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Dogmatik in der Moderne herausgegeben von Christian Danz, Jörg Dierken, Hans-Peter Großhans und Friederike Nüssel
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Gemeinsam Christsein Potenziale und Ressourcen einer Theologie der Ökumene für das 21. Jahrhundert Herausgegeben von
Rebekka A. Klein
Mohr Siebeck
Rebekka A. Klein, geboren 1980; 1999–2005 Studium der Ev. Theologie in Halle/S., Zürich und Marburg; 2009 Promotion; 2015 Habilitation; seit 2017 Professorin für Systematische Theologie/Ökumene und Dogmatik an der Ruhr-Universität Bochum. orcid.org/0000-0002-9665-4759
ISBN 978-3-16-159612-4 / eISBN 978-3-16-159613-1 DOI 10.1628/978-3-16-159613-1 ISSN 1869-3962 / eISSN 2569-3913 (Dogmatik in der Moderne) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von epline in Böblingen aus der Minion gesetzt, von Laupp & Göbel in Gomaringen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden. Printed in Germany.
Vorwort Die Beiträge dieses Bandes gehen auf eine Tagung des Ökumenischen Instituts der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum zurück, die am 4. und 5. Oktober 2018 in Bochum mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung veranstaltet wurde. Auf dieser internationalen Tagung, mit der die Wiedereröffnung des Ökumenischen Instituts nach einer längeren Zeit der Vakanz eingeleitet wurde, kamen Vertreterinnen und Vertreter der Ökumenischen Theologie, der Theologie der Religionen, der Komparativen Theologie sowie der Islamologe Prof. Dr. em. Bassam Tibi als Vertreter eines Dialogs der Religionen zusammen. Den Eröffnungsvortrag zu den gegenwärtigen Herausforderungen der Ökumene im 21. Jahrhundert hielt Prof. Dr. Ulrich H. J. Körtner aus Wien. Auf der Tagung wurde nach Perspektiven einer Ökumene des Christentums, seiner Kirchen, Konfessionen und Traditionen, aber auch nach der Bedeutung von Ökumene für den friedlichen Dialog der Religionen und für den Zusammenhalt in einer globalisierten Welt gefragt. Der Band versammelt die Beiträge der Tagung nun, um ihre Impulse auch in die weitere ökumenische Debatte einfließen zu lassen. Er wurde ergänzt um eine Studie zum Kirchenverständnis in der Ökumene von Stefan Dienstbeck sowie um zwei Beiträge der Herausgeberin, von denen die Studie „Versöhnte Vielfalt. Die Einheit der Kirchen und ihre Vorbildfunktion für Europa“ die Probevorlesung der Herausgeberin in Bochum aus dem Jahr 2016 darstellt. Allen Beiträgerinnen und Beiträgern gilt mein Dank für die Bereitstellung ihrer Texte für diesen Tagungsband. Für die Aufnahme des Bandes in die Reihe ‚Dogmatik in der Moderne‘ im Verlag Mohr Siebeck danke ich dem Herausgeberkreis. Für die kompetente Betreuung während der Vorbereitung der Begutachtung dieses Bandes gilt mein Dank dem Verlagshaus Mohr Siebeck und seiner Lektorin Dr. Katharina Gutekunst sowie (in Vertretung) der Lektorin Elena Müller. Präzise Hinweise zur Vorbereitung der Drucklegung gab darüber hinaus Lektoratsassistent Tobias Stäbler. Des Weiteren danke ich der Kanzlerin der Ruhr-Universität, Dr. Christina Reinhardt, für die finanzielle Unterstützung der Tagung und dieses Buchprojektes. Für vielfache Unterstützung sowohl bei der Durchführung der Tagung als auch bei der Herausgabe dieses Bandes möchte ich mich außerdem bei meiner Mitarbeiterin, Dr. Lisanne Teuchert, bedanken. Um die Korrektur und Formatierung der Beiträge haben sich am Lehrstuhl in Bochum die Hilfskräfte Vivien Mulaj, Maria Nisbach, Antti Lück, Sung Kwon Kim und Tristan Scheel verdient gemacht. Eine Vorlage für das Register hat die wissenschaftliche Hilfskraft Antti
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Vorwort
Lück erstellt. Zuletzt gilt mein persönlicher Dank Bassam Tibi, der mir durch sein Interesse und vielfältigen Austausch neue Perspektiven eröffnet und mich stets bestärkt hat. Halle/Saale, im Juli 2020
Rebekka A. Klein
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ���� V Rebekka A. Klein Einleitung. Potenziale und Ressourcen einer Theologie der Ökumene . . . . . � 1 Ulrich H. J. Körtner Ökumene im 21. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . � 17
I. Trends der Ökumene im 21. Jahrhundert Wolfgang Thönissen Zwischen Konfession und Ökumene. Auf der Suche nach christlicher Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . � 43 Annemarie C. Mayer Zur Zukunft einer Ökumene der Institutionen. Das Beispiel der Gemeinsamen Arbeitsgruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . � 61 Stefan Dienstbeck Verletzlichkeit als Chance. Eine kritische Revision des lutherischen Kirchenbegriffs in ökumenischer Absicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . � 77 Dorothea Sattler Geistliche Ökumene. Eine Option . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . � 93 Rebekka A. Klein Demut. Zur Orientierung des ökumenischen Ethos der Kirchen . . . . . . . . . . �109
II. Soziale und politische Horizonte einer Erneuerung der Ökumene Markus Mühling Ökumenische Weglinien. Anthropologische Kriterien ökumenischer Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . �131 Risto Saarinen Ökumenische Anerkennung. Ein altes Konzept neu betrachtet . . . . . . . . . . . �145
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Inhaltsverzeichnis
Rebekka A. Klein Versöhnte Vielfalt. Die Einheit der Kirchen und ihre Vorbildfunktion für Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . �169
III. Postkoloniale und globale Herausforderungen der Ökumene André Munzinger Kosmopolitische Ökumene? Eine interkulturelle Zeitdiagnose . . . . . . . . . . . �187 Claudia Jahnel Vernakular-kosmopolitische Ökumene, oder: Einheit von den Margins und Fissuren her denken . . . . . . . . . . . . . . . . �203
IV. Überschreitungen der Ökumenischen Theologie Perry Schmidt-Leukel Fraktale und Ökumene. Eine Theorie religiöser Vielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . �227 Marianne Moyaert Komparative Theologie zwischen Text und Ritual . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . �245
V. Schluss Bassam Tibi Islam und Pluralismus der Religionen als Grundlage für Weltfrieden . . . . . . �269 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . �283 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . �285 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . �287
Einleitung Potenziale und Ressourcen einer Theologie der Ökumene Rebekka A. Klein ‚Gemeinsam Christsein‘ – Gemeinsam in allen Differenzen. Verbunden in aller Verschiedenheit. Versöhnt in allem Streit. Damit ist keine geringe Herausforderung formuliert, der sich die Ökumene, die weltweite Christenheit im 21. Jahrhundert stellen möchte.1 Die gegenwärtige Situation der Ökumene zu Beginn dieses Jahrhunderts zeichnet sich dadurch aus, dass der ökumenische Prozess der Kirchen und Konfessionen sowie der normative Deutungsrahmen für das Christentum weltweit im Begriff sind, in ein post-säkulares2 Stadium 1 Vgl. Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (Hg.), Charta Oecumenica. Leitlinien für die wachsende Zusammenarbeit unter den Kirchen in Europa, Frankfurt a. M. 2002. 2 Vgl. Willi Oelmüller/H ans Baumgartner (Hg.), Wiederkehr von Religion? Perspektiven, Argumente, Fragen (Kolloquium Religion und Philosophie 1), Paderborn 1984; Peter L. Berger (Hg.), The Desecularization of the World. Resurgent Religion and World Politics, Washington, DC 1999; Martin Riesebrodt, Die Rückkehr der Religionen. Fundamentalismus und der Kampf der Kulturen, München 2000; Jürgen Habermas, Glauben und Wissen, Frankfurt a. M. 2001; ders., Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt a. M. 2005; ders./Joseph R atzinger, Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, Freiburg i. Br. 2005; Friedrich-Wilhelm Graf, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 2007; HansJoachim Höhn, Postsäkular. Gesellschaft im Umbruch – Religion im Wandel, Paderborn 2007; Michael Reder/Josef Schmidt (Hg.), Ein Bewusstsein von dem, was fehlt. Eine Diskussion mit Jürgen Habermas, Frankfurt a. M. 2008; Ingolf U. Dalferth, Religionsfixierte Moderne? Der lange Weg vom säkularen Zeitalter zur post-säkularen Welt, in: Denkströme 7 (2011), 9–32; K arl Gabriel et al. (Hg.), Umstrittene Säkularisierung. Soziologische und historische Analysen zur Differenzierung von Religion und Politik, Berlin 2012; Eduardo Mendieta/Jonathan VanAntwerpen (Hg.), Religion und Öffentlichkeit, Berlin 2012; Wendy Brown, Civilizational Delusions. Secularism, Tolerance, Equality, in: Theory and Event 15 (2012), o. S.; Franz Gmainer-Pranzl/Sigrid Rettenbacher (Hg.), Religion in postsäkularer Gesellschaft. Interdisziplinäre Perspektiven (Salzburger Interdisziplinäre Diskurse 3), Frankfurt a. M. 2013; Friedrich-Wilhelm Graf, Götter global. Wie die Welt zum Supermarkt der Religionen wird, München 2014; Hans Schelkshorn et al. (Hg.), Religion in der globalen Moderne. Philosophische Erkundungen, Göttingen 2014; Thomas Schmidt/A nnette Pitschmann (Hg.), Religion und Säkularisierung. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2014; Ana Honnacker, Post-säkularer Liberalismus. Perspektiven auf Religion und Öffentlichkeit im Anschluss an William James (Studien zu Religion, Philosophie und Recht 12), Baden-Baden 2015; Matthias Lutz-Bachmann (Hg.), Postsäkularismus. Zur Diskussion eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt a. M. 2015; Judith Könemann/S askia
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überzugehen: Die Rahmenbedingungen ökumenischer Dialog- und Verständigungsprozesse sind heute, auch im Kontext der sogenannten Großkirchen des Westens, zunehmend durch multireligiös-pluralistische anstatt durch säkulare und aufgeklärt-moderne Gesellschaftsformen bestimmt.3 Weltweit befindet sich das Christentum im Prozess einer Dezentrierung4 und Entgrenzung seiner traditionellen Organisationsformen, der institutionell verfassten Kirchen und Konfessionen. Dies setzt zunehmend auch die Fokussierung der Ökumenischen Theologie auf die historisch gewachsene Dualität von römisch-katholischer und evangelischer Kirche außer Kraft, die ohnehin nur für den westeuropäischen Kulturraum in dieser Rigorosität historisch prägend war. Die Ökumene wird somit in ihrer traditionellen Gestalt als ein hegemonialer Machtdiskurs transparent, der es einzelnen Institutionen und Kirchen des Christentums erlaubte, ihre Auffassungen und Themen ins Zentrum der ökumenischen Debatten und Initiativen zu stellen. Mit der Transparenz dieser Situation und ihrer Kritik tritt der Fortschritt zu einer neuen Ökumene from the margins, ‚von den Rändern‘ des Weltchristentums her in den Fokus.5 Der Prozess der Öffnung und Erweiterung christlicher Weltgemeinschaft, der in den vergangenen Jahrzehnten als solcher begrüßt und gefördert worden ist, stellt die Ökumenische Bewegung jedoch auch vor neue Herausforderungen. So zieht er z. T. auch die Verstärkung von als reaktionär zu beschreibenden Tendenzen im Weltchristentum nach sich. Dies betrifft vor allem die Amtsfrage, die Frauenrechte und einen neuen Bibelfundamentalismus, die aus emphatisch moderner Perspektive Irritationen auszulösen vermögen. Hier ist die Theologie der Ökumene vor die Herausforderung gestellt, mit der postmodernen Politik einer Diversifizierung von Identitäten und der Überwindung von eurozentrischen Weltsichten umzugehen und auf diese zu reagieren.6 Es deutet sich bereits an, dass es mit dem Festhalten und Betonen der intensiven wie extensiven Universalität der christlichen Kirche gegen die Spaltungen und Trennungen, die durch Nationalismen, Rassismen, aber auch durch den Pluralismus der Kulturen ausWendel (Hg.), Religion, Öffentlichkeit, Moderne. Transdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld 2016. 3 Vgl. Michael Bergunder (Hg.), Religiöser Pluralismus und das Christentum (FS H. Obst, Kirche – Konfession – Religion 43), Göttingen 2001. 4 Vgl. Luca Di Blasi, Dezentrierungen. Beiträge zur Religion der Philosophie im 21. Jahrhundert (Cultural Inquiry), Wien 2018. 5 Vgl. dazu den Beitrag von Claudia Jahnel in diesem Band sowie ihren Aufsatz: Vernakulare Ökumene in transkultureller Einheit. Ökumenische Theologie nach dem Cultural Turn, in: Interkulturelle Theologie 34 (2008), 10–34, sowie dazu bereits: Rebekka A. Klein, Minderheit – Marginalität – Diaspora. Neue Herausforderungen für die Ökumene, in: Ökumene in Bewegung. Forschungsperspektiven der Ökumenischen Theologie, hg. v. R. A. Klein/ L. Teuchert (im Erscheinen). 6 Vgl. Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference (Princeton Studies in Culture/Power/History), Princeton, NJ 2000; Francis Fukuyama, Identity. The Demand for Dignity and the Politics of Resentment, London 2018.
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gelöst werden,7 allein noch nicht getan sein wird. Denn die Einordnung von politischen Bewegungen und Positionen als ‚nationalistisch‘, ‚rassistisch‘ oder ‚identitär‘ kann heute selbst als Ergebnis eines ideologischen Vorgangs der political correctness beschrieben werden.8 Es besteht somit im Hinblick auf die Frage, worin die Universalität der Kirche Jesu Christi unter den Bedingungen spätmoderner postsäkularer Gesellschaften verwirklicht sei, ökumenischer Orientierungsbedarf. Mit der Aufnahme eines Studienprozesses zur Diasporaexistenz von Kirche in dieser Welt hat die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa bereits einen ersten Ansatz zur Klärung dieser Frage eingeleitet.9 Durch das Erstarken von pfingstlerisch-charismatischen Bewegungen sowie von postkolonialen und postmodernen Dezentrierungsbewegungen im Weltchristentum vollzieht sich zudem ein theologisch folgenreicher und auch wissenschaftskulturpolitisch bedeutsamer Paradigmenwechsel in der Ökumene. Die theologischen Normen klassischer christlicher Denominationen und Konfessionen sind nicht mehr länger allein bestimmend für die Theologie der Ökumene und werden durch charismatisch-freikirchliche Theologieansätze angegriffen, kritisiert und abgelöst. Zugleich haben die säkularen Normen einer liberalen akademischen Theologie westlicher Provenienz ebenfalls ihre Vorherrschaft verloren bzw. müssen in einer gewandelten Welt neu plausibilisiert und verteidigt werden. Die zunehmende Schwerpunktverschiebung der ökumenischen Initiativen und Versammlungen aus dem globalen Norden in den globalen Süden führt dazu, dass die Dezentrierungsbewegungen der Globalisierung und mit ihnen die ‚Provinzialisierung Europas‘10 auch die Ökumenische Bewegung erreicht haben. Die skizzierten Entwicklungen fordern aktuell dazu heraus, ein neues Verständnis von Ökumene an sich, von ihren Aufgaben, Möglichkeiten und Grenzen im 21. Jahrhundert zu entwickeln. Eine Tagung, die am 4. und 5. Oktober 2018 anlässlich der Wiedereröffnung des Ökumenischen Instituts an der Ruhr-Universität Bochum durchgeführt wurde und deren Beiträge in diesem Band veröffentlicht werden, hat Impulse für eine solche Neuorientierung der Ökumenischen Theologie im 21. Jahrhundert zur Debatte gestellt und diskutiert. Als Leitmotive für diese Neuorientierung fragte sie nach ‚Potenzialen‘ und ‚Ressourcen‘ einer erneuerten Theologie der Ökumene. 7
Vgl. dazu bereits Paul Tillich, Systematische Theologie, Bd. III, Stuttgart 1966, 199–201. Slavoj Žižek, Ihr verteidigt auch nur eure Privilegien, in: Neue Zürcher Zeitung, 31.5.2017, online abrufbar unter: https://www.nzz.ch/feuilleton/das-paradox-der-political-cor rect ness-ihr-verteidigt-auch-nur-eure-privilegien-ld.1298419 (letzter Zugriff am 1.8.2019; R. K.); ders., Das Leben ist nun einmal krass. Lasst es uns bitte nicht schönreden, in: Neue Zürcher Zeitung, 25.3.2017, online abrufbar unter: https://www.nzz.ch/feuilleton/sex-verbotedas-leben-ist-nun-einmal-krass-ld.153338 (letzter Zugriff am 21.5.2018, R. K.). 9 Vgl. Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa, Theologie der Diaspora. Studiendokument der GEKE zur Standortbestimmung der evangelischen Kirchen im pluralen Europa, Wien 2018, 72. 10 Vgl. Chakrabarty, Provincializing Europe (wie Anm. 6). 8 Vgl.
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Potenziale zu erschließen und Ressourcen zu nutzen, sie zu verflüssigen und verfügbar zu machen sowie nachhaltig und sinnstiftend mit ihnen umzugehen, ist eine Fähigkeit, welche Menschen mit Realitäts- und Zukunftssinn auszeichnet. Potenziale bezeichnen dabei Möglichkeiten, die nicht bloße Möglichkeiten sind, die also etwas anderes sind als Gedanken, Vorstellungen und Ideen über etwas, was gar nicht sein kann und niemals der Fall sein wird. Vielmehr hat die Frage nach Potenzialen einen durchaus realistischen Sinn. Sie zielt auf reale Möglichkeiten, die als ein Aspekt von Wirklichkeiten begriffen werden können, in denen wir leben und die wir bereits selbst sind. Die Fähigkeit, Potenziale zu erschließen und diese auszubauen, bedingt somit eine visionäre Haltung im Umgang mit der Wirklichkeit. Sie ist eine Kraft, das Mögliche zu suchen und das Unmögliche nicht zu lassen. Sie ist eine Kraft, das, was ist, auf das hin zu überschreiten, was es noch sein könnte und vielleicht noch werden kann. Der Begriff der Ressource entstammt einem Denkansatz, der – anders als derjenige der Theologie – die Welt nicht in ihren Transzendenzbezügen begreift und sie nicht von ihrer Universalität her zu denken sucht. Wer nach Ressourcen fragt, fragt stattdessen nach Gütern materieller oder ideeller Natur. Und er fragt nach ihnen in einer Welt der knappen Einheiten, der begrenzten Dinge, in einem streng endlich gedachten Rahmen. Wer ressourcenorientiert vorgeht und sich auf Ressourcen hin ausrichtet, handelt und denkt daher oiko-nomisch, haushälterisch, und folgt nicht den Kategorien einer unbedingten Vernunft. Ressourcen sind anders als Kategorien und Prinzipien stets erschöpflich und endlich. Ihre Wirksamkeit besteht gerade nicht darin, dass sie einfach da sind und wir uns ihrer transzendental oder spekulativ vergewissert haben. Ressourcen sind kein Besitzstand. Sie können zwar formal vorhanden und greifbar sein, aber zugleich besteht die Möglichkeit, dass sie sich nicht verflüssigen, nicht verlebendigen lassen. Sie können sich daher auch als nicht wirksam und nicht brauchbar erweisen. Daher sind Ressourcen nicht zu bestimmen und zu fixieren wie Begriffe, sondern für ihren Gebrauch und ihre Verwendung offen und in Bewegung zu halten. Wie beides, Ressourcen und Potenziale, im Blick auf den christlichen Glauben ineinandergreift, symbolisiert auch das neugestaltete Logo des Ökumenischen Instituts Bochum:
Das Logo stellt einen eucharistischen Fisch dar, der Gott als das lebendige Brot vom Himmel her symbolisiert. Der Rücken des Fisches steht für den traditionell gelebten und überlieferten Glauben. Dieser ist zugleich Ausgangs- und Anknüpfungspunkt für den frei interpretierten und frei gelebten Glauben, der durch den
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aufstrebenden dunkelblauen Bauch des Fisches symbolisiert wird. Das Symbol des Fisches zeigt, dass der überlieferte Glaube eine wertvolle Ressource ist, die aber nur dann genutzt und flüssig gehalten werden kann, wenn aus ihr Potenziale, also reale Möglichkeiten eines christlichen Lebens für die Gegenwart und für die Zukunft, erwachsen können. Im christlichen Glauben verbinden sich somit – recht verstanden – beide miteinander: Potenziale werden zum Schlüssel für die (Neu-)Aneignung von Ressourcen und Ressourcen zum Schlüssel für die (Neu-)Entwicklung von Potenzialen. Die daraus erwachsende Lebenshaltung eines Christenmenschen ist in der Bewegung zwischen diesen beiden Polen realistisch und lebensförderlich, auch wenn sie sich dem Erfahrenen in der Orientierung an Gott stets zu entziehen vermag. Denn wer an Gott glaubt, ist hoffnungsvoll, aber nicht optimistisch,11 er vertraut auch gegen den Augenschein und er nimmt sich Gottes Verheißung und nicht die bloße Anschauung der Fakten zum Maßstab seines Lebens und Denkens.12 Nun stellt sich die Frage, welche Potenziale eine weltumspannende Gemeinschaft von Christen im 21. Jahrhundert entwickeln kann, wenn sie sich an einer solchen Ressource, an der Ressource von Gottes Verheißung für diese Welt, orientieren und mit ihr die Herausforderungen unserer Zeit bestehen möchte. Wie kann eine solche Gemeinschaft von Christen gemeinsame Bedeutung und Verbindlichkeit erzeugen? Konkret gesprochen: Wie kann sie dies in einer spätmodernen Kultur der Digitalität, in den Lebensformen einer flüchtigen und sich verflüchtigenden Welt, im Horizont knapper Güter und oft wenig nachhaltig verbrauchter Ressourcen tun? In einer Kultur der Digitalität, wie Felix Stalder sie für die Gegenwart beschrieben hat,13 trägt jede Aktivierung und Realisierung von Ressourcen stets einen performativen Charakter: Etablierte Sinnzusammenhänge müssen permanent erweitert, verändert und kontinuierlich affirmiert werden.14 Potenzen versinken in einem Archiv oder sie werden aktiviert und realisiert: „Was nicht dauernd verwendet und erneuert wird, verschwindet.“15 Greifbar werde dies beispielsweise am Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses in historischem Gewand. Stalder hält diesen für eine typische Geste unserer Zeit im Umgang mit dem historischen Erbe: Nicht der für die Moderne kennzeichnende historische Bruch, sondern die Anpassung der Vergangenheit an die Gewohnheiten und Sensibilitäten der Gegenwart durch Herausgreifen, Zusammenfügen, Verändern und Hinzufügen kennzeichne die kulturelle Sinnproduktion nach dem Ende der Gutenberg-Gala11 Vgl. Terry Eagleton, Hope Without Optimism, New Haven, CT 2015; vgl. dazu theologisch: Ingolf U. Dalferth, Hoffnung (Grundthemen Philosophie), Berlin 2016. 12 Vgl. Rebekka A. Klein, Gottes Verheißung – Abgrund des Glaubens. Ein Versuch über Theologie als Subversion Gottes, in: Gott denken. Das Letzte – der Erste (FS I. U. Dalferth), hg. v. M. Moxter et al., Tübingen 2018, 179–192. 13 Vgl. Felix Stalder, Kultur der Digitalität, Berlin 2016. 14 Vgl. ebd., 128. 15 Ebd.
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xis. Die Illusion eines historischen Urzustandes werde dadurch aufrechterhalten, dass dieser sich – in den Worten des Zeitgeistes gesprochen – ‚recyceln‘ lasse. Um ein Erbe – und konkret das gemeinsame christliche Erbe – präsent, sichtbar und lebendig zu erhalten, ist also heute ein ‚Mehr‘ an Kommunikation, an performativer Referenzialität und an Aufmerksamkeit zu erzeugen. Es gilt nicht zu bewahren, was ist, sondern dieses muss im Moment als authentisch hergestellt werden, und zwar nicht durch den Einzelnen, sondern gemeinschaftlich durch ein gemeinsames Erstellen, Bewahren und Verändern des interpretativen Rahmens. Als Ausdruck eines solchen Prozesses der gemeinsamen Herstellung von Bedeutsamkeit und Referenzialität im Blick auf ein gemeinsames christliches Erbe, auf eine ökumenische Identität des Christentums im 21. Jahrhundert, lassen sich die Beiträge dieses Bandes lesen. Sie zeigen wichtige Trends der Ökumene im 21. Jahrhundert auf (Teil I), fragen nach sozialen und politischen Horizonten einer Erneuerung der Ökumene (Teil II) und stellen sich den postkolonialen und globalen Herausforderungen der Ökumene der Kirchen (Teil III). Sie vollziehen aber auch Überschreitungen der Ökumenischen Theologie aus der Perspektive einer Theologie der Religionen und der Komparativen Theologie (Teil IV ) und fragen nach einer Ökumene der Gleichberechtigung der Religionen (Teil V ). Im einleitenden Aufsatz mit dem programmatischen Titel „Ökumene im 21. Jahrhundert“ entfaltet Ulrich H. J. Körtner eine Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Lage der Ökumenischen Bewegung. Mit der weltweiten Ausweitung der Bewegung seien immer mehr Akteure Teil des ökumenischen Prozesses geworden, weswegen sich diese in sich pluralisiert habe. Als bleibende gemeinsame Fragen dieses Prozesses identifiziert Körtner die Wahrheits-, die Identitätsund die Minderheitenfrage. Die Wahrheit des Glaubens könne nur in einer unaufhebbaren Pluralität erscheinen und die Kirchen seien daher wechselseitig auf den Einspruch von außen angewiesen. Die Frage nach einer je eigenen (konfessionellen) Identität sei unter dem Vorzeichen eines neuen freundschaftlichen ökumenischen Klimas ebenfalls weiter virulent und habe zudem politisch in den Debatten um Globalisierung, Flucht- und Migrationsbewegungen, Nationalstaat, Leitkultur und Populismus neu an Bedeutung gewonnen. Schließlich sei die Minderheitenfrage trotz eines weltweit zu verzeichnenden Wachstums des Christentums in Zeiten eines forcierten gesellschaftlichen und religiösen Pluralismus neu ins Bewusstsein getreten, da gemeinsame Diasporaerfahrungen der Kirchen auch dazu geeignet seien, die interkonfessionelle Zusammenarbeit zu befördern. Im Blick auf die Ökumenische Theologie benennt Körtner schließlich für die Zukunft zwei Desiderate: Zum Ersten sei der Geist einer um Überwindung des inneren Dissenses des Christentums bemühten ökumenischen correctness zu verabschieden, wie er in der Methode des differenzierten Konsenses und in der Annahme zutage trete, man könne in ökumenischen Dialogen den inneren Dissens des Christentums dauerhaft begrenzen oder ganz beenden.
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Eine Hermeneutik der Differenz, die auf ein dynamisches Verständnis von konfessionellen Identitäten setze und mit ihrer geschichtlichen Veränderbarkeit rechne, müsse diesen beerben. Zum Zweiten sei die Ökumenische Theologie auf eine öffentliche Dimension hin zu erweitern, welche die Erfahrung einer Diaspora- und Minderheitenexistenz der christlichen Kirchen zu bearbeiten erlaube. ‚Diaspora‘ meine hier nicht den Rückzug der Christen oder der Kirche aus der Welt, sondern im Gegenteil, gerade das kritisch-konstruktive Sich-Einlassen auf die Gesellschaft und die Anerkennung des relational verfassten Anderen als konstitutiv für die eigene lebendige Identität. Das Verhältnis von Identität, Konfession und Kirche sucht auch Wolfgang Thönissen in seinem Beitrag systematisch näher zu bestimmen. Die Frage nach der christlichen Identität bestimmt er als eine Frage nach Kontinuität in der Veränderung der Zeit. Er zeigt auf, dass die ökumenische Suche nach einer gemeinsamen christlichen Identität tief mit der Entstehung der christlichen Konfessionsbildung und dem Konfessionalismus verbunden ist. Die Ökumenische Bewegung als ein Bewusstsein für die Überwindung der Spaltung der Christenheit sei daher als ein spezifisch modernes Phänomen zu begreifen. Ihr Wesensmerkmal sei es, dass sie die kirchliche von der konfessionellen Identität unterscheide, was auf den ersten Blick irritierend und auf den zweiten orientierend wirke. Denn Identität könne nur als komplexe Wirklichkeit verstanden werden, in welcher die von Jesus Christus gestiftete und durch ihn erhaltene Kirche beständig mit ihrer geschichtlich auffindbaren Gestalt in Beziehung gesetzt werde. So verweise in der Konstitution Lumen gentium die Rede vom ‚subsistit‘ der Kirche auf eine dynamische Realität, deren Grundcharakter nicht der Ausschluss, sondern die Teilhabe an der Gemeinschaft mit Christus sei. Kriterien für die Rechtmäßigkeit dieser ekklesialen Integration geben die notae ecclesiae mit Glaube, Sakramenten und geistlichem Amt an. Diese zeigen, wie christliche stets in der kirchlichen Identität konkret wird und Letztere auch über die Grenzen des eigenen Kircheseins hinausgehe. Eine konfessionalistische Verengung oder Festschreibung der kirchlichen Identität, aber auch ihre bloße Auflösung in eine organisationelle Vielfalt wirke diesem Prozess ekklesialer Selbstvergewisserung und Integration allerdings entgegen. Der Fortschritt der Ökumene könne daher nur als eine sich gegen Konfessionalismus und bloße Diversifizierung abgrenzende innerkirchliche Erneuerung vollzogen werden. Annemarie C. Mayer zeigt in ihrer Analyse der Bedeutung von Institutionalisierungsprozessen für die Ökumenische Bewegung auf, dass ökumenische Institutionen eine bleibende Berechtigung erlangen können, sofern sie ‚lernende Institutionen‘ sind. Als Beispiel für ihre Analyse wählt sie die 1965 gegründete Gemeinsame Arbeitsgruppe zwischen der katholischen Kirche und dem Ökumenischen Rat der Kirchen. Obschon eigentlich als Übergangsgremium für eine Mitgliedschaft der römisch-katholischen Universalkirche im ökumenischen Kirchenverbund gedacht, erfüllt die Gemeinsame Arbeitsgruppe bis heute jene
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wichtige Brückenfunktion, welche die Mitgliedschaft der römisch-katholischen Kirche im Ökumenischen Rat der Kirchen ersetzt. Darin sieht Mayer jedoch kein Scheitern der Gemeinsamen Arbeitsgruppe oder gar eine Stagnation des ökumenischen Prozesses als Ganzen, sondern sie würdigt es als fruchtbar, dass eine routinemäßige Eingliederung dieses Gremiums gerade unterblieben ist. Damit werde letztlich eine – bei aller Notwendigkeit der Etablierung fester Strukturen – doch gefahrvolle ‚Sklerotisierung‘ ökumenischer Institutionen gegenüber der lebendigen Ökumene vor Ort vermieden. Zudem werde mit dem Nicht-Aufgehen der römisch-katholischen Kirche in der Institution des Ökumenischen Rates auch eine differenzierte und spätmodern vermittelbare Vision der Einheit der Kirche deutlich: Einheit sei hier als ‚Verpflichtung auf das schwierige Ganze‘ neu zu interpretieren, in welcher die Konstellation der Teile zueinander und zum Ganzen immer wieder Änderungen unterworfen sowie unscharf und eschatisch schwer fassbar sei. Gerade darin zeige sich aber, dass die Frage nach einer gemeinsamen Wahrheit ökumenisch nicht suspendiert werden könne. Für eine neue Herangehensweise und Methodik des ökumenischen Dialogs wirbt Stefan Dienstbeck. Er merkt kritisch an, dass die gewöhnlich vorherrschende Suche nach Konsensen im ökumenischen Dialog den Nachteil habe, dass kontroverse Themen nur schwer auf die Tagesordnung gebracht werden können. In der Praxis des ökumenischen Dialogs würden darum von vornherein immer nur unstrittige oder vergleichbare Auffassungen fokussiert. Um auch zu den eigentlich brisanten Punkten vorzustoßen, zu denen Dienstbeck unter anderem das lutherische Kirchenverständnis und den protestantischen Umgang mit der Sichtbarkeit der Kirche zählt, sei darum ein anderes Vorgehen zu wählen. Dieses beschreibt er als eine Hermeneutik der (wechselseitigen) Verletzlichkeit der Dialogpartner. Ins Zentrum treten dann Klärungen von Unschärfen, Lücken und Leerstellen im eigenen theologischen System. Dabei gehe es nicht darum, die eigenen Schwächen zu Angriffsflächen für die Gegenseite zu machen. Vielmehr sei gerade aus den Schwächen der Konfessionen eine Stärke im Dialog zu erzielen, indem diese offengelegt und in ihrer Offenheit für Interpretationsspielräume und neue gemeinsame Deutungen ausgezeichnet würden. Dies erlaube es dann, die Profile der Konfessionen in einem neuen Licht zu betrachten und an offenen Stellen im eigenen System nach neuen Anknüpfungspunkten zum anderen hin zu suchen. Dienstbeck zeigt sodann, wie der protestantische Kirchenbegriff, dessen Schwäche oft in seiner institutionsfeindlichen und den Individualglauben fördernden Tendenz gesehen wird, für verschiedene Modelle der Sichtbarkeit und der sichtbaren Einheit der Kirche aufgeschlossen werden kann. Die Vagheit und Offenheit des Kirchenbegriffs im Luthertum sei als Ausdruck einer ursprünglichen ökumenischen Motivation zu verstehen. Als eine wesentliche Handlungsform der gegenwärtigen Ökumene, die insbesondere in der römisch-katholischen Kirche erst relativ spät in ihrem Wert anerkannt wurde, beschreibt Dorothea Sattler die sogenannte ‚Geistliche Öku-
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mene‘. Gegenüber den Handlungsformen der Sozial- und der Dialogökumene, neben die sie konkurrenzlos hinzutrete, zeichne sich die Geistliche Ökumene insbesondere dadurch aus, dass sie spirituelle Erfahrungen von Menschen, wie z. B. das gemeinsame Beten, ins Zentrum des ökumenischen Vollzugs und seiner Hermeneutik stellt. Sie manifestiere daher ganz besonders die alltägliche Lebensrelevanz eines gemeinsamen christlichen Glaubens, lehre aber auch die Selbstbescheidung ökumenischer Bemühungen angesichts des Handelns Gottes in dieser Welt und ermögliche schließlich eine Vertiefung christlicher Identität von der Mitte des christlichen Daseins her. Da die Geistliche Ökumene in Gestalt gemeinsamer liturgischer Feiern, die sakramental oder nicht-sakramental sein können, die Anteilnahme an den Freuden und Nöten anderer Kirchen fördere und dies durch die Teilhabe an den Formen und Gestalten ihres kirchlichen Lebens auch sichtbar und erfahrbar werden lasse, sei sie dazu geeignet, Menschen derart zu ermutigen, dass der Weg zu einer sichtbaren Einheit der Christenheit gefunden werden könne. Sie ermögliche es, den Blick darauf auszurichten, dass mit Jesus Christus die personale Mitte der Glaubensgemeinschaft sichtbar in Erscheinung trete. Im Blick auf die römisch-katholische Kirche zeichnet Sattler sodann nach, wie diese den Wert der Geistlichen Ökumene und mit ihr die Notwendigkeit einer geistlichen Motivation und einer Bereitschaft zur Schuldanerkennung und zur Umkehr in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend entdeckte. Als Wendepunkt könne hier das Zweite Vatikanum angesehen werden, welches ausdrücklich eine Einheit durch geistgewirkte, innere Erneuerung bekenne. In ihrem Beitrag stellt Rebekka A. Klein die Frage, wie das ökumenische Ethos der christlichen Kirchen ethisch am besten auszurichten sei. Ein wesentliches Anliegen der Ökumenischen Bewegung sei ein herrschafts- und machtkritischer Umgang mit verschiedenen Gesellschaftsordnungen, aber auch mit Kirche an sich gewesen. Diesem Anliegen sei nun nicht allein durch liberale und kulturwissenschaftliche Kirchen- und Ökumenekritik, sondern auch durch eine theologische Neuorientierung am Ort der Ekklesiologie selbst Rechnung zu tragen. Klein unterbreitet daher den Vorschlag, das Ethos der Ökumene theologisch an einer Haltung der Demut auszurichten. Dazu sucht sie das klassische christliche Ideal der Demut bzw. die paulinische Niedrigkeitsgesinnung (ταπεινοφροσύνη) als eine ethische Orientierung kirchlicher Gemeinschaft für das 21. Jahrhundert neu zu interpretieren. Der klassische theologische und der biblische Begriff der Demut seien dazu allerdings einer kritischen Revision und Aktualisierung zu unterziehen, welche von der Demutskritik ihren Ausgang nehmen könne, wie Friedrich Nietzsche sie mit seiner Entlarvung der Demut als Strategie der Selbstermächtigung einflussreich entfaltet habe. Im Anschluss an Paul Tillich sei ein Verständnis der Demut möglich, welches diese als eine für die Ambivalenz, Gebrochenheit und Zweideutigkeit der Existenz der Kirchen offene Haltung interpretiere. Teil eines Ethos der Demut sei in diesem Sinne auch eine reformbereite und mit sich selbst widerstreitende Kirche. Entsprechend übt Klein Kritik an
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neueren exegetischen Demutslektüren, welche Demut in den Paulusbriefen als Ethos der Einheit und als moralisches Werkzeug zur Herstellung einer kommunitären Gemeinschaftsform deuten. Drei weitere Beiträge des Bandes widmen sich den sozial- und politiktheoretischen Horizonten einer Erneuerung der Ökumene im 21. Jahrhundert. So entwickelt Markus Mühling eine anthropologische Kritik der Ökumene und ihrer Vorstellungen von Einheit, Gemeinschaft und Zusammenhalt ausgehend von der Sozialanthropologie Tim Ingolds. Ingold hat betont, dass menschliches Leben als ein ‚Werden in Beziehungen‘ zu beschreiben ist, und hat sich damit gegen eine bloße Feststellung des Menscheins jenseits seiner narrativen und relationalen Dynamiken gewendet. Die Überlegungen Ingolds zu einer narrativen Anthropologie können nach Mühling auch für ein gehaltvolles Verständnis von Sozialität und Gemeinschaftlichkeit in der Ökumenischen Bewegung relevant werden. So wies bereits Paulus darauf hin, dass Gemeinschaftsbildung der näheren Qualifizierung bedarf, da es auch eine κοινωνία der Bösen gebe (1.Kor 10,20). Mühling zeigt daher anhand von Ingolds Unterscheidung von zwei verschiedenen Formen des Sich-Bewegens (transport und wayfaring) auf, inwiefern Ökumene das Leben der Menschen vor Ort und ihr gelebtes Voneinander-und-Füreinander-Werden verfehlen würde, wenn sie sich in der Feststellung universeller Wahrheiten und eines Universalkonsenses der christlichen Kirche erschöpft. Stattdessen habe sie die christlichen Konfessionen und Traditionen als ein sich primär narrativ erschließendes Gewebe von Weglinien neu zu verstehen, die sich wie Fäden immer wieder auf komplexe Weise miteinander verknüpfen. Die ökumenischen Einheitskonzeptionen der sichtbaren Einheit und der versöhnten Verschiedenheit erscheinen vor diesem Hintergrund als unzureichend, da sie von einer Umkehrung, Verkürzung und Verfestigung der bezeugten Weglinien des Christentums in einem Netzwerk der Lehrkonsense und Dialogergebnisse der Ökumene ausgehen. Risto Saarinen orientiert seine Überlegungen zur Zukunft der Ökumene an dem sozialtheoretischen und theologischen Konzept der Anerkennung. Während dieses in der politischen Philosophie in den 1990er Jahren durch Charles Taylor und Axel Honneth prominent diskutiert wurde, findet es sich in ökumenischen Texten bereits seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil und lässt sich auch bis in den neueren Ansatz eines receptive ecumenism hinein verfolgen. Saarinen zeigt kritisch gegen das enggeführte philosophische Anerkennungsverständnis die antiken Quellen des christlichen Anerkennungsdiskurses auf und identifiziert drei verschiedene Typen der Anerkennung: (1) Konversion des Anerkennenden; (2) Wechselbeziehung zwischen den Sich-Anerkennenden; (3) Statuswechsel des Anzuerkennenden. Er zeigt, wie diese Anerkennungstypen in ökumenischen Dialogdokumenten vom Zweiten Vatikanum über die PorvooErklärung bis zur Leuenberger Konkordie aufgenommen und miteinander kombiniert werden und sich auf diese Weise ein gehaltvolles theologisches
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Verständnis gegenseitiger Anerkennung entwickelt, welches diese als spirituelle Wandlung und Offenheit für Transformation begreife. Streng zu unterscheiden sei dieses von einem sogenannten ‚diplomatischen Fehlschluss‘, also der Ansicht, Anerkennung sei ein bloßer Akt der Höflichkeit. Das anerkennende Subjekt müsse vielmehr recht verstanden selbst zum Empfangenden und in einem gewissen Sinne auch zum innerlich Bekehrten werden. Dies begründe auch die gravierende Differenz des theologischen zum säkularen modernen Paradigma der Anerkennung. Ökumenisch könne neben einer Analyse der (beidseitigen) Transformationsprozesse der Anerkennungsbeziehung auch eine genauere Kenntnis der Asymmetrien und Machtstrukturen der Anerkennung von großem Interesse sein. In ihrem Beitrag zum ekklesiologischen Leitmotiv der versöhnten Vielfalt untersucht Rebekka A. Klein die Frage, inwiefern dieses für die protestantische Ökumene charakteristische Motiv als normative Leitidee für das kirchliche Leben in einer offenen und pluralistischen Gesellschaft fungieren kann. Dazu erörtert sie zunächst, welche normative theologische Begründung für eine Orientierung an diesem Motiv gegeben werden kann. Versöhnte Vielfalt bezeichne eine in die Einheit der Kirchen integrierbare und zu ihr hin vermittelbare Pluralität. Begründet sei die Annahme, Pluralität lasse sich integrieren, in der evangeliumsgemäßen Aussage, dass die Einheit der Kirche nach Gal 3,28 jenseits sozialer Zuschreibungen in Jesus Christus verortet sei. Neben der theologischen Begründung befragt Klein die Rede von der versöhnten Vielfalt sodann auf ihre sozialethischen und politiktheoretischen Konsequenzen hin. Kritisch diskutiert sie den von den Kirchen Europas in der Charta Oecumenica im Jahr 2001 formulierten Anspruch auf eine öffentliche Vorbildwirkung der ökumenischen Versöhnungsprozesse. Hier drohe eine Überforderung menschlicher Friedenssehnsüchte durch theologische Heilsversprechen. Es lasse sich zeigen, dass der Versöhnungsbegriff nicht auf ein metaphysisches Versprechen der finalen Aufhebung von Konflikten und Differenzen gegründet werden darf. Versöhnung unter Menschen sei vielmehr als ein sich zeitlich pluralisierendes und differenzierendes Geschehen der Annäherung zu betrachten, welches bereits innerhalb von Konflikten und nicht erst nach deren Beendigung sein Potenzial entfalten könne. Das Modell der versöhnten Vielfalt müsse zudem daraufhin befragt werden, ob es als Paradigma einer interkulturellen Anerkennung in einer globalisierten Welt tragfähig sei. Nicht nur im Blick auf den Stand der sozialphilosophischen Debatte zur interkulturellen Anerkennung, sondern auch im Blick auf eine Selbstwahrnehmung des Christentums sei dieses Modell unzureichend und müsse kritisch umgebaut und weiterentwickelt werden. Zwei weitere Aufsätze legen den Schwerpunkt auf die postkolonialen und globalen Herausforderungen der Ökumene. André Munzinger fragt in seinem Beitrag, was Kosmopolitismus und Ökumene miteinander verbindet, um zu klären, worin die Handlungsrelevanz der Ökumenischen Bewegung in einer
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globalisierten Welt besteht. Er rückt das ethische Projekt einer weltbürgerlichen Gesinnung und Lebensordnung in große Nähe zur kirchenpolitischen Bewegung der Ökumene und ihren transkulturellen Lernformen und zeigt auf, inwiefern Ökumene sich als Antwort und zugleich als Herausforderung der gegenwärtigen Bemühungen um eine kosmopolitische Weltordnung verstehen lässt. Die Grundlagen zu einer solchen, die gesamte Menschheit mit in den Blick nehmenden kosmopolitischen Perspektive sieht er in Friedrich Schleiermachers Konzeption einer Anerkennung der Menschheit in der Individualität des Anderen angelegt. Das bei Schleiermacher jedoch noch ganz bürgerlich-romantisch auf eine Wirkungsgemeinschaft der ganzen menschlichen Gattung ausgerichtete religiöse Bewusstsein erfahre in Gestalt der Ökumenischen Bewegung des 20. Jahrhunderts seine entscheidende praktische Vertiefung. Es werde nun in eine Praxis der Weltveränderung und des Widerstands überführt, die auch Distanz und Bruch mit herrschenden Gewalten und das Engagement für die Welt als Ganzes kenne. Mit Jürgen Habermas definiert Munzinger abschließend die Verschränkung von Universalität und Partikularität als die zentrale Herausforderung des Kosmopolitismus in der Gegenwart. Ökumene sei in diesem Sinne eine ‚geerdete‘ kosmopolitische Bewegung, denn sie erfülle bereits die von Habermas formulierten Anforderungen, indem sie Universalität und Partikularität niemals gegeneinander ausspiele, sondern diese in einer Mehrebenen-Loyalität miteinander verbinde. Für einen eigenständigen Ansatz der Ökumene, welcher aus der Perspektive der postkolonialen Theoriebildung formuliert ist, tritt Claudia Jahnel ein. Ihr Anliegen ist es, in der Ökumene den Erfahrungen und dem Wissen derer Gehör zu schenken, die an den Rändern der globalisierten Welt leben und mit der durch den Westen geschaffenen Weltordnung nicht einverstanden sind. Ausgehend vom Konzept eines vernakularen Kosmopolitismus, das auf Homi Bhabha und seine Kritik am traditionellen Kulturverständnis zurückgeht, fragt sie nach der Möglichkeit einer analog gestalteten ‚Vernakularen Ökumene‘. Die Verbindung von Ökumene und Vernakularität, Universalität und Partikularität sei zunächst widersprüchlich, da kulturelle, religiöse und nationale Verwurzelungen oft als unvereinbar mit transkulturellen und kosmopolitischen Lebensformen angesehen würden. In Wahrheit sei es jedoch so, dass beide Kategorien derzeit neu ausgehandelt werden und daher auch eine neue Verbindung eingehen könnten. Vernakulare Ökumene sei in diesem Sinne eine Diskursform, die es zulasse, dass partikulare Erfahrungen und unbequemes Wissen, welche sich an den Grenzen des herrschenden Diskurses formiert haben, in diesen Diskurs intervenieren und auf diese Weise dazu beitragen, dass das Gemeinsame und Verbindende von Christen neu konfiguriert wird. Kritisch betrachtet Jahnel vor diesem Hintergrund die aktuellen Versuche einer Überwindung des westlichen Ökumeneverständnisses, die Ökumene als gegenhegemoniale Gemeinschaft und die Kirche als ‚Anti-Empire‘, als Gegenmacht zur neoliberalen Ideologie des Marktes zu inszenieren suchen. Diese Bemühungen seien insofern als ambiva-
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lent einzuschätzen, als die Gefahr bestehe, dass lediglich eine Universalitätskonstruktion durch eine andere ersetzt werde. Die den Band beschließenden Aufsätze überschreiten den Horizont der Ökumenischen Theologie auf das Gespräch mit Außenperspektiven hin und machen aktuelle Einsichten aus der Interreligiösen und aus der Komparativen Theologie für ein vertieftes Verständnis der Ökumene und für ihre Weiterentwicklung im 21. Jahrhundert fruchtbar. Zunächst zeigt Perry Schmidt-Leukel die Verbindung zwischen der Suche nach einer gemeinsamen Wahrheit im Christentum und der Suche nach einer gemeinsamen Wahrheit der verschiedenen Religionen auf. Er widmet sich dabei der Frage, wie zu erklären sei, dass Wahrheit in Religionen (wie in Kulturen) stets eine plurale Gestalt annehme. Er stellt die These auf, dass dies der Fall sei, weil Religionen nicht nur voneinander verschieden, sondern auch in sich vielfältig seien und sich eben darin strukturell ähneln. Vielfalt bzw. ‚Fraktalität‘ sei eine Struktur der Selbstähnlichkeit, die Replikation einer Grundstruktur über verschiedene Skalen hinweg, wie Benoît Mandelbrot sie mathematisch beschrieben hat. Sie sei somit gerade ein Modus der Ähnlichkeit und Gemeinsamkeit und nicht der Differenz und Trennung von Religionen. Die global zu beobachtende Verschiedenheit der Religionen deutet SchmidtLeukel in dieser Perspektive als eine Wiederholung ihrer inneren Vielfalt, welche wiederum so ausgeprägt sei, dass sie immer wieder zur erstaunlichen Beobachtung von analogen Phänomenen in verschiedenen Religionen Anlass gebe. Pluralität sei demnach das Gegenteil von radikaler Differenz oder absoluter Inkommensurabilität. Hinsichtlich der Ökumenischen Theologie komme der fraktalen Religionstheorie eine Brückenfunktion zu: Statt eines unversöhnlichen Gegensatzes seien die Wahrheitsauffassungen der Konfessionen als spannungsvoll, aber komplementär zu begreifen. Wahrheit sei stets in Vielfalt zu denken. Ein ausgezeichnetes Beispiel für diesen Erkenntnisprozess sei die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre von 1999. Ein Gegenbeispiel finde sich hingegen bei Karl Barth, welcher dem Shin-Buddhismus die Anerkennung dogmatisch und auf selbstwidersprüchliche Weise verweigert habe. Anders als Schmidt-Leukel fragt die Komparative Theologin Marianne Moyaert nicht, was Religionen, Konfessionen und Traditionen miteinander verbindet, sondern wie sie miteinander in Verbindung gebracht werden können. Sie leitet ihren Artikel mit der Beobachtung ein, dass Theologinnen oft für die Komplexität anderer religiöser Traditionen nicht dieselbe Aufmerksamkeit haben wie für das Studium der inneren Vielfalt ihrer eigenen Tradition. Der theologische Diskurs könne sich aber nur dann fortentwickeln, wenn er durch den intensiven Kontakt mit anderen aufgebrochen werde. Zu diesem Zweck habe die Komparative Theologie geeignete Methoden entwickelt. Dazu zähle z. B., durch die Methode des ‚Querlesens‘ oder ‚Zwischenlesens‘ in vergleichende Konversationen mit den Texten und heiligen Schriften anderer religiöser Traditionen einzutreten. Allerdings sei der damit gegebene Fokus auf
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verschriftlichte Zeugnisse anderer Religionen auch kritisch zu reflektieren. Zwar seien Texte das Medium, in welchem die großen Weltreligionen ihr Vermächtnis und ihre spezifischen religiösen Praktiken bewahrten, jedoch würde eine solche Fokussierung lediglich eine Seite der Religionen, nämlich die der kognitiven Orientierung, repräsentieren und einseitig reproduzieren. In der ‚gelebten Religion‘ hingegen werde der Mensch als handelndes Subjekt und leibliches Selbst durch Rituale geformt, die ihm ein implizites Wissen vermitteln. Daher plädiert Moyaert dafür, auch die materielle und rituelle Dimension des religiösen Lebens komparativ in den Blick zu nehmen. Sie schlägt vor, eine methodische Praxis der Inter-Ritualität zu etablieren, um die Möglichkeit zu schaffen, noch umfassender über die Grenzen des Eigenen hinweg zu lernen. Dies könne auch für die Ökumene und das ökumenische Lernen fruchtbar gemacht werden. In seinem, den Band abschließenden Artikel über den Pluralismus der Religionen und die Ökumene plädiert der Politikwissenschaftler und Islamologe Bassam Tibi für eine über das Christentum hinausgehende, globale ‚Ökumene der Gleichberechtigung‘. Diese habe ausgehend von den Ideen der Reformation den Pluralismus der Religionen und die Gleichberechtigung aller Religionen in ihr Zentrum zu stellen. Die Notwendigkeit einer solchen Ökumene sieht Tibi angesichts der gegenwärtigen Situation gegeben. Diese sei durch eine Gleichzeitigkeit von Globalisierung und Fragmentierung der Welt geprägt, da trotz der Ausweitung internationaler Strukturen der Konsens über universell gültige Werte vielerorts zerbreche. Problematisch sei darüber hinaus, dass die Politik und ihre Aushandlung von sozialen Konflikten zunehmend in die Aura der Religion und damit in den Bereich des Nicht-Verhandelbaren verschoben werde. Anstelle einer post-säkularen ‚Rückkehr der Religion‘, wie sie durch gegenwärtige Vertreter der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule ausgerufen werde, vollziehe sich derzeit eine De-Säkularisierung mit totalitären Tendenzen, wie man anhand der Entwicklung der Türkei in eine Islamokratie beobachten könne. Um diesen Entwicklungen entgegenzuwirken, sei es unverzichtbar, den Pluralismus der Religionen auf eine neue Grundlage zu stellen und von allen Religionen – auch vom Islam – eine unbedingte Anerkennung ihrer Gleichwertigkeit zu verlangen. Zu diesem Ziel müsse vor allem die islamische Doktrin der Überlegenheit über Andere (al-taghallub/supremacism) dringend reformiert werden. Auch die muslimische Form der Toleranz (tasamuh) stufe die Anhänger anderer monotheistischer Glaubensweisen nur als dhimmi, als Gläubige zweiten Ranges, ein. Ein Vorbild könnten hier die Ideen der protestantischen Reformation sein, welche in einem aufgeklärten islamischen Denken zur Geltung gebracht werden sollten. Gerade weil im Islam so gewichtige Tendenzen gegen eine ‚Ökumene der Gleichberechtigung‘ zu verzeichnen seien, müssten Kirchenleitungen und Politiker endlich von der Vorstellung des Islam als einer einheitlichen Größe abrücken bzw. abgerückt werden.
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Ökumene im 21. Jahrhundert1 Ulrich H. J. Körtner 1. Ökumene im Wandel Das Reformationsjubiläum 2017 war das erste im ökumenischen Zeitalter. Erinnern wir uns an die wichtigsten Stationen der jüngeren Geschichte der Ökumenischen Bewegung: 1948 wurde in Amsterdam der Ökumenische Rat der Kirchen gegründet, 1959 fand in Dänemark die erste Vollversammlung der Konferenz Europäischer Kirchen statt. Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil von 1962 bis 1965 öffnete sich die römisch-katholische Kirche der Ökumene – unumkehrbar, wie sie seither immer wieder betont hat. 1973 wurde auf dem Leuenberg bei Basel die Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa unterzeichnet, durch welche die Lehrgegensätze der Reformationszeit zwischen Lutheranern und Reformierten ihre kirchentrennende Bedeutung verloren haben. Heute gehören der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) die meisten lutherischen, reformierten und unierten sowie methodistischen und vorreformatorischen Kirchen Europas an. 1999 wurde in Augsburg die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre (GER) vom Lutherischen Weltbund und vom Päpstlichen Rat zur Förderung der Einheit der Christen unterzeichnet. 2006 hat der Weltrat methodistischer Kirchen der Gemeinsamen Erklärung zugestimmt. Im Jubiläumsjahr 2017 hat auch die Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen (WGRK) ihre Zustimmung erklärt,2 wobei sie die Bedeutung des tertius usus legis für die reformierte Tradition unterstrichen, das reformatorische sola scriptura als tota scriptura interpretiert und die bleibende Erwählung Israels sowie den Zusammenhang zwischen Rechtfertigung und irdischer Gerechtigkeit als besondere reformierte Anliegen geltend gemacht hat. Voraussetzung für die Übereinstimmung der genannten Konfessionskirchen ist die Methode des differenzierten Konsenses, die sich auch die WGRK in ihrer Zustimmung zur GER ausdrücklich zu Eigen gemacht hat. 1 Eröffnungsvortrag im Rahmen der Tagung ‚Gemeinsam Christsein: Potenziale und Ressourcen einer Theologie der Ökumene für das 21. Jahrhundert‘, anlässlich der Neueröffnung des Ökumenischen Instituts der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum am 4.10.2018. 2 Vgl. Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen, Assoziierung der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen mit der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre, online abrufbar unter: http://wcrc.ch/wp-content/uploads/2016/07/DE-WCRC-Association-with-JD DJ.pdf (letzter Zugriff am 8.8.2018; U. K.).
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Nach anfänglichen Irritationen und Spannungen, die durch den 2014 von der EKD veröffentlichten Grundlagentext Rechtfertigung und Freiheit3 ausgelöst wurden, hat man sich in Deutschland sehr um eine ökumenische Ausrichtung des Reformationsjubiläums bemüht. Auch international stand das Reformationsgedenken im Zeichen der Ökumene und dem Bemühen, den Blick mehr auf das die Kirchen Verbindende als auf das noch Trennende zu richten. So wurden Zeichen wachsender Gemeinschaft gesetzt: Angefangen beim Papstbesuch am 31. Oktober 2016 in Lund, über die ökumenische Reise deutscher Kirchenvertreter nach Jerusalem 2016, den Hildesheimer Buß- und Versöhnungsgottesdienst, bis hin zum ökumenischen Christusfest, das am 16. September 2017 in Bochum gefeiert wurde. Lutherischer Weltbund und Päpstlicher Einheitsrat – genauer gesagt, die lutherisch/römisch-katholische Kommission für die Einheit – veröffentlichten bereits 2013 eine Studie mit dem Titel Vom Konflikt zur Gemeinschaft, die eine gemeinsame Sicht der Reformation und ihrer Folgen vertritt.4 Auch der Ökumenische Arbeitskreis evangelischer und römisch-katholischer Theologen in Deutschland formulierte in einer umfangreicheren Studie ökumenische Perspektiven zum Verständnis der Reformation.5 Die Bilaterale Arbeitsgruppe der Deutschen Bischofskonferenz und der Vereinigten Evangelisch-lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) versuchte der Debatte um eine ökumenische Ethik durch das 2017 veröffentlichte Studiendokument Gott und die Würde des Menschen,6 welches die Methode des differenzierten Konsenses vom Gebiet der Dogmatik auf das Feld der Ethik überträgt, neue Impulse zu verleihen. Die evangelische und die römisch-katholische Kirche haben Erwartungen nach weiteren ökumenischen Fortschritten nicht nur aufgegriffen, sondern auch selbst befeuert. Von einer Gemeinsamen Erklärung zu Amt und Eucharistie ist die Rede und ein erster sichtbarer Schritt auf dem Weg dorthin sollte die ausnahmsweise Zulassung evangelischer Ehepartner in konfessionsverschiedenen Ehen zur römisch-katholischen Kommunion sein. Über dieses Vorhaben ist es freilich innerhalb der Deutschen Bischofskonferenz zu einem erbitterten Streit gekommen. Die inzwischen gefundene innerkatholische Lösung ist kaum als ökumenischer Durchbruch zu feiern, sondern eher ein Anlass, für mehr Reali3
Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hg.), Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Gütersloh 42015. 4 Vgl. Vom Konflikt zur Gemeinschaft. Gemeinsames lutherisch-katholisches Reformationsgedenken im Jahr 2017. Bericht der Lutherisch/Römisch-katholischen Kommission für die Einheit, Leipzig 22013. 5 Vgl. Volker Leppin/ D orothea Sattler (Hg.), Reformation 1517–2017. Ökumenische Perspektiven (Dialog der Kirchen 16), Freiburg i. Br. 2014. 6 Bilaterale Arbeitsgruppe der Deutschen Bischofskonferenz und der Vereinigten Evangelisch-lutherischen Kirche Deutschland (Hg.), Gott und die Würde des Menschen, Leipzig 2017.
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tätssinn und Nüchternheit in der Ökumene zu werben.7 Gleichzeitig gilt es, den ökumenischen Blick zu weiten und aus der provinziellen Verengung herauszufinden, die beispielsweise der Historiker Hartmut Lehmann den deutschen Reformationsfeierlichkeiten attestiert hat.8 Und jetzt? fragt ein im Frühjahr 2018 erschienener Sammelband zum Stand der Ökumene nach dem Reformationsjubiläum.9 Die Antworten der Autorinnen und Autoren fallen recht unterschiedlich aus. Sie reichen von Optimismus und dem Aufruf zu mehr ökumenischem Ehrgeiz10 bis zur Warnung des Kölner Erzbischofs Kardinal Woelki vor Etikettenschwindel in der Ökumene – z. B. in der Abendmahlsfrage – und seiner Forderung nach mehr Ehrlichkeit.11 Verglichen mit der Jahrtausendwende, als die Erklärung Dominus Iesus der römischen Glaubenskongregation (2000) für einen Paukenschlag sorgte und von Stagnation oder gar einer neuen ökumenischen Eiszeit die Rede war, stehen die Zeichen in der Ökumene derzeit auf einen neuen Frühling. Doch alle atmosphärischen Verbesserungen, auch in Verbindung mit dem Reformationsjubiläum, ändern nichts daran, dass entscheidende theologische Fragen nach wie vor ungelöst sind. An erster Stelle ist die Klärung ökumenischer Zielvorstellungen zu nennen. Sie ist eine Schlüsselfrage für die Zukunft der Ökumene. Nach wie vor gibt es keine gemeinsame Sicht der angestrebten kirchlichen Einheit. Zwar haben in jüngster Zeit auch Papst Franziskus und Kardinal Marx, der ehemalige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, die protestantische Formel von der Einheit in versöhnter Verschiedenheit verwendet. Was darunter aber zu verstehen ist, darüber herrscht keineswegs Einigkeit. Evangelische und römisch-katholische Lesarten dieser Formel weichen voneinander erheblich ab, was wiederum daran liegt, dass das Kirchenverständnis – genauer gesagt: das Verhältnis zwischen Kirche und Christus – fundamental unterschieden ist, worauf Kurienkardinal Kurt Koch, der Präsident des Päpstlichen Einheitsrates, und sein Vorgänger 7 Vgl. Ulrich H. J. Körtner, Realitätssinn ist nun gefragt. Die Anerkennung der evangelischen Kirche durch die katholische ist fern, in: Zeitzeichen 19/8 (2018), 8–11. 8 Insgesamt bleibe der „Eindruck von Selbstbezogenheit, gar Enge, und im Zeitalter der Globalisierung ein Mangel an interkultureller Komparatistik.“ (Hartmut Lehmann, Ein Sommermärchen namens Luther?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.1.2018, online abrufbar unter: http://www.faz.net/aktuell/politik/die-gegenwart/lutherdekade-und-jubilaeums jahr-2017-15358972.html?printPagedArticle=true#pageIndex_0 [letzter Zugriff am 10.8.2018; U. K.]). 9 Claudia Keller/Stefan Orth (Hg.), Und jetzt? Ökumene nach dem Reformationsjubiläum (Edition Herder Korrespondenz), Freiburg i. Br. 2018. 10 Vgl. Thomas Söding, Mehr Ehrgeiz. Ist eine Einigung über die Ziele der Ökumene möglich?, in: Keller/Orth (Hg.), Und jetzt?, 102–116 (wie Anm. 9). 11 Vgl. R ainer M. Woelki, Mehr Ehrlichkeit in der Ökumene. Das Verhältnis von Katholiken und Lutheranern im Reformationsjahr, in: Keller/Orth (Hg.), Und jetzt?, 9–19 (wie Anm. 9).
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Kardinal Walter Kasper wiederholt hingewiesen haben.12 Inzwischen lässt sich eine zunehmende Pluralisierung der Einheitsvorstellungen beobachten, die quer zu den klassischen Konfessionsgrenzen verlaufen. Dass das Ziel der Ökumenischen Bewegung auf diese Weise undeutlicher wird, hängt nach Ansicht von Christoph Markschies gerade mit ihrem Erfolg im 20. Jahrhundert zusammen. „Es engagieren sich nämlich inzwischen so viele Menschen in der ökumenischen Bewegung, dass sich die schon anfänglich unterschiedlichen Ziele einfach aufgrund der Menge der an der Ökumene interessierten Christenmenschen weiter pluralisiert haben.“13 Sollte man statt von Einheit in versöhnter Verschiedenheit heute vielleicht besser von einer Einheit der friedvoll getrennten Kirchen sprechen?14 Erstaunlicherweise hat die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) das Thema Kirche in ihrer Lutherdekade ausgespart. Dabei ist doch die Frage nach der Zukunft der Kirche im Allgemeinen wie der Evangelischen im Besonderen drängend. Verbreitet ist die Überzeugung, man könne auch ohne Kirche ein guter Christ sein oder zumindest ein guter Protestant. Unterstützt wird diese Sichtweise durch die Annahme, Religion sei eine anthropologische Konstante, nur würden die Kirchen an den religiösen Bedürfnissen der Zeitgenossen vorbei agieren. Leere Kirchen seien kein Indiz für das Schwinden der Religion. Diese nehme lediglich außerhalb der verfassten Kirche neue Gestalten an und sei – als Geist des Christentums, respektive als Geist des Protestantismus – ungebrochen präsent. Der ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber witzelt: „Das evangelische Verhältnis zur Kirche zeigt sich am intensivsten dann, wenn man über die Kirche klagt. ‚Das ist nicht mehr meine Kirche‘ ist die intensivste Form, in der Evangelische ihre Kirchenbindung zum Ausdruck bringen. Katholisch ist es, auch dann an der Verbundenheit mit der Kirche festzuhalten, wenn sie einem ärgerlich und beschwerlich geworden ist, ihren stellvertretenden Glauben auch dann noch in Anspruch zu nehmen, wenn man an ihm zweifelt. Die evangelische Kirche ist jedenfalls in einem Sinn noch immer Volkskirche, nämlich als Kirche für das Volk, das nicht zur Kirche geht.“15
Eine Religionstheorie, die das Christentum, vor allem in seiner protestantischen Gestalt, zum Sachwalter der Moderne erklärt, ist freilich hochgradig ideologisch. Sie immunisiert sich gegen jede Empirie und Kritik, weil ihr Konstrukt einer allgegenwärtigen subjektiven Religiosität, das moderne Subjektivität und 12 Vgl. Kurt Koch, Ökumene im Wandel. Zum Zukunftspotential des Ökumenismusdekrets Unitatis redintegratio, in: Erinnerung an die Zukunft. Das Zweite Vatikanische Konzil, hg. v. J.‑H. Tück, Freiburg i. Br. 22013, 403–436; Walter K asper, Ökumene im Wandel, in: Stimmen der Zeit 225 (2007), 3–18. 13 Christoph Markschies, Neue Chancen für die Ökumene, in: Herder Korrespondenz Spezial 2/2016, 17–21, hier 20. 14 Vgl. Stefan Kopp/Wolfgang Thönissen (Hg.), Mehr als friedvoll getrennt? Ökumene nach 2017 (Theologie im Dialog 21), Freiburg i. Br. 2017. 15 Wolfgang Huber, Reformation und Katholizität. In der Verschiedenheit zusammengehören, in: Keller/Orth (Hg.), Und jetzt?, 76–86, hier 77 (wie Anm. 9).
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Religion gleichsetzt, soziologisch nicht greifbar ist. Empirische Untersuchungen zeigen, dass die Verbindung zur Religion schwindet, wo die Verbindung zur Kirche abreißt.16 Daher stehen die Themen Kirche und Kirchenmitgliedschaft oben auf der ökumenischen Tagesordnung; auch angesichts der Herausforderungen durch das weltweit wachsende charismatische Christentum und durch evangelikale Strömungen, die mit der herkömmlichen Ökumene nicht viel im Sinn und an der bisherigen Konvergenz- und Konsensökumene keinen Anteil haben. Pluralisierung und Individualisierung des Christentums, seine Fragmentierungen wie auch neue konfessionsübergreifende Gruppierungen und Netzwerke, die sich als transkonfessionell begreifen, werfen verstärkt die Frage nach der Identität des christlichen Glaubens und der einzelnen Kirchen auf. Dass die Frage nach der jeweils eigenen Identität auch unter dem Vorzeichen eines neuen freundschaftlichen ökumenischen Klimas nicht verstummt, zeigen nicht zuletzt die innerprotestantischen Auseinandersetzungen über die theologische Ausrichtung des Reformationsjubiläums 2017. Die Identitätsfrage hat auch im politischen Bereich neu an Bedeutung gewonnen, wie die Debatten um Globalisierung, Flucht- und Migrationsbewegungen, Nationalstaat, Leitkultur und populistische Bewegungen zeigen. Die Globalisierung und ihre ambivalenten Folgen bilden den Kontext heutiger Ökumene. Das Thema der Identität steht wiederum im Zusammenhang mit der Wahrnehmung und theologischen Deutung von Diversität und Pluralität. Die Vielfalt der Religionen und Weltanschauungen, die inzwischen auch in Europa zum Alltag gehört, die Begegnung mit nichtchristlichen Religionen und Fragen des Zusammenlebens in religiös und weltanschaulich pluralen Gesellschaften werfen die Frage nach Identität und Profil christlichen Glaubens auf. Der Dialog mit Andersglaubenden und mit Religionslosen darf sich nicht auf Fragen des friedvollen Zusammenlebens und des Einsatzes für eine gerechte Gesellschaft und den Schutz der Umwelt beschränken. Diese sozialethischen Fragen sind von den Heils- und Erlösungsansprüchen der Religionen und Weltanschauungen zu unterscheiden, die uns unweigerlich vor die Frage nach der Wahrheit auf dem Feld des Glaubens führen. Die Wahrheitsfrage bleibt daher auch in Zukunft einer Ökumenischen Theologie aufgetragen. Auch wenn das Christentum – wie der Islam – weltweit wächst, leben Christen und Kirchen vielfach in Minderheitssituationen. Auch in Regionen, in denen das Christentum traditionell die Mehrheitsreligion ist, nimmt die Zahl der Christen ab, so vor allem in Europa, während gleichzeitig in anderen Weltgegenden ihre Zahl im Wachsen ist. Das Gesamtbild ist freilich noch vielschichtiger, gilt es doch auch, die unterschiedlichen Konfessionen, Konfessionsfamilien und 16 Vgl. Detlef Pollack/G erhard Wegner (Hg.), Die soziale Reichweite von Religion und Kirche. Beiträge zu einer Debatte in Theologie und Soziologie (Religion in der Gesellschaft 40), Würzburg 2017.
