf den gewerblich genutzten Lagerplatz: Der Verzicht auf eine groß angelegte modernisierende Stadtteilplanung und die Schaffung von temporären Zwischennutzungen schufen die Voraussetzungen dafür, dass sich ein sozialer und kreativer Raum entwickeln konnte. An diesem Beispiel wird deutlich, dass ein Scheitern eines hegemonialen Großprojektes wie „Winti-Nova“ die Kreativwirtschaft fördern kann. Auch hier gilt die Regel, wenn mindestens 50 Kreativwirtschaftler an einem Ort zusammenkommen, entsteht ein neues Kreativ-Cluster. Gemeinsame Infrastrukturen werden genutzt, Gaststätten und Klubs siedeln sich für die Netzwerkpflege an, die Adresswirkung 18 wird potenziert und damit weitere Kreative angelockt. Bei der Beschreibung dieser „kreativen Räume“ sollen die von Michel Foucault beschriebenen Heterotopien herangezogen werden. In einer Verknüpfung zu Richard Floridas Überlegungen über die „kreative Klasse“ und zu Henry Lefebvres Skizzierung der „Produktion des Raumes“ soll deren innovative Bedeutung für die Kultur, Ökonomie und Gesellschaft am Beispiel des 19 Lagerplatzes herausgearbeitet werden. Obwohl Foucaults Aussagen über die „anderen Räume“ wegen ihrer Unschärfe und Interpretationsoffenheit keine 15 | Boesch (2001), S. 54. 16 | Vgl. Willke (2003), S. 48. 17 | Dieser Begriff stammt ursprünglich aus der Medizin und beschreibt die anormale Lage von Zellen im menschlichen Körper. Defert (2005), S. 74. 18 | Vgl. Koll-Schretzenmayr/Kunzmann/Heider (2008), S. 65. 19 | Salvini und Haye kommen zum Ergebnis, dass Floridas Ansatz auf die subregionale Ebene der Schweiz übertragbar ist. Vgl. Salvini/Heye (2008), S. 26ff.

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ausgearbeitete Theorie darstellen und sie deshalb die Gefahr von Überinter20 pretationen und Fehldeutungen provozieren, können sie dennoch auf Phänomene der räumlichen Ordnung hinweisen. Diese Eigenschaften sollen genutzt werden, um die Grenzen zwischen den gewohnten Orten und den „anderen Orten“ auszutarieren und für eine Analyse der sozialen Räume fruchtbar zu machen. Mit einer Verknüpfung der Heterotopien mit der kreativen Klasse sollen 21 die Gründe einer Attraktivität des urbanen Raumes herausgearbeitet werden. Die These lautet: Heterotopien stellen eine Form von Möglichkeitsräumen dar. Sie erlauben besondere Erfahrungen, sie äußern sich in einer Vielfalt von Ordnungsformen der Unordnung und sie sorgen für die Attraktivität des sozialen Raums, mit anderen Worten: „Wann immer von Heterotopie die Rede ist, haben wir es mit einem Raum der Möglichkeiten zu tun, d.h. mit einem Ort, in dem besondere Kräfteverhältnisse sowie ungewöhnliche Konstellationen der (Gegen-)Macht wirksam sind, die eine ausserordentliche Erfahrung ermög22 lichen.“ Eine erste Annäherung an den Begriff der Heterotopie lautet: Heterotopien bieten den Menschen Nischenräume an. Sie können aus Orten des Abenteuers bestehen, in denen sich das Fehler- und das Lasterhafte befinden. Es sind „unperfekte“ Räume, die sich gegen das durchorganisierte Leben stemmen und in denen die gewohnten Regeln des gesellschaftlichen Alltags außer Kraft gesetzt werden können. Heterotopien sind Räume, die außerhalb der üblichen gesellschaftlichen Gesetze funktionieren, welche die Gesellschaft aber für ihr eigenes Funktionieren und ihre Erneuerung benötigt. Sie können in mannigfaltigen Formen existieren: als Theater, Schule, Krankenhaus, Kirche, Gefäng23 nis und Bordell, um einige Beispiele zu nennen. Heterotopien schaffen eine Unordnung in der Ordnung des Raums, ermöglichen aber zugleich, eine neue Ordnung herzustellen. Diese Paradoxie führt dazu, dass der soziale Raum spannend, aufregend und attraktiv wird. Heterotopien sind in der Lage, die gewöhnlichen Orte des täglichen Lebens aufzuheben, zu neutralisieren oder in ihr Gegenteil zu verwandeln. „Es sind gleichsam Orte, die ausserhalb aller Orte liegen, obwohl sie sich durchaus lokalisieren lassen. Da diese Orte völlig anders sind als all die Orte, die sie spiegeln und von denen sie sprechen, werde ich sie 24 im Gegensatz zu den Utopien als Heterotopien bezeichnen.“ Heterotopien erzählen Geschichten, sind mythisch und real zugleich. Als wahrnehmbare Orte besitzen sie die Fähigkeit, „andere“ Geschichten zu erzählen, was zu ihrer räumlichen Attraktivität beiträgt. Als Gegenräume können sie darüber berich20 | 21 | 22 | 23 | 24 |

Vgl. Hasse (2007), S. 75. Vgl. Willke (2003), S. 50. Chlada (2005), S. 8. Vgl. Foucault (2005). Foucault (2006), S. 320.

Möglichkeitsräume auf dem Sulzer-Areal

ten, wie die Gesellschaft mit ihren gewöhnlichen Räumen zu hinterfragen und ein Leben innerhalb eines anderen Lebenskonzepts möglich ist. Die Heteroto25 pie ist im Gegensatz zur Utopie, die sich im imaginären Raum entfaltet, real erfahrbar.

Abbildung 110: Kraftfeld. Quelle: Krug, 2007.

Um diese anderen Räume genauer eingrenzen und bestimmen zu können, werden anschließend die von Michel Foucault aufgestellten sechs Grundsätze 26. mit Beispielen aus dem Winterthurer Sulzer-Areal konkretisiert. Der erste Grundsatz Foucaults sagt aus, dass jede Kultur Heterotopien 27 28 hervorbringt. Sie können als Abweichungs- oder als Krisenheterotopien in Erscheinung treten. Obwohl Foucault den Krisenheterotopien für eine 25 | Vgl. Defert (2005), S. 74. 26 | Bevor ich auf das Lagerplatzareal näher eingehe, will ich die Kriterien, die Foucault zur Bestimmung von Heterotopien aufgestellt hat, näher erläutern. Diese Grundsätze lassen sich wie folgt zusammenfassen: (1) Heterotopien kommen in allen Kulturen als Krisen- oder Abweichungsheterotopien vor. (2) Heterotopien verändern sich im Laufe der Geschichte. (3) Heterotopien legen an einem einzigen Ort mehrere Räume zusammen, die an sich unvereinbar sind. (4) Heterotopien sind an Zeitschnitte gebunden (Heterochronien). (5) Heterotopien sind Räume, bei denen der Eintritt gewissen Regeln unterliegt. (6) Es gibt Illusions- und Kompensationsheterotopien. Vgl. Foucault (2005). 27 | Unter Abweichungsheterotopien versteht Foucault solche Einrichtungen wie Gefängnisse oder Krankenhäuser. Foucault (2006), S. 322. 28 | Die Krisenheterotopien sind den Menschen vorbehalten, die sich in einer Art von Krisenzustand befinden. Vgl. a.a.O., S. 322.

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Gegenwartsbeschreibung eine eher untergeordnete Bedeutung beimisst, will ich diese Form in meiner Untersuchung des Sulzer-Areals hervorheben und – unter Bezugnahme auf Erik H. Eriksons Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung – schärfen. Erikson entwarf ein Modell der Entwicklung der menschlichen Identität, die sich in einem Spannungsverhältnis von psychosozialen Krisen und deren Lösungen bewegt. Die Bedürfnisse und Wünsche des Individuums stehen mit den Anforderungen der sozialen Umwelt in einem krisenhaften Verhältnis. Dies führt dazu, die individuelle Entwicklung in Übereinstimmung mit den Anforderungen der Gesellschaft und eigenen Wünschen zu bringen. Die Bewältigung und Lösung dieser Konflikte beschreibt Erikson als die eigentliche Entwicklungsaufgabe des Menschen. So entsteht im frühen Erwachsenenalter eine psychosoziale Krise, die sich im Spannungsverhältnis zwischen Intimität und Isolierung bewegt. Nachdem die Kindheit und Jugendzeit bewältigt ist, folgt im Erwachsenenleben ein Stadium, in dem die Arbeits- und Rivalitätsordnung innerhalb einer neuen Sozialordnung austariert und neu organisiert wird. In dieser Entwicklungsphase rücken Freunde, sexuelle Partner, Mitarbeiter aber auch Rivalen und berufliche Konkurrenten in den sozialen Lebensmittelpunkt des jungen Erwachsenen. Das Leben, welches von der Arbeit, dem Studium, den Liebesbeziehungen und der Familiengründung geprägt ist, bildet den kommunikativen Rahmen, um Intimität aufbauen zu können. In dieser Lebensphase werden die endlosen Gespräche über das „Ich und Du“ geführt, aber auch die Zukunftspläne, Wünsche, 29 Träume und Hoffnungen formuliert. Gleichzeitig entsteht in dieser jungen Erwachsenenphase ein neues Fundament. Die Personen bauen ihre zwischenmenschlichen Beziehungen und berufliche Netzwerke auf und entwickeln neue Formen der Empathie, Spontanität und Solidarität. Erikson – er bezieht sich auf Freud – fasst diese Aufgabe als „Lieben und Arbeiten“ zusammen: „Denn wenn Freud ‚lieben‘ sagte, so meinte er damit ebenso sehr das Verströmen von Güte wie die geschlechtliche Liebe; und wenn er sagte ‚Lieben und arbeiten‘, so meinte er damit ein Berufsleben, das den Menschen nicht völlig verschlingt und sein Recht und seine Fähigkeit, auch ein Geschlechtswesen zu sein, nicht 30 verkümmern lässt.“ In welchem Zusammenhang steht die Beschreibung dieser Lebensphase mit dem Sulzer-Areal? Es gibt Räume, die als Krisenheterotopien zur Bewältigung von Entwicklungskrisen beitragen können. Vordergründig können dies die therapeutischen Einrichtungen auf dem Lagerplatz sein, so etwa die Ergotherapiepraxis für Kinder und Erwachsene in der umgebauten Kesselschmiede oder die Ritualgestaltung und Lebensberatung im umgebauten Loft 48. Weiter gedacht könnten es die Begegnungsstätten in den Kulturlokalen oder sogar die 29 | Vgl. Erikson (1973), S. 115. 30 | A.a.O., S. 116.

Möglichkeitsräume auf dem Sulzer-Areal

vielfältigen Freizeiteinrichtungen sein, wo sich vor allem junge Menschen treffen und ihre sozialen Erfahrungen sammeln. In der Labüsch-Bar oder in der Kulturbar Kraftfeld finden sich abends die jungen Leute ein, feiern ihre Feste und Partys oder besuchen die Rockkonzerte. In den umgebauten Sulzer-Hallen – dem Block, dem Badminton-Center Shuttle-Zone oder der Kampfkunstschule WU LIN – gibt es die Möglichkeit, fast den ganzen Tag über verschiedenen Sportangeboten nachzugehen. Eine weitere Form der Krisenheterotopie findet sich in den geschützten Räumen, welche sich der Betonung der Karriere oder der beruflichen Mobilität verweigern. Sie sind durch die Bildung von Nachbarschaftsbeziehungen und Netzwerken sowie dem Aufbau von sozialen Beziehungen geprägt. Diese Form der Krisenheterotopien erlauben Moratorien. Sie führen dazu, dass notwendige Erfahrungen, welche sich als „Selbsterfahrung“ oder als „Selbstverwirklichung“ äußern, in den Nischenräumen gesammelt werden können. Dies beschrieb Marco Frei, der Vertreter des Arealvereins Lagerplatz, in anschaulichen Bildern: Am Anfang waren es die Visionen einer Handvoll von Lagerplätzlern, die als Träumer und Weltverbesserer eher belächelt als ernst genommen wurden. Visionen, getrieben von einer Sehnsucht nach einem erfüllten Leben haben alle. Die Vorstellungen, wie ein erfülltes Leben aussieht, sind wahrscheinlich so verschieden und vielfältig wie die Charaktere der Mieter. Es gibt aber immer auch Gemeinsamkeiten, die dazu führen, dass solche Interessengemeinschaften, 31 wie der Arealverein eine ist, scheinbar ‚Unmögliches‘ möglich machen.

Gleichwohl kann das Lagerplatzareal nicht nur als ein Raum der persönlichen Selbstverwirklichung oder jugendlichen Reifezeit begriffen werden. Es schließt alle Entwicklungsstufen bis zum reifen Erwachsenenalter ein und umfasst auch die beruflichen Experimentalräume, die man z.B. in Form von Schulen oder Start-up-Firmen finden kann. Die Krisenheterotopie erscheint als ein Möglichkeitsraum, in dem Menschen eine geeignete Nische finden können, um in 32 einer Art Latenzperiode soziale und berufliche Erfahrungen zu sammeln: 31 | Marco Frei wird im Protokoll zur Zukunftswerkstatt zitiert. Kläusler, Klara/Brunner, Jeannine: Protokoll des Workshops Lagerplatz Winterthur , 5. Oktober 2009, S. 5. 32 | Erikson verbindet die Bereitstellung von Nischen mit der Möglichkeit, dort wichtige persönliche Erfahrungen machen zu können: „Die psychoanalytische Theorie kennt eine sogenannte ‚Latenzperiode‘ vor der Pubertät und trägt damit einer Art von psychosexuellem Moratorium der menschlichen Entwicklung Rechnung, einem Entwicklungsaufschub, der es den künftigen Geschlechtspartnern und Eltern erlaubt, zuerst einmal ,zur Schule zu gehen‘ (was immer in der betreffenden Zivilisation Schule heissen mag) und die technischen und sozialen Rudimente einer typischen Arbeitssituation zu erlernen. […] Man kann diese Periode als ein psychosoziales Moratorium bezeichnen, wäh-

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„Für einige stellen die vorgefundenen Nischen eine Möglichkeit der Verwirklichung alternativer Lebensformen dar, für andere werden sie zum Sprungbrett für eine berufliche Karriere. Durch eigenes Engagement, Austauschprozesse und hohe Kreativität entstehen neue Ökonomien, kulturelle Innovation und eine Vielfalt urbanen Lebens, die nicht von einer städtebaulichen Gestaltung abhängig ist und ein breites Spektrum von Menschen aktiv an der Gestaltung 33 ihrer Stadt beteiligt.“ Die Mieter finden auf dem Lagerplatz Räume, in denen sie gestalten und experimentieren können. Sie verlangen nach einem sozialen Milieu, das ihren Ansprüchen und ihrem Lebensstil genügen soll. Für diesen Möglichkeitsraum gilt eine spezielle Eintrittsbedingung. Diese fußt auf den Werten der Solidarität, Toleranz und persönlichen Autonomie. Mit dieser Eintrittsbedingung stellen die „Pioniere“ ihre persönliche Freiheit und die Möglichkeit der Selbstverwirklichung in den Mittelpunkt ihres Lebensentwurfes. Nur auf diese Weise können sie ihre Kreativität bei der Entwicklung innovativer Produkte und Dienstleistungen effektiv einsetzen. Im Laufe dieses Entwicklungsprozesses bildeten sich Netzwerke und Mikrogemeinschaften aus, die – wie am Beispiel des Lagerplatzvereins sichtbar – eigene Organisationsstrukturen aufbauen und als Gesprächspartner gegenüber der Stadtverwaltung oder den Grundeigentümern auftreten. Deutlich wurde dies nach der Gründung des Arealvereins Lagerplatz, als deren Vertreter mit der Stadtverwaltung und der Stiftung Abendrot verhandelten und um Unterstützung ihrer Pläne baten.

rend dessen der Mensch durch freies Rollen-Experimentieren sich in irgendeinem der Sektoren der Gesellschaft seinen Platz sucht, eine Nische, die fest umrissen und doch wie einzig für ihn gemacht ist. Dadurch gewinnt der junge Erwachsene das sichere Gefühl innerer und sozialer Kontinuität […].“ Erikson (1973), S. 137f. 33 | Hayoz (2008), S. 61.