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Einzelkirchen gesondert zu betrachten. Denominationen, die in mehrheitlich christlichen Ländern die Minderheit bilden, sind in anderen Ländern vielleicht die Mehrheitskirche. Der Protestantismus, im weitesten Sinne des Wortes, deckt ein breites Spektrum von Denominationen ab und wächst weltweit. Gleiches gilt für das charismatisch-pentekostale Christentum in seinen unterschiedlichen Ausprägungen. In Europa, auf das sich meine Ausführungen konzentrieren werden, befindet sich der Protestantismus demographisch betrachtet jedoch auf dem Rückzug. Das gilt vor allem für die aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen. Zwar gibt es auch in unseren Breitengraden historische Freikirchen und solche neueren Ursprungs, ein evangelikales Christentum und charismatische Gemeinden, die wachsende Mitgliederzahlen vermelden. Aber ihr Wachstum kompensiert bei weitem nicht die Abnahme der Mitgliederzahlen der evangelischen Landeskirchen. Soziologisch betrachtet haben sich innerhalb der großen Kirchen unterschiedliche Gruppen und Milieus gebildet. Auch innerhalb der evangelischen Landeskirchen in Deutschland, Österreich oder der Schweiz gibt es, grob gesagt, „volkskirchlich-pluralistische, missionarisch-evangelistische und charismatische Visionen, ebenso ökumenisch-konziliare und politisch-emanzipatorische Visionen von Kirche“17. Außerhalb und neben den bekannten kirchlichen und freikirchlichen Strukturen entstehen gleichzeitig „alternative Formen christlicher Frömmigkeit, die ihren Ausdruck in eigenständigen Denominationen und Konfessionen suchen, insbesondere im evangelikal-charismatischen Bereich“18. Zusätzlich breitet sich infolge von Migration ein zahlenmäßig bedeutsamer orthodoxer Kirchentypus aus, der auch das ökumenische Gespräch mitbestimmt. Außerdem ist die Zahl von Migranten- oder Einwandererkirchen aus dem europäischen Ausland wie auch solcher mit asiatischer oder afrikanischer Herkunft seit den 1990er Jahren stetig gewachsen. „Ein Teil der weltweiten Christenheit lebt mitten unter uns. Es entwickelt sich eine neue stilistische Vielfalt des Christlichen.“19 Gleichzeitig wächst die Zahl der Konfessionslosen und der religiös Indifferenten. So wird die diasporische Existenz des christlichen Glaubens auch in unseren Breitengraden auf neue Weise zur ökumenischen Erfahrung, weshalb ich eine zeitgemäße Theologie der Diaspora für ein ökumenisches Projekt der Zukunft halte. Gesellschaftlicher und religiöser Pluralismus wie auch gemeinsame Diasporaerfahrungen fördern mitunter die interkonfessionelle Zusammenarbeit zwischen Kirchen und an der Basis, in den Gemeinden wie in Schule und Seelsorge. Das bedeutet aber nicht, dass sich die Frage nach konfessioneller Identität damit 17 Reinhard Hempelmann, Verschärfungen des religiösen und weltanschaulichen Pluralismus, in: Materialdienst der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen 79 (2016), 3–12, hier 5. 18 Ebd. 19 Ebd., 6.
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erledigt hätte. Eine Ökumene der Profile oder auch eine am Begriff der Differenz orientierte Theorie der Ökumene bleibt nach meinem Dafürhalten auf der Tagesordnung, wie ich im Verlauf meines Beitrags noch zeigen möchte. Der Begriff der Differenz spielt meines Erachtens auch für eine ökumenische Hermeneutik eine tragende Rolle, welche die Möglichkeiten und Grenzen ökumenischer Verständigungsprozesse auslotet; und zwar auf dem Gebiet der Dogmatik nicht minder als auf demjenigen der Ethik. Die Idee des differenzierten Konsenses scheint mir jedenfalls noch nicht der Weisheit letzter Schluss zu sein. Eine ökumenische Ethik, welche sich nicht in gemeinsamen kirchlichen Stellungnahmen zu materialethischen Fragen erschöpft, sondern auch die Grundlagen und Methoden christlicher Ethik reflektiert, ist noch immer weithin ein Desiderat. In manchen Fragen besteht zwischen den Kirchen ein ethischer Konsens. In vielen Bereichen haben aber die Unterschiede und Gegensätze zugenommen, und zwar nicht nur zwischen den Kirchen und Konfessionen, sondern auch innerhalb derselben. Ich nenne nur die Schlagworte Biomedizin, Reproduktionsmedizin, Ethik am Lebensende bis hin zu Suizidbeihilfe und Tötung auf Verlangen, Sexualethik, Ehe und Familie, Homosexualität und Ehe für alle. Das bereits erwähnte Studiendokument Gott und die Würde des Menschen, das die Bilaterale Arbeitsgruppe der Deutschen Bischofskonferenz und der VELKD 2017 veröffentlicht hat, versucht den gegenteiligen Eindruck zu vermitteln. Mit Hilfe der Methode des differenzierten Konsenses, die schon in der GER zur Anwendung kam, versuchen die Autoren nun, die kaum zu leugnenden ethischen Differenzen, z. B. auf dem Gebiet der Bioethik, zu einem „begrenzten Dissens“ kleinzureden, der dem angeblich inzwischen auch auf ethischem Gebiet bestehenden „differenzierten Konsens“ keinen Abbruch tue.20 Wer freilich selbst an den z. T. heftigen bioethischen Debatten der letzten Jahre intensiv teilgenommen hat, reibt sich verwundert die Augen. Offenbar ist in dem irenischen Studiendokument, das den Geist einer bemühten ökumenischen correctness verströmt, von einer anderen Debatte die Rede als derjenigen, die ich selbst miterlebt habe. Die Behauptung eines differenzierten Konsenses in der Ethik hält der Realität nicht stand. Ich beschränke mich im weiteren Verlauf meines Beitrags darauf, zwei der genannten Aspekte näher zu beleuchten, nämlich den Gesichtspunkt einer differenztheoretisch fundierten Theologie der Ökumene und das Desiderat einer Ökumenischen Theologie der Diaspora.
20 Bilaterale Arbeitsgruppe (Hg.), Gott und die Würde des Menschen, 137 ff (wie Anm. 6).
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2. Konsens und Differenz Mein Plädoyer für eine differenztheoretische Theologie der Ökumene21 ist bisweilen missverstanden worden, als wolle ich allen Bemühungen um Konsens und Einheit den Abschied geben und die friedliche Trennung der Kirchen als ökumenische Vision ausgeben. Die Stichhaltigkeit meiner Theorie entscheidet sich auch nicht daran, ob sie sich an der Basis in der Praxis durchgesetzt hat oder durch Beispiele gelungener ökumenischer Kooperation konterkariert wird. Die wissenschaftliche Debatte sollte sich zunächst um die Frage drehen, welche Theorie das Problem von Einheit und Pluralität des Christentums und die historischen und gegenwärtigen Phänomene seiner Vielgestaltigkeit angemessen beschreiben und lösen kann.22 Theologische Grundfragen lassen sich nur dann angemessen diskutieren, wenn man sich der Mühe begrifflicher Unterscheidungen unterzieht und Analyse und Engagement nicht ständig miteinander verwechselt. Folglich genügt es nicht, lediglich den Begriff der Einheit oder Strategien zur Erreichung derselben zu diskutieren. Es bedarf vielmehr einer theologischen Theorie, in welcher der Begriff der Einheit überhaupt erst eine sinnvolle Funktion bekommt und die es erlaubt, gelassen mit den zwischen den Konfessionen bestehenden Grunddifferenzen umzugehen. Das kann auf die ökumenische Praxis eine befreiende Wirkung ausüben. In scharfer Abgrenzung von der üblichen Konsensökumene vertritt Eilert Herms ein Ökumenemodell, welches bestehende Differenzen auf einen unüberwindlichen Gegensatz konfessionsbildender Prinzipien zurückführt.23 Ich teile seine Ansicht, dass es in manchen Kernfragen kirchlicher Lehre, die das Bekenntnis der Kirche betreffen, kontradiktorische Widersprüche gibt, welche sich in gegensätzlichen Bestimmungen des Verhältnisses zwischen kirchlicher Lehre und dem Gegenstand des Glaubens – nämlich dem Evangelium von der in Jesus Christus erschienenen freien Gnade Gottes – äußern.24 So wie es einen Grundkonsens in der Lehre bei bleibenden Unterschieden im näheren Verständnis geben kann – die Leuenberger Konkordie ist dafür das beste Beispiel –, gibt es auch Fälle von Grunddissensen, bei denen eine Kirche in den Lehrgestalten anderer Kirchen das eigene Verständnis des Evangeliums nicht wiederfinden kann. Während Herms aber ein letztlich statisches Verständnis 21 Vgl. Ulrich H. J. Körtner, Wohin steuert die Ökumene? Vom Konsens- zum Differenzmodell, Göttingen 2005. 22 Vgl. Ulrich H. J. Körtner, Ökumenische Kirchenkunde (Lehrwerk Evangelische Theologie 9), Leipzig 2018. 23 Vgl. Eilert Herms, Einheit der Christen in der Gemeinschaft der Kirchen. Die ökumenische Bewegung der römischen Kirche im Lichte der reformatorischen Theologie. Antwort auf den Rahner-Plan (Kirche und Konfession 24), Göttingen 1984; ders., Von der Glaubenseinheit zur Kirchengemeinschaft. Plädoyer für eine realistische Ökumene (Marburger Theologische Studien 27), Marburg 1989. 24 Vgl. Herms, Glaubenseinheit, 76 (wie Anm. 23).
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konfessioneller Differenzen in der Ämterfrage, im Kirchenverständnis oder in der Auffassung des Papstamtes hat, vertritt das von mir vertretene Modell einer Differenzökumene eine dynamische Auffassung von Konfessionalität, die mit der geschichtlichen Veränderbarkeit von Identitäten, d. h. aber auch mit der Möglichkeit neu entstehender Differenzen rechnet. Ökumenische Gemeinschaft und die verschiedenen konfessionellen Profile schließen einander nicht aus, im Gegenteil, sie bereichern einander. So richtig es ist, dass uns in der Ökumene inzwischen längst mehr verbindet als trennt, können doch die verbleibenden Unterschiede und Grunddissense wechselseitig als produktive Herausforderung angenommen werden und für den eigenen Glauben befruchtend wirken. Der Einspruch des anderen wird zum Anstoß für die beständige Selbstprüfung der eigenen Sicht des christlichen Glaubens. Wo man darüber im Gespräch bleibt, sind es gerade die Unterschiede, die verbinden, statt zu trennen. Was der Verfassungsrechtler Günter Dürig einmal vom säkularen demokratischen Staat gesagt hat, gilt sinngemäß auch für die Ökumene: „Nicht Differenzen vernichten das Gemeinsame, es tötet die Indifferenz.“25 Die Aufgabe Ökumenischer Theologie besteht nicht nur darin, eine ekklesiologische Bestimmung des Verhältnisses von Einheit und Vielfalt der Kirchen zu geben, sondern auch darin, die Einheit und Differenz von Kirchen und universaler Christenheit zu reflektieren. Es gehört zu den grundlegenden Wandlungen, die sich in der Moderne in der Geschichte des Christentums vollzogen haben, dass sich zwischen dem kulturellen Erbe der modernen Gesellschaften und den Kirchen als organisierter Gestalt christlicher Religion eine Differenz auftut. Die Grenzen des Christlichen lassen sich nicht mehr mit den Grenzen einer Kirche, auch nicht ihrer ökumenischen Summe zur Deckung bringen. Darin besteht die Herausforderung des Christentums gegenüber einer Gesellschaft, die nicht nur säkular, sondern zugleich multireligiös geworden ist. Die Identität des Christentums ist also nicht nur im Verhältnis der Kirchen zueinander zu bestimmen, sondern zugleich im Gegenüber zur säkularen Gesellschaft, zu den nichtchristlichen Religionen, wie auch gegenüber neuen Strömungen einer synkretistischen Religiosität. Der Begriff der Ökumene bezeichnet also das Problem der Vielfalt und Einheit der Christenheit. Doch es stellt sich schon die Frage, ob deren Komplexität mit der begrifflichen Unterscheidung von Einheit und Vielfalt zureichend bezeichnet ist. Meine These lautet, dass das ekklesiologische Problem von Identität und Differenz im Christentum nicht, wie es in der gegenwärtigen Diskussion häufig geschieht, vom Gedanken der immanenten Trinität oder von 25 Günter Dürig, Grundrechtsverwirklichung auf Kosten von Grundrechten?, in: Summum ius summa iniuria. Individualgerechtigkeit und der Schutz allgemeiner Werte im Rechtsleben. Ringvorlesung gehalten von Mitgliedern der Tübinger Juristenfakultät im Rahmen des Dies academicus. Wintersemester 1962/63 (Tübinger rechtswissenschaftliche Abhandlungen 9), Tübingen 1963, 80–96, hier 81.
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einem einseitigen ‚Ökumenismus des Heiligen Geistes‘ aus zu bestimmen ist, sondern inkarnations- und kreuzestheologisch. Grundlegend für eine künftige ökumenische Ekklesiologie ist daher nicht ein undialektischer Begriff von Einheit, sondern ein theologischer Begriff von Differenz. Entsprechend der Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche besteht die eine Kirche Jesu Christi im Glauben.26 Zumindest nach evangelischem Verständnis ist daher die Katholizität der Kirche Jesu Christi als kreuzestheologisch begründetes Paradox zu deuten. Systemtheoretisch gesprochen handelt es sich bei der Einheit der Kirche um die Einheit einer unaufhebbaren Differenz, d. h. um eine paradoxe Einheit. Sie ist nicht uniforme Einheit, sondern eine in sich differente und komplexe Gemeinschaft. Theologisch ist diese paradoxe Einheit nun zwar sehr wohl pneumatologisch, d. h. als Gemeinschaft des Heiligen Geistes zu bestimmen. Der Geist Gottes aber muss seinerseits christologisch bestimmt werden. D. h., es ist der Geist des gekreuzigten und auferweckten Christus,27 der Gemeinschaft stiftet und bestehende Widersprüche miteinander versöhnt. Die eine Kirche als Gemeinschaft seines Geistes ist nur im Glauben gegeben. Die im Glauben erfahrbare Kirche Jesu Christi aber existiert nur in, mit und unter den Bedingungen ihrer Ausdifferenzierung in Konfessionen und Denominationen, die ihrerseits einer weiteren Binnendifferenzierung ausgesetzt sind. Eine theologische Bestimmung des Differenzbegriffes beginnt ihrerseits mit einer Unterscheidung, nämlich mit der Differenz zwischen Unterscheidung, Unterschied und Trennung, zwischen Verschiedenheit, Vielfalt und Gegensätzlichkeit, zwischen Differenz und Antithese. Andernfalls wird die Existenz der verschiedenen Kirchen entweder einseitig als bloße Negation der einen Kirche Jesu Christi bzw. als Resultat menschlicher Sünde oder aber, nicht minder verkürzend, ausschließlich als lebendige Vielfalt eines Lebens aus dem Geist Gottes interpretiert. Beide Antworten sind gleichermaßen unzureichend und werden der geschilderten Komplexität der Differenz von Identität und Differenz im Christentum nicht gerecht. Zur Differenz von Identität und Differenz im Christentum, die es sowohl pneumatologisch als auch kreuzestheologisch zu reflektieren gilt, gehört in besonderer Weise die mit dem Begriff des ‚Volkes Gottes‘ thematisierte Differenz und Einheit von Kirche und Judentum.28 So ist also nicht nur zwischen Kirche 26 Vgl. Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion/Institutio Christianae Religionis, bearb. u. neu hg. v. M. Freudenberg, übers. u. bearb. v. O. Weber, NeukirchenVluyn 2008, IV,1,3. 27 Zur Näherbestimmung des Geistes Gottes als Geist (Jesu) Christi vgl. Apg 16,7; Röm 8,9; Phil 1,19; 1.Petr 1,11. 28 Siehe dazu u. a. Wolfgang Kraus, Das Volk Gottes. Zur Grundlegung der Ekklesiologie bei Paulus (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 85), Tübingen 1996; Andreas Lindemann, Israel im Neuen Testament, in: Wort und Dienst 25 (1999), 167–192; Körtner, Ökumenische Kirchenkunde, 30–39.313–318 (wie Anm. 22).
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und Christentum, sondern nochmals zwischen Kirche und Volk Gottes zu unterscheiden. Jedes Verständnis ökumenischer Einheit, welches das Judentum unterschiedslos unter die nichtchristlichen Religionen subsumiert und die Differenz von Kirchen und Volk Gottes übergeht, wird der Problematik von Identität und Differenz im Christentum nicht gerecht. Angesichts der leidvollen Geschichte des Verhältnisses zwischen Christen und Juden sowie christlicher Judenfeindschaft durch die Jahrhunderte hindurch gewinnt die Formel von der versöhnten Verschiedenheit ihre eigentliche theologische Brisanz. Nirgendwo ist ökumenische Versöhnung so dringend zu ersehnen wie zwischen Christenheit und Judentum. Doch nirgendwo ist auch die Gefahr des ideologischen Missbrauchs des Versöhnungsgedankens größer als hier. Gerade die bußfertige Auseinandersetzung mit der weithin herrschenden Israelvergessenheit der Kirche bringt die eschatologische Perspektive aller Ekklesiologie neu zu Bewusstsein, die mit dem Symbol des Reiches Gottes bezeichnet wird. Die Existenz der Kirche und jede denkbare Form der Einheit bzw. der Gemeinschaft steht unter eschatologischem Vorbehalt. Jede Erfahrung von geschenkter Gemeinschaft ist aber eben auch ein Vorschein der vollendeten Gemeinschaft im Reiche Gottes. Wo der eschatologische Sinn der Verheißung der Gemeinschaft des Heiligen Geistes außer Acht gelassen wird, verkommt jede denkbare Formel Ökumenischer Theologie zur Ideologie. Damit komme ich auf die Formel für die differente Einheit von Identität und Differenz im Christentum zurück, welche diese als versöhnte Verschiedenheit beschreibt.29 Entsprechend unserer bisherigen Überlegungen ist sie einerseits auf die Differenz zwischen Kirchen und Christentum hin zu erweitern, zugleich aber auch gegen ihren ideologischen Missbrauch zur Legitimation ökumenischer Stagnation abzusichern. Versöhnung ist kein Besitz, sondern eine beständige Aufgabe, vor allem aber eine Gabe, die nach christlicher Überzeugung wohl verheißen ist, sich aber nicht erzwingen lässt. Soll der Begriff der Versöhnung nicht ideologisch verflachen, gilt es die Zweideutigkeit aller Differenzen theologisch zu bedenken. Dazu scheint es mir erforderlich, die heute von manchen kritisierte Christozentrik ökumenischer Ekklesiologie auf neue Weise zur Geltung zu bringen und den Gedanken einer Ökumene im Zeichen des Kreuzes zu formulieren.30 29 Zum ekklesiologischen Modell der Einheit in versöhnter Verschiedenheit siehe World Council of Churches Exchange 3,2/1977, 4–9; Harding Meyer, ‚Einheit in versöhnter Verschiedenheit‘ – ‚Konziliare Gemeinschaft‘ – ‚Organische Union‘. Gemeinsamkeit und Differenz gegenwärtig diskutierter Einheitskonzeptionen, in: Ökumenische Rundschau 27 (1978), 377–400; Ulrich H. J. Körtner, Die Leuenberger Konkordie als ökumenisches Modell, in: Verbindende Theologie. Perspektiven der Leuenberger Konkordie (Evangelische Impulse 5), hg. v. M. Beintker/M . Heimbucher, Neukirchen-Vluyn 2014, 195–223. 30 Vgl. Ulrich H. J. Körtner, Versöhnte Verschiedenheit. Ökumenische Theologie im Zeichen des Kreuzes, Bielefeld 1996, bes. 79 ff. Siehe auch Flemming Fleinert-Jensen,
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Welche Perspektiven ergeben sich aus den bisherigen Überlegungen für die künftige ökumenische Arbeit? Eine erste Konsequenz ist die Grundeinstellung des konfessionellen Respekts. Wechselseitige Anerkennung als gleichwertige Gesprächspartner ist eine notwendige Voraussetzung für jeden Dialog, der diesen Namen verdient.31 Wer sich allein im Vollbesitz der Wahrheit wähnt, führt mit anderen keinen der gemeinsamen Wahrheitssuche dienenden Dialog, sondern will das Gegenüber diskursiv über die ihm fehlende Wahrheit belehren. Demgegenüber gründen Anerkennung und konstruktive Toleranz in dem gemeinsamen Glauben an die allen Menschen und auch den Kirchen zuvorkommende Gnade Christi, der nicht für die Gerechten, sondern für die Gottlosen und um ihrer Sünden willen gestorben ist. Daher ist, worauf der evangelische Theologe Gerhard Sauter aufmerksam gemacht hat, die Rechtfertigungslehre nicht nur als gemeinsamer Glaubensinhalt, sondern auch als Dialogregel des ökumenischen Gespräches neu zu entdecken.32 Was die Ökumene ferner braucht, ist eine ökumenische Hermeneutik, welche der unaufhebbaren Vielfalt von Glaubensweisen, Liturgien, theologischen Begriffssystemen und Denkstilen Rechnung trägt.33 Grundbegriff einer solchen Hermeneutik, die bislang allenfalls in Umrissen erkennbar ist, hätte derjenige der Differenz zu sein, dessen ekklesiologischer Gehalt bereits erörtert wurde. Hermeneutisch ist zunächst zwischen sprachlichem Ausdruck und bezeichneter Sache zu unterscheiden, jedoch auch zu bedenken, dass die intendierte Sache nie ohne ihren konkreten sprachlichen Ausdruck präsent ist. Eine ökumenische Hermeneutik hat ihr Ziel nicht schon dann erreicht, wenn man einander und den jeweils maßgeblichen Lehrtraditionen wechselseitig gute Absichten unterDas Kreuz und die Einheit der Kirche. Skizze zu einer Kreuzestheologie in ökumenischer Perspektive, Leipzig 1995. 31 Zur Anerkennung im ökumenischen Dialog vgl. Risto Saarinen, Anerkennungstheorien und ökumenische Theologie, in: Ökumene – überdacht. Reflexionen und Realitäten im Umbruch (Quaestiones disputatae 259), hg. v. Th. Bremer/M . Wernsmann, Freiburg i. Br. 2014, 237–262. 32 Vgl. Gerhard Sauter, Rechtfertigung – eine anvertraute Botschaft. Zum unentschiedenen Streit um die ‚Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre‘, in: Evangelische Theologie 59 (1999), 32–48, hier 42 ff. 33 Zum Desiderat einer ökumenischen Hermeneutik siehe Konrad R aiser, Jenseits von Tradition und Kontext. Zum Problem einer ökumenischen Hermeneutik, in: Ökumenische Rundschau 40 (1991), 425–435; ders., Hermeneutik der Einheit. Vortrag bei der Sitzung der Plenarkommission für Glauben und Kirchenverfassung, Moshi, Tansania, 15. August 1996, in: Ökumenische Rundschau 45 (1996), 401–415; Matthias Haudel, Vergessene Kriterien. Hermeneutische Kriterien für die Weiterentwicklung des koinonía-Konzepts, in: Ökumenische Rundschau 43 (1994), 292–304; Hans Vorster, Gotteskindschaft und Hermeneutik der Freiheit. Überlegungen zur Überwindung ökumenischer Blockaden anhand des Galaterbriefs, in: Ökumenische Rundschau 47 (1998), 435–452; Ingolf U. Dalferth, Auf dem Weg der Ökumene. Die Gemeinschaft evangelischer und anglikanischer Kirchen nach der Meissener Erklärung, Leipzig 2002, 245 ff; Körtner, Wohin steuert die Ökumene?, 71–133 (wie Anm. 21).
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stellt, sondern wenn es zu gemeinsamen Erkenntnisfortschritten in der Sache kommt, die sich nur dann zeigen, wenn man zu einer neuen, gemeinsamen Sprache findet. Konsense und neue Formen des gemeinsamen Bekennens sind also nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Das consentire in den Grundzügen der Evangeliumsverkündigung und in der Verwaltung der Sakramente bleibt für die Kirchengemeinschaft nach evangelischem Verständnis notwendig und hinreichend.34 Angesichts der Vielfalt sprachlicher und liturgischer Ausdrucksformen ist das consentire aber offensichtlich neu zu bestimmen, nämlich als Kohärenz des unaufhebbar Differenten.35 Theologische Erkenntnisfortschritte sind nur zu erwarten, wenn die in der bisherigen Konsensökumene praktizierte Hermeneutik des Entgegenkommens durch eine solche des Einspruchs ergänzt und relativiert wird, welche den ökumenischen Gesprächspartner zur Selbstprüfung und Profilierung zwingt – und zwar aufgrund der gemeinsamen Einsicht, einander wechselseitig als bleibend Andere zu bedürfen, weil die Wahrheit des Glaubens nur in der unaufhebbaren Pluralität aufscheint.36 Die Kirchen sind wechselseitig auf den Einspruch von außen angewiesen. Eine „Ökumene des Einspruchs“ (Schenk) ist zu verstehen als mutuum consolatio fratrum der Kirchen und schließt die Bereitschaft aller Kirchen zur Selbstkorrektur und Reform ein. Zur ökumenischen Methode aber wird der Einspruch dann, wenn man nicht nur an einer anderen Teilkirche im Geist der Liebe wie der Wahrhaftigkeit Kritik übt, sondern vor allem bereit ist, „den geäußerten Einspruch einer anderen Teilkirche zum Zweck der Selbstkorrektur in der eigenen Gemeinde zu Gehör zu bringen“37. Solcher Einspruch kann sich fallweise, muss sich aber nicht in allen Fragen als dauerhaft nötig erweisen. Die Gemeinschaft der Kirchen muss sich also nicht im wechselseitigen Einspruch erschöpfen, sondern kann – ubi et quando visum 34 Vgl. Artikel VII, in: Die Confessio Augustana, bearb. v. G. Seebaß/V. Leppin, in: Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Vollständige Neuedition, hg. v. I. Dingel, Göttingen 2014, 65–225, hier 102 f. 35 Vgl. R aiser, Jenseits von Tradition und Kontext, 431 (wie Anm. 33). 36 Hierzu auch Richard Schenk, Eine Ökumene des Einspruchs. Systematische Überlegungen zum heutigen ökumenischen Prozeß aus einer römisch-katholischen Sicht, in: Die Reunionsgespräche im Niedersachsen des 17. Jahrhunderts. Royas y Spinola – Molan – Leibniz (Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens 37), hg. v. H. Otte/D ems., Göttingen 1999, 225–250, hier 247: „Gemäß der Hierarchie praktischer Wahrheiten besteht die wohl dringlichste Aufgabe der Ökumene heute nicht so sehr in gegenseitiger Annäherung, sondern vielmehr im Zugeständnis, daß man einander braucht, um zur Ganzheit zu kommen; dieses füreinander und für das Ganze Notwendigsein ist eine ausgezeichnete Note von ekklesialer Bedeutung und ekklesialem Selbststand.“ 37 Ebd., 236; vgl. auch Eilert Herms, Die ökumenischen Beziehungen zwischen den evangelischen und der römisch-katholischen Kirche im Spätsommer 1998. Stand, Aussichten, Wünschbarkeiten, in: epd-Dokumentation 37/1998, 1–23, hier 22 f, der als Ziel der Ökumene nicht die „Herbeiführung eines einheitlichen Wahrheitsbewußtseins“, sondern den „Respekt vor dem Wahrheitsbewußtsein“ des anderen formuliert.
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est Deo! – auch dazu führen, dass eine Glaubenslehre „allen Kirchen gleichermaßen einleuchtet“,38 so dass es zu einem ganz neuen gemeinsamen Bekennen, Lehren und Feiern kommt. Diese Hoffnung lässt sich aber nur pneumatologisch begründen, ist es doch nicht menschlicher Wille, sondern allein der Geist Gottes, der uns zu neuer Erkenntnis der Wahrheit führt. Daher hat das Anliegen einer geistlichen Ökumene ihre tiefe Berechtigung. Dankbar können wir zum Beispiel feststellen, dass reformatorische Einsichten, besonders seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, in der römisch-katholischen Kirche Aufnahme gefunden haben, dass aber auch römisch-katholische Einsichten in den evangelischen Kirchen rezipiert werden.39 Und ebenso lässt sich zeigen, wie sich die verschiedenen konfessionellen akademischen Theologien wechselseitig beeinflussen. Wo freilich die konfessionelle Verschiedenheit einseitig als Wesenszug aller Gemeinschaft hervorgehoben wird, ist in Erinnerung zu rufen, dass mit dem Wort von der Versöhnung die kirchliche Vielfalt von Gott nicht etwa nur anerkannt, sondern doch auch unter sein Gericht gestellt ist. Die Ambivalenz der Verschiedenheit bzw. der Einheit von Identität und Differenz besteht darin, dass sie nicht nur legitime Vielfalt, sondern auch schuldhafte Trennung bedeutet. Echte Versöhnung zielt nicht bloß auf gegenseitiges Geltenlassen, sondern auf wechselseitige Buße und Erneuerung. Das bedeutet praktisch, dass im Geschehen der Versöhnung historisch gewachsene konfessionelle Identitäten gleichermaßen anerkannt wie verwandelt und unter Umständen sogar überwunden werden. Die eigentliche Hoffnung, von der alle ökumenische Arbeit getragen wird, ist aber nicht die sichtbare Einheit der irdischen Kirche, sondern das Reich Gottes, in welchem die Schöpfung ihre Vollendung finden soll. Nicht um die Einheit der Kirche, sondern um das Kommen des Reiches wird im Vaterunser gebetet. Die sichtbare Einheit der Kirche, was auch immer darunter verstanden werden mag, ist jedenfalls keine Vorbedingung für das Kommen des Reiches Gottes.
3. Theologie der Diaspora Ein biblischer Topos, mit dessen Hilfe die Minderheitensituation von Christen oder einer Kirche benannt werden kann, ist derjenige der Diaspora. Auf christliche Gemeinden gemünzt, findet sich das griechische Wort in Jak 1,1 und 1.Petr 1,1, also lediglich an wenigen Stellen und zudem in späten Schriften des Neuen Testaments. In Joh 7,35 wird er im Zusammenhang mit Juden verwendet, die verstreut außerhalb des jüdischen Kernlandes leben. Apg 8,1.4 gebraucht das 38 Eberhard Jüngel, Um Gottes willen – Klarheit! Kritische Bemerkungen zur Verharmlosung der kriteriologischen Funktion des Rechtfertigungsartikels – aus Anlaß einer ökumenischen ‚Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre‘, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 94 (1997), 394–406, hier 406 (Herv. i. O.). 39 Vgl. Leppin/S attler (Hg.), Reformation 1517–2017, 63–66 (wie Anm. 5).
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Verb διασπείρεσθαι (zerstreut werden) im Zusammenhang mit der Verfolgung der Jerusalemer Christen, die in die Gegenden von Judäa und Samarien flüchteten. Das griechische Verb und das dazugehörige Substantiv διασπορά (Zerstreuung) sind offensichtlich aus der Septuaginta übernommen worden, in der das Verb über vierzigmal und das Substantiv zwölfmal vorkommt. Die Zerstreuung der Juden im gesamten östlichen Mittelmeerraum wird in der Septuaginta und im Judentum allerdings terminologisch vom Exil (hebr. gôlā/galut) unterschieden.40 Auch in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen jüdischen Kultur spielt der Diasporabegriff keine Rolle. Im modernen Hebräisch gibt es den Begriff tefuza.41 Er bezeichnet die Diaspora, in der man ein gedeihliches und geschütztes Leben führen kann, während galut für ein Leben in Leiden, Verfolgung und Verzweiflung steht. Abgesehen von den wenigen genannten neutestamentlichen Stellen scheint der Begriff Diaspora im Christentum über lange Zeit in Vergessenheit geraten zu sein. Zur Umschreibung einer Minderheitensituation wird er nicht weiter gebraucht. Erst bei Martin Luther findet man den Gedanken, die Kirche sei „verborgen und sehr zerstreut“42. Nikolaus Ludwig von Zinzendorf hat den Diasporabegriff verwendet, um die Lage der Mitglieder der Brüder-Unität zu beschreiben, die auf dem Gebiet einer Landeskirche lebten. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Begriff prominent im Kontext der Gustav-Adolf-Stiftung, der Vorläuferin des Gustav-Adolf-Werkes, verwendet.43 Das Pendant zur evangelischen Diasporaarbeit war der römisch-katholische Bonifatiusverein, aus dem das Bonifatiuswerk hervorgegangen ist. Schon bald wurde der Diasporabegriff nicht mehr nur zur Charakterisierung einer konfessionellen, sondern auch einer kulturellen und herkunftsbezogenen Minderheitensituation gebraucht. Der theologische, der kulturelle und der nationale bzw. völkische Aspekt des Begriffs wurden auf theologisch wie politisch problematische Weise verschmolzen. In der Zeit des Nationalsozialismus (NS) entwickelte sich die evangelische Diasporatheologie zur NS-affinen Volkstumstheologie und konnte sich von diesen Verstrickungen nach 1945 nur in einem mühsamen Selbstreinigungsprozess lösen.44 40 Vgl. Tessa R ajak, Art. Diaspora II. Jüdische Diaspora, 1. Antike, Religion in Geschichte und Gegenwart II, Tübingen 41999, 827–829. 41 Vgl. Joseph Dan, Art. Diaspora II. Jüdische Diaspora, 2. Mittelalter und Neuzeit, Religion in Geschichte und Gegenwart II, Tübingen 41999, 829. 42 So Martin Luther zu Ps 90 in seinen Psalmenvorlesungen: „[A]bscondita [est] Ecclesia et valde dispersa“ (Ennaratio Psalmi XC 1534/35, in: Martin Luthers Werke, Bd. XL,3, hg. v. A. Freitag, Weimar 1930, 476‒594, hier 505,5). Vgl. auch Hermann Riess, ‚Abscondita est ecclesia et valde dispera‘. Begegnungen mit einem Stichwort, in: Die Evangelische Diaspora 53 (1983), 81–97. 43 Vgl. Walter Fleischmann-Bisten, Art. Diaspora III. Christliche Diaspora, Religion in Geschichte und Gegenwart II, Tübingen 41999, 830–831. 44 Vgl. Hermann-Josef Röhrig, Diaspora – Kirche in der Minderheit. Eine Untersuchung zum Wandel des Diasporaproblems in der evangelischen Theologie unter besonderer
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Geschichtlich belastet ist der Diasporabegriff in Theologie und Kirche seit Jahrzehnten zunehmend problematisiert und im theologischen Sprachgebrauch an den Rand gedrängt worden. Viele Minderheitenkirchen verwenden ihn nicht (mehr), um ihre Situation als religiöse Minderheit zu beschreiben. Auf evangelischer Seite haben allerdings Wilhelm Dantine (1911–1981) und Ernst Lange (1927–1974), sowie auf römisch-katholischer Seite Karl Rahner (1904–1984) in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren wegweisende Entwürfe einer Theologie der Diaspora vorgelegt, die zu den biblischen Grundlagen zurückführen und gegenüber völkisch-nationalistischen Anklängen kritisch sind. Was die genannten Autoren verbindet, ist ein Verständnis von Diasporaexistenz als Wesensmerkmal der Kirche, und zwar auch in solchen gesellschaftlichen Kontexten, in denen die Christen oder eine Kirche die religiöse Bevölkerungsmehrheit bilden. Bei Dantine, der die Existenz der evangelischen Minderheit in Österreich als „protestantisches Abenteuer in einer nichtprotestantischen Welt“45 bezeichnet hat, meint Diaspora die in die Völkergemeinschaft eingestreute Kirche. In Anspielung auf Joh 12,24 hat Dantine seine Theologie der Diaspora kreuzestheologisch zugespitzt: „‚Diaspora‘ aber heißt eingestreut sein als Weizenkorn Gottes im zerpflügten Acker der Welt. Das Weizenkorn bringt viel Frucht, wenn es stirbt. Zukunftswillige Kirche wird ‚sterbende Kirche‘. […] Sterbende Kirche ist hier wesentlich verstanden als jene Kirche, die sich um ihres Zeugnisses willen jeweils in den Tod begibt, weil sie nicht um ihrer selbst leben will. Kirche in der Nachfolge ihres Herrn ist nicht nur Kirche in der Welt, sondern Kirche ‚für die Welt‘.“46
Auch Rahner bestimmt die Existenz der Kirche in der modernen, säkularen Welt als Diasporaexistenz: „Die christliche Situation der Gegenwart ist […] charakterisierbar als Diaspora“47. „Die Diasporasituation ist für uns heute ein […] heilsgeschichtliches Muß, d. h. wir haben diese Diasporasituation nicht nur als leider Gottes bestehend festzustellen, sondern wir können sie als von Gott als Muß […] gewollt anerkennen und daraus unbefangen Konsequenzen ziehen.“48
Berücksichtigung der Zeitschrift ‚Die evangelische Diaspora‘ (Erfurter theologische Studien 62), Leipzig 1991. 45 Wilhelm Dantine, Protestantisches Abenteuer in einer nichtprotestantischen Welt, in: ders., Protestantisches Abenteuer. Beiträge zur Standortbestimmung der evangelischen Kirche in der Diaspora Europas, hg. v. M. Bünker, Innsbruck 2001, 37–47. 46 Zitiert nach Ulrich Trinks, ‚Offene Kirche‘. Zum Erinnern an Wilhelm Dantine, in: Dantine, Protestantisches Abenteuer, 9–22, hier 21 (wie Anm. 45). 47 K arl R ahner, Theologische Deutung der Position des Christen in der modernen Welt (1954), in: ders., Sendung und Gnade. Beiträge zur Pastoraltheologie, Innsbruck 51988, 13–47, hier 24. 48 Ebd., 26.
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„Wir haben also durchaus das Recht, ja fast die Pflicht, damit zu rechnen und nicht nur verstört zur Kenntnis zu nehmen, dass die Form des öffentlichen Daseins der Kirche sich wandelt. Daß die Kirche überall Diasporakirche wird, Kirche unter vielen Nichtchristen“49.
Lange wiederum hat die Existenz und das Leben der Kirche im Wechselspiel zwischen Sammlung und Zerstreuung auf die Formel ‚Ekklesia und Diaspora‘ gebracht.50 Die drei genannten Autoren wenden sich gegen das Missverständnis, Diaspora bedeute den Rückzug der Christen oder der Kirche aus der Welt in das binnenkirchliche Milieu. Gemeinsam ist ihnen die Auffassung, dass sich die Kirche, die ihrem Wesen nach stets Diasporakirche ist, von Christus in die Welt gesandt weiß. Sie hat Teil an der Sendung Gottes, der missio Dei, so dass Diasporaexistenz und missionarische Ausrichtung christlicher Existenz zwei Seiten derselben Medaille sind. Dantine, Lange und Rahner sind außerdem davon überzeugt, dass Diasporaexistenz der Kirche nicht konfessionalistisch, sondern ökumenisch verstanden werden muss. Mit Hermann-Josef Röhrig kann man geradezu von einer „ökumenischen Diaspora“51 sprechen. Interessanterweise hat sich in jüngerer Zeit ein kulturwissenschaftlicher Begriff von Diaspora entwickelt, der vom theologischen und kirchlichen Sprachgebrauch ganz abgelöst ist.52 Man spricht zum Beispiel von einer pakistanischen Diaspora in Großbritannien, einer ghanaischen Diaspora in Österreich oder einer afrikanischen Diaspora in den USA. Der kulturwissenschaftliche Diasporabegriff kann die religiöse Dimension mit einbeziehen, wobei es sich keineswegs nur um christliche Denominationen handeln muss, gleichwohl ist die religiöse Komponente im kulturwissenschaftlichen Sprachgebrauch nicht entscheidend. Es ist jedoch eine lohnende Aufgabe, den Diskurs über eine erneuerte Theologie der Diaspora zum kulturwissenschaftlichen Diskurs in Beziehung zu setzen. Dieser Aufgabe hat sich eine Arbeitsgruppe der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) gestellt, die 2012 mit der Ausarbeitung einer Studie zur Standortbestimmung der evangelischen Kirchen im pluralen Europa beauf-
49 Ebd., 32. Siehe auch K arl R ahner, Über die Gegenwart Christi in der Diasporagemeinde nach der Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils, in: ders., Schriften zur Theologie, Bd. VIII, Einsiedeln 1967, 409–425. 50 Vgl. Ernst Lange, Chancen des Alltags. Überlegungen zur Funktion des christlichen Gottesdienstes in der Gegenwart (Handbücherei des Christen in der Welt 8), Stuttgart 1965, 142 f. 51 Hermann-Josef Röhrig, Art. Diaspora II/III, Lexikon für Theologie und Kirche III, Freiburg i. Br. 31995, 201–203; siehe auch: ders., Diaspora in römisch-katholischer Sicht, in: Die Evangelische Diaspora 62 (1993), 81–100. 52 Vgl. Ruth Mayer, Diaspora. Eine kritische Begriffsbestimmung (Cultural Studies 14), Bielefeld 2005; Kim Knott/Sean McLoughlin (Hg.), Diasporas. Concepts, Intersections, Identities, London 2010.
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tragt wurde. Das inzwischen vorliegende Studiendokument mit dem Titel Theologie der Diaspora53 sieht „den Sinn der Diaspora in der Gestaltung von Beziehungsfülle im Sinne der Nachfolge Christi. […] Während der Begriff der Minderheitenkirche oder der Minderheitensituation diesen Beziehungsreichtum begrifflich auf eine numerische Relation reduziert und tendenziell defizitär qualifiziert ist, besteht die Stärke eines relational akzentuierten Diasporabegriffs darin, die Polyphonie der Lebensbezüge von Gemeinden in der Diaspora sichtbar zu machen und als wesentliche Gestaltungsaufgabe zu verstehen.“54
Im Unterschied zu einer Diasporatheologie, welche auf die Bewahrung des Eigenen in der Fremde durch den Rückzug aus der Welt setzt, plädiert die GEKE-Studie für eine Diasporatheologie, die sich als eine Gestalt Öffentlicher Theologie begreift und die Kirche wie die einzelnen Christen dazu ermutigt, „sich kritisch-konstruktiv auf die Gesellschaft einzulassen und Kirche für die Menschen in ihren gegenwärtigen Nöten und Erfahrungen zu sein“55. Wie in einer ersten Thesenreihe aus dem Studienprozess festgestellt wurde, sind im Diskurs über eine Theologie der Diaspora drei Diaspora-Begriffe zu unterscheiden: 1. „Ein deskriptiv-soziologischer Begriff, welcher sich auf die zahlenmäßig erfassbare Situation von Kirchen hinsichtlich ihrer Mitgliederzahlen in einer Gesellschaft bezieht. In dieser Hinsicht wird der Begriff synonym mit Minderheitensituation verwendet.“ 2. „Ein deskriptiver Begriff, der die Selbstdeutung einer Kirche beschreibt. ‚Diaspora‘ meint dann ein bestimmtes Selbstverständnis einer Kirche angesichts ihrer Minderheitensituation.“ 3. „Ein theologischer Interpretationsbegriff, der die Minderheitensituation von Kirche aus einer biblisch-christlichen Tradition heraus deutet. Im theologischen Begriff von Diaspora sind immer ein bestimmtes theologisches Geschichtsbild und eine bestimmte Ekklesiologie impliziert.“56 Das Abschlussdokument verbindet den Diasporabegriff mit dem der Fremdheit. Das Thema der Fremdheit ist nun allerdings im Neuen Testament zentral. Die biblischen Grundlagen einer Theologie der Diaspora reichen daher über die wenigen Stellen, an denen die Wortgruppe διασπορά/διασπείρεσθαι auftaucht, weit hinaus. Das Studiendokument der GEKE bringt die Aufgabenstellung einer 53 Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa, Theologie der Diaspora. Studiendokument der GEKE zur Standortbestimmung der evangelischen Kirchen im pluralen Europa, Wien 2018. 54 Ebd., 3. 55 Ebd., 11 f. 56 Die englische Fassung dieser Thesen ist veröffentlicht in: Diaspora and Identity, in: GEKE focus 20 (2013), 10–12, hier 11, online abrufbar unter: http://issuu.com/ecumenix/ docs/geke_focus-20_web?e=1141279/5894576 (letzter Zugriff am 10.8.2018; U. K.).
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Theologie der Diaspora auf die Formel „Kirche in der Fremde – Fremdheit der Kirche“57. Die diasporische Existenz der Kirche als Leib Christi ist christologisch bestimmt und begründet. Die Kirche Jesu Christi existiert in der Welt, aber sie ist nicht von dieser Welt (vgl. Joh 17,16). Das wandernde Gottesvolk, als welches sie der Hebräerbrief charakterisiert, hat in der Welt keine bleibende Stadt, sondern sucht die zukünftige. Sie geht hinaus zu Christus, der „draußen vor dem Tor“ (Hebr 13,12; Lutherbibel 2017) – außerhalb Jerusalems – am Kreuz gestorben ist. Die ihm nachfolgenden Christen sollen sich, wie Paulus schreibt, nicht dieser Welt anpassen (vgl. Röm 12,2), sondern in ihr unter dem eschatologischen Vorbehalt leben: Zu haben, als habe man nicht (vgl. 1.Kor 7,29–31), denn die Gestalt dieser Welt vergeht, und das Bürgerrecht58 der an Christus Glaubenden ist im Himmel (vgl. Phil 3,20). Rudolf Bultmann hat für die paulinische und johanneische Sichtweise christlicher Existenz den Begriff der Entweltlichung geprägt.59 Papst Benedikt XVI. hat diesen in seiner Freiburger Rede 201160 aufgegriffen und damit innerhalb wie außerhalb der römisch-katholischen Kirche eine lebhafte Debatte ausgelöst. Tatsächlich könnte er im Sinne einer binnenkirchlichen Verengung und einer Entpolitisierung des Evangeliums verstanden werden. So gewiss das Evangelium von der in Jesus Christus angebrochenen Gottesherrschaft eine politische Dimension hat, ist es freilich doch nicht auf eine politische Botschaft zu reduzieren, weil das Gottesverhältnis des Menschen nicht in seiner politischen Existenz aufgeht. Bultmanns Begriff der Entweltlichung trifft darum etwas Richtiges, wenn man ihn theologisch von Joh 17,16 und Röm 12,2 aus versteht. Eine Theologie der Diaspora hat den eschatologischen Horizont, der dem Glauben wesentlich ist, neu zu Bewusstsein zu bringen. Sie hat aber zugleich in Erinnerung zu rufen, dass die Hoffnung auf die Vollendung der Erlösung, die über das irdische Leben hinausreicht, nicht von der Aufgabe entbindet, im Hier und Jetzt der Stadt Bestes zu suchen (vgl. Jer 29,7). „Eine Theologie der Diaspora hat dabei“, wie das Studiendokument der GEKE ausführt, „auch Begriff und Phänomen der Fremdheit zu bedenken – der Fremdheit des Glaubens ebenso wie der Fremdheit des menschgewordenen Gottes. Die Spannung von Heimat und Fremde prägt im buchstäblichen wie im übertragenen Sinne Diasporaerfahrungen und ihre theologische Deutung in Geschichte und Gegenwart.“61 57
GEKE, Theologie der Diaspora, 4 (wie Anm. 53). Luther und die Zürcher Bibel übersetzen das griechische πολίτεθμα mit ‚Heimat‘. 59 Vgl. Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes (Kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament 2), Göttingen 201978, 435. 60 Vgl. Benedikt XVI., Die Entweltlichung der Kirche, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.9.2011, online abrufbar unter: http://www.faz.net/aktuell/politik/papstbesuch/papstbenedikt-xvi-die-entweltlichung-der-kirche-11370087.html (letzter Zugriff am 10.8.2018; U. K.). 61 GEKE, Theologie der Diaspora, 11 (wie Anm. 53). 58
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Im Unterschied zu einer Diasporatheologie, welche auf die Bewahrung des Eigenen in der Fremde durch den Rückzug aus der Welt setzt, plädiert die GEKE-Studie für eine Diasporatheologie, die sich als eine Gestalt Öffentlicher Theologie begreift und die Kirche wie die einzelnen Christen dazu ermutigt, „sich kritisch-konstruktiv auf die Gesellschaft einzulassen und Kirche für die Menschen in ihren gegenwärtigen Nöten und Erfahrungen zu sein“62. Versteht man Diaspora, wie es das Studiendokument der GEKE tut, als Beziehungsgeschehen, können die verschiedenen Konfessionskirchen den Anspruch erheben, im biblischen Sinne wahre Kirche zu sein, wenn „die konfessionelle Diaspora in sich, und gerade dadurch, daß sie Diaspora ist, den Ökumenismus […] als Grundstruktur eingestiftet hat“63. Konfessionelle Identität und ökumenische Weite schließen einander nicht aus. Recht verstanden kann der Diaspora-Begriff zu einer Erneuerung von konfessioneller Identität in ökumenischer Offenheit einen Beitrag leisten, weil er verdeutlicht, dass die eigene Identität ohne das Gegenüber zu den anderen und ohne das Miteinander mit ihnen nicht lebendig ist, sondern im Traditionalismus erstarrt. Lebendige Identität ist nicht statisch, sondern dynamisch und wandelbar, dabei aber stets auf Christus als den einen und entscheidenden Orientierungspunkt hin ausgerichtet.
62
Ebd., 11 f. Wilhelm Dantine, Strukturen der Diaspora. Situation auf dem Hintergrund des österreichischen Protestantismus, in: Die Evangelische Diaspora 38 (1967), 37–56, hier 55. 63
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Literaturverzeichnis Benedikt XVI., Die Entweltlichung der Kirche, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.9.2011, online abrufbar unter: http://www.faz.net/aktuell/politik/papstbesuch/ papst-benedikt-xvi-die-entweltlichung-der-kirche-11370087.html (letzter Zugriff am 10.8.2018; U. K.). Bilaterale Arbeitsgruppe der Deutschen Bischofskonferenz und der Vereinigten Evangelisch-lutherischen Kirche Deutschland (Hg.), Gott und die Würde des Menschen, Leipzig 2017. Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes (Kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament 2), Göttingen 201978. Johannes Calvin, Unterricht in der christlichen Religion/Institutio Christianae Religionis, bearb. u. neu hg. v. M. Freudenberg, übers. u. bearb. v. O. Weber, Neukirchen-Vluyn 2008. Ingolf U. Dalferth, Auf dem Weg der Ökumene. Die Gemeinschaft evangelischer und anglikanischer Kirchen nach der Meissener Erklärung, Leipzig 2002. Joseph Dan, Art. Diaspora II. Jüdische Diaspora, 2. Mittelalter und Neuzeit, Religion in Geschichte und Gegenwart II, Tübingen 41999, 829. Wilhelm Dantine, Protestantisches Abenteuer in einer nichtprotestantischen Welt, in: ders., Protestantisches Abenteuer. Beiträge zur Standortbestimmung der evangelischen Kirche in der Diaspora Europas, hg. v. M. Bünker, Innsbruck 2001, 37–47. Ders., Strukturen der Diaspora. Situation auf dem Hintergrund des österreichischen Protestantismus, in: Die Evangelische Diaspora 38 (1967), 37–56. Diaspora and Identity, in: GEKE focus 20 (2013), 10–12, online abrufbar unter: http:// issuu.com/ecumenix/docs/geke_focus-20_web?e=1141279/5894576 (letzter Zugriff am 10.8.2018; U. K.). Die Confessio Augustana, bearb. v. G. Seebaß/V. Leppin, in: Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Vollständige Neuedition, hg. v. I. Dingel, Göttingen 2014, 65–225. Günter Dürig, Grundrechtsverwirklichung auf Kosten von Grundrechten?, in: Summum ius summa iniuria. Individualgerechtigkeit und der Schutz allgemeiner Werte im Rechtsleben. Ringvorlesung gehalten von Mitgliedern der Tübinger Juristenfakultät im Rahmen des Dies academicus. Wintersemester 1962/63 (Tübinger rechtswissenschaftliche Abhandlungen 9), Tübingen 1963, 80–96. Flemming Fleinert-Jensen, Das Kreuz und die Einheit der Kirche. Skizze zu einer Kreuzestheologie in ökumenischer Perspektive, Leipzig 1995. Walter Fleischmann-Bisten, Art. Diaspora III. Christliche Diaspora, Religion in Geschichte und Gegenwart II, Tübingen 41999, 830–831. Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa, Theologie der Diaspora. Studiendokument der GEKE zur Standortbestimmung der evangelischen Kirchen im pluralen Europa, Wien 2018. Matthias Haudel, Vergessene Kriterien. Hermeneutische Kriterien für die Weiterentwicklung des koinonía-Konzepts, in: Ökumenische Rundschau 43 (1994), 292–304. Reinhard Hempelmann, Verschärfungen des religiösen und weltanschaulichen Pluralismus, in: Materialdienst der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen 79 (2016), 3–12.
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I. Trends der Ökumene im 21. Jahrhundert
Zwischen Konfession und Ökumene Auf der Suche nach christlicher Identität Wolfgang Thönissen 1. Zum Begriff der Identität. Eine analytische Vorbemerkung und eine theologische Herausforderung Identität wird philosophisch als Identität von etwas mit etwas ausgesagt.1 Wenn etwas von etwas mit etwas ausgesagt wird, ist damit eine Beziehung gemeint, deren Glieder identisch genannt werden. Das aber heißt: diese Glieder sind ein und dasselbe. Damit zielt Identität auf die Einheit der Glieder, die identisch bestimmt sind. Damit taucht aber sogleich ein Problem auf: Wenn a mit a identisch ist, ist dieser Satz nichtssagend. Wenn a = b ist, wird a mit einem Element nicht-a für identisch erklärt. Hier muss also eine Beziehung zwischen verschiedenen Elementen hergestellt werden, zwischen denen Identität festgestellt wird. Das aber heißt: a und b müssen mindestens in einer Hinsicht identisch und in einer anderen verschieden sein. Deswegen legt man die Art und Weise fest, nach der zwei Dinge untereinander identisch sind, indem man sie zugleich nach einer anderen Art und Weise als nicht identisch bezeichnen kann. Das lässt sich auf sprachlicher Ebene mit Hinweis auf Identitätsaussagen erläutern. Wenn ‚Satellit‘ ein die Erde umlaufender Körper ist, der ‚Mond‘ genannt wird, dann ist hier deutlich: Mond ist sprachlich nicht ein die Erde umkreisender Satellit. Beide Begriffe unterscheiden sich, sachlich sind sie einander identisch. Wittgenstein hat das hier auftauchende philosophische Problem als unsinnig bezeichnet, denn: Von zwei Dingen zu sagen, sie seien identisch, ist unsinnig, denn wenn es zwei Dinge sind, sind sie verschieden, und von Einem zu sagen, es sei identisch mit sich selbst, sagt gar nichts, weil man es nicht von sich selbst unterscheiden kann, man also nicht zwei Dinge hat und man insofern auch keine Verhältnisbestimmung vornehmen kann. Deshalb bleibt philosophisch nur als Möglichkeit die Einsicht, dass Identität die Aussage einer Bestimmung nicht zwischen zwei Dingen ist, sondern diejenige, die ein Seiendes oder ein Subjekt geschichtlich im Laufe einer Veränderung in zeitlicher Hinsicht zu identifizieren sucht. Hierbei muss die Hinsicht genauer angegeben werden, unter der Verschiedenes identisch genannt wird. 1 Vgl. Otto Muck, Art. Identität, Historisches Wörterbuch der Philosophie IV, Basel 1976, 144; Béla Weissmahr, Art. Identität, Philosophisches Wörterbuch IV, Freiburg i. Br. 2010, 215 f.
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In erster Hinsicht ist klar, dass zwischen Bestimmung, Herkunft und geschichtlichem Verlauf Veränderungen eintreten, die überhaupt erst die Frage nach der Identität hervorrufen. Offenbar hat es Veränderungen im Blick auf Seiendes oder Subjekte gegeben, welche die Frage aufwerfen, ob Veränderungen die Herkunftsbestimmung beeinflussen. Die Frage nach der Identität entpuppt sich letztlich als Frage nach dem Bleibenden, nach der Kontinuität in der Veränderung. Übertragen wir diese logisch-philosophischen Vorüberlegungen auf das theologische Verständnis, so bieten sich uns hier verschiedene Möglichkeiten. Wir können das Attribut ‚christlich‘ auf verschiedene Subjekte beziehen: den christlichen Gott, den christlichen Glauben, die christliche Kirche, den christlichen Gläubigen. Stellen wir hier die Frage nach der Identität, so sehen wir, dass wir ‚Identität‘ auf Personen und auf Institutionen beziehen können: die Identität der christlichen Kirche etwa. Dann ist genauer anzugeben, zwischen welchen ekklesialen Größen Identität herrschen soll und wie diese zu bestimmen sind. Wenn Kirche als das definiert wird, was der Begriff bezeichnet, nämlich die zu Christus gehörende Gemeinschaft der Glaubenden, so kann Identität nur die Beziehung zwischen der einen Kirche Jesu Christi, die von ihm gestiftet und erhalten wird, und ihrer geschichtlich auffindbaren Gestalt besagen. Kriterien ihrer Bestimmung sind dann die notae Ecclesiae, die seit jeher die Frage nach der wahren Kirche Gottes ausmachen. Die Frage nach der christlichen Identität kann auch den Aspekt beinhalten, wie die Identität desjenigen zu bestimmen ist, der zu Christus gehört. Auch dies ist ein ekklesiologischer Aspekt. Das bedeutet, dass die Frage nach der christlichen Identität nur so zu beantworten ist, wie sie im Rahmen der Gemeinschaft auftritt, die sich christlich nennt. Das ist aber bereits eine inhaltliche Festlegung. Denn es könnte ja auch die Identität desjenigen gemeint sein, der sich Christus zugehörig fühlt, dabei aber die konkrete Form der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Kirche verweigert. Damit stünden wir bei der Frage nach der Einheit der Kirche. Neben der diachronischen Identität hätten wir es dann mit einer synchronischen Identität zu tun, die zu bestimmen sucht, welche ekklesialen Größen Kirche Jesu Christi in Wahrheit und in Fülle sind. Schließlich lässt sich die Frage nach der christlichen Identität auf die persönliche Integrität desjenigen ausdehnen, der in Wahrheit durch Glauben und Taufe Christ geworden ist.
2. Das Ungenügen der konfessionellen Identität von Christsein und Kirche Die erste Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung verknüpfte den Ruf zur Einheit mit der Klage über die Entzweiung der Christenheit. Das gemeinsame Bekenntnis zu Christus beinhaltet ein Bekenntnis zu Umkehr und Buße. „Gott will die Einheit. Unsere Anwesenheit auf dieser Konferenz legt Zeugnis dafür ab, daß wir unsern Willen unter seinen Willen beugen wollen. Wie immer wir die Anfänge
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der Entzweiung rechtfertigen mögen, wir beklagen, daß sie weiterdauern und anerkennen es als unsere Pflicht, fortan in Buße und Glauben dafür zu wirken, daß die zerstörten Mauern der Christenheit wieder aufgebaut werden.“2
Ungeachtet der zwischen den Kirchen bestehenden Unterschiede und Meinungsverschiedenheiten halten Vertreter verschiedener Kirchen an der gewonnenen Option fest, das Evangelium von Jesus Christus den Menschen gemeinsam zu verkünden. So steht die frühe Ökumenische Bewegung vor der Tatsache, den Ruf zur Einheit mit der Erkenntnis der Verschiedenheit und der Spaltung der Christenheit zusammenhalten zu müssen. Das sich hier offenbarende Dilemma ist von Anfang an klar. ‚Glauben und Kirchenverfassung‘ hat hierzu drei Auffassungen zusammengetragen: (1) Spaltungen der Christenheit entstehen niemals ohne Sünde. Sie sind Ausdruck der Sündenverhaftetheit der Christenheit. (2) Spaltungen sind Ausdruck und Ergebnis unterschiedlicher Geistesgaben und verschiedene Verständnisse der Wahrheit. (3) Trotz der Spaltungen der Vergangenheit steht die Verkündigung des Evangeliums unter der Gnade und Barmherzigkeit Gottes. – Die erste Auffassung geht von der Prämisse aus, dass die Christenheit vom Beginn an im Zustand der Sünde verharrt. Die zweite Auffassung wertet Spaltungen als tolerierbare Unterschiede, die Ausdruck der notwendigen Verschiedenheit sind. Die dritte Auffassung sucht einerseits der historischen Tatsache gerecht zu werden, dass Spaltungen Ergebnisse von geschichtlichen Entwicklungen sind, die nicht ohne Schuld von Menschen entstanden sind. Der Schmerz darüber aber fordert dazu heraus, diese künftig zu überwinden. Gerade diese Auffassung sucht dem Umstand gerecht zu werden, dass die Ökumenische Bewegung zutiefst mit der Entstehung der christlichen Konfessionsbildung und des christlichen Konfessionalismus verbunden ist. Die Dynamik der Ökumenischen Bewegung verdankt sich letztlich der Entstehung der konfessionellen Weltbünde am Ende des 19. Jahrhunderts, die der konfessionellen Spaltung entgegenarbeiteten und der Konversion der Konfessionalität den Weg bereiteten. So zeigt sich schließlich, dass der Einheitsimpuls der Ökumenischen Bewegung und die Motivik der Umkehr in Konfessionalität und Konfessionalismus des 16. und 17. Jahrhunderts wurzeln.3 Hier ist eine Unterscheidung wirksam, deren Bedeutung nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Der Ökumenische Rat der Kirchen hat während der Sitzung des Zentralausschusses in Toronto im Jahr 1950 auf einen Wider-
2 So heißt es in der Ersten Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung 1927 in Lausanne: Lukas Vischer (Hg.), Die Einheit der Kirche. Material der ökumenischen Bewegung (Theologische Bücherei 30), München 1965, 30. 3 Auf diesen Zusammenhang weist die Groupe des Dombes in folgendem bemerkenswerten Dokument hin: Gruppe von Dombes, Für die Umkehr der Kirchen. Identität und Wandel im Vollzug der Kirchengemeinschaft, übers. v. I. Siegert, Frankfurt a. M. 1994 (franz. Orig.: Pour la conversion des Églises, Paris 1991).
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spruch hingewiesen, auf dessen Existenz die Ökumenische Bewegung insgesamt zurückzuführen ist. Christen stünden dem inneren Widerspruch gegenüber, „daß es einerseits nur eine Kirche Christi geben kann und daß es andererseits doch so zahlreiche Kirchen gibt, die den Anspruch erheben, Kirchen Christi zu sein und dabei doch nicht in einer lebendigen Einheit zusammenleben. Sobald sie sich mit diesem Widerspruch innerlich auseinandersetzen, empfinden sie eine heilige Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Lage.“4
Analog zu diesem Text, und wohl offensichtlich in Kenntnis dessen, deckt auch das Ökumenismusdekret des Zweiten Vatikanischen Konzils Unitatis redintegratio (UR) im Vorwort diesen Widerspruch zwischen dem Bekenntnis zur einen und einzigen Kirche Jesu Christi und dem Anspruch christlicher Gemeinschaften auf das wahre Erbe Jesu Christi auf (UR 1).5 Weist man diesen Anspruch nicht als unwahr ab, entsteht ein Dilemma, das unaufhebbar scheint: zwischen dem wahren Bekenntnis zur Einheit der Kirche Jesu Christi einerseits und der historisch nicht zu leugnenden Existenz von Kirchen und Gemeinschaften, die sich im Laufe der Zeit voneinander getrennt hatten. Dieser Konflikt ist real und man muss ihn als historische Differenz zwischen der kirchlichen und der konfessionellen Identität begreifen. Alle Bemühungen um Umkehr und Erneuerung beziehen sich immer auf die konfessionelle Identität, wie sie sich in der Existenz konfessioneller Kirchen und Gemeinschaften widerspiegelt. Dieser Konflikt ist unausweichlich. Mit ihm hängt das Bewusstsein der Überwindung der Spaltung der Christenheit zusammen. Ihn so wahrzunehmen heißt auch, sich einzugestehen, dass die Ökumenische Bewegung ein modernes Phänomen ist, und zwar deshalb, weil sie die historisch verifizierbare Konfessionalität voraussetzt. Die Toronto-Erklärung erfasst die hier obwaltende Differenz in der Unterscheidung zweier Formen von Mitgliedschaften, die in der Kirche Jesu Christi einerseits und die in der jeweils eigenen Kirche andererseits.6 Beide Mitgliedschaften sind nicht deckungsgleich. Ganz parallel dazu hat auch das Ökumenismusdekret diese Differenz so aufgenommen, indem es zwischen der Einheit der Kirche einerseits und der Wiederherstellung der Einheit der Christen andererseits unterscheidet. Das Ökumenismusdekret geht sogar so weit, die Existenz der Spaltung der Christenheit als Hindernis für die kirchliche Identität zu bezeichnen (UR 4). Nur wenn dieser Widerspruch als Skandal empfunden wird, lässt sich verstehen, worum es der Ökumenischen Bewegung im Letzten geht. Der Wille zur Umkehr, wie er in der Ökumenischen Bewegung artikuliert 4
Vischer (Hg.), Einheit der Kirche, 257 (wie Anm. 2). Decretum de oecumenismo/Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, in: Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils. Konstitutionen, Dekrete, Erklärungen. Lateinisch-deutsche Studienausgabe (Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil 1), hg. v. P. Hünermann, Freiburg i. Br. 2004, 211–241. 6 Vgl. Vischer (Hg.), Einheit der Kirche, 257 (wie Anm. 2). 5 Vgl.
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wurde und wird, ist die Antriebsfeder für alle Bemühungen um die Einheit der Kirche. Wer diesen Willen leugnet oder gar für historisch obsolet erklärt, nimmt der Ökumenischen Bewegung ihren Stachel und stellt ihre berechtigte Existenz in Frage. Doch die Problematik, die sich hier zeigt, geht tiefer. Die Spannung zwischen der kirchlichen und der konfessionellen Identität ist die Wurzel für das Verstehen der Ökumenischen Bewegung. Nun erscheint es aber zunächst nicht schwierig, die kirchliche von der konfessionellen Identität zu unterscheiden.7 Das ist eine weithin gebräuchliche Unterscheidung. Danach verstehen wir unter der kirchlichen Identität die Zugehörigkeit des getauften Christen zur Kirche Jesu Christi. Das ist auch gemeint, wenn die Kirchenkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils Lumen gentium (LG) von der durch die Taufe gewirkten Verbundenheit mit der Kirche spricht (LG 14 f ).8 Zugleich steht aber fest, dass Getaufte, die die Einheit mit dem Nachfolger Petri nicht gewahrt haben, eigenen Kirchen oder kirchlichen Gemeinschaften angehören. Diese historisch verifizierbare Zugehörigkeit zu solchen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften ist als konfessionelle Identität anzusprechen. Christen leben in historisch, kulturell, dogmatisch und soziologisch feststellbaren Identitäten. Freilich tritt nun aber doch noch eine weitere Identitätsform auf. Auch auf diese weist das Konzil deutlich hin: Die Taufe verbindet mit Christus. Christliche Identität bezieht sich also auf die Beziehung, die den Gläubigen mit Christus verbindet, hierin wurzelt auch das spezifisch Christliche, oder wie es Lumen gentium formuliert, die von Gott zugesagte Vereinigung des Menschen mit ihm. Entscheidend ist nun, dass diese durch die Taufe mit Christus bewirkte Verbindung nicht sozusagen in der Luft hängt, sondern konkret wird, und zwar in der kirchlichen Identität. Genau diesen Zusammenhang behandelt Lumen gentium an prominenter Stelle. Die Vereinigung des Menschen mit Gott realisiert sich in der Gemeinschaft der Kirche. Sie ist der Ort, an dem die Gemeinschaft mit Gott ‚da‘ ist – gleichsam sakramental. Die Kirche ist – sakramental betrachtet – Zeichen und Werkzeug für die Gemeinschaft des Menschen mit Gott. Christliche und kirchliche Identität können nicht voneinander getrennt werden, sie sind aber auch nicht einfach identisch und müssen daher, wenn auch in einer komplexen Wirklichkeit miteinander verbunden, unterschieden werden.9 Von dieser komplexen Wirklichkeit kirchlicher und christlicher Identität kann schließlich die konfessionelle Identität nicht losgelöst werden, sie ist aber 7 Vgl.
Gruppe von Dombes, Umkehr der Kirchen, 29–36 (wie Anm. 3). Vgl. Constitutio dogmatica de ecclesia/Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, in: Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils, 73–185 (wie Anm. 5). 9 Auf diesen komplexen Wirklichkeitszusammenhang zielt das ‚subsistit‘ von LG 8. Vgl. dazu jetzt: Wolfgang Thönissen, Subsistit. Ekklesiologie und Ökumene in der katholischen Kirche, in: Reform im Katholizismus. Traditionstreue und Veränderung in der römisch-katholischen Theologie und Kirche (Beihefte zur Ökumenischen Rundschau 119), hg. v. B. Oberdorfer/O. Schuegraf, Leipzig 2018, 177–197. 8
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lediglich das Anerkenntnis einer Zugehörigkeit zu einer historisch gegebenen Kirche oder kirchlichen Gemeinschaft.10 Wenn keine konfessionelle Kirche sich ohne Umschweife mit der Kirche Jesu Christi identifiziert, wie das ökumenische Dokument der Groupe des Dombes formuliert, so ist die Katholizität verwundet oder es ist, wie es das Ökumenismusdekret festhält, die Ausprägung der Katholizität behindert (UR 4). Dieses Hindernis betrifft ursächlich die ökumenischen Bemühungen. Umkehr und Erneuerung beziehen sich demnach auf Verurteilungen und Abgrenzungen, die überwunden werden sollen. „Der Konfessionalismus ist die Verhärtung der konfessionellen Identität, verbunden mit einer Haltung der Selbstrechtfertigung.“11 Der Konfessionalismus ist darauf fixiert, die christliche und kirchliche Identität, die sich in der konfessionellen Identität ausdrückt und realisiert, zu verfestigen und integralistisch zu bewahren. Er ist ein historisches Phänomen, das jederzeit kirchliche und christliche Identität zu überformen sucht. Hier liegt die geschichtliche Hypothek jeder christlichen Kirche. Hier wurzeln Sünde und Schuld bei Verantwortlichen und Gläubigen der Kirchen, auf beiden Seiten. Diesen Zusammenhang erkannt zu haben, ist die historische Leistung der Ökumenischen Bewegung. Es gibt keine Umkehr ohne Bekenntnis der „Sünden gegen die Einheit“ (UR 7). Insoweit ist klar: Jede Konfessionalität bedarf der Verwandlung, der Umkehr. Sie beinhaltet das Zugeständnis, Sünden gegen die Einheit zu bekennen, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Konfessionalität die Abgrenzung und den Ausschluss fördert und belebt. Unabhängig von der Tatsache, ob eine Kirche sich nun als Konfession versteht oder nicht, sie ist nicht frei vom Hang zur Selbstabschottung oder Selbstrechtfertigung. Diesen Prozess der Selbstreflexion in Gang gesetzt zu haben, ist das historische Verdienst der Ökumenischen Bewegung.12 Konfessionelle Identität besteht stets in der Verkürzung der eigenen Identität durch Abschottung. Die der Kirche eigene Katholizität ist beschädigt. Konfessionelle Identität muss um der Katholizität willen überwunden werden. Daher die zweite These: Die Kirche bedarf ständig der Reinigung und Erneuerung.