Möglichkeitsräume auf dem Sulzer-Areal

Abbildung 111: Lagerplatz, Veloladen. Quelle: Krug, 2007.

In den zwischengenutzten Arealen bilden sich selbstorganisierende Cluster, die sich in Form von Kooperationen, gegenseitiger Hilfe und einem regen Informationsaustausch äußern. Mit dieser Netzwerkfähigkeit werden die Krisenhe34 terotopien zu einem Generator des sozialen Kapitals. Die Lernprozesse und Sozialisation der Menschen drücken sich in deren soziokulturellen Aktivitäten aus, sei es im Organisieren von Musikveranstaltungen oder im Verhandeln mit den Grundeigentümern. So sammeln sie Erfahrungen und fachbezogene Kompetenzen, „die später vielleicht in der Kulturökonomie, der Soziokultur oder 35 anderen Bereichen ihre Anwendung finden“.

34 | Vgl. Angst/Klaus/Michaelis (2008). 35 | A.a.O., S. 111.

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Abbildung 112: Musikveranstaltung beim Lagerplatzfest. Quelle: Krug, 2007.

Abbildung 113: Sulzer-Zone I, Eisengießerei - Afro-Pfingsten Festival in der Eisengießerei. Quelle: Krug, 2004.

Möglichkeitsräume auf dem Sulzer-Areal

In seiner zweiten These behauptet Foucault, dass Heterotopien ihre Funktion 36 verändern können. Sie sind in der Lage, jederzeit wieder zu verschwinden, sich aufzulösen oder sich auch neu zu schaffen. Je nach Bedarf können sie die 37 unterschiedlichsten Funktionen übernehmen. Ziehen wir als Beispiel die denkmalgeschützte Eisengießerei (Bau 53) heran, die als „Industriekathedrale“ auf dem Sulzer-Areal eine besondere Stellung innehat. Ursprünglich diente sie als industrieller Produktionsort der Firma Sulzer, zu Beginn des neuen Jahrtausends fanden dort Technopartys und Großveranstaltungen statt, inzwischen wird sie als temporäres Parkhaus genutzt.

Abbildung 114: SLM-Werk I, Fabrikkirche. Quelle: Krug, 2009.

Für Foucaults zweite These finden sich auf dem Sulzer-Areal weitere Beispiele: Das Feuerwehrlokal wird zur Fabrikkirche, die Fabrikhalle zu Wohnungen, die Speditionshalle zur Freizeitanlage und die Kesselschmiede zur Hochschule. Indem mit den Umdeutungen der Industriegebäude deren Geschichten weitererzählt werden, erzeugen sie die Identität und Attraktivität des Sulzer-Areals und tragen damit zur Imagebildung der Stadt Winterthur bei. Diese Formen der Umnutzung stehen in Einklang mit den Empfehlungen von Jean Nouvel. Er begriff sie als eine sinnvolle Möglichkeit, den Raum zu transformieren und mit neuem Leben zu füllen: Durch die einfache Tatsache, alle ihre Benutzungsmöglichkeiten zu verändern und im Inneren eine gewisse Anzahl an Objekten, an Ausführungen, an unter36 | Vgl. Bieger (2007), S. 27. 37 | Vgl. Foucault (2006), S. 322.

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schiedlichen architektonischen Zeichen wiedereinzuführen, wird der Sinn des Ortes vollkommen verändert. Um Dir ein Beispiel zu geben, er beinhaltete grosse industrielle Säle von hundertfünfzig Meter Länge mal vierzig Meter Breite. Vorher war der Raum von Werkzeugmaschinen übersättigt, nun, da er leer ist, ist er prächtig. Es wäre heute unmöglich, einen kulturellen Raum wie diesen von A bis Z zu schaffen. Er würde wohl viel zu viel kosten. […] Der Ort wird nicht mehr in derselben Form erlebt, es gibt nicht mehr die gleichen Dinge in ihm, man spielt anders auf der Skala, man tauscht ihr den Sinn aus, und ausgehend von dem, was ein rein funktioneller, vager, grosser Rauminhalt war, erreicht man es, durch sukzessive Derivation zu einer Neuschaffung, einer Regeneration zu gelangen, welche sich niemand hätte vorstellen können. Zu diesem Fabrikationsprozess heutiger Städte ist zu ermutigen. Er erlaubt aus den Dimensionsnormen auszubrechen, dieses ‚Zuviel’, dieses ‚Überflüssige’ zu haben, das unerlässlich und nicht zu planen ist, es bewirkt ein Zuviel, Zugross, Zuhoch, Zudunkel, Zuhäss38 lich, Zusteif des Unvorhergesehenen, des Radikalen.

Foucaults dritte These besagt, dass die Heterotopien an einem Ort mehrere 39 Räume versammeln, die eigentlich unvereinbar sind. Die Zusammenlegung verschiedener Räume lässt sich am Beispiel des Musical-Theaters aufzeigen, auf dessen Bühne unterschiedliche Inszenierungsräume entstehen, am Bei40 spiel der Fabrikkirche, die nicht nur als Kirche, sondern auch als Event-Raum genutzt wird oder am Beispiel des Pocket-Parks, wo Bäume aus stählernen Güterwagen wachsen. Diese Aufzählung lässt sich mit einem weiteren Umnutzungsbeispiel fortsetzen, so der Villa Wahnsinn. ‚Bier aus der Badewanne‘ lautet das Markenzeichen des ‚Villa Wahnsinn‘-Konzeptes. In Winterthur kommt der Gerstensaft aber nicht aus der Badewanne, sondern aus einem ausgedienten Konzertflügel, den die Betreiber – wie die anderen Dekorgegenstände auch – aus allen Ecken und Enden der Schweiz und auch aus dem Ausland herbeigeschafft haben: Ein ausgedienter Altar, farbige Fenster aus dem ehemaligen Gefängnis Regensdorf, ein mehr oder weniger erhaltenes Rösslikarussell, ein altes Motorrad und – der Stolz des Hauses – ein ausgedienter Zahnarztstuhl samt Bohrer und Werkzeugen sowie Dutzende von ausrangierten Gegenständen und Geräten, wie sie an einem Flohmarkt zu fin41 den sind. 38 | Baudrillard/Nouvel (2004), S. 69f. 39 | Vgl. Foucault (2005), S. 14. 40 | Aus dem ehemaligen Feuerwehrlokal wurde eine Jugendkirche gegründet, in der es neben Gottesdiensten auch eine Mischung aus Gastronomie- und Unterhaltungsprogrammen gibt. Vgl. http://www.church.ch/index.php, Stand: 27.9.2009. 41 | O.V. (1995), S. 11.

Möglichkeitsräume auf dem Sulzer-Areal

Nachdem die Villa Wahnsinn geschlossen hatte, eröffnete dort das Outback 42 Lodge eine australische Erlebnisgastronomie. Über diese Beispiele hinaus gelten für alle Heterotopien, dass sie einem Regime anderer Regeln und anderer Denkmuster folgen und damit das, was gemeinhin als „Vernunft“ angesehen 43 wird, infrage stellen. Sie verwiesen auf ein erweitertes Verständnis von 44 Ordnung und schaffen mit ihrer „Unordnung“ zahlreiche Freiräume: „Die Grundidee Heterotopias ist, mit kunstvoll aufgebauten Indifferenzen gegenüber Unterschieden die Zwänge zu Einheit und Ordnung zu mildern und genau darin die Freiräume zu schaffen, die es ermöglichen, mit den hochgetriebe45 nen Kontingenzen Heterotopias umzugehen.“

Abbildung 115: Lagerplatz, Sandburgen-Wettbewerb, Kraftfeld. Quelle: Krug, 2007.

In seiner vierten These spricht Foucault über die Verbindung der Heterotopien mit zeitlichen Brüchen, den Heterochronien. Durch eine Verschiebung der Zeiterfahrungen wird die Zeit in ihrer Linearität aufgebrochen. Orte dieser 46 Zeitbrüche sind zum Beispiel Museen, Bibliotheken oder Archive. Auf dem Sulzer-Areal verknüpfen sich mit den historischen Gebäuden Vergangenheit 47 und Gegenwart. Dort wird die lineare Zeit in der aktuellen Nutzung aufgelöst und die Menschen können jederzeit an die Winterthurer Industriegeschichte anknüpfen. Wenn ehemalige Arbeiter ihren früheren Arbeitsort besuchen, junge Familien in den umgebauten Industriegebäuden wohnen oder Singles im 42 | 43 | 44 | 45 | 46 | 47 |

Vgl. http://www.outback-lodge.ch/, Stand: 20.7.2010. Vgl. Vöcklinghaus (2009), S. 233. Vgl. Foucault (1974), S. 20. Willke (2003), S. 8. Vgl. Foucault (2005), S. 16. Vgl. Foucault (2006), S. 324.

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LOKwerk ihre Einkäufe tätigen, können sie in der Gegenwart die Vergangenheit wahrnehmen. Straßennamen wie die Turbinenstraße, industrielle Stahlskelettbauten der 1920er Jahre oder große Plätze wie der Katharina Sulzer Platz erinnern an diese Industriezeit und verwandeln das Sulzer-Areal zu einem Archiv 48 oder Museum.

Abbildung 116: Lagerplatz, Tonstudio. Quelle: Krug, 2007.

Es gibt noch eine weitere Form der zeitlichen Brüche. Man kann sie in den temporären Nutzungen, den Festen, den Partys oder an Tagen der offenen Tür erleben. Diese Veranstaltungen erzeugen einen Bruch mit dem Alltäglichen, indem die räumlichen Ausschlussregeln außer Kraft gesetzt sind. Im September 2007 öffneten die Mieter des Lagerplatzes ihre gewerblichen Räume innerhalb eines klar definierten Zeitfensters. Jeder Besucher hatte die Möglichkeit, die zahlreichen und vielfältigen Arbeitsräume des Teilareals zu besuchen. In den Tonstudios übten die Musikgruppen, in den Büros stellten die Architekten ihre Bauprojekte vor, in der Modeschule präsentierten die Schüler und Schülerinnen ihre Kollektionen und im überdachten Fabrikhof der Hochschule spielte die Big Band. Foucaults fünfte These lautet, dass Heterotopien ein System der Öffnung 49 und Schließung besitzen, die sie von der Umgebung trennt. Wenn zu den Frühlingsfesten des Sulzer-Areals die Bürger Winterthurs eingeladen werden und die Besucher die Ateliers, Werkstätten, Büros oder die noch sich im Rohbau befindenden Wohnungen besuchen können, wird mit dieser Öffnung die Abgeschlossenheit der Räume spürbar. Mehr noch, auch wenn manche Heterotopien gegenüber der Außenwelt offen zu stehen scheinen, gibt es unsichtbare 48 | Foucault (2005), S. 17. 49 | Um in diesen Raum gelangen zu können, braucht es Prozeduren von Eingangsund Reinigungsritualen. Vgl. a.a.O., S. 18.

Möglichkeitsräume auf dem Sulzer-Areal 50

Zugangsbeschränkungen. Zur Zeit der industriellen Produktion trennte der Fabrikzaun das Industrieareal von der übrigen Stadt und ein Betreten der Anlage konnte nur über die Personenkontrolle an der Pforte erfolgen. Heute gibt es diese Entrees durch halböffentliche „Türöffner“, wie Cafés oder Restaurants. Erst materielle oder symbolische Zugangsrituale – sie können in Eintrittsgeldern, in persönlichen Einladungen oder halböffentlichen Apéros bestehen – er51 lauben einen Eintritt.

Abbildung 117: Lagerplatz, Weberei. Quelle: Krug, 2007.

In seiner letzten These behauptet Foucault, das eigentliche Wesen der Heterotopien bestehe darin, als Illusions- oder Kompensationsheterotopien alle anderen 52 Räume infrage zu stellen. Unter den Kompensationsheterotopien versteht Foucault die Kolonien der religiösen Gemeinschaften des 17. und 18. Jahrhunderts. Ähnlich wie die „Amish People“ verkörpern diese Kolonien eine „voll53 kommene“ Ordnung. Man kann den Lagerplatz als eine solche Heterotopie 50 | Die Ambivalenz zwischen Offenheit und Ausschluss fasst Foucault wir folgt zusammen: „Andere Heterotopien sind gegen die Aussenwelt vollkommen abgeschlossen, oder zugleich auch völlig offen. Jeder hat Zutritt, doch wenn man eingetreten ist, stellt man fest, dass man einer Illusion aufgesessen und in Wirklichkeit nirgendwo eingetreten ist. Die Heterotopie ist ein offener Ort, der uns jedoch immer nur draussen lässt.“ A.a.O., S. 18. 51 | Vgl. Interview mit dem Gründer und Teilhaber der Kantensprung AG Basel, Eric Honegger, am 23.5.2008. 52 | Vgl. Foucault (2005), S. 19f. 53 | Foucault unterscheidet die illusionären von den kompensatorischen Heterotopien: „Das letzte Merkmal der Heterotopien schliesslich liegt darin, dass sie gegenüber dem übrigen Raum eine Funktion ausüben, die sich zwischen zwei extremen Polen bewegt. Entweder sollen sie einen illusionären Raum schaffen, der den ganzen realen

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verstehen. Die „vollkommene Ordnung“ besteht darin, mit einem Nachhaltigkeitsleitbild den sozialen Raum ökologisch und im Sinne der von der Stiftung Abendrot aufgestellten Statuten weiterzuentwickeln. Die nachhaltige Bewirtschaftung des Areals richtet sich nicht nach einer maximalen Rendite, sondern nach Marktmoral und Marktethik.