10 Vgl.
Gruppe von Dombes, Umkehr der Kirchen, 34 (wie Anm. 3).
11 Ebd.
12 Es wird noch zu zeigen sein, worin die heutige Zumutung der Ökumenischen Bewegung liegen dürfte. Wer heute die Kirchen dazu aufruft, sich mit der Konfessionalität zufrieden zu geben, hebelt den ökumenischen Grundimpuls aus. Die heute so oft vorgetragene Forderung der gegenseitigen Anerkennung der Kirchen, ohne die Voraussetzung der Umkehr zu bedenken, gibt sich mit der Tatsache der Koexistenz der christlichen Kirchen zufrieden. Warum sollte gegenseitiges Vertrauen wachsen, wenn die Zumutung entfällt, Sünden gegen die Einheit zu bekennen? Hier liegt offenbar ein Missverständnis vor: Spaltungen zu beklagen ist nicht dasselbe, wie kontextuelle Vielfalt zu verstehen. Die erste Haltung will eine fundamentale Änderung, die zweite gibt sich mit dem status quo zufrieden.
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3. Ecclesia semper purificanda! Keine Katholizität ohne Erneuerung der Kirche Mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat auch die römisch-katholische Kirche eine durch die Ökumenische Bewegung zumindest angeregte, wenn nicht herausgeforderte Selbstbesinnung in Gang gesetzt. Die Voraussetzung hierfür bildete eine gründliche Reflexion der eigenen ekklesialen Wirklichkeit. In der Literatur hat sich diese Erkenntnis unter dem Wort vom Konzil der Kirche über die Kirche durchgesetzt.13 Da mit der Ankündigung kein fertiges Konzept des Konzils vorlag, stellte daher zwangsläufig das unabgeschlossene Erste Vatikanische Konzil einen Anknüpfungspunkt dar, dessen eigener ekklesiologischer Entwurf nicht mehr angenommen worden war.14 In Verbindung mit der schnell in den Vordergrund gerückten ökumenischen Problematik verdichteten sich die Anzeichen für eine Fortentwicklung der ekklesiologischen Frage. Mit der Eröffnung des Konzils verstärkte sich der Eindruck, dass eine dogmatische Erklärung über die Kirche zum Hauptstück des Konzils werden würde. So begannen sich die ekklesiologische und die ökumenische Problematik zu verschränken. Je stärker auf dem Weg zur Wiederherstellung der Einheit aller Christen die römisch-katholische Kirche auf die von ihr getrennten Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften zu blicken begann, musste sie ihr Augenmerk auch auf sich selbst richten. Die Annäherung der Kirchen untereinander und die Bemühungen um eine Einigung setzen die Selbsterneuerung der Kirche voraus. Diesem Erneuerungsprozess kommt daher eine besondere ökumenische Bedeutung zu. Und man muss hinzufügen: Ohne diesen Prozess der ekklesialen Erneuerung gibt es auch keine Akzeptanz der Ökumenischen Bewegung. Die Ekklesiologie ist insoweit der Nagel, an dem die ganze Ökumene hängt. Das Ökumenismusdekret Unitatis redintegratio weist auf verschiedene Erneuerungsbewegungen im 20. Jahrhundert hin, auf die liturgische und die biblische Bewegung, aber auch auf die Sozialverkündigung der Kirche seit dem Ende des 19. Jahrhunderts (UR 6). Solche Erneuerungen weisen drei wesentliche Faktoren auf: (1.) Erneuerung heißt (im Lateinischen) zunächst renovatio: „Wachstum der Treue gegenüber ihrer eigenen Berufung“ (UR 6). Gemeint ist eine am Geist des Evangeliums orientierte Haltung auf allen Gebieten des kirchlichen Lebens. Dem kommt auch die Auffassung des Konzils nahe, nach der die Kirche nicht über der Schrift stehe, sondern ihr diene. Die Heilige Schrift ist die Regel, an der sich die Erneuerung der Kirche orientiert. Denn es könne nicht ausgeschlossen werden, 13 Vgl. hierzu Gérard Philips, Die Geschichte der Dogmatischen Konstitution über die Kirche Lumen gentium, Lexikon für Theologie und Kirche. Das Zweite Vatikanische Konzil I, Freiburg i. Br. 1966, 139–155. 14 Vgl. Josef Neuner/H einrich Roos (Hg.), Der Glaube der Kirche in den Urkunden der Lehrverkündigung, neubearb. v. K. Rahner/K .‑H. Weger, Regensburg 132009, Nr. 386–394.
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dass die Kirche auf ihrem geschichtlichen Weg von ihrer Treue zu Christus selbst abweiche – so formuliert es die Kirchenkonstitution Lumen gentium (LG 9). Damit sie wahrhaftig Kirche Jesu Christi heißt, braucht sie selbst immer wieder die Kraft zur Erneuerung im Geiste des Evangeliums. (2.) Erneuerung kann aber auch reformatio bedeuten: Soweit die Kirche eine irdische und menschliche Einrichtung ist, soweit sie also eine geschichtlich bedingte Gestalt hat, durch Denken, Handeln und Verhalten von Menschen bestimmt wird, kann nicht ausgeschlossen werden, dass ihr Zeugnis im sittlichen Leben von einzelnen Gläubigen, in der Lehrverkündigung (in Unterscheidung vom depositum fidei – vom der Kirche anvertrauten Glaubensschatz) und auch in der Kirchenzucht nicht genau genug bewahrt wird und daher einer ständigen Reform bedarf. Wie kein Konzil zuvor hat das Zweite Vatikanische Konzil die geschichtliche Existenzform der Kirche in den Blick genommen. Das Konzil selbst stand von Anfang an unter dem Leitwort von der Verheutigung (aggiornamento). Das Bild der Kirche vom ‚wandernden Gottesvolk‘ – eine der wesentlichen Aussagen des Konzils zum Selbstverständnis der römisch-katholischen Kirche – untermauert theologisch die Einsicht in die Geschichtlichkeit und Veränderlichkeit der Kirche als gesellschaftlicher Größe. Mit dem Wort von der perennis reformatio – der dauernden Reform – erinnert das Konzil an den protestantischen Grundsatz von der „Ecclesia semper reformanda“15. Aber auch in der römisch-katholischen Tradition wurde der Satz selbstverständlich verwendet. Mit diesem Hinweis unterstreicht das Konzil die Reformbedürftigkeit der Kirche erneut; hier wird dieser Grundsatz nun ökumenisch verstanden. Das heißt: Die Aufnahme der ökumenischen Idee und die Teilnahme an der Ökumenischen Bewegung, die selbst ja außerhalb der römisch-katholischen Kirche entstanden ist, sind angesichts der ablehnenden Haltung der Kirche zuvor nur denkbar aufgrund eines innerkirchlichen Erneuerungsprozesses. Insgesamt macht dieser Grundsatz auf das Erfordernis aufmerksam, dass die Suche nach der Wiederherstellung der Einheit immer von einem Prozess der ständigen Reform begleitet sein muss. War zunächst von der Erneuerung der Kirche die Rede, so nimmt Unitatis redintegratio nun die persönliche Erneuerung jedes einzelnen Gläubigen in den Blick. Auch hier treten zwei wesentliche Aspekte hervor: 1. Die persönliche Erneuerung ist eine geistliche Erneuerung. Das Dekret (UR 7) verweist diesbezüglich auf Eph 4,23: „erneuert euren Geist und Sinn!“ (Einheitsübersetzung 1980). Erneuerung vollzieht sich wesentlich von innen her und soll sich in einem neuen Leben auswirken. Blickt man genauer hin, so liest man die Mahnung: ‚ihr müsst euch erneuern lassen durch den Geist in eurem Denken!‘ In Wahrheit ist es der Heilige Geist, der die Menschen erneuert. Sich auf ihn einzulassen, ist 15 Der Grundsatz stammt aus den Diskussionen um die Reformationstheorien und Definitionsversuche Gisbert Voetius’. Vgl. Theodor Mahlmann, Art. Reformation, Historisches Wörterbuch der Philosophie VIII, Basel 1992, 416–427, hier 419 f.
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vom Menschen gefordert. Geschieht dies, so kommt der Grundsatz voll zum Tragen: ‚Werde, was du bist!‘ So ist Erneuerung ein Vorgang, der am Menschen geschieht, freilich nicht ohne seine Zustimmung, nicht ohne seinen eigenen Erneuerungswillen. (3.) Erneuerung schließt Anerkenntnis eigener Schuld ein. Hier gilt zunächst grundsätzlich das Zeugnis des Johannes: „Wenn wir sagen, dass wir nicht gesündigt haben, machen wir ihn zum Lügner und sein Wort ist nicht in uns“ (1.Joh 1,10; Einheitsübersetzung 2016). Was hier zählt, ist die Bereitschaft zur wirklichen Versöhnung, weil sie aus der Herzensänderung hervorgeht. In unserem Kontext ist es insbesondere die Schuld an den Spaltungen, die einzelnen Menschen zugeschrieben werden muss. Die Trennung von der vollen Gemeinschaft der Kirche geschah „nicht ohne Schuld der Menschen auf beiden Seiten“ (UR 3). Die Kirche selbst umfasst „Sünder in ihrem eigenen Schoße“ (LG 8). Die Kirche ist von den Sünden ihrer Glieder betroffen. Deshalb gilt auch von ihr, dass sie stets der Reinigung bedürftig ist. Insofern sich die Kirche die Last der Sünden ihrer Gläubigen auflädt, versteht sie sich als Sünderin. Darin wurzelt ihre Verantwortung, an der Überwindung der Sünde mitzuwirken. Dies schließt die Verantwortung dafür ein, die Spaltungen in der Christenheit zu überwinden. In diesem Sinne ist das Schuldbekenntnis zu verstehen, dass Papst Johannes Paul II., wie schon sein Vorgänger Paul VI., im Blick auf die fehlende Einheit der Christenheit zum Ausdruck gebracht hat. Das Eingeständnis der Sünden, welche die Einheit des Leibes Christi verwundet haben, mündet in die Bitte um Versöhnung.
4. Identität im Wandel. Ein ekklesiologischer Vorschlag „Man kann innerhalb seiner Identität wahrhaftig leben nur in einer ständigen Bewegung der Umkehr.“16 Die Nagelprobe für die Umkehr und Erneuerung der Kirchen ist ihr je eigenes ekklesiales Selbstverständnis. Die historische Identifikation der vorliegenden ökumenischen Problematik war recht einfach durchzuführen; sie gipfelt in der Erkenntnis, dass der Konfessionalismus des 16. bis 18. Jahrhunderts mit seiner Grundtendenz der Abschottung und Abgrenzung überwunden werden muss. Den Konfessionalismus prinzipiell zu überwinden, war die Ökumenische Bewegung des 20. Jahrhunderts angetreten. Es gehört freilich zu den historischen Grunderfahrungen unseres Zeitalters, dass sich zwar der Konfessionalismus verwandeln lässt, nicht jedoch die Konfessionalität der Kirchen. Dies ist und bleibt die historische Hypothek der Ökumenischen Bewegung. Diese Einsicht kann zwei Positionen nach sich ziehen, die zwar zunächst einsichtig erscheinen, doch sich verhängnisvoll auswirken können. 1. Die konfessionelle Identität ist und bleibt unabdingbar Bezugspunkt der kirchlichen Identität. Zwar befindet man sich im Gespräch mit vielen Kirchen 16
Gruppe von Dombes, Umkehr der Kirchen, 94 (wie Anm. 3).
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und kirchlichen Gemeinschaften, doch der Dialog gerät zum taktischen Spiel, die Zielperspektive ist auf Reintegration ausgerichtet. Maßstab der Beurteilung ist das jeweilige Selbstverständnis der Kirchen. Der Kirchenbegriff ist exklusiv und integralistisch, kirchliche und christliche Identität sind ungekürzt konfessionell und institutionell geprägt. Nur die eigenen Mitglieder gehören der Kirche Jesu Christi an, zerstreute und getrennte Christen gehen dem Untergang und dem Unheil entgegen. 2. Die andere Position geht von der Unaufhebbarkeit der Konfessionen aus, Zielperspektive ist die Anerkennung der Vielfalt der Konfessionen, Grundeinstellung die des konfessionellen Respekts. Wechselseitige Anerkennung der Gesprächspartner ist Voraussetzung für den Dialog, sein Ziel ist es, für die Kohärenz des Divergenten zu sorgen. Ökumenische Hermeneutik dient schließlich dem Umgang mit den Differenzen. So sehr sich beide Positionen – gewiss typologisch überzeichnet – auch zu widerstreiten scheinen, gehen sie beide doch von derselben Voraussetzung aus.17 Sie wollen im Kern keine Veränderung. Die erste negiert die Anerkennung des Christseins außerhalb der eigenen institutionellen Organisationsgestalt, die andere verharrt auf der Basis konfessioneller Partikularität. Worin sie sich gleichen – obwohl beide für sich jeweils andere Charaktereigenschaften beanspruchen – ist leicht einzusehen: Sie sind beide konservativ geprägt, d. h. Ökumenische Bewegung, ökumenischer Dialog werden der eigenen Identität, der eigenen ekklesialen Zielbestimmung unterworfen, Umkehr und Erneuerung werden ausgeschlossen. Damit wird die Ökumenische Bewegung um ihren Grundimpuls gebracht. Noch deutlicher: Beide Positionen sind nicht ökumenisch. Wer Umkehr und Erneuerung ausschließt – sei es, dass er sich im Besitz der vollen Wahrheit wähnt, sei es, dass er sich mit der Vielfalt des Differenten zufriedengibt – gibt das Anliegen der Ökumenischen Bewegung auf. Die Groupe des Dombes hat deshalb als Forderung festgehalten: Nur der Weg der Umkehr ist der Weg zur vollen Gemeinschaft der Kirchen.18 Umgekehrt formuliert: Wer jede Umkehr und Erneuerung kategorisch ausschließt, verlässt den Weg der Ökumene. Deshalb ist die Ekklesiologie der Probierstein des ökumenischen Anliegens. Die Ekklesiologie ist gleichsam der Haken, an dem die ganze Ökumene hängt. Jede Ekklesiologie, die das ökumenische Anliegen der Umkehr und Erneuerung aufnimmt, steht scheinbar vor einem Widerspruch, der die stärkste Nötigung ist, nach der Einheit zu suchen.19 Der Widerspruch erscheint, wenn einerseits die Kirche in Treue zur Überlieferung den ekklesialen Vollkommenheitsanspruch festhält, nämlich die eine, heilige, katholische und apostolische 17
Vgl. ebd. Vgl. ebd., 96. 19 So nach einer Formulierung von Joseph R atzinger, Es scheint mir absurd, was unsere lutherischen Freunde jetzt wollen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.9.2000, Nr. 221, 51. 18
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Kirche zu sein, und zugleich, sozusagen außerhalb ihrer selbst, ekklesiale Elemente und ekklesiale Realität anerkennt. „Kann eine Kirche, sobald sie ihre eigenen Grenzen mit denen der einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche identifizieren lässt, eine andere Kirche als Kirche [überhaupt] anerkennen […]?“20 Hier liegt die Crux der ganzen Ökumenischen Theologie, hier hat das Zweite Vatikanische Konzil zweifellos eine Antwort gesucht. Das Konzil spricht von Elementen der Heiligung und der Wahrheit in anderen christlichen Kirchen und Gemeinschaften. Soweit diese vorhanden sind, ist in ihnen die eine Kirche Jesu Christi wirksam gegenwärtig.21 Diese Lehre stellt in der römisch-katholischen Theologie ein Novum dar. Sie geht zurück auf Aussagen des Konzils, der Kirchenkonstitution Lumen gentium22. In ihrem Mittelpunkt steht die Aussage: Diese Kirche, gemeint ist die von Christus als sichtbares Gefüge verfasste Kirche, die im Glaubensbekenntnis als eine, heilige, katholische und apostolische Kirche bekannt wird, ist in der römisch-katholischen Kirche verwirklicht (subsistit in). Der Sinn des konziliaren Begriffs ‚subsistit‘ erschließt sich allerdings erst im Kontext der ganzen, vom Konzil vorgelegten Lehre über die Kirche.23 20 Diese Frage stellt Metropolit Damaskinos ausdrücklich: Damaskinos/Joseph R atzinger, Briefwechsel über die Erklärung der Kongregation für die Glaubenslehre Dominus Iesus und über die Note der Kongregation für die Glaubenslehre Schwesterkirchen, in: Joseph R atzinger, Weggemeinschaft des Glaubens. Kirche als Communio (FS J. Ratzinger), Augsburg 22005, 187–209, hier 197. 21 Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Ut unum sint. Über den Einsatz für die Ökumene (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 121), Vatikan 1995, 14. 22 Der ganze Text lautet: „Der einzige Mittler Christus hat seine heilige Kirche, die Gemeinschaft des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe, hier auf Erden als sichtbares Gefüge verfasst und erhält sie als solches unablässig; durch sie gießt Er Wahrheit und Gnade auf alle aus. Die mit hierarchischen Organen ausgestattete Gesellschaft aber und der mystische Leib Christi, die sichtbare Versammlung und die geistliche Gemeinschaft, die irdische Kirche und die mit himmlischen Gaben beschenkte Kirche sind nicht als zwei Dinge zu betrachten, sondern bilden eine einzige komplexe Wirklichkeit, die aus menschlichem und göttlichem Element zusammenwächst. Deshalb wird sie in einer nicht unbedeutenden Analogie mit dem Mysterium des fleischgewordenen Wortes verglichen. Wie nämlich die angenommene Natur dem göttlichen Wort als lebendiges, Ihm unlöslich geeintes Heilsorgan dient, (so) dient auf eine nicht unähnliche Weise das gesellschaftliche Gefüge der Kirche dem Geist Christi, der es belebt zum Wachstum seines Leibes (vgl. Eph 4,16). Dies ist die einzige Kirche Christi, die wir im Glaubensbekenntnis als die eine, heilige, katholische und apostolische bekennen, die zu weiden unser Erlöser nach seiner Auferstehung dem Petrus übertragen hat (Joh 21,17); ihm und den übrigen Aposteln hat er ihre Ausbreitung und Leitung anvertraut (vgl. Mt 28,18 ff ), und für immer hat er sie als ‚Säule und Feste der Wahrheit‘ errichtet (1 Tim 3,15). Diese Kirche, in dieser Welt als Gesellschaft verfasst und geordnet, existiert in der katholischen Kirche, die vom Nachfolger des Petrus und von den Bischöfen in Gemeinschaft mit ihm geleitet wird, auch wenn sich außerhalb ihres Gefüges mehrere Elemente der Heiligung und der Wahrheit finden, die als der Kirche Christi eigene Gaben auf die katholische Einheit hindrängen.“ (LG 8). 23 Vgl. Peter Hünermann, Theologischer Kommentar zur dogmatischen Konstitution über die Kirche Lumen gentium (Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil 2), Freiburg i. Br. 2004, 264–582, hier 269–288; Wolfgang Beinert, Die Kirche in der römisch-katholischen Dogmatik der Neuzeit, in: ders./Ulrich Kühn, Ökumenische Dogmatik, Leipzig 2013, 462–474.
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(1.) Lumen gentium legt ein sog. sakramentales Kirchenverständnis vor. Die Kirche wird theologisch als Mysterium begriffen, jedoch nur dann zureichend, wenn das Sakramentale analog verstanden wird. Deshalb heißt es konsequent schon zu Beginn von Lumen gentium: „[I]n Christus [ist die Kirche] gleichsam das Sakrament bzw. Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott und für die Einheit des ganzen Menschengeschlechts“ (LG 1). Die Kirche kann insofern als Mysterium begriffen werden, als sie selbst aus dem Mysterium Gottes durch Gottes Kraft im Wirken des Heiligen Geistes sichtbar hervorgeht. Darin liegt die Pointe des sakramentalen Kirchenverständnisses: Als komplexe Wirklichkeit, in der Einheit von göttlichem und menschlichem Element, existiert die Kirche als geschichtliche, menschliche Größe, und zwar dort und nur dort, gleichsam auf der dritten Ebene. Das Göttliche ‚inkarniert‘ sich gleichsam – und darin liegt die Analogie zum Mysterium Christi – in konkreter, gesellschaftlicher Gestalt, unter dem Wirken des Heiligen Geistes. Deshalb heißt es theologisch richtig: Die Kirche geht aus der Sendung des Heiligen Geistes hervor; die Pneumatologie ist damit der theologische Ort der Kirche. So gibt es die Kirche weder nur als Mysterium – das wäre das spiritualistische Missverständnis; es gibt sie aber genauso wenig nur als gesellschaftliche Institution – das wäre das empiristische Missverständnis. Kirche ist gleichursprünglich immanent und transzendent, und gerade das macht ihr Mysterium aus. (2.) In diesem sakramentaltheologischen Kontext macht das ‚subsistit‘ nunmehr deutlich, dass die Kirche als sichtbar-institutionelle Gestalt in der Geschichte existiert; und zwar erkennbar dadurch, dass in ihr die Heilsmittel, die Elemente und Güter der Heiligung und der Wahrheit (LG 8 und UR 3 zusammengenommen!), zu finden sind.24 Aus ihnen ist die Kirche insgesamt erbaut (UR 3), d. h., die Kirche Jesu Christi subsistiert in der römisch-katholischen Kirche sakramental, insoweit in ihr die Heilsmittel strukturell vollständig und integral verwirklicht sind, nämlich der Glaube an Jesus Christus, die Taufe, die Eucharistie, die Leitung der Kirche durch das Bischofskollegium und das Petrusamt, kurz Glaube, Sakramente und geistliches Amt.25 Konkret geschichtlich existiert die katholische Kirche als Integral der ihr anvertrauten Heilsmittel.26 Das bedeutet schließlich (3.): Auch außerhalb der römisch-katholischen Kirche existieren Heilsgüter. Welche sind gemeint? Darauf gibt Unitatis red24 Die Erklärung der Glaubenskongregation Dominus Jesus hat hier über den Wortlaut des Konzilstextes hinaus die Vollständigkeit als Kriterium angeführt, was dem Text nicht widerspricht, ihm aber eine Nuance gibt, die die Sachaussage allerdings auch verdunkeln kann. 25 Vgl. Medard Kehl, Die Kirche und die Kirchen, in: Unitatis redintegratio. 40 Jahre Ökumenismusdekret – Erbe und Auftrag (Konfessionskundliche Schriften des Johann-AdamMöhler-Instituts 23), hg. v. W. Thönissen, Paderborn 2005, 117–129, hier 124. 26 Vgl. hierzu auch Bruno Hünerfeld, Ecclesiae et Communitates ecclesiales. Eine Analyse des ekklesiologischen Status von Protestanten und ihren Gemeinschaften in den lehramtlichen Dokumenten der Pontifikate von Pius IX. (1846–1878) bis Benedikt XVI. (2005–2013) (Dogma und Geschichte 9), Berlin 2016, 258–266.
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integratio eine klare Antwort: neben der Heiligen Schrift als geschriebenem Wort Gottes und inneren Gaben wie Gnade, Glaube, Hoffnung und Liebe auch sichtbare Elemente, jene nämlich, die von Christus ausgehen und zu ihm hinführen (UR 3). Das ist zunächst die Taufe, weil sie in Christus und seinen Leib eingliedert, und in enger Verbindung mit ihr das Bekenntnis des Glaubens; dann die Eucharistie in Verbindung mit dem Sakrament der Weihe in der Kraft der apostolischen Sukzession (UR 3 und 22 zusammengelesen). Insoweit diese Heilsgüter, nämlich Glaube, Sakramente und Amt, vorhanden sind, ist von kirchlicher Wirklichkeit zu sprechen. Wir müssen deshalb das ‚subsistit‘ als ekklesiologische Öffnungsklausel verstehen. Es eröffnet den Blick über die römisch-katholische Kirche hinaus und liefert zugleich die Kriteriologie, mit deren Hilfe ekklesiale Realität außerhalb des eigenen Kirche-Seins erfasst werden kann. Damit ist klar: Kirchen und kirchliche Gemeinschaften existieren konkret außerhalb der eigenen Kirche. Das ‚subsistit‘ begründet somit eine „ontologische Brücke zu der Existenz anderer Kirchengemeinschaften“27. Lumen gentium eröffnet die Verhältnisbestimmung der einen Kirche Jesu Christi zur römischkatholischen Kirche genauso wie zu den anderen Kirchen und Gemeinschaften, wenngleich nicht unberücksichtigt werden darf, dass die römisch-katholische Kirche für sich selbst den Vollständigkeitsanspruch feststellt. Dieses Vorgehen erlaubt allerdings, von einem analogen Kirche-Sein bei getrennten Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften zu sprechen. Um die Formel vom ‚subsistit‘ im Kontext des Konzilstextes zu verstehen, muss bedacht werden, was sie leisten soll. Daher (4.): „Mit dem Ausdruck ‚subsistit in‘ wollte das Zweite Vatikanische Konzil zwei Lehrsätze miteinander in Einklang bringen: auf der einen Seite, dass die Kirche Christi trotz der Spaltungen der Christen voll nur in der katholischen Kirche weiter besteht, und auf der anderen Seite, ‚dass außerhalb ihres sichtbaren Gefüges vielfältige Elemente der Heiligung und der Wahrheit zu finden sind‘, nämlich in den Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften, die nicht in voller Gemeinschaft mit der katholischen Kirche stehen.“28
Die Formel vom ‚subsistit‘ enthält in der Tat zwei Grundsätze: (1) Die Kirche Jesu Christi und ihre Einheit sind keine bloße Idee oder nur eine endzeitliche Erwartung. (2) Außerhalb der römisch-katholischen Kirche gibt es die „Gegenwart des Ekklesialen“29. Während Dominus Jesus die Teilhabe der nichtkatholischen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften am Sein der Kirche allerdings 27
Damaskinos/R atzinger, Briefwechsel, 208 (wie Anm. 20). Erklärung der Glaubenskongregation Dominus Jesus hat dies erneut herausgestellt. Vgl. Kongregation für die Glaubenslehre, Erklärung Dominus Iesus über die Einzigkeit und die Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 148), Bonn 42007, 30–31. 29 Kongregation für die Glaubenslehre, Notifikation der Kongregation für die Glaubenslehre zu dem Buch ‚Kirche: Charisma und Macht. Versuch einer militanten Ekklesiologie‘ von Pater Leonardo Boff OFM. 11. März 1985 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 67), Bonn 1985, 6. 28 Die
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eher statisch durch eine ekklesiologische Qualifizierung zu bestimmen sucht,30 hatte die Glaubenskongregation schon früher das Argument einer ‚dynamischen Synthese‘ bemüht. So werden „‚Subsistenz‘ und ‚Elemente‘ in eine dynamische Beziehung des Zueinanderdrängens gebracht“31. Diese dynamische Charakterisierung hat den Vorteil, die Verhältnisbestimmung im Modus der Gestaltung vornehmen zu können. So kann für die Zukunft nicht ausgeschlossen werden, dass Gemeinschaft und Teilhabe untereinander wachsen. Darauf hatte die deutsche Übersetzung des lateinischen Wortes ‚subsistit‘ schon immer hingewiesen; das Wort „verwirklichen“ besitzt nämlich eine dynamische Realität. „Das Bestreben des Ökumenismus ist es eben, die zwischen den Christen bestehende teilweise Gemeinschaft bis zur vollen Gemeinschaft in der Wahrheit und der Liebe wachsen zu lassen.“32 Die Formel vom ‚subsistit‘ kann daher zuletzt ein Modell von Gemeinschaft von Kirchen im Sinne des Teilhabe-Gedankens begründen.33
5. Fazit Lässt sich, abschließend gefragt, die dargestellte ekklesiologische Paradoxie auflösen? Eine positive Antwort wird davon abhängen, ob mit der Formel vom ‚subsistit‘ ein dynamisches Wachstum an ekklesialer Gemeinschaft mit gesetzt ist. Wenn dies nicht ausgeschlossen werden muss, spricht sich die konziliare Lehre für ein nach vorne in die Zukunft hinein offenes Konzept aus. Verfehlt wird dieses Verständnis nach zwei Seiten hin: Einmal hinsichtlich einer sakramentalmystischen Überbestimmung im Sinne einer ekklesialen Idee, andererseits hinsichtlich einer institutionellen Überbestimmung im Sinne einer vollständigen Identifizierung von sakramentaler Idee und geschichtlicher Verwirklichung. Es kommt daher darauf an, die Formel vom ‚subsistit‘ als geschichtliche Öffnungsklausel zu verstehen. Sie hält jedenfalls die Spannung zwischen der bereits in Christus gegebenen Einheit und der zu verwirklichenden Gemeinschaft der Kirchen untereinander. Sie ist dann auch ein Hinweis darauf, die ökumenische Frage in Spannung zu halten und sich nicht vorschnell mit Lösungen zufrieden zu geben, die eine Einheit der Kirche nur vortäuschen. Insgesamt heißt das: Kirchliche Identität wird hier im Sinne eines sakramental-theologischen Integrals verstanden, das den Glauben, die Sakramente und das in der Kirche eingesetzte Amt umfasst. Auf dieser Grundlage ist die Evaluation der christlichen Identität zu bestimmen. Dies beinhaltet kein Verfahren des Aus30
So etwa: echte Teilkirchen oder nicht Kirchen im eigentlichen Sinn. Kongregation, Notifikation, 6 (wie Anm. 29). 32 Johannes Paul II., Ut unum sint, 14 (wie Anm. 21). 33 Vgl. dazu Wolfgang Thönissen, Plädoyer für ein gestuftes Modell von Kirchengemeinschaft, in: Unitatis redintegratio, hg. v. dems., 151–162 (wie Anm. 25); ders., Eucharistie und Communio der Kirche(n). Ist Kirchengemeinschaft ökumenisch heute möglich?, in: Catholica – Vierteljahresschrift für ökumenische Theologie 69 (2015), 14–36. 31
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schlusses, sondern der Teilhabe, der Teilhabe an Jesus Christus. Die kann gemäß dieser Vorstellung in unterschiedlichen Formen und Gestalten auftreten und sich geschichtlich verdichten oder auch auflösen. Christliche Identität umfasst einerseits die – auch personal verstandene – Treue zu Christus und andererseits die Dynamik des geschichtlichen Weges der Kirche als Gemeinschaft der an Christus Glaubenden. Im Sinne einer Hermeneutik der Reform ist damit die Kontinuität und Erneuerung des einen Subjektes der Kirche, die Christus uns geschenkt hat, gemeint: „[D]ie Kirche ist ein Subjekt, das mit der Zeit wächst und sich weiterentwickelt, dabei aber immer sie selbst bleibt, das Gottesvolk als das eine Subjekt auf dem Weg“34.
34 Benedikt XVI., Ansprache an das Kardinalskollegium und die Mitglieder der Römischen Kurie beim Weihnachtsempfang, 22. Dezember 2005 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 172), hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Rom 2006, 11.
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Zur Zukunft einer Ökumene der Institutionen Das Beispiel der Gemeinsamen Arbeitsgruppe Annemarie C. Mayer Am 21. Juni 2018 machte Papst Franziskus eine ökumenische Pilgerreise. Sie galt ausschließlich dem Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) in Genf zu dessen 70-jährigem Bestehen; sie war mit keinem offiziellen Besuch in der Schweiz oder bei irgendeiner der in Genf ansässigen internationalen Organisationen verbunden. Die Pilgerreise stand unter dem Motto ‚Gemeinsam gehen, beten und arbeiten‘. Am Vormittag nahm der Papst an einem ökumenischen Gebet in der Kapelle des ÖRK teil und predigte ausgehend von Gal 5 über das Motto der Pilgerreise. Am Nachmittag hielt er bei einer ökumenischen Begegnung im Ökumenischen Zentrum eine Ansprache, die ebenfalls diesem Motto als Struktur folgte. Unter Gemeinsam arbeiten sagte Papst Franziskus: „Diesbezüglich möchte ich unterstreichen, dass die katholische Kirche die besondere Wichtigkeit der Arbeit anerkennt, die die Kommission für Glaube und Kirchenverfassung leistet, und sie möchte weiterhin ihren Beitrag durch die Teilnahme hochqualifizierter Theologen erbringen. […] Ebenso sind die aktive Anwesenheit in der Kommission für Weltmission und Evangelisierung, die Mitarbeit mit dem Büro für den interreligiösen Dialog und in letzter Zeit die Kooperation hinsichtlich des wichtigen Themas der Erziehung zum Frieden sowie die gemeinsame Vorbereitung der Texte für die Gebetswoche für die Einheit der Christen und verschiedene andere Formen des vereinten Wirkens grundlegende Elemente einer soliden und erprobten Zusammenarbeit.“1
An die Kommission für Glaube und Kirchenverfassung denken im Normalfall alle, wenn es um die institutionell greifbare, seit Jahrzehnten gefestigte Zusammenarbeit zwischen dem ÖRK und der römisch-katholischen Kirche geht. Hier arbeiten seit 1968 römisch-katholische Kommissionsmitglieder mit, die vom Einheitsrat in Rom ernannt werden (erst zwölf von einhundertzwanzig, seit 2014 vier von vierzig). Dass es auch die Kommission für Weltmission und Evangelisierung gibt, zu der seit 1975 ebenfalls römisch-katholische Kommissionsmitglieder gehören 1 Franziskus, Ansprache bei der Ökumenischen Begegnung im Ökumenischen Zentrum in Genf, 21.6.2018, online abrufbar unter: http://w2.vatican.va/content/francesco/de/spee ches/2018/june/documents/papa-francesco_20180621_pellegrinaggio-ginevra.html (letzter Zugriff am 21.9.2018; A. M.; Herv. i. O.).
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(drei von dreißig), wird oft übersehen. Zudem bestimmt die Kongregation für die Evangelisierung der Völker unter den römisch-katholischen Missionsorden je zwei Männer- und zwei Frauenorden, die mit dieser Kommission als sogenannte ‚affiliierte Körperschaften‘ zusammenarbeiten. Ihr Status ist analog zu dem der evangelischen Missionsgesellschaften, die mit der Kommission für Weltmission und Evangelisierung kooperieren.2 Allerdings hat der Papst die dritte, oder eigentlich historisch gesehen die erste, institutionelle Brücke zwischen Genf und Rom bei dieser Ansprache vergessen, nämlich die Gemeinsame Arbeitsgruppe zwischen der katholischen Kirche und dem ÖRK. Sie existiert bereits seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Selbstverständlich möchte ich dieser Auslassung in einem Abschnitt der Papstrede, der weniger eine Pflichtliste römisch-katholischer Verbindlichkeiten als die Zusage unverbrüchlicher Zusammenarbeit gegenüber dem ÖRK war, keineswegs zu viel Gewicht beimessen. Es ist zu vermuten, dass die Details in so einem Redeteil eher von der Akribie des Ghostwriters in der Kurie als von den Vorlieben des Papstes selbst geprägt sind. Dass er die Gemeinsame Arbeitsgruppe schätzt, hat Papst Franziskus bereits früher unter Beweis gestellt.3 Dennoch möchte ich dieses kleine Vorkommnis zum Anlass nehmen, um über die Zukunft einer Ökumene der Institutionen, vor allem von Institutionen auf Weltebene, zu reflektieren. Weil dies an einem konkreten Beispiel anschaulicher vonstattengeht, wähle ich die Gemeinsame Arbeitsgruppe als ein solches Beispiel. Dem Blick in die Zukunft geht (1.) ein Blick zurück in die Geschichte voraus. Denn so erschließt sich, aus welchen Intentionen heraus die Gemeinsame Arbeitsgruppe ursprünglich entstanden ist und wozu solche Institutionen dienen. Es folgen (2.) generelle Überlegungen zur Institutionalisierung in der Ökumene. Im abschließenden Punkt (3.) komme ich auf potenzielle zukünftige Aufgaben im Hinblick auf ekklesiale Identität und kirchliche Einheit zu sprechen.
1. Erkenntnisse aus der Geschichte der Gemeinsamen Arbeitsgruppe Die Gründung der Gemeinsamen Arbeitsgruppe zwischen der katholischen Kirche und dem Ökumenischen Rat der Kirchen fällt noch in die Zeit des Konzils. Sie wird am 18. Februar 1965 ins Leben gerufen. Doch ihre Wurzeln reichen viel weiter zurück. Seit Mortalium animos4 im Jahr 1928 war ökumenisch gesinnten 2 Derzeit sind dies die Missionare Afrikas (MAfr), die Steyler Missionare (SVD), die Missionarinnen der Gesellschaft Mariens (SMSM) und die Schwestern Unserer Lieben Frau von den Aposteln (NDA). 3 Vgl. Franziskus, Ansprache beim Besuch des Weltkirchenrats in Genf zu dessen 70. Gründungstag, 23.6.2015, online abrufbar unter: https://w2.vatican.va/content/francesco/en/ messages/pont-messages/2015/documents/papa-francesco_20150623_messaggio-world-coun cil-of-churches.html (letzter Zugriff am 21.9.2018; A. M.). 4 Vgl. Pius XI., Enzyklika Mortalium animos. Über die Förderung der wahren Einheit der Religion, 6.1.1928, Nr. 10, in: Acta Apostolicae Sedis 20 (1928), 5–16.
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römischen Katholiken und Katholikinnen die Teilnahme an ökumenischen Treffen untersagt. Eine Wende schien sich anzubahnen, als im Dezember 1949 das Heilige Offizium mit De motione oecumenica (Über die Ökumenische Bewegung) eine umfangreiche Instructio veröffentlichte, die das stetig wachsende Verlangen nach Einheit „dem gnadenvollen Wehen des Heiligen Geistes“5 zuschrieb. Bis zur Ankündigung des Konzils 1959 waren auf römisch-katholischer Seite noch einige Rückschläge zu verbuchen. Doch auch in der Ökumenischen Bewegung sah man der Teilnahme der römisch-katholischen Kirche nicht ohne Vorbehalte entgegen. Aus Anlass der Instructio von 1949 fühlte sich z. B. der Exekutivausschuss des ÖRK berufen, „auf deren bedenkliche Folgen hinzuweisen und dabei besonders hervorzuheben, aufgrund der Lenkung und Überwachung ökumenischer Zusammenkünfte durch die römisch-katholische Hierarchie würden diese fortan ihren ‚informellen und spontanen Charakter verlieren‘ und es bliebe ‚weniger Raum für Pioniere‘.“6 Der ÖRK ist selbst eine Institution. Hieraus spricht also die Angst einer Institution vor einer anderen. Als ein Indikator, wie groß die Reserviertheit gegenüber der römisch-katholischen Kirche war, kann der sogenannte Rhodos-Vorfall gelten: 1959 tagte der ÖRK-Zentralausschuss auf Rhodos. Zwei römisch-katholische Priester, Johannes Willebrands (der spätere Sekretär und Präsident des Einheitssekretariats) und Jean-Christophe Dumont OP (später Leiter von Istina), waren als Journalisten akkreditiert. Dies war damals noch die einzige, von den römisch-katholischen Autoritäten erlaubte Möglichkeit, an Aktivitäten des ÖRK teilzunehmen. Dumont gelang es, ein inoffizielles Treffen mit einigen Orthodoxen zu arrangieren. Doch dieses ‚private‘ Treffen wurde von der Presse und der Leitung des ÖRK als Versuch verstanden, die Orthodoxen auf die römisch-katholische Seite zu ziehen und sie so Genf zu entfremden. Diese vermeintliche Verletzung des Gaststatus durch die beiden römischen Katholiken löste eine sehr schroffe Reaktion des ÖRK aus:7 Ein Treffen zwischen Vertretern des ÖRK und der römisch-katholischen Kirche, das für Oktober 1959 angesetzt war, wurde vom ÖRK abgesagt. Und obwohl sich das Missverständnis schnell klären ließ, blieb das Engagement der römisch-katholischen Kirche in der Ökumenischen Bewegung vielen sus5 Kongregation des Heiligen Offiziums, Über die ‚Ökumenische Bewegung‘, in: Herder Korrespondenz 4 (1949/50), 318‒320. Nach den lateinischen Anfangsworten wird der Text auch Ecclesia catholica genannt. 6 Heinz-Günther Stobbe, Konflikte um Identität. Eine Studie zur Bedeutung von Macht in interkonfessionellen Beziehungen und im ökumenischen Prozeß, in: Ökumenische Theologie. Ein Arbeitsbuch, hg. v. P. Lengsfeld, Stuttgart 1980, 190‒237, hier 227. 7 Vgl. The ‚Rhodes Incident‘ and its Aftermath. Minutes of the Meeting of the Executive Committee, Buenos Aires, February 8–12, 1960: „Dr. Visser ’t Hooft drew the following conclusions: a. He noted that the Vatican has decided to become more active about the whole ecumenical situation; but, b. he felt that the Vatican is still utterly unprepared for acting in this situation. Rome understands the ecumenical movement far less than other Catholic centres outside of Italy, and there is no place in the Vatican which is clearly responsible for ecumenical contacts.“
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pekt. Aufseiten des ÖRK herrschte die Angst, dass der römisch-katholische Eintritt in die Ökumenische Bewegung zu einer Polarisierung der ökumenischen Bemühungen führen würde, zum Dialog mit anderen Kirchen, aber nicht zum Dialog in Gemeinschaft mit anderen Kirchen.8 In der Folgezeit waren die beiderseitigen Beziehungen nach und nach von wachsendem Vertrauen getragen. Die römisch-katholische Kirche entsandte fünf Beobachter zur Dritten Vollversammlung des ÖRK in Neu-Delhi (1961); zwei römisch-katholische Beobachter nahmen im Jahr 1963 an der Weltmissionskonferenz in Mexiko City teil; im selben Jahr hielt der römisch-katholische Exeget Raymond Brown PSS einen Hauptvortrag bei der Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung in Montreal. Umgekehrt hatte der ÖRK vier Beobachter zum Zweiten Vatikanischen Konzil entsandt.9 Die Zeit für ständige Vertreter in Genf und Rom war noch nicht reif, doch es wurde immer deutlicher, dass die wachsende Zusammenarbeit ein Beratungsforum mit verlässlicher Struktur benötigte. Hier zeigte sich konkret, was allgemein gilt: „Weil Ökumene von der persönlichen Begegnung lebt, brauchen wir Räume der Begegnung – nicht nur für die Menschen vor Ort, sondern auch für diejenigen, die in der Kirche Verantwortung tragen, […]. Ökumenische Gremien und Institutionen sind in erster Linie Ausdruck eines gewachsenen und inzwischen auch gefestigten ökumenischen Miteinanders.“10
Am 15. April 1964, also Monate vor der Verabschiedung und Promulgation von Unitatis redintegratio (UR), begannen die Verhandlungen zwischen Kardinal Bea und ÖRK-Generalsekretär Visser ’t Hooft bei einem kleinen inoffiziellen Treffen in Mailand. Nun können aber weder der ÖRK noch die römisch-katholische Kirche einfach so eine neue Institution ins Leben rufen. Im Juli 1964 diskutierte der ÖRKExekutivausschuss bei einem Treffen in Tutzing, Deutschland, eine mögliche ‚Basis der Zusammenarbeit mit der katholischen Kirche‘. Weitere Details wurden während der folgenden Sitzungsperiode des Zweiten Vatikanischen Konzils geklärt, bei der die ÖRK-Beobachter den Plan sogar Papst Paul VI. persönlich vorlegten. In seiner Sitzung vom Januar 1965 in Enugu, Nigeria, schlug der Zentralausschuss des ÖRK vor, eine gemeinsame Gruppe zu gründen, welche die Prinzipien und praktischen Aufgaben der Zusammenarbeit zwischen dem ÖRK 8 Vgl. Lukas Vischer, The Activities of the Joint Working Group between the Roman Catholic Church and the World Council of Churches 1965‒1969, in: The Ecumenical Review 22 (1970), 36–69, hier 40: „[T]he fear was constantly expressed that the Roman Catholic entry into the ecumenical movement might lead to the polarisation of ecumenical efforts, to dialogue with other Churches but not to dialogue in fellowship with other Churches.“ 9 Diese waren Lukas Vischer und Nikos Nissiotis (Vollzeit) sowie Bischof John Sadiq und Professor Masatoshi Doi (Teilzeit). 10 Johannes Oeldemann, Räume der Begegnung. Ein Einblick in die Welt ökumenischer Gremien und Institutionen, in: Herder Korrespondenz Spezial 1/2010, 43‒47, hier 44.
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und der römisch-katholischen Kirche klären sollte.11 Während seines Besuchs in Genf am 18. Februar 1965 überbrachte Kardinal Bea die offizielle Antwort des Heiligen Stuhles, die ebenfalls positiv ausfiel.12 Vom 22. bis zum 24. Mai 1965 tagte also die Gemeinsame Arbeitsgruppe zum ersten Mal in Bossey, dem Ökumenischen Institut des ÖRK. Sie ist somit die älteste offizielle Dialoggruppe, mit der die römisch-katholische Kirche aufwarten kann. Dies bedeutete den Anbruch einer neuen Phase in den gegenseitigen Beziehungen, denn das Bestehen einer Gemeinsamen Arbeitsgruppe erlaubte sowohl der römisch-katholischen Kirche als auch dem ÖRK, Vorurteile zu überwinden und sich als verlässliche Partner im ökumenischen Dialog zu erweisen. Während der Anfangsphase ihrer Arbeit hatte die Gemeinsame Arbeitsgruppe zur Aufgabe, Möglichkeiten zum Gespräch und gemeinsamen Handeln zu erkunden, die dafür geltenden Prinzipien auszuarbeiten und angemessene Methoden vorzuschlagen. Besondere Probleme, die sich für die gegenseitigen Beziehungen ergeben, sind dadurch bedingt, dass die römisch-katholische Kirche und der ÖRK keine vergleichbaren Gebilde sind: die eine ist eine weltweite Kirche, der andere eine weltweite Gemeinschaft von National- und Regionalkirchen verschiedener Konfessionen. Neben der aktiven Förderung einer beständigen Zusammenarbeit zwischen Programmeinheiten des ÖRK und entsprechenden römisch-katholischen Partnereinrichtungen (v. a. in der Römischen Kurie) wurden in dieser Anfangsphase u. a. folgende Themen diskutiert: die Natur und die Voraussetzungen ökumenischer Dialoge, der gemeinsame Gottesdienst bei ökumenischen Zusammenkünften,13 die Suche nach einem gemeinsamen Osterdatum. Die wichtigste Frage, die im Raum stand, aber war: Ist es nach Eintritt der römisch-katholischen Kirche in die Ökumenische Bewegung noch möglich, von einer einzigen Ökumenischen Bewegung zu sprechen? Ist es nicht vielmehr so, dass es nun eine ÖRK-Version und eine römisch-katholische Version der Ökumene gibt? Vergleichen wir die Vorliebe der römisch-katholischen Kirche für bilaterale Dialoge mit der Gründungsvision des ÖRK, so zeigt sich, dass die Ökumenische Bewegung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufs Ganze gesehen von der ÖRK-Konzeption geleitet war. „Es wurde versucht, die Kirchen zu einer vorläufigen Gemeinschaft zusammenzuführen und so den Weg zur Einheit gemeinsam zu beschreiten. Die Gründung des Ökumenischen Rates der Kirchen (1948) war von diesem Gedanken bestimmt. In den sechziger Jahren 11 Vgl. Central Committee of the World Council of Churches, Relationships between the World Council of Churches and the Roman Catholic Church. Statement adopted by the Central Committee at Enugu, Januar 1965, online abrufbar unter: www.prounione.it/ dia/jwg/Dia-JWG-00-RELATIONS-WCC-RCC.pdf (letzter Zugriff am 21.9.2018; A. M.). 12 Vgl. Cardinal Bea and Pastor Boegner Meet at World Council, in: The Ecumenical Review 17 (1965), 127–134. 13 Seit Gründung der Gemeinsamen Arbeitsgruppe 1965 wird die Gebetswoche für die Einheit der Christen gemeinsam vorbereitet, seit 2004 sogar gemeinsam herausgegeben.
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beginnen aber die bilateralen Gespräche zwischen verschiedenen kirchlichen Traditionen eine größere Rolle zu spielen.“14
Wir haben es also mit zwei Paradigmen ökumenischer Dialoge zu tun: Das eine Paradigma verläuft entlang der Achse ‚multilateraler Dialog‘ – ÖRK – konziliare Gemeinschaft – unierte Kirchen; das andere entlang der Linie ‚bilaterale Dialoge‘ – Christliche Weltgemeinschaften – versöhnte Verschiedenheit – sich gegenseitig anerkennende Kirchen. Doch ist die Entstehung dieses zweiten Paradigmas nicht allein durch den Eintritt der römisch-katholischen Kirche in die Ökumenische Bewegung zu erklären. Vor allem die Arbeit von Glaube und Kirchenverfassung, die seit den 1950er Jahren ihre Methodik vom Vergleich konfessioneller Positionen hin zu einer Suche nach Konvergenzen verschoben hatte, hat den Kirchen deutlich gemacht, dass die bedeutsamen Übereinstimmungen in Glauben und Lehre den Rahmen für neue, direkte Begegnung bilden. Beide Paradigmata wirken nicht gegeneinander, sondern miteinander, ja vermischen sich mitunter. So ist die Gemeinsame Arbeitsgruppe beispielsweise ein bilateraler Dialog mit einem multilateralen Partner. Das wichtigste Ergebnis dieser Phase war unbestritten die gemeinsame Erkenntnis, dass es trotz allem nur eine Ökumenische Bewegung gibt und dass beide, die römisch-katholische Kirche und der ÖRK, ihr gemeinsam dienen. Schließlich hielten auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil die Konzilsväter das Ergebnis ihrer Diskussion der Prinzipien des Ökumenismus unter dem Titel ‚Katholische Prinzipien des Ökumenismus‘ (UR 2–4)15 fest; wohlgemerkt nicht unter ‚Prinzipien des katholischen Ökumenismus‘. In einem vergleichbaren Prozess hatte der ÖRK über seine eigene Rolle in der Ökumenischen Bewegung nachzudenken und kam zu der Einsicht, dass es möglich ist, nicht Mitglied im ÖRK zu sein und dennoch der Ökumenischen Bewegung zu dienen. Die Ökumenische Bewegung reicht weiter als der ÖRK. Diese neue, gemeinsam gewonnene Überzeugung hält der Zweite Bericht der Gemeinsamen Arbeitsgruppe folgendermaßen fest: „Der ÖRK und die Römisch-Katholische Kirche kommen durch ihren gemeinsamen Dienst bei der Förderung der ökumenischen Bewegung in enge Berührung. Dadurch werden beide Seiten gezwungen, ihre gegenseitigen Beziehungen unter ständiger Berücksichtigung ihrer Verschiedenheit zu definieren. Der ÖRK ist eine Gemeinschaft von Kirchen, während die Römisch-Katholische Kirche eine Kirche ist. […] Die wesentliche Frage, die immer wieder neu gestellt werden muß, ist folgende: Wie müssen die Beziehungen zwischen dem ÖRK und der Römisch-Katholischen Kirche gestaltet werden, damit 14 Harding Meyer et al., Einleitung, in: Dokumente wachsender Übereinstimmung. Sämtliche Berichte und Konsenstexte interkonfessioneller Gespräche auf Weltebene 1931‒1982, Bd. I, hg. v. dens., Paderborn 1983, 11‒20, hier 12. 15 Decretum de oecumenismo/Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, in: Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils. Konstitutionen, Dekrete, Erklärungen. Lateinisch-deutsche Studienausgabe (Herders theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil 1), hg. v. P. Hünermann, Freiburg i. Br. 2004, 211–241.
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sie von Christus Zeugnis ablegen und der von ihm für seine Kirche gewünschten Einheit besser dienen?“16
Auf der Basis dieser Erkenntnis, dass die Ökumenische Bewegung eine ist, ging die Gemeinsame Arbeitsgruppe sogar so weit, als plausibelste Form der Zusammenarbeit offiziell die Mitgliedschaft der römisch-katholischen Kirche im ÖRK in Erwägung zu ziehen und zu überdenken.17 Schließlich war die Gemeinsame Arbeitsgruppe nicht als Institution auf Dauer gedacht – sie ist eine Interimslösung, allerdings eine, die mittlerweile 55 Jahre alt ist und die seit den Siebzigerjahren de facto die Alternative zur Mitgliedschaft der römisch-katholischen Kirche im ÖRK bildet, auch wenn das nicht immer so klar war wie heute. In dieser Frage gab es bekanntlich hohe Erwartungen18 und große Enttäuschungen. Doch hat es sich für die Beziehungen zwischen ÖRK und römisch-katholischer Kirche letztlich als belebend und fruchtbringend erwiesen, dass es keine Veralltäglichung im Sinne einer routinemäßigen Eingliederung als gewöhnliche Mitgliedskirche gab. „Bei den Unterschieden, die zwischen der römisch-katholischen Kirche und dem ÖRK in Bezug auf die Struktur und den Handlungsstil bestehen, und solange die Frage nach den theologischen Implikationen des Beitritts einer Universalkirche zu einem Rat von Nationalkirchen ungelöst bleibt“,19 würde eine solche Mitgliedschaft zu mehr Problemen als Lösungen führen. Heute käme aus römisch-katholischer Sicht als weitere Hürde wohl hinzu, dass der ÖRK nicht mehr das einzige oder ‚privilegierte‘ Instrument der Ökumenischen Bewegung ist,20 sondern sich dieses Privileg mit Einrichtungen wie dem Global Christian Forum teilt. 16 Gemeinsame Arbeitsgruppe Ökumenischer R at der Kirchen/ Römisch-katholische Kirche, Zweiter offizieller Bericht 1967, in: Meyer et al. (Hg.), Dokumente, 597‒613, hier 598‒599 (wie Anm. 14). 17 Einen starken Anstoß dazu hatte das Grußwort gegeben, das P. Robert Tucci SJ an die Vierte Vollversammlung des ÖRK in Uppsala 1968 richtete. Die Gemeinsame Arbeitsgruppe ernannte eine Unterkommission, die sich mit theologischen, pastoralen und administrativen Aspekten eines solchen Schrittes auseinandersetzte. Deren 1972 veröffentlichter Bericht sprach sich stark zugunsten der Mitgliedschaft der katholischen Kirche im ÖRK aus. Allerdings hatte sich bereits Papst Paul VI. bei seinem Besuch in Genf im Juni 1969 gegen eine Vollmitgliedschaft im ÖRK ausgesprochen, da die Zeit noch nicht reif sei. Zu einem ähnlichen Ergebnis kamen die Plenaria des Einheitssekretariats. Dennoch war die Enttäuschung beim ÖRK groß, als im Vorwort zum Bericht der Gemeinsamen Arbeitsgruppe, der von Kardinal Willebrands und von Dr. Eugene Carson Blake, dem Generalsekretär des ÖRK, unterzeichnet war, erklärt wurde, dieser Schritt komme ‚in naher Zukunft‘ nicht in Frage (vgl. Basil Meeking, Die Katholische Kirche und der Ökumenische Rat der Kirchen, in: Die römisch-katholische Kirche [Die Kirchen der Welt 20], hg. v. W. Löser SJ, Frankfurt a. M. 1986, 415‒433, hier 420 f ). 18 Vgl. Joint Working Group, Patterns of Relationship Between the Roman Catholic Church and the World Council of Churches, in: The Ecumenical Review 24 (1972), 247–288, hier 254; auch als folgendes Dokument online abrufbar unter: http://www.prounione.urbe.it/ dia-int/jwg/doc/e_jwg_patn01.html (letzter Zugriff am 8.1.2019; A. M.). 19 Meeking, Katholische Kirche, 421 (wie Anm. 17). 20 Vgl. bereits Lukas Vischer, A Privileged Instrument of the Ecumenical Movement?, in: The Ecumenical Review 43 (1991), 90–99.
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2. Institutionalisierung als Sklerotisierung oder Konsolidierung? Bisher wurde gezeigt, wie eine ökumenische Institution wie die Gemeinsame Arbeitsgruppe global players der Ökumene einander näher gebracht und zu gemeinsamen Einsichten geführt hat. Eine Ökumene der Institutionen dient also der Aufgabe, Räume der Begegnung und des gegenseitigen Kennenlernens und Verstehens zu schaffen. Doch braucht die ökumenische Vision überhaupt Strukturen? „‚Festgefahrene Strukturen ersticken das ökumenische Miteinander. Da sitzen die Experten seit Jahren in ökumenischen Gremien zusammen, und in der Ökumene bewegt sich nichts!‘, so höre ich schon die Einwände.“21 Gewiss haben sich auch an der Basis Bewegungen institutionalisiert, z. B. Gebetsbewegungen, die zu den ältesten ökumenischen Basisbewegungen gehören. Doch sind ökumenische Strukturen für eine lebendige Ökumene nicht eher kontraproduktiv? Was hat es mit dem Prokrustesbett der Institutionalisierung in der Ökumene auf sich? Nach Max Weber geschieht die Veralltäglichung des Charisma bekanntlich, indem es „traditionalisiert oder rationalisiert (legalisiert) wird.“22 Für die Ökumene brachte der reformierte französische Theologe George Casalis diese Einsicht auf den Punkt: „Das ‚Drama des Ökumenismus‘, der ursprünglich zweifellos eine gewagte Bewegung prophetischer Pioniere gewesen ist, besteht darin, daß er […] Erfolg hatte und daß man ihn offiziell einstufte.“23 Dadurch sei nicht nur eine entlastende und versachlichende Wirkung entstanden, sondern Professionalisierung und Bürokratisierung seien in Konkurrenz zur prophetischen Vision der Ökumenischen Bewegung getreten. „Mit der Institutionalisierung paßt sich die Bewegung wieder dem abgelehnten System an; sie kann nun nur noch auf sozialstrukturell vorgegebenen Pfaden gegen das System protestieren – sie ist keine Alternative mehr.“24 Dies mag für jede andere Bewegung gelten. Für die Ökumenische Bewegung ist eine Institutionalisierung jedoch überlebenswichtig. Denn es ist für die ökumenische Vision essenziell, dass die Kirchen mit im ‚ökumenischen‘ Boot sind. Dafür ist ein institutioneller, organisatorischer Rahmen unabdingbar. Es ist also prinzipiell die Kombination zweier, in entgegengesetzte Richtungen verlaufender Tendenzen notwendig: eine charismatisch-visionäre Erneuerung und eine institutionelle Konsolidierung. Mit anderen Worten, die Ökumenische Bewegung will „einerseits eine Erneuerungsbewegung von unten sein […], eine risikobereite, auch Grenzen überschreitende und Mauern sprengende Reformbewegung, und […] andererseits den Dialog und die Kooperation der fest 21
Oeldemann, Räume, 43 (wie Anm. 10). Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (Grundriss der Sozialökonomie 3), Tübingen 1922, 143. 23 Georges Casalis, Die Zukunft des Ökumenismus, in: Die Zukunft des Ökumenismus (Ökumenische Perspektiven 1), hg. v. P. Lønning et al., Frankfurt a. M. 1972, 27‒66, hier 41. 24 Otthein R ammstedt, Soziale Bewegung, Frankfurt a. M. 1978, 169. 22
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institutionalisierten Kirchen, Konfessionen, Freikirchen und Gemeinschaften suchen“25. Letzteres führt naturgemäß zu einer gewissen Traditionalität und Konformität. Dadurch sind vielleicht keine großen Sprünge oder absolut revolutionäre Neuerungen möglich; dafür ist aber die Konsolidierung realistischer Schritte garantiert. Das Bestehen der Gemeinsamen Arbeitsgruppe und ihre Aufgabe, dass der ÖRK und die römisch-katholische Kirche ihre Beziehungen zueinander strukturell verbessern, bringen z. B. keineswegs mit sich, dass die ökumenische Idee ihre Anziehungskraft in dem Maße verlöre, in dem sie in die offizielle Programmatik der beiden Institutionen Eingang fände. Gefestigte Strukturen sind allerdings nicht dasselbe wie eine versteinerte Erstarrung. Dass etwas in geordneten Bahnen läuft, heißt nicht, dass es sich überhaupt nicht bewegt und vorwärts geht. Nachdem sie die Grenze zur Institutionalisierung überschritten hat, muss jede ökumenische Institution nach einem stabilisierten Spannungssystem von Ordnung und Freiheit sowie nach einer gesunden Balance zwischen Konsolidierung und vorwärts drängender Spontaneität trachten, soll ihr unvermeidliches Schicksal nicht die Sklerose sein. Indikatoren, dass das Gleichgewicht nicht stimmt, können eine Reihe von Kommunikationsproblemen sein, „deren wichtigstes seit einiger Zeit unter dem Stichwort ‚Rezeption‘ diskutiert wird“26 – übrigens auch von der Gemeinsamen Arbeitsgruppe.27 Ein weiterer Indikator ist die vorhandene oder nicht vorhandene Handlungsrelevanz. Ziel ökumenischer Institutionen ist es, Ansporn nicht nur zum gemeinsamen Nachdenken, sondern auch zum gemeinsamen Handeln zu geben. Blicken wir z. B. auf die aktuelle Arbeit der Gemeinsamen Arbeitsgruppe, so gaben ihre Empfehlungen zur gemeinsamen Friedensarbeit von ÖRK und römisch-katholischer Kirche bereits den Ausschlag dafür, dass sich vom 19. bis zum 21. August 2018 eine ÖRK-Delegation mit Vertretern der Katholischen Bischofskonferenz und der All Africa Conference of Churches vor Ort in der Demokratischen Republik Kongo für Frieden und gerechte Wahlen eingesetzt hat. Eine vergleichbare Zusammenarbeit gibt es seit Februar 2018 in Bogotá mit CELAM, der Konferenz lateinamerikanischer Bischöfe, für den Friedensprozess in Kolumbien. Die Brückenfunktion der Gemeinsamen Arbeitsgruppe kommt hier punktuell immer wieder konkret und aktiv ins Spiel. 25 Peter Lengsfeld, Konziliare Gemeinschaft und christliche Identität, in: ders. (Hg.). Theologie, 355‒367, hier 357 (wie Anm. 6). 26 Stobbe, Konflikte um Identität, 228 (wie Anm. 6). 27 Vgl. Gemeinsame Arbeitsgruppe, Neunter Bericht, Appendix A: Rezeption: Schlüssel zum ökumenischen Fortschritt, 2013, online abrufbar unter: https://www.oikoumene.org/ de/resources/documents/commissions/jwg-rcc-wcc/ninth-report-of-the-joint-working-group (letzter Zugriff am 21.9.2018; A. M.) bzw. Joint Working Group, Ninth Report (2012), Appendix A: Reception: A Key to Ecumenical Progress, in: Growth in Agreement. International Dialogue Texts, and Agreed Statements 2004‒2014, Bd. IV,2, hg. v. Th. Best et al., Genf 2017, 355–392.
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Hier zeigt sich deutlich: Institutionen und Gremien sind wichtig für die Ökumene, können aber die Zusammenarbeit vor Ort nicht ersetzen. Sie können theologisch untermauern, absichern, ermutigen, weiterdenken, eine Multiplikatorfunktion erfüllen. Doch Strukturen ökumenischer Zusammenarbeit vor Ort sind unerlässlich – auch für die Zukunft einer Ökumene der Institutionen auf Weltebene. Doch ökumenischer Fortschritt macht nicht nur Mut, sondern auch Angst. Das löst Gegenreaktionen aus, vor allem, wenn Bestätigung und Erhalt des status quo, mit dem man sich identifiziert hat, in Gefahr sind. Wenn ökumenisch letztlich nicht mehr herauskommen darf als eine auf konfessionellen Selbsterhalt ausgerichtete Bestätigung der vorhandenen Identitäten und Kirchendisziplinen, Strukturen und Glaubensvorstellungen, läuft sich jede geistliche und strukturelle ökumenische Erneuerungskraft mit der Zeit tot. Dieses Identitätenproblem hemmt die Handlungsrelevanz ökumenischer Arbeit. Vermutlich besteht darin das eigentliche Dilemma der Ökumene, dass es das Christliche nie neutral an sich gibt, sondern immer in Gestalt einer Konfession. Und die wirkliche Herausforderung der Ökumene liegt dann – wie Feuilletonredakteur Jens Jessen von DIE ZEIT mit Blick auf die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre28 bemerkt, „in der Gewöhnung daran, das Christentum stets nur in einem bestimmten konfessionellen Gewand vorliegen zu haben. Es plötzlich nackt und bloß zu sehen und die eigenen geliebten Einkleidungen als zufällig, vielleicht entbehrlich – das ist ein Schock, und vielleicht ein so großer, dass sich ihm in Wirklichkeit die wenigsten aussetzen wollen.“29
Die Kirchengeschichtsschreibung nannte den Vorgang konfessioneller Einkleidung im Zuge der Reformation Konfessionalisierung30 oder Konfessionsbildung. Wie Ernst W. Zeeden erläutert: „Unter Konfessionsbildung sei also verstanden: die geistige und organisatorische Verfestigung der seit der Glaubensspaltung auseinanderstrebenden christlichen Bekenntnisse zu einem halbwegs stabilen Kirchentum nach Dogma, Verfassung und religiös-sittlicher Lebensform.“31 28 Lutherischer Weltbund/ K atholische Kirche, Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre, online abrufbar unter: http://www.vatican.va/roman_curia/pontifical_ councils/chrstuni/documents/rc_pc_chrstuni_doc_31101999_cath-luth-joint-declaration_ ge.html (letzter Zugriff am 1.3.2019; A. M.). 29 Jens Jessen, Gemeinsam einsam, in: DIE ZEIT, 25.5.17, online abrufbar unter: https://www.zeit.de/2017/22/oekumene-katholiken-protestanten-kirchen (letzter Zugriff am 21.9.2018; A. M.). 30 Vgl. Heinz Schilling, Confessionalization in the Empire. Religious and Societal Change in Germany Between 1555 and 1620, in: Religion, Political Culture and the Emergence of Early Modern Society. Essays in German and Dutch History (Studies in Medieval and Reformation Thought 50), hg. v. dems, Leiden 1992, 205–245, hier 209–210. 31 Ernst W. Zeeden, Die Entstehung der Konfessionen. Grundlagen und Formen der Konfessionsbildung im Zeitalter der Glaubenskämpfe, München 1965, 9–10.
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Dies ist nicht nur eine Frage der Terminologie. Es handelt sich auch um das Errichten psychologischer, soziologischer und theologischer Barrieren. Grob gesprochen bezieht sich Identität auf die wesentlichen Charakteristika eines Individuums oder einer Gruppe. Im Fall einer Gruppe gibt sie Antwort auf die Frage ‚Wer sind wir?‘ und hilft klar zwischen einem ‚innerhalb‘ und ‚außerhalb‘, einer ‚in-group‘ und einer ‚out-group‘ zu unterscheiden.32 Die unterschiedlichen Identitätsmerkmale, die im 16. und 17. Jahrhundert z. B. zur Grenzziehung zwischen römischen Katholiken und Protestanten entwickelt wurden, dienten auch dazu, die Bindung innerhalb der ‚in-group‘ zu verstärken, um so unterschiedliche ekklesiale Identitäten zu schaffen. Sie markieren den Punkt, an dem es damals kein Zurück mehr gab, an dem die Einheit der Kirche im Westen zerbrochen war. Aufgabe der Ökumene heute ist es, diesen Punkt zu überwinden, dabei aber die gewachsenen Identitäten – so weit möglich – zu bewahren. Dies kommt einer Quadratur des Kreises gleich und ist unmöglich, sofern die Identitäten statisch für sich genommen werden und nicht in ihrer Verflechtung, ihrer Interdependenz und gegenseitigen Bedingtheit ernst genommen und zielgerichtet weiterentwickelt werden.
3. Aufgaben für die Zukunft Die wichtigste Aufgabe für eine Ökumene der Institutionen und die Ökumene allgemein scheint mir die Überwindung des eben skizzierten Identitätenproblems. Ökumenische Institutionen können hier eine Art think tank sein, um geeignete Konzepte und Methoden zur Erhöhung der Anpassungsfähigkeit oder Formbarkeit der jeweiligen Identitäten zu entwickeln. Wie so etwas für die Hermeneutik des bilateralen Dialogs aussehen kann, dafür mag die bereits genannte Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre33 als Beispiel gelten. Für den multilateralen Dialog steht ein entsprechendes hermeneutisches Konzept noch aus. Der postmoderne Wertverlust kirchlicher Einheit bedingt als Gegenreaktion das panische Pochen auf die eigene konfessionelle Identität. Gibt es einen Ausweg aus dieser ökumenischen Sackgasse? Wenn keine adäquate Hermeneutik entwickelt wird, prallen heute faktischer Pluralismus und theologisches Einheitsdesiderat ungeschützt aufeinander. Denn in der Welt von heute wird die faktische Pluralität heterogener, ganzheitlicher Daseinsdeutungen nicht nur konstatiert, sondern auch wertgeschätzt.34 Die Einheit, nicht die Pluralität bedarf heute der 32 Vgl.
Anthony P. Cohen, The Symbolic Construction of Community, London 1985. Weltbund/K atholische Kirche, Gemeinsame Erklärung (wie
33 Vgl. Lutherischer
Anm. 28). 34 Vgl. Max Seckler, Zeitgenössischer philosophisch-theologischer Kontext und ‚Dominus Iesus‘. Säkularisierung, Postmodernismus, religiöser Pluralismus, in: Pontificia Academia Theologica 1 (2002) 145‒171, hier 148.
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Rechtfertigung. Dies mündet in die Denkform des Pluralismus. Pluralismus impliziert eine positive Bewertung der Pluralität. Er zeugt von einer differenzierten Lebenswelt, die kein Zentrum und keine Einheit kennt. Es gibt kein Meta-System und keinen Super-Code, der alles zusammenbände. Die Begründung der Pluralität bringt auch die Begründung der Fallibilität aller Erkenntnisse mit sich. Die Gegenwartsmentalität hat die „Tendenz zur Relativierung der kulturellen, sozialen und religiösen Werte und Wahrheiten, mit allem, was an Subjektivismus, Eklektizismus und Synkretismus dazugehört.“35 Vor allem das Einheitsdenken wird kritisch zu destruieren gesucht. Die Synthetisierbarkeit des Pluralen in übergeordneten Einheitsmodellen erscheint weder wünschbar noch möglich. Es herrscht ein ausgeprägter horror unitatis. Diese Scheu und Abscheu gegenüber dem Begriff und der Idee der Einheit hat ihren Sitz im Leben auch in den Totalitarismuserfahrungen der Moderne bzw. in der daraus erwachsenden Totalitarismuskritik: „Wenn das Einheitsdenken zur Unterdrückung des Divergenten führt, muß es geächtet werden. […] Die pluralistische Option erscheint hier geradezu als ein moralisches Gebot.“36 Unter den Bedingungen der Endlichkeit liegt also in der Bejahung der Pluralität die Chance, dem Terror der Einheit zu entgehen. Prinzipiell sind zwei Möglichkeiten denkbar, die Idee der Einheit unter den Bedingungen des Pluralismus einzuholen. Entweder setzt sich auf lange Sicht faktisch eine zunächst partikulare Position mit ihrem universellen Anspruch durch – frei nach dem Motto ‚Das Bessere ist der Feind des Guten‘ – oder aber „[d]er plurale Prozeß selbst zeugt dafür, daß er sich unausweichlich in einem Wahrheitshorizont bewegt, der dem Streit Würde und Sinn verleiht, ohne daß bereits ausgemacht sein müßte, wohin der Weg führt. Wie der Begriff der Wahrheit, so ist auch die Frage nach ihrer Einheit schwierig geworden. Aber die Bejahung ihrer Pluralität und Komplexität muß nicht bedeuten, daß sie deswegen überhaupt preisgegeben sein müsse. Die Vervielfältigung der Rationalitäts- und Kognitionstypen schließt nicht aus, daß es für sie einen gemeinsamen kommunikativen Bezugspunkt geben kann. Das Eine Ganze und seine Wahrheit sind hier zwar dem Zugriff entzogen, aber das bedeutet nicht, daß sie aus dem Verkehr gezogen sind.“37
In diesem Zusammenhang kann für ökumenische think tanks ein Blick darauf erhellend sein, welche Auswege aus dem Pluralismus- und Relativismusdilemma in der säkularen Welt erwogen werden. Hier machten Vordenker wie der italoamerikanische Architekt Roberto Venturi (1925–2018) schon vor Jahren die „Verpflichtung auf das schwierige Ganze“/„The Obligation Toward the Difficult Whole“38 stark. In postmoderner Architektur sind die einzelnen Komponenten 35
Ebd., 159. Ebd., 168. 37 Ebd., 163. 38 Roberto Venturi, Komplexität und Widerspruch in der Architektur (Bauwelt-Fundamente 50), hg. v. H. Klotz, Braunschweig 1978, 136; ders., Complexity and Contradiction in Architecture (The Museum of Modern Art Papers on Architecture), New York, NY 21977 (Nachdruck 1992), 88. 36
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einerseits selbständig, andererseits Teile eines größeren Ganzen.39 Zur Illustration erläutert Venturi seine Theorie des ‚ganzen Fragments‘ am Beispiel der Piazza del Populo in Rom: Ein Gebäude kann auf einer Interpretationsebene ein Ganzes sein, auf einer anderen ein Fragment und damit Teil eines größeren Ganzen.40 Die beiden Zwillingskirchen Santa Maria in Montesanto (links, 1662–75 erbaut) und Santa Maria dei Miracoli (rechts, 1675–79 erbaut) bilden zusammen mit der Via del Corso eine Einheit. Die ‚inflektierenden‘ – wie Venturi das nennt – Türme der beiden Kirchen lösen ihre Dichotomie dadurch auf, dass sie implizieren, ihre Mitte liege in der sie teilenden Via del Corso. Gerade so bilden sie eine Einheit.41 Für sich genommen, auf der Ebene des ‚Programms einer Kirche‘, ist jede der beiden Kirchen vollständig und eine selbständige Einheit. Doch im Gesamtbild ist jede ein unvollständiges Fragment, nur Teil eines größeren Ganzen außerhalb ihrer selbst, auf das beide erst durch ihre einzigartig asymmetrischen Türme ausgerichtet sind.42 Dies illustriert Venturis Zeichnung (siehe Abbildung 1, S. 74).43 Er zieht daraus den Schluss: „[A]n architecture of complexity and contradiction has a special obligation toward the whole: its truth must be in its totality or its implications of totality. It must embody the difficult unity of inclusion rather than the easy unity of exclusion. More is not less.“44
Das eine Ganze ist damit als kommunikativer Bezugspunkt des Divergenten festgehalten. Weil aber die Teile auch durch ihren Ort im Ganzen bestimmt werden, reicht es nicht, sich nur mit den Teilen zu beschäftigen; man muss sich auch mit der Konstellation der Teile im Ganzen und zum Ganzen beschäftigen. Und sofern die Ökumenische Bewegung sich als Bewegung und nicht als Stagnation 39 Vgl.
Venturi, Complexity, 88 (wie Anm. 38): „Parts can be more or less whole in themselves, or, to put it in another way, in greater or lesser degree they can be fragments of a greater whole. Properties of the part can be more or less articulated; properties of the whole can be more or less accented. In the complex compositions, a special obligation toward the whole encourages the fragmentary part or, as Trystan Edwards calls it, the term, ‚inflection‘.“ 40 Vgl. ebd., 103: „An architecture that can simultaneously recognize contradictory levels should be able to admit the paradox of the whole fragment: the building which is a whole at one level and a fragment of a greater whole at another level.“ 41 Vgl. ebd., 94: „Inflection accommodates the difficult whole of a duality as well as the easier complex whole. It is a way of resolving a duality. The inflecting towers on the twin churches on the Piazza del Popolo resolve the duality by implying that the center of the whole composition is located in the space of the bisecting Corso.“ 42 Vgl. ebd., 103: „Each of the fragmental twin churches on the Piazza del Popolo, however, is complete at the level of program but incomplete in the expression of form. The uniquely asymmetrically placed tower, as we have seen, inflects each building toward a greater whole outside itself.“ 43 Vgl. ebd., 93. Quelle der Abbildung 1: Roberto Venturi (1925–2018): Complexity and Contradiction in Architecture, 1977. Object number 300064028. New York, Museum of Modern Art (MoMA). © 2019. Digital image, The Museum of Modern Art, New York/Scala, Florence. 44 Ebd., 16.
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versteht, wird sie sich mitunter auch um Änderungen dieser Konstellation der Teile zum Ganzen bemühen müssen. Auf das Beispiel von Venturi übertragen würde das bedeuten, dass das Argument ‚Santa Maria dei Miracoli ist keine Kirche im eigentlichen Sinn, weil sie ihren Turm links hat‘, nicht stichhaltig wäre. Im Gegenteil: Gerade um der Verpflichtung auf das schwierige Ganze willen muss sie diesen Unterschied zu Santa Maria in Montesanto aufweisen. Die divergierenden Positionen ‚inflektieren‘ auf einen gemeinsamen Bezugspunkt hin, wie schwer sich dieser auch fassen lassen mag. Dies liegt im Grunde auf der Linie einer Differenzierung zwischen einem ‚est‘ und dem ‚subsistit in‘ aus Lumen gentium 8 und Unitatis redintegratio 4.45 Zudem liegt es auf der Linie der eschatologischen Dimension von Einheit, die ein gleichzeitiges ‚Schon‘ und ‚Noch nicht‘ kennzeichnet. Eine Ökumene der Institutionen denkt das ‚ganze Fragment‘ und nimmt es in ihrer Arbeit anfanghaft vorweg. Deshalb schließe ich mit einem Paradox: Ökumenische Institutionen haben ihre ‚bleibende‘ Berechtigung insofern, als sie lernfähige Institutionen sind, die pionierhaft Erreichtes zunächst selbstverständlich zu machen suchen und sich dadurch Schritt für Schritt letztlich selbst überflüssig machen. Und dann darf man auch vergessen, sie zu erwähnen. 45 Vgl. Constitutio dogmatica de ecclesia/Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, in: Hünermann (Hg.), Dokumente 73–185, hier 83–86 (wie Anm. 15); Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio (wie Anm. 15).
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Verletzlichkeit als Chance Eine kritische Revision des lutherischen Kirchenbegriffs in ökumenischer Absicht Stefan Dienstbeck Was ist die Kirche im theologischen Sinne? Lutherische Theologie verweist hier zumeist auf den siebenten Artikel der Confessio Augustana aus dem Jahr 1530: „Est autem ecclesia congregatio sanctorum, in qua evangelium pure docetur et recte administrantur sacramenta.“1 Kirche ist – nicht mehr und nicht weniger – als die Zusammenkunft der Sancti, der Heiligen, oder wie wir heute sagen würden: der Glaubenden. Heilig sind Christinnen und Christen nämlich nur aus und im Glauben, dann aber – gemäß protestantischem Rechtfertigungsverständnis – völlig. Was ist mit dieser congregatio sanctorum, mit dem Zusammentreten der im Glauben Heiligen, genau gemeint? Zur Klärung eben dessen bedarf es der Beantwortung zweier Grundfragen, die sich im Terminus der Kirche als creatura verbi verdichten lassen, der im Folgenden das lutherische Kirchenverständnis erhellen soll: Zuerst geht es darum, welches Wesen die Kirche nach lutherischem Dafürhalten hat. Mit der Frage nach der Wesensbestimmung der Kirche ist die Suche nach dem gemeint, was die Kirche als solche charakterisiert und ausmacht, worin sie ihren Bestand und ihren Daseinsgrund findet und wozu sie sich beauftragt sieht. Aus der Wesensbestimmung der Kirche folgt die Frage danach, welche Gestalt eine als creatura verbi verstandene Kirche innehaben kann, soll oder muss. Damit ist auf die insbesondere innerprotestantisch virulente Kontroverse verwiesen, welcher Status der sichtbaren Kirche zukommt. Konkret muss erörtert werden, was Sichtbarkeit lutherisch bedeutet und welche Konsequenzen dies für den ökumenischen Dialog mit sich bringt.2 Entsprechend sollen zunächst in zwei Klärungsversuchen das Wesen (1.) und daraufhin die Gestaltwerdung (2.) dieses Wesens der Kirche aus der Warte lu1 Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, herausgegeben im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, Göttingen 121998, 61. 2 Vgl. die aktuelle Studie: Bernd Oberdorfer/ Oliver Schuegraf (Hg.), Sichtbare Einheit der Kirche in lutherischer Perspektive. Eine Studie des Ökumenischen Studienausschusses/Visible Unity of the Church from a Lutheran Perspective. A Study by the Ecumenical Study Committee, Leipzig 2017; sowie Bernd Oberdorfer, Gelebte Gemeinschaft. Ökumene in lutherischer Perspektive, Hannover 2018.
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therischer Tradition näher betrachtet werden. Hierbei wird traditionell an den Artikel 7 der Confessio Augustana (CA VII) angeknüpft, der jedoch von einem Verständnis der Kirche als creatura verbi her erhellt wird. Sodann wird der Befund von der negativen Seite her als Hürde (3.) und schließlich als Chance (4.) für den ökumenischen Dialog der Gegenwart ausgewertet. Der letzte Punkt soll zugleich den Versuch unternehmen, die titelgebende Verletzlichkeit als neue Methodik in der Ökumene einzuführen.
1. Klärungsversuch eins: Das Wesen der Kirche Grundsätzlich ist die Kirche nach lutherischer Auffassung – wie erwähnt – im siebenten Artikel der Confessio Augustana bestimmt als „congregatio sanctorum, in qua evangelium pure docetur et recte administrantur sacramenta“. Die Zusammenkunft derjenigen, die an Christus glauben, macht mithin die Kirche in ihrem Grundbestand aus. Dabei muss zunächst offen bleiben, ob es sich um ein Zusammentreten aller Christen handelt oder ob mit dem Begriff der congregatio primär oder zumindest in erster Assoziation an die versammelte Gottesdienstgemeinde zu denken ist. Dass beides nicht voneinander getrennt werden kann, darf nicht nur lutherisch, sondern allgemeinchristlich als Grundsatz angenommen werden.3 Auch die Frage nach der Erstursprünglichkeit von Kirche und glaubenden Christen lässt sich nicht einfach konfessorisch auflösen. Im Anschluss an Wolfhart Pannenberg ist die Kirche nicht als vorhergehende Form zu begreifen, in der sich die Christen allererst sammeln; genauso wenig allerdings kann von einem Vorhandensein einer Christenmenge gesprochen werden, mit der nicht schon ipso facto die Kirche als solche mitgegeben wäre.4 Nach einem Prius von Kirche oder Christenheit zu fragen, lässt sich ökumenisch wahrscheinlich als 3 Vgl. paradigmatisch das Studiendokument: Die Kirche. Lokal und universal. Ein von der Gemeinsamen Arbeitsgruppe der Römisch-katholischen Kirche und des Ökumenischen Rates der Kirchen in Auftrag gegebenes und entgegengenommenes Studiendokument, 1990, in: Dokumente wachsender Übereinstimmung. Sämtliche Berichte und Konsenstexte interkonfessioneller Gespräche auf Weltebene, Bd. II, hg. v. H. Meyer et al., Paderborn 1992, 732–750. Hier wird insbesondere auf die Bedeutung der Ortskirche verwiesen, die „wahrhaft Kirche“, d. h. im Vollsinne und unbeschränkt Kirche ist (vgl. ebd., 238). 4 Vgl. Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. III, Göttingen 1993, 115: „Wird die Kirche durch den Zusammenschluß der gläubigen Individuen gebildet? Ist nicht vielmehr umgekehrt der Glaube des einzelnen als immer schon durch die Kirche vermittelt zu denken, so daß der Kirche die Priorität vor den einzelnen Christen zukäme? Was aber wäre die Kirche, wenn nicht Gemeinschaft von an Jesus Christus glaubenden einzelnen?“ Hieraus folgert Pannenberg: „Die Kirche kann offenbar nicht in jeder Hinsicht als dem individuellen Glauben vorangehend gedacht werden. Andererseits wäre es aber auch verfehlt, die Gemeinschaft der Kirche als etwas sekundär zum Glauben des einzelnen Christen Hinzutretendes zu denken.“ (Ebd.). Vgl. zu Pannenbergs Ekklesiologie in ökumenischer Hinsicht: Stefan Dienstbeck, Extra ecclesiam nulla salus? Ein ökumenischer Blick auf die Verhältnisbestimmung von Individualität und Sozialität in Wolfhart Pannenbergs Kirchenverständnis, in: Kirche und Reich
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Abstraktion in systematischer Hinsicht und historisch als je konstruiert bestimmen. Davon unbenommen sind alle konfessionellen Differenzen über die Frage, ob die Kirche Vorrang vor der Tradition, einschließlich der Bibel, hat oder ob die Kirche selbst Konsequenz eben jener Traditionselemente ist, wie sie etwa biblisch für die frühen Gemeinden geschildert werden.5 Die Kirche jedenfalls ist genauso wenig als leere Instanz zu denken, der die Gläubigen erst zukommen, wie die Christen in ihrer Gesamtheit als ‚kirchenlos‘, d. h. als erst in eine bestimmte Form der Gemeinschaft zu überführen, vorstellig werden können. Insofern lässt sich von einer ‚Gleichursprünglichkeit von Kirche und Christenheit‘ sprechen6 – für die Wesensbestimmung der Kirche dürfte die Frage, was zuerst aufgetreten sei, jedenfalls als Beitrag für die ökumenische Gesamtmeinung unerheblich sein. Als Gemeinschaft der Glaubenden lässt sich die Kirche mit der zwar nicht direkt von Luther stammenden,7 aber gut lutherischen Formel der Kirche als creatura verbi fassen, also als Geschöpf des Wortes. Hierzu bedarf es jedoch einer genaueren Bestimmung, was creatura verbi – in beiden Wörtern – bezeichnen möchte und wie sich die Definition der Kirche als creatura verbi auf das Wesen der Kirche auswirkt. 1.1 Kirche als Geschöpf Zwar erweist sich die Bezeichnung der Kirche als creatura verbi – bzw. als filia verbi, wie Luther selbst formulieren kann8 – als nahezu tautologisch, weil Schöpfung durch das Wort erfolgt. Doch lässt sich trotzdem zunächst die Geschöpflichkeit der Kirche und anschließend die Pointierung des lutherischen Verständnisses vom Wort anführen. Versteht man die Kirche als Geschöpf, so bedeutet dies für das Wesen der Kirche zunächst und unmittelbar ihre Gleichordnung mit allem anderen, was nicht unmittelbar Gott ist. Wie jede Form eines Geschöpfes sein Dasein aus Gott und seiner schöpferischen Begleitung erhält, so verdankt sich auch die Kirche völlig dem Sein aus Gott. Nicht aus sich selbst, sondern aus Gott und von ihm her ist die Kirche. Dies bedeutet wiederum, dass die Kirche Gottes. Zur Ekklesiologie Wolfhart Pannenbergs (Pannenberg-Studien 3), hg. v. G. Wenz, Göttingen 2017, 115–144. 5 Vgl. zum Thema Kirche und Tradition: Bernd Oberdorfer/ U we Swarat (Hg.), Tradition in den Kirchen. Bindung, Kritik, Erneuerung (Beihefte zur Ökumenischen Rundschau 89), Frankfurt a. M. 2010. 6 Dies gilt vor allem und zumal, wenn eine historische Rekonstruktion eines Werdens der Kirche im Urchristentum keine befriedigenden Ergebnisse liefert, die theologisch verwertbar wären. 7 Vgl. hierzu: Albrecht Beutel, In dem Anfang war das Wort. Studien zu Luthers Sprachverständnis (Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie 27), Tübingen 1991, 450. 8 Vgl. Martin Luther, Vorlesung über 1. Mose. Caput Octavum Genesis, in: Martin Luthers Werke, Bd. XLII, hg. v. G. Roffmane/O. Reichert, Weimar 1911, 335–354, hier 334,12.
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ihren Grund nicht in sich selbst, sondern außer sich findet. Wesentlich ist die Kirche also bezogen auf ihren göttlichen Grund und damit auf ihr Fundament, das in gut protestantischem, aber genauso allgemeinchristlichem Sinne nur eines sein kann, nämlich Jesus Christus. Ist kirchlich aber kein anderer Grund gelegt als Jesus Christus, dann ist die Kirche nicht nur prinzipiell, sondern wesensmäßig dem einzelnen Glaubenden gleichgestellt. Anders formuliert: Zwischen glaubendem Individuum und Kirche besteht kein Unterschied in Fragen der Konstituierung des eigenen Daseins. Wie die Christen je für sich und als Gemeinschaft extra se in Christo leben, so auch die Kirche.9 Diese Wesensfeststellung der Kirche lässt sich sogar noch steigern, wenn man das Sein der Kirche nicht als ein An-und-für-sich-Sein, sondern als ein Dasein versteht, das gänzlich in der Funktion für diejenigen aufgeht, die sie bilden. In diesem Punkt unterscheidet sich das Geschöpf Kirche dann allerdings von allen anderen Geschöpfen, die ihr Für-sich-Sein zwar aus Gott empfangen, dieses aber – sei es in sündhafter Verkehrung oder im Glauben – als für sie selbst wissen dürfen. Die Kirche findet hingegen ihre Daseinsberechtigung in der schlechthinnigen Proexistenz für die Gemeinschaft der Glaubenden beschlossen, welche sie selbst ist. Insofern ist sie ihrem Fundament Jesus Christus gleich, weil sie wie er nicht sich selbst lebt, sondern in der ‚Existenz für‘ völlig aufgeht. Sind auch Einzelchristin und Einzelchrist zur Nachfolge Christi berufen und damit eingesetzt in die Proexistenz für ihre Nächsten, so gilt dies für die Kirche in besonderer Weise, weil sie – dies lässt sich pointiert sagen – nur auf ihre Funktion hin überhaupt geschaffen ist. In diesem Punkt unterscheidet sie sich von ihrem Fundament Christus, das seine Fortsetzung auch konsequenterweise nach dem Johannesevangelium im Geist und nicht in der Kirche findet, auch wenn die Kirche natürlich wiederum als Kreatur des Geistes zu verstehen ist und somit dogmatisch unter die Pneumatologie fällt – und nicht etwa umgekehrt die Pneumatologie in den Rahmen der Ekklesiologie. Insofern erweist sich die Kirche auch in Luthers Diktion als filia verbi und nicht etwa als mater verbi.10
9 Vgl.
auch hierzu: Pannenberg, Systematische Theologie, 142–155 (wie Anm. 4), der zu Recht im lutherischen Sinne das Dasein der Kirche als reinen Für-Bezug beschreibt und sich dabei auf die Formulierung von Lumen gentium 8 bezieht, dass die Kirche Werkzeug und Zeichen sei, das nicht eine Eigenexistenz führe, vgl. Constitutio dogmatica de ecclesia/ Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, in: Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils. Konstitutionen, Dekrete, Erklärungen. Lateinisch-deutsche Ausgabe (Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil 1), hg. v. P. Hünermann, Freiburg i.Br. 2004, 73–185, hier 83–86. 10 Vgl. Luther, Vorlesung über 1. Mose, 334,12 (wie Anm. 8) („Ecclesia enim est filia, nata ex verbo, non est mater verbi.“) sowie den Verweis auf die Stelle bei Beutel, In dem Anfang, 450 (wie Anm. 7).
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Kirche wird die Kirche also gerade nicht in Selbstbehauptung, sondern in Selbstbescheidung, ja in Selbstrelativierung angesichts ihrer Aufgabe, die sich laut CA VII eben in den sichtbaren Formen ihrer Existenz, nämlich in der Verkündigung des Evangeliums sowie in der Zelebration der Sakramente, erschöpft. Für das Wesen der Kirche bedeutet ihr Geschöpfcharakter somit eine Gleichordnung zu aller anderen Schöpfung und zugleich eine permanente Verwiesenheit auf ihren Grund, Christus Jesus. Ohne diesen Grund ist die Kirche nicht nur nicht, sondern würde im Gegenteil zu ihrem Gegenteil mutieren, sofern sie sich auch ‚grundlos‘ zu behaupten versuchte. Insofern gibt es das Wesen der Kirche nicht an sich, sondern immer nur im Zusammenhang mit dem Grund, der sie konstituiert. 1.2 Kirche und Wort Mit dem Wort Gottes verbinden sich in der christlichen Tradition verschiedene Assoziationen. So kann damit das von Gott gesprochene Wort im direkten Sinne gemeint sein, welches an den Menschen ergeht – zu denken wäre insbesondere an Gestalten des Alten Testaments – und als Offenbarungsmoment dient. Zugleich ist die Bibel als Gotteswort im Menschenwort das Zeugnis des christlichen Gottes, in dem er sich selbst offenbart, und zwar nicht nur, aber insbesondere nach protestantischem Verständnis zum vollen und hinreichenden Heil des Menschen. Das verbum Dei kann darüber hinaus aber auch als gepredigtes Wort sowie in der leibhaft zugänglichen Form der Sakramente auftreten. Das Wort Gottes setzt das eigentliche Schöpfungsgeschehen des Gottes neu- wie alttestamentlicher Tradition frei. Der Mensch als Ebenbild des durch das Wort schaffenden Gottes ist selbst das Wesen, welches vermittels Wort bzw. Sprache seine Welt benennt und sie damit überhaupt erst der Erfahrung aufschließt. Zuletzt hat der Johannesprolog den Sohn Gottes selbst prominent als logos und damit als verbum Dei benannt. Das ‚Wort Gottes‘ ist von Johannes her interpretiert schon vor aller Zeit Teil der göttlichen Trinität, der als letztgültige Offenbarung und Vorwegnahme des Eschatons im Menschen Jesus Christus begegnet. Spricht man von der Kirche als creatura verbi, als Geschöpf des Wortes, dann lässt sich zunächst und unmittelbar das schöpferische Gotteswort damit verbinden. Die Kirche ist also, wie unter Abschnitt 2.1 dargestellt, in erster Linie Schöpfung Gottes. Das Wort vermag im Menschen aber noch mehr als die Hervorbringung der bloßen Existenz. Als Sünder ist der Mensch gerade nicht aus dem Wort geboren, sondern steht ihm vielmehr gegenüber. Heiligkeit bezieht der Mensch – wie alles, was als heilig bezeichnet werden kann – nach Luther daher nur und ausschließlich aus dem Wort. Dies betont Albrecht Beutel in seinen Studien zum Sprachverständnis Luthers: „Denn gerade was die Heiligkeit des Wortes Gottes angeht – daß es heilig ist und heilig macht –, duldet Luther
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keinen Zweifel an dessen uneingeschränkter Exklusivität: Gottes Wort ist das alleinige Heiligtum, das allein alle Dinge heiligt.“11 Konsequenterweise ist es auch der Glaube, der den Menschen trotz und in seinen Sünden heiligen kann. Wo das Wort wirkt, gibt es keinen Bereich, welcher der Heiligkeit entnommen werden könnte: „[N]emo sine peccatis vivit. Sed tanta vis verbi est, ut ista omnia absorbeat“12. Sind Glaube – der durch das Wirken des Wortes entsteht – und Wort somit aufs Engste miteinander verbunden, so hat dies bei Luther ekklesiologische Folgen: Wo Christen das Wort Gottes hören, „fit communio Sancta“13. Wo das Wort also Glauben wirkt oder anders formuliert: heiligend auftritt, da ist auch Kirche. Luther kann dies auf die verdichtete Formel bringen: „Ubi est verbum, ibi est Ecclesia.“14 Das Wort ist systematisch gesprochen also notwendige wie hinreichende Bedingung der Möglichkeit von Kirche. Es bedarf nur und ausschließlich des Wortes, dass Kirche ist. Dazu hält Luther auch fest: Kirche ohne Wort ist undenkbar, das Wort Gottes kann allerdings durchaus ohne Kirche auftreten, wie es sich etwa in Gestalt der Bibel zeigt.15 Das Wort kommt also nicht automatisch in der Kirche vor – umgekehrt ist jedoch dort Kirche, wo das Wort auftritt. Die Wohnstatt Gottes lässt sich also dort ausmachen, wo sein Wort gesprochen, gehört und geglaubt wird. Hier lässt sich systematisch rückfragen, ob nicht in diesem Kontext von zwei verschiedenen Kirchenbegriffen ausgegangen wird. Einerseits soll es nach Luther das Wort auch ohne Kirche, etwa in Gestalt der biblischen Schriften, geben, zugleich ist aber immer dort Kirche, wo sich Gottes Wort zur Sprache bringt. Im ersten Fall scheint ein institutioneller Charakter der Kirche angesprochen, wenn eine räumliche Trennung von Rezeption des Wortes Gottes und Kirchensphäre ausgemacht wird. Wenn allerdings dort Kirche ist, wo das Wort Gottes sich zeigt, dann gibt es Kirche auch jenseits der institutionell verfassten Kirchenheit, ja es muss Kirche geben, weil sie unmittelbar dort identifiziert wird, wo das Wort Gottes ist. Dies verweist aber bereits auf die Frage nach der Gestalt der Kirche, wie sie im Folgenden gestellt werden soll. 11
Beutel, In dem Anfang, 446 (wie Anm. 7; Herv. i. O.). Martin Luther, Vorlesung über 1. Mose, Caput XXVI, in: Martin Luthers Werke, Bd. XLIII, hg. v. O. Reichert, Weimar 1912, 430–496, hier 431,34 f, angeführt bei Beutel, In dem Anfang, 446 f (wie Anm. 7). 13 Martin Luther, Predigt 34 (17.5.1529). Predigt am Pfingstmontag, in: Martin Luthers Werke, Bd. XXIX, hg. v. P. Pietsch, Weimar 1904, 358–364, hier 365,2 f. 14 Martin Luther, Disputatio D. Iohannis Machabei Scoti Praeside D. Doctore Mart. Luthero, in: Martin Luthers Werke, Bd. IXL,2, hg. v. G. Bebermeyer, Weimar 1932, 149–184, hier 176,8 f. 15 Vgl. Beutel, In dem Anfang, 449 (wie Anm. 7), mit Verweis auf Martin Luther, Predigt 17 (15.3.1525). Fortsetzung der Predigten über das Matthäusevangelium, in: Martin Luthers Werke, Bd. XVII,1, hg. v. G. Buchwald, Weimar 1907, 92–101, hier 99,7–9: „Dic mihi, an verbum sit uber Christenheit an econtra? muss verbum an die Christenheit glauben vel econtra? Verbum potest esse sine ecclesia, non econtra.“ 12
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2. Klärungsversuch zwei: Die Gestalt der Kirche Von den Reformatoren wurde die Kirche als solche niemals in Frage gestellt. Wesenhaft ist die Kirche als Geschöpf Gottes mit allen Christen koexistent. Nicht umsonst beginnt der bekannte siebte Artikel der Confessio Augustana deshalb mit einem Bekenntnis zur auf Ewigkeit bleibenden Kirche. Gerade gegen den ‚linken Flügel‘ der Reformation und in Übereinstimmung mit den Altgläubigen sollte die Bedeutung der Kirche nicht nur in ihrem Wesen, sondern auch in ihrer gestalthaften Präsenz für die Glaubenden eingeschärft werden. Dennoch lässt sich schwer bestreiten, dass das auf das Wort und sein Wirken reduzierte Wesen der Kirche die Tendenz in sich trägt, sich von den Schranken der Form befreien zu wollen. Dies lässt sich historisch bereits in unterschiedlichen institutionskritischen bis -feindlichen Tendenzen des Protestantismus sowie der Betonung des Individualglaubens erkennen. In manchen liberal- und kulturprotestantischen Linien wird der Kirchenbegriff bisweilen zugunsten des Glaubens und seiner extraekklesialen Realisierung marginalisiert. Damit wird nicht die Kirche an sich in Frage gestellt, die untrennbar am Glaubensbegriff und seiner Sozialität hängt. Allerdings werden der Individualglaube sowie diejenige Form der Kirche favorisiert, die sich nicht in institutioneller Verfassung befindet. Die una, sancta, catholica et apostolica ecclesia wird zwar gemeinchristlich völlig zu Recht von einer unmittelbaren Identifizierung mit einer irdischen Institution abgehoben;16 wo jedoch Tendenzen vorliegen, in denen die Grenzlinie entweder eingezogen oder in entgegengesetzter Schlagrichtung so verschoben wird, dass die Bedeutung der Institution Kirche zu verschwinden droht, muss von lutherischer Seite Kritik um der Kirche und ihres Auftrags willen geübt werden. Die Frage, welche Gestalt der Kirche wesensgemäß ist, äußert sich theologisch und ökumenisch primär in zwei Themenfeldern: Einerseits und aus lutherischer Sicht primär ist nach der notwendigen Sichtbarkeit oder Unsichtbarkeit der Kirche zu fragen, was auch unmittelbare Konsequenzen für die Konzepte ökumenischer Einigung und Einheit nach sich zieht. Hierbei kann auf die im Jahr 2017 erschienene VELKD-Studie Sichtbare Einheit der Kirche in lutherischer Perspektive verwiesen werden.17 Andererseits sind mit der Suche nach der konkreten Gestalt von Kirche die Fragen danach gestellt, wie die Hinordnung von rechter Evangeliumspredigt und stiftungsgemäßer Sakramenten16 So ist dies tendenziell sogar im römischen Katholizismus seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil zu verzeichnen. 17 Vgl. Oberdorfer/S chuegraf (Hg.), Sichtbare Einheit (wie Anm. 2); online abrufbar mit abweichender Paginierung als: Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands (VELKD), Sichtbare Einheit der Kirche in lutherischer Perspektive. Eine Studie des Ökumenischen Studienausschusses (Texte aus der VELKD 176), online abrufbar unter: http://www.velkd.de/publikationen/texte-aus-der-velkd.php?publikation=422&kategor ie=22 (letzter Zugriff am 20.12.2018; S. D.).
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verwaltung zu den traditiones humanae vorzustellen ist, die in CA VII nicht eindeutig spezifiziert werden, und welche Bedeutung das kirchliche Amt bzw. die kirchlichen Ämter für das Wesen der Kirche haben. 2.1 Wie viel Sichtbarkeit braucht die Kirche? Für lutherische Theologie ist es essenziell, zwischen der verborgenen Kirche, welche als Leib Christi die eine Kirche ist, und der sichtbaren Form der Kirche zu unterscheiden, die sich durch verschiedene Formen der Realisierung ergibt. Eindeutigkeit herrscht jedoch im lutherischen Lager keineswegs darüber, welche Bedeutung der sichtbaren Kirche für die unsichtbare zukommt. Die lutherischen Bekenntnisschriften geben zumindest dahingehend einen Anhaltspunkt, als sie zwischen den Kernaufgaben der Kirche, die nicht der Variabilität anheimfallen dürfen – Wortverkündigung und Sakramentenfeier –, und einer peripheren Kirchlichkeit unterscheiden. Die Sichtbarkeit, welche für die Realisierung des kirchlichen Kerngeschäfts conditio sine qua non ist, gehört damit aber unaufgebbar zum lutherischen Kirchenbegriff hinzu. Anders formuliert: Ohne sichtbare, d. h. auch institutionell organisierte Kirche, lassen sich die lutherischen Forderungen an die Kirche nicht realisieren. So formuliert die Studie von Bernd Oberdorfer und Oliver Schuegraf eindeutig: „Die konkrete Gestaltung des kirchlichen Lebens findet ihr Kriterium darin, dass sie die Grundvollzüge der Verkündigung des Evangeliums und der Sakramentenspendung fördert und auf sie verweist.“18 Diese zu gewährleisten, bedarf es jedoch einer bestimmten Fassung der Kirche – oder anders formuliert: der Institution. Das Amt, das später noch thematisiert werden soll, spielt unter Verweis auf CA V selbstverständlich ebenfalls in diesen Horizont hinein. Lässt sich lutherischerseits keine grenzscharfe Definition davon geben, wie viel an Sichtbarkeit für die Erfüllung der ekklesialen Grundfunktionen notwendig ist, so muss sich jedenfalls die Kirche immer auf ihren Grund zurückführen lassen. Das biblische Zeugnis von Jesus Christus bildet somit das Kriterium für das Kirchesein von Kirche auch in ihrer Gestaltform.19 Zwar findet sich in der Bibel – insbesondere mit Blick auf die frühen Gestalten des Christentums in der Briefliteratur – keine eindeutige Organisationsform oder Struktur; doch lässt sich umgekehrt auf die geforderte Verkündigung und Bezeugung der Christusbotschaft verweisen, deren Umsetzung der menschlichen und damit kirchlichen Form bedarf. Kennt das Evangelium also keine bestimmte Gestalt seiner Umsetzung, so muss umgekehrt festgehalten werden, dass es einer Gestalt bedarf, um die Verkündigung der Christusbotschaft zu gewährleisten. Sichtbarkeit und konkrete Form sind der Kirche mithin nicht äußerlich, sondern gehören ihr 18 19
Oberdorfer/S chuegraf, Sichtbare Einheit, 17 (wie Anm. 2). Vgl. ebd., 31 f.
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unaufgebbar hinzu. Über die genaue sichtbare Verfasstheit der Kirche ist damit aber noch nichts ausgesagt. Die Bestimmung der Kirche in CA VII schließt es bei aller Unschärfe in der Definition aus, dass Kircheneinheit möglich sei, sofern über die Grundaufgaben der Kirche kontrovers geurteilt wird. Die Frage nach der Sichtbarkeit der Kirche wird lutherisch daher nicht mit einer Beliebigkeit der Gestalt beantwortet; im Gegenteil müssen kirchliche Form und konkrete Gestaltung die Kernaufgabe von Kirche, welche sich in Wortverkündigung und der Zelebration des verbum visibile verdichtet, ermöglichen und bestmöglich realisieren. Lutherische Ekklesiologie versucht deshalb zwischen klarer Aufgabenbeschreibung für die sichtbare Kirche und pluraler Realisierungsform zu unterscheiden. Diese Differenzierung betrifft auch das ökumenische Verständnis dahingehend, dass nicht über die Art und Weise bestimmter Formen der Realisierung kirchlicher Kernaufgaben Einheit bestehen muss, wohl aber über die Grundannahmen in Evangeliumspredigt und Sakramentenverwaltung. Letzteres lässt sich jedoch nicht auf die Lehre reduzieren, sondern benötigt konkrete Gestaltungsformen. In Anlehnung an die Studie des Ökumenischen Studienausschusses (ÖStA) lässt sich analog zum biblischen Befund nicht von „Einstimmigkeit“, sondern von „Polyphonie“ sprechen.20 Die Lebensformen der Kirche können und dürfen plural sein, sofern sie dem dienen, was die Kirche im Wesen ist, nämlich creatura verbi. Wie in diesem Zusammenhang das kirchliche Amt zu beurteilen ist, bildet eine der Kernkontroversen des interkonfessionellen Dialogs. 2.2 Kirchliches Amt und Kirchenleitung Die aus der reformatorischen Bewegung des 16. Jahrhunderts hervorgegangenen Kirchen haben oftmals die hierarchisch und strukturell gegliederte Form der Kirche, wie sie im römischen Katholizismus, aber auch in den orthodoxen Ostkirchen vorherrscht, nicht oder zumindest nicht vollständig im selben Verständnis bewahrt. Dazu zählt auch die apostolische Sukzession in ihrer historischen Dimension, auf die das Themenfeld häufig zugespitzt wird. Dass es ein ‚offizielles‘ Amt gibt und geben muss, hält CA V nachdrücklich fest. Um der Evangeliumsverkündigung und der Sakramentenverwaltung sowie der mit ihnen verbundenen Ordnung willen hat das Amt als göttlich eingesetzt zu gelten. Zur Gemeinschaft mit anderen Kirchen gehört deshalb auch die Gemeinschaft im Amt, was noch nicht heißt, dass analoge oder gar identische Amtsstrukturen wesensmäßig für das lutherische Kirchenverständnis wären. Jedoch ist das Amt „Wort und Sakrament dienend zugeordnet“,21 so dass es zwar von Wort und Sakrament unterscheidbar ist, nicht aber für deren Realisierung von 20 21
Ebd., 45. Ebd., 81.
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ihnen getrennt werden kann. Ein weiteres Leitungsamt, das traditionell als Bischofsamt bezeichnet wird und sich bereits früh als Strukturmoment in den christlichen Gemeinden abzeichnet, gehört organisatorisch ebenfalls zu diesem Realisierungszusammenhang.22 Allerdings erschöpft sich auch im Falle des Leitungsamtes die Funktion im Dienst an den Kernaufgaben der Kirche. Von einer ausgeprägten Ämterbestimmung, wie sie etwa der römische Katholizismus kennt, kann im lutherischen Bereich deshalb nicht die Rede sein. Die apostolische Sukzession in historischer Perspektive ist somit gerade keine zwangsläufige Voraussetzung der Einheit aus lutherischer Sicht, kann aber „als eine Ausdrucksform von Kirchengemeinschaft und als Zeichen der Einheit angesehen werden.“23 Zentrales Anliegen lutherischer Ekklesiologie ist somit die Gewährleistung rechter Wortverkündigung und stiftungsgemäßer Sakramentenverwaltung. Eine sichtbare Einheit lässt sich lutherisch nur über diese Zentralbestimmung realisieren. Einheit im Amt kann, muss jedoch hierfür nicht eine Zielvorgabe im ökumenischen Dialog sein.24 Hält man, wie es die ÖStA-Studie vornimmt, angesichts der gegenwärtigen Entwicklung des Christentums weltweit „die Vorstellung einer umfassenden organisatorischen Einheit“ für eine „unrealistische Zielperspektive“,25 dann kann es gerade nicht um die Restitution vergangener Kirchenorganisationsstrukturen gehen.26 Ist die lutherische Position in kirchlicher Hinsicht somit nicht mit einem exklusiven Anspruch versehen, weil das Amt dem Wesen der Kirche zu-, aber nicht vorgeordnet ist, dann ist lutherische Theologie in Fragen kirchlicher Einheit gerade „nicht auf bestimmte Modelle festgelegt.“27 Dies führt zu einer Selbstbescheidung dahingehend, dass die eigene Kirchenorganisation gleichfalls zur Disposition steht und sich nur in ihrer dienenden Funktion für das Kerngeschäft der Kirche bemessen lässt. Exklusivansprüche an den ökumenischen Partner lassen sich lutherisch daher ebenso wenig erheben, wie umgekehrt eine Nicht-Anerkennung des Amtes, wie es die Lutherische Kirche kennt, in funktionaler, nicht struktureller Sicht ökumenisch inakzeptabel wäre. Das lutherische Amtsverständnis speist sich aus dem Herkommen der Kirche vom Wort Gottes. Diesem zu dienen ist vornehmlicher, aber auch notwendiger Bestimmungsgrund des kirchlichen Amtes, das auch in kirchenleitender Hinsicht so verstanden werden kann. Aus lutherischer Sicht bildet das Amt ein zur Sichtbarkeit der Kirche notwendig gehörendes, das Wesen der Kirche betreffendes, in seiner Ausgestaltung jedoch den traditiones humanae zugehöriges Element. 22
Vgl. ebd. Ebd., 81–83. 24 Vgl. ebd., 95. 25 Ebd., 107. 26 Vgl. ebd., 109–111. 27 Ebd., 109. 23
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Die kirchliche Wesensgemäßheit des Amtes ist dabei nicht so zu verstehen, als wäre das Amt den kirchlichen Funktionen vorgeordnet; im Gegenteil erschöpft es sich ganz im Dienst an ihnen, wie auch die Kirche als ganze nur als Wortdienst richtig zu begreifen ist – in sichtbarer wie unsichtbarer Gestalt.
3. Kontroverstheologische Hürden Lutherische Theologie hält an dem Grundsatz der einen Kirche fest. Die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche gründet sich auf Jesus Christus, wie er der Christenheit im biblischen Zeugnis begegnet und eschatologisch verheißen ist. Als sein Leib kann die Kirche nicht in sich gespalten sein, sondern muss sich als ‚eine‘ erweisen. Dies in konkrete Sichtbarkeit zu überführen, ist Aufgabe und Pflicht der konfessionell aufgeteilten Christenheit. Die Einheit der Kirche stellt sich daher einerseits als Grund und Basis jeder Form von institutionell verfasster Kirche dar, bleibt aber zugleich ausstehendes und zu verwirklichendes Moment sichtbarer Umsetzung. Schon von der Anlage der Confessio Augustana her bleibt der Kirchenbegriff daher im Luthertum vage und bewusst mit einer Offenheit versehen. Diese Offenheit zielt auf den Dialogpartner hin, also auf die damals Altgläubigen, die heute als römische Katholiken in den Blick kommen. Somit bleiben CA V und VII letztlich ökumenisch motivierte Definitionen dessen, was die Kirche in Wesen und Gestalt ausmacht. Dass diese ‚Hypothek‘ der Confessio Augustana als Chance im ökumenischen Dialog betrachtet werden könnte, sei abschließend vorgestellt. Vorher sei jedoch kurz auf die Problematik verwiesen, welche sich aus der nicht eindeutigen Kirchendefinition der CA ergibt: Den ökumenischen Gesprächspartnern, allen voran römischen Katholiken und Orthodoxen, aber durchaus auch anglikanischen Vertretern, ist an der lutherischen Definition von Kirche oftmals nicht unmittelbar erkenntlich, was mit ihr überhaupt an Verbindlichkeit ausgesagt sein soll. Dies gilt, wenn man so will, nicht nur für das lutherische Kirchenverständnis, sondern allgemeinprotestantisch. Dass die Kirche sichtbar ist und immer sein muss, lässt sich protestantisch bestimmen und ausmachen. Die klare Struktur dieser Sichtbarkeit bleibt jedoch meist schleierhaft. Insbesondere das kirchliche Amt schwebt zwischen einer Hinordnung auf das Wesen der Kirche und einer Ausgestaltung in den traditiones humanae, also denjenigen Momenten, die letztlich nicht für eine Kircheneinheit nach CA VII relevant sind. Beim Dialogpartner erweckt dies den Eindruck, als trete die Kirche in protestantischem Verständnis kaum oder gar nicht in Erscheinung, sondern bleibe letztlich eine civitas platonica, die einer Ideenwelt, nicht aber der konkreten Wirklichkeit angehört. Dieser Schein tritt umso stärker auf, je klarer eine Konfession ihr Eigenverständnis von Kirche definiert und je wichtiger Amt und Kirchenstruktur für das Wesen von Kirche
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sind. Insbesondere die sogenannte apostolische Sukzession wird durch das abstrakte protestantische Konzept gefühlt in Frage gestellt, was oftmals aber für die Kirchen, die sich auf sie berufen, von wesensmäßiger Bedeutung für ihren Kirchenbegriff ist. Kurz gesagt: Der Schein trügt zwar, doch die konfessionellen Vorurteile und Meinungen bleiben bestehen – was auf protestantischer Seite für Themen der anderen Konfessionen gleichermaßen gilt. Gerade beim Kirchenbegriff ist die Verwirrung, die das protestantische Konzept hervorruft, einerseits selbst gemacht und andererseits dadurch gesteigert, dass das protestantische Kirchenverständnis von demjenigen anderer Konfessionen auch meist am weitesten abweicht. Eine rein formelle Erörterung des Themas führt hier oftmals nicht weiter, weil die Problemstellen nicht richtig ausgeschlossen werden können. Welche ökumenische Praxis ließe sich daher gerade für den lutherischen Kirchenbegriff andenken?
4. Schwächen als gemeinsame Stärken – Überlegungen zu einem Neuansatz in der Ökumene Ökumene funktioniert nur dann, wenn wechselseitiges Vertrauen der Gesprächspartner untereinander besteht. Geht es um Gewinn gegenüber der anderen Konfession, können Gespräche, die auf Einheit oder zumindest Gemeinschaft zielen, keinen fruchtbaren Ausgang nehmen. Dabei hat sich der ‚differenzierte Konsens‘ als eine erfolgreiche Methode erwiesen, die ‚Einheit in versöhnter Verschiedenheit‘, wie sie formelhaft von Harding Meyer geprägt wurde, zustande zu bringen.28 Beide Seiten können dabei ihre Anliegen zum Ausdruck bringen und nach einer gemeinsamen Formulierung suchen, die noch jeweils spezifisch kommentiert werden kann. Ob solche Konsenspapiere tragfähig sind, kann nicht rundweg positiv beantwortet werden, wie etwa die Rezeption der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre zeigt.29 Üblicherweise nähert man sich im ökumenischen Dialog über Punkte an, die weitestgehend unstrittig sind, um sich daraufhin zu Themen vorzutasten, in denen keine unmittelbar identische, wohl aber vergleichbare Auffassung besteht, um die Möglichkeit nach Konsensen auszuloten. Allerdings bringt dieses Vorgehen den Nachteil mit sich, dass nur vorsichtig vorgegangen werden kann und zudem kontroverse Themen nur schwer auf die Tagesordnung gebracht werden 28 Vgl. zu beiden Formeln: Harding Meyer, ‚Einheit in versöhnter Verschiedenheit‘, eine ökumenische Zielvorstellung. Hintergrund – Entstehung – Bedeutung – Anfragen, in: ders., Versöhnte Verschiedenheit. Aufsätze zur ökumenischen Theologie, Bd. III, Frankfurt a. M. 2009, 17–40; sowie: ders., Ökumenischer Konsens als ‚differenzierter Konsens‘. Die Prägung einer Formel. Ursprung und Intention, in: ebd., 41–62. 29 Vgl. dazu v. a. die differenzierte Kritik und Würdigung bei Eberhard Jüngel, Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens. Eine theologische Studie in ökumenischer Absicht, Tübingen 62011.
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können. Anknüpfend an die dargestellte Problematik zum lutherischen Kirchenverständnis im ökumenischen Dialog sei deshalb abschließend eine Ökumene idee skizziert, die aus der Schwäche der Konfessionen eine Stärke im Dialog erzielen möchte. Uneindeutigkeiten im systematisch-theologischen Konzept sind entweder unbeabsichtigte Fehler oder bewusste Unschärfen, die aus systematischen Erwägungen heraus eingezogen werden. Bilden versehentliche Fehler auch Ansatzpunkte, so sind bewusste Unschärfen im System die vielleicht wichtigste ökumenische Angriffsstelle. Dies ist deshalb der Fall, weil uneindeutige Stellen noch nicht übersystematisiert sind, d. h. sie stehen noch offen oder werden bewusst offengehalten für Interpretationsspielräume. Ist dies bereits interessant und ökumenisch fruchtbar, wenn nur auf einer Seite Ungenauigkeiten ausgemacht werden, so lässt sich die ökumenische Arbeit, sofern sie vertrauensvoll erfolgen kann, noch deutlich attraktiver gestalten, wenn auf beiden Seiten die uneindeutigen Systemmomente klar benannt werden. Dazu bedarf es allererst eines Bewusstseins der eigenen Systemschwachstellen und daraufhin des Mutes, diese intern zu klären und sie auch als solche dem Dialogpartner zu offenbaren. Klärung kann hier nicht eine systematische Auflösung meinen, sondern vielmehr die genaue Erfassung der Unschärfen. Wird dieses interne Klärungsverfahren auf beiden Seiten des Dialogs in Bezug auf das Gesprächsthema angewandt und nachträglich in den Dialog eingebracht, besteht darin die Möglichkeit, Unschärfen gemeinsam zu deuten. Der Vorteil dieses Verfahrens besteht darin, dass bewusst sicheres Terrain verlassen und ein Gesprächsort aufgesucht wird, an dem beide Dialogpartner Konvergenzfähigkeit und Klärungsoption besitzen. Der Kirchenbegriff, wie er in CA VII entwickelt wird, stellt hierfür ein hervorragendes Beispiel dar. Gerade das Amtsverständnis ist – wie vorher dargestellt – einerseits auf das Wesen der Kirche hingeordnet, andererseits nicht so in dieses integriert, dass eine bestimmte Form des Amtes festgeschrieben wäre oder andere Amtsformen automatisch ausscheiden würden. Gleiches gilt für die Sichtbarkeit der Kirche. In der auf die Funktion für Verkündigung und Sakramentenverwaltung ausgelegten Kirchendefinition wird die konkrete Sichtbarkeit zwar eindeutig eingefordert; ihre spezifische Ausprägung und auch die Struktur der Kirche sind dabei jedoch nicht festgeschrieben. Vielmehr bleibt der protestantische Kirchenbegriff für verschiedene Modelle der Sichtbarkeit – und damit auch sichtbarer Einheit – aufgeschlossen. Dies gilt umso mehr, wenn CA VII nicht isoliert, sondern gut lutherisch mit einem Verständnis der Kirche als creatura verbi verknüpft behandelt wird. Indem die Kirche als Geschöpf des göttlichen Wortes in den Blick genommen wird, erschließt sich die Hinordnung von Wesensbeschreibung der Kirche und ihrer Peripherie nochmals neu, wie oben anzuzeigen versucht wurde. Basiert Ökumene auf Vertrauen der Gesprächspartner untereinander, so gilt dies umso mehr für die vorgeschlagene Herangehensweise. Sollen System-
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unschärfen zur Grundlage von Dialogen werden, dann schließt dies gerade ein, dass nicht konfessionelle Profilierung, sondern das Gegenteil in den Blick kommt: Die Systemlücken und konfessionell nicht eindeutig bestimmten Facetten der eigenen Denomination sollen so offengelegt werden, dass sie als tatsächliche ‚Schwachstellen‘ dem Gesprächspartner präsentiert werden. Anders formuliert macht man sich dem Gegenüber genau dadurch verletzlich, dass man gewissermaßen auf die eigene angreifbare Stelle verweist. Dies setzt sowohl wechselseitiges persönliches wie konfessionelles Vertrauen voraus, also solches, das dem Gesprächspartner ein Doppeltes zumutet: Einerseits soll das Sich-verletzlich-Machen des Partners zum gemeinsamen Vorteil verwertet werden. Deshalb gilt es gerade, den Vertrauensvorschuss der Verletzlichkeit positiv, d. h. vertrauensvoll und vertrauenswürdig umzusetzen, indem in einen konstruktiven Dialog um die Systemschwachstelle eingetreten wird. Dies führt andererseits dazu, dass auch die eigene Position so zu vertreten ist, dass sie sich ebenfalls potenziell verletzlich für das Gegenüber macht. Verletzlichkeit und ihre Präsentation ist somit an sich gerade das Gegenteil von Aggressivität, intendiert jedoch zugleich dasselbe Verhalten als Entsprechung beim Gegenüber. Insofern etabliert ökumenische Verletzlichkeit gerade ein Dialogklima, das nur funktioniert, wenn nicht nur Vertrauen nicht enttäuscht, sondern Verletzlichkeit zusätzlich nicht ausgenutzt wird. Mit der vorgestellten Ökumenemethodik der Verletzlichkeit ist darüber hinaus eine Herangehensweise verknüpft, die es erfordert, die Profile der eigenen Konfession in einem neuen Licht zu betrachten. Letzteres kann von einem neutralen oder gar dem Gesprächspartner nahestehenden Punkt aus vollzogen werden. Beim lutherischen Kirchenverständnis erstrahlt wie gesehen CA VII neu, sofern man die – ebenfalls lutherische – Rede von der Kirche als creatura verbi hinzunimmt bzw. CA VII von dieser Warte aus betrachtet. Der an sich bereits mit Unschärfen versehene Kirchenartikel des Augsburger Bekenntnisses gewinnt so an konfessioneller Aufgeschlossenheit hinzu, weil die Kirche als Wortgeschöpf Gottes jeder christlichen Denomination verständlich und nachvollziehbar sein dürfte. Der ökumenische Prozess kann durch solche Doppelungen in seinem Lauf verstärkt und zugesteigert werden. Dies setzt – wie erwähnt – natürlich und unverzichtbar vergleichbare Bereitschaft beim Gesprächspartner voraus. Dennoch darf es als gut christlich, ja jesuanisch gelten, dass um der christlichen Einheit willen besser die eigene Position verletzlich gemacht und auch die ‚andere Wange hingehalten‘ wird, als selbst den aggressiven Part zu übernehmen. Verletzlichkeit fordert heraus. Ihre Stärke besteht in ihrer Schwäche, nämlich den Gesprächspartner zur eigenen Haltung zu führen – und zwar gerade und besonders aus christlichen Motiven heraus. In diesem Sinne stünde es der ökumenischen Gesprächskultur gut an, wenn sie sich etwas mehr verletzlich machte.
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Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. III, Göttingen 1993. Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands (VELKD), Sichtbare Einheit der Kirche in lutherischer Perspektive. Eine Studie des Ökumenischen Studienausschusses (Texte aus der VELKD 176), online abrufbar unter: http://www. velkd.de/publikationen/texte-aus-der-velkd.php?publikation=422&kategorie=22 (letzter Zugriff am 20.12.2018; S. D.).
Geistliche Ökumene Eine Option Dorothea Sattler 1. Hinführung zur Thematik Ich beginne diesen Beitrag mit Worten, die – ihrer Eigenart nach – keine theologische These formulieren, vielmehr meine gläubige christliche Überzeugung zum Ausdruck bringen: Gottes lebendiger Heiliger Geist führt die Kirchen auf ihrem Weg in Zeit und Geschichte. Mit Dankbarkeit blicke ich auf die Ökumenische Bewegung, die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert und institutionell organisiert seit dem beginnenden 20. Jahrhundert Christinnen und Christen aller Konfessionen miteinander zum gemeinsamen Dienst in der Verkündigung des Evangeliums, zum solidarischen Engagement im diakonischen Handeln und zur Gemeinschaft in der liturgischen Feier des Glaubens geführt hat. Die Ökumenische Bewegung hat die Kirchen erkennen lassen, dass ihre Vielgestalt auch ein Reichtum ist. Das in der Taufe begründete sakramentale Band der Einheit im Glauben an Christus Jesus ist niemals zerrissen. Je auf ihre Weise haben sich die Kirchen bemüht, das eine Evangelium in ihrem lebendigen Gedächtnis zu bewahren: Die einen leben vor allem aus der Freude an der Liturgie; andere gehen auf die Straßen und treten vor Fremden für das Evangelium ein; wieder andere bereiten Suppen für die Ärmsten der Armen; manche Theologinnen und Theologen werden in Gremien berufen, in denen sie Gespräche über kontroverse Themen führen. Auf der Ebene der ökumenischen Hermeneutik bedeutet dies: Es gibt ein konkurrenzloses Miteinander von Sozialökumene, geistlicher Ökumene sowie Dialogökumene. Not zu lindern, Gottesdienste zu feiern oder theologische Dialoge zu führen – all dies widerspricht sich nicht. Jede gute Tat führt zueinander. Begegnungen unter Christinnen und Christen aus unterschiedlichen Konfessionen verändern die Menschen. Welches Profil hat die Geistliche Ökumene im Konzert der geschilderten, pluralen Handlungsweisen in der christlichen Ökumene?1 Auf diese Fragestellung 1 Vgl. zur Frage der ökumenischen Hermeneutik aus jüngerer Zeit: Maria Wernsmann, Praxis, Probleme und Perspektiven ökumenischer Prozesse. Ein Beitrag zur Theoriebildung (Beihefte zur Ökumenischen Rundschau 107), Leipzig 2016; Thomas Bremer/Dies. (Hg.), Ökumene – überdacht. Reflexionen und Realitäten im Umbruch (Quaestiones disputatae 259), Freiburg i. Br. 2014.
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möchte ich im Fortgang antworten, indem ich an Erfahrungen erinnere (2.), historische Hintergründe beschreibe (3.) sowie Perspektiven aufzeige (4.). Ich habe – so ist vermutlich bereits ersichtlich – bei diesem Beitrag einen Sprachstil gewählt, der den Anliegen der Geistlichen Ökumene entspricht.
2. Vielversprechende Erfahrungen Wahre geistliche Erfahrungen in ökumenischen Begegnungen lassen viel zu wünschen übrig – in einem guten Sinne: In ihnen wird die Trauer über die fortbestehende Trennung spürbar, und sie vermitteln eine frohstimmende Ahnung von dem großen Reichtum des konfessionell geprägten Glaubenslebens. Übrig bleibt viel: Der Wunsch nach einer währenden, nicht von Trennung bedrohten, lebendigen christlichen Gemeinschaft im Hören auf Gottes Wort, im sakramentalen Gedächtnis des Todes und der Auferweckung Jesu Christi sowie in der Bereitschaft zum Zeugnisdienst in Wort und Tat. Spirituelle Erfahrungen sind mit Bewusstsein erfasste Geschehnisse, in denen Menschen in der Kraft der Gegenwart des Geistes Gottes an die Tiefen ihrer Daseinsfragen herangeführt werden und eine vertrauenswürdige, gläubige Antwort suchen, erkennen und ergreifen können. Spiritualität ist der in Gottes Begleitung geschehende Weg zum Grund des je ganz eigenen Lebenslaufes, der sich in der Gemeinschaft der Mitgeschöpfe vollzieht. Dieser geistliche Weg kann eine unterschiedliche äußere Gestalt haben: Stilles Hören, drängendes Flehen, ausdauerndes Singen, mutiges Handeln, zeichenhafte Gebärden, offene Gespräche. Wer jemals erfahren hat, dass andere Menschen jener Antwort, die sie selbst auf die gemeinsamen Lebensfragen gefunden haben, in glaubwürdiger und ansprechender Weise Ausdruck verleihen können, der wird sich dem Reiz des geistlichen Miteinanders nicht mehr entziehen wollen. Das Leben lässt viel zu wünschen übrig. Gemeinsam fällt es leichter, sich in die Dunkelheiten des Daseins zu begeben, den unausweichlichen Tod und die belastende Sünde zu bedenken. Nur in Gemeinschaft lässt sich das Licht des Vertrauens auf den Gott des Lebens hüten. Viele in der Ökumenischen Bewegung engagierte Theologinnen und Theologen schöpfen ihre Kraft zu diesem Dienst aus der Quelle erlebter geistlicher Gemeinschaft. In immer wieder überraschender Form wird in der gottesdienstlichen Feier die bereits bestehende geistliche Gemeinschaft der Christen erlebbar. Das Gedächtnis des göttlichen Grundes der Suche nach theologischer Erkenntnis wird bei ökumenischen Begegnungen in menschlichen Worten ausdrücklich. Im Gebet geschieht Gedächtnis der in Gottes schöpferischem Wirken gegründeten Zeit der Menschen. Am Morgen und am Abend wird die Bedrohung des Daseins durch den Tod besonders bewusst. Diese Zeiten laden dazu ein, sich gemeinsam des Ursprungs und des Ziels des Daseins zu vergewissern. Gottes Weggeleit in seinem Wort ist Trost und Mahnung zugleich. Die Versammelten
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wissen sich für ihr Handeln verantwortlich vor Gott. Die in der Anrufung des göttlichen Namens erfahrene Gegenwart Gottes verwandelt die Anwesenden: Aus Streitbaren werden Versöhnliche, aus Resignierenden werden Mutige, aus Ungeduldigen werden Zuhörende. Es spricht manches dafür, dass Menschen, die sich einmal entschieden haben, ihr theologisches Wirken in den Dienst der Förderung der Einheit der Christen stellen zu wollen, diesem Entschluss treu bleiben, weil bei ökumenischen Begegnungen oft auf erschütternd eindrückliche Weise bewusst wird, welche geistliche Tiefe die Erkundung der Mitte des christlichen Glaubens ermöglicht: Gottes Gutheißung des Lebens – des Lebens selbst der Sünderinnen und Sünder. Der oft mit großer Heftigkeit ausgetragene kontroverse Streit um theologische Einzelpositionen findet im gemeinsamen Gotteslob immer wieder zu einer Ruhe, die neue Tatkraft weckt. In vielen Gemeinden gibt es im Jahreskreis fest umschriebene Gestalten ökumenischer Begegnungen mit geistlichem Sinn: Etwa die Gebetswoche für die Einheit der Christen, Bibelgespräche in der vorösterlichen Passions- und Fastenzeit, Feiern zum Taufgedächtnis, wechselseitige Einladungen zur Teilhabe an besonderen Feiern der anderskonfessionellen Gemeinde, da und dort auch ökumenische Bußgottesdienste. Von großer Bedeutung ist der ökumenische Weltgebetstag der Frauen. In der gegenwärtig für alle Konfessionen schwierigen Situation der Verkündigung des christlichen Glaubens gelten zudem die Zeiten, in denen Menschen ein lebensgeschichtlich begründetes, biographisches Inter esse an einer gottesdienstlichen Feier zu erkennen geben, als eine naheliegende Gelegenheit, die ökumenisch gesinnte, christliche Gemeinschaft erleben zu lassen, um durch das gemeinsame Zeugnis für die Wahrheit des Evangeliums glaubwürdig zu erscheinen: Tauffeiern, Hochzeiten und Beerdigungen werden zunehmend häufiger in bewusst ökumenischem Geist gestaltet. Die Kirchenleitungen haben die wichtige Aufgabe, durch die von ihnen gelebte Ökumene in offiziellen Begegnungen, bei gemeinsamen liturgischen Feiern und durch die Anteilnahme an den Freuden und Nöten der anderen Kirchen den Gemeinden Mut zu machen, es könne doch einen Weg geben, zur sichtbaren Einheit zu finden. Die auch von den Medien mit Aufmerksamkeit wahrgenommene Versammlung der leitenden Repräsentanten der christlichen Konfessionen etwa zum gemeinsamen Wortgottesdienst am Pfingstmontag wird von vielen Christen als ein Geschehen erfahren, in dem die bereits bestehende Gemeinschaft der Konfessionen auf untrügliche Weise zum Ausdruck kommt. Die Einheit der Christen in der Vielgestalt der geschichtlich entstandenen Frömmigkeitsformen wird dabei erlebbar. Der Reichtum der personalen Glaubensüberzeugung wird im unvertretbaren Wort der einzelnen Repräsentanten christlicher Konfessionen erfahrbar. Das Empfinden bestehender Gemeinschaft festigt sich: Das Zeugnis der Heiligen Schrift, die Taufe und das gemeinsame Bekenntnis zum trinitarischen Leben des einen Gottes verbindet die zur Feier
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versammelte Gemeinde. Die bereits bestehenden Gemeinsamkeiten sind stärker verbindend als die noch trennenden Unterschiede.
3. Historische Hintergründe Die römisch-katholische Kirche hat sich schwerer getan als andere Konfessionen, den Wert der geistlichen Ökumene anzuerkennen. Während die weithin von den Kirchen der Reformation getragene Ökumenische Bewegung sich von frühester Zeit an als geistlich motiviert verstand und den Missions- und Verkündigungsauftrag der einen Kirche Jesu Christi in den Mittelpunkt ihres Interesses rückte,2 waren die römisch-katholischen Dokumente in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der spirituellen Ökumene gegenüber eher skeptisch eingestellt. Dies änderte sich erst in der Zeit des 2. Weltkriegs. Die geistliche Ökumene findet in den Texten des Zweiten Vatikanischen Konzils hohe Anerkennung und bildet auch heute die unbestrittene Basis der gemeinsamen Suche nach der sichtbaren Einheit der christlichen Kirchen. Um die Wandlungen in der Einstellung der römisch-katholischen Kirche zur geistlichen Ökumene, die in den Texten des Zweiten Vatikanischen Konzils dokumentiert sind, in rechter Weise zu erfassen, ist es hilfreich, sich dem Geschehen der auch schmerzlichen Erinnerung an die vorausgehenden Zeiten auszusetzen.3 Bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert, verstärkt dann zu Beginn des 20. Jahrhunderts, haben die Bischöfe von Rom ihr Amt als einen Dienst an der sichtbaren, institutionell verfassten Einheit der Christen verstanden. Da aber diese Einheit als eine bereits in Gestalt der römisch-katholischen Kirche bestehende betrachtet wurde, war das Gebet für die Einheit mit dem Gedanken verbunden, die nicht-römisch-katholischen Christinnen und Christen zur Umkehr zu bewegen – konkret: zur Rückkehr in die römisch-katholische Kirche. Diesen Sinn hatte auch die im Jahr 1916 von Benedikt XV. erstmals für die Woche vom 18. bis 25. Januar eingeführte Gebetsoktav für die Einheit der Christen.4 Im August 1927 fand in Lausanne die erste ‚Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung‘ statt. 1928 veröffentlichte Pius XI. die Enzyklika Mortalium Animos,5 deren Hauptanliegen es war, römisch-katholische Christen von dem 2 Vgl. Reinhard Frieling, Der Weg des ökumenischen Gedankens. Eine Ökumenekunde (Zugänge zur Kirchengeschichte 10), Göttingen 1992, 183–197. 3 Vgl. Heinz-Günther Stobbe, Lernprozess einer Kirche. Notwendige Erinnerung an die fast vergessene Vorgeschichte des Ökumenismus-Dekrets, in: Ökumenische Theologie. Ein Arbeitsbuch, hg. v. P. Lengsfeld, Stuttgart 1980, 71–123. 4 Vgl. Benedictus PP. XV, Preces quaedam ad ecclesiae unitatem a domino impetrandam indulgentiis ditantur, in: Acta Apostolicae Sedis 9 (1917), 61–62. 5 Vgl. Pius XI., Enzyklika Mortalium Animos. Über die Förderung der wahren Einheit der Religion, 6.1.1928, in: Heilslehre der Kirche. Dokumente von Pius IX. bis Pius XII., hg. u. übers. v. A. Rohrbasser, Freiburg i. Br. 1953, Nr. 669–689.
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Gedanken abzubringen, sich an einer solchen Form der Suche nach Einheit zu beteiligen. Pius XI. beklagt darin vor allem die Weise, in der die sogenannten ‚Panchristen‘ auf die in Joh 17,21 überlieferte, im Kontext der Abschiedsreden stehende Bitte Jesu Bezug nehmen und Gebete für die Einheit der Christen sprechen: „Allzuleicht werden manche durch die Vorspiegelung einer scheinbar guten Sache getäuscht, wenn es sich darum handelt, die Einheit aller Christen untereinander zu fördern. Ist es nicht billig, – so sagt man – ja, ist es nicht heilige Pflicht, daß alle, die den Namen Christi anrufen, von den gegenseitigen Verketzerungen ablassen und endlich einmal durch das Band gegenseitiger Liebe verbunden werden? Wie könnte denn jemand den Mut haben zu sagen, er liebe Christus, wenn er sich nicht nach besten Kräften für die Erfüllung des Wunsches Christi einsetzt, der da den Vater bat, daß seine Jünger eins seien. […] Ja, so fügen sie hinzu, möchten doch alle Christen ‚eins‘ sein! Um wieviel erfolgreicher würden sie dann an der Bekämpfung der schleichenden Pest der Gottlosigkeit arbeiten können, die jetzt täglich weiter um sich greift und im Begriff ist, das Evangelium vollständig um seine Kraft und Wirkung zu bringen. So und ähnlich reden in stolzer Sprache jene, die man Panchristen nennt. Man glaube nicht, es handele sich bei ihnen nur um vereinzelte kleine Gruppen. Im Gegenteil: sie sind zu ganzen Scharen angewachsen und haben sich zu weitverbreiteten Gesellschaften zusammengeschlossen, an deren Spitze meist Nichtkatholiken der verschiedenen religiösen Bekenntnisse stehen.“6
Pius XI. weiß um die – nach seiner Ansicht – verführerische, suggestive Kraft des Gebetes um die Einheit. Er beklagt, dass auch viele römische Katholiken sich haben betören lassen. Zwar liege „der heiligen Kirche nichts mehr am Herzen, als die verlorenen Söhne wieder in ihren Mutterschoß zurückzurufen und heimzuführen“,7 aber: „Unter diesen überaus verlockenden und einschmeichelnden Worten verbirgt sich […] ein schwerer Irrtum, der die Grundlage des katholischen Glaubens vollständig zerstört und untergräbt.“8 Dieser Irrtum, der bei den ökumenischen Bemühungen wirksam werde, besteht nach Pius XI. in der Meinung, die von Jesus im Gebet erflehte Einheit bestehe noch gar nicht: „Die Vorkämpfer dieser Bemühungen führen unzählige Male das Wort Christi an: Damit alle eins seien und Es wird werden ein Hirt und eine Herde. Diese Worte führen sie aber immer so an, als ob darin ein Wunsch oder ein Gebet Jesu Christi zum Ausdruck kämen, die noch der Erfüllung harren. Sie sind nämlich der Meinung, die Einheit im Glauben und in der Leitung der Kirche, die ein Kennzeichen der wahren und einen Kirche Christi ist, habe bisher wohl noch zu keiner Zeit bestanden und bestehe auch heute nicht. Man könne diese Einheit wohl herbeisehnen, und sie könne vielleicht auch einmal durch den gemeinsamen Willen aller erreicht werden, aber für unsere Zeit sei sie nur ein schöner Traum.“9 6
Ebd., Nr. 672 (Herv. i. O.).
7 Ebd. 8 Ebd. 9
Ebd., Nr. 677 (Herv. i. O.).