Abbildung 118: Lagerplatz, Sicherheitsarena. Quelle: Krug, 2007.

Illusionsheterotopien findet man auf dem Lagerplatz an zahlreichen Orten, so etwa in der Sportarena und der Kartbahn im Block oder der Erlebnisgastronomie im Outback Lodge. All diese Räume dienen der Produktion von illusionären Raumsituationen, welche die Alltagsrealität infrage stellen und für Zerstreuung 54 oder Regeneration sorgen. Auch die Sicherheitsarena, die nicht der Zerstreuung, sondern der Schulung dient, bietet eine solche Illusionsheterotopie auf dem Sulzer-Areal. Sie ist in der Halle 194 gelegen und wirbt bei ihren Kunden mit einem Selbstverteidigungstraining. In dieser 800 Quadratmeter großen Industriehalle wurde die eindrucksvolle „Bronx-Stadtlandschaft“ nachgebaut. Bei den Vorführungen ziehen dicke Nebelschwaden durch die verwinkelte Straße und ein düsterer Hinterhof, ein tristes Parkhaus und ein beleuchteter Billettschalter verstärken die Inszenierung einer drohenden Gefahr. Männer in dicken Schutzanzügen simulieren einen Übergriff und ein Sprecher erklärt dem Publikum das methodische Raum und alle realen Orte, an denen das menschliche Leben eingeschlossen ist, als noch grössere Illusion entlarvt. […] Oder sie schaffen einen anderen Raum, einen anderen realen Raum, der im Gegensatz zur wirren Unordnung unseres Raumes eine vollkommene Ordnung aufweist. Das wäre keine illusorische, sondern eine kompensatorische Heterotopie […].“ Foucault (2006), S. 326. 54 | Vgl. Bieger (2007), S. 27.

Möglichkeitsräume auf dem Sulzer-Areal

Vorgehen der Schutzmannschaft. Auf der sich über dem Raum befindenden Tribüne können die Besucher die Aufführung ungestört beobachten.

Abbildung 119: Lagerplatz, Zukunftskonferenz. Über 100 Teilnehmer waren zu der Konferenz eingeladen. Die Stiftung Abendrot beauftragte die AG für Organisationsentwicklung „frischer wind“ die Großgruppenveranstaltung durchzuführen. Unter der Leitung von Paul Krummenacher und Inger Schjold fand die Konferenz am 4. und 5. September 2009 in der Halle 180 der ZHAW statt. Quelle: Krug, 2009.

Werfen wir als Fazit einen Blick auf Foucaults Bemerkung, das Schiff als die Heterotopie schlechthin zu bezeichnen: „Das Schiff ist die Heterotopie par excellence. In den Zivilisationen, die keine Schiffe haben, versiegen die Träume. An die Stelle des Abenteurers tritt dort die Bespitzelung und an die Stelle 55 der Freibeuter die Polizei.“ In dieser These fasst der französische Philosoph das politische Potenzial der „anderen Räume“ in einem prägnanten Bild zusammen. Die eigentliche Bedeutung der Heterotopie liegt in ihrer narrativen und antizipierenden Kraft. Wie bereits ausgeführt, können die Mieter des Lagerplatzes in den „anderen Räumen“ ihre Visionen entwickeln, ihre Projekte umsetzen, wertvolle Erfahrungen im sozialen Zusammenleben sammeln und dadurch die Geschichte des Raumes kontinuierlich neu erfinden. Nicht ohne Grund wurden auf die große, weiße Innenwand der Architekturhochschule die Worte „nevergiveupdreaming“ gesprüht. Sie fassen die Haltung und Wertmaßstäbe dieser Heterotopie als Motto zusammen.

55 | Foucault (2006), S. 327.

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Abbildung: 120: Perspektive – Quartierentwicklung Areal Lagerplatz. Quelle: Arealverein, Marco Frei/Grafiker: Xavier Bellprat.

Der Arealverein sieht den Wert des Lagerplatzes in der Möglichkeit zur persönlichen Selbstverwirklichung. Diese Haltung stellt den eigentlichen Mythos dar, der sich in diese „anderen Räume“ einbrennt. Die Menschen verwirklichen sich in diesen Räumen und sind in der Lage, neue Geschichten zu erfinden und damit auch ein kulturelles und soziales Kapital zu erwirtschaften.

Möglichkeitsräume auf dem Sulzer-Areal

Abbildung 121: Lagerplatz, Apparatebauhalle. Quelle: Krug, 2004.

Neben der Schaffung von Arbeitsplätzen und kulturellen Einrichtungen produziert das Sulzer-Areal ein positives Image der Stadt. Die Repräsentation dieser Räume sorgt für Gesprächsstoff in den Medien, es steigert die Adressbildung 56 und Anziehungskraft des Ortes und trägt zur Belebung des Sulzer-Areals bei. Das kreative Milieu bietet eine Vielfalt von Angeboten an und bietet einen Rahmen, der es erlaubt, sich als Labor- und Experimentierfeld für neue Entwicklungen durchsetzen zu können. Die Möglichkeiten der Selbstverwirklichung sind die wichtigsten Gründe für die Anziehungskraft der „anderen Räume“ – vor allem für die Kreativen der Kulturwirtschaft. Sie schaffen Inspirationen, bilden den Nährboden für das Wachsen und Florieren des kreativen und ökonomischen Milieus und werden zu innovativen Brutstätten von Gründungsideen, neuen Produkten oder Dienstleistungen. Foucaults Metapher des Schiffs als Heterotopie äußert sich im Sulzer-Areal in doppelter Hinsicht: Einerseits baute die Firma Sulzer dort tatsächlich Schiffe und Schiffsmotoren und andererseits wird das Sulzer-Areal in übertragener Weise selbst zu einem Schiff, das mit seiner Vielfalt an Lebens- und Arbeitsräumen zahlreiche Begegnungen mit dem „Anderen“ ermöglicht. Der hier beschriebene heterotope Raum repräsentiert die Träume, Traditionen, Werte, Haltungen und Lebensstile der Menschen. Diese Räume der Repräsentation funktionieren gleichsam als ein medialer Werkzeugkasten, welcher die verschiedensten Lebenskonzepte in sich aufnimmt.

56 | Angst/Klaus/Michaelis (2008).

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Möglichkeitsräume gestalten

Abbildung 122: Sulzer-Archiv, Diesel-Schiff Victoria, Triest, 1946. Quelle: Sulzer-Archiv, Winterthur.

Mit dieser Schiffsmetapher ist nicht nur der Transport von Waren und Wissen, sondern auch die Begegnung mit dem Fremden und mit dem, was nicht in unsere Ordnung passt, was uns deshalb verwirrt und zum Nachdenken bringt, verbunden. Und gerade weil die Heterotopie das Andersartige, die Unordnung der Ordnung verkörpert, kann sie für eine gesellschaftliche Funktion fruchtbar werden: „Jede Kultur, so scheint es, benötigt demnach auch Entwürfe ihrer anderen, nicht realisierten Möglichkeiten oder Orte, an denen der Gesellschafts57 entwurf idealtypisch realisiert wird.“ Die temporären Zwischennutzungen verwandeln sich zum Abenteuer und zum Möglichkeitsraum von „Pionieren“, die das leer stehende Industrieareal durch eigene Initiative und unter Einsatz von Arbeit und Geld „urbar“ machen. Und wie bei den ersten Siedlern der USA, die aus den verschiedensten Beweggründen mit dem Schiff auf den Weg nach Amerika aufbrachen, um sich dort eine neue Existenz aufzubauen, wollten die Pioniere Winterthurs in den 1990er Jahren auch in ihren zwischengenutzten Räumen Risiken eingehen und neuartige Lebensentwürfe realisieren. Diese Art der Produktion des Raumes erzeugt einen symbolischen Raum, der nachhaltige Signale in die Umgebung sendet und für ein positives Image Winterthurs sorgt.

57 | Vöcklinghaus (2009), S. 233.

Möglichkeitsräume auf dem Sulzer-Areal

Abbildung 123: Lagerplatz, Apparatebauhalle. Vor dem Klavier-Konzert, Frühlingsfest. Quelle: Krug, 2004.

Gerade weil sich der heterotope Raum immer nach der sozialen Gruppe definiert, kann daraus ein Modell lokaler Selbstorganisation entstehen. Auf die Stadtplanung bezogen bedeutet dies, utopische Entwürfe nicht mehr großpolitisch durchzusetzen, sondern die Stärken des Lokalen zu nutzen. Sie „muss föderalen Ordnungen Platz machen, die dort am innovativsten operieren, wo sie den ramble walk am Rande des Chaos gerade noch meistern und zu einer 58 heterogenen, heterarchischen Kohärenz bringen“. Am Beispiel des Vereins Lagerplatz wird deutlich, dass die Unordnung in Form eines kreativen Widerstandes nicht mehr als Defizit von Ordnung missverstanden wird. Im Gegenteil. Es ist die unentbehrliche andere Seite einer neuen Ordnung. Ein weiteres Beispiel des Modells lokaler Selbstorganisation stellt die Veranstaltungsreihe der SIA im Jahre 1989 dar. Um einen gewachsenen Stadtraum vor dem Abriss zu bewahren, bediente sich diese Initiative einer subversiven Strategie, welche eine Unordnung in die bisherige Ordnung brachte. Es ging den Initiatoren weniger um den großen Entwurf eines festgelegten Masterplans wie das Konzept „Winti-Nova“, sondern um eine städtebauliche Lösung, welche als Möglichkeitsraum auch zufällige und überraschende Entwicklungen zulässt. Die Veranstaltungsreihe verdeutlicht, dass der kreative Widerstand und die Subversion für das gesellschaftliche Gesamtsystem nützlich sein können. Heterotopien besitzen die Fähigkeit, die vorgegebenen Normen und Gegebenheiten infrage zu stellen und sie verhelfen zur Reflexion der gegebenen Ver58 | Willke (2003), S. 41.

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hältnisse. Oft löst die subversive Strategie große Überraschung und Verlegenheit bei der Kontrollinstanz aus. Diese Reaktion stellt jedoch eine konstruktive Verwirrung dar. Wenn eine soziale Bewegung die Entscheidungsträger dazu veranlasst, Alternativen wahrzunehmen, sind die Weichen für eine von allen Akteuren legitimierte Lösung gestellt. Eigene Geschichten in Form origineller und normabweichender Ideen können zur Unordnung und zur Subversion der realen Verhältnisse beitragen. Sie ermöglichen den Menschen, ihre Autonomie und Entscheidungsfreiheit zurückzuerobern, welche sie im Alltag scheinbar 59 verloren haben. Auch wenn die Logik starker und dominanter Organisationen kaum noch alternative Entwürfe zuzulassen scheint, können Personen und Gruppen diese Übermacht umgehen. Wenn sie auf ihre eigenen Geschichten beharren, können sie die „großen Erzählungen“ der Organisationen unterlaufen und ihre neuen Lösungen durchsetzen. Dabei kommt es darauf an, mit Sachverstand und Mut einen eigenen Sinnzusammenhang zu entwerfen: „Denn wenn man noch eine Hauptrolle von Personen für und in Organisationen definieren möchte, dann ist es die Rolle von unberechenbaren Spielern und absichtsvollen Verstörern […]. Nur eine nachhaltige Verwirrung der Organisation zwingt sie dazu, Alternativen wahrzunehmen, die typischerweise ausserhalb ihres Beobachtungsspektrums liegen, also komplexere Entscheidungsgrundlagen zu schaffen und über diesen Umweg zu angemesseneren Entscheidungen zu kommen. Erfahrungen im Umgang mit hoher Komplexität und Einsichten in die Operationsformen autopoietischer Systeme können sehr wohl dazu verhel-

59 | Mit ihren Strategien legen die sozialen Akteure subversive Kräfte an den Tag, was die folgende Beschreibung verdeutlicht: „ Das Quartierzentrum ist heute ein Bezweifeln, nicht ein Bestätigen der Gesellschaft. […] Am Anfang stehen die Verschwörerinnen, sie waren es, die die Sehnsuchtsesche in Form einer Birke ins Asphaltland des Fabrikhofs verpflanzten. Sie waren es, die Defizite in Hoffnung umpolten. Was fehlt, muss her, war ihre Devise. Doch vorher haben die Verschwörerinnen jahrelang Hausaufgaben gemacht. Sie machten Quartierpolitik, sassen in Planungskommissionen, redeten mit den Bewohnern, bauten ihr Beziehungsnetz auf, kurz: Sie lernten Gundeldingisch. […] Wohlverstanden, die Verschwörerinnen anerkannten die Bedingungen des realen Kapitalismus. Sie nahmen am Wettbewerb um ein Grundstück teil. Dafür brauchten sie die zwei baslerische Sondermenschensorte, die Sozialkapitalisten: Leute, die ihr Geld in soziale Projekte investieren, Leute, denen die Gier das Verantwortungsbewusstsein noch nicht abgetötet hat. Der erste Sozialkapitalist war der Entscheidende, denn er war der Eisbrecher. Er investierte 1,2 Millionen in die Gundeldinger Feld AG. Zwei Weitere zogen mit, drei Pensionskassen folgten nach, die Banken aber schreckten zurück.“ Grau/ Scheurer (2005), S. 38.