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Der Papst beklagt, dass sich unter denen, „welche die brüderliche Gemeinschaft in Christus Jesus mit lauter Stimme preisen, […] kein einziger [findet], dem es in den Sinn käme, sich der Lehre und der Leitung des Stellvertreters Jesu Christi zu unterwerfen und ihm zu gehorchen.“10 Im Schlussabschnitt seiner Enzyklika betont Pius XI., wie sehr auch ihm die Einheit der Christen am Herzen liegt. Er weist den Wunsch nach dem Gebet gewiss nicht zurück, hofft jedoch auf eine spezifische Wirksamkeit dieses Geschehens: Wenn die nicht-römisch-katholischen Christen, die bisher „als irrende Schäflein außerhalb des einen Schafstalls Christi stehen“,11 „in demütigem Gebet das Licht vom Himmel erflehen, dann werden sie ohne Zweifel die eine wahre Kirche Jesu Christi erkennen und werden dann in sie eintreten und mit Uns in vollkommener Liebe verbunden sein.“12 Pius XI. unterstützt die nicht-römisch-katholischen Christinnen und Christen in ihrem geistlichen Tun, weil er mit diesem die Hoffnung verbindet, Gott werde ihnen die eine wahre Kirche Jesu Christi zeigen und sie ermutigen, zu dieser zurückzukehren. Ein gemeinsames geistliches Leben, das von der Voraussetzung ausgeht, die von Gott für seine Kirche gewollte Einheit bestehe noch nicht, lehnt der Papst in seiner Enzyklika jedoch ab. Die Enzyklika Mortalium Animos führte die von ihr beklagte falsche Irenik im Miteinander der Christen auch auf das Zeitempfinden Ende der 20er Jahre zurück: auf die anhaltenden Friedenszeiten und den wirtschaftlichen Aufschwung. Die Weltfamilie schien zusammenzuwachsen. Als 1943 die Enzyklika Mystici Corporis von Pius XII.13 erschien, herrschten andere Zeiten, die einen veränderten Tonfall und eine atmosphärische Verbesserung des Miteinanders der Christen mit sich brachten. Pius XII. ruft dazu auf, in der Nachfolge Jesu Christi selbst zu Betenden zu werden: „Wir wünschen […] sehnlichst, dieses gemeinsame Beten möge mit heißer Liebe auf jene sich ausdehnen, die entweder von der Wahrheit des Evangeliums noch nicht erleuchtet und in die sichere Hürde der Kirche noch nicht eingetreten sind, oder welche von Uns, die Wir ohne Unser Verdienst die Stelle Jesu Christi hier auf Erden vertreten, durch unglückselige Spaltung im Glauben und in der Einheit getrennt sind. Laßt uns für sie das göttliche Gebet unseres Heilandes zum Vater im Himmel wiederholen: Auf daß alle eins seien, wie du, Vater, in mir und ich in dir, daß auch sie in uns eins seien, damit die Welt glaube, daß du mich gesandt hast.“14
Pius XII. versichert, dass ihm auch das Leben derer am Herzen liegt, die nicht zur sichtbaren Gemeinschaft der katholischen Kirche gehören. Leben in Fülle 10
Ebd., 678.
11 Ebd. 12
Ebd., 689. Pius XII., Enzyklika Mystici Corporis. Über den Mystischen Leib Jesu Christi und unsere Verbindung in ihm mit Christus, 29.6.1943, in: Rohrbasser (Hg.), Heilslehre der Kirche, Nr. 752–846 (wie Anm. 5). 14 Ebd., Nr. 837 (Herv. i. O.). 13 Vgl.
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soll ihnen durch Gottes Schutz und Segen zuteil werden. Er formuliert eine Einladung: „Alle jene und jeden einzelnen von ihnen laden Wir mit liebendem Herzen ein, den inneren Antrieben der göttlichen Gnade freiwillig und freudig zu entsprechen und sich aus einer Lage zu befreien, in der sie des eigenen ewigen Heils nicht sicher sein können. Denn mögen sie auch aus einem unbewußten Sehnen und Wünschen heraus schon in einer gewissen Beziehung stehen zum mystischen Leib des Erlösers, so entbehren sie doch so vieler wirksamer göttlichen Gaben und Hilfen, derer man sich nur in der katholischen Kirche erfreuen kann. Möchten sie also eintreten in den Kreis der katholischen Einheit und alle mit uns in der gleichen Gemeinschaft des Leibes Jesu Christi geeint, an das eine Haupt sich wenden in ruhmreicher Liebesverbundenheit. In unablässigem Flehen zum Geiste der Liebe und der Wahrheit erwarten Wir sie mit ausgebreiteten Armen, nicht als Fremde, sondern als solche, die in ihr eigenes Vaterhaus heimkehren.“15
Pius XII. betont die aufgrund der gemeinsamen Teilhabe an dem einen Leib Christi in begrenzter Weise bereits bestehende Einheit der Kirche. Die Enzyklika Mystici Corporis gilt als ein bedeutender Text aus der vorkonziliaren Zeit, in dem eine christologische Grundlegung des Wesens der Kirche geschieht und auch der gemeinschaftliche, gesellschaftliche Charakter der Glaubensgemeinschaft hohe Beachtung findet. Die im Dezember 1949 erschienene Instruktion De Motione ‚Oecumenica‘16 regelte die Genehmigungspraxis bei einer Teilnahme römisch-katholischer Christen an ökumenischen Konferenzen neu: Zukünftig sollte eine solche Teilnahme einzelner römisch-katholischer Christen nicht gänzlich verboten sein; es genügte von da an die Zustimmung der Ortsbischöfe. Heinz-Günther Stobbe macht darauf aufmerksam, dass die Veränderung in der Einschätzung des Wertes ökumenischer Bemühungen mit einer neuen pneumatologischen Betrachtung der ökumenischen Geschehnisse einhergeht.17 In diesem Text von 1949 wird zum ersten Mal in einem römisch-katholischen Dokument zugestanden, dass Gottes Geist auch außerhalb der römisch-katholischen Kirche wirksam ist: „[I]n vielen Teilen der Welt [ist] sowohl infolge äußerer Ereignisse und Wandlungen in der geistigen Einstellung, als auch dank dem gemeinsamen Gebete der Gläubigen, natürlich unter dem Gnadenantrieb des Heiligen Geistes, in den Herzen vieler Nichtkatholiken der Wunsch mehr und mehr lebendig geworden, zurückzukehren zur Einheit aller, die an Christus den Herrn glauben. Dies ist gewiß für die Söhne der wahren Kirche ein Grund zu heiliger Freude im Herrn“18.
Das Zweite Vatikanische Konzil hat sich explizit mit den Anliegen identifiziert, die in dem Begriff ‚geistlicher Ökumenismus‘ zusammengefasst werden: „Diese 15
Ebd., 838. Oberste Kongregation des Heiligen Offiziums, Instruktion Ecclesia Catholica. De Motione ‚Oecumenica‘, 20.12.1949, in: Rohrbasser (Hg.), Heilslehre der Kirche, Nr. 690–701 (wie Anm. 5). 17 Vgl. Stobbe, Lernprozess einer Kirche, 93 f (wie Anm. 3). 18 Oberste Kongregation, De Motione ‚Oecumenica‘, Nr. 691 (wie Anm. 16). 16 Vgl.
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Bekehrung des Herzens und die Heiligkeit des Lebens sind zusammen mit dem privaten und öffentlichen Bittgebet für die Einheit der Christen als Seele der ganzen ökumenischen Bewegung zu erachten und können zu Recht geistlicher Ökumenismus genannt werden“ (Unitatis redintegratio19 [UR] 8). Die Versammlung zum gemeinsamen Gebet um die Einheit wird ausdrücklich gutgeheißen und in ihrer zweifachen Sinngebung bestimmt: Es ist ein Weg zu größerer Gemeinschaft und sie bringt die bereits bestehende Verbundenheit sinnfällig und zeichenhaft zum Ausdruck. Stand in der vorkonziliaren Zeit das Gebet um die Einheit der Christen nahezu ausschließlich im Zusammenhang der durch es geförderten Bereitschaft zu Reue und Umkehr der nicht-römisch-katholischen Gemeinschaften, so wurde ihm nun (auch) zugesprochen, die schon existierende, in Gottes Wesen und Handeln gründende Einheit erfahren zu lassen. Der in dem Stichwort ‚geistliche Ökumene‘ zusammengefasste Gedanke der ‚Einheit durch geistgewirkte, innere Erneuerung‘ kehrt an zahlreichen Stellen des Ökumenismusdekrets wieder. Programmatisch formulieren die Konzilsväter: „Einen Ökumenismus im wahren Sinne des Wortes gibt es nicht ohne innere Bekehrung. Denn aus der Neuheit des Geistes, aus seiner Selbstverleugnung und aus der völlig freien Ausgießung der Liebe erwachsen und reifen die Sehnsucht nach der Einheit. Deshalb müssen wir vom göttlichen Geist die Gnade der aufrichtigen Selbstverleugnung, der Demut und Milde im Dienen sowie der brüderlichen Offenheit des Herzens gegenüber anderen erflehen“ (UR 7).
Das Konzil hat damit einen Weg zur Einheit gewiesen, der sich von dem zuvor leitenden Gedanken der Rückkehr der anderen Christen deutlich unterscheidet, nämlich den Weg der eigenen Bekehrung, der inneren Erneuerung aller Kirchen in Gestalt einer gemeinsamen Hinkehr zur Mitte des christlichen Bekenntnisses.20 Die Einheitsvorstellung, die im Hintergrund dieser konziliaren Lehre steht, wurde erstmals 1925 bei der Weltkonferenz für Praktisches Christentum in Stockholm formuliert: Je näher die Christen dem gekreuzigten Christus kommen, desto näher kommen sie auch einander. In den Worten des Konzils lautet diese Vorstellung vom Weg zur Einheit: „Alle Christgläubigen sollen daran denken, dass sie die Einheit der Christen umso besser fördern, ja sogar ausüben, je mehr sie sich darum bemühen, ein reines Leben gemäß dem Evangelium zu führen“ (UR 7). Als ausdrücklich von ökumenischer Relevanz werden 19 Decretum de oecumenismo/Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, in: Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils. Konstitutionen, Dekrete, Erklärungen. Lateinisch-deutsche Studienausgabe (Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil 1), hg. v. P. Hünermann, Freiburg i. Br. 2004, 211–241. 20 Den konziliaren Gedanken der Förderung der christlichen Gemeinschaft durch eine Hinkehr zur Mitte des Glaubens hat die Groupe des Dombes in einer 1991 im französischsprachigen Original erschienenen Studie entfaltet: Vgl. Gruppe von Dombes, Für die Umkehr der Kirchen. Identität und Wandel im Vollzug der Kirchengemeinschaft, übers. v. I. Siegert, Frankfurt a. M. 1994 (franz. Orig.: Pour la conversion des Églises, Paris 1991).
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die Prozesse der geistlichen Erneuerung betrachtet, in denen die römisch-katholische Kirche sich bereits befindet: „[Die] biblische und liturgische Bewegung, [die] Predigt des Wortes Gottes und [die] Katechese, [das] Laienapostolat, neue Formen des religiösen Lebens, [die] Spiritualität der Ehe, [die] Lehre und Tätigkeit der Kirche im sozialen Bereich“ (UR 6). Die Forderung nach einer geistlichen Erneuerung der eigenen Kirche ist verbunden mit dem Aufruf, „dass die Katholiken die aus dem gemeinsamen Erbe hervorströmenden wahrhaft christlichen Güter […] anerkennen und hochschätzen. Die Reichtümer Christi und Werke der Tugenden im Leben der anderen anzuerkennen, die für Christus Zeugnis ablegen, manchmal bis zum Vergießen des Blutes, ist billig und heilsam […]. Man darf auch nicht übergehen, dass all das, was durch die Gnade des Heiligen Geistes bei den getrennten Brüdern bewirkt wird, auch zu unserer Erbauung beitragen kann“ (UR 4).
Einen besonderen Akzent setzen die Konzilsväter mit ihrem Aufruf zum gemeinsamen sozialen Dienst in den Krisenregionen der Erde im Kampf gegen den Hunger, die Armut, die Wohnungsnot, den Analphabetismus und die ungerechte Verteilung der Güter: „Die Zusammenarbeit aller Christen drückt auf lebendige Weise jene Verbindung aus, in der sie schon untereinander geeint werden, und setzt das Antlitz Christi, des Dieners, in volleres Licht“ (UR 12). Geistliche Ökumene meint im Sinne des Zweiten Vatikanischen Konzils, dass das gesamte Leben und auch die Lehre der Kirche daraufhin zu überprüfen ist, ob darin die personale Mitte der Glaubensgemeinschaft sichtbar in Erscheinung tritt: der in Gottes Geist gegenwärtige Christus Jesus.21 Das vor allem in der Kirchenkonstitution dargelegte sakramentale Kirchenverständnis22 bildet den Hintergrund für diesen Neuansatz in der Selbstpositionierung der römisch-katholischen Kirche innerhalb der Ökumenischen Bewegung: Sie anerkennt, dass die Kirche „immerfort den Weg der Buße und Erneuerung“ (Lumen gentium23 [LG] 8) zu gehen hat. Die Kraft des Geistes Gottes wird durch die im gesellschaftlichen Gefüge der Kirche wirksame Sünde geschwächt. Die Bereitschaft zur Schuldanerkenntnis und zum Umkehrwillen charakterisiert die geistliche 21 Vgl. in diesem Zusammenhang vor allem das Kriterium zur Bestimmung der „Ordnung bzw. ‚Hierarchie‘ der Wahrheiten der katholischen Lehre“, das nach UR 11 im „Zusammenhang mit dem Fundament des christlichen Glaubens verschieden ist.“ In der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre, mit der der Lutherische Weltbund und die römisch-katholische Kirche ihren Grundkonsens in Fragen der Rechtfertigungslehre erklären, kommen die Unterzeichner darin überein, dass diese Lehre „ein unverzichtbares Kriterium [ist], das die gesamte Lehre und Praxis der Kirche unablässig auf Christus hin orientieren will“ (Lutherischer Weltbund/ Päpstlicher R at zur Förderung der Einheit der Christen, Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre. Endgültiger Vorschlag, Nr. 18, dokumentiert in: Zur Zukunft der Ökumene, hg. v. B. J. Hilberath/W. Pannenberg, Regensburg 1999, 168). 22 Vgl. insbesondere LG 1;8;48 in: Constitutio dogmatica de ecclesia/Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, in: Hünermann (Hg.), Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils, 73–185 (wie Anm. 19). 23 Ebd., 85.
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Haltung, mit der die römisch-katholische Kirche seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil an der Ökumenischen Bewegung teilhat. Die in der nachkonziliaren Zeit erschienenen Ökumenischen Direktorien24 waren darum bemüht, die konziliaren Vorstellungen über die Teilhabe der römisch-katholischen Kirche an der Ökumenischen Bewegung in praktikable Formen zu überführen. Die in UR 8 genannten Prinzipien, die bei der gottesdienstlichen Gemeinschaft der Christen zu beachten sind, werden aufgegriffen und ausgestaltet: Das gemeinsame geistliche Tun repräsentiert die Einheit und fördert sie zugleich; angesichts der noch nicht bestehenden vollen Kirchengemeinschaft gibt es Grenzen, in denen das gemeinsame geistliche Leben sich vollzieht; zugleich gilt es, ‚aus Sorge um die Gnade‘ Regelungen zu treffen, die die Teilhabe von Christen anderer Konfessionen an den ‚Mitteln der Gnade‘ ermöglichen. Diese Rücksichtnahme auf das Leben einzelner Christen bewirkte unter anderem die sich auch in den kirchenrechtlichen Bestimmungen25 spiegelnde Offenheit der römisch-katholischen Kirche, in konkret umschriebenen Ausnahmesituationen Christen anderer Konfessionen an der Feier der Sakramente der Eucharistie, der Buße und der Krankensalbung teilhaben zu lassen. Besondere Aufmerksamkeit wird in den Direktorien darüber hinaus dem Bereich der Gemeinschaft in nicht-sakramentalen gottesdienstlichen Feiern geschenkt. Eine ausdrückliche Ermutigung zum gemeinsamen Gebet, zur Teilhabe an der Stundenliturgie und zur Feier ökumenischer Wortgottesdienste geschieht.26 Die in den zurückliegenden Jahrzehnten erfahrene Gemeinschaft am „Tisch des Wortes Gottes“27 hat die christlichen Gemeinden in besonderer Weise miteinander verbunden. Die Suche nach einem Konsens im Schriftverständnis und in der Schriftauslegung ist in der ökumenisch-theologischen Forschung von vorrangiger Bedeutung.28 Johannes Paul II. hat in seiner 1995 veröffentlichten Enzyklika Ut unum sint mit nachdrücklichen Worten auf die vorrangige Bedeutung des Gebetes auf dem Weg zur Einheit der Christen hingewiesen: „Wenn es die Christen ungeachtet ihrer Spaltungen fertigbringen, sich immer mehr im gemeinsamen Gebet um Christus zu vereinen, wird ihr Bewusstsein dafür wachsen, dass 24 Vgl. das derzeit gültige Dokument, in dem die vorausgehenden Texte genannt werden: Päpstlicher R at zur Förderung der Einheit der Christen, Direktorium zur Ausführung der Prinzipien und Normen über den Ökumenismus (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 110), Bonn 1993. 25 Vgl. Deutsche Bischofskonferenz et al. (Hg.), Codex iuris canonici/Codex des kanonischen Rechtes. Lateinisch-deutsche Ausgabe, Kevelaer 1983, Nr. 844. 26 Vgl. Päpstlicher R at, Direktorium, Nr. 108–121 (wie Anm. 24). 27 Constitutio de Sacra Liturgia/ K onstitution über die heilige Liturgie ‚Sacrosanctum Concilium‘, in: Hünermann (Hg.), Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils, 3–56 (wie Anm. 19); Constitutio dogmatica de Divina revelatione/Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung ‚Dei Verbum‘, in: ebd., 363−386. 28 Vgl. Wolfhart Pannenberg/ Theodor Schneider (Hg.), Verbindliches Zeugnis (Dialog der Kirchen 7, 9, 10), 3 Bde., Freiburg i. Br. 1992–1998.
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das, was sie trennt, im Vergleich zu dem, was sie verbindet, gering ist. Wenn sie sich immer öfter und eifriger vor Christus im Gebet begegnen, werden sie Mut schöpfen können, um der ganzen schmerzlichen menschlichen Realität der Spaltungen entgegentreten zu können, und sie werden sich miteinander in jener Gemeinschaft der Kirche wiederfinden, die Christus trotz aller menschlichen Schwachheiten und Begrenztheiten unaufhörlich im Heiligen Geist aufbaut.“29
4. Perspektiven Die Bereitschaft, die eigenen, konfessionell geprägten Formen der Frömmigkeit durch die Wahrnehmung und Mitfeier anderer Ausdrucksgestalten des christlichen Glaubenslebens zu bereichern, gilt heute als eine weithin unstrittige ökumenische Grundhaltung. Dabei ist gewiss zu berücksichtigen, dass die geistliche Ökumene ein vielgestaltiges Gebilde ist und der Begriff der Spiritualität in unterschiedlicher Weise bestimmt werden kann.30 Umstritten ist etwa, ob die in der internationalen Ökumene als hoch bedeutsam eingeschätzte christliche Weltverantwortung, die ethische Dimension des Bekenntnisses, als ein Teilbereich des Spirituellen zu gelten hat, oder ob unter dieser allein liturgische Feiern, Gebete, Meditationen, Exerzitien oder Wallfahrten zu verstehen sind. Bei solchen Differenzierungen wirken sich auch die unterschiedlichen Grundpositionen über den Gegenstand, die Methode und die Zielsetzung des ökumenischen Handelns aus. Ungeachtet dieser offenen Fragen scheint es mir möglich, die theologische Bedeutung der spirituellen Gemeinschaft der christlichen Konfessionen in drei Gedanken zusammenzufassen. 4.1 Menschliche Selbstbescheidung durch Vergegenwärtigung des göttlichen Lebensgrundes Die Versammlung der Christen zum liturgisch gestalteten Lobpreis Gottes unterbricht die oft geschäftig wirkende menschliche Anstrengung, durch theologische Studien oder diakonische Handlungen dem Ziel der Einheit der Kirchen näher zu kommen. Durch die Aussonderung von festen Zeiten des Tages zum Gebet geschieht eine beständige Vergegenwärtigung des göttlichen Gebers allen Lebens. Der gemeinsame Eintritt in einen Feierraum fördert die Gewissheit, bereits in einer Verbundenheit zu leben, die als eine von Gott geschenkte zu betrachten ist. Der Ursprung der bereits bestehenden Gemeinschaft ist nicht das Werk von Menschen, sondern die von Gott eröffnete Möglichkeit, an seinem Leben teilzuhaben. Die in der Gebetstradition aller christlichen Konfessionen bewahrte schöpfungstheologische Dimension des Glaubens vermag 29 Johannes Paul II., Enzyklika Ut unum sint. Über den Einsatz für die Ökumene (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 121), Bonn 1995, hier Nr. 22. 30 Vgl. Hans-Martin Barth, Spiritualität (Ökumenische Studienhefte 2), Göttingen 1993.
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die gemeinsame Ausrichtung auf das Wohlergehen aller Geschöpfe zu stärken. Die besondere Verbundenheit mit Israel, Gottes Volk, kommt zum Ausdruck. Die gemeinsame Anrufung des Namens Gottes in der Klage und in der Bitte führt zur Erkenntnis der Differenz zwischen dem menschlichen und dem göttlichen Vermögen: „Haucht der Mensch sein Leben aus und kehrt er zurück zur Erde, dann ist es aus mit all seinen Plänen. Wohl dem, dessen Halt der Gott Jakobs ist und der seine Hoffnung auf den Herrn, seinen Gott, setzt. Der Herr hat Himmel und Erde gemacht, das Meer und alle Geschöpfe; er hält ewig die Treue“ (Ps 146,4–6; Einheitsübersetzung 1980). 4.2 Gewinn an Identität durch die Erfahrung der Mitte christlichen Daseins Gestalten geistlicher Ökumene sind in besonderer Weise dazu geeignet, sich auf die Grundbotschaft des christlichen Glaubens zu besinnen: Die Hoffnung auf die Befreiung aus den todwirkenden Fesseln der Sünde durch die in Christus Jesus untrüglich offenbar gewordene Liebe Gottes. Die wachsende Wertschätzung der Taufe in allen christlichen Konfessionen lässt die Zuversicht als begründet erscheinen, dass die Glaubensgemeinschaft den tiefen Ernst des theologischsoteriologischen Gehalts dieser sakramentalen Feier zunehmend erkennt. Den Feiern zum Taufgedächtnis kommt dabei in unseren Zeiten, in denen es in vielen Konfessionen noch die Regel ist, Säuglinge zu taufen, besondere Bedeutung zu. Erwachsene Christen stellen sich der Anfrage, die Paulus der Gemeinde von Rom vorlegte: „[W]isst ihr denn nicht, dass wir alle, die wir auf Christus Jesus getauft wurden, auf seinen Tod getauft worden sind? Wir wurden mit ihm begraben durch die Taufe auf den Tod; und wie Christus durch die Herrlichkeit des Vaters von den Toten auferweckt wurde, so sollen auch wir als neue Menschen leben. Wenn wir nämlich ihm gleich geworden sind in seinem Tod, dann werden wir mit ihm auch in seiner Auferstehung vereinigt sein“ (Röm 6,3–5; Einheitsübersetzung 1980).
Taufe und Eucharistie werden seit dem christlichen Altertum als sacramenta maiora bezeichnet, weil in diesen beiden sakramentalen Feiern das Geheimnis des christlichen Glaubens in dichter Ausdrucksgestalt begegnet. Wahre Kirchengemeinschaft besteht erst dann, wenn sie auch in der eucharistischen Feier dargestellt und erneuert werden kann. Johannes Paul II. ruft dazu auf, dieses Ziel der geistlichen Ökumene nicht preiszugeben: „Es ist, als sollten wir uns immer wieder im Abendmahlssaal des Gründonnerstag versammeln, obwohl unsere gemeinsame Anwesenheit an jenem Ort noch auf ihre vollkommene Erfüllung wartet, bis sich nach Überwindung der Hindernisse, die der vollkommenen kirchlichen Gemeinschaft im Wege stehen, alle Christen zu der einen Eucharistiefeier versammeln werden.“31 31
Johannes Paul II., Enzyklika Ut unum sint, Nr. 23 (wie Anm. 29).
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4.3 Wachsame Aufmerksamkeit auf die Relevanz des Glaubens In worthaften geistlichen Handlungen kann die Bedeutung des christlichen Glaubens bei dem Bemühen der Menschen, das Leben in Zeiten des Glücks und der Not zu verstehen, sprachlich erfasst werden. Im Kontext der jüngsten Diskussionen um den konfessionellen Grundkonsens in der Rechtfertigungslehre wurde immer wieder angemahnt, die in dieser Lehrgestalt enthaltene Botschaft Gottes auf eine Weise zu besprechen, dass die Menschen deren alltägliche Lebensrelevanz zu erkennen vermögen. Der ökumenisch-theologischen Forschung fällt es oft schwer, sich aus den Bahnen der historisch bedingten Redeweisen herauszubewegen. In gottesdienstlichen Feiern, in Gebeten und bei der Wortverkündigung gelingt es eher, die pragmatische Dimension sprachlicher Äußerungen zu berücksichtigen: Trost und Stärkung, Mahnung und Weisung, Zusage und Anfrage bewirkt Gottes Wort im menschlichen Wort der Schriftauslegung. Aber nicht nur in der Worthandlung, auch in Taten der Liebe kann die verwandelnde Wirksamkeit des christlichen Glaubens bewusst werden, seine Relevanz aufscheinen. Mit einem Sprechversuch über den Gehalt der Rechtfertigungslehre möchte ich meine Überlegungen schließen: Kein Sterbenswort erklingt am Ende der Zeit, sondern das Lebenswort, das in der Gestalt des Menschen Jesus von Nazareth in der Zeit erschienene Wort Gottes. Und seine Botschaft ist einfach. Sie lautet: Du sollst sein. Du darfst Dich liebhaben. Auch die anderen sollen sein. Ich habe sie erschaffen. Ich will sie. Achte auf sie. Schädige niemanden. Und wisse, dass ich Dich auch dann nicht fallenlasse, wenn Du es tust. Nur glauben, vertrauen darauf, mehr brauchst Du nicht. Dann wirst Du ewig leben.
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Literaturverzeichnis Hans-Martin Barth, Spiritualität (Ökumenische Studienhefte 2), Göttingen 1993. Benedictus PP. XV, Preces quaedam ad ecclesiae unitatem a domino impetrandam indulgentiis ditantur, in: Acta Apostolicae Sedis 9 (1917), 61–62. Thomas Bremer/M aria Wernsmann (Hg.), Ökumene – überdacht. Reflexionen und Realitäten im Umbruch (Quaestiones disputatae 259), Freiburg i. Br. 2014. Constitutio de Sacra Liturgia/ Konstitution über die heilige Liturgie ‚Sacrosanctum Concilium‘, in: Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils. Konstitutionen, Dekrete, Erklärungen. Lateinisch-deutsche Studienausgabe (Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil 1), hg. v. P. Hünermann, Freiburg i. Br. 2004, 3–56. Constitutio dogmatica de Divina revelatione/Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung ‚Dei Verbum‘, in: Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils. Konstitutionen, Dekrete, Erklärungen. Lateinisch-deutsche Studienausgabe (Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil 1), hg. v. P. Hünermann, Freiburg i. Br. 2004, 363−386. Constitutio dogmatica de ecclesia/Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, in: Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils. Konstitutionen, Dekrete, Erklärungen. Lateinisch-deutsche Studienausgabe (Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil 1), hg. v. P. Hünermann, Freiburg i. Br. 2004, 73–185. Decretum de oecumenismo/Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, in: Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils. Konstitutionen, Dekrete, Erklärungen. Lateinisch-deutsche Studienausgabe (Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil 1), hg. v. P. Hünermann, Freiburg i. Br. 2004, 211–241. Deutsche Bischofskonferenz et al. (Hg.), Codex iuris canonici/Codex des kanonischen Rechtes. Lateinisch-deutsche Ausgabe, Kevelaer 1983. Reinhard Frieling, Der Weg des ökumenischen Gedankens. Eine Ökumenekunde (Zugänge zur Kirchengeschichte 10), Göttingen 1992. Gruppe von Dombes, Für die Umkehr der Kirchen. Identität und Wandel im Vollzug der Kirchengemeinschaft, übers. v. I. Siegert, Frankfurt a. M. 1994. Bernd J. Hilberath/Wolfhart Pannenberg (Hg.), Zur Zukunft der Ökumene. Die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“, Regensburg 1998. Johannes Paul II., Enzyklika Ut unum sint. Über den Einsatz für die Ökumene (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 121), Bonn 1995, 5–80. Oberste Kongregation des Heiligen Offiziums, Instruktion Ecclesia Catholica. De Motione ‚Oecumenica‘, 20.12.1949, in: Heilslehre der Kirche. Dokumente von Pius IX. bis Pius XII., hg. u. übers. v. A. Rohrbasser, Freiburg i. Br. 1953, Nr. 690–701. Päpstlicher Rat zur Förderung der Einheit der Christen, Direktorium zur Ausführung der Prinzipien und Normen über den Ökumenismus (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 110), Bonn 1993. Wolfhart Pannenberg/Theodor Schneider (Hg.), Verbindliches Zeugnis (Dialog der Kirchen 7, 9, 10), 3 Bde., Freiburg i. Br. 1992–1998. Pius XI., Enzyklika Mortalium Animos. Über die Förderung der wahren Einheit der Religion, 6.1.1928, in: Heilslehre der Kirche. Dokumente von Pius IX. bis Pius XII., hg. u. übers. v. A. Rohrbasser, Freiburg i. Br. 1953, Nr. 669–689.
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Pius XII., Enzyklika Mystici Corporis. Über den Mystischen Leib Jesu Christi und unsere Verbindung in ihm mit Christus, 29.6.1943, in: Heilslehre der Kirche. Dokumente von Pius IX. bis Pius XII., hg. u. übers. v. A. Rohrbasser, Freiburg i. Br. 1953, Nr. 752–846. Heinz-Günther Stobbe, Lernprozess einer Kirche. Notwendige Erinnerung an die fast vergessene Vorgeschichte des Ökumenismus-Dekrets, in: Ökumenische Theologie. Ein Arbeitsbuch, hg. v. P. Lengsfeld, Stuttgart 1980, 71–123. Maria Wernsmann, Praxis, Probleme und Perspektiven ökumenischer Prozesse. Ein Beitrag zur Theoriebildung (Beihefte zur Ökumenischen Rundschau 107), Leipzig 2016.
Demut Zur Orientierung des ökumenischen Ethos der Kirchen Rebekka A. Klein „Wer sich selbst erniedrigt, will erhöht werden.“ (Friedrich Nietzsche) „Wer unter euch groß sein will, sei euer Diener.“ (Mk 10,42)
1. Jenseits des Verdachts Ökumene beginnt dort, wo Kirche politisch wird und sich als eine Gemeinschaft versteht, die nicht kommunitär für sich selbst, sondern gemeinwohlorientiert für das Ganze der Gesellschaft Sorge tragen und Dienst leisten will. Sie setzt sich fort, wo Kirchen beabsichtigen, gemeinsam politisch zu sprechen, zu denken und zu handeln, wo sie die Welt gemeinsam verändern, beeinflussen und neu orientieren möchten, wo sie ihr Zeugnis von Jesus Christus und der Versöhnung Gottes mit den Menschen gemeinsam in die Welt hineintragen und in ihr zur Geltung bringen wollen. Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, dass die Ökumene der Kirchen und Konfessionen, dass ihre gemeinschaftliche Lebensform und Gesinnung, ihr öffentliches Auftreten und Wirken ethisch orientiert sein sollte. Im Kontext einer globalisierten Welt mit affirmativ pluralistischen Gesellschaftsformen müssen sich die christlichen Kirchen im 21. Jahrhundert jedoch auch in ihren ethischen und politischen Orientierungen weiterentwickeln und können nicht einfach bei etablierten Sicht- und Verhaltensweisen verweilen. An dieser Stelle ist es gut, ein bereits manifestes Anliegen der Ökumenischen Bewegung aufzunehmen und es neu zu interpretieren. Wesentlich war und ist für diese Bewegung von jeher ihr herrschafts- und machtkritischer Umgang mit verschiedenen Gesellschaftsordnungen, aber auch mit Kirche an sich gewesen. Diesem Anliegen kann nun nicht allein durch Gesellschaftskritik nach außen Rechnung getragen werden, sondern es ist auch notwendig, nach innen eine theologische Neuorientierung am Ort der Ekklesiologie zu vollziehen.
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Im Folgenden wird deshalb der Vorschlag unterbreitet, das gemeinsame öffentliche Auftreten der Kirchen an der christlichen Haltung der Demut auszurichten und aus dieser heraus weiterzuentwickeln. An dieser Stelle den Begriff der Demut aufzugreifen, erscheint sinnvoll und weiterführend, da ihm gerade in jüngerer Zeit durch exegetische Studien1 wieder ein ekklesiologisches, sittliches und auch politisches Potenzial zugeschrieben wurde, welches weit über eine bloße Moralisierung der Demut hinausgeht. Dennoch kann und darf eine Revitalisierung der Demut nicht in Form einer bloßen Wiederaufnahme und Erneuerung dieses biblischen Traditionsmotivs geschehen. Vielmehr sind auch die ambivalenten und problematischen Aspekte der Demutsgesinnung kritisch zu beleuchten, durchzuarbeiten und in eine Neubestimmung mit einzubeziehen. Beim Vorhaben einer Erneuerung der Demut im Kontext der Ökumene ist nun zunächst auf die Problematik zu verweisen, dass Begriff und Phänomen der Demut aus verschiedenen Gründen gleichsam ‚aus der Zeit geraten‘ zu sein scheinen. Denn „[w]elchen Sinn die Demut haben soll, dies […] ist heute mehr als fraglich geworden.“2 Hinzu kommt eine Hermeneutik des Verdachts gegen die Demut, welche sich in der Geschichte des modernen christlichen Denkens am Ende durchgesetzt zu haben scheint. Heute stehen wir im Blick auf die Demut gleichsam zwischen einer ‚Demutsentfremdung‘ und einer ‚Demutsentlarvung‘. Das Erste ist eine Spätfolge der Durchsetzung moderner Autonomieund Selbstverwirklichungsethiken. Das Zweite kann als Konsequenz der bei Friedrich Nietzsche vorgenommenen Entzauberung der Demut als einer Form des moralischen Betrugs gewertet werden. Zwischen diesen beiden Polen einer Wahrnehmung der Demut als Anachronismus auf der einen und als (Selbst-)Betrug auf der anderen Seite hat sich eine grundlegende Skepsis gegenüber ihrem ethischen Wert und ihrem Charakter als einer christlichen Tugend verbreitet.3 Daran können auch zeitgeistbedingte Krisenmentalitäten nichts ändern, die im Angesicht eines Kollapses der Finanzsysteme und einer weiterhin überhandnehmenden ‚Gier‘ von Managern vorschnell und ohne tieferen Sinn auf die Rhetorik von einer neuen Demut setzen.4 Im Blick auf die gegenwärtige Skepsis gegenüber der Demut wiegt für die Theologie mit Sicherheit am folgenschwersten das Werk Nietzsches und der 1
Zu nennen sind hier vor allem: Eve-Marie Becker, Der Begriff der Demut bei Paulus, Tübingen 2015; Reinhard Feldmeier, Macht – Dienst – Demut. Ein neutestamentlicher Beitrag zur Ethik, Tübingen 2012. 2 Donata S. Reisch, Erhöhter Gott – vertiefter Mensch. Zur Bedeutung der Demut ausgehend von Meister Eckhart und Jakob Böhme, Freiburg i. Br. 1999, 25. 3 Eve-Marie Becker spricht daher von einer zumindest ambivalenten Demutsdeutung in der christlichen Kultur, welche dazu herausfordere, die Mehr- und Uneindeutigkeiten der Rede von Demut hermeneutisch und ethisch geschult wahrzunehmen. Vgl. Becker, Demut, 20 (wie Anm. 1). 4 Vgl. zur Zeitdiagnose auch ausführlicher: ebd., 1−13; vgl. auch Feldmeier, Macht, 87 (wie Anm. 1).
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darin vorgetragene Verdacht,5 die Demutsmoral der Christen sei in Wahrheit eine verdeckte Subversions- und Machtstrategie. Der christliche Hang zur Selbstverkleinerung gehe mit einer Neigung zur Glorifizierung des Schwachen und Niedrigen einher und entspringe einem Ressentiment der Unterlegenen gegenüber den Herrschenden, der Sklaven gegenüber ihren Herren. Demut beruhe im Kern nicht auf einer freiwilligen Selbstzurücknahme, sondern auf ängstlichem Neid, auf Unterlegenheitsgefühlen und einem unterdrückten Drang zur Rache und sei genau darum als hochgefährlich, ja pathologisch einzustufen: Sie pervertiere Schwachheit und Unvermögen in etwas Gutes und suche auf diesem Wege einer „Doppelmoral“6 die Machtsteigerung dieser eigentlich unterlegenen Eigenschaften und Verhaltensweisen herbeizuführen. Nietzsches Verdachtshermeneutik ist nun aber gerade deshalb so einflussreich, weil es ihm gelang, tatsächlich ein wesentliches Element in der Geschichte des christlichen Demutsverständnisses ernsthaft in Frage zu stellen: die moralische ‚Aufladung‘ der Dynamik von der Erhöhung zur Erniedrigung des Menschen. So hatte bereits Augustinus behauptet, dass der Glaube gnadenhaft den Hochmut des Menschen (superbia) ablöst und ihn durch Demut (humilitas) vernichtet.7 Martin Luther brachte die Demut des Glaubens in diesem Sinne mit der mortificatio des alten Menschen in Zusammenhang und sprach ihr zu, eine innere Neuausrichtung des Sünders zu bewirken.8 Und noch bei Immanuel Kant und Friedrich Schleiermacher wird die Demut als Wirkung des gefühlten Abstandes zwischen Gott und Mensch, zwischen Heiligem und Natur, zwischen Christus und Christen begriffen und als strukturelles Merkmal einer humanen Vernunft bzw. eines wahrhaft menschlichen Bewusstseins gedeutet. Nietzsche hat demgegenüber aufgezeigt, dass der für grundlegend erachteten Transformationsdynamik des Glaubens, die in der Vernichtung des Hochmütigen und Erhöhten durch das Bescheidene und Niedrige ihre Wirkung zeigt, selbst eine Art von Ermächtigungsstrategie zugrunde liege. Über eine ‚Umwertung der Werte‘ dränge sie letztlich auf eine Selbstdurchsetzung des Schwachen und Niedrigen. Indem der Demut ein eigener Wert zugeschrieben werde, werde auf eine Aufwertung des Ohnmächtigen, auf eine Ersetzung von starker durch schwache Macht, aber eben darin dennoch auf eine Machtergreifung gesetzt, 5 Vgl. Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, in: ders. Philosophische Werke in sechs Bänden, Bd. VI, hg. v. C.‑A. Scheier (Philosophische Bibliothek 656), Hamburg 2013, 1–168. Vgl. dazu auch: Werner Stegmaier, Nietzsches ‚Genealogie der Moral‘, Darmstadt 2010, sowie aus der Theologie die Ausführungen in: Eckhard Zemmrich, Demut. Zum Verständnis eines theologischen Schlüsselbegriffs (Ethik im theologischen Diskurs 4), Berlin 2006, 27–82, insbesondere zu Nietzsches positivem Demutsbegriff; vgl. Becker, Demut, 49–51 (wie Anm. 1). 6 Becker, Demut, 51 (wie Anm. 1). 7 Vgl. Zemmrich, Demut, 426 f (wie Anm. 5). 8 Vgl. ebd., 427 f.247–332.
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welche sich nicht mehr ‚von oben‘, sondern ‚von unten‘ vollziehe und damit strukturell gleichgerichtet bleibe. Vielfach ist Nietzsche nun in dieser Diagnose der Demut als pathologischer Form zur Sublimierung der Niedrigkeit des humanen Selbstbewusstseins widersprochen worden. So wurde beispielsweise darauf verwiesen, dass die Demut als Bescheidenheit und Besonnenheit gerade als eine Eigenschaft des Herrn und Erhöhten verstanden werden könne und damit nicht auf die Aufwertung eines niedrigen sozialen Status, eines Gefühls der Niedrigkeit oder auf eine generelle ‚Umwertung der Werte‘ festgelegt sei.9 Doch auch ungeachtet dieser Entgegnungen bleibt die kritische Einsicht Nietzsches bestehen, dass eine einseitige moralische Aufwertung der Demut oder eine Behauptung ihrer Überlegenheit nicht aufrechterhalten werden kann. Eine Demut, die zum bloßen Instrument sozialen oder politischen Machtgewinns wird – im Falle der Kirchen konkret: mit dem Ziel einer immer größeren öffentlichen Aufmerksamkeit für ihren Dienst an der Welt –, wäre tatsächlich wenig überzeugend im Sinne des wahren christlichen Sinnes des Daseins der Kirche. An dieser Stelle soll daher nicht die bloße Erneuerung einer christlichen Demutsmoral im Kontext der Ökumene vorgeschlagen werden. Vielmehr ist konstruktiv und im kritischen Gespräch mit älteren und neueren Stimmen zu erörtern, inwiefern Demut das Leben der christlichen Kirchen in ein neues Licht stellen und ihr gemeinsames öffentliches Auftreten ebenso wie ihren Umgang mit ihrer Macht ethisch orientieren kann. Dazu sind auch herkömmliche theologische und biblische Demutskonzeptionen und -narrative zu hinterfragen und neu zu bewerten.
2. Kirche und Macht: Das Paradox bedingter Heiligkeit „Die politische Kirche, im weitesten Sinne des Worts und unter sehr verschiedenen Masken, will herrschen; sie will die Seelen und die Leiber, die Gewissen und die Güter. Dasselbe wollen die politischen Parteien, und indem ihre Führer sich zu Leitern des Volkes aufwerfen, entwickeln sie einen Terrorismus, der oft schlimmer ist als der Schrecken königlicher Despoten. So war es auch in Palästina und zur Zeit Jesu. Die Priester und die Pharisäer hielten das Volk in Banden und mordeten ihm die Seele. Gegen diese unberufene Obrigkeit zeigte Jesus eine wahrhaft befreiende und erquickende Pietätslosigkeit. Er ist nicht müde geworden – ja er steigerte sich im Kampfe bis zum heiligsten Zorn –, diese ‚Obrigkeit‘ zu befehden, ihre Wolfsnatur und ihre Heuchelei aufzudecken und ihr das Gericht anzukündigen.“10
Mit diesem Zitat aus der berühmten Jahrhundertschrift Adolf von Harnacks über das Wesen des Christentums ist ein Problem auf sehr klare Weise und mit 9 Becker verweist hier insbesondere auf das Werk Max Schelers und Dietrich Bonhoeffers. Vgl. Becker, Demut, 51 f (wie Anm. 1). 10 Adolf von Harnack, Das Wesen des Christentums, hg. v. T. Rendtorff, Gütersloh 1999, 126.
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drastischen Worten angezeigt, welches durch die Geschichte des Christentums hindurch die Kirche in ihrer politischen Funktion und Gestalt von Anfang an begleitet hat. So sucht Harnack den Vergleich zu verschiedenen Regierungsformen, von der königlichen Despotie bis zur Parteiendemokratie, und lässt keinen Zweifel daran, dass die Kirche diesen in nichts nachstehe. Sie sei politische Kirche mit einem unbedingten Herrschaftswillen und keineswegs eine dem politischen Kampf und Machtstreben enthobene, weltferne Heilsanstalt. Insofern sei ihr christlich – und dies heißt für Harnack: im Anschluss an das Evangelium Jesu – scharf entgegenzutreten. Bedingt durch sein geschichtsphilosophisches Schema vom klaren Gegensatz zwischen dem Evangelium als einer sittlichen Botschaft des Reiches Gottes und den dogmatischen und kirchlichen Verunreinigungen und Metamorphosen dieser ursprünglichen Botschaft baut Harnack die Alternative von sittlicher Orientierung durch Demut auf der einen und politischer Kirche mit ihrem öffentlichen Machtstreben auf der anderen Seite auf. Demut ist für Harnack eine Gesinnung der inneren Aufgeschlossenheit und Empfänglichkeit des Menschen für Gott und sein Evangelium, welche er keineswegs als weltabgewandt, sondern als sittlich-moralische Natur interpretiert.11 Dies bedingt aber auch, dass Demut und Kirche nicht zusammengehören: Demut ist für Harnack eine Haltung, die dem wahren Evangelium entspringt und im Machtstreben der politischen Kirche durch die Jahrhunderte dem Herrschafts- und Gestaltungswillen zum Opfer gebracht wurde. Diese kurze Darstellung der Position Harnacks kann nun pars pro toto für eine allgemeine Problematik der Adressierung des Machtproblems in Theologie und Kirche am Leitfaden einer Rhetorik von Liebe und Demut stehen: Viele machtund herrschaftskritische Stimmen sind nicht in der Lage, die Lehre Nietzsches in ihre Kritik einzubeziehen. Sie erkennen nicht, dass es gerade die durch sie der Demut zugeschriebene unbedingte Dignität ist, welche den Verdacht erregt, dass in der Orientierung an Demut das Machtproblem der Kirche nicht bearbeitet, sondern lediglich verdeckt wird. Auch der liberale Theologe von Harnack baut einen vermeintlichen Gegensatz zwischen dem politischen Machtdiskurs und dem sittlichen Demutsdiskurs auf und versucht, die Tugend der Demut auf einem gleichsam neutralen und ‚sauberen‘ Terrain von dem ‚schmutzigen‘ Geschäft der Macht abzusetzen. Doch wie bereits Nietzsche gezeigt hat, kann ein solcher Ansatz, welcher die Ambivalenzen und Machtinteressen der Demütigen, die in der Welt ‚nur‘ auf das Evangelium Jesu verweisen wollen, zu verdecken sucht, letztlich nicht überzeugen. Vielmehr ist die (kulturliberal konstruierte) Religion der Demütigen und Kirchenkritischen ebenfalls wieder als ein verdecktes Machtstreben ideologiekritisch zu entlarven. Die in liberalprotestantischen Kirchenkritiken in Verbindung mit einer Sittlichkeits- und Kulturemphase 11
Vgl. ebd., 102.
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unterschlagene Ambivalenz des Phänomenkomplexes ‚Kirche und Macht‘ muss darum auf andere Weise aufgearbeitet werden. Eine Alternative zu der soeben dargestellten Vorgehensweise soll daher im Folgenden in der Ekklesiologie Paul Tillichs aufgesucht werden. In seiner Systematischen Theologie12 hat Tillich die Demut nicht aus der Ekklesiologie aus-, sondern produktiv in sie eingegliedert, und zwar in Gestalt des ontologischen Strukturmerkmals der Zweideutigkeit.13 Demnach meint ‚Zweideutigkeit‘ bei ihm eine konstitutive Mischung von positiven und negativen Elementen in jedem Moment des menschlichen Lebensvollzuges „und zwar so, dass eine eindeutige Trennung des Negativen vom Positiven nicht möglich ist“14. Zweideutigkeit ist demnach auch eine Eigenschaft der Wirklichkeit des kirchlichen Lebens in dieser Welt mitsamt aller seiner einzelnen Lebensmomente. Wesentliches Kennzeichen dieser nicht eindeutig zugunsten einer Perspektive auflösbaren Existenzform der christlichen Kirchen ist es zum Ersten, dass die Kirche geschichtlich nur in Gestalt der vielen Kirchen existiert,15 und zum Zweiten, dass sie nur in dem Selbstwiderspruch existieren kann, dass sie stets Kirche in der Welt ist, die der Welt zugleich gegenüber- und entgegentritt. Die paradoxe Figur des ‚In-der-Welt‘ und ‚Gegen-die-Welt-Seins‘ der Kirche wiederholt sich nun nach Tillich sowohl im inneren als auch im äußeren Verhältnis: Sowohl in sich selbst trägt die Kirche Züge der Weltlichkeit als auch trägt die Welt Züge des Kirchlichen, wie sie Tillich beispielsweise in seiner Theorie von der ‚latenten Kirche‘ und einer über die verfasste Kirche hinausgehenden ‚Geistgemeinschaft‘ näher ausgearbeitet hat.16 Pointiert bringt Tillich sein Unterfangen, einen einfachen Dual von Kirche und Welt zu unterlaufen, auf den Punkt, dass „die Welt, der die Kirche sich entgegenstellt, nicht einfach Nicht-Kirche ist“17. Wo die Kirche hingegen wahre Kirche ist, entscheidet sich bei ihm daran, wie die Kirche ist, nämlich daran, ob der Geist Christi in ihr wirkt und sich 12
Paul Tillich, Systematische Theologie, Bd. III, Stuttgart 1966. Eine ähnliche Tendenz, die Demut als Struktur der öffentlichen und politischen Bezeugung des Glaubens im kirchlichen Leben zu verstehen, lässt sich auch in den fundamentaltheologischen Überlegungen zur Demut von Christoph Raedel beobachten. Allerdings formuliert Raedel, dass Demut angesichts der Pluralisierung religiöser Gewissheiten darin bestehe, aus der Wahrheit zu leben und keine Selbstüberhebung und Selbstsicherung des Glaubens anzustreben. Seine Position ist damit weitaus weniger komplex als diejenige Tillichs, da er eine Unzweideutigkeit der Wahrheit in der Welt annimmt. Vgl. Christoph R aedel, Aus der Wahrheit leben – in Demut bezeugen, in: Theologische Beiträge 44 (2013), 81–96. 14 Vgl. Tillich, ST III, 44 (wie Anm. 12). 15 Vgl. ebd.: „Die Geschichte der Kirchen ist die Geschichte, in der sich die eine Kirche in Raum und Zeit aktualisiert. Die Kirche aktualisiert sich in den Kirchen, und was sich in den Kirchen aktualisiert, ist die eine Kirche.“ 16 Vgl. dazu: Rebekka A. Klein, Einheit im Geist? Anfragen an die ekklesiologischen Entwürfe von Tillich und Pannenberg, in: Evangelische Theologie 76 (2016), 122–134. 17 Tillich, ST III, 250 (wie Anm. 12). 13
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zur Durchsetzung bringen kann. Dass auch dieses Geistwirken unter den Bedingungen ihrer weltlichen, endlichen Existenz stets der Zweideutigkeit und damit einer spannungsgeladenen Ambivalenz unterliegt, verdeutlicht Tillich an dem Theologumenon der Heiligkeit der Kirche. Dieses fasst er in der Brechung der Demutsstruktur paradoxal als bedingte Heiligkeit.18 ‚Bedingte Heiligkeit‘ impliziere, dass die Kirchen mit anderen sozialen Gruppen und Institutionen stets in ein doppeltes Verhältnis eintreten, dasjenige der Zugehörigkeit und dasjenige der Gegensätzlichkeit. Als soziale Gemeinschaft inmitten der Welt könne die Kirche, wo der Geist Christi in ihr wirke, der Welt entgegentreten. Zugleich sei sie aber mit anderen sozialen Gruppen und Institutionen in einem Verhältnis der Wechselseitigkeit und empfange von der Welt geistige und kulturelle Formen, aber auch Kritik und Angriff. Wo die Kirchen hingegen ihre bedingte Heiligkeit zur unbedingten zu erheben suchen, zeigt sich dies nach Tillich in erster Linie darin, dass sie ihre christlichen Funktionen in der Welt zum „Werkzeug eines Machtwillens“19 machen. Dies sei die ‚dämonische Hybris‘. Um dieser Hybris der Kirche entgegenzutreten, wählt Tillich nun in seiner Analyse des geschichtlichen Erscheinens der Kirchen nicht wie Harnack die Entgegensetzung von Kirche und Evangelium Jesu, sondern er bindet vielmehr das Kirchesein an die Nachfolge Christi und an seinen Weg ans Kreuz. Die durch die Kirche von Christus empfangenen Ämter habe sie daher ‚unter dem Kreuz‘20 auszufüllen, und dies heißt, in demutsvoller Brechung ihrer eigenen Existenz. Neben dem prophetischen und dem priesterlichen Amt fokussiert Tillich hier insbesondere darauf, die königliche Funktion der Kirche, ihre Macht, politisch zu handeln, an das königliche Amt des gekreuzigten Christus anzuknüpfen. Dieses Amt müsse von der Kirche ‚unter dem Kreuz‘, von der Kirche in ihrer Niedrigkeit ausgeübt werden.21 Dass Demut in der Ekklesiologie als eine ethische Pflicht verstanden werden kann, die mit dem geschichtlichen Erscheinen der Kirche verbunden ist, hat Tillich vor diesem Hintergrund explizit betont: Die Kirchen seien „in ihrer Funktion als Repräsentanten des Reiches Gottes in der Geschichte zur Demut verpflichtet“22. Als Ausdruck dieser Demut versteht Tillich konkret die „prophetische Kritik an den Kirchen durch die Kirchen“23 und begreift damit die Kirche als eine mit sich selbst in Widerstreit und in kritischen Diskurs eintretende christliche Gemeinschaft. Er hebt mit seiner Verpflichtung zur Demut hervor, dass die Kirche sich selbst nicht als eine homogene Größe begreifen sollte, sondern allein in Form einer paradoxen, einer sich selbst widerstreitenden Einheit 18
Vgl. ebd.
19 Ebd. 20
Vgl. ebd., 248. Vgl. ebd. 22 Ebd., 428. 23 Ebd., 429. 21
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theologisch qualifiziert als Kirche verstanden werden könne. ‚Paradoxe Einheit‘ meine hier, dass Kirche nicht nur innere Vielfalt gleichsam ‚gleichgeschaltet‘ zulasse, sondern in sich und aus sich heraus Protestbewegungen Raum gebe, die sich in einem Kampf und Widerstreit gegen falsche Elemente und Lebensformen im Leben der Kirche richten. Die innere Zerrissenheit und die gegen sich selbst widerstreitende Existenz der Kirche ist nach Tillich geradezu Rechtfertigungsgrund für ihren Anspruch, nicht einfach nur Teil dieser Welt, sondern in ihr „Träger des Reiches Gottes“24 zu sein. Auch von demjenigen, was in diesem inneren Kampf und Widerstreit der Kirche als Kriterium für das Auszuscheidende und zu Reformierende gelten kann, hat Tillich in seiner Ekklesiologie eine klare Vorstellung entwickelt. Er arbeitet mit den Begriffen der Profanierung und der Dämonisierung, d. h. der Entheiligung und der Heiligung der Welt, um diejenigen Tendenzen im Leben der Kirche zu fassen, durch welche sich die Kirche von ihrem wahren Kirchesein entfernt und entfremdet. Die Welt, ebenso wie die Kirche in ihr, ist seiner Ansicht nach weder unheilig noch bloß profan noch heilig. Sie partizipiert aber am Heiligen und damit an Gottes Gegenwart in dieser Welt und ist von dieser Partizipation her im Glauben neu zu verstehen. Tillich zufolge kann die Kirche jedoch nur durch einen von Zweideutigkeiten durchzogenen Prozess des Widerstreits und der Reform ihres Kircheseins hindurch und nicht jenseits dieses Prozesses, in einer ‚unzweideutigen‘ Existenz in dieser Welt das manifestieren, was sie ist und ausmacht. Das Wagnis der These Tillichs besteht nun darin, dass er der Demut eine eigene phänomenologische und zugleich eschatologische Qualität zumisst: Sie gibt nicht jenseits der Welt, sondern inmitten ihrer Ambivalenzen und Machtstrukturen einer eigenen Macht, nämlich dem Geistwirken Christi, Raum und zwar, ohne dass ihr an jedem Punkt selbst immer vollkommen klar und gewiss entscheidbar wäre, wo und wie dieser Geist wirkt oder nicht wirkt. Darum sei Kirche konstitutiv auf Selbstkritik angewiesen. Die Haltung der Demut ergebe sich somit aus der zweideutigen Verfasstheit der Welt, zu der die Kirche gehört. Sie eröffne, verstanden als Teil des theologischen Selbstverständnisses der Kirchen, die Möglichkeit, sich ekklesiologisch jenseits von binären Unterscheidungen (Kirche versus Welt, Kirche versus Evangelium etc.) zu orientieren und stattdessen mit einer komplexen und ambivalenten, in jeder Situation neu zu bestimmenden Wahrheit des Kircheseins zu rechnen. Demut erscheint bei Tillich außerdem als Antwort auf eine ambivalente Struktur der Zuordnung von Kirche und Welt: Beide lassen sich nicht klar gegeneinander abgrenzen, sind aber auch nicht undifferenziert zu vermischen, sondern müssen durch eine Orientierung an der Pflicht zur Demut immer wieder neu aufeinander bezogen werden. Für die gegenwärtige Situation der Kirchen in 24 Ebd.
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der Moderne benennt Tillich als Kriterien zum einen den Kampf gegen eine Profanierung und Dämonisierung der Wirklichkeit, da in ihnen eine Indifferenz von Welt und Gott zum Ausdruck komme. Zum anderen ist Demut bei Tillich keine ‚stille‘ Haltung, sondern zeigt sich gerade im inneren Widerstreit der Kirchen und im permanenten Ringen um ihre Reformierung, Transformation und Veränderung. Eine Haltung der Demut ist demnach nichts, womit die Kirche sich selbst beruhigen und ganz ‚bei sich‘ sein könnte, sondern durch sie kann und muss genau diese Struktur der Selbst-Identität als hoch gefährlich für den Prozess der Bezeugung des Reiches Gottes in dieser Welt entlarvt werden. Ökumenische Gemeinschaft der Kirchen wäre in diesem Sinne definitiv etwas anderes als ein „übersteigertes Harmoniebedürfnis“25.
3. Demut als Ethos der Einheit: ein ökumenisches Ethos? Im Blick auf die ökumenisch avisierte Zielvorstellung einer sichtbaren Einheit der Kirche kann sich die Haltung der Demut, wie Tillich sie gefasst hat, auf den ersten Blick nur negativ auswirken und scheint diese sogar zu konterkarieren. Denn Tillich hält es für das Kirchesein für konstitutiv, dass inmitten der Zweideutigkeiten des Lebens niemals definitiv gewusst werden kann, ob ein Zusammenschluss der verfassten Kirchen tatsächlich die ganze Kirche umfasst und ob er in der Lage ist, die wahre Kirche zu repräsentieren. Macht Tillich doch darauf aufmerksam, dass auf der einen Seite auch eine latente Kirche in der Welt in Gestalt der Geistgemeinschaften aufgefunden werden kann und auf der anderen Seite die manifeste Kirche stets durch Tendenzen zur Profanierung oder Dämonisierung des kirchlichen Lebens mit sich selbst uneins ist und im Widerstreit steht. Daher ist es von seiner Ekklesiologie her angeraten und gerade Ausdruck von Demut, dass die Kirche sich stets für ein Wirken des Geistes Christi an ihren Grenzen und über ihre verfassten Grenzen hinaus offen und veränderungsbereit hält. Nicht die sichtbare Einheit der geschichtlich existierenden Kirchen, sondern ihre gemeinsame Teilhabe an einer transzendenten Einheit, die Tillich ‚Geistgemeinschaft‘ nennt, ermögliche den Kirchen ein Zeugnis vom wahren Kirchesein und vom Reich Gottes in der Welt zu geben. Solange die Kirchen sich an dieser unsichtbaren geistigen Essenz – gleichsam an ihrer inneren statt äußeren Einheit – in ihrer geschichtlichen Vielfalt orientieren, seien sie auf dem richtigen Weg. Wenn sie diese auch in keinem geschichtlichen Moment vollkommen realisieren, sei zumindest ein spannungsvolles, aber nicht mehr konfliktträchtiges Miteinander der Kirchen und Gruppen möglich.26 25 Jens Jessen, Gemeinsam einsam, in: DIE ZEIT, 25.05.2017, online abrufbar unter: https://www.zeit.de/2017/22/oekumene-katholiken-protestanten-kirchen/komplettansicht (letzter Zugriff am 15.8.2019; R. K.). 26 Vgl. Tillich, ST III, 184 (wie Anm. 12).
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Tillich macht damit deutlich, dass der sichtbare Zusammenschluss und die manifeste Einheit der Kirchen kein theologisch sinnvolles Ziel von Ökumene sein können. Vielmehr sei es von zentraler Bedeutung, dass die Kirchen sich in demutsvoller Brechung ihrer jeweiligen geschichtlichen Existenz beständig auf ihr geistiges Zentrum und die gegenüber den manifesten Kirchen transzendente Einheit einer Geistgemeinschaft hin ausrichten und sich an ihr orientieren, auch wenn diese Orientierung erneut zu internen Spannungen und Kämpfen und zuweilen sogar zu neuen Trennungen führen sollte. Betrachtet man diese Zuspitzung der Demut bei Tillich als einer zentralen ekklesiologischen Dynamik, die keine gesteigerte Harmonie, sondern vielmehr das Mit-sich-selbst-Uneins-Sein der Kirche zu befördern scheint, so kann es zunächst nur irritieren, wie in neueren exegetischen Untersuchungen27 zur Rolle der Demut im Neuen Testament und insbesondere bei Paulus mit diesem Begriff umgegangen wird. Denn dort wird die These vertreten, dass Demut in Wahrheit als ein Ethos der Einheit, als eine Einheit und Gemeinsinn stiftende kommunitäre Haltung zu verstehen sei. Demut sei ein gemeindeethisches Konzept, welches der Aufrichtung einer christusförmigen Gemeinschaft diene. Eve-Marie Becker spricht in diesem Sinne sogar von einer henophronesis, auf die Paulus mit seiner Ermahnung zur Demut abstelle. Sie schreibt: „Das Ziel der Demut ist das Eins-Sein der Gemeinde im Blick auf die Erwartung der eschatologischen Zeit – die Demut fungiert dabei als ethisches und ekklesiologisches Werkzeug.“28 Der Apostel Paulus habe mit seiner Rede von einer Gesinnung der Niedrigkeit (ταπεινοφροσύνη) im Philipperbrief, aber auch im Römerbrief und im 2. Korintherbrief auf innovative Weise seiner Gemeinde eine neue Orientierung, nämlich an Christus, vermittelt, die eine Neuausrichtung der Lebensform der Gemeinde erzwinge, die in der apostolischen Lebensform der Schwachheit und Niedrigkeit des Paulus bereits verwirklicht sei. Sie sei motiviert durch das Beispiel Christi, der durch Attributverzicht, Gestaltwandel, Selbsterniedrigung und Gehorsam sein Schicksal erfüllte.29 In diesem Sinne stehe der Name der christlichen Kirche für die Gestaltung einer „Gemeinschaft, die sich an Christus zu orientieren sucht“,30 ein. Paulus etabliere mit der Demut ein ekklesiales Ethos, welches Selbstzurücknahme zugunsten des Gemeinsamen fordere. Keineswegs vertrete er jedoch die Hinwendung zum Martyrium, sondern es gehe ihm um eine einende und gemeinschaftsstiftende Haltung der Gemeindeglieder. Becker spricht daher im Blick auf Paulus von der gemeinschaftsfördernden Gesinnung der Demut.31 Sie betont jedoch, dass die Verwendungsweise des Konzeptes der Demut bei 27 Vgl.
Feldmeier, Macht (wie Anm. 1); Becker, Demut (wie Anm. 1). Becker, Demut, 217 (wie Anm. 1). 29 Vgl. ebd., 119. 30 Ebd., IX. 31 Vgl. ebd., 160 f. 28
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Paulus gegen die Reduktion auf eine moralische Kategorie spreche. Demut sei bei Paulus eine Verstandestugend der Klugheit und keine ethische Tugend im aristotelischen Sinn.32 Sie fördere noetisch die Einsicht in das zukünftige verheißene Heil durch Christus und bereite damit die sich in der Demut bereits vollziehende Erhöhung und Verherrlichung der Gemeinschaft durch Gottes Handeln vor. Demut sei daher eschatologisch qualifiziertes Instrument des Heils. In seiner bereits etliche Jahre vor Beckers Monografie veröffentlichten Studie zur Demut weist Reinhard Feldmeier neben dem einheitsstiftenden Effekt auch auf ein herrschaftskritisches und subversives Element der Demutsgesinnung hin. Er charakterisiert die paulinische Neukonfiguration des antiken Demutsverständnisses zunächst als „umstürzende Umpolung eines Unwortes zu einem Ideal“33. Das um das Adjektiv ταπεινός sich zentrierende Wortfeld verweise in der Antike auf eine mehrheitlich negativ gewertete Verhaltensweise des Kleinmuts und der Servilität. Von wichtigen Autoritäten der antiken Literatur wie Epiktet und Josephus sei das Wort zwar verwendet, jedoch nicht mit einer zentralen ethischen Bedeutung versehen worden. Demgegenüber kann Paulus wiederum nicht als ‚Erfinder‘ einer Demutsgesinnung angesehen werden. Auch sei seine Hochschätzung der Niedrigkeit im Kontext der weisheitlichen Überlieferung und der frühjüdischen Tradition – Feldmeier nennt hier den Aristeasbrief – zu verorten und könne nicht als singuläre Prägung betrachtet werden, denn auch in der Weisheitsüberlieferung sei bereits eine Verbindung von Niedrigkeit und Gottesnähe angedacht worden. Die Eigenart von Paulusʼ Neudeutung der Demut bestehe vielmehr in ihrer Verbindung mit der Kreuzestheologie, die Feldmeier in Phil 2 und Röm 12 verdichtet sieht.34 Anders als in der Evangelienüberlieferung, die einmal explizit, der Sache nach jedoch öfter, die demütige Gesinnung Jesu hervorhebe, habe Paulus aufgezeigt, dass der Ausdruck ‚in Christus‘ gleichsam einen neuen Ort angebe, an dem die Glaubenden in einen neuen Machtbereich und Lebenszusammenhang eintreten. Dieser verlange es, dass sie „in der Selbstbeschränkung zugunsten der anderen“35 ihre Gemeinschaft mit Gott bewähren. Die Haltung der Niedrigkeit bilde somit eine Art „Scharnier zwischen Nächstenliebe und Feindesliebe“36. Ziel der von Paulus selbst vollzogenen und von der Gemeinde geforderten Demutsübung sei zum einen die Bewahrung der Einheit der Gemeinde. Der Apostel wolle jedoch nicht Selbstlosigkeit propagieren, sondern Harmonie bewirken.37 Zum zweiten sei die Demut allerdings keineswegs wirkungs- oder harmlos. Feldmeier schreibt dem Demutsethos, wie Paulus es verstanden habe, 32
Vgl. ebd., 166. Feldmeier, Macht, 82 (wie Anm. 1). 34 Vgl. ebd., 87–89.89–110. 35 Ebd., 106. 36 Ebd., 109–110. 37 Vgl. ebd., 96. 33
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nämlich eine geradezu subversiv-revolutionäre Triebkraft zu, die – wie sich in der Geschichte der christlichen Kirchen gezeigt habe – zudem anderen Transformationsbewegungen überlegen sei: „Christliche Bewegungen […] haben sich diesen Aspekt der humilitas als Lebenshaltung zu eigen gemacht und damit einen Gegenentwurf zu den gesellschaftlichen Machtstrukturen, auch zu einer diese Strukturen immer wieder reproduzierenden Kirche zu leben versucht, welcher hierarchisches Denken elementarer provoziert und problematisiert hat als jede (selbst dem Paradigma der Macht verhaftete) Rebellion.“38
Feldmeier spricht der sittlichen Neuausrichtung der Gemeinschaft durch die Gesinnung der Demut bei Paulus ein transformatives und kritisches Potenzial zu, welches insbesondere gegen hierarchische Machtstrukturen in Gesellschaften und gegen ein Machtstreben der Kirche gerichtet sei. Im Gegenüber zu Letzterem werde durch die Demut eine Gemeinschaft von Brüdern und Schwestern im Herrn und damit eine neue Lebensform gestiftet, die sich als gelebte Alternative zu den vorherrschenden Paradigmen einer hierarchisch durchgestuften Ordnung der Gemeinschaft habe durchsetzen können. Dies sieht Feldmeier als den Kern des ursprünglichen paulinischen Demutsverständnisses an, welcher gegen seine Wirkungsgeschichte im Christentum heute erinnert werden müsse. Denn im Laufe der Zeit sei die Demut zu einer freudlosen und mit sektiererischer Zwanghaftigkeit vertretenen Haltung der Selbsterniedrigung degeneriert, welche zu Recht als lebensverneinend kritisiert werden müsse.39 Demgegenüber sei der ursprüngliche Sinn der Demut als ein segensreicher zu betonen, denn er habe zu einer machtvollen Transformation der herrschenden Sozialordnungen beigetragen. Demut sei in diesem Sinne nicht ohnmächtig, sondern ermächtigend im Blick auf eine neue Lebenshaltung des Dienstes aneinander.40 Betrachtet man die beiden neueren exegetischen Arbeiten zur Demut von Becker und Feldmeier zusammen, so kann man geradezu von einer Erneuerung der von Nietzsche beklagten Machtdynamik der Demut in diesen Lektüren sprechen.41 Demut wird als Gesinnung eines Gruppenethos gegen andere Machtund Herrschaftsformen gerichtet und von diesen abgesetzt. Sie wird ausdrücklich als Werkzeug zur Stiftung und Etablierung einer eschatologisch verwirklichten Verherrlichung der Gemeinde in Christus bezeichnet. Ihr wird als kollektive Gesinnung und Lebensform eine Überlegenheit im Vergleich zu revolutionären 38
Ebd., 127. Vgl. ebd., 126 f. 40 Vgl. ebd., 127.129. 41 Reinhard Feldmeier grenzt seine Auslegung der paulinischen Demut zwar explizit von Nietzsches Kritik ab und betont, dass eine pathologische Selbstverneinung keineswegs intendiert sei (vgl. ebd., 85), dennoch nimmt er die von Nietzsche beobachtete moralische Aufladung einer Transformationsdynamik, die ‚Umwertung der Werte‘, explizit als Interpretament in seine Deutung auf (vgl. ebd., 89). 39
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Umwälzungen und anderen Widerstandsformen gegen hierarchische Herrschaftsverhältnisse zugesprochen. Während bei Becker das kommunitaristische Ideal einer entgegenkommenden Lebensform für eine staatsbürgerliche und gemeinwohltragende Gesinnung im Hintergrund zu stehen scheint, ist es bei Feldmeier das sozialkritische Anliegen der Hierarchie-, Autoritäts- und Herrschaftskritik, welches seine Demutslektüre bei Paulus anleitet. Die Demut wird bei ihm zudem explizit als Machtwechsel und nicht als Machtverzicht gedeutet und damit ganz bewusst die von Nietzsche beobachtete Selbstermächtigungsdramatik der Demut affirmativ zur Geltung gebracht.42 Dass damit gleichwohl die Demut auf ein Sittlichkeitsethos und auf eine (moralisch aufgeladene) Selbstermächtigung des Eigenen der Gemeinschaft festgelegt bleibt, wird in den exegetischen Studien nicht analysiert oder kritisch hinterfragt. Daher erscheint das Demutsethos in dieser Form auch ekklesiologisch und ökumenisch nicht unmittelbar anschlussfähig, wenngleich auch seine ekklesiologische Bedeutsamkeit in ihren gemeindeethischen Aspekten prägnant herausgearbeitet wird.
4. Demut als ethische Orientierung der Ökumene: ein Vorschlag zur Revision Es soll nun im Weiteren in einer systematisch-theologischen Perspektive ein Vorschlag ausgearbeitet werden, wie die Demut aus der verengenden Haltung eines Gruppenethos, wie es die exegetischen Studien für das frühe Christentum als prägend erachten, befreit und zukunftsfähig transformiert werden kann. Zugleich soll jedoch die ekklesiologische und damit die kollektive Perspektive beibehalten und Demut nicht als eine sittliche Tugend des Einzelnen oder der christlichen Kultur und Gesellschaft als Ganzes betrachtet werden, wie es die Liberale Theologie prägend getan hat. Im Blick auf die Ekklesiologie Tillichs wurden bereits erste Schritte aufgezeigt, wie Demut ekklesiologisch und zugleich gesellschaftstheoretisch zeitgemäß interpretiert werden kann, nämlich weder als Werkzeug und Instrument zur Stiftung einer Einheit von Gemeinde und Kirche noch als Basis für eine moralische Legitimation und Selbstermächtigung derer, welche alle anderen Lebensordnungen außer einer christlichen in Frage stellen und diese ‚umwerten‘ wollen. Denn wäre die Ökumene der Kirchen an einer solchen Demutsgesinnung orientiert, wäre sie nicht mehr als die Universalisierung einer partikularen, nämlich christlichen Lebensform für die ganze Welt und liefe damit unter der Hand auf eine Totalisierung des Eigenen im Gewand einer globalisierten Perspektive hinaus. Auf der anderen Seite ist Demut aber auch nicht als ein kollektives Ethos der Selbstverkleinerung oder Selbstrelativierung christlicher Kirchen zu verstehen, welches dazu benutzt werden könnte, entweder die eigenen Unvollkom42
Vgl. ebd., 30–38.
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menheiten und Fehler selbstgenügsam zu verdecken oder sich in einer falsch verstandenen Form der Selbstverleugnung in der Preisgabe des Eigenen oder gar der ganzen Existenz an die Übermacht anderer Religionen und säkularer Lebensformen zu ergeben. Tillich hat demgegenüber darauf verwiesen, die paradoxe Gebrochenheit des Kircheseins stets als Phänomen am Ort der geschichtlichen Lebensformen und nicht im Modus ihrer Selbstauflösung zu denken. Im Folgenden soll nun darüber hinaus ein methodischer Vorschlag der Revision der Demut unterbreitet werden, der diese als Fluchtpunkt und Skopus des Sich-Orientierens der Kirchen in den Herausforderungen der Zeit interpretiert. Dabei meint Demut nicht einfach eine dienende oder nüchtern-bodenständige Gesinnung,43 ein soziales oder moralisches Erziehungsprogramm44 oder schlicht den öffentlichen Versöhnungs- und Liebesdienst der Kirchen in der Welt,45 sondern eine differenzierende Haltung der Bezogenheit der Kirchen auf Gottes Gegenwart und Wirken in dieser Welt, welche es weder erlaubt, die Kirche aus dieser Welt gleichsam heraus zu diffundieren, noch sie ihr einfach gleichzuschalten. Im Folgenden soll daher der orientierende ethische Sinn einer Demut des Kircheseins im Kontext einer pluralistischen Welt genauer bedacht werden. Dazu ist zunächst das Verständnis der hier zugrunde gelegten Rede von einer ethischen Orientierung zu klären. Allgemein betrachtet meint, sich zu orientieren, eine Leistung des Menschen, sich innerhalb einer Situation und insbesondere in neuen und überraschenden, kurz gesagt: in zukünftigen Situationen zurechtzufinden und in ihnen denkfähig und handlungsbereit zu sein.46 Orientierung als ein Vollzug zeichnet sich somit durch eine hohe Beweglichkeit und Veränderlichkeit aus. Ordnungen der Orientierung, wie sie beispielsweise durch ein gewachsenes und fortentwickeltes geschichtliches Ethos des Christentums in der Vielfalt seiner Konfessionen, Kirchen und Lebensformen repräsentiert werden, können hier Anhalt und Beständigkeit der Orientierung stiften, wenngleich auch jeweils nur temporär. Denn 43 Das lateinische Wort humilitas verweist durch seine Konnotation mit humus auch auf eine weitere Bedeutungsdimension. Nach Michaela Puzicha OSB kann diese als „geerdete und bodenständige Selbsteinschätzung“ verstanden werden (Michaela Puzicha OSB, Nicht eine Tugend, sondern ein Lebensstil. Demut bei Benedikt, in: Erbe und Auftrag 91 [2015], 366–378, hier 378). 44 Vgl. Klaus Wengst, Demut – Solidarität der Gedemütigten, München 1987; vgl. auch: ders., Art. Demut. IV. Neues Testament, Religion in Geschichte und Gegenwart II, Tübingen 41999, 656–657. 45 Vgl. Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (Hg.), Charta Oecumenica. Leitlinien für die wachsende Zusammenarbeit unter den Kirchen in Europa, Frankfurt a. M. 2002. 46 Nach Werner Stegmaier ist Orientierung damit auch über Philosophie, Theologie und Ethik als wissenschaftliche Disziplinen hinaus ein Grundbegriff menschlichen Lebensvollzugs. Das Wort ‚Orientierung‘ fokussiert dabei gegenüber seiner Reduktion auf bestimmte Orientierungsordnungen (rational, geographisch, moralisch etc.) auf die Flexibilität und Beweglichkeit des Sich-Orientierens als einem pragmatischen, selbstbezüglichen Lebensvollzug des Menschen in der Zeit. Vgl. Werner Stegmaier, Philosophie der Orientierung, Berlin 2008.
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es ist gerade das Kennzeichen des menschlichen Lebensvollzuges, dass sich die Aufgabe der Orientierung in jeder Situation neu stellt. Sich immer wieder neu und ggf. auch anders zu orientieren, kann demnach als ein zentrales Anliegen für eine zukunftsfähige Ökumenische Theologie bezeichnet werden. Mit der hier vorgeschlagenen Orientierung der Ökumene an einer Haltung der Demut soll diese in einem theologisch-ethischen Sinn geleistet werden. Mit ihr sind keine anderen Orientierungen ausgeschlossen oder wird keine besondere privilegiert, sondern es soll lediglich der Aspekt einer ethischen Orientierung über bereits vertretene Konzeptionen, wie beispielsweise diejenige der wechselseitigen Anerkennung, hinaus ekklesiologisch und ökumenisch näher beleuchtet und in seinen fruchtbaren Konsequenzen erörtert werden. Ethische Orientierung wird dabei im Folgenden so verstanden, dass sie einen selbstreflexiven, selbstkritischen und toleranten Umgang mit dem eigenen Ethos bzw. der eigenen Moral einschließt.47 Diese Offenheit und Aufgeschlossenheit zeigt sich dann nicht nur im Ernstnehmen anderer und fremder moralischer Orientierungsordnungen – wie der sittlichen Lebensformen und Normen in verschiedenen christlichen Lebensformen sowie der Moral in anderen Religionen oder in säkularen Lebensformen –, sondern auch darin, dass die eigene Orientierungsordnung nicht absolut gesetzt, dass Moral auch kritisch distanziert, dass ihre Grenzen aufgezeigt, aber auch durch Liebe für andere überschritten werden können.48 In diesem Sinne kann Demut, die aus der christlichen Liebe entspringt, in sich selbst als eine ethische Orientierung aufgefasst werden: Sie hält sich für den anderen offen, ist ihm gegenüber nicht gleichgültig und weiß zugleich um ihren Gnadencharakter, um ihr Verdanktsein durch Gott. Dies ist eine innere Struktur, die sie vor einer Absolutsetzung des Immanenten und Innerweltlichen sicher bewahrt. In einer Zuspitzung des letzteren Gedankens hat der Philosoph Jean-Luc Nancy von der Demut radikal als einer Haltung gesprochen, die sich auf produktive Weise an das ‚Nichts‘ halte.49 Sie brauche daher weder Grund noch Ursprung als Fundament der Gewissheit ihres Handelns und Denkens. Anstatt die Welt zu umarmen, ermesse sie eine unendliche Distanz zu ihr und halte auf diese Weise die Welt, wie sie ist und wie wir sie sehen, offen für etwas anderes, was in ihr nicht aufgehe. Sie sei nicht weniger und nicht mehr als dieses Ermessen einer Distanz. Aus Nancys radikaler Skizze einer gleichsam ‚haltlosen Haltung‘ der Demut geht nun auch zugespitzt eine ethische Orientierung hervor, die sich anders als das sittliche Gruppenethos und seine Gesinnung der Einheit nicht auf eine Selbstermächtigung des Eigenen festlegen lässt. Ihr Fluchtpunkt ist nicht in der Immanenz des Seins, d. h. nicht in einer bloß alternativen Ord47
Vgl. ebd., 597–604. Vgl. ebd., 608. 49 Vgl. Jean-Luc Nancy, Die Anbetung. Dekonstruktion des Christentums 2, übers. v. E. von der Osten, Zürich 2012, 26. 48
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nung der Niedrigkeit und Demut gegenüber den herrschenden Ordnungen der Stärke und Macht lokalisiert, sondern weist auf die Öffnung und Überschreitung jeder sozialen Ordnung, auch der Eigenen. Im Sinne der Ökumene gesprochen: Sie verweist auf ‚mehr‘ als es eine manifeste Einheit der christlichen Kirchen und eine fest einende Gesinnung der demutsvollen Selbstzurücknahme unter ihnen je bewerkstelligen könnte. Demut besteht in diesem Sinne – mit Tillich gesprochen – in Kirchen, die offen, in Bewegung zu anderen hin und zuweilen auch mit sich selbst heftig im Widerstreit sind und gerade darin beweisen, dass sie auf dem Weg zum Reich Gottes sind.
5. Ökumene als eine Bewegung der Demut des Kircheseins Ökumene kann für das 20. Jahrhundert als ein kirchenpolitisches Programm der Multikulturalisierung und Globalisierung von Kirche verstanden werden. Als solches ist sie im nicht-konfessionellen Sinne ein katholisches Programm, aber auch im modernen Sinne ein kosmopolitisches Programm von und für Christen und von der Kirche für die Welt. Es stellt sich nun für die Zukunft die Frage, wie ein solches Programm herrschaftskritisch, aber nicht herrschaftsfrei, demütig und nicht hegemonial sowie selbstkritisch im Umgang mit Ermächtigungen des Eigenen, die in einem solchen, von Menschen durchgeführten Vorhaben notwendig immer wieder hervortreten müssen, vertreten werden kann. In diesem Artikel wurde der Vorschlag unterbreitet, Demut nicht als kommunitäres Ethos, sondern als eine ethische Orientierung zu verstehen, die stets eine Distanz zur eigenen Existenz und ihren sittlichen Lebensformen mit einbegreift. Radikal verstanden leitet Demut dazu an, sich in der Ökumene nicht an einer innerweltlichen Zielvorstellung der sichtbaren Einheit der Kirchen auszurichten, sondern an den Ambivalenzen und Brechungen der geschichtlichen Existenz der Kirchen und der in ihnen aufbrechenden ‚Öffnung des Christentums‘50 für ein Anderes dieser Welt zu wachsen. Genau aus dieser Ausrichtung an der Gebrochenheit des Kircheseins und aus einer Affirmation seiner irdischen ‚Unabschließbarkeit‘ kann eine – in neuer Form – einende Kraft zwischen den geschichtlich manifesten Kirchen hervorgehen, welche öffnend und nicht schließend, selbstkritisch statt selbstgefällig, machtvoll für anderes eröffnend und nicht selbstermächtigend ist. Um das Potenzial dieser These für die Ökumene näher zu beleuchten, soll zum Abschluss nur kurz auf zwei Beispiele verwiesen werden, die zeigen, wie unterschiedlich in ökumenischen Dialogen und den aus ihnen hervorgehenden Studiendokumenten mit der Haltung der Demut als einem ekklesialen Ethos des 50 So lautet der Titel der fundamentaltheologischen Auseinandersetzung von Fana Schiefen mit dem Werk Jean-Luc Nancys. Vgl. Fana Schiefen, Öffnung des Christentums? Eine fundamentaltheologische Auseinandersetzung mit der Dekonstruktion des Christentums nach Jean-Luc Nancy, Regensburg 2018.
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Christentums umgegangen wird und wo sich das zuvor skizzierte ökumenische Ethos der Demut hier bereits aufzeigen lässt. Als erstes Beispiel kann hier das Konvergenzpapier des Ökumenischen Rates der Kirchen Die Kirche. Auf dem Weg zu einer gemeinsamen Vision aus dem Jahr 2014 dienen. In diesem wird das Dasein der Kirchen in einer zentralen Passage des Textes an die Erfüllung eines göttlichen Plans und an eine Verwirklichung der endgültigen Bestimmung des gesamten Universums gebunden: „Das Reich Gottes, das Jesus verkündete, indem er Gottes Wort in Gleichnissen offenbarte, und das er durch seine großen Taten, besonders durch das Ostergeheimnis seines Todes und seiner Auferstehung, einleitete, ist die endgültige Bestimmung des gesamten Universums. Denn die Kirche existiert nach dem Willen Gottes nicht für sich selbst, sondern soll dem göttlichen Plan der Verwandlung der Welt dienen.“51
Ekklesiologisch nimmt das Papier eine sehr triumphale Perspektive ein, die wenig Raum für Selbstkritik und Selbstrelativierung lässt. Auch die theologische Erinnerung an eine ‚Kirche im Wachsen‘ und an ihr Selbstverständnis als ‚wanderndes Gottesvolk‘ im dritten Kapitel der Studie, die offensichtlich als Gegengewicht wirken sollen, versagen an dieser Stelle. Denn in der Beschreibung des Wachstumsweges der Kirche wird in der Argumentation stets von einem Dual von Heiligkeit auf der einen und Sünde auf der anderen Seite ausgegangen und klar zwischen beiden diskriminiert, so dass an jeder Stelle klar ist, worin genau die ‚sicheren‘ Zeichen der Heiligkeit im Gegensatz zur Sünde bestehen. Damit wird aber der Spielraum für die Wahrnehmung von Ambivalenz und Offenheit in der Studie vollkommen geschlossen. Als zweiter Text kann nun kontrastierend auf das bereits 2001 von der Leuenberger Kirchengemeinschaft herausgegebene Studiendokument Kirche – Volk – Staat – Nation verwiesen werden. In diesem Dokument ist in den ‚Anmerkungen zur Ekklesiologie‘ die Rede von einer konstitutiven Gebrochenheit und Ambivalenz der Kirchen, die sich vor allem in ihrer Doppelexistenz als geschichtliche Kirche vor Ort und als Kirche weltweit niederschlage.52 Diese Doppelrolle der Kirche macht das Dokument vor allem angesichts von politischen Phänomenen wie einem neuerlich aufkeimendem Nationalismus und einer neuen Suche nach Identität und Beheimatung stark und sucht so eine ausgewogene Position für die Ökumene der Kirchen nach innen und nach außen zu entwickeln. Der Duktus des Textes im Blick auf die Aufgaben der Kirchen und ihren Dienst an der Welt ist – anders als beim ÖRK-Konvergenzpapier Die Kirche – durchweg 51 Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen R ates der Kirchen, Die Kirche. Auf dem Weg zu einer gemeinsamen Vision. Eine Studie der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK), Gütersloh 2014, § 58, 95. 52 Vgl. Wilhelm Hüffmeier im Auftrag des Exekutivausschusses der Leuenberger Kirchengemeinschaft (Hg.), Kirche – Volk – Staat – Nation. Ein Beitrag zu einem schwierigen Verhältnis (Leuenberger Texte 7), Frankfurt a. M. 2002, 52–53.68.
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bescheiden. So wird sich von einer Rechristianisierung Europas und damit von einem Verständnis des Dienstes als Mittel zur Selbstermächtigung des Eigenen klar distanziert. Ebenso wird von der (Wieder-)Herstellung einer abendländisch-christlichen Gesellschaftsordnung in Europa Abstand genommen und für einen offenen Dialog über die Zukunft Europas plädiert.53 Die Gegenüberstellung der beiden Dokumente zeigt, dass eine (Re-)Orientierung des ökumenischen Ethos der Kirchen an einer Haltung der Demut einerseits anknüpfungsfähig an bestehende ökumenische Diskurse ist und andererseits dazu dienen kann, diese kritisch zu befragen. Das Studium der Demut in einer revidierten und – im Blick auf die Geschichte ihrer christlichen Deutungen – selbstkritisch artikulierten Form kann die ethische Orientierung der Ökumene und ihr ekklesiales Selbstverständnis in Zukunft vertiefen und transformieren helfen. Erste Schritte dazu wurden in diesem Artikel aufgezeigt.
53
Vgl. ebd., 74.
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Literaturverzeichnis Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (Hg.), Charta Oecumenica. Leitlinien für die wachsende Zusammenarbeit unter den Kirchen in Europa, Frankfurt a. M. 2002. Eve-Marie Becker, Der Begriff der Demut bei Paulus, Tübingen 2015. Reinhard Feldmeier, Macht – Dienst – Demut. Ein neutestamentlicher Beitrag zur Ethik, Tübingen 2012. Adolf von Harnack, Das Wesen des Christentums, hg. v. T. Rendtorff, Gütersloh 1999. Wilhelm Hüffmeier im Auftrag des Exekutivausschusses der Leuenberger Kirchengemeinschaft (Hg.), Kirche – Volk – Staat – Nation. Ein Beitrag zu einem schwierigen Verhältnis (Leuenberger Texte 7), Frankfurt a. M. 2002. Jens Jessen, Gemeinsam einsam, in: DIE ZEIT, 25.5.2017, online abrufbar unter: https:// www.zeit.de/2017/22/oekumene-katholikenprotestantenkirchen/komplettansicht (letzter Zugriff am 15.8.2019; R. K.). Rebekka A. Klein, Einheit im Geist? Anfragen an die ekklesiologischen Entwürfe von Tillich und Pannenberg, in: Evangelische Theologie 76 (2016), 122–134. Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen, Die Kirche. Auf dem Weg zu einer gemeinsamen Vision. Eine Studie der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK), Gütersloh 2014. Jean-Luc Nancy, Die Anbetung. Dekonstruktion des Christentums 2, übers. v. E. von der Osten, Zürich 2012. Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, in: ders., Philosophische Werke in sechs Bänden, Bd. VI, hg. v. C.‑A. Scheier (Philosophische Bibliothek 656), Hamburg 2013, 1–168. Michaela Puzicha OSB, Nicht eine Tugend, sondern ein Lebensstil. Demut bei Benedikt, in: Erbe und Auftrag 91 (2015), 366–378. Christoph Raedel, Aus der Wahrheit leben – in Demut bezeugen, in: Theologische Beiträge 44 (2013), 81–96. Donata S. Reisch, Erhöhter Gott – vertiefter Mensch. Zur Bedeutung der Demut ausgehend von Meister Eckhart und Jakob Böhme, Freiburg i. Br. 1999. Fana Schiefen, Öffnung des Christentums? Eine fundamentaltheologische Auseinandersetzung mit der Dekonstruktion des Christentums nach Jean-Luc Nancy, Regensburg 2018. Werner Stegmaier, Nietzsches ‚Genealogie der Moral‘, Darmstadt 2010. Ders., Philosophie der Orientierung, Berlin 2008. Paul Tillich, Systematische Theologie, Bd. III, Stuttgart 1966. Klaus Wengst, Art. Demut. IV. Neues Testament, Religion in Geschichte und Gegenwart II, Tübingen 41999, 656–657. Ders., Demut – Solidarität der Gedemütigten, München 1987. Eckhard Zemmrich, Demut. Zum Verständnis eines theologischen Schlüsselbegriffs (Ethik im theologischen Diskurs 4), Berlin 2006.
II. Soziale und politische Horizonte einer Erneuerung der Ökumene
Ökumenische Weglinien Anthropologische Kriterien ökumenischer Orientierung Markus Mühling 1. Voneinander-und-Füreinander-Werdende Die Frage nach dem Menschen kann zusammengefasst werden in der Frage nach der imago dei, deren Interpretation durch die Jahrhunderte hindurch variierte und so manche Abwege hervorbrachte. Wir können auf diese Geschichte hier nicht eingehen, deswegen sei nur so viel gesagt, dass ich es für die sinnvollste Interpretation halte, dass der Mensch wie die trinitarischen Hypostasen personal ist, und dass in beiden Fällen, dem göttlichen, wie dem menschlichen, eine Person als ein ‚besonderes Voneinander-und-Füreinander Werden‘1 zu bestimmen ist. Die Einflüsse, die hier direkt eingehen, sind vielfältig. Für den theologiegeschichtlich Interessierten: Hier spielen nicht nur Überlegungen des 20. Jahrhunderts, insbesondere der Theologen der Trinitarischen Renaissance, und Überlegungen Luthers eine Rolle, sondern Bestimmungen Richard von St. Victors2 und Raimundus Lullus’3 sind besonders berücksichtigt. Inhaltlich handelt es sich um eine Bestimmung des Menschen, in der (1.) Menschen von Beginn an intern relationierte Wesen sind, die nur durch ihre Liebesbeziehungen vom anderen her und zum anderen hin existieren, und zwar in ontisch-konstitutiver Hinsicht. Sie sind immer, wie Theologen der Trinitarischen Renaissance gesagt hatten, persons in communion. Gerne bemüht man zur Illustration auch ein Bonmot von John Donne: „No man is an Iland, intire of it selfe; every man is a peece of the Continent, a part of the maine; if a Clod bee washed away by the Sea, Europe is the lesse […]. And therefore never send to know for whom the bell tolls; It tolls for thee.“4 (2.) Dieses Voneinander-und-Füreinander ist noch einmal zu konkretisieren, in einem Zeitalter, in dem der Relationsbegriff en vogue ist und für alles 1 Vgl. Markus Mühling, The Humanifying Adventure. A Response to Tim Ingold, in: Verbs, Bones, and Brains, hg. v. A. Fuentes/A . Visala, Notre Dame 2017, 104–113. 2 Vgl. Richard von St. Victor, De Trinitate. Texte critique avec introduction, notes et tables (Textes philosophiques du moyen âge 6), hg. v. J. Ribaillier, Paris 1958, 4,13–16. 3 Vgl. R aimundus Lullus, Die neue Logik. Lateinisch-deutsche Ausgabe (Philosophische Bibliothek 379), hg. v. Ch. Lohr, Hamburg 1985, 22. 4 John Donne, Devotions upon Emergent Occasions, Montreal 1975, XVII.
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Mögliche verwendet wird. Gemeint ist also nicht, dass Menschen füreinander irgendwie wichtig und immer sozial sind. Das Sozialitätsparadigma selbst kann äußerst unterschiedlich ausgelegt werden. Gemeint ist vielmehr eine interne Konstitutivität, die nicht einfach empirisch beobachtet werden kann, ja in den meisten Fällen gegen den empirischen Befund zu glauben ist. Denn ausgeschlossen ist damit, dass das wirklich konstitutive Verhältnis der Menschen zueinander primär als merkantile Handelsbeziehung zu verstehen ist, und ausgeschlossen ist damit auch, dass es sich um primäre Machtbeziehungen handelt. (3.) Die Besonderheit der Personen besteht nicht an und für sich, sondern sie entsteht nur in diesem Voneinander-und-Füreinander: Nur in der Beziehung vom anderen her und nur in der Beziehung zum anderen hin, existiert meine Besonderheit und Identität. (4.) Das Sein der menschlichen Personen – wie auch der göttlichen – ist eigentlich kein Sein, sondern stets ein Werden. Das bedeutet zunächst, dass, wie Bernhard Waldenfels einmal sagte, wir stets ‚älter sind als wir selbst‘. Die ganze Tradition gehört also zu mir hinzu, und zwar auch dann, wenn sie weder mir noch sonst jemandem bekannt ist. (5.) Dieses Werden betrifft aber nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Gegenwart und Zukunft: Daher ist es richtig zu sagen, dass die imago dei eine Bestimmung ist.5 Sie ist dies aber prinzipiell und auch eschatisch: Auch eschatisch hört das Werden nicht auf. (6.) Die interne, dynamische Relationalität ist nicht auf Menschen beschränkt, sondern die vor- oder nicht-personale Natur ist eingebunden. Das heißt aber, dass besondere Voneinander-und-Füreinander Werdende immer leibliche Wesen sind. (7.) Das so gezeichnete Beziehungsgefüge ist zwar in all seinen Teilen konstitutiv, aber strukturiert, indem es die Gottesbeziehung bzw. genauer, die passive Bezogenheit zu Gott ist, die die Imagohaftigkeit ausmacht.
2. Unterscheidungen des relationalen Werdens im Gespräch mit der Sozialanthropologie Dieses besondere Voneinander-und-Füreinander Werden steht natürlich unter der Alternative zu gelingen oder zu misslingen, zurechtgerückt oder ver-rückt zu sein, kurz, unter der Alternative von sündhaft und gerechtfertigt. Das heißt zum einen, dass Relationalität und Prozessualität nicht an sich positive Werte sind, sondern ihrerseits erst qualifikationsbedürftig sind. Gemeinschaftlichkeit bedarf der weiteren Qualifikation – das wusste schon Paulus, der ja auch eine κοινωνία 5 Vgl. Ingolf U. Dalferth/E berhard Jüngel, Person und Gottebenbildlichkeit, in: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, Bd. XXIV, hg. v. F. Böckle et al., Freiburg i. Br. 1981, 57–99.
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der Bösen kannte (1.Kor 10,20). Genau das Einziehen einer dementsprechenden Distinktion ist aber ein Problem: Denn während einerseits die theologischen Begriffe dafür Legion sind, ist andererseits eine begrifflich-theologische Klärung nicht genug, sondern es bedarf der phänomenalen Durchdringung und Benennung entsprechender Phänomene. Für die κοινωνία der Kirche ist dies besonders wichtig, versteht sie sich doch als communio sanctorum. Das schließt zwar nicht aus, dass sie in ihren Vollzügen auch ein corpus permixtum ist. Aber es stellt die Kirche doch vor die Aufgabe, diese Entscheidung auch phänomenal benennen zu können. Und an dieser Stelle möchte ich nun vorschlagen, auf neuere Überlegungen der Sozialanthropologie zurückzugreifen. Natürlich können diese nicht einfach übernommen und getauft werden. Aber deren Expertise kann auch nicht einfach ignoriert werden, wenn man Theologie nicht in die Isolation treiben will. Man wird hier also hermeneutisch differenzieren und exakt arbeiten müssen. All das würde einen solchen kurzen Beitrag wie diesen hier freilich überlasten. Daher stelle ich nur die Ergebnisse dieser Überlegungen vor. Ich beziehe mich dazu auf mannigfache Überlegungen des Aberdeener Sozialanthropologen Tim Ingold. Dabei lasse ich alles, was aus theologischer Sicht problematisch ist, weg, und beziehe mich nur auf das, was theologisch sinnvoll rezipierbar ist, auch wenn es einige Veränderungen durchlaufen haben mag. Sie bekommen Ingold also im Folgenden nicht in Reinform geboten, sondern schon durch meine Theologie transformiert. Die Wahl Ingolds hat aber den Vorteil, dass seine eigene Position schon theologisch informiert ist, insofern sie theologische Sachverhalte, wie Ausführungen des eingangs erwähnten Lullus’ oder auch beispielsweise die trinitarische Perichorese, aufnimmt.6 Ingolds Hauptthese ist dabei, dass die Rede von human beings durch die von human becomings zu ersetzen sei. ‚To human is a verb‘ lautet dann auch eine seiner Hauptthesen. Es geht dabei nicht um die bekannte Hominisation, die Menschwerdung, sondern um das homificare, um menschliches Werden oder Menschsein im Modus des Werdens. Dieses kann m. E. am besten mit Hilfe einer narrativen Ontologie von Weglinien beschrieben werden. 2.1 Transport und Wayfaring (1.) Linien sind nichts anderes als Bewegungen, in ihrer radikalsten Form ohne Anfang und ohne Ende. Diese Linien können eine doppelte Gestalt haben, sie können als ‚Spuren‘ (traces) und als ‚Fäden‘ (threads) erscheinen. Spuren benötigen eine Oberfläche, in die sie durch die Bewegung hineingeschrieben werden, wie das Gras der Prärie für die Pferdespur, der Knick oder die Falte einer Gebirgskette in der Erdkruste oder die gemalte oder geschriebene Linie 6 Vgl.
Tim Ingold, The Life of Lines, London 2015, 147.
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auf dem Papier. Fäden hingegen stehen zunächst für sich selbst. Sie können ein Medium durchziehen, wie im Falle des Kondensationsstreifens eines Flugzeugs, aber sie können auch unvermittelt erscheinen, wie der Faden, der gewoben oder gestrickt wird, so dass durch seine Verknüpfungen erst selbst eine Fläche oder ein mehrdimensionales Gebilde, wie etwa die Leinwand, entsteht. Damit ist aber die Fläche keine grundlegende Entität mehr, sondern sie kann aufgrund der Möglichkeit der wechselseitigen Konversion von Fläche und Faden als auf Linien beruhend verstanden werden. Die so entstandene Fläche kann ihrerseits nun weiterhin als Medium von anderen Linien, den Spuren, dienen.7 Beide, Fäden wie Spuren, sind aber als Bewegungen zu verstehen, so dass beide als Weglinien zu bezeichnen sind. (2.) Weglinien können auf eine doppelte Art verstanden oder interpretiert werden. Die eine Art, Linien zu verstehen, sind Linien des ‚Transports‘ (transport).8 Hier werden Linien als kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten verstanden, wie im Falle der Geraden. Auch komplexe Kurven können so – allerdings nur annäherungsweise – als Verbindungen von Punkten begriffen werden, die dann mithilfe eines Koordinatensystems definiert werden, vergleichbar mit der Kurvendiskussion als Analyse der Graphen einer Funktion in der Mathematik. Versteht man Weglinien auf diese Art und Weise, verschwindet letztlich die Bewegung und damit auch die Weglinie. Denn als Verbindung zwischen zwei Punkten sind es allein die Punkte, die den Weg definieren. Und die Punkte sind in einem Koordinatensystem mit welchen Koordinaten auch immer, beispielsweise im vierdimensionalen Koordinatensystem der Raumzeit, angebbar. Hier sind also die Punkte primär und die Linie sekundär. Versteht man die Linie als Weg, so ist sie die Eigenschaft einer vorgängigen Entität, z. B. ein reisender Mensch oder ein sich bewegendes Auto, der oder das diesen Weg von Punkt zu Punkt zurückzulegen hat. Nicht nur die Punkte sind hier gegenüber dem Weg vorgängig, sondern auch die Vehikel gegenüber der Bewegung. Aber die Bewegung ist in diesem Bild des transport nicht nur nachgängig, sondern sie verschwindet – zumindest idealerweise – vollständig. Denn federführend sind ja die Punkte. Man versteht diese als zeitlos ewig bestehend und damit immer in ihrem Medium des Koordinatensystems eingezeichnet, wie es beispielsweise in der Minkowski-Welt der Fall ist,9 so dass es zu einer Verräumlichung von Zeit kommt, die, genauso wie die Bewegung, damit zur Illusion wird. In diesem Falle hätte man eine transzendente, abstrakte Perspektive eingenommen, jenseits der Weglinien selbst. Aber auch wenn man sich auf dieser Weglinie bewegend versteht, verschwindet letztlich die Bewegung. Bewege ich mich auf dieser Weglinie, dann ist das Entscheidende das Erreichen des jeweils nächsten Punktes. 7 Vgl.
Tim Ingold, Lines. A Brief History, London 2007, 51 f.56 f. Vgl. ebd., 77–84. 9 Vgl. Hermann Minkowski, Raum und Zeit, in: Das Relativitätsprinzip. Eine Sammlung von Abhandlungen, hg. v. H. A. Lorentz et al., Darmstadt 61958, 54–66. 8
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Der Punkt wird somit zum Ziel. Idealerweise ist der jeweils nächste Punkt in unendlicher Geschwindigkeit, instantan zu erreichen, und zwar unabhängig davon, ob es einen Endpunkt oder unendlich fortgesetzte Punkte gibt. Auch damit kollabiert die Bewegung zur Statik. Versteht man Bewegungen und ihre Linien als transport, sind sie ontologisch gegenüber den bewegten Objekten und gegenüber dem Medium oder dem Koordinatensystem immer nachgängig. Letztlich verschwindet damit der Gedanke der Weglinie selbst. Dem Modell des transport entspricht damit eine objekt-orientierte Ontologie.10 (3.) Man kann Weglinien auch anders interpretieren, so dass ihnen eine ontologische Priorität zukommt und man kann diese Art Linien des ‚Wanderns‘ (wayfaring) nennen. Sie sind die eigentlichen Weglinien. Hier ist und bleibt die Bewegung vorgängig. Erst durch die Bewegungen entstehen die Medien für andere Linien, wie im Falle der durch gewebte Fäden entstandenen Zeltplane. Liegt schon ein Medium vor, zeichnen sich diese Linien nicht auf der Oberfläche dieses Mediums ein, sondern ziehen sich durch dieses hindurch, und zwar in einer Art und Weise, nach der sich nun gleichursprünglich Linie und Medium durch die Bewegung gestalten oder umgestalten. Punkte und Ziele sind gegenüber der Bewegungslinie hier ontisch sekundär: Sie entstehen durch Verknotungen und Verflechtungen der Linie oder Bewegung selbst. Auch relationslogisch ist dieser Fall interessant. Denn beschreibt man die Linie oder Bewegung als Relation, und die Punkte als Relate, dann lässt sich dieser Fall, anders als die Linien des transport, nicht angemessen analysieren. Denn hier wäre ja eine ontische Vorgängigkeit der Relation vor den Relaten ausgesagt, die im Rahmen der Relationslogik nicht darstellbar ist, in einer Logik der Weglinien aber selbstverständlich erscheint. Streng genommen wird man sogar sagen müssen, dass hier gar keine Punkte als eigenständige Entitäten entstehen, sondern dass die ja de re nur in einem sehr engen Radius in sich verschlungenen und gekrümmten Bewegungen nur dann wirkliche Punkte ergäben, wenn man idealiter eine unendliche Krümmung annähme, was aber nicht der Wirklichkeit entspricht. Punkte erweisen sich nun tatsächlich als ontisch sekundär, als Abstraktionen der Bewegungslinien. Real bleiben sie immer Knoten von Bewegungen. Dies hat sofort Konsequenzen für die Interpretation der Knoten als Ziele: Da die Bewegungslinie auf den Knoten nicht aufhört, sondern nur andere Gestalt annimmt, ist die Bewegung oder der Weg gegenüber dem Ziel immer ontisch vorgängig, d. h. er ist ständiges Werden. Die Knoten sind um der Bewegung willen da, nicht umgekehrt. Entsprechend sind auch die Teilziele um der Bewegung, um des Weitergehens über das Ziel hinaus willen da, nicht umgekehrt. Das so verstandene wayfaring ist nicht ziellos, wenn es auch kein Endziel kennt. 10 Vgl. Graham Harman, The Road to Objects, in: Continent 3 (2011), 171–179; zur Kritik: Ingold, Life of Lines, 16 (wie Anm. 6).
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Dieser Charakter der Nicht-Ziellosigkeit des wayfaring besteht aber nicht nur in den Knoten der Teilziele, sondern auch in der Qualität der Bewegung selbst, wie noch zu sehen sein wird. Die Bewegung von Weglinien des Wanderns sind aber nicht nur gegenüber dem Medium und gegenüber den Knoten (Punkten) und Zielen ontisch vorgängig, sondern auch gegenüber dem Bewegten oder sich Bewegenden. Ist beim transport eine Substanz oder ein Vehikel, das sich bewegt, nötig, so ist im wayfaring die Bewegungslinie selbst das Bewegte oder SichBewegende. Keine Subjekte oder Objekte bewegen sich, sondern die Bewegung selbst ist das Entscheidende, durch die Zeit betrachtet. Bewegende sind dabei gleichzeitig Immer-schon-Gewordene und Immer-noch-zu-Werdende. Sie sind Immer-schon-Gewordene, weil man keinen archimedischen Anfangspunkt der Bewegung annehmen kann, sondern sich immer schon auf einer Weglinie bewegt – genauso wie man sich immer schon im Wahrnehmen vorfindet und dafür keine Basis angeben kann. Sie sind aber auch Immer-noch-zu-Werdende, weil diese Bewegung prinzipiell als unabgeschlossen angesehen werden muss. Ingold selbst schwebt dann im Gegensatz zu objektorientierten Ontologien eine „world without objects“11 vor. (4.) Die nur scheinbare Bewegung des transport ist primär repräsentativ intentional. Sie setzt eine intentio voraus. Zwar kann der oder das Bewegende oder sich Bewegende im transport vielleicht keinen Standpunkt von jenseits des Koordinatensystems einnehmen; aber er kann einen solchen dennoch als erdacht als Regel in seinem Geiste vorliegen haben. Intentionalität in diesem Sinne hat also nichts mit einem Geist oder der Fähigkeit zur Selbstbewusstheit zu tun. Sie meint vielmehr, dass es ein Subjekt geben muss, das die Linie des transport definierenden Punkte repräsentieren kann. Intentionalität und Repräsentanz im Sinne einer Abbildrelation gehören damit stets zusammen. (5.) Die tatsächliche Weglinie oder Bewegungslinie des wayfaring hingegen ist resonierend attentional. Mit Attentionalität ist in diesem Sinne eine spezifische Aufmerksamkeit gemeint, die ähnlich wie die Intentionalität noch keinen Geist oder kein Selbstbewusstsein voraussetzen muss. Gemeint ist vielmehr, dass das Bewegende oder sich Bewegende in der Gestaltung seines Weges auf seine Umwelt achtet und achten muss. Das passiv von der Umwelt Empfangene oder Erlittene, das ja höchstens in Protention in einer Gegenwart erscheinen kann oder aber überraschend, gestaltet den Weg der Bewegung und damit auch dessen Kurven, die zu Knoten werden können. Der Wandernde ist damit zugleich immer auch ein Pfadfinder im wörtlichen Sinne. Attentionalität ist nicht absolut passiv. Sie beruht zwar auf einem af-fect, dieser ist aber ohne aktiven Respons nicht denkbar. Auch diejenigen Knoten, die Teilziele sind, können nicht im Voraus feststehen oder gewusst werden, sondern ergeben sich aufgrund dieser Attentionalität. Die den Weg (scheinbar) unterbre11
Ingold, Life of Lines, 16 (wie Anm. 6).
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chenden Punkte als Knoten sind also nicht als Repräsentanz der Reise als Ganze aufzufassen, wie die Punkte beim transport, sondern sie entstehen in Resonanz mit der Umwelt, im resonierenden und nicht dissonanten Wahrnehmen der affordances dieser Umwelt. 2.2 Netzwerk (network) und Gewebe (meshwork) In sowohl der Beschreibung des transport als auch der des wayfaring haben wir bisher eine grobe Abstraktion vorgenommen, indem wir nur von einem bewegten Vehikel im Falle des transport und nur von einer Bewegung im Falle des wayfaring ausgegangen sind. Das ist aber streng genommen falsch, denn die Bewegungen vollziehen sich immer in, mit und unter anderen Bewegungen. Bewegte Vehikel und Weglinien vollziehen sich immer in Beziehung mit anderen bewegten Vehikeln oder Weglinien. Dabei zeigt sich, dass die Relationen des transport ontisch nicht-konstitutive oder externe Relationen sind, während die Relationen des wayfaring immer (auch) ontisch-konstitutive Relationen enthalten, im Idealfall sogar ausschließlich solche reziprok ontisch-konstitutiven Relationen. Das zeigt sich am deutlichsten daran, wie das so bestehende oder entstehende Relationsgefüge zu kennzeichnen ist. (1.) Das Relationsgefüge des transport bildet ein Netzwerk (network). Relationslogisch betrachtet ist es exakt durch ein Pfeildiagramm oder durch Graphen repräsentierbar. In der Lebenswelt erscheinen solche in Form der graphischen Darstellungen von sogenannten ‚sozialen‘ Netzwerken, in Form von miteinander verknüpften Adressbüchern, bei der Darstellung aller Fluglinien eines Landes oder Kontinents und dergleichen mehr. In diesem Netzwerk sind die Punkte stets vorgängig, sie sind ontisch nicht konstitutive Relate oder extern relationierte Relate. Verschwindet ein Punkt, verschwinden die anderen keineswegs, es ändert sich höchstens die vorzunehmende Relationierung – und auch das nicht notwendigerweise. Wie die Punkte der Bewegung des transport keine tatsächliche Bewegung widerspiegeln, so sind auch die ‚Verknüpfungen‘ oder ‚Knoten‘ des Netzwerks gar keine Verknüpfungen oder Knoten, auch wenn sie umgangssprachlich oder sogar in der Mathematik12 mitunter so genannt werden mögen. Sie sind in Wirklichkeit Individuen oder Atome, die für sich bestehen. Sie können zwar in Austausch miteinander treten. Aber dieser Austausch des Netzwerkes beschränkt sich auf diese nicht-konstitutive Relationalität. (2.) Das auf wayfaring beruhende meshwork oder ‚Gewebe‘ hingegen sieht anders aus und lässt sich in keinem Falle auf ein Netzwerk reduzieren. Hier entstehen die Relationspunkte erst aus den Verknüpfungen und sind gleichsam 12 Das ist so beim Fall von sogenannten Graphen, in denen die graphisch als Punkte dargestellten Relate auch Knoten genannt werden.
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Knoten oder Verflechtungen in einem Gewebe oder Teppich. Dabei kann sich, wie im Falle eines Gestricks, das ganze Gewebe auflösen, wenn sich ein Knoten löst, wenn dies auch nicht notwendigerweise der Fall sein muss. Ein solches meshwork oder ‚Gewebe‘ kann nämlich auf drei Arten modelliert werden. Erstens ist der Fall denkbar, dass aus verschiedenen Fäden jeweils Knoten oder Verknüpfungen entstehen, die dann als Relate zu bezeichnen sind. In diesem Falle bestehen streng genommen zwei Arten von Relaten: die Knoten und die unterschiedlichen Fäden. Hier sind zwar die Knoten ontisch sowohl von den unterschiedlichen Fäden als auch von den anderen Verknüpfungen abhängig, nicht aber das Bestehen der unterschiedlichen Fäden selbst. Diese verändern sich zwar bei einer möglichen Auflösung der Verknüpfung in ihrem Sosein, da Fäden ein Gedächtnis besitzen,13 nicht aber in ihrem Dasein. Zweitens ist ein Fall denkbar, in dem das ganze Gewebe, wie komplex es auch verwoben oder gestrickt sein mag, aus nur einem einzigen Faden besteht. In diesem Falle sind die einzigen Relate die Verknüpfungen und sie sind sowohl voneinander wechselseitig ontisch abhängig, was sich relationsontologisch wunderbar so ausdrücken lässt, dass es in diesem Gewebe ausschließlich ontisch-konstitutive Beziehungen gibt. Gleichzeitig besteht aber auch eine ontische Vorgängigkeit des einzigen Fadens gegenüber dem Gewebe als solchem, womit das gemeint ist, was sich relationslogisch nur sehr unbedarft als Vorgängigkeit der Relation vor den Relaten ausdrücken lässt. Drittens ist aber auch der Fall denkbar, dass zwar aus einem Faden mehrere, auch sehr komplexe Verbindungen entstehen, dass daneben aber auch noch andere Fäden eingesponnen sind. Dieser dritte Fall beschreibt also eine Mischung des ersten und des zweiten Falles. Er beschreibt eine Welt, in der zwar diejenigen Relate, die Knoten sind, ontisch voneinander abhängig sind, aber nicht alle mit allen. Ferner beschreibt er eine Welt, in der zwar einige der Relationen ihrerseits voneinander abhängig sind – nämlich insofern sie auf dem gleichen Faden beruhen – aber eben nicht alle, nämlich insofern es sich um mehrere Fäden handelt. Hier beschränkt sich die ontische Konstitutivität der Verknüpfung auf das Sosein der Fäden, nicht aber auf deren Dasein. Man stelle sich vor, die Welt sei kein Netzwerk, sondern ein Gewebe. Welches Gewebe ist sie dann? (3.) Das Gewebe ist dann gegenüber dem Netzwerk ontisch vorgängig, genauso wie die Weglinien des Wanderns gegenüber dem Transport vorgängig sind. Diese Vorgängigkeit ist zunächst einmal rein deskriptiv gegeben, insofern sie der phänomenalen Beschreibung der Bewegung des Wahrnehmens nähersteht. Es ist also ein Fehler, das Transportschema mit Ursprung, Linie und Ziel als phänomenal primär auszugeben. Geschieht dies fälschlicherweise doch,14 dann liegt es nicht an des Menschen leiblich-phänomenaler Wahrnehmung, 13 Vgl.
Ingold, Life of Lines, 25 (wie Anm. 6). George Lakoff/M ark Johnson, Philosophy in the Flesh. The Embodied Mind and its Challenge to Western Thought, New York, NY 1999, 32–34. 14 Vgl.
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sondern an einem spezifisch kulturellen Umgang mit diesem, der die Moderne mit ihren Inversionen schon voraussetzt, wie Michel Serres und Tim Ingold gezeigt haben.15 Mit der phänomenalen Nachgängigkeit des transport gegenüber dem wayfaring ist allerdings noch nichts über die Wirklichkeit von transport und Netzwerk ausgesagt. Denn dem transport und dem Netzwerk kann ja eine sekundäre Wirklichkeit zukommen, und auch als solche kann sie ein durchaus wichtiges Element der Wirklichkeit und der Lebenswelt darstellen. Aber nicht immer und überall. Es gibt Bereiche, in denen die Abstraktion zur Inversion16 wird, die letztlich unrealistisch und gefährlich werden kann. 2.3 Geschichten und Weglinien Die Weglinien des wayfaring und des meshwork sind exakt die primären stories, aus denen die Welt besteht. Dies wird verständlich, wenn man sich fragt, auf welche Weise man eigentlich über die beiden unterschiedlichen Bewegungen, die des transport und die des wayfaring, sprechen und wie das Verhältnis von Sprache zur sie beschreibenden Bewegung verstanden werden kann. Kurz zusammengefasst: Transport im Netzwerk ist durch die Klassifikation von Begriffen hinreichend bestimmt. Eine als transport im Netzwerk bestimmte Bewegung ist nichts Besonderes und kann beliebig oft wiederholt werden, weil alle denkbaren Prädikate auch in ihrer Summe durch mehr als ein logisches Subjekt oder Argument instanziiert werden können, mit Ausnahme der Raumzeitkoordinaten. Die das Netzwerk des transport definierenden Punkte werden in ein Begriffsschema integriert und so miteinander verbunden.17 Betrachten wir nun aber das wayfaring auf Weglinien durch das Gewebe. Wenn man dieses sprachlich ausdrücken will, bleibt einem nichts anderes übrig, als sich an den sich entwickelnden Weglinien entlang zu bewegen. Weder eine horizontale noch eine vertikale Integration ist hier möglich, denn für beides müsste man ja diskrete Daten oder Punkte voraussetzen. Solche aber bestehen, wenn die sich entwickelnden Weglinien vorgängig sind, gar nicht. Jeder sprachlichen Beschreibung bleibt also nichts anderes übrig, als sich an den Weglinien entlang18 zu bewegen. Diese Bewegung an den Weglinien entlang ist nichts anderes als die Bewegung durch die Weglinie selbst. Denn während im transport jede Punktematrix beliebig oft abgeschritten werden kann, bedeutet, sich an einer Weglinie entlang zu bewegen, eine neue Weglinie durch das Gewebe zu 15 Vgl. Michel Serres, Gnomon. The Beginnings of Geometry in Greece, in: A History of Scientific Thought. Elements of a History of Science, hg. v. dems., Oxford 1995, 73–123, hier 80; Tim Ingold, Being Alive. Essays on Movement, Knowledge and Description, New York, NY 2011, 68–70.145–148. 16 Vgl. Ingold, Being Alive, 68–70.145–148 (wie Anm. 15). 17 Vgl. Tim Ingold, A Storied World, in: ders., Being Alive, 141–176, hier 153.158 (wie Anm. 15). 18 Vgl. ebd., 154.
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bilden, die in irgendeiner Weise auf die erste bezogen ist. Da auf der Weglinie der Wahrnehmung keine fest abgegrenzten Objekte existieren, sondern Wahrgenommenes erscheint, bedarf es einer sprachlichen Form, die dies wiederzugeben vermag. Dies sind sekundäre Geschichten. Diese geschichtliche Beschreibung folgt nicht einer expliziten, sondern einer impliziten Ordnung.19 Sie beschreibt keine komplexe Struktur, sondern einen komplexen Prozess.20 Will man die primären Geschichten beschreiben, benötigt man also sekundäre Geschichten. Um nicht missverstanden werden zu können: Auch Geschichten zweiter Ordnung enthalten ja Begriffe. Aber sie sind nicht auf Begriffe reduzierbar. Die Unterscheidung von transport und wayfaring kann nun genutzt werden, um die Frage nach menschlich gelingendem Voneinander-und-Füreinander Werden zu erhellen. Es ist nicht diese Unterscheidung selbst, die die traditionelle Unterscheidung von Sünde und Gnade remodellieren kann, sondern die Logik der Inversion von wayfaring in transport, die phänomenal verständlich zu machen vermag, was wir mit ver-rücktem, also sündigem, Voneinander-undFüreinander Werden meinen. Dann aber kommen wir zu folgender Schlussfolgerung: Jede Kommunikation von Geschichten, die menschliches Leben in der konzeptionellen Terminologie von transport darstellt, wo die dramatische Kohärenz von wayfaring gefragt wäre, führt den Weglinienprozess unseres Leibes in ein dissonantes Werden mit der Wirklichkeit des Gewebes der Welt. Entsprechend geschieht dann schon das Wahrwertnehmen in einer verzerrten Weise, die nicht mehr den affordances genügen kann, d. h. es führt zu unangemessenen Responsen.
3. Folgerungen für die Ökumene (1.) Die erste positive Folgerung überrascht nicht: Der Andere, zumal der Andere im Zeugnis des dreieinigen Gottes, gehört zu meiner (auch konfessionellen) Identität und diese wäre ohne ihn nicht denkbar – und zwar nicht allein in dem Sinne, dass Identität immer ein Abgrenzungsphänomen wäre, sondern schon in dem Sinne, dass meine Besonderheit ohne den anderen inexistent wäre. Daraus folgt, dass das christliche Zeugnis immer plural, von verschiedenen Weglinien aus, verfasst ist. Die Ökumene ist also nicht eine Aufgabe, die aufgrund von historisch-kontingenten Zufällen gegeben ist, sondern sie ist dem christlichen Zeugnis inhärent. 19 Die Unterscheidung von einer expliziten Ordnung, die klassifikabel ist, zu einer impliziten Ordnung, die nur erzählt werden kann, geht zurück auf David Bohm, Wholeness and the Implicate Order, London 1980, 177–217. 20 Der Unterschied zwischen komplexer Struktur und komplexem Prozess geht zurück auf David C. Rubin, Go for the Skill, in: Remembering Reconsidered. Ecological and Traditional Approaches to the Study of Memory (Emory Symposia in Cognition), hg. v. U. Neisser/ E. Winograd, New York, NY 1988, 374–382.
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(2.) Die Frage aber entsteht sofort, was Ökumene in diesem Sinn bedeutet, was sie nicht bedeutet, und was sie nicht bedeuten darf. Wolfhart Pannenberg sieht bekanntlich aufgrund seines Gedankens einer historisch zu verwirklichenden Universalkohärenz schon den Wahrheitsanspruch des Christlichen durch die ‚Glaubensspaltung‘ kompromittiert.21 Hier ist beides, sowohl der Wahrheitsbegriff als auch das ökumenische Engagement, im Modell des transport und des Netzwerks gedacht. Wenn dieser aber auf einer Inversion beruht, dann ist Pannenbergs Ansatz problematisch. Jeder Gedanke einer sichtbaren Einheit, mag er nun die Organisation, die Lehre, die Ämter oder ein Repräsentationsamt betreffen, ist in Frage zu stellen.22 Denn er folgt strikt der Logik des Netzwerks und des transport. Diese Logik mag in einer Welt, deren Mediensystem weitgehend dem Netzwerkgedanken folgt, sogar erfolgreich sein – sie verzerrt aber nichtsdestotrotz menschliches Werden. Das betrifft dann vor allem die Lehrgehalte: Da die Kirche, die communio sanctorum, keine Transportgemeinschaft eines Netzwerks sein kann, kann sie auch keine Lehrgemeinschaft sein, die die Einheit einer konzeptionellen Lehre anstreben würde. Als Wegliniengemeinschaft des christlichen Zeugnisses kann sie nur engagierte Erzählgemeinschaft sein; genau eine solche ist aber nur heterogen denkbar. (3.) Seit Harding Meyer hat sich zumindest in einem Zweig ökumenischer Debatten der Begriff der versöhnten Verschiedenheit als Leitbegriff etabliert.23 Dieser Begriff scheint im Unterschied zu dem der sichtbaren Einheit weitaus fruchtbarer zu sein, lässt er doch mehr Raum für Differenzen. Ob der Begriff aber tatsächlich aussagekräftig sein kann, hängt davon ab, was ‚versöhnt‘ hier bedeuten soll. Auf den ersten Blick scheint der Terminus aus der Versöhnungslehre, der Soteriologie als dem Zentrum des christlichen Glaubens, zu stammen. Versöhnung ist dann primär ein Faktum der Beziehung zwischen Gott und den Menschen im Werk Christi. Wäre es also demnach denkbar, Einsichten aus dem Heilsverständnis von Leben, Kreuz und Auferstehung Jesu Christi auf das Leben der institutionellen Kirchen zu übertragen? Eine kurze Übersicht der entsprechenden Verwendung des Begriffs in den ursprünglichen Schriften Meyers führt allerdings zu einem ernüchternden Resultat: Die Wurzel des Begriffs der ‚versöhnten Verschiedenheit‘ ist kein soteriologisches oder theologisches Verständnis von Versöhnung, sondern der Terminus reconciled wird hier einfach im Sinne von Aussöhnung verstanden im unspezifischen Sinne. Erst als die Phrase der ‚versöhnten Verschiedenheit‘ schon längst in den 21 Vgl.
Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. III, Göttingen 1993, 10. Markus Mühling, Liebesgeschichte Gott. Systematische Theologie im Konzept (Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie 141), Göttingen 2013, 405–408. 23 Vgl. Harding Meyer, Versöhnte Verschiedenheit. Aufsätze zur ökumenischen Theologie, Bd. I, Frankfurt a. M. 1998, 101–119. 22 Vgl.
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ökumenischen Debatten etabliert war, versuchten verschiedene Theologen, sekundär theologische Ableitungen und Rechtfertigungen für seinen Gebrauch zu finden. Allerdings erscheint es zweifelhaft, ob ein Begriff, der ursprünglich ohne theologische Bedeutung, rein als kirchenpolitischer Begriff eingeführt wurde – also ein Begriff, der nur Vorstellungen möglicher theologischer Bedeutungen durch mögliche Konnotationen erlaubt – tatsächlich in einer fruchtbaren Weise als ein ökumenischer Schlüsselbegriff verwendet werden kann. (4.) Erst als in den 1990er Jahren die Communio-Ekklesiologie bzw. die κοινωνία-Ekklesiologie, im Wesentlichen durch Ioannis Zizioulasʼ trinitarische Theologie beeinflusst, im Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) einige Prominenz gewann, wurde immerhin der Gedanke des Voneinander-und-Füreinander betont und eine Einheitsvorstellung geschaffen, die von Anfang an theologisch fundiert war.24 Allerdings: Hier handelt es sich um ein Voneinander-und-Füreinander Sein, kein Voneinander-und-Füreinander Werden. In der Praxis wurde zudem häufig der κοινωνία-Gedanke an sich überhöht. Aber auch eine Gemeinschaft des transport kann eine communio sein – allerdings keine communio sanctorum. (5.) Konsense sind nicht nur hilfreich und gut; sie können auch äußerst gefährlich sein. Erstens ist der Konsensbegriff ein Begriff zweiter Ordnung: Es muss immer gesagt werden, in Bezug auf was ein Konsens besteht. Zweitens ist ein Universalkonsens in einer gewebeartigen Welt des wayfaring ausgeschlossen: Träte er auf, wäre er unweigerlich ein Zeichen der Inversion von wayfaring in transport. Monokulturen sind nicht nur agrarökonomisch, sie sind auch ökumenisch gefährlich. Sie mögen eine Weile funktionieren, aber da die Welt ein werdendes Emergieren aus einem meshwork ist, entstehen beständig neue Differenzen. Selbst wenn ein Universalkonsens gefunden würde, der in einer historischen Situation tragfähig wäre, wäre es nur eine Frage der Zeit, bis er sich als inadäquat erledigt hätte. (6.) Die Einheit der christlichen Kirche ist nichts, was dieser als Aufgabe gegeben wäre, sondern sie ist ihr als Gabe vorgegeben. Und diese Gabe hat bleibend unverfügbaren Gnadencharakter: Sie bleibt extern und besteht im gemeinsamen Zeugnis des dreieinigen Gottes, wie er in Jesus Christus erschlossen ist. Wenn diese Einheit als Respons auf unser Werden im Gewebe Ausdruck finden soll, dann ist dies nur von den verschiedenen, miteinander verwundenen Weglinienperspektiven aus möglich: Als gegenseitiges, narratives Zeugnis einer heterogenen Einheit – wenn man den Einheitsbegriff überhaupt verwenden will. (7.) Da die Einheit extern gegeben ist, kann sie keine Zielvorstellung ökumenischer Gespräche sein. Das heißt aber nicht, dass es keine Zielvorstellungen geben müsste. Allerdings geben alle Zielvorstellungen, die rein intentional aus24 Vgl. John D. Zizioulas, Being as Communion. Studies in Personhood and the Church (Contemporary Greek Theologians 4), Crestwood, NY 1985.
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gehandelt werden, nichts anderes wieder als die Verkehrung von wayfaring in transport. Die Zielvorstellungen können überhaupt nur attentional gefunden werden als Respons auf die jeweiligen Umwelten. Das bedeutet auch, dass sie erstens nur im Plural bestehen können, dass sie zweitens konkret sein müssen, und dass sie drittens ihren jeweils vorläufigen Charakter zu erkennen haben. Ein kritisches Beispiel: Angeregt durch den Einfluss der historischen Friedenskirchen hatte der ÖRK in der Vergangenheit eine Dekade zur Überwindung von Gewalt ausgerufen.25 Dabei mag es durchaus viele einzelne sinnvolle Aktionen gegeben haben. Aber unsere Welt und das Leben der Kirchen ist nicht gewaltärmer geworden – und wahrscheinlich hat das auch niemand erwartet. Das wundert auch bei einer derart abstrakten, allgemeinen und intentional gewonnenen Zielvorstellung nicht. (8.) Mitunter spricht man derzeit von einer Ausweitung des Ökumenebegriffs auf das Feld sogenannter interreligiöser Gespräche, etwa in der verunklärenden Rede von einer ‚abrahamitischen Ökumene‘26. All dies wäre eines eigenen Vortrags und einer Analyse wert. Natürlich sind diese interreligiösen Gespräche wichtig und sie gehören auch sicher zu den Aufgaben, die an einem Ökumenischen Institut angesiedelt sein können, aber sie sind eben kein gemeinsames Zeugnis einer externen Einheit von Christus her. Daher sollte man tunlichst hier auf den Ökumenebegriff verzichten. Ferner dürfen dann nicht neue, falsche Grenzziehungen erfolgen: Die Ähnlichkeiten zwischen Christentum, Judentum und Islam sind eben nicht größer als die zwischen Christentum, Buddhismus und Konfuzianismus, was der Begriff einer ‚abrahamitischen Ökumene‘ verschleiert. Sie sind nur anderer Art. Des Weiteren dürfen auf dem Feld interreligiöser Gespräche auch diejenigen Weltanschauungen und Quasireligionen, die sich selbst überhaupt nicht als religiös durchschauen, ausgeschlossen werden. (9.) Die kritischen Punkte könnten noch – nahezu beliebig – vermehrt werden. Dem sei hier allerdings nun exemplarisch genüge getan. Zum Schluss vielleicht noch ein versöhnliches Wort: Betrachtet man die gelebte Ökumene vor Ort, die nicht oder nur locker institutionalisiert ist – in den Gemeinden, in konfessionell verschiedenen Familien, auch innerhalb der neu erscheinenden Differenzen von Frömmigkeitstypen der Konfessionen –, dann scheint mir diese konkrete Ökumene vor Ort sehr viel mehr dem Menschwerden im Verständnis des Voneinander-und-Füreinander zu entsprechen – schon deshalb, weil man hier vor allem einander Geschichten erzählt. 25 Vgl. Zentralausschuss des Ökumenischen R ates der Kirchen, Ein Rahmenkonzept für die Dekade zur Überwindung von Gewalt, in: Ökumenische Rundschau 49 (2000), 473–478; Mühling, Liebesgeschichte Gott, 328 f (wie Anm. 22). 26 Vgl. K arl-Josef Kuschel, Streit um Abraham. Was Juden, Christen und Muslime trennt – und was sie eint, Düsseldorf 61994; zur Kritik: Anke Mühling, ‚Blickt auf Abraham, euren Vater‘. Abraham als Identifikationsfigur des Judentums in der Zeit des Exils und des Zweiten Tempels (Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments 236), Göttingen 2011, 363–365.
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Literaturverzeichnis David Bohm, Wholeness and the Implicate Order, London 1980. Ingolf U. Dalferth/Eberhard Jüngel, Person und Gottebenbildlichkeit, in: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, Bd. XXIV, hg. v. F. Böckle et al., Freiburg i. Br. 1981, 57–99. John Donne, Devotions upon Emergent Occasions, Montreal 1975. Graham Harman, The Road to Objects, in: Continent 3 (2011), 171–179. Tim Ingold, A Storied World, in: ders., Being Alive, 141–176. Ders., Being Alive. Essays on Movement, Knowledge and Description, New York, NY 2011. Ders., Lines. A Brief History, London 2007. Ders., The Life of Lines, London 2015. K arl-Josef Kuschel, Streit um Abraham. Was Juden, Christen und Muslime trennt – und was sie eint, Düsseldorf 61994. George Lakoff/M ark Johnson, Philosophy in the Flesh. The Embodied Mind and its Challenge to Western Thought, New York, NY 1999. Raimundus Lullus, Die neue Logik. Lateinisch-deutsche Ausgabe (Philosophische Bibliothek 379), hg. v. Ch. Lohr, Hamburg 1985. Harding Meyer, Versöhnte Verschiedenheit. Aufsätze zur ökumenischen Theologie, Bd. I, Frankfurt a. M. 1998. Hermann Minkowski, Raum und Zeit, in: Das Relativitätsprinzip. Eine Sammlung von Abhandlungen, hg. v. H. A. Lorentz et al., Darmstadt 61958, 54–66. Anke Mühling, ‚Blickt auf Abraham, euren Vater‘. Abraham als Identifikationsfigur des Judentums in der Zeit des Exils und des Zweiten Tempels (Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments 236), Göttingen 2011. Markus Mühling, Liebesgeschichte Gott. Systematische Theologie im Konzept (Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie 141), Göttingen 2013. Ders., The Humanifying Adventure. A Response to Tim Ingold, in: Verbs, Bones, and Brains, hg. v. A. Fuentes/A . Visala, Notre Dame 2017, 104–113. Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. III, Göttingen 1993. Richard von St. Victor, De Trinitate. Texte critique avec introduction, notes et tables (Textes philosophiques du moyen âge 6), hg. v. J. Ribaillier, Paris 1958. David C. Rubin, Go for the Skill, in: Remembering Reconsidered. Ecological and Traditional Approaches to the Study of Memory (Emory Symposia in Cognition), hg. v. U. Neisser/E . Winograd, New York, NY 1988, 374–382. Michel Serres, Gnomon. The Beginnings of Geometry in Greece, in: A History of Scientific Thought. Elements of a History of Science, hg. v. dems., Oxford 1995, 73–123. Zentralausschuss des Ökumenischen Rates der Kirchen, Ein Rahmenkonzept für die Dekade zur Überwindung von Gewalt, in: Ökumenische Rundschau 49 (2000), 473–478. John D. Zizioulas, Being as Communion. Studies in Personhood and the Church (Contemporary Greek Theologians 4), Crestwood, NY 1985.
Ökumenische Anerkennung Ein altes Konzept neu betrachtet1 Risto Saarinen Das interdisziplinäre Forschungsprojekt Reason and Religious Recognition, tätig in Helsinki seit 2014, untersucht religiöse Anerkennungsprozesse. Die ökumenische Vision des Projekts bezieht sich auf die alte Idee, dass Kirchen in der Lage sind, ihre Lehren und Praktiken untereinander ‚anzuerkennen‘, und so Gemeinschaft zu erarbeiten.2 In diesem Artikel werde ich unser Verständnis des Konzepts einer ökumenischen Anerkennung erklären. Ich werde es auch kurz mit dem sogenannten receptive ecumenism vergleichen. Beginnen werde ich mit einem Überblick über die Anerkennungstheorie, wie sie in anderen akademischen Disziplinen verstanden wird. Viele Mitglieder unserer Forschungsgruppe sind Experten in der Geistesgeschichte, Philosophie und den Bibelwissenschaften. Die Ökumene erhält Impulse von diesen anderen Feldern, aber als Ökumeniker und Leiter dieses Projekts trage ich unsere Forschungsergebnisse auch in andere akademische Disziplinen hinein.
1. Anerkennung in der Philosophie und der Geschichte des Christentums In den letzten fünfundzwanzig Jahren hat das Konzept der Anerkennung in der Sozialtheorie und der Politischen Philosophie eine erstaunliche Popularität gefunden. Ihren Anfang nahm diese Entwicklung mit der Veröffentlichung von Axel Honneths und Charles Taylors bahnbrechender Arbeit über die soziale Anerkennung. Dieser Trend steigerte sich nochmals mit dem letzten Buch von Paul Ricœur, das von der geistesgeschichtlichen Entwicklung der Anerkennung handelt.3 Vor allem Taylor betont, dass zeitgenössische demokratische Gesell1 Der vorliegende Text wurde von Henriette Hufgard aus dem Englischen ins Deutsche übertragen. 2 Vgl. Risto Saarinen, Recognition and Religion. A Historical and Systematic Study, Oxford 2016; Dagmar Heller/M inna Hietamäki (Hg.), Just Do It?! Recognition and Reception in Ecumenical Relations/Anerkennung und Rezeption im ökumenischen Miteinander (Ökumenische Rundschau Beihefte 117), Leipzig 2018; Maijastina K ahlos et al. (Hg.), Recognition and Religion. Contemporary and Historical Perspectives, Abingdon 2019. 3 Vgl. Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt a. M. 1992; Charles Taylor, The Politics of Recognition, in: ders., Philosophical Arguments, Cambridge, MA 1995, 225–256; Paul Ricœur, The Course of
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schaften nicht angemessen funktionieren, wenn Toleranz die einzige Haltung ist, welche den Multikulturalismus dieser Gesellschaften stützt. Das Verfahren, unterschiedliche Gruppen einer multikulturellen Gesellschaft anzuerkennen, beugt Segregation vor und gestattet es den verschiedenen beteiligten Parteien, gemeinsam an demokratischen Zielsetzungen zu arbeiten. Aus diesem Grund wurde die Theorie der Anerkennung als eine wertvolle Ressource angesehen, um mit den Herausforderungen des Multikulturalismus umzugehen. Honneth vertritt die Ansicht, dass gegenseitige Anerkennung nicht nur eine pragmatische Vorgehensweise ist, sondern etwas, das der Aufklärung im Sinne Hegels zugrunde liegt. Wir sind keine isolierten Inseln, sondern erhalten unsere Identität gerade durch die Anerkennung, die andere uns gewähren. Der Kampf um Anerkennung ist daher ein wesentlicher Bestandteil von demokratischen Aufbrüchen in modernen Gesellschaften. Zeitgenössische Überlegungen zur sogenannten ‚Identitätspolitik‘ nehmen häufig bei Taylors und Honneths Ansichten ihren Ausgang.4 Ricœur gibt hingegen zu bedenken, dass das Hegelsche Modell vom Kampf nicht das einzige Mittel der Erneuerung sein muss. Es gibt auch friedliche Formen der Anerkennung. Mit Bezug auf Marcel Hénaffs Arbeit zur anthropologischen Gabe und Gegengabe konstatiert Ricœur, der Austausch von Gaben unter der Absicht der wechselseitigen Anerkennung sei eine elementare Form friedvoller Anerkennung.5 Seit den Schriften von Taylor, Honneth und Ricœur ist unmissverständlich klar, dass Anerkennung kein bloßes Konzept diplomatischer und rechtlicher Natur ist, das eine gewisse Höflichkeit oder Haltung von Staaten und Individuen vermittelt. Der anerkennende Diplomat wäre so ein unbewegter Beweger, der lediglich eine Statusveränderung des Objekts verkündet. Im Gegensatz dazu halten Philosophen Anerkennung für ein zutiefst hermeneutisches Ereignis, in dessen Rahmen durch die Hilfe anderer unsere Identität entsteht. Vor allem Honneth weist auf, dass solche fundamentalen Dinge wie Liebe, Respekt und Ansehen als Momente der Anerkennung gesehen werden können. Ich werde daher den Ausdruck ‚diplomatischer Fehlschluss‘ verwenden, um die irrige Ansicht zu beschreiben, dass es sich bei Anerkennung um bloße Belange der Höflichkeit und Haltung handle. Die zeitgenössische Theorie hat eine Vielzahl von Anstrengungen unternommen, den Begriff der Anerkennung im Detail zu umreißen. Das deutsche Projekt eines Handbuchs sowie der neue multidisziplinäre Band Recognition Recognition (Institute for Human Sciences Vienna, Lecture Series), übers. v. D. Pellauer, Cambridge, MA 2005. 4 Vgl. Cressida Heyes, Art. Identity Politics, Stanford Encyclopedia of Philosophy, online abrufbar unter: https://plato.stanford.edu/entries/identity-politics/ (letzter Zugriff am 2.4.2019; R. S.). 5 Vgl. Marcel Hénaff, The Price of Truth. Gift, Money, and Philosophy (Cultural Memory in the Present), übers. v. J.‑L. Morhange, Stanford, CA 2010.