Möglichkeitsräume auf dem Sulzer-Areal

fen, die Rolle von Verstörern effektiver zu gestalten und damit Wirkungen in 60 Organisationen zu erzielen.“ Auch der Arealverein Lagerplatz entwickelte seine eigene Geschichte. Nach Gesprächen zwischen Stadt und Grundeigentümern stellte die Stadtregierung einen Kontakt zwischen dem Verein und den Vertretern des Gundeldinger Felds her. Darauf interessierte sich die Stiftung Abendrot für das Teilareal, trat mit der Firma Sulzer in Kaufverhandlungen und erwarb im Jahre 2009 den Lagerplatz. Zwar räumte die Stiftung den Mietern keine Selbstverwaltung ein – sie erklärte sich nicht bereit, wie vom Arealverein gewünscht, den Lagerplatz im Baurecht an die Mieter abzugeben –, doch stellte sie ihnen ein Mitspracherecht bei der zukünftigen Umgestaltung in Aussicht. Um gemeinsam das Areal Lagerplatz weiterzuentwickeln, lud die Stiftung im September 2009 alle sozialen Akteure zu einer Zukunftskonferenz in die Halle 180 ein. Hier sollten Strategien erarbeitet werden, um eine etappenweise Arealplanung, wie sie der Gestaltungsplan der Stadt vorgab, zu diskutieren. Die Entwicklung des Lagerplatzes verdeutlicht, dass die Planung eines sozialen Raums genauer Kenntnisse der Netzwerke und Kommunikationsflüsse 61 bedarf. Mit einem solchen Verständnis verteilt die Quartierplanung und das Stadtmanagement die Last der Systemsteuerung auf viele Schultern. Die Aufgabe eines Stadt- und Quartiermanagements besteht nicht darin, eine Ordnung oder gar Hyperordnung durchzusetzen, sondern mit der Unordnung adäquat und kompetent umzugehen. Die Planung muss flexibel bleiben und das jeweilige Situationspotenzial ausloten. So kann beispielsweise die Lebendigkeit des Lagerplatzes an Bedeutung gewinnen, wenn in Zukunft die Ausbalancierung der Mieten gelingt: „Zu niedrige Mieten können ‚Hobbyräume‘ fördern, schaffen aber wenig Öffentlichkeit. Zu hohe Mieten verunmöglichen experimentelle 62 Nutzungen.“

Die Stadt als medialer Raum Am Beispiel des Sulzer-Areals lässt sich ablesen, dass die Produktion des Raumes mit der Existenz von Heterotopien verknüpft ist. Die gesellschaftliche Funktion der Heterotopien findet auf einer symbolisch-mythischen und pragma63 tisch-zweckgebundenen Ebene statt. Die Stadtviertel verkörpern somit einen medialen Raum, der Auskunft über die gesellschaftliche Konstitution ihrer symbolischen Raumprogramme geben kann. Ein Beispiel, die Zürcher Hochschule

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Aus: www.philosophia-online.de/mafo/heft2006-3/willke.htm, 23.09.2009. Vgl. in Koll-Schretzenmayr/Kunzmann/Heider (2008). Angst/Klaus/Michaelis (2008), S. 107. Vgl. Hasse (2007), S. 72.

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Möglichkeitsräume gestalten

für Angewandte Wissenschaften, Departement Architektur (ZHAW), soll diese These stützen. Das Technikum Winterthur, welches später zur ZHAW wurde, suchte zu Beginn der 1990er Jahre für ihre Architekturabteilung geeignete Räume. Die Professoren entwarfen ein Konzept, welches die Unterrichts- und Seminarräume in die Halle 180, die ehemalige Kesselschmiede von 1924, integrieren sollte. Die Umnutzung erfolgte in Form eines Großraumbüros, bei der es kaum noch trennende Wände gab. Dieser offene Einbau führte zu einer maximalen Unterrichtstransparenz. Hinzu kam, dass die Studierenden mit einem elektronischen Schließsystem die Möglichkeit erhielten, zu jeder Tages- und Nachtzeit ihren 64 Arbeitsplatz aufzusuchen. In ihrer pragmatisch-zweckgebundenen Nutzung dient die ehemalige Kesselschmiede dem Lehren und Forschen. Auf der symbolisch-mythischen Ebene entwickelt dieser Raum eine Narration, welche das gesellschaftliche Programm 65 spiegelt. Unter Bezugnahme auf die industrielle Vergangenheit verknüpft die Hochschule eine moderne Nutzung mit der Geschichte des Sulzer-Areals. Die Kombination von historischen Stahlträgern mit den modernen Computerarbeitsplätzen lässt einen atmosphärischen Raum entstehen, welcher die Erzählungen seiner ehemaligen industriellen Nutzung jeden Tag weiterführt. Diese Narration wirkt auf den sozialen Raum zurück. Durch seine Baumaterialien, technischen Strukturen, rechtlichen Institutionen, Hausordnungen, architektonischen Gestaltungsformen und seinen Standort kommt dem Gebäude eine 66 sozialkonstitutive Rolle zu. In einer Doppelbindung von funktionalem und symbolischem Programm formt der Raum nicht nur das kollektive Gedächtnis, sondern auch das Verhalten der sozialen Akteure. Damit werden die Heterotopien zu Steuerungs- und Regelungsinstrumenten des Raumes. Die Heterotopie „steuert – indem sie verführt, etwas erzählt, sich in der Gestalt eines Bauwerkes

64 | Vgl. Sulzer Immobilien und TWI: Architekturschule Technikum Winterthur, Einbau 1991/Ausbau 1997, Zürich, 1997. 65 | Vgl. Hasse (2007), S. 72ff. 66 | Vgl. a.a.O., S. 72f.

Möglichkeitsräume auf dem Sulzer-Areal

Abbildung 124: Lagerplatz, ZHAW – Zürcher Hochschule Winterthur –, Departement Architektur. Quelle: Krug, 2010.

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Möglichkeitsräume gestalten 67

maskiert und in all dem Schweigen laut werden lässt.“ Auffällig ist das Motto „nevergiveupdreaming“, welches auf die weiße Innenwand der Hochschule gesprüht ist, und welches für die Botschaft dieses symbolischen Raumprogramms steht. Die ehemalige Industriehalle dient als kulturelles Medium und baukör68 perliche Gestalt der Gesellschaft in einem. Das Motto „nevergiveupdreaming“ wird zur symbolischen Forderung, das „foucaultsche Schiff“ zu besteigen und zum Abenteurer zu werden. Die Hochschule als Heterotopie erlaubt den Lehrenden und den Studierenden, einen Möglichkeitsraum zu generieren, in welchem zahlreiche Experimente stattfinden und in welchem auch Fehler gemacht werden dürfen. Sie verkörpert eine Heterotopie, die einem System eigener Regeln und Strukturen unterworfen ist, und die dem gesellschaftlichen Regelsystem widersprechen kann. Gleichwohl ist die Gesellschaft auf diese Gegenräume angewiesen, um sich reproduzieren zu können. Mit ihrer narrativen Funktion tragen die Heterotopien entscheidend zur Attraktivität des Ortes bei und mit ihren Möglichkeiten, der „Unordnung“, dem 69 Unerwarteten oder dem Fantastischen einen Platz anzubieten , lockt es die Menschen an und maximiert das kulturelle und soziale Kapital der Stadt. Das 70 Besondere des Sulzer-Areals besteht darin, dass diese Nischenräume von allen sozialen Akteuren, von den Grundeigentümern, der Stadtregierung und den Bewohnern Winterthurs erwünscht sind und gefördert werden.

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Hasse (2007), S. 85. Vgl. Delitz (2009), S. 163ff. Vgl. Grau/Scheurer (2005), S. 11. Vgl. Boesch (2001), S. 54.

Möglichkeitsräume auf dem Sulzer-Areal

Abbildung 125: Die Ordnung der Unordnung – Brockenstube. Quelle: Krug, 2009.

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D IE NACHHALTIGE S TADT

Abbildung 126: Winterthur. Quelle: Krug, 2005.

In Winterthur drückte sich die Skepsis gegenüber den großen Erzählungen 1 der Moderne in der Protestbewegung gegen die Gesamtplanungsstudie „Winti-Nova“ aus. Die soziale Bewegung produzierte in ihrer Veranstaltungsreihe die Neustadt aus der Werkstadt nicht nur Dissens, sondern vor allem 2 auch Wissen. Erst durch die differenzierten Beobachtungen und Diskussionen über die Zukunft des Sulzer-Areals begriff die Stadtregierung, dass ein fast vollständiger Abbruch des Sulzer-Areals die Unzufriedenheit der Bevölkerung nach sich ziehen würde. Stadtplanung sollte von nun an als eine öffentliche Aufgabe verstanden werden. Ihrem Erfolg kam der Protestbewegung das politische Selbstverständnis der Schweiz mit ihrer direkten Demokratie zugute. Da 3 alle Gemeinden über relativ autonome Rechte und Kompetenzen verfügen,

1 | Lyotard (2009). 2 | Vgl. Reese-Schäfer (1995), S. 33. 3 | Vgl. Diener/Herzog/Meilil/de Meuron (2006), S. 175.

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Möglichkeitsräume gestalten

besitzen dort die sozialen Bewegungen eine direktere und schnellere Handlungsfähigkeit als in anderen europäischen Ländern. Zum Schluss dieser Arbeit stelle ich die Frage, ob die Erfahrungen des SulzerAreals in Winterthur auf die Schweiz beschränkt bleiben oder auf europäische Prozesse übertragbar sind. Kann mit den Erfahrungen aus Winterthur eine Perspektive urbaner Planungspolitik aufgezeigt werden? Welche Grundzüge würde eine solche Perspektive aufweisen und in welcher Weise würde diese auf eine nachhaltige Produktion des Raumes Einfluss nehmen? In Anlehnung an den Soziologen Manuel Castells wage ich eine Prognose, die sowohl die Gefah4 ren als auch die Chancen einer Stadtentwicklung aufzeigt. Hieraus will ich dann meine Schlüsse für eine nachhaltige Zukunftsperspektive ziehen. Die Informationsgesellschaft wird im Zuge der globalen Ökonomie die europäischen Städte in zunehmendem Maße formen und verändern. In Zukunft wird sich die Stadt zu einer dualen Gemeinschaft entwickeln, wodurch zahlreiche soziale Konflikte entstehen werden. Unsere politisch-ökonomische Stabilität wird viele Menschen aus den marginalisierten Gebieten dieser Erde anzie5 hen. Die größeren europäischen Städte werden sich noch stärker als bisher zu einem Magneten für die Armutsströme dieser Welt entwickeln. Gleichzeitig wird sich der Kontinent gegen den Rest der Welt abzuschotten versuchen. Diese Entwicklung kann nicht ohne Einfluss auf die Fundamente der europäischen Zivilgesellschaft bleiben. Wenn sich die regionalen den supranationalen Interessen der Europäischen Gemeinschaft unterordnen müssen, wird das bei vielen Menschen Angst erzeugen. Diese Angst wird noch größere 6 nationalistische und rassistische Widerstände in Europa auslösen als bisher. Die entstehende Identitätskrise des urbanen Raums, ihrer Einwohner und ihrer Kultur wird sich noch stärker in rechtspopulistischen Bewegungen äußern. Parallel zum Zerfall der nationalen Identität wird die Ankunft von Immigranten den Prozess der kollektiven Entfremdung weiter verstärken. Wenn supranationale europäische Rechte gegenüber den nationalstaatlichen an Bedeutung zunehmen, werden die politischen und ökonomischen Veränderungen noch schneller voranschreiten. Eine solche Entwicklung wird sich auf die Stadtpolitik auswirken. Indem ein supranationales Europa einen zunehmend größeren Einfluss auf die Nationalstaaten nehmen wird, werden die Städte als Knotenpunkte des globalen Netzwerkes versuchen, ihre eigene Autonomie zu bewahren. 4 | Vgl. Castells (1996). 5 | Dieser Prozess wird noch an Schärfe gewinnen, wenn es den ehemaligen Kolonialstaaten nicht gelingt, einen Ausgleich für die von ihnen über Jahrhunderte hinweg stattgefundene Ausbeutung zu schaffen. Einen Einblick in dieses Thema gibt Jean Ziegler. Vgl. Ziegler (2009). 6 | Vgl. Beck, (2002), S. 7ff.

Schluss: Die nachhaltige Stadt

Die Stadtbevölkerung Europas hat mit weiteren Konfliktfeldern zu rechnen. Während die marginalisierten Bevölkerungsgruppen immer sichtbarer das Stadtbild prägen, formieren sich im urbanen Raum Gegenkulturen. Die neue Armut findet sich einerseits in den Gettos, wie den Stadtteilen der Immigranten, und andererseits in den ungeschützten Bereichen der Großstadt, so etwa den temporären Unterkünften der Obdachlosen. Die duale Stadt der Zukunft wird noch mehr ein sozial differenzierter Raum sein, womit sich die Logik der 7 Netzwerkgesellschaft unmittelbar auf die Stadt niederschlägt. Auf der einen Seite befinden sich die Orte der prekären, marginalisierten Schichten unserer Gesellschaft, und auf der anderen Seite die homogenen Geschäftszentren, in denen sich die neuen Eliten der Manager, Technokraten und Politiker die exklu8 siven Räume der Stadt aneignen und verteidigen. Die duale Stadt wird aus einer polarisierten Bevölkerungsstruktur bestehen. Die jungen, gut ausgebildeten Arbeitskräfte, die kosmopolitisch denken und die globale Stadt lenken werden, stehen den Immigranten, den schlecht Ausgebildeten und den alten Menschen gegenüber. Macht und Ohnmacht werden im urbanen Raum aufeinanderprallen. Dieser Prozess kann sich zur Stadtkrise entwickeln, wenn es nicht gelingt, den urbanen Raum als ein Kommunikationsfeld zu begreifen, das die Informationselite mit der regional ausgerichteten Bevölkerungsschicht zu versöhnen sucht. Die Aufgabe einer nachhaltigen Stadtentwicklung besteht darin, eine sich abzeichnende „urbane Paradoxie“ zu überwinden. Sichtbar wird diese zum Beispiel in Form geschlossener Wohnanlagen, den „Gated Communitys“, welche inzwischen auf der ganzen Welt entstehen. In den USA stehen mittlerweile über 40.000 überwachte Anlagen. Doch nicht nur dort ist die Wohnform verbreitet. Seit rund 30 Jahren gehören Gated Communitys zum Bild südamerikanischer Städte. In Südafrika sind sie gerade seit dem Ende der Apartheid bei der weissen Bevölkerung beliebt. Und auch in Russland zieht sich die reiche Oberschicht zunehmend aus Städten zurück und sucht ihr Glück in umzäunten Wohnvierteln vor den Toren der Metropolen. […] „In Deutschland sind Gated Communitys ein Ausdruck der zunehmenden Pola9 risierung zwischen Arm und Reich“ […].

Das „Modell Winterthur“ verdeutlicht, dass die Produktion eines sozialen Raumes wie sie Henri Lefebvre beschrieben hat, immer auch mit der „Kunst des Problemlösens“ verbunden ist. An diesem Modell wird deutlich, dass die Bürger in der Pflicht stehen, rechtzeitig ihre Wünsche und ihr Begehren zu formulieren. Für ähnlich gelagerte Stadtentwicklungen gilt, dass die politischen 7 | Castells (2004). 8 | Vgl. Castells (1996). 9 | Heissler (2011).

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Möglichkeitsräume gestalten

Vertreter bereits im Vorfeld politischer Entscheidungen vielfältige Strategien einer Partizipation entwickeln müssen. Die Produktion des Raumes verlangt nach kreativen Evaluationsverfahren, da herkömmliche Planungsmethoden nicht mehr auszureichen scheinen: „Für eine wirkungsvolle Bearbeitung solch komplexer Aufgaben sind die üblichen formalen Planungsverfahren, tradierten 10 Methoden oder Routinelösungen häufig ungeeignet […].“ Die Bürgergesellschaft braucht demokratische Kontrollmöglichkeiten. Die Demokratie muss jeden Tag von Neuem gelebt werden. Gerade der Gefahr eines sich am Horizont 11 abzeichnenden Neofeudalismus, welcher das wirtschaftliche Eigentum eng mit der öffentlichen Gewalt verfilzt und damit die demokratischen Grundsätze zu unterlaufen droht, kann mit einer solchen Methodenvielfalt entgegengetreten werden. An dieser Stelle wird die Bedeutung der Kommunen mehr als deutlich. Zwar besitzen die Nationalstaaten immer weniger Macht, die globale Ökonomie zu beeinflussen, dafür sind sie flexibler und anpassungsfähiger gegenüber den sozialen und ökonomischen Veränderungen ihrer unmittelbaren Umwelt. Hier könnte den regionalen Regierungen eine neue Bedeutung zukommen. Während in einer Zeit der Globalisierung der Nationalstaat zunehmend an Macht verliert, könnten viele seiner Aufgaben von den Städten übernommen werden. Sie können zu einer eigenen, selbst organisierten Steuerungsinstanz werden, wenn es gelingt, die Bürgerbeteiligungen zu fördern, die Kooperation zwischen anderen Regionen zu forcieren und eine neue Vision der Stadt zu entwickeln. Diese Vision wäre geprägt von der Einführung kooperativer Methoden jenseits der Parteienkonkurrenz. Sie würde sich in Form einer Bürgergemeinschaft artikulieren. Und womöglich wäre dies, so Manuel Castells, auch eine Art der Rekonstruierung des Stadtstaates als zukünftiger Möglichkeitsraum. Somit wäre die Hinwendung auf das Lokale und „das Eindringen neuer Formen der 12 Zivilgesellschaft in das politische System (z.B. Bürgerinitiativen)“ ein Reflex des Überlebens. Es wäre eine nachhaltige Form des Partikularismus, bei der das Lokale dem Globalen gleichwertig gegenüberstehen könnte. Ein solches 13 Vorgehen würde mit den Zielen einer nachhaltigen Entwicklung, wie sie im 14 Jahre 1992 auf dem Erdgipfel formuliert wurde, übereinstimmen. 10 | Schönwandt/Hemberger/Grunau/Voermanek/von der Weth/Saifoulline (2011), S. 14. 11 | Vgl. Wagenknecht (2011), S. 164. 12 | Kühne (2006), S. 41. 13 | Vgl. Hauff (1987). 14 | Im Jahre 1992 fand in Rio de Janeiro der sogenannte „Erdgipfel“ statt (United Nations Conference of Environment and Development/UNCED). Dort verabschiedeten fast alle Nationen dieser Erde die „Agenda 21“. Es sollte als globales Aktionsprogramm

Schluss: Die nachhaltige Stadt

Für einen nachhaltigen Umbau der Gesellschaft werden die Kommunen – so die Aussage der Agenda 21 – zu ausschlaggebenden Zentren, indem „den supranationalen und nationalstaatlichen Regelungsmöglichkeiten ‚von oben‘ ein politisch kommunaler Impuls ‚von unten‘ in Form einer Lokalen Agenda 15 entgegengesetzt werden kann“. Bei der Entwicklung einer Lokalen Agenda 21 wird die Partizipation der Bevölkerung bei Stadtentwicklungsprozessen einge16 fordert. Da in vielen Städten die sozialen Bewegungen wichtige Impulse für eine nachhaltige Entwicklung geben, und da sie „häufig über Fachkenntnis17 se und Erfahrungen im Bereich der Netzwerkarbeit“ besitzen, müssen die Kommunen diese sozialen Akteure noch mehr in die politischen Entschei18 dungsprozesse einbeziehen. In diesem Sinne bezeichnet die Stadt Winterthur 19 in ihrer Schrift „Vademecum“ die „Werkstatt ’90“ und die sich daraus anschließenden „Foren“ als Beispiele einer nachhaltigen Planung. Die 1990er Jahre waren von Diskussionen über eine sinnvolle Stadtentwicklung geprägt. Sie äußerte sich in Form von Werkstattgesprächen, Foren, Testplanungen und zivilgesellschaftlichen Aktivitäten. Auch wenn der Begriff der Nachhaltigkeit damals noch keine explizite Bedeutung besaß, setzten sich die Bürger, Experten, Politiker und Grundeigentümer mit der Frage einer nachhaltigen Stadtentwicklung auseinander. Die Einflussnahme der sozialen Bewegungen hat sich in Winterthur bewährt, denn sie legte wichtige Weichenstellungen für eine erfolgreiche für eine nachhaltige Entwicklung gelten. Ziel war es, eine Gerechtigkeitsdebatte anzuregen, um die Ungleichheit zwischen und innerhalb von Völkern abzuschaffen und die Umwelt- und Entwicklungsinteressen aller Völker zu gewährleisten. Vgl. http://www.agrar. de/agenda/agd21k01.htm, Stand: 16.11.2009. 15 | Brunold (2004), S. 104. 16 | In der am 1. Januar 2002 in Kraft getretenen Bundesverfassung wird der Gedanke der Nachhaltigkeit wie folgt aufgenommen: „Sie (die Schweizerische Eidgenossenschaft) fördert die gemeinsame Wohlfahrt, die nachhaltige Entwicklung, den inneren Zusammenhalt und die kulturelle Vielfalt des Landes. (Art.2 Abs. 2)“ Stadt Winterthur, Department Sicherheit und Umwelt: Vademecum zur nachhaltigen Kommunalpolitik, 3. aktualisierte Auflage Winterthur, 2000, S. 23. 17 | Brunold (2004), S. 50. 18 | Vgl. A.a.O., S. 60. 19 | Die Schrift Vademecum zur nachhaltigen Kommunalpolitik sollte ein Wegweiser für Winterthur sein. Bei der Umsetzung der Agenda 21 spricht die Stadt ihrer Lokalbehörde eine wesentliche Rolle zu: „Die Lokalbehörden spielen als Regierungsbehörden, die den Menschen am nächsten stehen, in Erziehung und im Sensibilisieren der Öffentlichkeit für eine nachhaltige Entwicklung eine entscheidende Rolle. Bis 1996 soll jede Lokalbehörde ihre Bürger und Bürgerinnen befragt und eine Lokale Agenda 21 für ihre Gemeinschaft ausgearbeitet haben[…].“ Stadt Winterthur, Department Sicherheit und Umwelt: Vademecum zur nachhaltigen Kommunalpolitik , 3. aktualisierte Auflage Winterthur, 2000, S. 18.

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Möglichkeitsräume gestalten

Transformation des Sulzer-Areals. Dialogorientierte und partizipative Instrumente sind in der demokratischen Bürgergesellschaft Winterthurs verankert und geben damit den methodischen Rahmen einer positiven Reurbanisierung des Raumes vor. Kann die Stadt Winterthur einen politischen Möglichkeitsraum für andere Städte anbieten? In welcher Hinsicht leistet das Sulzer-Areal einen Beitrag für eine nachhaltige Stadtentwicklung und wie können die zahlreichen Erfahrungen der Bürgerbeteiligung über die Grenzen der Schweiz hinaus vermittelt werden? Ein „Modell Winterthur“ ist mit der Aufforderung verbunden, Stadtplanung nicht nur als ästhetisches und funktionales Phänomen, sondern vor allem als demokratischen Entwicklungsprozess zu sehen. Ein „Mehr Demokratie wagen“ verlangt die Einbeziehung aller Bürger, um deren Kompetenzen, Ideen und 20 Konfliktlösungsfähigkeiten noch mehr zu nutzen. Methoden einer politischen Partizipation der Bürger lassen sich an 21 zahlreichen Beispielen finden. An dieser Stelle sei die Zukunftskonferenz genannt. Sie ist eine Großgruppenkonferenz, in der innerhalb weniger Tage die grundlegenden Elemente einer wünschenswerten Zukunft erarbeitet werden. Im Gegensatz zu den nicht-öffentlichen Testplanungen operieren hier viele unterschiedliche Akteure. Eine solche Konferenz berief die Stiftung Abendrot nach dem Ankauf des Lagerplatzes im Jahre 2009 ein. Die neuen Investoren beabsichtigten, eine Nachhaltigkeitsdiskussion zu der zukünftigen 22 Arealentwicklung auf dem Lagerplatz anzustoßen. Ihr Ziel bestand darin, 23 „eine komplexe Landkarte erwarteter Zukunftsherausforderungen“ anzulegen und die Bilder einer erwünschten Stadtteilentwicklung zu entwerfen. Die Veranstalter beabsichtigten mit dieser Methode die Vernetzung des gesamten Wissens der anwesenden Personen, ihre Identifikation mit dem Projekt und die Entwicklung einer gemeinsamen Wertebasis. Durch den weitgehenden Verzicht externer Fachleute stärkten sie das Vertrauen in die Kompetenz der Teilnehmer, entwickelten deren Problemlösungsfähigkeit und gaben den 24 Anstoß zu einer weiteren Zusammenarbeit der sozialen Akteure. Mit dieser 20 | Vgl. Gaines/Jäger (2009), S. 145ff. 21 | Erstmals beschrieb Marvin R. Weisbord diese Methode. Dieses amerikanische Verfahren verwendete die Firma „frischer wind“ bei der Winterthurer Zukunftskonferenz. Vgl. Burow (2008), S. 181ff. 22 | Die Stiftung Abendrot, deren Entstehung sich aus der Anti-Atomkraftbewegung der 1980er Jahre herleitet, ist eine selbstverwaltete Pensionskasse. Ihre Anlagestrategie richtet sich nach den Kriterien Gesundheit, Umwelt und Gerechtigkeit. 23 | Burow (2008), S. 181. 24 | Es wird deutlich, dass die „Unordnung der Ordnung“ einen Generator neuen Wissens darstellt. Vgl. a.a.O., S. 184.

Schluss: Die nachhaltige Stadt

Großgruppenmethode sollte für den Lagerplatz ein Strategiepapier entstehen, welches als Grundlage für die nachhaltige Entwicklung des Areals dienen sollte. Die Ergebnisse der Zukunftskonferenz fasste die Stiftung Abendrot in ihrer Informationsschrift zusammen: Dabei kam stark zum Ausdruck, dass das Areal von vielen als Heimat, als Perle und als Biotop empfunden wird, das in seiner Durchmischung erhalten und weiterentwickelt werden muss, wo dank günstiger Mieten auch Betriebe eine Bleibe haben, die auf dem normalen Liegenschaftsmarkt Mühe hätten. Zugleich wurde aber auch klar, dass sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten ein enormer Bedarf an Unterhaltsarbeiten – vor allem in energetischer Hinsicht – aufgestaut hat. Der Workshop bot Gelegenheit, Utopien zu beschreiben. So träumten viele davon, dass sich das Areal zu einem ökologischen Vorzeigeprojekt mit grosser Magnetfunktion entwickelt, die Dächer der Hallen für Solarenergie genutzt werden, alle Gebäude renoviert und energetisch saniert sind, viele Pflanzen das Areal begrünen, kaum Autoverkehr stattfindet, das Areal durch ÖV bestens erschlossen ist, ein Backpacker-Hotel günstige Übernachtungen bietet, ein gut besuchtes Begegnungszentrum mit vielseitigem kulturellem Angebot da ist und ein Teil der Mieten dazu genutzt wird, Mieten für finanziell schwache Firmen zu subventionieren. Die Rede war auch von einer Kinderkrippe, in der Kinder von Mieterinnen und Mietern betreut werden, wie auch von Wohnraum. Wie viel nun von all dem Wirklichkeit wird, hängt davon ab, wie die an der Zukunftskonferenz eingesetzten Arbeitsgruppen arbeiten und wie realistisch und finanzierbar ihre Vorschläge sein werden. Denn eines darf nicht vergessen werden: Das Lagerplatzareal ist eine Geldanlage, mit der das Alterskapital der Abendrot25 Versicherten so verzinst werden kann, dass die Renten im Alter gesichert sind.

Die Geschichte des Sulzer-Areals veranschaulicht, wie soziale Bewegungen die Öffentlichkeit, Politiker und Grundeigentümer zu einem Nachdenken über den urbanen Raum bewegen und eine einseitig auf den Tauschwert ausgerichtete Stadtentwicklung, die „nach den Kriterien von Höchstangebot, Rendite und 26 Ästhetik“ ausgelegt ist, verhindern können. Ohne die Werkstattgespräche der SIA, ohne die städtebaulichen Wettbewerbe, ohne die Gründung des Arealvereins und ohne die unvoreingenommene Verhandlungsbereitschaft aller sozialen Akteure wären die politischen Forderungen einer nachhaltigen Stadtgestaltung gescheitert. Gleichwohl könnten die Möglichkeiten einer Verknüpfung von gesellschaftlicher Partizipation und professioneller Fachkompetenz noch intensiver genutzt werden, wenn sich auch die Testplanungen noch mehr öffnen würden. So wäre 25 | Stiftung Abendrot: Abendrot Info 44, Basel, Herbst 2009, S. 25f. 26 | Briegleb (2009).

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eine Erweiterung dieser Planungsmethode denkbar, wenn nicht nur Stadtpolitiker und Architekten, sondern auch Soziologen, Philosophen, Künstler, Kulturwissenschaftler oder Vertreter der sozialen Bewegungen in die Testplanungen mit einbezogen würden. Die konsequente Umsetzung einer nachhaltigen Stadtplanung bestände darin, den Mut zu zeigen, vor einer Testplanung eine Zukunftskonferenz abzuhalten. Ihre Ergebnisse und Empfehlungen könnten 27 dann unmittelbar in die Testplanungen einfließen. Eine Verzahnung von Zukunftskonferenzen mit Testplanungen könnte dem Expertenwissen wichtige 28 Impulse geben. Erst mit diesem Schritt wäre meines Erachtens der Stadtentwicklungsprozess als nachhaltig zu bezeichnen, da ein solch synoptisches Vorgehen gezielt auf die lokalen Gegebenheiten reagieren würde und zu Lösungen beitragen könnte, welche auf den sozialen, ökonomischen und funktionel29 len Raum zugeschnitten wären. Eine wirksame Nachhaltigkeitsdebatte benötigt die Partizipation aller sozialen Akteure. Nachhaltige Stadtentwicklung wirkt nur in Zusammenhang mit sozialen Bewegungen, da die funktionellen Teilsysteme Informationen von „außen“ benötigen. Ein Umdenken der Wirtschaft erfolgt nur, wenn ihr das nachhaltige Handeln ökonomische Vorteile bringt. Die Unternehmen verändern ihr Programm nur dann, wenn sie einen Gewinn aus einer „Nachhaltigkeitsstrategie“ erzielen können. Die Proteste gegen „Winti-Nova“ brachten für die Firma Sulzer AG Vorteile, weil sie vor allem finanzielle Einbußen durch 30 unnötige Planungen verhindern wollte. Für ihre Meinungsänderung gaben also weniger die moralischen als die ökonomischen Argumente den Ausschlag. Darüber hinaus verhinderte die Liegenschaftskrise eine vorschnelle Vermarktung des Sulzer-Areals. Dem Verein Lagerplatz gelang es 20 Jahre später, im Jahre 2009, den gewachsenen sozialen Raum zu erhalten. Als vermittelnde Instanz zwischen Mieter, Investor und Grundeigentümer stellte die Stadt den Kontakt zur Stiftung Abendrot her und unterstützte damit die Verkaufsverhandlungen. Letztlich 27 | Speer drückt dies wie folgt aus: „Um eine nachhaltige Zukunft planen zu können, muss das Planungsteam bei jedem Projekt aus unterschiedlichen Experten zusammengesetzt sein, von Soziologen und Philosophen bis hin zu Verkehrsplanern. […] Es bedeutet auch, Unvoreingenommenheit zwischen den Generationen zu schaffen, das gesunde Urteilsvermögen und nicht überkomplexes Spezialistentum zu fördern.“ Gaines/Jäger (2009), S. 28. 28 | Vgl. Burow (2008), S. 185. 29 | Dieses Vorgehen kann mit einer Vielfalt weiterer Methoden der Partizipation erweitert oder ergänzt werden. Norbert Kersting stellt in seinem Buch eine Reihe dieser Methoden vor. Vgl. Kersting (2008). 30 | Alle Entscheidungen sind deshalb immer auch im Kontext des jeweiligen Funktionssystems zu verstehen. Vgl. Luhmann (2008), S. 197f.