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and Religion. Contemporary and Historical Perspectives bieten einen ausführlichen Überblick.6 Während die gängige Meinung ist, Anerkennung sei ein modernes Konzept, das von Hegel erfunden wurde, zeigen viele neue Studien, dass seine Wurzeln viel weiter zurückreichen. Honneth hat kürzlich den Ansatz vorgestellt, dass das französische Konzept der amour propre und das britische Konzept der Sympathie sich zumindest teilweise mit dem deutschen Konzept der Anerkennung überschneiden. Alle drei Konzepte konstatieren den Wert, den es für ein Individuum in der modernen Gesellschaft hat, von anderen anerkannt zu werden.7 Während der ersten drei Jahre des Helsinki-Projekts (2014–2016) lag der Fokus meiner Arbeit darauf, die Geistesgeschichte der Anerkennung in religiösen und theologischen Quellen zu beschreiben. Das Ergebnis, meine Monographie Recognition and Religion, macht geltend, dass die Anfänge des Konzepts bereits in der Antike zu finden sind, genauer im lateinischen Terminus agnosco/agnitio, einem juristischen Begriff, der in der Vulgata zur Übersetzung von ἐπιγινώσκω/ ἐπίγνωσις verwendet wird. Später wird er auch gebraucht, um ἀναγνώρισις zu übersetzen, ein erzählerischer Begriff, der Wieder-Identifizierung/Wiedererkennung bedeutet. In Sätzen wie agnitio veritatis (‚Erkenntnis der Wahrheit‘), oder agnitio Dei (‚Wissen von Gott oder Erkenntnis Gottes‘), wird dieser lateinische Ausdruck zum performativen (Sprech-)Akt, der den Status seines Subjekts und seines Objekts verändert. Der juristische Terminus agnitio filii, zu Deutsch ‚Adoption‘, ist ähnlich performativer Natur.8 Unabhängig von meinen Forschungsergebnissen kam der italienische Literaturwissenschaftler Piero Boitani in Bezug auf Anerkennung im dichterischen oder literarischen Sinne vor kurzem zu einem ähnlichen Schluss. Das Verb agnosco transportiert die alte aristotelische Bedeutung des Wiedererkennens in die lateinische Literatur. Boitani merkt des Weiteren an, dass in religiösen Texten agnosco einen spezifisch theologischen Beiklang hat. Der Titel seines Buches, Riconoscere è un dio, zeugt von der Ansicht, in dichterischer und religiöser Anerkennung finde eine Begegnung mit neuen Dimensionen der Wirklichkeit statt.9 In meinem Buch argumentiere ich dafür, dass sowohl mittelalterliche Autoren als auch Schriftsteller der Reformation diese Tradition der theologischen Anerkennung weiterführen. Außerdem zeige ich, dass diese performative Bedeutung in philosophischen und in theologischen Texten, auch in den Übersetzungen in die jeweiligen Landessprachen, im Falle des Englischen mittels der 6 Vgl.
Ludwig Siep et al. (Hg.), Handbuch Anerkennung, Wiesbaden 2019; K ahlos et al., Recognition (wie Anm. 2). 7 Vgl. Axel Honneth, Anerkennung. Eine europäische Ideengeschichte, Berlin 2018. 8 Vgl. Saarinen, Recognition (wie Anm. 2). 9 Vgl. Piero Boitani, Riconoscere è un dio. Scene e temi del riconoscimento nella letteratura, Turin 2014.
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Verben acknowledge und recognize, beibehalten wird. In der Theologie verwendet der Aufklärer Spalding den deutschen Terminus ‚Anerkennung‘ bereits zehn Jahre vor Hegel.10 Auch für spätere protestantische Theologen wie Friedrich Schleiermacher, Rudolf Bultmann und Karl Barth ist der Begriff ‚Anerkennung‘ von Bedeutung. Die Idee der reziproken Anerkennung als Ereignis, das gegenseitige Abhängigkeit signalisiert, ist im christlichen Denken tief verankert, vor allem wenn es unser Sein als von anderen und im Besonderen von Gott bestimmt hervorhebt. So gesehen sind seine Ursprünge wesentlich weniger säkular als beispielsweise die des Konzepts der Toleranz. Ich erwähne diese Ergebnisse, um zu zeigen, dass ich als Ökumeniker nicht primär Konzepte aus anderen Disziplinen bediene, die dann in der Theologie neu eingebracht werden. Mein Vorhaben ist es vielmehr, sie der gesamten akademischen Welt zugänglich zu machen. Die historische und philosophische Relevanz theologischer Ideen wird aufgezeigt, um Gelehrte anderer Fachrichtungen von deren Bedeutsamkeit zu überzeugen. Davon abgesehen ist es nützlich, wenn Theologen auf die jüngsten Diskussionen in der Anerkennungstheorie aufmerksam gemacht werden und sich deren Einsichten auch im ökumenischen Denken bemerkbar machen. Vor allem kontinentaleuropäische römisch-katholische Theologen, die Ricœurs Ideen teilen, widmen sich neuerdings verstärkt dieser Art von Auseinandersetzung. Das wichtigste Buch innerhalb dieser Strömung hat Veronika Hoffmann veröffentlicht. Sie beschreibt sehr ausführlich, wie die von Ricœur und Hénaff diskutierten Prozesse der Anerkennung zum besseren Verständnis der traditionellen Anliegen der lutherisch/römisch-katholischen Ökumene führen können.11 In der englischsprachigen Welt hat Timothy Lim Hegels und Honneths Gedankengut auf verschiedene ökumenische Fragestellungen bezogen.12 Meines Erachtens wird jedoch der vielversprechendste Forschungsweg der Ökumene dann beschritten, wenn wir uns klarmachen, dass Ökumeniker die Idee der Anerkennung schon mindestens seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil gebrauchen, das heißt, bereits dreißig Jahre vor Taylor und Honneth. Das Konzil belebt das alte christliche Konzept der agnitio wieder, indem es dieses für ökumenische Zwecke einsetzt.13 Lassen Sie uns darum näher auf die jüngere Geschichte der ökumenischen Anerkennung eingehen. Es muss allerdings noch eine letzte Anmerkung zur Geistesgeschichte gemacht werden, bevor wir uns der Ökumene zuwenden. In Recognition and 10 Vgl. Risto Saarinen, Johann Joachim Spalding und die Anfänge des theologischen Anerkennungsbegriffs, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 112 (2015), 429–448. 11 Vgl. Veronika Hoffmann, Skizzen zu einer Theologie der Gabe. Rechtfertigung – Opfer – Eucharistie – Gottes- und Nächstenliebe, Freiburg i. Br. 2013. 12 Vgl. Timothy T. N. Lim, Ecclesial Recognition with Hegelian Philosophy, Social Psychology and Continental Political Theory (Theology and Mission in World Christianity 6), Leiden 2017. 13 Vgl. Saarinen, Recognition, 168–171 (wie Anm. 2).
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Religion unterscheide ich zwischen drei historischen Paradigmen, die das jeweils vorherrschende Verständnis theologischer Anerkennung zu unterschiedlichen Zeiten widerspiegeln.14 Das erste, patristische Paradigma erklärt Anerkennung als ein Konversionsmoment. Indem der Mensch Gott oder die Wahrheit erkennt, konvertiert er und erfährt eine tiefgreifende Veränderung. Das zweite Paradigma, welches dem Mittelalter und der frühen Neuzeit entstammt, ist das der gegenseitigen Bindung. Beide, Herr und Knecht oder Anerkennender und Anerkannter, werden vereint von einem Bund, der ihre Identitäten im Rahmen einer gegenseitigen Wechselbeziehung konstituiert. Das dritte, das Paradigma der Moderne, ist das der Statusänderung des Objekts: ‚Sobald ich dich anerkenne, erhältst du infolge meines Aktes der Anerkennung einen neuen Status.‘ In der Theologie wurde dieses Paradigma der Moderne von Schleiermacher ins Leben gerufen, der in seiner Glaubenslehre15 davon spricht, dass Gott den Menschen durch die Rechtfertigung anerkennt. In gewisser Weise verschiebt sich im Verlauf der Geschichte des Christentums der Schwerpunkt in der Anerkennung vom Subjekt hin zum Objekt. In patristischer Zeit wird Anerkennung als Konversion aufgefasst. Ich erkenne Christus an und mein eigenes Leben verändert sich. Später bedeutet es eine gegenseitige Verbindung innerhalb derer beide Partner durch ihre Wechselbeziehung zueinander definiert sind. In der Moderne bedeutet Anerkennung die Veränderung des Status dessen, dem die Anerkennung zuteilwird. Zugleich büßt keines der drei Paradigmen an Bedeutung ein. Weder die Konversion noch die gegenseitige Bindung geraten in Vergessenheit, sobald die Idee des sich ändernden Status aufkommt. Wenn wir das Konzept der Anerkennung im Zweiten Vatikanischen Konzil und die Ökumenische Bewegung näher betrachten, müssen wir entsprechend alle drei theologischen Paradigmen gleichermaßen im Blick behalten.
2. Anerkennung in der Ökumenischen Bewegung Das Konzept der gegenseitigen Anerkennung wurde bereits in den frühen Tagen der Ökumenischen Bewegung vor dem Zweiten Weltkrieg eingesetzt. Diese frühen Diskussionen beziehen sich allerdings nicht auf das theologische Konzept der Anerkennung. Vielmehr nehmen sie Anleihen bei dem diplomatischen Konzept der internationalen Politik. Entsprechend formuliert es ein Text der Konferenz zu Glauben und Kirchenverfassung von 1937 wie folgt: „Von gegenseitiger Anerkennung zu sprechen bedeutet, sich in den Bereich zwischenkirchlicher Beziehungen zu begeben. So, wie ‚Anerkennung‘ im Fall von Zivilregierungen 14
Vgl. ebd., 196–200. Friedrich D. E. Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhang dargestellt. Zweite Auflage (1830/31), in: Friedrich Schleiermacher Kritische Gesamtausgabe, Bd. I,13,1–2, hg. v. R. Schäfer, Berlin 2003. 15 Vgl.
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die Bedingung zukünftiger Beziehungen ist, ist sie dies auch bei den Kirchen. Gegenseitige Anerkennung kann unvollständig oder vollständig sein. Sie muss nicht zwangsläufig kooperatives Handeln oder eine korporative Einheit miteinschließen.“16
Dieses Zitat veranschaulicht den sogenannten ‚diplomatischen Fehlschluss‘. In ihm werden Kirchen als lediglich legale und administrative Institutionen behandelt, die einander auf ähnliche Weise anerkennen können, wie Staaten oder menschliche Zusammenschlüsse es tun, das heißt, indem sie den Status des Objekts verändern. Der Text zu Glauben und Kirchenverfassung nimmt Anerkennung nicht als ein theologisches oder hermeneutisches Konzept wahr. Nach dem Zweiten Weltkrieg lässt sich in der Ökumenischen Bewegung eine vertiefte Ausarbeitung der Idee der gegenseitigen Anerkennung erkennen. Der sogenannten Toronto Declaration von 1950 zufolge müssen sich Kirchen nicht gegenseitig anerkennen, solange sie beide Mitglieder des Weltkirchenrates sind. Sie müssen sich aber in jedem Falle zu Jesus „Christus als […] [heiliges] Haupt des Körpers“ bekennen und sie müssen „in anderen Kirchen Elemente der wahren Kirche anerkennen“17. Ein Dritter, Jesus Christus, eint die Partner, die sich nicht direkt gegenseitig anerkennen können. Dies ist bereits eine Form von theologischer Anerkennung.18 Der Text des Zweiten Vatikanischen Konzils markiert ein neues Bewusstsein und eine Vertiefung der Idee der ökumenischen Anerkennung.19 Die Texte des Konzils setzen den alten lateinischen Begriff agnosco häufig und an entscheidenden Stellen ein. Lumen gentium 9 vertritt die Auffassung, dass Gott diejenigen als sein Volk erwählt, die „Ihn in Wahrheit anerkennen“20. Nostra aetate 2 spricht von der „Anerkennung einer höchsten Gottheit oder auch eines Vaters“21 bei den Anhängern anderer Religionen. Das Dekret zur Ökumene, Unitatis redintegratio (UR) 4, besagt, dass römische Katholiken „die aus dem gemeinsamen Erbe hervorströmenden wahrhaft christlichen Güter […] mit Freude anerkennen (agnoscere) und hochschätzen. Die Reichtümer Christi und 16
Angus Dun, The Meanings of Unity, Report No. 1. Prepared by the Commission on the Church’s Unity in Life and Worship for the World Conference on Faith and Order, Edinburgh 1937, 18 (Übers.; H. H.). 17 Lukas Vischer, A Documentary History of the Faith and Order Movement 1927–1963, St. Louis, MO 1963, 171–173 (Übers.; H. H.). 18 Vgl. ebd. 19 Alle hier zitierten ökumenischen Texte sind unter www.vatican.va (letzter Zugriff am 2.4.2019; R. S.) zu finden. Die Porvoo Deklaration ist unter www.porvoocommunion.org (letzter Zugriff am 2.4.2019; R. S.) aufrufbar. 20 Constitutio dogmatica de ecclesia/ Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, in: Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils. Konstitutionen, Dekrete, Erklärungen. Lateinisch-deutsche Studienausgabe (Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil 1), hg. v. P. Hünermann, Freiburg i. Br. 2004, 73–185, hier 86. 21 Decretum de ecclesiae habitudine ad religiones non-christianas/ Erklärung über die Haltung der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen Nostra aetate, in: ebd., 355–362, hier 356.
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Werke der Tugenden im Leben anderer anzuerkennen (agnoscere) [, …] ist billig und heilsam“22. Während die römisch-katholische Kirche andere Kirchen nicht als solche im vollen Sinn des Wortes anerkennt, findet sie doch gewisse Glaubensschätze in ihnen wieder. Vor allem in den Ostkirchen wird „Christus im wahrhaften und eigentlichen Sinne als Sohn Gottes und Sohn des Menschen gemäß den Schriften anerkannt (agnosceretur)“23. Von den römischen Katholiken „ist anzuerkennen, dass sie [die theologischen Traditionen der Ostkirchen; R. S.] auf ganz hervorragende Weise in den heiligen Schriften verwurzelt sind“24. Es zeigt sich, dass sich die östlichen und katholischen theologischen Sprachen „nicht selten eher untereinander ergänzen, als dass sie einander entgegengesetzt sind.“25 So gesehen findet zwischen verschiedenen Traditionen theologische Anerkennung statt. Dieses Vokabular des Zweiten Vatikanischen Konzils wurde in den 1970er Jahren von Heinrich Fries, Walter Kasper und Joseph Ratzinger in ihren ökumenischen Schriften weiterentwickelt. Kasper und Ratzinger betonen, dass die Anerkennung anderer Parteien nicht auf diplomatische Weise erfolgt, sondern ein spiritueller und theologischer Akt bleibt, der von einer Umorientierung des Anerkennenden ausgeht. Sie sind sich des diplomatischen Fehlschlusses bewusst und bemühen sich, ihn zu vermeiden. Heinrich Fries schreibt, dass Anerkennung anderer zum einen der Ausdruck legitimer theologischer Pluralität ist, zum anderen eine Beziehung der gegenseitigen Anerkennung ein Gemeinsames voraussetzt, was Unterschiede überbrücken kann.26 Die Position von Fries ähnelt der ökumenischen Methode des differenzierten Konsenses, wie sie in der lutherisch-römisch-katholischen Schrift der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre (1999) Verwendung findet.27 In gewisser Weise beleben das Zweite Vatikanische Konzil und die daraus entstandenen theologischen Debatten die alte christliche Weise von agnitio zu sprechen wieder; eine Anerkennungsform, die μετάνοια und Wandlung impliziert. Indem Ratzinger und Kasper Anerkennung als spirituellen Akt hervorheben, beleben sie zugleich das erste und zweite Paradigma wieder, denen zufolge Anerkennung mehr ist als eine Statusänderung des Objekts. Im ersten und zweiten Paradigma liegt der Fokus auf der Veränderung des anerkennenden Subjekts. Entsprechend ist theologische Anerkennung von politischen und diplomatischen Anerkennungsprozessen verschieden. Für die theologische An22 Decretum de oecumenismo/Dekret über den Ökumenismus Unitatis redintegratio, in: ebd., 211–241, hier 221. 23 Ebd., 232. 24 Ebd., 234. 25 Ebd. 26 Vgl. Saarinen, Recognition, 176−180 (wie Anm. 2). 27 Vgl. André Birmelé/Wolfgang Thönissen (Hg.), Auf dem Weg zur Gemeinschaft. 50 Jahre internationaler evangelisch-lutherisch/römisch-katholischer Dialog, Paderborn 2018.
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erkennung des anderen ist eine Wandlung oder zumindest spirituelle Offenheit notwendig. Eine solche Betonung des Geistlichen ist nicht mit Subjektivismus gleichzusetzen. Fries akzentuiert die zentrale Wichtigkeit eines Gemeinsamen aus gutem Grund. In einer modernen Welt müssen Theologen die Bedeutsamkeit der persönlichen Haltung und einer existenziellen Verpflichtung betonen. Wenn wir dies hervorheben, geht es nicht um Subjektivismus, sondern darum, eine Öffnung zu schaffen, die die geistigen Ressourcen der Theologie sichtbar werden lässt. Das heißt, es geht um fides quaerens intellectum und nicht um einen separatistischen Fideismus. Wenn man hiervon ausgeht, dann treten in Kaspers und Ratzingers Ideen einer spirituellen Anerkennung und einer interpersonalen Begegnung alle historischen Paradigmen in Form eines einzigen ökumenischen Konzepts zutage. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Theologen das Thema Anerkennung bereits seit den 1970er Jahren ausführlich diskutieren. In der Sozialtheorie finden wir ähnliche Debatten während der 1990er Jahre. Theologen waren ihrer Zeit ausnahmsweise einmal voraus. Die ökumenischen Schriften, die aus dieser Entwicklung entstanden, verwenden häufig explizit die Sprache der gegenseitigen Anerkennung. Sie vergleichen ökumenische Anerkennung nicht mit politischen oder diplomatischen Handlungen, sondern bestärken die besonderen theologischen Charakteristiken einer ökumenischen Begegnung. Ein gutes Beispiel ist die sogenannte Porvoo-Erklärung, eine umfassende Übereinkunft über ‚volle Gemeinschaft‘ zwischen der anglikanischen Staatskirche und den nordeuropäischen lutherischen Kirchen. Dieses Dokument verwendet wiederholt die Formel ‚wir erkennen an‘, um die neugewonnene gegenseitige Verständigung in Glaubenssachen darzulegen. Während die Erklärung die Gleichberechtigung und damit die dauerhafte Verschiedenheit der vertretenen Kirchen annimmt, bekundet sie zugleich auch deren stete Offenheit für Veränderungen.28 Wenn auch die Verfasser der Porvoo-Erklärung sich der langen Geschichte der theologischen Anerkennung nicht bewusst gewesen sein mögen, haben sie sie doch praktiziert und in ihren ökumenischen Formulierungen weitergeführt. In der Porvoo-Erklärung können wir das Wirken aller drei Paradigmen erkennen. Die Formel ‚wir erkennen an‘ ist insofern eine typisch moderne Formulierung, als sie ihr Objekt mit einem neuen Status versieht. Das Verb acknowledge verstehe ich hier synonym mit dem Verb recognize. Beide Verben unterscheiden sich auf subtile Weise, da sie historisch gesehen von den lateinischen Verben agnosco und recognosco stammen. In englischen theologischen Texten des 16. Jahrhunderts werden die Verben teils mit acknowledge und teils mit reknowledge übersetzt. In der Summe folgt acknowledge aus einer langen Tradition des lateinischen agnosco. 28 Vgl.
Saarinen, Recognition, 180–182 (wie Anm. 2).
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Das erste Paradigma, das der Konversion, ist in der zweiten Hälfte (§ 58b) der Porvoo-Erklärung prominent. Hier wird der Ausdruck ‚wir verpflichten uns‘ in Bezug auf die Sprechenden angewandt, die so erneuert werden. In der zweiten Hälfte wird auch explizit auf die verschiedenartigen Verbindungen der Gemeinschaft hingewiesen, wie z. B. diejenige der wechselseitigen Teilnahme an den Bischofsweihen der Partnerkirchen. Die Erläuterung der diversen Verpflichtungen illustriert das, was ich als das zweite Paradigma der theologischen Anerkennung bezeichnet habe. Es soll am Rande erwähnt werden, dass die Porvoo-Erklärung sehr deutlich ist, wenn es um Anerkennung und Verpflichtungen geht. Weniger ausdrücklich ist sie in Bezug auf die wechselseitigen Bindungen. Hier unterscheidet sie sich von der sogenannten Leuenberger Konkordie und der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa. Die Mitgliedskirchen der Leuenberg-Gemeinschaft mögen nicht sonderlich bemüht darum sein, sich zu ändern oder sich gegenseitig neue Status zuzuschreiben, aber sie haben starke Verflechtungen und Verbindungen untereinander. Wechselseitige Anerkennung kann auf verschiedene Weisen erfolgen.
3. Anerkennung als Geben und Empfangen Wenden wir uns nun einem systematisch-theologischen Verständnis von ökumenischer Anerkennung zu. Bei dem Versuch, genau zu beschreiben, was im Moment der Anerkennung eigentlich vonstattengeht, stellen sich mehrere Probleme ein. Philosophen und Theologen gehen generell davon aus, dass Anerkennung sich zwischen zwei unterschiedlichen Akteuren ereignet, die weder schon vollkommene Übereinstimmung erreicht haben noch bereits in Gemeinschaft leben. Anerkennung bringt Akteure einander näher, ist aber noch keine Vereinbarung. Schon hier haben wir einige widersprüchliche Ansichten. Der römisch-katholische Ökumeniker Gerard Kelly schreibt, dass römische Katholiken andere nur anerkennen können, wenn bereits eine Gemeinschaft der Akteure zugrunde liegt.29 Meiner Meinung nach kann dies nicht der Fall sein. Der gesamte gesellschaftliche und konzeptuelle Diskurs zu Anerkennung ist nur sinnvoll, wenn wir von uneinigen Akteuren ausgehen. Fries, Kasper und Ratzinger sind sich dieser Vorannahme voll bewusst. Kelly geht nicht auf die philosophische Dimension der Debatte ein. Sein Denken bewegt sich entlang der Koordinaten der Wiedererkennung im Sinne des Satzes ‚Ich erkenne dein Gesicht wieder‘. Das mag eine Bedeutungsdimension des englischen oder lateinischen Wortes sein, der Diskurs der Anerkennung geht jedoch von einer normativ-zustimmenden Bedeutung aus, wie sie der Satz ‚Die Europäische Union erkennt den Kosovo 29 Vgl. Gerard Kelly, Recognition. Advancing Ecumenical Thinking (American University Studies 186), New York, NY 1996, 27–28.
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als souveränen Staat an.‘ verdeutlicht. Wenn die römischen Katholiken die Taufpraxis der lutherischen Kirchen anerkennen, bedeutet das noch nicht, dass die Lutheraner bereits der römisch-katholischen Gemeinschaft zugehören. Kelly hat aber in einem nicht ganz Unrecht: In den ökumenischen Stellungnahmen, die die Sprache der Anerkennung verwenden, wird im Vorhinein ein gewisses Gemeinsames angenommen, von dem aus Anerkennung stattfinden kann. Heinrich Fries erläutert dies in beispielhafter Weise. Ebenso gehen Sozialtheoretiker normalerweise davon aus, dass Anerkennung sich eines unvollständigen Gemeinsamen bedient oder durch den Akt der gegenseitigen Anerkennung ein solches schafft.30 Anerkennung kann trotz bestehender Unterschiede stattfinden, sie kann sich aber auch ein Gemeinsames erdenken, das beim Anerkennungsprozess hilft. Wenn römische Katholiken sehen, dass Lutheraner dieselbe trinitarische Taufformel und dieselben Elemente, Wasser und das biblische Wort, verwenden, sind sie in der Lage, das Gemeinsame zu erkennen, was bei der Anerkennung über kirchliche Unterschiede hinweghilft. In der lutherischen Ökumene wird eine derartige Methode als ‚versöhnte Verschiedenheit‘ bezeichnet, in jüngerer Vergangenheit auch als ‚differenzierter Konsens‘. Diese ökumenische Methode hat es zum Ziel, ein Gemeinsames zu entwickeln, das hilft, die verbleibende Distanz zwischen den Akteuren nicht mehr als Problem anzusehen.31 Davon ausgehend muss immer noch entschieden werden, wieviel Gemeinsames vonnöten ist und wieviel Verschiedenheit tolerierbar bleibt, bevor ein Akt der Anerkennung durchgeführt werden kann. Die große Debatte der Sozialtheorie dreht sich darum, welche Gestalt der performative Akt nun tatsächlich empfangen soll. Wie sieht Anerkennung aus? Die hegelianische Antwort darauf lautet, dass sie einem Kampf von Herrscher und Knecht gleicht. Ricœurs Alternative sieht vor, dass sie im Optimalfall einem Gabentausch gleicht. Auch wenn Honneth Hegelianer ist, würde er Anerkennung nichtsdestotrotz friedvoller als geteilte Liebe, Respekt und Achtung beschreiben. Dass diese Gegebenheiten anhand eines Gabenaustauschs deutlich werden, verneint er hingegen.32 Die Theorie der Diplomatie beschreibt Anerkennung als eine Rechtshandlung, die weder Kampf noch Gabentausch beinhaltet, sondern als freiwilliger Schritt stattfindet, sobald gewisse Voraussetzungen erfüllt sind. In meinem Buch behandle ich verschiedene christliche Darstellungen. Bereits in der Pseudo-Klementinen-Schrift Recognitiones aus dem vierten Jahrhundert wird der Akt der Konversion ausführlich beschrieben. Der gegenseitige Bund wird im Mittelalter häufig als Bund zwischen Herrscher und Knecht dargestellt, ebenso oft aber auch als der mythische Bund der Liebe einer Braut und der Ehe. In theologischen Quellen findet das Bild des Kampfes ebenfalls häufig Erwäh30 Vgl. z. B. Simon Thompson, The Political Theory of Recognition. A Critical Introduction, Cambridge, MA 2006; K ahlos et al. (Hg.), Recognition (wie Anm. 2). 31 Vgl. Birmelé/Thönissen (Hg.), Auf dem Weg (wie Anm. 27). 32 Vgl. Saarinen, Recognition, 16 (wie Anm. 2).
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nung. Gemeinsam ist all diesen Texten der Akt des Versprechens und des Gelobens.33 Meine eigene Position in dieser Debatte geht von der folgenden Gestalt der Anerkennung aus. Anerkennung besteht aus einer Reihe von Handlungen des Gebens und Empfangens. Es gibt eine gewisse Neigung dahingehend, Gaben auszutauschen, aber Anerkennung folgt nicht den anthropologischen Modellen. Stattdessen sind den Verben ‚geben‘ und ‚empfangen‘ gewisse semantische und performative Merkmale zu Eigen, die Anerkennung erzeugen und bekunden können. Sich gegenseitig zu lieben, sich ein Versprechen zu geben und einander zu respektieren, sind performative Ereignisse der Anerkennung, die mit Begriffen des Gebens und Empfangens beschrieben werden können. Es kann sogar eine ‚Theologie des Gebens‘ entwickelt werden, die ausgehend vom biblischen Vokabular Anerkennung mit anderen immateriellen religiösen Gabehandlungen, wie zu lieben, zu ehren, zu versprechen, zu vergeben und zu übergeben, verbindet. Beschränken wir uns hier darauf, dass im Zuge der Anerkennung (so wie bei Versprechen oder Vergebung) ein nicht greifbarer Gegenstand (‚Gabe‘) vom Gebenden zum Empfangenden übermittelt wird. Solch eine Anerkennung R findet in Form einer Reihe von Handlungen statt, z. B. (i) Person A möchte R von Person B, (ii) B erhält die Anfrage von A, (iii) B gibt A R, (iv) A erhält R von B, (v) A gibt B möglicherweise R zurück, sodass R ‚wechselseitig‘ wird, und schließlich (vi) A erhält die erwiderte R von B. Zusätzlich zu diesen performativen Schritten findet meist ein Definitionsverfahren statt, das den exakten Inhalt von R betrifft.34 Der Mehrwert dieses etwas komplexen Bildes liegt darin, dass diverse Asymmetrien und Machtstrukturen aufgedeckt werden können, die sich in der einfachen Aussage ‚wechselseitige Anerkennung‘ verbergen. Während meiner Arbeit mit historischen Texten war ich oft von der Tatsache fasziniert, wie sehr alte theologische Texte sich dieser Machtstrukturen und Asymmetrien bewusst sind. Die klassische Theologie mag Gleichberechtigung nicht in dem Maße unterstützen wie wir uns das heute wünschen würden, aber der Mächte und Hierarchien, die den verschiedensten Anerkennungshandlungen zugrunde liegen, ist sie sich über die Maßen gewahr. Ich denke außerdem, dass der Nutzen heutiger Theorien der Anerkennung darin liegt, Asymmetrien aufzudecken. Wenden wir uns daher diesen Asymmetrien etwas genauer zu.
4. Asymmetrien der Anerkennung Wenn ich Gaben oder Anerkennung erhalte, verhalte ich mich dazu in einer Weise, die man als naiv oder sogar als kindlich bezeichnen könnte. Dieser naive Blick bringt zum Ausdruck, dass ich etwas erhalte oder gewinne, wenn ich eine Gabe oder Anerkennung annehme. Es darf bei diesem naiven Blick 33 34
Vgl. ebd., bes. 63–73. Vgl. ebd., 35–41.
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auch angenommen werden, dass der oder die Gebende in dieser Situation etwas verliert. Viele Erwachsene und Sozialtheoretiker nehmen von diesem naiven Blick ausgehend eine ausgereiftere Position ein, die man als den kritischen Blick bezeichnen könnte. Dieser kritische Blick beinhaltet, dass der oder die Gebende beim Geben und Empfangen von Gaben und Anerkennung seinen oder ihren Einfluss über die Empfangenden ausdehnt. Die bescherten Gaben verweisen auf die wirtschaftliche Überlegenheit des Gebenden. Infolgedessen sind die Empfangenden in gewisser Weise die Knechte oder Begünstigten, während die Gebenden die Herrscher oder Wohltäter sind. Wieder andere Sozialtheoretiker bezeichnen den kritischen Blick allerdings als einseitig. Sie vertreten das, was ich einen synthetischen Blick nennen würde. Dieser Blick fordert, dass uns einerseits die Machtstrukturen bewusst sein müssen, die unser Geben und Empfangen mitbestimmen, andererseits sollen wir aber offen für die schiere Vielfalt solcher Handlungen bleiben. Manche Menschen sind altruistische Schenkende, andere sind übermäßig kritisch oder können gar nichts empfangen, und viele Handlungen vereinen verschiedenartige Motivationen in sich, sodass wir sie nicht nur aus einer Warte heraus beschreiben können.35 Axel Honneths Theorie der Anerkennung als Liebe, Respekt und Achtung wurde wiederholt von Wissenschaftlern kritisiert. Honneth habe angeblich die Anerkennung allzu positiv bewertet und die Ambivalenz der Machtverhältnisse nicht genug berücksichtigt.36 Wenn unsere Identität durch Anerkennung seitens anderer Gruppen zustande kommt, und angenommen, diese Gruppen repräsentieren eher pathologische Identitäten, dann bleiben wir machtlose Knechte fragwürdiger äußerer Kräfte. Die vorherrschende Erwiderung auf Kritik dieser Art lautet wie folgt:37 Es gibt durchaus Pathologien der Anerkennung, derer wir uns bewusst sein müssen. Aber andererseits ist eine moderne demokratische Gesellschaft in der Lage, ein gesundes Gesellschaftsleben für ihre Bürger und Gruppierungen herzustellen. Als Gesamtes können Anerkennungsprozesse konstruktiv Respekt und Achtung unterstützen. Wir können diese Diskussion anhand des folgenden Beispiels auf die Ökumene übertragen: Lutheraner sind unglücklich, wenn römische Katholiken die lutherische Kirche nicht als Kirche anerkennen. Einige Lutheraner suchen Anerkennung bei römischen Katholiken und sind zufrieden, wenn manche römische Katholiken sagen, die Lutheraner würden eine Kirche bilden. Andere Lutheraner wiederum sind der Meinung, dass Lutheraner generell nicht um 35 Vgl.
Saarinen, Recognition (wie Anm. 2); K ahlos et al. (Hg.), Recognition (wie Anm. 2). 36 Vgl. Nancy Fraser/ A xel Honneth, Redistribution or Recognition. A Political- Philosophical Exchange, übers. v. J. Golb et al., London 2003; Lois McNay, Against Recognition, Cambridge, MA 2008. 37 Vgl. Honneth, Anerkennung (wie Anm. 7).
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solche Anerkennung bitten sollten. Der kirchliche Charakter des Luthertums, von dem sie ausgehen, befindet sich nicht in Abhängigkeit von einer etwaigen Anerkennung durch den römischen Katholizismus. Diese Position lässt sich dem sogenannten kritischen Blick auf das Geben und Empfangen der Anerkennung zuordnen. Lutherische Kirchenführer vertreten häufig die Einstellung, die in meiner Klassifikation dem synthetischen Blick entspricht. Sie sagen: ‚Wir würden uns wünschen, von römischen Katholiken anerkannt zu werden, aber unsere Identität als Kirche hängt nicht von dem ab, was diese tun‘. Das Beispiel ist an dieser Stelle aber noch nicht zu Ende. Aus der Perspektive der Anerkennungstheorie liegt hier vielmehr der eigentliche Beginn der Geschichte. In gewisser Hinsicht ist es offensichtlich, dass zwischen Lutheranern und römischen Katholiken eine Asymmetrie herrscht. Die lutherische Kirche ist viel kleiner; sie ist wie der Kosovo im Vergleich zur Europäischen Union. Mehr noch, die Lutheraner haben sich von der römisch-katholischen Kirche abgespalten und die lutherischen Konfessionen definieren die lutherische Identität über ihren Gegensatz zum römischen Katholizismus des 16. Jahrhunderts. Was immer der kritische Blick besagt, aus historischer Sicht grenzen sich Lutheraner über ihren Bezug zur römisch-katholischen Kirche von dieser ab.38 Hier ist die Asymmetrie augenfällig, denn die römisch-katholische Identität ist nicht ansatzweise so sehr an die Kontroversen des 16. Jahrhunderts geknüpft. Wenn ‚wir‘ als Lutheraner auf das wichtigste lutherische Bekenntnis blicken, die Confessio Augustana,39 ist dieses historisch betrachtet ein Dokument, das geschrieben wurde, um von Rom anerkannt zu werden. Indem ihm dessen Anerkennung verwehrt wurde, zunächst in der sogenannten Confutatio und später im Konzil von Trient, wurde das Luthertum als Konfessionskirche geboren. Wenn diese Anerkennung gewährt worden wäre oder eines Tages möglicherweise sogar gewährt wird, wäre das nicht das Ende des Luthertums, aber es würde den Status des Bekenntnisses, das unsere Identität ausmacht, maßgeblich verändern. In jedem Fall bedeutet es, dass sowohl der kritische als auch der synthetische Blick problematisch ist. Unsere Identität als Lutheraner hängt de facto von dem ab, was die römischen Katholiken denken und tun. Wir sind Lutheraner, weil wir von den römischen Katholiken nicht anerkannt werden. Dies ist allerdings mitunter eine heikle Identität, selbst wenn sie aus historischer Sicht korrekt sein mag. Es besteht also immer eine Asymmetrie zwischen römischen Katholiken und Lutheranern. Lutheraner gleichen dem verlorenen Sohn, der immer die Möglichkeit hat, nach Hause zurückzukehren. Wenn er heimkehrt und aner38 Vgl. Risto Saarinen, Luther and the Gift (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 100), Tübingen 2017, 226–241. 39 Vgl. Die Confessio Augustana, bearb. v. G. Seebaß/V. Leppin, in: Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Vollständige Neuedition, hg. v. I. Dingel, Göttingen 2014, 65–225.
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kannt wird, ist er ein Sohn mit eigener Integrität, aber nichtsdestoweniger ein Sohn, kein Bruder oder ebenbürtiges Gegenüber. Es gibt keinen bequemen Ausweg aus dieser Asymmetrie. Lutheraner können natürlich sagen, dass sie jegliche Anerkennung seitens der römischen Katholiken ablehnen. In der sozialen Theorie ähnelt dies der Situation, wenn einige militant indigene Völker ihre Anerkennung seitens des Staates ablehnen, weil sie der Ansicht sind, dass der Staat nicht die Autorität besitzt, solch eine Anerkennung auszusprechen. Das ist theoretisch möglich, aber weit entfernt von Alltagssituationen. Die meisten indigenen Völker ziehen eine staatliche Anerkennung der militanten Opposition vor. Aus theoretischer Sicht kommt hinzu, dass eine bewusste Opposition bereits als Abhängigkeitsbeziehung gilt. Die diplomatische Lösung des Problems der Asymmetrie wäre, dass beide Parteien sich höflich so verhalten, als seien sie gleichrangige Partner. Wenn Wladimir Putin Finnland besucht, findet alles auf gleicher Augenhöhe statt. Zeitungen und andere Kommentierende berichten über die Ereignisse jedoch aus einer asymmetrischen Perspektive der Realpolitik, der zufolge die Identität Finnlands sich in Abhängigkeit von Russland befindet, aber nicht vice versa. Auch in der Ökumene ist die Vorannahme der Gleichheit eine bewährte Vorgehensweise, die im Allgemeinen eingehalten werden sollte. Aus theologischen und historischen Gründen fordere ich jedoch (wie ein kritischer Reporter), dass der ‚diplomatische Fehlschluss‘ zu vermeiden ist. Höflichkeit allein kann real existierende Asymmetrien nicht ungeschehen machen. Des Weiteren kann uns die scharf analytische Sicht auf die asymmetrischen Vorgänge des Gebens und Empfangens von Anerkennung positive Einblicke gewähren, die uns helfen könnten, den ökumenischen Weg weiter fortzuführen. So werden auch zahlreiche Vorteile der sogenannten ‚Rezeptiven Ökumene‘ nachvollziehbar. Um diese Vorteile zu erläutern, muss ich genauer auf das Geben und Empfangen an sich eingehen.
5. Allgemeines zum Geben und Empfangen Die Christen haben versucht, dem Wort Jesu Folge zu leisten wie es in Apg 20,35 heißt: „Geben ist seliger als nehmen.“ (Lutherbibel 2017). Der Rat klingt einfach, ist aber in Wahrheit sehr komplex. Das berühmte Handbuch der Antike zum Geben und Empfangen bzw. Nehmen, Senecas De beneficiis, verhandelt beide Ereignisse sehr ausführlich. Obwohl Geben und Empfangen zwei Seiten derselben Medaille seien, lehrt Seneca, dass angemessenes Geben sehr schwierig und gebührliches Empfangen sehr leicht ist.40 40 Die folgende Skizze von Senecas Gedanken findet sich ausführlicher in: Saarinen, Luther, 53–57.252−256 (wie Anm. 38); John Barclay, Paul and the Gift, Grand Rapids, MI 2015, zeigt die Fruchtbarkeit antiker Diskurse über Gabehandlungen und wie diese das Christentum beeinflussten.
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Seneca diskutiert den Transfer von Gefälligkeiten und Wohltaten (beneficia). Dies trifft auf Situationen zu, in denen die Beziehung zwischen dem Gebenden und dem Empfangenden freiwillig zustande kommt und nicht institutionalisiert ist. Für Seneca ist das Geben und Empfangen von Wohltaten nicht Teil des Mäzenatentums und hat nicht den Status von Zahlungen.41 Daraus folgt, dass der Empfangende in keiner Schuld steht und der Gebende keine Belohnung erwarten sollte (Sen. Ag. benef. 1,2). Es gehört sich für den Empfangenden, sich dankbar zu zeigen, aber ein Mangel an Dankbarkeit entzieht der Schenkung nicht ihre Echtheit. Ihre Erziehung ist für kleine Kinder eine echte Gabe oder ein Gefallen, obwohl die Kinder zögerlich bei der Annahme dieser Wohltat sein mögen. Die minimalste Anstrengung seitens des Empfangenden ist ausreichend, um den Gefallen entgegenzunehmen. Manchmal ist es sogar möglich, Wohltaten zu empfangen, ohne es überhaupt zu wissen (Sen. Ag. benef. 4,30−32; 6,23−24; 7,31). Im Gegensatz dazu präsentiert sich das Geben von Gefälligkeiten als komplex und hängt von vielen Bedingungen ab. Die Wohltat muss intentional erfolgen und sich an einen bekannten Empfangenden richten. Nicht intendierte Vorteile zählen nicht als Wohltaten. Da die angestrebte Absicht konstitutiv für das Gewähren von Vorteilen oder Gaben ist, kann man von Seneca lernen, dass eine wahre Wohltat nur durch den Willen des Gebenden beschieden wird. Selbst wenn die eigentliche Gabe abhandenkommt, zählt der Wille. Und deshalb bedeutet eine ausbleibende Reaktion von Seiten des Empfangenden nicht, dass die Gabe verloren geht. Die Götter und Göttinnen, die vorbildlich im Schenken von Wohltaten sind, achten nicht darauf, ob ihre Gaben angemessen aufgenommen werden, sondern sie verhalten sich unbeirrt wie wohltätige Freunde (Sen. Ag. benef. 1,5; 6,2; 6,9; 7,30−32). Linguistisch gesehen bezeichnen Geben und Empfangen denselben semantischen Bereich von zwei Standpunkten aus. Senecas klassische Argumentationsfolge zeigt auf, dass ein Großteil dieses Bereichs von Seiten des Gebenden definiert wird. Weil die zielorientierten Absichten des Gebenden das Ereignis des Schenkens konstituieren, entstehen die meisten Probleme und Fehler dadurch, dass der Gebende sich unangemessen verhält. Wenn er eine Bezahlung erwartet oder eine bevormundende oder koloniale Beziehung herstellen möchte, gelingen seine Schenkungen nicht. Eine angemessene Absicht ist wohltätig in dem Sinne, dass sie auf die Bedürfnisse des Empfangenden achtet. Eine Gabe misslingt, wenn die Absicht des Gebenden von einer erwarteten Erwiderung gelenkt ist. Aus diesem Grund ist das angemessene Schenken oder Tun von Wohltaten schwierig und muss wohl überlegt sein. Empfangen hingegen ist vergleichsweise einfach. Man sollte dazu am Leben sein und die angebotene Gabe nicht ablehnen. Seneca zufolge sollte man sich 41 Vgl.
Miriam Griffin, Seneca on Society. A Guide to De Beneficiis, Oxford 2013.
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dankbar zeigen und nicht denken, dass durch die erhaltene Gabe eine Schuldbeziehung etabliert wird. Man muss nichts erwidern. Man muss nicht einmal dankbar sein, da die Absicht des Gebenden den Status des Transfers als Gabe bereits ausreichend konstatiert. Philosophisch gesprochen ist der Bereich des Gebens und Empfangens fast ausschließlich durch den Akt des Gebens definiert. Auch wenn Geben seliger ist denn Nehmen, ist das Nehmen bzw. Empfangen doch das deutlich einfachere von beidem. Senecas Werk wurde die gesamte Geschichte der Christenheit hindurch rezipiert und angewendet. Zahlreiche christliche Auslegungen wandeln den Stil des angemessenen Gebens ab. Im Allgemeinen sollen Christen Gaben so geben, dass diejenigen, die sie empfangen, sich durch die Gaben nicht beleidigt fühlen, ihnen aber doch Wert beimessen können. Johannes Chrysostomosʼ Anmerkungen zur Gastfreundschaft sind hier beispielhaft. Er vertritt die Ansicht, dass Gastfreundschaft nicht nur eine rein praktische Regelung ist oder eine Frage der Höflichkeit, sondern ein Phänomen, das uns ‚Philosophie lehrt‘. Einen Gefallen anzunehmen, ist für einen Fremden beschämend. Der Gastfreund muss sich folglich so verhalten, dass die Rollen verkehrt sind. Wir sollen „durch Wort und Tat zeigen, dass wir nicht glauben, selbst den Gefallen zu erweisen, sondern uns selbst eine Wohltat zuteilwird. […] Denn wenn der, der sich selbst für den Verlierenden hält, denkt, er täte einen Gefallen, zerstört er den gesamten Verdienst; der aber, der sich selbst als den Empfangenden einer Liebenswürdigkeit betrachtet, steigert die Belohnung.“42 Derjenige, der in solcher Weise gibt, „erhält mehr als er gibt.“43 Wirklich christliches Geben ist so gesehen sogar noch komplexer als das philosophische Geben. Als Gebende sollten Christen sich selbst wie die eigentlich Empfangenden betrachten. Diese Empfehlung bezieht sich darauf, taktvoll und höflich zu sein. Wichtiger noch, sie bekundet ausdrücklich, dass der oder die taktvoll Gebende kein unbewegter Beweger ist, der eine Veränderung im Status des Empfangenden vollzieht. Die Gaben erreichen ihr angestrebtes Ziel, wenn die Gebenden offen dafür sind, sich zu verändern und selbst zu Empfangenden zu werden. Um dies zu begreifen, bedarf es der Hermeneutik oder der Philosophie. Man kann darin eine gewisse Parallele zu den drei Paradigmen der Anerkennung sehen, wie sie oben bereits erläutert wurden. Besonders die ökumenische Herangehensweise, wie sie im Zweiten Vatikanischen Konzil verfolgt wurde, ist diesbezüglich von Bedeutung. Wenn das Konzil das alte Verb agnosco verwendet, sagt es, dass es für römische Katholiken heilbringend ist, die Reichtümer Christi, wie sie in anderen Traditionen vorzufinden sind, anzuerkennen. Das 42 John Chrysostom, Homilies on Galatians, Ephesians, Philippians, Colossians, Thessalonians, Timothy, Titus, and Philemon, hg. v. Ph. Schaff, Grand Rapids, MI 1890, 455 (Übers.; H. H.). 43 Ebd. (Übers.; H. H.).
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bedeutet, dass derjenige, der andere anerkennt, genau genommen seine eigenen Vorannahmen und Haltungen erneuert. Während das sogenannte moderne und säkulare Paradigma der Anerkennung die Statusveränderung des Objekts betont, betont das antike christliche Paradigma die innere Umkehr und geht davon aus, dass im Moment des Gebens und Empfangens der Gabe der Anerkennung beide Seiten eine Veränderung oder Transformation durchlaufen. Die Parallelen zwischen Gabe und Anerkennung können nicht bis ins letzte Detail dargestellt werden.44 Es geht mir nur darum hervorzuheben, wie komplex der Akt des Gebens ist. Um ein erfolgreicher Gebender oder Anerkennender zu werden, muss das handelnde Subjekt eine gewisse Transformation durchlaufen, durch die es ein Empfangendes wird und bis zu einem gewissen Grad sogar ein Bekehrtes. In diesem Sinne sind Anerkennen und Geben spirituelle Handlungen, wie Kasper, Ratzinger und Chrysostomos aufzeigen.
6. Rezeptive Ökumene und Anerkennungstheorie im Vergleich In einem früheren Werk habe ich die Sprache des ‚ökumenischen Gabentausches‘ kritisiert, weil sie die real existierenden Asymmetrien und Machtstrukturen, die zwischen Partnern herrschen, vernachlässigt und verdeckt.45 Ein problematisches Schriftstück ist in dieser Hinsicht der anglikanisch/römisch-katholische Text The Gift of Authority (1999) der Anglican-Roman Catholic International Commission (ARCIC).46 Die Schrift betrachtet die Autorität des Papstes als eine „Gabe, die geteilt werden muss“,47 und kommt letztlich zu dem Schluss (§ 62), „Anglikaner sollten unter gewissen klaren Bedingungen dafür offen sein und es erstreben, dass der Bischof von Rom sein universales Primat geltend macht; römische Katholiken sollten dafür, dass der Bischof von Rom sein universales Primat geltend macht und für das Angebot eines solchen Dienstes für die gesamte Kirche Gottes offen sein und es erstreben.“48
Für Wissenschaftler, die sich Gabebeziehungen widmen, sieht diese Aussage nach einem Versuch aus, den anderen durch vermeintlich freundliche Sprache zu kolonisieren. ‚Nehmt euch vor Griechen in Acht, die Gaben darbieten‘ heißt es bereits in der Aeneis (Verg. Aen. II,49). Die römisch-katholische Kirche ist willens, denjenigen Anglikanern die päpstliche Autorität zu geben, die für eine 44 Vgl.
Saarinen, Recognition, 221–233 (wie Anm. 2). Risto Saarinen, God and the Gift. An Ecumenical Theology of Giving, Collegeville, MN 2005, 133–136. 46 Vgl. Anglican-Roman Catholic International Commission (ARCIC), The Gift of Authority, online abrufbar unter: http://www.vatican.va/roman_curia/pontifical_councils/ chrstuni/documents/rc_pc_chrstuni_doc_12051999_gift-of-autority_en.html (letzter Zugriff am 30.4.2019; R. S.). 47 Ebd. (Übers.; H. H.). 48 Ebd. (Übers.; H. H.). 45 Vgl.
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solche Gabe offen sind. Das weitreichendste Problem an dieser Aussage aber ist nicht ihre Ignoranz, was die klassische und moderne Sprache des Schenkens angeht, sondern vor allem ihre Abwendung von den ökumenischen Ansichten des Zweiten Vatikanischen Konzils, welche die Bedeutsamkeit der eigenen Transformation im Zuge ökumenischer Beziehungen unterstreicht. Das neue ARCIC Dokument von 2018, Walking Together on the Way,49 vermeidet solche Probleme, indem es die Methode der Rezeptiven Ökumene bemüht. Diese Methode bzw. dieser Prozess wird im neuen Text (§ 18) wie folgt beschrieben: „Dieser Prozess schließt ein, sowohl bereit zu sein, das wahrzunehmen, was anscheinend bisher in der eigenen Tradition übersehen oder nicht ausreichend entwickelt worden ist, als auch danach zu fragen, ob solche Dinge in einer anderen Tradition besser entwickelt worden sind. Er erfordert sodann die Offenheit zu fragen, wieviel von den wahrgenommenen Stärken der anderen Traditionen hilfreich dabei sein können, mittels rezeptiver Lernvorgänge diesen Aspekt des kirchlichen Lebens in der eigenen Tradition weiterzuentwickeln und zu bereichern.“50
Diese neue Stellungnahme revidiert die Haltung des Textes von 1999 bedeutend und kehrt zu den Absichten des Zweiten Vatikanischen Konzils zurück, die eigene Offenheit und das Lernen im Prozess der Anerkennung von anderen zu betonen. Da die Rezeptive Ökumene eine gewisse Ähnlichkeit zum Helsinkier Anerkennungsprojekt hat, scheint eine kurze Skizzierung dieser Methode sinnvoll. Die Rezeptive Ökumene ist eine Bewegung, die um die Jahre 2005/2006 am Centre for Catholic Studies an der Universität Durham entstand. Nach den ersten Schriften von Paul D. Murray ist die Bewegung im Rahmen verschiedener Konferenzen und vor allem durch Fallstudien zu konkreten Lernprozessen in vielen Ländern und verschiedenen Konfessionen gewachsen. Murray zufolge hat die Rezeptive Ökumene einige Wurzeln in der postliberalen Theologie, der es darauf ankommt, Lebenswirklichkeiten zu finden, die den ökumenischen Gedanken über die stagnierenden offiziellen Dialogprozesse hinaustragen können.51 Die Grundidee der Bewegung ist es wahrzunehmen, was die eigene Kirche von anderen christlichen Traditionen annehmen und lernen kann, ohne ihre persönliche, doktrinelle und praktische Integrität einzubüßen. Es wird nicht behauptet, ein so gearteter wechselseitiger Austausch würde zu voller Übereinstimmung oder kirchlicher Gemeinschaft führen. Aber der Einseitigkeit der 49 Vgl. Anglican-Roman Catholic International Commission (ARCIC), Together On the Way, online abrufbar unter: http://www.vatican.va/roman_curia/pontifical_councils/ chrstuni/angl-comm-docs/rc_pc_chrstuni_doc_20180521_walking-together-ontheway_ en.pdf (letzter Zugriff am 30.4.2019; R. S.). 50 Ebd. (Übers.; H. H.). 51 Vgl. Paul D. Murray, Introducing Receptive Ecumenism, in: The Ecumenist 51 (2014), 1–6, bes. 4.
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eigenen kirchlichen Tradition kann die Offenheit dafür, anderes anzunehmen, Abhilfe schaffen. Zusätzlich macht es ein solcher Gedanke des wechselseitigen Lernens einfacher zuzugeben, dass die eigene Kirche nicht in jeder Hinsicht perfekt ist, sondern Verwundungen und Schwierigkeiten hat, die durch das Empfangen anderer Traditionen vielleicht geheilt oder verbessert werden können.52 Auch wenn die Rezeptive Ökumene von universitären Theologen gelenkt wird, ist es doch eine weitestgehend praktische und auf den Kontext hin orientierte Methode geblieben. Ortsansässige Arbeitsgemeinschaften, die aus Mitgliedern verschiedener Kirchen bestehen, bilden Forschungsräume, in denen rezeptives Lernen ausprobiert werden kann. Die Vorgehensweise der Gruppenarbeit entbehrt nicht einer gewissen Nähe zur Methode des Scriptural Reasoning, das zunehmend bei interreligiösen Begegnungen zum Einsatz gebracht wird.53 Während die neue ARCIC-Schrift einer der ersten Texte sein dürfte, der Rezeptive Ökumene als Methode im globalen und offiziellen Dialog anwendet, erfreuen sich die ortsgebundenen Gruppen mittlerweile zunehmend der Akzeptanz in römisch-katholischen, anglikanischen und evangelischen Kirchenkontexten. Allgemein gesprochen kommen die Haltungen und Methoden der Rezeptiven Ökumene dem ziemlich nahe, was das Helsinkier Anerkennungsprojekt in Bezug auf historische und theoretische Belange herausgearbeitet hat. Für beide Vorhaben ist die Offenheit der ökumenischen Akteure von zentraler Bedeutung. Wir können andere nur anerkennen, wenn wir selbst eine Wandlung durchlaufen. Wir können auf andere nur dann Einfluss nehmen, wenn wir selbst bereit sind, von ihnen beeinflusst zu werden. In der christlichen Geschichte und Theologie sind Anerkennungsprozesse Paradigmen der persönlichen Offenheit und Wandlungsfähigkeit. Der unbewegte Beweger, der nur daran denkt, anderen eine Statusänderung vorzuschreiben, ist ein säkulares und modernes Konzept. Ein Gebender, der nicht empfangen kann, ist eine pathologische Figur. Auch unter dem Umstand, dass solche Ähnlichkeiten auffindbar sind, haben die Rezeptive Ökumene und die Anerkennungstheorie trotzdem sehr unterschiedliche Anwendungsbereiche und praktische Ansätze. Das Helsinkier Anerkennungsprojekt ist eine typisch akademische Unternehmung. Geschichte und Theorie spielen eine tragende Rolle und seine Veröffentlichungen zielen darauf ab, die Geistes- und Sozialwissenschaften als Ganzes zu erreichen. Öku52 Vgl. Paul D. Murray, Receptive Ecumenism and Catholic Learning. Establishing the Agenda, in: Receptive Ecumenism and the Call to Catholic Learning. Exploring a Way for Contemporary Ecumenism, hg. v. dems., Oxford 2008, 5–25. 53 Vgl. Paul D. Murray, Families of Receptive Theological Learning. Scriptural Reasoning, Comparative Theology, and Receptive Ecumenism, in: Modern Theology 29 (2013), 76–93; Sara Gehlin, Receptiv ekumenik – om hopp och tillit i ekumeniska relationer, in: Kristen humanism 79 (2018), 89–98.
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mene ist ein wichtiger Teilbestand des Projekts, aber eben nur einer von vielen. Die Rezeptive Ökumene dagegen richtet sich ganz klar an die Bedürfnisse der Kirchen und christlichen Gruppierungen. Sie hat einen beachtenswerten akademischen und theoretischen Anteil, existiert aber nicht allein um dieses Anteils willen. Die Rezeptive Ökumene strebt nicht nach akademischem Einfluss, der über die Theologie hinausreicht. Unterschiede dieser Art zwischen den beiden Projekten sind meines Erachtens nicht zu verkennen. Die Theorie der Anerkennung ist in interdisziplinären wissenschaftlichen Arbeiten stark vertreten. Die Rezeptive Ökumene hat einen bemerkenswerten praktischen und kontextuellen Einfluss. Theoretiker der Anerkennung können ihre Expertise relativ einfach auf die konkrete Arbeitsweise der Rezeptiven Ökumene übertragen. Gleichzeitig haben wir viel von dieser Arbeitsweise zu lernen. Was können Anerkennungstheoretiker zur Arbeit der Rezeptiven Ökumene beisteuern? Wir haben ein gutes Verständnis von den Asymmetrien und Machtstrukturen, die die Vorgänge des Gebens und Empfangens prägen. Im vorliegenden Beitrag wurden einige dieser Asymmetrien skizziert. Es gilt jedoch, noch vieles auszuarbeiten. Was passiert, nachdem man etwas von anderen angenommen hat? Können wir es im Zuge kultureller Aneignung einfach als unser Eigentum betrachten? Betrifft das Empfangen stärkere und schwächere Partner in gleicher Weise? Obwohl es diesbezüglich viele theoretische Diskussionen gibt, können in diesem Artikel nicht alle umfassend besprochen werden. Abschließend stellt sich die Frage, inwieweit beide Ansätze auch gemeinsam nicht in der Lage sind, alle potenziellen Probleme hinreichend zu behandeln. Eine dieser Problematiken ist der Stellenwert ökumenischer Haltungen. Die Geisteshaltung der μετάνοια und der Offenheit ist hilfreich und hermeneutisch unerlässlich, aber wieviel kann man letztendlich mit ihr erreichen? Andere Menschen anzuerkennen hilft dabei, gesellschaftliche Streitigkeiten zu lindern, aber viele Theoretiker weisen darauf hin, dass die Ursprünge solcher Konflikte wesentlich tiefer liegen, zum Beispiel in sozialen Verhältnissen oder genuin unterschiedlichen Werten, Lehren und Idealen. Jedoch beansprucht weder die ökumenische Anerkennung noch die Rezeptive Ökumene für sich, alle Problemfelder abzudecken, die sich auf dem Weg zu vollkommener Gemeinschaft und sichtbarer Einheit stellen. Beide Ansätze bieten vielmehr eine Reihe von Zwischenlösungen. Dank dieser beiden Methoden konnte ein offizielles Dokument wie die Porvoo-Erklärung oder Walking Together on the Way vom ARCIC verfasst werden. Beide Ansätze sind vielleicht am förderlichsten in Bezug auf Probleme der Haltung und Offenheit im ökumenischen Dialog. Es ist jedoch realistisch anzunehmen, dass es darüber hinaus noch andere ökumenische Problemstellungen gibt. Zugleich ist es außerordentlich wichtig zu sehen, dass die Anliegen des Gebens und Empfangens nicht bloße Fragen der Haltung oder prinzipieller Höflichkeit sind. Genau wie
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die Anerkennung stellt das Empfangen ein zutiefst hermeneutisches Unterfangen dar. Wenn wir uns mit ökumenischen Prozessen beschäftigen, muss der diplomatische Fehlschluss vermieden werden. Geben und Empfangen stellt mit den bereits oben erwähnten Worten Chrysostomosʼ ein Thema dar, ‚das uns Philosophie lehrt‘. Die theoretische Arbeit, wie sie in Helsinki stattfindet, richtet ihren Fokus auf die Beantwortung der herausfordernden und lohnenden Fragen, die sich aus dem Geben und Empfangen von Anerkennung ergeben.
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Versöhnte Vielfalt Die Einheit der Kirchen und ihre Vorbildfunktion für Europa Rebekka A. Klein Seitdem im Jahr 2015 die Bundesrepublik Deutschland eine symbolische Wende in ihrer Flüchtlingspolitik eingeleitet hat und am 5. September tausende Flüchtlinge aus Ungarn ungehindert die Grenzen passieren ließ, hat sich Europa verändert. Was mit der Frage einer humanitären Willkommenskultur begann, erwies sich bald als eine handfeste Auseinandersetzung über das, was Europa als Staaten- und Wertegemeinschaft auszeichnet und worin seine Solidarität jenseits wirtschaftspolitischer Notwendigkeiten genau besteht. In der Frage der Migration, aber auch in Fragen der Klima- und der Sozialpolitik zeigt sich immer deutlicher ein Riss in der Europäischen Staatengemeinschaft. Verwerfungen zwischen den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, aber auch zwischen verschiedenen Kulturen und Mentalitäten in Europa treten verstärkt zutage. Aus Furcht vor einer Schwächung ihrer nationalen Souveränität und Eigenart und einer zunehmenden Dominanz der Brüsseler Bürokratie hat sich die Mehrheit der Bürger Großbritanniens in einer Abstimmung am 23. Juni 2016 für einen Austritt aus der Europäischen Union ausgesprochen. Damit werden die im 20. Jahrhundert zum Teil äußerst mühsam errungenen Fortschritte bei der Integration Großbritanniens in die Europäische Gemeinschaft aufs Spiel gesetzt und die scheinbar engen Grenzen nationalstaatlicher Souveränität wieder aufgerichtet. Doch nicht nur in Großbritannien, sondern in ganz Europa erstarken inzwischen populistische, national-konservative und rechtsgerichtete Gruppierungen. Sie beklagen den Verlust der eigenen Kultur und politischen Identität, wie er durch das zunehmende Zusammenwachsen Europas verursacht werde. Zugleich sind Stimmen laut geworden, die dieses Erstarken rechtspopulistischer Initiativen als politisches Versagen der Vision von einer Einigung Europas und damit auch des nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Taufe gehobenen Projektes von Frieden und Versöhnung der Völker deuten. Das Projekt von Frieden und Versöhnung ist im 20. Jahrhundert jedoch nicht nur ein politisches, sondern in Gestalt der Ökumenischen Bewegung der Kirchen auch ein gewichtiges theologisches und kirchenpolitisches Projekt gewesen. Beginnend mit der Weltmissionskonferenz von Edinburgh (1910) über die Gründung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Amsterdam (1948) bis
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zur Begründung einer Gemeinschaft Evangelischer Kirchen auf dem Leuenberg (1973) war die Vision einer Einheit der christlichen Kirchen und einer Versöhnung ihrer Differenzen ein, wenn nicht sogar das wesentliche Motiv der Ökumenischen Bewegung. Daher soll in diesem Artikel zum einen die Ekklesiologie und daran anschließend die Theologie der Ökumene näher beleuchtet werden. Gegenwärtig mehren sich die Zeichen, dass die politischen Visionen des 20. Jahrhunderts an ihr Ende gekommen sind oder einer Neuformierung bedürfen. Die Vision von Frieden und Versöhnung steht jedoch weiterhin im Zentrum, nicht nur der europäischen, sondern auch der weltweiten kirchlichen Gemeinschaft. Ohne sie ist Ökumene nicht denkbar und ohne sie wäre gleichsam ein post-ökumenisches Zeitalter angebrochen. Und auch wenn diese Entwicklung bislang zu keinem Abschluss gekommen ist, hat sich in den letzten Jahrzehnten herauskristallisiert, dass die Vision von einer Einheit der Kirchen nicht von allen Teilen der Ökumenischen Bewegung gleichlautend verstanden und gedeutet wird. Seit der Begründung der Kirchengemeinschaft auf dem Leuenberg1 ist auf protestantischer Seite das Motiv der Einheit als einer versöhnten Verschiedenheit ein wegweisendes Leitmotiv gewesen. Diese Deutungsfigur erscheint im Text der Konkordie zwar nicht explizit, jedoch ist sie eine Formulierung des Lutherischen Weltbundes, die sich im Weiteren durchgesetzt hat.2 Den mit ihr verbundenen theologischen Prämissen und Implikationen soll im ersten Teil dieses Beitrags nachgegangen werden. Anschließend wird im zweiten Teil der von den Kirchen Europas formulierte Anspruch auf öffentliche Vorbildwirkung der Ökumene dargestellt und aus theologischer Perspektive kritisch diskutiert. Daraus resultiert dann der im dritten Teil darzulegende Vorschlag, das Leitmotiv der versöhnten Vielfalt als Paradigma interkultureller Öffnung weiterzudenken und kritisch umzubauen. 1 Vgl. Wilhelm Hüffmeier, Kirchliche Einheit als Kirchengemeinschaft. Das Leuenberger Modell, in: Jenseits der Einheit. Protestantische Ansichten der Ökumene, hg. v. F. W. Graf/ D. Korsch, Hannover 2001, 35–54; Wilhelm H. Neuser, Die Entstehung und theologische Formung der Leuenberger Konkordie 1971 bis 1973, Münster 2003; Ulrich H. J. Körtner, Die Leuenberger Konkordie als ökumenisches Modell, in: Verbindende Theologie. Perspektiven der Leuenberger Konkordie (Evangelische Impulse 5), hg. v. M. Beintker/M . Heimbucher, Neukirchen-Vluyn 2014, 195–223; Michael Beintker, Von der Leuenberger Konkordie zur Gemeinschaft der Kirchen in Europa, in: ebd., 224–248; Stephanie Dietrich, (Sichtbare) Einheit in versöhnter Verschiedenheit? Das ökumenische Modell der Leuenberger Kirchengemeinschaft. Grundlagen, Qualitäten, Herausforderungen, in: Ökumene – überdacht. Reflexionen und Realitäten im Umbruch (Quaestiones disputatae 259), hg. v. Th. Bremer/ M. Wernsmann, Freiburg i. Br. 2014, 208–222; Michael Bünker/Bernd Jaeger (Hg.), 40 Jahre Leuenberger Konkordie. Dokumentationsband zum Jubiläumsjahre 2013 der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa, Wien 2014. 2 Vgl. André Birmelé, 40 Jahre Leuenberger Konkordie. Entstehung und Wirkungsgeschichte, in: Beintker/H eimbucher (Hg.), Verbindende Theologie, 17–35, hier 28 (wie Anm. 1); Dietrich, Einheit in versöhnter Verschiedenheit? (wie Anm. 1).
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1. Vielfalt als normatives Leitmotiv protestantischer Ekklesiologie Seitdem sich die lutherischen, reformierten und unierten Kirchen 1973 mit der Leuenberger Konkordie die Kirchengemeinschaft erklärt haben,3 wird in der protestantischen Ekklesiologie die Vielfalt4 konfessioneller Identitäten als Bereicherung und Geschenk gewürdigt und nicht primär als Quelle von Konflikten und Trennungen zwischen Kirchen verstanden. Die Anerkennung von Vielfalt als Reichtum und Gabe der Kirche Jesu Christi kommt in der Konkordie darin zum Ausdruck, dass sie „die verpflichtende Geltung der Bekenntnisse in den beteiligten Kirchen bestehen [lässt]“ und „sich nicht als ein neues Bekenntnis“ versteht.5 Die Konkordie fordert daher keine sichtbare Union der Kirchen, sondern versucht, ihre unsichtbare Einheit gerade in ihrer sichtbaren Vielfalt zur Darstellung kommen zu lassen. Vielfalt tritt demnach nicht in einen Gegensatz zum Streben der Kirchen nach Einheit, sondern erweist sich als eine in diese integrierbare Pluralität. Sie erhält damit einen positiven Sinn für Ökumene. Bei der von der Leuenberger Konkordie positiv gewürdigten Vielfalt handelt es sich allerdings nicht um eine beliebig zusammengestellte, sondern um eine kontingent ‚gestaltete Vielfalt‘ der Kirchen,6 da sie verschiedene Bekenntnistraditionen und mit ihnen konfessionelle Identitäten repräsentiert, die sich trotz ihrer wechselseitigen Anerkennung immer auch gegeneinander abgrenzen. Diese konfessionellen Identitäten bezeichnen sich zudem nicht beliebig, d. h. ohne nachvollziehbaren Grund als christlich, sondern beziehen sich als ihren Grund auf das Evangelium von Jesus Christus. Daraus resultiert, dass es sich bei der in der Konkordie angesprochenen Pluralität nicht um eine kontingent zusammengewürfelte Mischung handelt, sondern um eine aus der Übereinstimmung in rebus, aus dem „consentire de doctrina evangelii“ (CA 7) abgeleitete Vielfalt.7 In Abgrenzung zur Vorstellung einer hierarchisch eingehegten, durch Leitungsämter sichtbaren Vielfalt hebt der Wortlaut der Konkordie Pluralität 3 Vgl. Michael Bünker/M artin Friedrich (Hg.), Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa (Leuenberger Konkordie), Leipzig 2013. 4 Im Folgenden wird der Begriff der Vielfalt anstelle der Verschiedenheit verwendet, da sowohl in der Leuenberger Konkordie als auch in der Studie der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) dieser Begriff insgesamt öfter herangezogen wird und er auch der politisch und sozialethisch affinere Begriff ist. Vgl. Wilhelm Hüffmeier, Die Kirche Jesu Christi. Der reformatorische Beitrag zum ökumenischen Dialog über die kirchliche Einheit (Leuenberger Texte 1), Frankfurt a. M. 32001. 5 Bünker/Friedrich, Konkordie, Art. 37b, 53 (wie Anm. 3). 6 Vgl. Christine Axt-Piscalar, Einheit in gestalteter Vielfalt. 500 Jahre Reformation und die Frage nach der ökumenischen Zielvorstellung für die Einheit der Kirche, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 63 (2018), 111–130. 7 Die Confessio Augustana, bearb. v. G. Seebaß/V. Leppin, in: Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Vollständige Neuedition, hg. v. I. Dingel, Göttingen 2014, 85–225, hier 103.
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als Ausdruck der Vitalität der Kirchen und ihres Lebens in der Zeit hervor. Die bestehenden konfessionellen Differenzen sind demnach nicht ‚von oben‘ zu vereinheitlichen oder zu normieren. Stattdessen wird die Möglichkeit eines friedvollen Umganges mit diesen Differenzen durch den Ausdruck ‚versöhnte Vielfalt‘ benannt und in der gegenseitigen Anerkennung der jeweils besonderen konfessionellen Traditionen und ihrer Ausgestaltungen des evangeliumsgemäßen Auftrags der Kirchen aufgefunden. Daraus ergibt sich, dass Vielfalt in ihrer versöhnten Gestalt durch die Konkordie als ein normatives Leitmotiv der Ekklesiologie und als ein Wert an sich eingestuft wird. Statt einer Limitierung der Pluralität sei diese im Sinne eines ‚Füreinander‘ der konfessionellen Identitäten anzuerkennen, zu befördern oder zu bewahren. Es handelt sich demnach bei der Rede von einer versöhnten Vielfalt nicht um eine Beschreibung von Gemeinschaft im Plural, sondern um einen eigenen Modus von Gemeinschaftlichkeit, der – gleichsam gemeinwohlorientiert – mit konfessionellen Differenzen und der durch sie hervorgerufenen Erfahrung von Distanz und Fremdheit nicht streitend und trennend, sondern befriedend und versöhnend umgeht. Die theologische Begründung der versöhnten Vielfalt speist sich allein aus dem Erweis ihrer Evangeliumsgemäßheit. So kann bereits die Rede von dem einen Leib und den vielen Gliedern im ersten Korintherbrief als Anerkennung einer vom Grund der Kirche in Jesus Christus her getragenen Vielheit und Vielgestaltigkeit ihrer Ausprägungen gedeutet werden. Vielfalt jeglicher Art kann in der christlichen Gemeinde zudem friedvoll akzeptiert werden, da in ihr nach Gal 3,28 „nicht Jude noch Grieche, […] nicht Sklave noch Freier, […] nicht Mann noch Frau“ ist, sondern alle „einer in Christus Jesus“ (Lutherbibel 2017) sind. Indem die Einheit der Gemeinde also theologisch und d. h. jenseits der sozialen Zuschreibungen verortet und ihr extra se in Jesus Christus vorstellig gemacht wird, bleibt sie davor bewahrt, die Unterschiede zwischen Menschen absolut zu setzen. In ihr bleiben soziale und andere Differenzen ohne trennende Wirkung bestehen. Da somit angenommen wird, dass sich die Einheit der Kirchen in ihrer sichtbaren Gestalt nicht als uniformierte, sondern nur als differenzierte und pluralisierte Einheit denken und vollziehen lässt, erscheint das Motiv der versöhnten Vielfalt als normative Leitidee für das kirchliche Leben in einer offenen und pluralistischen Gesellschaft. Es repräsentiert zudem ein genuin protestantisches Verständnis von Ökumene. Sein Anliegen ist es, die individuelle Eigenart konfessioneller Identitäten zu würdigen und sie nicht nur als vorübergehende und zu überwindende Gestalt von Kirche zu betrachten.