Schluss: Die nachhaltige Stadt

führte diese umsichtige Politik zum erfolgreichen Ankauf des Lagerplatzes durch die Stiftung. Das Beispiel des Winterthurer Sulzer-Areals verdeutlicht, dass zwei soziale Bewegungen, die SIA-Veranstaltungen 1989 und der Lagerplatzverein 2009, für eine nachhaltige Entwicklung des Areals sorgten. Das „Modell Winterthur“ bestände damit nicht aus einem direktiven Maßnahmekatalog, sondern aus einer Folie gelungener Methoden der Selbstverwaltung und der Bürgerbeteiligung. Zukunftswerkstätten, Testplanungen, Foren oder zivilgesellschaftliche Initiativen weisen einen geeigneten Weg auf. Die Folie „Modell Winterthur“ könnte über andere europäische Stadtentwicklungsprozesse gelegt werden, um Parallelen zu entdecken, Unterschiede aufzudecken und Schlüsse für den eigenen Stadtentwicklungsprozess zu ziehen.

Abbildung 127: Blick in die Zukunftskonferenz. Quelle: Krug, 2009.

Das Beispiel des Stadtentwicklungsprozesses in Winterthur offenbart, dass für die sozialen Bewegungen entscheidende Einflussmöglichkeiten geschaffen werden müssen: „Die Bürger spüren, dass ihnen eine normativ entkernte Politik etwas vorenthält. Dieses Defizit drückt sich sowohl in der Abwendung von der organisierten Politik aus wie in jener neuen Protestbereitschaft der

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Basis, für die ‚Stuttgart 21‘ die Chiffre ist.“ Eine solche Politik könnte den Verdruss einer politischen Unterforderung der Bürger ein Ende bereiten, die Demokratie stärken und die Produktion des Raumes nachhaltig verändern. In gleicher Weise wie Elinor Ostrom sehe ich die Zukunft einer sinnvollen Nutzung der Gemeingüter in einer Partizipation aller sozialen Akteure: Keine Regierung der Welt kann die ganze Palette an Wissen, Instrumenten und Sozialkapital entwickeln, die nötig ist, um nachhaltige Entwicklungsprozesse zu fördern. All diese Dinge müssen ständig an die kulturellen und ökologischen Verhältnisse vor Ort angepasst werden. Das ist eine gewaltige Aufgabe, weshalb ich Folgendes zu behaupten wage: Jeder noch so umfassende Massnahmenkatalog, der in einem grossen Territorium Anwendung finden soll, ist zum Scheitern verurteilt. Denn grosse Territorien haben immer ökologische Nischen. Die Bedingungen an einem Ort dieses Territoriums können von denen an einem anderen Ort desselben Territoriums sehr verschieden sein. Eine wesentlich erfolgreiche Strategie besteht demnach darin, die Fähigkeiten der Menschen zur Selbstorganisation und zur Kooperation zu stärken. Es sind nämlich die Nutzer selbst, die vor Ort den besten Einblick in die konkreten Bedingungen haben. Dieses Vorgehen ist sinnvoller, als nach theoretisch optimalen institutionellen 32 Lösungen zu suchen.

Mit dieser Arbeit ist das Sulzer-Areal noch nicht vollständig rekartografiert. Es bleiben zahlreiche Fragen unbeantwortet: Welche Nutzung wird der Wintower, das ehemalige Sulzer-Hochhaus, erhalten? Wie wird sich das SLM-Werk nach Abschluss der Testplanungen und nach dem Auszug der industriellen Produktion entwickeln? In welcher Weise wird der schweizerische Baukonzern „Implenia“ die im September 2010 erworbenen Teilareale umgestalten? Nach Abschluss dieser Forschungsarbeit berichtete am 1. September 2010 der „Tages-Anzeiger“ (Schweiz) über den Verkauf der restlichen „Sulzer-Areale Stadtmitte und Oberwinterthur“ an den größten schweizerischen Baukon33 zern „Implenia“. Die Absicht des Unternehmens bestand nach Angaben des obersten Chefs, Anton Affentranger, in der Bebauung und dem anschließenden Verkauf der Immobilien. In ihrer Medienmitteilung schrieb die Firma Sulzer: „Sulzer veräussert den Immobilienbesitz und die Aktivitäten der Sulzer Immobilien AG. Die Winterthurer Immobilien sowie der Entwicklungsbereich gehen an die Implenia AG […]. Die Strategie alle nicht betriebsnotwendigen

31 | Habermas (2011), S. 128f. 32 | Ostrom (2011), S. 30f. 33 | Vgl. Interview Reto Wäckerli mit Anton Affentranger: Wäckerli (2010), S. 15.

Schluss: Die nachhaltige Stadt

Grundstücke und Immobilien in der Schweiz längerfristig an Dritte zu verkau34 fen wurde mit diesem letzten Schritt erfolgreich umgesetzt.“ Neugierig blicke ich auf die zukünftige Entwicklung des Sulzer-Areals Stadtmitte, das heute bereits als positives Modell eines zivilgesellschaftlichen Engagements Geschichte geschrieben hat. Die Entwicklung des Areals führt zu einer optimistischen Einschätzung. Sie kann mit ihrem demokratischen Verständnis zahlreiche Anregungen für die europäischen Städte und Kommunen geben. Viele Umgestaltungsprojekte sind noch nicht realisiert. Es wäre zu wünschen, dass die zukünftigen Planungen die gewachsenen Strukturen des Areals, dessen historisches Erbe und den damit verknüpften demokratischen Erfahrungsschatz berücksichtigen. Im Grunde geht es darum, den Mut aufzubringen, einer Ordnung der Unordnung Rechnung zu tragen und die Möglichkeitsräume des Areals immer wieder von Neuem mutig zu entdecken und kreativ zu gestalten.

Abbildung 128: „Wir sitzen alle im selben Boot…“. Sulzer-Archiv, Schraubenschiff „Lombardo“, 1901. Quelle: Sulzer-Archiv.

34 | Sulzer Immobilien AG: Medienmitteilung , 31. August 2010.

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Möglichkeitsräume gestalten

Onlinequellen http://www.abendrot.ch/de/01-02.php, Stand: 22.9.09. http://www.agrar.de/agenda/agd21k01.htm, Stand: 16.11.2009. http://www.bda.at/documents/455306654.pdf, Stand: 6.9.2010. http://www.block.ch/info/index.html, Stand: 1.4.2010. http://www.ch-frauenfeld.ch/cset.htm, Stand: 18.7.2009. http://www.church.ch/index.php, Stand: 27.9.2009. http://designculture.zhdk.ch/pages/home.php?lang=DE, Stand: 24.10.2010. http://www.eisenwerk.ch/eisenwerk/geschichte/, Stand: 10.5.2010. http://www.eisenwerk.ch/uploads/file/pdf/In-Ku-6.pdf, Stand: 16.7.2009. http://www.guerrillagardening.org, Stand: 16.3.2010. http://www.heimatschutz.ch/d/default.shtm, Stand: 22.6.2008. http://www.lagerplatz.ch/was1.htm, Stand: 11.2.2008. http://www.lokwerk.ch, Stand: 25.8.2011. http://www.nzz.ch/2005/07/23/zh/articleczz6k_1.159155.html, Stand: 3.12.2011. http://www.nzzfolio.ch/www/d80bd71b-b264-4db4-afd0-277884b93470/showarticle/62fa93fb-69fc-462e-a2cc-8100cfdde7cd.aspx, Stand: 05.05.2012 http://www.outback-lodge.ch/, Stand: 20.7.2010. http://www.philosophia-online.de/mafo/heft2006-3/willke.htm, Stand: 23.09.2009 http://www.stadtlabor.ch/urbane-revolte-2/, Stand: 23.12.2011. www.stadt.winterthur.ch/daten/weisungen/W04020.pdf, Stand: 23.12.2011 http://www.sulzerareal.com/projekte/kesselhaus.html, Stand: 30.3.2007. http://www.sulzerareal.com/sulzerareal/arealplan.html, Stand: 30.3.2007 http://www.sulzerareal.com/veranstaltungen/index.php, Stand: 23.9.2010. http://www.technopark-winterthur.ch, Stand: 23.12.2011. http://www.werkhaus.ch/unternehmen/das-werkhaus/, Stand: 23.12.2011.

E XPERTENINTERVIE WS Dr. Hans-Peter Bärtschi ARIAS-Industriekultur Lokomotivdepot Lindstraße 35 CH-8400 Winterthur Gespräche vom 7.8.2007 und 14.4. 2008 Michael Hauser Stadtbaumeister Winterthur Obertor 32 CH-8400 Winterthur Gespräch vom 28.8.2008 Eric Honegger Kantensprung AG, Basel Dornacherstraße 192 CH-4053 Basel Gespräch vom 23.5.2008 Heinrich Irion und Peter Stutz Architekten der SIA-Sektion Winterthur Büro Irion: St. Galler-Straße 29 8400 Winterthur Büro Stutz: Seidenstraße 27 CH-8400 Winterthur Gespräch vom 29.10.2007 Manuel Lehmann Mitglied des Arealverein Lagerplatz, Öffentlichkeitsarbeit Lagerplatz 18 CH-8400 Winterthur Gespräch vom 2.8.2007

270

Möglichkeitsräume gestalten

Walter Muhmenthaler Leiter Areal- und Projektentwicklungen Sulzer Immobilien AG Winterthur Zürcherstraße 39 CH-8400 Winterthur Gespräch vom 15.2.2008 Beat Rothen Architekt Lagerplatz 13 CH-8400 Winterthur Gespräch vom 5.10.2007 Beat Suter Geschäftsleiter Metron Raumentwicklung AG Stahlrain 2 CH-5200 Brugg Gespräch vom 12.10.2008 Paul Wanner Ehemaliger Chef der Liegenschaftsverwaltung der Gebrüder Sulzer AG Sulzer Immobilien AG Winterthur Zürcherstraße 39 CH-8400 Winterthur Gespräche vom 3.8.2007 und 3.12.2007 Ernst Wohlwend Stadtpräsident der Stadt Winterthur Marktgasse 20 CH- 8400 Winterthur Gespräch vom 27.8.2009

A NHANG • • • •

Darstellung der Sulzer-Zonen 10-Punkte-Programm Vergleich der Unterschutzstellungsvorschläge Vergleich der Projektphasen von „Megalou“ im Jahre 1992 und die Arealnutzung im Jahre 2009 • Thesen zur Freiraumgestaltung

272

Möglichkeitsräume gestalten

Darstellung der Sulzer-Zonen: 1

Abbildung 129: Sulzer und Loki: Übersicht. Quelle: Bärtschi (1990), S. 16f.

1 | Tabelle der ehemaligen Nutzung: Vgl. Bärtschi (1990). Tabelle der Nutzung (Stand: 2009/2010): Informationen von Walter Muhmenthaler.

Anhang

Sulzer-Zone 1

Abbildung 130: Modifiziert übernommen|Winterthur, Bauinventar Sulzer/SLM. Quelle: Büro ARIAS, Dr. Hans-Peter Bärtschi und Thomas Juchler, im Auftrag der Stadt Winterthur/Dep. Bau: Bauinventar Areale Sulzer/SLM, Winterthur, 1989/90 .

Abbildung 131: Modifiziert übernommen|Arealplan Sulzer-Areal Winterthur Stadt (Stand: 2006). Quelle Sulzer Immobilien AG.

273

274

Möglichkeitsräume gestalten

Inventarnr.

Ehemalige Nutzung

Nutzung: Stand 2009/2010

2

Verwaltungsgebäude (1905) anstelle Wohnhaus Sulzer (1835)

Geplantes Projekt: Superblock; Gebäude 2 bleibt erhalten

3

Verwaltungsgebäude (1905)

Werkhaus: Verkauf, Büronutzung und Schulung, durchmischte Nutzungen

7

Verwaltungsgebäude (1859)

Geplantes Projekt: Superblock

8

Gründergießerei von (1834)

Versammlungs- und Ausstellungsraum

9

Rest der Gießerei (1854)

Geplantes Projekt: Superblock

10

Ehemalige Dieselbauhalle (1909)

Geplantes Projekt: Superblock

11

Ehemalige Dieselmotoren-Montagehalle (1931)

Geplantes Projekt: Superblock

16, 17, 18

Maschinenfabrik (1859)

Sieb 10: Wohnungen, Arbeiten, Gewerbe, Gastronomie, Läden

19

Teil des alten Kesselhauses (1906)

Multiplex-Kino mit Läden und Restaurants/Bars

20

Neues Kesselhaus (1955)

Multiplex-Kino, Restaurants und Läden

34

Ehemalige Gießerei

Kranbahn: Wohnen, Verkaufen und Gewerbe. Kranbahn II bzw. ZAG (Gewerbeschule): Zentrum für Ausbildung im Gesundheitswesen

36

Kleingießerei (1909)

Kranbahn: Wohnen, Verkaufen und Gewerbe. Kranbahn II bzw. ZAG (Gewerbeschule): Zentrum für Ausbildung im Gesundheitswesen

37, 38

Ehemalige Gießereihallen mit Büros

Kranbahn: Wohnen, Verkaufen und Gewerbe. Kranbahn II bzw. ZAG (Gewerbeschule): Zentrum für Ausbildung im Gesundheitswesen

39, 40

Ehemalige Gießereihallen mit Büros

Werkhaus/Büro Schoch Verkauf, Büronutzung, Schulung, durchmischte Nutzung

Magazin (1912)

Lofts G 48: Wohnungen, Dienstleistung und Ausstellung

48

Anhang

Inventarnr.

Ehemalige Nutzung

Nutzung: Stand 2009/2010

50

Ehemalige Radiatorengießerei (1905)

AZW Ausbildungszentrum Winterthur: Gewerbeschule

52, 53

Ehemalige Großgießerei (1896,1910,1927)

Parkhaus

59

Ehemalige Schmiede (1917)

62

Ehemalige Werkzeugfabrik (1917)

87

„Rundbau“ (1931)

Abbildung 132: Sulzer-Zone I.

Pionierpark: Büro-, Laden- und Ausstellungsfläche

City Halle (Theater, Musical, Großveranstaltungen)

275

276

Möglichkeitsräume gestalten

Sulzer-Zone II

Abbildung 133: Modifiziert übernommen|Winterthur, Bauinventar Sulzer/SLM. Quelle: Büro ARIAS, Dr. Hans-Peter Bärtschi und Thomas Juchler im Auftrag der Stadt Winterthur/Dep. Bau: Bauinventar Areale Sulzer/SLM, Winterthur, 1989/90.

Abbildung 134: Modifiziert übernommen|Arealplan Sulzer-Areal Winterthur Stadt (Stand: 2006). Quelle: Sulzer Immobilien AG.

Anhang

Inventarnr.

Ehemalige Nutzung

Nutzung: Stand 2009/2010

118

Modellschreinerei (um 1910)

Gewerbe

161

Technisches Labor/Lokremise

Werkstatt, Verkauf, Gewerbe, Kulturwirtschaft, Gastronomie, Büro,

163-167, 188

Schreinerei, Lager- und Bürogebäude entlang der Tössfeldstraße (1896-1920)

Gastronomie, soziale Dienste, Büros, Schule, Hochschule, Werkstätten, Ausstellungsräume, Ateliers, Kulturwirtschaft

Apparatehalle

Gewerbe, Werkstätten

Kesselschmiede Kohlebunkerturm

ZHAW (Zürcher Hochschule)

193

Spedition (1910)

Block, Freizeitsporthalle und Gewerbe, Werkstätten, Büros, Ausstellungsräume, Ateliers, kulturwirtschaftliche Einrichtungen

194

Ehemalige Blechrüsthalle (1950)

Gewerbe, Freizeit

181 180 189

Abbildung 135: Sulzer-Zone II.

277

278

Möglichkeitsräume gestalten

Sulzer-Zone III

Abbildung 136: Modifiziert übernommen|Winterthur, Bauinventar Sulzer/SLM. Quelle: Büro ARIAS, Dr. Hans-Peter Bärtschi und Thomas Juchler, im Auftrag der Stadt Winterthur/Dep. Bau: Bauinventar Areale Sulzer/SLM, Winterthur, 1989/90.

Abbildung 137: Modifiziert übernommen|Arealplan Sulzer-Areal Winterthur Stadt (Stand: 2006). Quelle: Sulzer Immobilien AG.

Anhang

Inventarnr.

200, 201

Ehemalige Nutzung

Nutzung: Stand 2010

Verwaltungsgebäude „Staudamm“ (1963) Hauptsitz Sulzer-Konzern

263

Hauptverwaltungsgebäude „Olymp“ (1929), neues Bürogebäude (1989)

222

Hochhaus (1966)

Wintower

230

Anton-Graff-Haus, Kantine und Berufsschule (1969)

Berufs-/Gewerbeschule

297

Restaurant Brühleck

Gastronomie

Abbildung 138: Sulzer-Zone III.

279

280

Möglichkeitsräume gestalten

SLM-Werk 1

Abbildung 139: Modifiziert übernommen|Winterthur, Bauinventar Sulzer/SLM. Quelle: Büro ARIAS, Dr. Hans-Peter Bärtschi und Thomas Juchler, im Auftrag der Stadt Winterthur/Dep. Bau: Bauinventar Areale Sulzer/SLM, Winterthur, 1989/90.

Abbildung 140: Modifiziert übernommen|Arealplan SulzerAreal Winterthur Stadt (Stand: 2006). Quelle: Sulzer Immobilien AG.

Anhang

Inventarnr.

Ehemalige Nutzung

Nutzung: Stand 2010

1001

Verwaltungsgebäude und Direktion

Gewerbe, Büros

1002

Bürogebäude

Gewerbe

Lagergebäude an der Jägerstraße

Gewerbe, Sport, Freizeit

Schedhallen Lokomotivbau

Gewerbe

1009-1011

Blechwerkstätte (1909,1917, 1923)

Gewerbe

1012, 1013

Ehemalige Kesselschmiede (1890)

Gewerbe

1014-1016

Ehemalige Tenderbau-Hallen (1893), Erweiterung (bis 1929)

Gewerbe

Ehemalige Schmiede (1894)

Gewerbe

1021-1023

Malerei etc. (1894,1903,1928,1968)

Gewerbe

1029

Schreinerei- und Magazingebäude (1906)

1003-1006

1007

1020

1019

1026, 1028

Technopark Büros

Feuerwehrlokal, Vorrichtungsmagazin

Fabrikkirche

Holzschuppen

Technopark 2, Büros

Abbildung 141: SLM-Werk 1.

281

282

Möglichkeitsräume gestalten

SLM–Werk 2

Abbildung 142: Modifiziert übernommen|Winterthur Sulzer/SLM, Büro ARIAS. Quelle: Büro ARIAS, Dr. Hans-Peter Bärtschi und Thomas Juchler, im Auftrag der Stadt Winterthur/Dep. Bau: Bauinventar Areale Sulzer/SLM, Winterthur, 1989/90.

Abbildung 143: Modifiziert übernommen|Arealplan Sulzer-Areal Winterthur Stadt (Stand: 2006). Quelle: Sulzer Immobilien AG.

Anhang

Inventarnr.

Ehemalige Nutzung

Nutzung: Stand 2010

1034-1036/1060

Arbeiterwohnungen

Wohnungen

1049

Ehemalige Leichtmetallgießerei

Wohnungen

1050

Ehemalige Eisengießerei (1902)

1051

Ehemalige Gussgießerei (1912)

1055

Ehemaliges Kessel- und Maschinenhaus (1905)

Wohnüberbauung Lokomotive Wohnungen

1056-1059

Maschinenfabrikhallen und Bürobau

Abbildung 144: SLM-Werk 2.

LOKwerk Einkaufszentrum

283

284

Möglichkeitsräume gestalten

SLM–Werk 3

Abbildung 145: Winterthur, Bauinventar Sulzer/SLM. Quelle: Büro ARIAS, Dr. Hans-Peter Bärtschi und Thomas Juchler, im Auftrag der Stadt Winterthur/ Dep. Bau: Bauinventar Areale Sulzer/SLM, Winterthur, 1989/90.

Abbildung 146: Arealplan Sulzer-Areal Winterthur Stadt (Stand: 2006). Quelle: Sulzer Immobilien AG.

Anhang

Inventarnr.

240/245

Ehemalige Nutzung

Maschinenfabrikhalle und Sulzer-Forschungszentrum. Werkeigene Häuser an der Jägerstraße

Nutzung: Stand 2010 Forschungseinrichtung bis 2007; 2010 Leerstand; Wettbewerb ausgeschrieben Wohnungen, Büros, Läden

1067

1037,1038

Ehemalige SLM-Kantine

Schule

Direktoren- und Angestelltenwohnhaus mit Waschhäusern (1888-1899)

Gewerbe, Gastronomie

Hof

Hotel, Restaurants

Abbildung 147: SLM-Werk 3.

285

286

Möglichkeitsräume gestalten LEITBILD STADTENTWICKLUNG ZEHN PUNKTE ZUR STAEDETEBAULICHEN ENTWICKLUNG WINTERTHURS AUFGESTELLT VON DER GRUPPE DER ARCHITEKTEN UND INGENIEURE (GAI) DES SIA WINTERTHUR „Der Urbanismus aller Zeiten war und bleibt der plastische Ausdruck der herrschenden Macht und der massgebenden Kräfte in der Gesellschaft.“ Hannes Meyer, 1945 Winterthur befindet sich in einem tiefgreifenden Umstrukturierungs-Prozess von der Industrie-Stadt zur Dienstleistungs-City. Das wird in sehr naher Zukunft auch für das Stadtgefüge wichtige Folgen haben. Besonders das ausgedehnte Industrie- und Gewerbeareal westlich des Bahnhofs von der Lindbrücke bis zur Storchenbrücke wird in Kürze wesentliche strukturelle und bauliche Änderungen erfahren. 

So sind die Verwaltungs- und Lagerhäuser der VOLG verkauft worden. Sie sollen nun erweitert und neu genutzt werden.



Gleich daneben im nördlichen Bahnhofgebiet plant auch die SBB bauliche Veränderungen.



Ebenso sind Toni-Areal und Archplatz im Umbruch.



Ab Frühjahr 1992 wird mit dem Auszug der Sulzer-Produktionsstätten das ausgedehnte Industrieareal für neue Nutzungen frei.

Der finanzielle Druck im Stadtgefüge drängt auf schnelle Verwertung. Das bedeutet, dass auf einem Schlag ein neues Stück Land geplant werden soll. Es werden Teile der Stadt ersetzt, die im Laufe der letzten 150 Jahre in einem Entwicklungsprozess schrittweise gewachsen sind. Damit sind sie mit der übrigen Stadt in vielschichtiger Art verwoben. Die vorgesehenen plötzlichen Eingriffe können das labile Gleichgewicht dieses Stadtgefüges auf wirtschaftlicher, sozialer, ökologischer und nicht zuletzt auf städtebaulicher Ebene in hohem Masse gefährden. Eine Verantwortung von solcher Tragweite kann und soll auch von denen mitgetragen werden, die sich um die übergeordneten Interessen und gestalterischen Belange unserer Stadt kümmern. In grosser Sorge über die laufende Entwicklung hat die GAI des SAI Winterthur eine an die breite Oeffentlichkeit gerichtete Vortragsreihe organisiert. Des weiteren sind von der GAI in internen Arbeitsgruppen mit zehn Punkten die folgenden Zielvorstellungen formuliert worden: 1.

Städtebau ist eine öffentliche Sache.

2.

Für die Umstrukturierung aller genannten Areale muss eine zusammenhängende städtebauliche Lösung gefunden werden.

3.

Die städtebauliche und kulturelle Bedeutung der Areale und der architektonische

Anhang Wert der Bausubstanz erfordern ein Konzept, welches auf die bestehende Stadtstruktur und die erhaltenswerten Bauten reagiert. 4.

Der bewährte Weg, um zu guten städtebaulichen Lösungen zu kommen, ist der Wettbewerb. Wir schlagen ein Wettbewerbsverfahren in zwei Schritten vor […]: 1. Schritt: Städtebaulicher Ideenwettbewerb 2. Schritt: Projektwettbewerbe und Wettbewerbe für Gestaltungspläne

5.

Die Stadt Winterthur hat die öffentlichen Interessen in Bezug auf die genannten Areale wahrzunehmen und sofort mit allen Grundeigentümern und Interessierten das Gespräch aufzunehmen. Bei der Ausschreibung des städtebaulichen Ideenwettbewerbes soll sie federführend sein.

6.

Das Ergebnis des städtebaulichen Wettbewerbes zusammen mit einer allfälligen Ueberarbeitung muss Grundlage aller weiteren Planungen sein. Dieses schwierige Unterfangen ist von der Stadt zu gewährleisten, z.B. durch die Schaffung eines Gestaltungsbeirates […]

7.

Um die Planung im umschriebenen Sinn zu ermöglichen, ist es nötig, die erforderlichen planungsrechtlichen Instrumente zu ergreifen. Insbesondere der Erlass einer Planungszone ist gerechtfertigt, auch um die bewegte politische Situation zu beruhigen […].

8.

Als Kontaktperson und Koordinator für diese ausserordentliche Planungsaufgabe soll der Stadtrat einen Delegierten mit der nötigen Fachkenntnis in Architektur und Planung bestimmen.

9.

Die Transparenz aller Planungsabläufe soll für alle Interessierten gewährleistet sein, z.B. mit regelmässigen Informationsveranstaltungen der Stadt.

10.

Aufgrund des enormen finanziellen Druckes, der auf dem Areal lastet, ist ein präzis terminierter und organisierter Planungsablauf unumgänglich. Wir schlagen folgende Termine vor: Juni 1990: Aufnahme der Gespräche mit allen Beteiligten September 1990: Ausschreibung des städtebaulichen Ideenwettbewerbes Ende Januar 1991: Wettbewerbseingabe Februar/März 1991: Vorprüfung und Jurierung Sommer/Herbst 1991: Ausschreibung der ersten Projektwettbewerbe auf der Grundlage eines ev. überarbeiteten städtebaulichen Gesamtkonzeptes.

Dieses Papier richtet sich an den Stadt- und Grossen Gemeinderat von Winterthur, den Regierungsrat des Kantons Zürich, die betroffenen Grundeigentümer, die Politiker, Behörden und die interessierte Öffentlichkeit der Stadt Winterthur. Es versteht sich als Diskussionsgrundlage für die nun drängenden weiteren Schritte. Winterthur, den 10. Mai 1990

287

288

Möglichkeitsräume gestalten

Vergleich der Unterschutzstellungen 2 Vergleich der Unterschutzstellungen: Büro ARIAS, Gebrüder Sulzer AG, Stadtgestaltung/Denkmalpflege Winterthur und Schutzvertrag 2003.

StadtgestalInv. Nr.

Objekt

ARIAS

tung/

Sulzer AG/

Schutzvertrag

Denkmalpflege

Winti-Nova

2003

Winterthur

8

Gründergebäude

12

Turm, Passerelle

19

DieselmotorenVersuchsgebäude

Strukturerhaltung

Erhalt der Baubegrenzungslinie

Bewahren/ Integrieren

Erhaltungsziel: integral

Strukturerhaltung

Turm: Fassade, primäre Baustruktur, Konstruktion; Passerelle: integraler Erhalt

---

---

Strukturerhaltung

Erhaltung der Fassadenabschnitte ohne unmittelbare Aufstockung

---

Erhaltungsziel: Außenhülle

20

Kesselhaus

Integrale Erhaltung

Erhalt des Fassadenabschnitts

---

Erhaltungsziel: Außenhülle, Kamine, Kranbügel, teilw. Konstruktion

59

Ehemalige Schmiede

Strukturerhaltung

Erhaltung der Fassade und Bau-Begrenzungslinie

---

Erhaltungsziel: Fassaden Zürcherstraße

62

Werkzeugbau

Integrales Schutzobjekt

Fassade, primäre Baustruktur, Konstruktion

---

Erhaltungsziel: Fassaden Zürcherstraße

2 | Die Spalten „Inv. Nr., Objekt, ARIAS und Stadtgestaltung/Denkmalpflege Winterthur“ entsprechen folgender Quelle: vgl. Winterthurer Bauinventar Areale Sulzer: Stellungnahme Stadtgestaltung/Denkmalpflege zum Inventar von Dr. H. P. Bärtschi, 12. November 1990.

Anhang

StadtgestalInv. Nr.

Objekt

ARIAS

tung/

Sulzer AG/

Schutzvertrag

Denkmalpflege

Winti-Nova

2003

Winterthur

2

Bürogebäude mit Passerelle

3

Bürogebäude Ost-West mit Passerelle

7

11

17

Bürogebäude (Automatenabteilung)

Strukturerhaltungsbereich

Gebäude: Erhalt der Baulinie; Passerelle: integraler Erhalt

---

Nach Möglichkeit zu erhaltende Schutzobjekte: Teil der Gebäudehülle, Passerelle, Fassaden Zürcherstraße (entgegen dem rechtskräftigen Gestaltungsplan)

Strukturerhaltungsbereich

Bürogebäude: Fassaden, primäre Baustruktur, Konstruktion; Passerelle: integraler Schutz

Bewahren/ Integrieren

Erhaltungsziel: integral

Strukturerhaltung

Kein Erhalt des Gesamtbaus, dafür nur Erhalt eines Gebäudeteils im Original; Passerelle: integraler Erhalt

---

Nach Möglichkeit zu erhaltende Schutzobjekte: integral (entgegen dem rechtskräftigen Gestaltungsplan)

---

Erhaltungsziel: Nach Möglichkeit zu erhaltende Schutzobjekte: Gebäudehülle (exklusive Fassade Süd)

---

---

DieselmotorenMontagehalle

Integraler Schutz

Holzhallen

Integraler Schutz

Fassaden, primäre Baustruktur, Konstruktion

Fassaden, primäre Baustruktur, Konstruktion

289

290

Möglichkeitsräume gestalten

StadtgestalInv. Nr.

Objekt

ARIAS

tung/

Sulzer AG/

Schutzvertrag

Denkmalpflege

Winti-Nova

2003

Winterthur

36

Ehemalige Kleingießerei

39/40

Gießereispedition und Büros

48

Hauptmagazin

Integraler Schutz

Fassaden, primäre Baustruktur, Konstruktion

---

---

Strukturerhaltung

Fassaden, primäre Baustruktur, Konstruktion

Bewahren/ Integrieren

Erhaltungsziel: Fassaden Zürcherstraße, Halle im Inneren

Integraler Schutz

Fassaden, primäre Baustruktur, Konstruktion

---

50

Ehemalige Radiatorengießerei

Integraler Schutz

Fassaden, primäre Baustruktur, Konstruktion

Bewahren/ Integrieren

Erhaltungsziel: Fassaden Zürcherstraße und Konstruktion (Eisenbetonskelettbau)

53

Ehemalige Großgießerei

Teil Struktur, teils integral

Fassaden, primäre Baustruktur, Konstruktion

---

Erhaltungsziel: integral

Rundbau

Fassaden, primäre Baustruktur, Konstruktion

Fassaden, primäre Baustruktur, Konstruktion

Bewahren/ Integrieren

Erhaltungsziel: integral

---

Außenräume: Diese sind, soweit sie von schutzwürdigen Gebäuden bzw. Fassaden begrenzt werden, in ihrer Dimension zu erhalten.

87

(42, 43) A-E

Höfe und Gassenräume

Strukturerhaltung

Strukturerhaltung (außer Hofanlage E – Kohlebunker)

Erhaltungsziel: Außenhülle und Konstruktion

Anhang

StadtgestalInv. Nr.

Objekt

ARIAS

tung/

Sulzer AG/

Schutzvertrag

Denkmalpflege

Winti-Nova

2003

Winterthur

118

Modellschreinerei

Integraler Schutz

Fassaden, primäre Baustruktur, Konstruktion

---

---

195 Lagerplatz

Zimmerei und Schreinerei

Integraler Schutz

Fassaden, primäre Baustruktur, Konstruktion

---

---

Abbildung 148: Vergleich der Unterschutzstellungen: Büro ARIAS, Gebrüder Sulzer AG, Stadtgestaltung/Denkmalpflege Winterthur und Schutzvertrag 2003. Im öffentlich-rechtlichen Vertrag Sulzer-Areal Stadtmitte 2003 wurden weitere Elemente aufgenommen. Diese sind im Schutzvertrag 2003 detailliert nachzulesen.

291

292

Möglichkeitsräume gestalten

Megalou-Projekt: Vergleich der Projektphasen 3 Erste Phase

Abbildung 149: Modell, Phase 1, Megalou, Jean Nouvel. Quelle: Sulzer Immobilien AG, 1992. Abbildung 150: Tabelle nachfolgend – Zusammenstellung, erste Bauphase.

Gebäudenummer 2

Ehemalige Funktion

Vorgehen

Verwaltungsgebäude

Abriss

Zukünftige Nutzung ---

Neubau

Büroflächen mit zentralem Versorgungsblock, Geschäfte im Erdgeschoss

Verwaltungsgebäude

Wiederverwendung des bestehenden Gebäudes: Aufstockung um 2 Ebenen, neue Zugänge

Büros

6

Lager

Abriss

---

7

Verwaltungsgebäude

Abriss

---

8

Gründergießerei

Erhalt

Gebäude, das erhalten wird und als Referenz für Sulzer gelten soll.

2/7

3

3 | Vgl. Jean Nouvel, Emmanuel Cattani et Associés: Wettbewerbsunterlagen – Architektur und Stadtplanung, Winterthur-Sulzer-Areal, 1992.

Anhang Gebäudenummer

Ehemalige Funktion

Vorgehen

9

Rest der Gießerei; Arbeitsräume

Abriss

9

10

Ehemalige Dieselbauhalle, größte Halle im Areal

Zukünftige Nutzung

---

Neubau

Wohnungen, Büros, Geschäfte: Überlagerung eines Wohngebäudes mit Geschäften im Erdgeschoss mit einem Wohngebäude. Die Zugänge sind unabhängig voneinander.

Umnutzung

Wohnungen, Büros Geschäfte, Restaurants, Ausstellungen, Industrie: Im Westen: Büros und Wohnungen mit unabhängigen Zugängen. Im Zentrum: das Mittelschiff mit Büros und Verkauf. Die Transportschienen bleiben erhalten.

Zweite Phase

Abbildung 151: Modell, Phase 2 und 3, Megalou, Jean Nouvel. Quelle: Sulzer Immobilien AG, 1992. Abbildung 152: Tabelle nachfolgend – Zusammenstellung, zweite Bauphase.

293

294

Möglichkeitsräume gestalten Gebäudenummer

Ehemalige Funktion

Vorgehen

11

Ehemalige Dieselmotoren-Montagehalle

Umnutzung

16

Arbeitsräume, Maschinenfabrik, Massiv-/Holzbauhallen

Abriss

16/18

Arbeitsräume

Neubau

Zukünftige Nutzung Aufteilung der großen Halle in Geschäftsbereiche --2 parallel stehende Bürogebäude mit Ausstellungsräumen für industrielle Technologien. Wiederverwendung der Halle für ein Museum für industrielle Technologie

17

MaschinenfabrikMassiv-/Holzbauhallen

18

Arbeitsräume

Abriss

19

Teil des alten Kesselhauses

Umbau

Konferenzzentrum

20

Neues Kesselhaus

Umbau

Hotel

34

Werkstätte/ehem. Gießerei

Wiederherstellung des Gebäudes

Nutzung als Forschungszentrum (Elektro-Mechanik)

Gießerei

Bauvolumen, die sich über die bestehenden Bauten legen. Belichtet durch offene oder geschlossene Höfe, Scheds u.a.

Wohnungen

36

Kleingießerei

Umbau

Geschäfte und Fabriketagen

36/37/38

---

37

Ehemalige Gießereihallen

Umbau

Fabriketagen

38

Ehemalige Gießereihallen

Wiederherstellung

Bürogebäude

39/40

Ehemalige Gießereihallen mit Büros

Wiederherstellung des bestehenden Gebäudes mit Aufstockung um 2 Niveaus und neuen Zugängen

Büros

Magazin

Wiederherstellung des bestehenden Gebäudes mit Aufstockung. Umwandlung zu Wohnungen und Empfangsgebäude für Wissenschaftler

Wohnungen

48

Anhang

Dritte Phase Abbildung 153: Tabelle nachfolgend – Zusammenstellung, dritte Bauphase.

Gebäudenummer

Ehemalige Funktion

Vorgehen

Zukünftige Nutzung

50

Ehemalige Radiatorengießerei

Wiederherstellung des nördlichen Bereichs des Gebäudes. Der südliche Bereich (Büros) wird wiederhergestellt im Rahmen der bestehenden Grundflächen.

Büros

51

Halle/Keller

Abriss

Ehemalige Großgießerei

Um das Mittelschiff werden Geschäfte, Büros und Fabriketagen angeordnet. Die Transportschienen bleiben erhalten.

Büros, Geschäfte, Restaurants, Industrie

Ehemalige Großgießerei

Neubau/Zylinder-Bauten: Büro- und Wohnkomplex mit voneinander unabhängigen Zugängen. Die Büros sind nach Norden orientiert.

Wohnungen, Verwaltung

53

Ehemalige Großgießerei

Um das Mittelschiff werden Geschäfte, Büros und Fabriketagen angeordnet. Die Transportschienen bleiben erhalten.

Büros, Geschäfte, Restaurants, Industrie

59

Ehemalige Schmiede

Abriss

59/62

Ehemalige Schmiede, ehemalige Werkzeugfabrik

Bürogebäude auf hohen Stützen, sodass die Fassade von der Straße aus gesehen nicht verdeckt wird.

62

Ehemalige Werkzeugfabrik

Abriss

87

Rundbau/ Werkstätten

Umbau

52

52/53

---

---

Büros

--Schule/Hochschule

295

296

Möglichkeitsräume gestalten

Thesen zur Gestaltung im Freiraum

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Für den Gestaltungsprozess auf dem Sulzer-Areal gibt es kein Rezept. Für den Gestaltungsprozess auf dem Sulzer-Areal ist eine Strategie zu verfolgen. Dies ist gegenüber einem Rezept eine Verhaltensweise, die dem Prozess förderlich ist, mittels aufeinander wirkender dynamischer Systeme ein Ziel zu erreichen. Der Gestaltungsprozess auf dem Sulzer-Areal ist trotz der Grösse des Areals ein Prozess der kleinen Schritte und leisen Töne. Der Gestaltungsprozess auf dem Sulzer-Areal kann sich dem Entstehungsprozess des Areals nicht entziehen und ist daher geprägt vom Denken und Arbeiten in Schichten. Der Gestaltungsprozess auf dem Sulzer-Areal ist ein Wühlen in Bestehendem und daher ein Prozess des ständigen Findens und Brauchens. Gestaltung auf dem Sulzer-Areal heisst, das zu Verändernde nie völlig vom Ursprünglichen abzulösen. Die Ausnahme bestätigt die Regel. Gestaltung auf dem Sulzer-Areal heisst in erster Linie gestalten von Zwischenräumen, die im Wandlungsprozess von Nutzung und Gestaltung eine neue Funktion übernehmen und deshalb ihr Gesicht ändern dürfen. Der gestalterische Entwurf auf dem Sulzer-Areal basiert auf einer Geschichte. Diese ist nie abgeschlossen. Der gestalterische Entwurf auf dem Sulzer-Areal ist ein Weitererzählen und basiert deshalb im Wesentlichen auf der vorgegebenen Arealstruktur.

4 | Vetsch Nipkow Partner AG: Gestaltungsleitbild Freiraum, 2. Auflage, Zürich, 2002, S. 66.

Anhang

Der gestalterische Entwurf auf dem Sulzer-Areal lebt wie die frühere Arealentwicklung von einer relativen Unvorhersehbarkeit. Dieser Umstand darf deshalb als überraschender Gegenstand und in Form des ganz Neuen sichtbar werden. Der gestalterische Entwurf auf dem Sulzer-Areal beeinflusst das Erscheinungsbild einer historisch bedeutsamen Industriezeit und hat deshalb Spuren der alten Geschichte zu hinterlassen. Der gestalterische Entwurf auf dem Sulzer-Areal zeichnet sich durch Authentizität und Flexibilität aus. Authentisch, weil das historische Erbe bedeutsam ist, flexibel, weil das zukünftige Nutzungsprofil anpassungsfähig bleiben muss. Der gestalterische Entwurf auf dem Sulzer-Areal setzt sich mit einer schweizerischen Einzigartigkeit auseinander. Deshalb soll die Erkennbarkeit des Areals im städtischen Kontext gefördert und die im Areal innewohnende Eigenständigkeit beibehalten werden.

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Urban Studies Alenka Barber-Kersovan, Volker Kirchberg, Robin Kuchar (Hg.) Music City Musikalische Annäherungen an die »kreative Stadt« Dezember 2012, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1965-2

Ralph Buchenhorst, Miguel Vedda (Hg.) Urbane Beobachtungen Walter Benjamin und die neuen Städte 2010, 230 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1524-1

Florentina Hausknotz Stadt denken Über die Praxis der Freiheit im urbanen Zeitalter 2011, 366 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1846-4

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Urban Studies Felicitas Hillmann (Hg.) Marginale Urbanität: Migrantisches Unternehmertum und Stadtentwicklung 2011, 262 Seiten, kart., zahl. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1938-6

Julia Reinecke Street-Art Eine Subkultur zwischen Kunst und Kommerz Mai 2012, 200 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-759-2

Carsten Ruhl (Hg.) Mythos Monument Urbane Strategien in Architektur und Kunst seit 1945 2011, 320 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1527-2

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Urban Studies Uwe Altrock, Grischa Bertram (Hg.) Wer entwickelt die Stadt? Geschichte und Gegenwart lokaler Governance. Akteure – Strategien – Strukturen März 2012, 330 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1752-8

Sabin Bieri Vom Häuserkampf zu neuen urbanen Lebensformen Städtische Bewegungen der 1980er Jahre aus einer raumtheoretischen Perspektive Juli 2012, ca. 402 Seiten, kart., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1704-7

Thomas Dörfler Gentrification in Prenzlauer Berg? Milieuwandel eines Berliner Sozialraums seit 1989 2010, 336 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1295-0

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Stefan Kurath Stadtlandschaften Entwerfen? Grenzen und Chancen der Planung im Spiegel der städtebaulichen Praxis 2011, 572 Seiten, kart., zahlr. Abb., 42,80 €, ISBN 978-3-8376-1823-5

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Guido Lauen Stadt und Kontrolle Der Diskurs um Sicherheit und Sauberkeit in den Innenstädten 2011, 618 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1865-5

Michael Müller Kultur der Stadt Essays für eine Politik der Architektur 2010, 240 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1507-4

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Nikolai Roskamm Dichte Eine transdisziplinäre Dekonstruktion. Diskurse zu Stadt und Raum 2011, 380 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1871-6

Eberhard Rothfu Exklusion im Zentrum Die brasilianische Favela zwischen Stigmatisierung und Widerständigkeit August 2012, ca. 320 Seiten, kart., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2016-0

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