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2. Der Anspruch der Ekklesiologie auf öffentliche Vorbildwirkung Im 21. Jahrhundert hat das Leitmotiv der versöhnten Vielfalt auch in der Charta Oecumenica der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in Europa eine Würdigung erfahren.8 Hier wird vor allem seine zivilgesellschaftliche Vorbildfunktion betont: „Die Vielfalt der regionalen, nationalen, kulturellen und religiösen Traditionen betrachten wir als Reichtum Europas. Angesichts zahlreicher Konflikte ist es Aufgabe der Kirchen, miteinander den Dienst der Versöhnung auch für Völker und Kulturen wahrzunehmen. Wir wissen, dass der Friede zwischen den Kirchen dafür eine ebenso wichtige Voraussetzung ist.“9
Die Charta deutet demnach den Frieden zwischen den Kirchen als Vorbild und Voraussetzung für die Versöhnung der Kulturen und Nationen Europas.10 In anderen kirchlichen Dokumenten wird der kirchliche Dienst der Versöhnung im Anschluss an Eph 2 sogar als „Keimzelle“11 gedeutet, aus der der Friede zwischen Menschen und Völkern als ein Abbild hervorgeht. An den Ansatz einer ‚Öffentlichen Theologie‘ (Public Theology) anschließend wird dementsprechend in kirchlichen Verlautbarungen immer wieder der Anspruch formuliert, dass die Kirchen mit ihrer langjährigen Erfahrung im ökumenischen und interkonfessionellen Dialog ein gesellschaftlich brauchbares Modell versöhnter Gemeinschaft herausgebildet haben.12 Dieser Anspruch provoziert allerdings kritische theologische Rückfragen wie beispielsweise den 8 Vgl. dazu auch eine ethische Einordnung, die allerdings keine der im Folgenden aufgeworfenen Fragen nach einer sozialethischen und politiktheoretischen Differenzierung behandelt: Martin Honecker, Die Charta Oecumenica als Anfrage an die Ethik, in: ders., Wege evangelischer Ethik. Positionen und Kontexte (Studien zur theologischen Ethik 96), Freiburg i. Br. 2002, 358–366. Für eine kritische Lektüre aus der Perspektive der gegenwärtigen Europapolitik vgl. Lukas D. Meyer, Redlich bemüht. Gegenwärtige europapolitische Herausforderungen und die Charta Oecumenica in der Glaubwürdigkeitskrise, in: Ökumene in Bewegung. Forschungsperspektiven der Ökumenischen Theologie, hg. v. R. A. Klein/L . Teuchert (im Erscheinen). 9 Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (Hg.), Charta Oecumenica. Leitlinien für die wachsende Zusammenarbeit unter den Kirchen in Europa, Frankfurt a. M. 2002, 18. 10 Dabei wird in folgenreicher Weise von einem Grundkonsens in der Vielfalt der christlichen Kirchen und Konfessionen ausgegangen. Vgl. Wolfgang W. Müller, Die Charta Oecumenica als Chance für die Christen und Christinnen in Europa?, in: Catholica – Vierteljahresschrift für ökumenische Theologie 1/2003, 1–12. 11 Konrad W. Kraemer, Vatikanum II. Vollständige Ausgabe der Konzilsbeschlüsse, Osnabrück 1966, 83. 12 Vgl. Heinrich Bedford-Strohm, Öffentliche Theologie und interreligiöser Dialog, in: VELKD-Informationen 154 (2017), 2–6; ders., Engagement für die Demokratie. Öffentliche Theologie und die Rolle der Kirchen im zusammenwachsenden Europa, in: ders., Position beziehen. Perspektiven einer öffentlichen Theologie, München 42013, 111–123; sowie Konrad R aiser, Die Gründung des Ökumenischen Rates der Kirchen und die Suche nach einer internationalen Friedensordnung, in: Verständigung und Versöhnung. Beiträge von
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Verweis, dass das politische Begehren nach Versöhnung nicht vorschnell mit der theologischen Verheißung von Versöhnung in eins gesetzt werden dürfe. Auch eine Korrelation beider auf Grund einer Analogie könnte sich aus mehreren Gründen als Kurzschluss erweisen. Aus ihr resultieren darüber hinaus drei Gefahrenpotenziale. Ebenso wie die politische Vision von einer Einigung Europas wird die ökumenische Vision einer Einheit der Kirchen von Theologen gern als gesellschaftlich fortschrittlich und rational ausgewiesen. Ihren Geltungsgrund bezieht sie allerdings aus etwas anderem als aus gesellschaftlicher Rationalität. Sie beruft sich auf das Wort Gottes von Frieden und Versöhnung, wie es in der Bibel bezeugt ist. Nach Eph 4,3 soll die Einheit der Glaubenden als „Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens“ (Lutherbibel 2017) bestehen. Als ‚Einigkeit im Geist‘ ermöglicht sie, eine Einheit der geglaubten Kirche auch angesichts der verschiedenen sichtbaren Kirchen und Bekenntnisse anzunehmen. Als eine versöhnte Einheit und damit als Zusammenführung von vormals Getrenntem und unversöhnlich Gespaltenem kann sie sich zudem auf das Wort von menschlicher Versöhnung mit Gott in 2.Kor 5,20 berufen. Dort heißt es im passivischen Modus: „Lasset euch versöhnen mit Gott!“ (Lutherbibel 2017). Das paulinische Wort von der Versöhnung zwischen Gott und Mensch begreift diese somit nicht in erster Linie als ein Modell aktiver sozialer Friedensstiftung zwischen Menschen, sondern als eine von uns empfangene Gabe Gottes, die darin besteht, dass die Gemeinschaft mit Gott uns erlösen und allererst zu wahrer Gemeinschaft miteinander befreien wird.13 Der befreiende und erlösende Charakter der Gemeinschaft mit Gott lässt sich weiter im Anschluss an Gal 3,28 präzisieren. Der Grund der Einheit der Gemeinde Jesu Christi besteht nach diesem Zeugnis nicht in einem Akt des Menschen, sondern im Handeln Gottes, der den Menschen von der Letztorientierung der Gemeinschaft an sozialen Zugehörigkeiten befreit. Dem paulinischen Satz „Ihr seid allesamt einer in Christus Jesus“ (Lutherbibel 2017) kommt somit ebenso eine häretische Bedeutung zu, da er auf einem Akt Gottes insistiert, der hinsichtlich sozialer, kultureller und religiöser Zugehörigkeiten inkommensurabel ist und somit gerade keine weitere Form dieser Zuschreibungen darstellt. Daraus resultiert im theologischen Verständnis ebenso eine Inkommensurabilität der Gemeinschaft christlicher Kirchen mit anderen Gemeinschaften. Erstere ist primär Gemeinschaft mit Gott. In diese sind andere mit hineingenommen, sofern sie zu der in Jesus Christus erfolgten Erwählung des Menschen zur Gemeinschaft mit Gott auch berufen werden. Denn Gott lädt zwar alle zur Gemeinschaft mit ihm ein, er hat sich jedoch auch dazu entschlossen, nicht Kirche, Religion und Politik 70 Jahre nach Kriegsende (Beihefte zur Berliner Theologischen Zeitschrift 34), hg. v. R. K. Wüstenberg/J. Beljin, Leipzig 2017, 82–100. 13 Vgl. Ulrich H. J. Körtner, Evangelische Sozialethik. Grundlagen und Themenfelder, Göttingen 1999, 114–137.
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alle zu ihr zu berufen. Die Lehre von der Erwählung des Menschen ist daher eine Lehre gegen den Augenschein. Sie betont, dass wir niemals mit Sicherheit wissen können, wer zur Gemeinschaft mit Gott nicht nur erwählt, sondern auch berufen ist und wer nicht (Mt 22,14). Jede sich dem Wirken des Heiligen Geistes verdankende Vereinigung von Menschen ist auf diese Weise davor bewahrt, eine in enge Grenzen eingeschlossene oder eine grenzenlos offene, eine wahllos und beliebig sich erweiternde Gemeinschaft zu werden. Des Weiteren würden sich aus dem Ansatz einer bloßen Identifikation des christlichen Versöhnungshandelns mit friedensstiftenden Aktivitäten auch externe Gefahrenpotenziale ergeben, wie dasjenige einer Überforderung menschlicher Friedenssehnsüchte durch theologische Heilsversprechen, die theologisch gemäß Eph 2 als Gabe und Einladung Gottes zu deuten sind, die wir in Jesus Christus empfangen haben. Es zeigt sich daher, dass im Blick auf den Menschen der Versöhnungsbegriff nicht auf ein metaphysisches Versprechen der finalen Aufhebung von Konflikten und Differenzen gegründet werden darf. Versöhnung unter Menschen ist vielmehr als ein sich zeitlich pluralisierendes und differenzierendes Geschehen der Annäherung zu betrachten, welches bereits innerhalb von Konflikten und nicht erst nach deren Beendigung sein Potenzial entfalten kann. Des Weiteren ist das Augenmerk darauf zu richten, dass das theologische Versöhnungsverständnis auf Grund seines harmatiologischen Hintergrundes zu einer Konnotation von Versöhnung und Schuld neigt.14 Dies zeigt beispielsweise die auf dem Kirchentag 2015 in Stuttgart diskutierte Frage, ob die Kirche sich öffentlich zu ihrer Schuld zu bekennen hat, in Fragen der Anerkennung verschiedener sexueller Orientierungen nicht (immer) ‚einig‘ in Jesus Christus gewesen zu sein.15 Auch im Kontext der Ökumene wird die Auffassung vertreten, dass die kirchliche Vielfalt nicht nur unter Gottes Verheißung von der Versöhnung steht, sondern auch unter seinem Gericht. Mangelnde oder ausgesetzte Interkommunion sei daher als schuldhafte Trennung zu beurteilen.16 Die Ansicht, dass jede Form der Uneinigkeit und Ausgrenzung im Raum der Kirche sofort eine schuldhafte Verfehlung darstellen soll, moralisiert den eschatologisch qualifizierten Versöhnungsbegriff jedoch über Gebühr und gibt ihn einer falschen Gesetzlichkeit preis. 14 Vgl.
R alf K. Wüstenberg, Die politische Dimension der Versöhnung. Eine theologische Studie zum Umgang mit Schuld in den Systemumbrüchen in Südafrika und Deutschland (Öffentliche Theologie 18), Gütersloh 2004. 15 Vgl. insbesondere den Beitrag und Aufruf zu einem Schuldbekenntnis durch Peter Dabrock bei der Veranstaltung „Sexualität. Lustvoll, männlich, weiblich und mehr“ vom 6. Juni 2015 im Zentrum Gender des Kirchentages, online abrufbar unter: https://dxz7zkp528hul. cloudfront.net/production/htdocs/fileadmin/dateien/zzz_NEUER_BAUM/Service/A rchiv/ Stuttgart_2015/Alle_Manuskripte/Z entrum_Gender_-_Sexualitaet_-_Dabrock__Peter__150606.pdf (letzter Zugriff am 4.3.2018, R. K.). 16 Vgl. Ulrich H. J. Körtner, Ökumenische Kirchenkunde (Lehrwerk Evangelische Theologie 9), Leipzig 2018, 342 f.
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Ausgehend von dieser eschatologischen Qualifizierung des Versöhnungsdienstes der Kirchen können nun auch fruchtbare Möglichkeiten einer zunächst ganz offen als pluralisierte und differenzierte Korrelation zu beschreibenden Verbindung zwischen kirchlichem und gesellschaftlichem Versöhnungsdiskurs aufgezeigt werden. Zum einen kann der Versöhnungsdienst der Kirchen für die Welt in Gestalt einer prophetischen Kritik der bestehenden Verhältnisse, zum anderen als deren Verstärkung und Stabilisierung im Sinne einer Öffentlichen Theologie vollzogen werden. In beiden Fällen bleibt jedoch zu betonen, dass Kirche von einer selbstgenügsamen Inanspruchnahme des Versöhnungsdienstes im Sinne einer allzeit gelingenden Versöhnung Abstand nehmen sollte, da ihre Versöhnungsbemühungen lediglich endlich, unvollkommen und ohne ein letztes Wissen um die Grenzen der Gemeinschaft mit Gott vollzogen werden können.
3. Versöhnte Vielfalt als Paradigma einer interkulturellen Öffnung17 Wie dargelegt, beanspruchen die Kirchen nicht nur, dass die Vorstellung der versöhnten Vielfalt ein biblisch begründetes Leitmotiv ist, sondern ebenfalls, dass dieses Leitmotiv eine Vorbildfunktion für die politische Einigung Europas innehaben kann.18 Im Nachgang der hiermit ausgelegten Spur wird im Folgenden die Verwendung des Motivs der versöhnten Vielfalt außerhalb der Ekklesiologie in der aktuellen sozialphilosophischen Debatte über Multikulturalismus und die Anerkennung von kultureller Identität untersucht. Dieser Zwischenschritt ist notwendig, um aufzuzeigen, dass sich der Problemhorizont angesichts der vielfältigen sozialen und politischen Verwerfungen, die wir derzeit in Europa erleben, als weitaus komplexer darstellt als in der kirchlichen Agenda der Versöhnung wahrgenommen. Die gegenwärtigen Gesellschaften Europas sind nicht nur säkular, sondern zunehmend religionsplural verfasst und müssen sich zugleich der Herausforderung des multikulturellen Zusammenlebens in einer globalisierten Welt mit Formen der Ein- und Zuwanderung stellen, die z. T. nicht mehr kontrollierbar sind. Und sie sind als posttraditionale Gesellschaften auf die Herausbildung neuer Formen von frei gewählter Gemeinschaftlichkeit angewiesen, da sie nicht mehr vornehmlich aus Formen solidarischer Vergemeinschaftung mit anderen hervorgehen, die auf Geburt, Herkunft oder Tradition und Erziehung gründen. 17 Die in diesem Abschnitt dargestellten Überlegungen der Verfasserin zur Anerkennungstheorie Axel Honneths und ihrem Solidaritätsverständnis finden sich bereits in: Rebekka A. Klein, Zur Solidarität des Mitleidens. Argumente für die sozialethische Relevanz eines ‚untätigen‘ Gefühls, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 60 (2016), 250–261. 18 Vgl. dazu auch ökumenische Initiativen wie die Veranstaltung des dritten Ökumene-Kongresses vom 30. Juni und 1. Juli 2016 in München unter dem Motto „Miteinander für Europa. Begegnung. Versöhnung. Zukunft“, online abrufbar unter: http://www.together4europe.org/ de/archive/munich2016/monaco-2016/ (letzter Zugriff am 4.3.2018; R. K.).
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Einen Ansatz, wie Versöhnung im Horizont einer multikulturellen und offenen Gesellschaft zu denken ist, hat in den 1990er Jahren der Philosoph Axel Honneth entwickelt. Honneth verbindet dabei die Ermöglichung kultureller Vielfalt und eines friedlichen Zusammenlebens der Kulturen in einer posttraditionalen Welt mit der reziproken Anerkennung der individuellen Eigenheiten von Kulturen. In seinem Buch Kampf um Anerkennung aus dem Jahr 1992 zeigt Honneth, dass es nicht genügt, andere passiv zu tolerieren, also sie bloß zu dulden. Nicht „passive Toleranz […], sondern affektive Anteilnahme an dem individuell Besonderen der anderen Person“19 ermögliche es, soziale Wertschätzung zu teilen und diese von Erfahrungen der Missachtung freizuhalten. Die Vielfalt der Kulturen könne daher in einer posttraditionalen Welt am besten friedvoll und solidarisch gelebt werden, indem diese sich wechselseitig anerkennen und auch im Bereich der Individualität von Kultur wertschätzend begegnen. Gegenseitige Anerkennung sei in diesem Sinne auf einem Konzept von Sittlichkeit gegründet, welches sich stets für eine Zunahme an Universalität und Egalität in sozialen Interaktionen offenhalte.20 Sie entfalte daher eine solidarisierende, gemeinschaftsstiftende Kraft, die über die Partikularität kollektiver Identitätsbildung hinausgehe.21 Das Prinzip gegenseitiger Anerkennung begreift Honneth in diesem Sinne als eine universelle Orientierung, die allen Menschen und Kulturen gegenüber, auch denen, die uns gänzlich fremd sind, angewendet werden kann. Gemäß Honneth handelt es sich diesbezüglich jedoch um eine asymmetrische Anerkennung, die nicht auf Gemeinsamkeiten oder Ähnlichkeiten beruht, wie dies in traditional verfassten Gesellschaften der Fall ist. Aufgrund der globalisierenden und multikulturell verfassten Moderne habe Anerkennung auf der Annahme sowie Wertschätzung der individuellen Eigenheiten anderer Kulturen zu beruhen, denen der gleiche Wert zugeschrieben werde wie der eigenen kulturellen Identität. Honneth ist also der Auffassung, dass in posttraditionalen Gesellschaften in einer globalisierten Welt nicht nur eine Anerkennung zwischen Gleichen, sondern ebenso zwischen Fremden praktiziert werden kann und muss. Fremd sind sich jedoch diejenigen kulturellen Identitäten, denen gemeinsame Werte oder Interessen fehlen. Dieses Konzept der interkulturellen Anerkennung ist nun verschiedentlich kritisiert worden.22 Insbesondere wird Honneth vorgeworfen, dass seine Konzeption der Anerkennung des anderen latent paternalistisch sei, da sie kulturelle 19 Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt a. M. 1992, 210. 20 Vgl. ebd., 280. 21 Vgl. ebd., 286. 22 Vgl. dazu insbesondere die Kritik in: Thomas Bedorf, Verkennende Anerkennung. Über Identität und Politik, Berlin 2010, 45–77, der insbesondere den latenten Kognitivismus, die Authentizitätsemphase und die teleologische Anlage sowie den moralischen Optimismus Honneths als korrekturbedürftig hervorhebt.
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Eigenart essenzialistisch missverstehe.23 Damit wird Honneths Position auf die Gegenüberstellung von Essenzialismus und Konstruktivismus zurückgeführt. Denn der Essenzialismus beruft sich auf die Vorstellung einer unveränderlichen ‚Natur‘ von Identität wie beispielsweise universelle biologische oder anthropologische Voraussetzungen, auf denen kulturelle Identitäten beruhen. Darunter fallen Begriffe wie der des biologischen oder heterosexuellen Geschlechts, der Rasse oder der Nation als einer ethnischen Größe. Von einem Essenzialismus kann man jedoch auch sprechen, wenn jeder Kultur eindeutige, nicht veränderbare Merkmale zugeschrieben werden, wie es bei Honneth der Fall ist. Dann stehen Kulturen sich als klar gegeneinander abgrenzbare Identitäten gegenüber, die jeweils durch besondere Eigenschaften definiert sind. Der Konstruktivismus verhält sich diesbezüglich diametral entgegengesetzt, da er sich auf die Vorstellung fließender, instabiler und veränderbarer Grenzen von Identität beruft und davon ausgeht, dass kulturelle Identitäten sich immer wieder neu durch soziale, politische und ökonomische Auseinandersetzungen formieren. Entsprechend ist ihre Identität nicht ausgehend von biologischen oder anthropologischen Universalbegriffen zu formulieren und die Annahme einer individuellen Eindeutigkeit jedweder Kultur als unterkomplex und unzureichend zu kritisieren. Die innere Dynamik kultureller Identitäten baut sich als eine je eigene Struktur der Ein- oder Ausgrenzung, der spezifischen Konstruktion der Differenz von ‚eigen‘ und ‚fremd‘ auf, die in Auseinandersetzungen immer wieder neu gefunden werden muss. Die Vorstellung einer stabilen kulturellen Identität sei daher zurückzuweisen.24 An die letztere Sichtweise schließt nun die Kritik an Honneth an,25 da diesem vorgeworfen wird, er ginge davon aus, dass fremde Kulturen der eigenen darin gleich seien, dass sie besonders wertzuschätzende Eigenschaften besäßen, die zur Grundlage gegenseitiger Anerkennung gemacht werden können. Damit setze Honneth „einen positiven Kern der Besonderheit voraus, den es zu affirmieren gelte“26. Fremde Kulturen seien damit jedoch nicht als ‚fremd‘ und damit inkommensurabel, sondern als gleichartig und gleichgestaltet und deswegen gerade kommensurabel begriffen. Daraus entstehe das Problem, dass die Anerkennung der anderen bei Honneth gleichsam nach einem ‚Benetton-Modell‘ konzipiert sei, was bedeute, dass es in jedem Kulturkreis feststehende Identitätsmerkmale – das ‚individuell Besondere‘ – gäbe, die lediglich in verschiedenen ‚Färbungen‘ 23 Vgl. Oliver Marchart, Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben, Berlin 2010, 357–361. 24 Vgl. dazu auch grundlegend: Jacques Derrida, Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa, übers. v. A. G. Düttmann, Frankfurt a. M. 1992; sowie jüngst: François Jullien, Es gibt keine kulturelle Identität. Wir verteidigen die Ressourcen einer Kultur, übers. v. E. Landrichter, Berlin 2017. 25 Vgl. Marchart, Differenz, 358 (wie Anm. 23). 26 Ebd.
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oder ‚Tönen‘ erscheinen würden, wodurch Honneth das Dynamische und Fragmentarische der Kulturen unter posttraditionalen Bedingungen verkenne. Sein Konzept sei somit für die gegenwärtigen Herausforderungen zu unterkomplex und könne den Spielräumen und Lebensformen moderner demokratischer Gesellschaften nicht gerecht werden, die sich im 21. Jahrhundert nicht mehr auf homogene Lebensformen und Kulturkreise gründen können, sondern auch radikale Pluralität und konflikthafte Kommunikation zulassen müssen. Die spätmoderne Demokratie erachte auch eine hohe gesellschaftliche Dynamik und kulturelle Fragmentierung als politisch legitim und gewollt. Das Dispositiv der Demokratie als einer Regierungsform freier Gesellschaften sei geradezu nur lebendig zu erhalten, indem das souveräne Kollektivsubjekt, das Volk, sich „in sich selbst gegen sich selbst“27 wende. Zur Grundlage des Verhältnisses zu anderen sei in einer demokratischen Gesellschaft daher die Anerkennung dieses Nicht-identisch-Seins mit sich selbst (im Inneren) zu machen. Bedeutsam ist nun, dass die soeben am Beispiel Honneths kritisierte Sichtweise auch die Rhetorik vieler Positionen und Ansätze in der Ökumenischen Theologie sowie kirchliche Stellungnahmen in der Ökumene prägt. ‚Versöhnte Vielfalt‘ wird hier als ein Modus gegenseitiger Anerkennung zwischen verschiedenen kirchlichen Gemeinschaften angesehen, die sich wechselseitig im Blick auf einen gemeinsamen Glaubensgrund ihre konfessionellen Eigenarten affirmieren. Dies hat den Effekt, dass Konfessionalität an sich gleichsam wie eine essenzielle Eigenschaft des Christentums bzw. seines Kircheseins behandelt und im ökumenischen Diskurs festgeschrieben wird.28 Auch der theologische Begriff der Versöhnung wird dann mit demselben moralischen Optimismus,29 welcher den Ausführungen Honneths zu eigen ist, als eine sich in Anerkennungsbeziehungen konstituierende Daseinsform von Kirchen verstanden. Ökumenische Theologen berufen sich daher in diesem Zusammenhang überwiegend positiv auf den sozialphilosophischen Anerkennungsdiskurs.30 Wo hin27
Ebd., 359. die problematischen und dysfunktionalen Aspekte dieses Effekts von ökumenischen Prozessen näher auszuleuchten, wird dies auch als Ergebnis der diskursanalytischen Studie von Silke Dangel festgehalten. Vgl. Silke Dangel, Konfessionelle Identität und ökumenische Prozesse. Analysen zum interkonfessionellen Diskurs des Christentums (Theologische Bibliothek Töpelmann 168), Berlin 2014. 29 Vgl. für diese Diagnose ausführlich: Bedorf, Verkennende Anerkennung, 73 (wie Anm. 22). 30 Vgl. zur Anschlussfähigkeit der neueren sozialphilosophischen Debatte über Anerkennung an die Ökumenische Theologie auch: Risto Saarinen, Anerkennungstheorien und ökumenische Theologie, in: Bremer/Wernsmann (Hg.), Ökumene, 237–261 (wie Anm. 1); dagegen findet sich eine kritische Stimme in: Dagmar Heller, Anerkennung – Dimensionen eines Schlüsselbegriffs in der Ökumene, in: ebd., 262–273. Das Spannungsfeld einer gabetheoretischen Erweiterung und Kritik der Anerkennungsmodelle erkunden die Beiträge von Burkhard Liebsch, Jürgen Werbick und Knut Wenzel in: Veronika Hoffmann et al. (Hg.), Die Gabe. Zum Stand der interdisziplinären Diskussion (Scientia & Religio 14), Freiburg i. Br. 2016. 28 Ohne
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gegen Kritik geübt wird, wird hervorgehoben, dass das Modell der Anerkennung dazu tendiere, „die eigene Position zum Maßstab der Würdigung des Anderen“31 zu machen, wogegen es im Prozess des Anerkennens vorrangig um ein Verstehen der Andersheit des Anderen gehen müsse, da das Anerkennen nicht, gleichsam wie ein juridischer Akt, der Beziehung der Dialogpartner äußerlich bleiben dürfe, sondern vielmehr als Prozess zu verstehen sei, in dem beide Seiten zu Veränderungen bereit sein und diese vollziehen müssten.32 Problematisch an dieser kritischen Würdigung ist jedoch, dass der fortgeführte philosophische Diskurs sowie die Kritik des sozialphilosophischen Anerkennungskonzeptes unberücksichtigt bleiben, da zwar darauf verwiesen wird, dass Anerkennung nicht als bloßer Tausch zu verstehen sei, sondern noch tiefergehende und dynamische Aspekte besäße, jedoch alle Denkfiguren einer Alterität des anderen, mit denen sich eine verkennende Dimension der Anerkennung beschreiben ließe,33 unbeachtet bleiben. Damit entsteht der Eindruck, als wäre christliche Ökumene gleichsam nur ein ‚leichterer‘ Fall gegenüber der Konstellation globaler, interkultureller Konflikte. Dies ist jedoch angesichts der dem Christentum von Anfang an innewohnenden Tendenz zu eigenen inneren Verwerfungen und Spaltungen kaum einsichtig zu machen.34 Auch und gerade das Christentum kann als eine sich in sich selbst gegen sich selbst wendende religiöse Bewegung beschrieben werden, die noch heute gewaltige Konfliktpotenziale in sich birgt und freisetzt. Diese Konflikte und Konfliktpotenziale könnten im Sinne des Agonalen auch fruchtbar gemacht werden. Sollte dies konzeptionell in der Ökumenischen Theologie und ihren Versöhnungsdiskursen allerdings keine Berücksichtigung finden, besteht die Gefahr, dass diese in moralischem Optimismus an der eigentlichen Schärfe des zu bearbeitenden Problems vorbeikonstruiert werden und damit gerade nicht zur Lösung gesamtgesellschaftlicher politischer Probleme weltweit und in Europa vorbildhaft beitragen können. Die zunehmende Festschreibung ökumenischer Prozesse auf konfessionelle Kollektividentitäten und deren Aussöhnung kann an dieser Stelle als eine als problematisch zu beurteilende Signatur dieser Gegenwartstendenz wahrgenommen werden.
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Heller, Anerkennung, 271 (wie Anm. 30). Vgl. ebd., 273. 33 Vgl. dazu neben Bedorf, Verkennende Anerkennung (wie Anm. 22), auch: Markus Verweyst, Das Begehren der Anerkennung. Subjekttheoretische Positionen bei Heidegger, Sartre, Freud und Lacan (Campus Forschung 821), Frankfurt a. M. 2000; Patchen Markell, Bound by Recognition, Princeton, NJ 2003. 34 So spricht Volker Leppin in seiner Darstellung der Entstehung des Christentums pointiert von einer „Geschichte der christlichen Kirchen“, die er in der Einleitung der Zielvorstellung der Ökumene als historische Realität entgegensetzt. Vgl. Volker Leppin, Geschichte der christlichen Kirchen. Von den Aposteln bis heute, München 2010, 10. 32
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4. Fazit Die Ausführungen haben gezeigt, dass der protestantische Ansatz, die Einheit der Kirchen als versöhnte Vielfalt zu begreifen, im Hinblick auf die Frage seiner Angemessenheit für den interkulturellen Diskurs grundsätzlich als erweiterungsbedürftig anzusehen ist und sich philosophisch kritisieren lassen muss. Die Vorstellung, Versöhnung sei als gegenseitige Anerkennung konfessioneller Identitäten und wertschätzende Annahme ihrer jeweils individuell ausgeprägten Bekenntnistraditionen zu vollziehen, wird der gesellschaftlichen Wirklichkeit in einer globalisierten Welt nicht gerecht. Die Vorstellung einer versöhnten Vielfalt mag zunächst im Kontext des ökumenischen Gespräches zwischen bekenntnisförmig verfassten Kirchen sehr gut funktionieren. Doch muss das Verständnis davon, was Versöhnung, Gemeinschaft und Solidarität mit dem anderen genau heißt, schon dann erweitert werden, sobald auch das Gespräch mit den nicht bekenntnisförmig verfassten christlichen Gruppen und das Gespräch mit anderen religiösen Gemeinschaften oder Kulturen gesucht wird. Hier lässt sich Gemeinschaft und wertschätzende Begegnung nicht mehr auf dem Grunde gleichermaßen vorauszusetzender konfessioneller Besonderheiten, d. h. als Anerkennung zwischen Gleichen beginnen. Es müssen vielmehr neue Formen der Gemeinschaft oder vielleicht besser der friedvollen Annäherung und Auseinandersetzung gefunden werden, die auch eine Anerkennung zwischen Fremden ermöglichen, die zunächst nichts miteinander teilen und etwas Gemeinsames im Gespräch erst entwickeln wollen.
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III. Postkoloniale und globale Herausforderungen der Ökumene
Kosmopolitische Ökumene? Eine interkulturelle Zeitdiagnose André Munzinger Immanuel Kant formulierte 1795 die These, dass wenn „die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt [wird; A. M.] […] so ist die Idee eines Weltbürgerrechts keine phantastische und überspannte Vorstellungsart des Rechts“1. Ist es heute soweit? Werden Rechtsverletzungen gleichermaßen und durchgängig auf dem Globus wahrgenommen? Entscheidende Herausforderungen der Gegenwart stellen sich jedenfalls nicht für einzelne Nationen, sondern für die Weltgemeinschaft mit gleicher Brisanz – beispielsweise Migrationsbewegungen, Massenvernichtungswaffen, globale Finanz- und Handelsströme, Marktdominanz transnationaler Konzerne, ökologischer Wandel, abnehmende Biodiversität, ‚Cyberkriegsführung‘, internationale Terrorzellen und Ressourcenknappheit. Die Welt wächst zusammen, gleichzeitig auch die Kritik an dieser Entwicklung. Dementsprechend stellt nach einem Bericht die ehemalige britische Premierministerin Theresa May den Kosmopolitismus abwertend dar: „Wenn Sie glauben, dass Sie ein Weltbürger sind, dann sind Sie in Wirklichkeit ein Bürger von nirgendwo.“2 Die kosmopolitische Sicht gilt als suspekt. Sie lasse sich nicht verorten, entziehe sich der Verantwortung im Hier und Jetzt. Zudem besteht die Frage: Kann im Zeitalter neu erwachsender Nationalismen überhaupt von einer weltbürgerlichen Ordnung die Rede sein? Ist der Kosmopolitismus gar der letzte Versuch des weißen Mannes, koloniale Strukturen zu festigen? Im Jahr 2016 wurde für die BBC eine Befragung nach der kosmopolitischen Bindung der Befragten durchgeführt – insgesamt 20.000 Menschen in achtzehn Ländern.3 Demnach verstehen sich 51 Prozent der Befragten als Weltbürger und Weltbürgerinnen, während sich 43 Prozent eher auf ihre nationale Identität be1 Immanuel K ant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, in: Werkausgabe in zwölf Bänden, Bd. XI, hg. v. W. Weischedel, Frankfurt a. M. 1977, 195–254, hier 216 f. 2 Das Zitat ist zu finden bei Dani Rodrik, Lokal denken, lokal handeln!, in: Welt-Sichten 6 (2017), online abrufbar unter: https://www.welt-sichten.org/artikel/32939/lokal-denkenlokal-handel (letzter Zugriff am 1.10.2018; A. M.). 3 Vgl. BBC World Poll, Global Citizenship a Growing Sentiment Among Citizens of Emerging Economies: Global Poll, online abrufbar unter: https://globescan.com/wp-content/ uploads/2016/04/BBC_GlobeScan_Identity_Season_Press_Release_April%2026.pdf (letzter Zugriff am 14.1.2019; A. M.).
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rufen. Vor allem in Schwellenländern wie China (71 %), Indien (67 %), Nigeria (73 %) und Peru (70 %) sind um die 70 Prozent der Menschen weltbürgerlicher Gesinnung. Die Bedeutung der Religion für die Identitätsbildung wird demgegenüber weit geringer eingeschätzt. Gefragt nach dem wichtigsten Kriterium für die Definition der eigenen Identität, gaben insgesamt nur 9 Prozent die Religion an. Die These im Folgenden ist es, dass die kosmopolitische Perspektive für die Ökumene eine entscheidende ist, weil sie die Menschen gleichwertig als Weltbürger und Weltbürgerinnen anerkennt. Dazu wird im ersten Schritt der Begriff Kosmopolitismus eingeführt. Unterdessen ist die weltbürgerliche Norm für die Gestaltung der Welt nicht hinreichend. Wie herausfordernd die gegenwärtige zivilisatorische Formation ist, wird im zweiten Schritt anhand der Zeitdiagnose von Jürgen Habermas aufgezeigt, mit der die Verschränkung von partikularen und universalen Geltungsdimensionen erforderlich wird. Schließlich wird deutlich gemacht, dass die Ökumene bereits auf diese neue Situation antwortet und zugleich durch sie gefordert wird. Diese Studie geht somit davon aus, dass die christliche Ökumene und der Kosmopolitismus vor strukturanalogen Problemen stehen. Beide Bewegungen beziehen sich auf den Erdkreis, beide müssen sich zu den Problemen des Universalismus und des Partikularismus verhalten – allerdings mit unterschiedlichen Schwerpunkten.
1. Kosmopolitismus4 Die normative Perspektive auf die Welt als egalitär verfasste Polis entstammt einer antiken humanistischen Tradition: Bereits Stoiker – wie Marcus Aurelius – entwickeln erste an der Vernunft ausgerichtete Konzeptionen.5 Auch im Mittelalter wird – wie bei Bartholomé de las Casas – die spanische Kolonisierung im Horizont universaler Rechte reflektiert, die allen Völkern unabhängig von ihrer Religion zustehen.6 Mit der Aufklärung sind es unter vielen anderen Kant und Johann Gottfried Herder, die eine Begründung erdumgreifender Werte in ausführlicher Form erörtern.7 Aber vor allem die Weltkriege im 20. Jahrhundert 4 Vgl.
ausführlicher André Munzinger, Gemeinsame Welt denken. Bedingungen interkultureller Koexistenz bei Jürgen Habermas und Eilert Herms (Perspektiven der Ethik 7), Tübingen 2015, 114–119. 5 „Haben wir Alle das Denkvermögen gemein, dann auch die Vernunft; dann auch die Stimme, die uns sagt, was wir thun und lassen sollen; dann auch eine Gesetzgebung; wir sind also Alle Bürger eines und desselben Reiches. Und so würde folgen, dass die Welt ein Reich ist. Denn welches Reich wäre sonst dem menschlichen Geschlecht gemein?“ (Marc Aurel, Meditationen, übers. v. F. C. Schneider, Breslau 21865, IV,4). 6 Vgl. Garrett W. Brown/ David Held, Editor’s Introduction, in: The Cosmopolitanism Reader, hg. v. dens., Cambridge, MA 2011, 1–14, hier 6. 7 Vgl. Andrea Albrecht, Kosmopolitismus. Weltbürgerdiskurse in Literatur, Philosophie
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erzwingen konkrete Gestaltungsperspektiven, die ab 1945 in der Charta der Vereinten Nationen erkennbar werden. Zeitgleich entstehen Bürgerbewegungen, die angesichts der Kriegserfahrungen eine Neuausrichtung der einzelnen Gesellschaftsordnungen auf die Erfordernisse der gesamten Menschheit verlangen. Mit dem Ende der bipolaren Weltordnung im Jahr 1989 und mit wachsenden Weltproblemen entsteht derweil eine neue dringliche Auseinandersetzung mit der Möglichkeit kosmopolitischer Ordnung. Was aber ist der Kosmopolitismus: eine Weltanschauung oder eine politische Konzeption? In der derzeitigen Forschung zum Kosmopolitismus ist auffällig, dass oftmals ein inhaltlich bestimmter Begriff im Mittelpunkt steht. Dieser zielt auf die universalen Rechte und Pflichten, die von partikularen Bindungen abgehoben werden:8 „In its most basic form, cosmopolitanism maintains that there are moral obligations owed to all human beings based solely on our humanity alone, without reference to race, gender, nationality, ethnicity, culture, religion, political affiliation, state citizenship, or other communal particularities.“9 So entsteht eine eigentümliche Aufteilung: Kosmopoliten sind auf den moralischen Universalismus bezogen und von der Beachtung besonderer Beziehungsformen befreit, nämlich den Verbindungen, die nicht alle Menschen, sondern ausschließlich Mitglieder desselben Staates, derselben Ethnie oder Religion teilen.10 Ulrich Beck übt auf dieser Linie Kritik an der Religion.11 Religiöse Traditionen enthalten nach Beck „einen in bestimmter Weise ‚deformierten und Publizistik um 1800 (spectrum Literaturwissenschaft), Berlin 2005; Rudolf Stichweh, Art. Weltgesellschaft, Historisches Wörterbuch der Philosophie XII, Basel 2004, 486–490, hier 488, weist auf die Definition von Joachim Heinrich Campe hin, der 1811 im Artikel ‚Weltbürger‘ im von ihm herausgegebenen Wörterbuch formuliert: „[D]er Mensch, als ein Bürger oder freier Einwohner der Welt, d. h. der Erde, der Mensch, als Glied einer einzigen über die ganze Erde verbreiteten bürgerlichen Gesellschaft, der alle Menschen als Glieder derselben Gesellschaft, als Mitbürger betrachtet und behandelt (Cosmopolit)“. 8 In diesem Sinn macht sich der kulturelle Kosmopolitismus an der Abstraktion von bestimmten Wertbindungen fest, um universalen Verpflichtungsprinzipien zustimmen zu können (vgl. Brown/H eld, Introduction, 10 [wie Anm. 6]). 9 Ebd., 1. 10 Vgl. Christoph Broszies/H enning Hahn, Die Kosmopolitismus-PartikularismusDebatte im Kontext, in: Globale Gerechtigkeit. Schlüsseltexte zur Debatte zwischen Partikularismus und Kosmopolitismus, hg. v. dens., Frankfurt a. M. 2010, 9–54, hier 11. Am LeibnizInstitut für Europäische Geschichte in Mainz wird der Kosmopolitismus als ‚Leitbegriff für den europäischen Umgang mit Differenz in der Neuzeit‘ mit folgenden Fragen diskutiert: „Ist Kosmopolitismus ein reines Elitenphänomen oder gibt es auch einen Kosmopolitismus der Migranten, Flüchtlinge und Staatenlosen? Lassen sich die zentralen Werte und Begriffe der europäisch-kosmopolitischen Tradition auch auf außereuropäische Gesellschaften anwenden oder müssen wir von einer Pluralität ganz unterschiedlich gelagerter Kosmopolitismen ausgehen?“ (Leibniz-Institut für Europäische Geschichte [IEG], Jahresbericht 2013, 62, online abrufbar unter: http://www.ieg-mainz.de/media/public/PDF-Jahresberichte/Jahres bericht2013.pdf [letzter Zugriff am 20.9.2018; A. M.]). 11 Vgl. Ulrich Beck, Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit, Frankfurt a. M. 2007, 337.
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Kosmopolitismus‘“,12 weil sie den Kerngedanken des Kosmopolitismus – nämlich die freie Anerkennung des Anderen – letztlich nicht ohne Exklusion der Ungläubigen vollziehen und begründen können. Solch ein abstrakter, gleichsam ‚abgespeckter‘ Kosmopolitismus, wird den gegenwärtigen Herausforderungen nicht gerecht. Es ist deshalb wichtig, eine Perspektive zu ermitteln, die versucht, den kulturellen Pluralismus auf die weltpolitischen Veränderungen zu beziehen. Diese wird im Folgenden mit der Arbeit von Jürgen Habermas aufgenommen.
2. Der Zusammenhang von postsäkularer und postnationaler Zeitdiagnose13 Habermas führt die Stichworte der ‚postnationalen Konstellation‘ und der ‚postsäkularen Situation‘ ein, um die Veränderungen der letzten Jahrzehnte zu beschreiben. Weder das Nationale noch das Säkulare werden als überholt betrachtet, aber beide Phänomene verweisen, so Habermas, auf neue Gestaltungs- und Denkhorizonte. Zunächst werden die Begriffe ‚postsäkular‘ und ‚postnational‘ kurz erläutert, um sodann zu verdeutlichen, wie Habermas das Verhältnis dieser Begriffe bestimmt. Zum Begriff des ‚Postnationalen‘: Habermas stellt infolge des globalen Wandels und der sich anschließenden sozialwissenschaftlichen Diskussionen den Konsens fest, dass es zu neuen Formen des Regierens jenseits des Nationalstaates kommt, nämlich zu einer Formveränderung der robusten, staatszentrierten Machtpolitik. Dissens bestehe lediglich angesichts der Frage des ‚Wie‘: Wie werden sich die neuen Formen internationalen Regierens einspielen?14 Konsens bestehe darüber, dass die nationalstaatliche Souveränität durch die Globalisierungsprozesse unterlaufen wird. Dissens bestehe über die Mittel, mit denen das daraus folgende Legitimationsdilemma gelöst werden soll. Manche schlagen eine starke Weltrepublik vor, manche schwache Verpflichtungsgemeinschaften und andere 12
Ulrich Beck, Weltreligionen, Weltkonflikte, in: Die Religionen der Welt. Ein Almanach zur Eröffnung des Verlags der Weltreligionen, hg. v. H.‑J. Simm, Frankfurt a. M. 22007, 374–386, hier 383. 13 Beide Begriffe stammen nicht von Habermas: ‚Postnational‘ wird seit den 1960er Jahren verwendet. Ein Beleg aus dem Jahr 1970 bei Thomas Knight (The Global Democrat. Morality for the Postnational Age, in: Worldview 13 [1970], 6–10) verdeutlicht bereits ein konzeptionelles Leitmotiv ‚postnationaler‘ Moral. Allerdings gewinnt der Begriff erst Ende der 1980er und vor allem im Verlauf der 1990er Jahre durch die politischen Umbrüche dieser Jahre an Bedeutung. ‚Postsäkular‘ wird erstmals im Kontext amerikanischer Religiosität in den 1960er Jahren verwendet. Ein erster interessanter Beleg ist bei Martin E. Marty (The New Shape of America, New York, NY 1959) aus dem Jahr 1959 zu finden, der die amerikanische Religion zu der Zeit allerdings noch nicht als postsäkular bezeichnen will, den Begriff also im Gegensatz zu der damaligen Lage verwendet. 14 Vgl. Jürgen Habermas, Kommunikative Rationalität und grenzüberschreitende Politik. Eine Replik, in: Anarchie der kommunikativen Freiheit. Jürgen Habermas und die Theorie der internationalen Politik, hg. v. P. Niesen/B . Herborth, Frankfurt a. M. 2007, 406–459.
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eine vielschichtige Ergänzung des Gewaltmonopols des Staates durch regionale Gebilde (z. B. der Europäischen Union) und supranationale Institutionen (z. B. der Welthandelsorganisation usw.). Wie auch immer die Lösungen bestimmt werden, für Habermas entscheidet sich an dieser Entwicklung, ob wir uns von dem politisch verfassten, demokratischen Gemeinwesen verabschieden müssen, oder ob sich die Errungenschaften der demokratischen Rechtsstaatlichkeit in die neue postnationale Konstellation ‚hinüberretten‘ lassen.15 Es könnte entgegnet werden, dass hier ein politologisches Problem vorliegt. Doch durch die Verflechtung mit der postsäkularen Zeitdiagnose gewinnt auch die postnationale Problematik an kultureller Brisanz. Mit dem Begriff ‚postsäkular‘ reagiert Habermas auf die Phänomene, die mit der Floskel der ‚Rückkehr der Religionen‘ bezeichnet worden sind:16 Gemeint sind die missionarische Ausbreitung vieler Weltreligionen und die verstärkte öffentliche Präsenz der Religionen. Dabei will Habermas nicht das Ende der Säkularisierung einläuten, sondern er erkennt lediglich das Fortbestehen religiöser Gemeinschaften in einer sich „fortwährend säkularisierenden Umgebung“ an.17 Postsäkularität sei eine veränderte Lesart der Säkularisierungsthese; ein Bewusstseinswandel werde dokumentiert, in dem Abstand genommen werde von einem säkularistischen, nicht säkularen Verständnis moderner Gesellschaft.18 Wie ist nun eine globale Konstellation zu denken, die sowohl postnational wie auch postsäkular ist?19 Habermas verortet seine Antwort auf diese Frage in 15 Vgl. Jürgen Habermas, Eine politische Verfassung für die pluralistische Weltgesellschaft?, in: ders., Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M. 2005, 324–366, hier 340. Es soll die sowohl alternativlose wie regelungsbedürftige kapitalistische Modernisierung in einem interdependenten Weltordnungsgefüge überführt werden in eine Weltgesellschaft in weltbürgerlicher Absicht. Vgl. zur Diskussion Arjun Appadurai, The Future as Cultural Fact. Essays on the Global Condition, London 2013; Seyla Benhabib, Kosmopolitismus und Demokratie. Eine Debatte mit Jeremy Waldron, Bonnie Honig und Will Kymlicka, Frankfurt a. M. 2008. 16 Vgl. Jürgen Habermas, Die Revitalisierung der Weltreligionen – Herausforderung für ein säkulares Selbstverständnis der Moderne, in: ders., Philosophische Texte, Bd. V, Frankfurt a. M. 2009, 387–408. 17 Jürgen Habermas, Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001, Frankfurt a. M. 2001, 13. 18 Vgl. Habermas, Revitalisierung, 402 (wie Anm. 16). Er markiert einen dreifachen Bewusstseinswandel: Zunächst sei die Gewissheit verflogen, dass Modernisierung sich mit der verminderten Bedeutung von Religion vollziehen wird. Darüber hinaus würden die Religionsgemeinschaften auf den öffentlichen Diskurs der Deutungsgemeinschaften Einfluss ausüben. Schließlich zeichnet sich durch die Migrationsbewegungen deutlicher ein Pluralismus von Lebensformen und Glaubensrichtungen ab. Somit berührt der Bewusstseinswandel die Säkularisierungsthese und lässt die Zukunft einer religionslosen Gesellschaft nicht mehr vorhersagen (vgl. ebd., 394). 19 Vgl. ebd., 394; vgl. Shmuel N. Eisenstadt, Multiple Modernen im Zeitalter der Globalisierung, in: Die Vielfalt und Einheit der Moderne, hg. v. Th. Schwinn, Wiesbaden 2006, 37–63.
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einem Spektrum von drei aktuell verhandelten Konzeptionen. Das ist zum einen der systemfunktionalistische Begriff der Weltgesellschaft, zum anderen der konträre Ansatz des radikalen Kulturalismus. Habermas will in seiner eigenen Position Anliegen dieser beiden theoretischen Perspektiven verbinden.20 Die systemtheoretische Sicht entspringt der Denkschule um Niklas Luhmann, in der die Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Funktionen, die bereits im Nationalen stattgefunden hat, auf die globale Ebene projiziert wird – und zwar als notwendiger sozialevolutionärer Entwicklungsschritt. Es wird demnach konstatiert und prognostiziert, dass durch die Entgrenzungsleistung des Kapitalismus eine Angleichung in allen Funktionsbereichen der Welt stattfindet oder stattfinden wird. Im Gegensatz zu dieser systemfunktionalistischen Sicht machen kulturalistische Theorien geltend, dass es eine Vielzahl konkurrierender Zivilisationen gibt. Diese ständen im Widerspruch zu einem einheitlichen globalisierten System wie auch im Kontrast zu rein territorialstaatlich verfassten Gesellschaften. Zivilisationen werden als kulturhistorische Formationen beschrieben, die mehrere Gesellschaften umfassen. Zum Teil werden diese essenzialistisch als Großsubjekte begriffen, sodass, wie bei Samuel Huntington, verschiedene Kulturen aufeinanderprallen.21 Keine dieser Lesarten wird nach Habermas der neuen Konstellation gerecht. Auf der einen Seite nimmt der radikale Kontextualismus nicht wahr, dass bestimmte Funktionssysteme sich tatsächlich global ausbreiten und dabei ihrer Eigenlogik folgen – beispielsweise, dass sich Unternehmer auf dem Markt unabhängig von ihrer Kultur der utilitaristischen Abwägung von Gütern und der Gewinnmaximierung unterstellen.22 Es ließen sich entsprechende Beispiele aus Politik und Wissenschaft anführen, indem auf global ähnlich strukturierte Bürokratien und Wissenscurricula verwiesen wird. Auf der anderen Seite taugt die systemfunktionalistische Theorie nur begrenzt, so Habermas. Diese nimmt nicht hinreichend wahr, dass andere Gesellschaften mit der Herausforderung dieser funktionalen Ausdifferenzierung unterschiedlich umgehen und diese an ihre Traditionen und Überlieferungsgestalten anpassen oder auch ablehnen. Die dritte Interpretationsmöglichkeit, die Habermas befürwortet, nimmt Impulse von beiden dargestellten Alternativen auf und lehnt sich an Arbeiten von Shmuel Eisenstadt und Johann Arnason an. Sie deuten die gegenwärtige Weltgesellschaft als eine eigene zivilisatorische Formation, die durch eine globale Modernisierungsdynamik gekennzeichnet ist und die eine Entkopplung von allen großen Kulturen bewirkt. Alle Kulturen und Gesellschaften beziehen sich demnach auf dieselbe globalisierte Infrastruktur (in Wissenschaft, Politik und Wirtschaft). Aber diese gemeinsame Basis wird durch einen Dissens der 20 Vgl.
Habermas, Revitalisierung, 394 (wie Anm. 16). Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, übers. v. H. Fliessbach, München 1998. 22 Vgl. Habermas, Revitalisierung, 396 (wie Anm. 16). 21 Vgl.
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Deutungen dieser Basis geprägt und ist durch eine materielle Ungleichverteilung im Zugang zu dieser Basis gespalten.23 Selbstverständlich ist diese Zeitdiagnose nicht unumstritten. Sie markiert aber einen wesentlichen Wandel, der den globalen öffentlichen Raum zur Geltung kommen lässt. Um diesem neuen Raum gerecht zu werden, bedarf es Antworten, die Universalität und Partikularität verschränken können. Die Ökumene markiert eine Verschränkung universaler und partikularer Prinzipien, wie sie auch gleichermaßen auf globale Infrastruktur und religiöse bzw. kulturelle Differenz Bezug nimmt.
3. Kosmopolitische Ökumene Mit der Überschrift ‚kosmopolitische Ökumene‘ wird hervorgehoben, dass die Ökumene bereits am neuen öffentlichen Raum des Erdkreises konzeptionell mitwirkt und gleichzeitig durch diese Entwicklung herausgefordert wird. Vier Stichpunkte sollen den Lernfortschritt innerhalb der Theologie markieren, den sie in ökumenischer Absicht vollzieht. Unterdessen werden Fragen aufgeworfen, welche die theologische Wissenschaft in dieser Hinsicht beschäftigen werden – fokussiert hier auf die Perspektive der Systematischen Theologie. 3.1 Die Wirkungsgemeinschaft der Menschheit Friedrich Schleiermacher nimmt Ideenstränge der kosmopolitischen Traditionen auf. Aber er beabsichtigt, darin die Bedeutung der Individualität herauszuarbeiten. Jedes Individuum ist ein Fokuspunkt der Menschheit.24 So entwickelt er eine „Ethik der Individualität“,25 die auf dem Hintergrund des Bewusstseins der Menschheit insgesamt ausgebildet wird: „Mein ganzes Wesen kann ich nicht […] vernehmen, ohne die Menschheit anzuschauen, und meinen Ort und Stand in ihrem Reich mir zu bestimmen.“26 Jeder Mensch stellt auf seine Art die Menschheit dar; in jeder Handlung ist die Menschheit Norm und Kraftquelle. 23 „Auf der Grundlage ein und derselben globalisierten gesellschaftlichen Infrastruktur […] bildet ‚die Moderne‘ heute so etwas wie die Arena, in der sich verschiedene Zivilisationen begegnen“ (ebd., 397; Herv. i. O.). 24 Vgl. Arnulf von Scheliha, Die Beziehungen der Völker nach Schleiermachers Staatslehre, in: Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte 12 (2005), 1–15, hier 14. 25 Hans-Joachim Birkner, Einleitung, in: Friedrich D. E. Schleiermacher, Ethik (1812/13) mit späteren Fassungen der Einleitung, Güterlehre und Pflichtenlehre. Auf der Grundlage der Ausgabe von Otto Braun (Philosophische Bibliothek 335), hg. v. H.‑J. Birkner, Hamburg 21990, VII–XXXIII, hier VII. 26 Friedrich D. E. Schleiermacher, Monologen. Eine Neujahrsgabe (1800), in: ders., Schriften aus der Berliner Zeit 1800–1802 (Kritische Gesamtausgabe I,3), hg. v. G. Meckenstock, Berlin 1988, 1–62, hier 24.
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Deshalb soll nicht von der Frage ausgegangen werden, „was das höchste Gut für den einzelnen Menschen sei, […], sondern vollständig geschaut kann das höchste Gut nur werden in der Gesammtheit des menschlichen Geschlechts“27. Was von Gott gilt, dass seine Vollkommenheit in seiner Ganzheit liegt, charakterisiert nun das höchste Gut. Ein Bild wechselseitiger Ergänzung wird entwickelt, in der jedes Glied sich in einen Leib einfügt, jedes Einzelwesen in eine Familie und jedes einzelne Volk in die gesamte Menschheit – es ist die Wirkungsgemeinschaft der gesamten menschlichen Gattung. Die Religion ist nicht auf die nationale Gesellschaft beschränkt, sondern trägt in sich das Bewusstsein der Gemeinschaft aller Menschen.28 In der Glaubenslehre arbeitet Schleiermacher mit dem Symbol des Heiligen Geistes, um aus der christlichen Überzeugung heraus die Gemeinschaft aller Menschen religiös zu interpretieren.29 Diese Aufgabe, nämlich die christlichen Symbole so zu interpretieren, dass sie auf die Menschheit insgesamt ausgerichtet werden, bleibt bis in die Gegenwart eine Herausforderung. 3.2 Weltveränderung und Widerstand Dass Schleiermachers Ansatz einer romantischen und bürgerlichen Absicht entspringt, gibt Anlass zur Kritik: Wie kann die alles verändernde Wirklichkeit Gottes zur Geltung kommen? Wie können strukturelle Veränderungen zugunsten der Armen durchgesetzt werden? Wie lässt sich die Perspektive des weltverändernden Handelns von Christinnen und Christen stärker bedenken, so dass sich neue Sensibilitäten für die Welt als Ganzes durchsetzen?30 Die Ökumenische Bewegung hat früh die Weltveränderung als Leitperspektive erkannt. In beeindruckender Klarheit ist immer wieder der Widerstand gegenüber herrschenden Gewalten artikuliert worden. Eine Vielzahl von Konkretionen machen den Widerstand greifbar – er wird bezogen auf die Entwicklungsperspektiven der Armen, die Menschenrechte, die Proliferation 27 Friedrich D. E. Schleiermacher, Über den Begriff des höchsten Gutes. Erste Abhandlung (17. Mai 1827), in: ders., Akademievorträge (Kritische Gesamtausgabe I,11), hg. v. M. Rössler, unter Mitarb. v. L. Emersleben, Berlin 2002, 535–554, hier 549. 28 Vgl. Schleiermacher, Ethik, § 192, 117 f (wie Anm. 25). 29 Vgl. Friedrich Schleiermacher, Predigt ‚Von der Theilnahme des guten Menschen an dem wahren Wohl der Menschheit‘ (1792), in: Sämtliche Werke, Bd. II,7, hg. v. A. Sydow, Berlin 1836, 117–134, hier 118. 30 So wird bereits 1968 vermerkt: „Im gleichen Maße, in dem die Vorherrschaft der westlichen Traditionskirchen zugunsten aktiver Partizipation der Christen Asiens, Afrikas und Südamerikas zurücktritt, verstärkt sich eine Thematik, die nicht an der Bewahrung tradierter Bestände und am Ausgleich innerhalb des Gewordenen orientiert ist, sondern die Aufgabe der Christenheit als weltveränderndes Handeln in der Perspektive von Zukunft auszudrücken sucht.“ (Trutz Rendtorff/H einz E. Tödt, Vorwort, in: dies., Theologie der Revolution. Analysen und Materialien, Frankfurt a. M. 21968, 7).
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von Atomwaffen, die Ausbeutung der Natur und die Machtkonzentration der wirtschaftlichen Akteure.31 Ökumene betrachtet den Erdkreis unter dem Gesichtspunkt der Weltveränderung. Aber viele Fragen sind offen: Wie sollen Weltveränderung und Widerstand gegenüber herrschenden Mächten und Gewalten gedacht werden, wenn das Christentum selbst an einigen fatalen Entwicklungen mitgewirkt hat? Die kolonialen Strukturen sind zum Beispiel so gewaltig und gewalttätig in die Bildungs- und Sozialisationsprozesse im globalen Raum eingezogen, dass sie kaum zu identifizieren sind. Auch ein angemessenes Verhältnis zur Natur wird in den monotheistischen Religionen erst nach und nach entziffert.32 Für die Systematische Theologie stellt sich jedenfalls die Frage nach der Widerstandspflicht im Horizont der gewählten Zeitdiagnose in aller Schärfe. Auf wen ist der Gerechtigkeitssinn in solch einer Konstellation ausgerichtet? Wer sind die moralischen Akteure in der werdenden Weltgesellschaft? Wem gegenüber ist Widerstand zu leisten, wenn die Verantwortlichen nicht in einer staatlichen Autorität allein festzumachen sind? 3.3 Differenzsensibilität und Einheitsbewusstsein Religionsgemeinschaften treten bereits als globale Akteure auf. Nicht umsonst werden sie als „original globalisers“33 bezeichnet. Sie wirken in vielfacher Hinsicht an der postnationalen Situation mit. Sie entwickeln Identitätskonzeptionen, die sich über die nationalen Grenzen hinweg denken lassen. Einerseits stellen fundamentalistische Gruppen den säkularen Staat in Frage. Konzeptionen säkularer Ordnung treffen nicht nur in Nationalstaaten der südlichen Hemisphäre auf Widerstand, weil eine legitime Ordnung eher aus der eigenen Kultur und den eigenen Traditionen begründet wird.34 Andererseits betont Konrad Raiser zu Recht, dass sich Religionsgemeinschaften bereits an der Entwicklung eines „globalen öffentlichen Raumes“35 in friedlicher Absicht beteiligen. Insofern stellt der Pluralismus der Weltanschauungen eine zentrale Herausforderung der Gestaltung der globalisierten Welt dar. Die Herausforderung ist 31 Hier sind komplexe Traditionslinien nachzuvollziehen. Zu erforschen wäre der Zusammenhang von Ökumenischer Bewegung und entwicklungspolitischer Agenda am Anfang des 20. Jahrhunderts. Wie eng waren diese verbunden? Welche ökumenischen Impulse sind für den Anfang der Entwicklungshilfe in den 1940er Jahren zu berücksichtigen? Wie lassen sich diese Diskurse mit den befreiungstheologischen Perspektiven verbinden? 32 In sinnvoller Weise lässt sich vielleicht diese Geschichte dadurch aufarbeiten, dass die Ökumene gemeinsame Erinnerungs- und Trauerarbeit bezüglich des Erbes des Christentums in dieser Hinsicht leistet. 33 David Lehmann, Religion and Globalization, in: Religion and Globalization. Critical Concepts in Social Studies, Bd. III, hg. v. V. Altglas, London 2011, 75–92, hier 75. 34 Vgl. Konrad R aiser, Macht – Religion – Politik. Auf der Suche nach einer zukunftsfähigen Weltordnung, Frankfurt a. M. 2010, 254. 35 Ebd., 304.
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gewaltig und lässt sich thetisch folgendermaßen formulieren: Die Einheit der Menschheit in ihrem einheitlichen Lebensraum auf der Erde muss in ihrer Vielfalt gedacht werden.36 Die Vielfalt der Religionen ist konstitutiv für diesen weltpolitischen Raum. Die Aufgabe ist es, „in der Zeit des Eintritts aller regionalen Kulturen in ein globales Interdependenzsystem“,37 das Existenzrecht konkurrierender Sichtweisen im Horizont der einheitlichen Wirklichkeit Gottes zu deuten. Die ‚weltkulturpolitische‘ Aufgabe wird dabei so definiert, dass jede Weltanschauung den Nachweis für die Möglichkeit des Pluralismus führen muss, damit die verschiedenen Religionen und Kulturen wiederum aus der eigenen Perspektive das Zusammenleben mit anderen im Horizont des ganzen Weltgeschehens begründen. Die kosmopolitische Ökumene kann auf die weltanschaulichen Hintergrundannahmen sozialphilosophischer Beschreibungen des weltweiten sozialen Wandels aufmerksam machen. Ökonomische, politische und wissenschaftliche Funktionssysteme sind abhängig von ethischen Überzeugungen und religiösen Narrativen. An der Ausbildung einer religiösen Konfliktkultur entscheidet sich zeitgleich, ob diese Überzeugungen und Narrative friedlich aufeinander bezogen werden können. 3.4 Eröffnung trans- und interkultureller Lernräume38 Indessen könnte die vorherige Betonung der Religionen zur Idee verleiten, dass sich eindeutige Grenzziehungen zwischen Konfessionen oder Religionen ausmachen lassen. Das mag auf der Ebene der Dogmatik oder Kirchenmitgliedschaft möglich sein. Aber in vielerlei Hinsicht werden klare Identitätsgrenzen problematisch. Die postsäkulare Zeitdiagnose, die oben vorgetragen worden ist, muss stärker die vielen Verschiebungen, Vermischungen und Verunsicherungen in konfessioneller Identität aufnehmen. Es sind tektonische Veränderungen, die durchaus unauffällig daherkommen. Zum einen entstehen 36 Vgl. Eilert Herms, Globalisierung als Herausforderung von Kirche und Theologie, in: Theologie in der Öffentlichkeit. Beiträge der Kieler Theologischen Hochschultage aus den Jahren 1997 bis 2006, hg. v. Ph. David, Kiel 2007, 295–324, hier 295 f. 37 Eilert Herms, Mit dem Rücken zur Wand? Apologetik heute, in: ders., Offenbarung und Glaube. Zur Bildung des christlichen Lebens, Tübingen 1992, 484–516, hier 516. 38 Fernando Ortiz, ein kubanischer Ethnologe, prägte den Begriff Transkulturation 1940 in seinem Buch Contrapunteo Cubano del Tabaco y el Azúcar: „Transkulturation ist für Ortiz die erzwungene gegenseitige Beeinflussung und Übertragung von Lebensweisen aus verschiedenen kulturellen Zusammenhängen, die so mindestens zum Teil mit einem neuen Sinn gefüllt und in einen anderen Rahmen eingepasst werden.“ (Gabriele Lademann-Priemer, Transkulturation in transatlantischer Perspektive – von 1491 bis 2017, in: Transkulturelle Begegnungen und interreligiöser Dialog. Erkundungen und Entdeckungen im Anschluss an Werner Kahl [Studien zu interkultureller Theologie an der Missionsakademie 11], hg. v. U. Andrée et al., Hamburg 2017, 161–172, hier 169, online abrufbar unter: http://www.missionsakademie.de/ de/pdf/11_SITMA_inhaltneu.pdf [letzter Zugriff am 14.1.2019; A. M.]).
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weitreichende Unterschiede innerhalb aller religiösen Gemeinschaften, was politische oder sexualethische Vorstellungen betrifft. So werden liberale und konservative Milieus und Mentalitäten innerhalb von allen großen Religionsgemeinschaften analysiert, die mit ihren Pendants in anderen Religionen mehr gemeinsam haben als mit den jeweilig anders gelagerten Milieus und Mentalitäten innerhalb ihrer eigenen Gemeinschaft. Die schmerzhaften Differenzen allein innerhalb vieler protestantischer Konfessionen, was beispielsweise Geschlechterrollenbilder und sexuelle Normen betrifft, sind in der Ökumene mit Händen zu greifen. Jede große Konfession lässt sich als plural verfasst betrachten. In diesem Sinne ist es präzisierungsbedürftig, wenn von einem Kampf der Kulturen oder einem Widerstreit der Weltanschauungen ausgegangen wird. Zumindest muss beachtet werden, dass ein tiefgreifender Dissens innerhalb der jeweiligen Religionsgemeinschaften zu beobachten ist, der eindeutige Grenzen verwischt. Diese Beobachtungen werden verstärkt, indem Überlagerungen kultureller und religiöser Identität hervorgehoben werden – von der ‚Transkulturalität‘ über die ‚Hybridität‘ bis zur ‚Transdifferenz‘ ist die Rede: Transdifferenz ist eine Kategorie, mit der kulturelle „Mehrfachzugehörigkeit“39 erfasst werden soll, ohne die Bedeutung von Differenzen für Orientierungsleistungen vernachlässigen zu wollen. Gemein ist den genannten Ansätzen die Kritik an der Vorstellung der Homogenität von Kulturen wie auch die Problematisierung des ihr zugrunde liegenden Differenzansatzes.40 Demgegenüber werden fließende Übergänge zwischen Kulturen hervorgehoben. Auf der Makroebene sind demnach Kulturen aufgrund weitreichender interner Differenzierungsprozesse nicht homogen; auf der Mikroebene bilden Personen, die aus verschiedenen Kulturen stammen, neue kulturelle Synthesen. Solche Synthesen, so wird betont, pluralisieren und nivellieren die kulturellen Differenzen. Dabei wird den Mischformen sozialer Identitätsstrukturen Aufmerksamkeit geschenkt und gezeigt, wie Menschen mehrere Zugehörigkeiten miteinander verbinden. Auch für die christlichen Konfessionen bieten diese Mehrfachzugehörigkeiten eine Aufforderung zur Auseinandersetzung. Beispiele solcher Mehrfachzugehörigkeiten lassen sich in Migrantengemeinden hautnah miterleben, wenn äthiopische Baptisten in London charismatische Lieder aus den USA und naturspirituelle Heilungszeremonien aus Südkorea in ihre Gottesdienste integrieren 39 Lars Allolio-Näcke et al., Einleitung, in: Differenzen anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz, hg. v. dens., Frankfurt a. M. 2005, 1–14, hier 14. Eine genaue Abgrenzung zwischen kultureller und religiöser Identität kann hier nicht geliefert werden, ich gehe aber nicht davon aus, dass Kultur und Religion identisch sind, sondern dass religiöse Identität als Aspekt der kulturellen Identität zu bestimmen ist. 40 Vgl. Wolfgang Welsch, Transculturality – The Puzzling Form of Cultures Today, in: Spaces of Culture. City, Nation, World, hg. v. M. Featherstone/S . Lash, London 1999, 194–213.
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oder indische Gläubige mit großer Selbstverständlichkeit hinduistische und römisch-katholische Überzeugungen miteinander verbinden. Mehr noch: Identitäten lassen sich gar nicht mehr an Begriffen festmachen. Vielmehr wird die Möglichkeit der prozessualen Neubildung von kultureller und religiöser Identität durch individuelle Bestimmung stark gemacht. Ökumene ist bereits, vielleicht vielmehr als bewusst und bekannt ist, ein transkultureller Lernraum. Der Begriff des transkulturellen Lernraumes lässt sich bei Arata Takeda nachlesen, der für ein Lernen über kulturelle Differenzen hinaus plädiert.41 In der Ökumene werden Andere und Anderes seit Jahrzehnten aufgenommen, wahrgenommen, diskutiert, stehengelassen und bewertet. Als Beispiel ist auf interkonfessionelle Bildungseinrichtungen wie das United Theological College in Bangalore in Indien hinzuweisen,42 in dem die verschiedensten Zugehörigkeiten gleichzeitig thematisiert werden: Zuschreibungen zu einer Kaste, einem Geschlecht, einer Nation, einer Ethnie, einer Religion und einer Konfession. In Ansätzen ist dies ein transkultureller Lernraum, in dem Kenntnisse und Kompetenzen für den Umgang mit dem ganz Anderen entwickelt werden und in dem die kognitive und emotionale Aushandlung von Differenz betrieben wird.43 Schließlich wird die Ökumene auch die Herausforderung der individuellen religiösen Biografien aufnehmen müssen. Dass sich Menschen mit verschiedenen Konfessionen und Religionen identifizieren können, ist nicht ein Zeichen pathologischer Identitätsbildung. Sondern multiple religiöse Zugehörigkeiten gehören zur Logik der Migration und Globalisierung von Narrativen. Insofern stellt sich die Frage, wie die Ökumene eine Bewegung werden kann, die den religiösen Selbstausdruck als ihr Ziel aufnimmt und Menschen zu diesem ganz eigenen religiösen Ausdruck verhelfen kann.
41 „Um solche Einstellungen aufzuweichen, ist es notwendig, dass wir erkennen, dass Kultur etwas Bewegliches, Veränderbares ist, und dass jeder einzelne von uns Teil dieser Bewegung und Veränderung ist. Nicht die Kultur bestimmt, wer wir sind, sondern wir bestimmen die Kultur, indem wir sie von Tag zu Tag verändern und neu gestalten. In diesem Sinne sind wir gut beraten, unsere Annahmen über Kulturen stets zu hinterfragen. Und die erste Anleitung dazu kann in der Schule beginnen.“ (Arata Takeda, Plädoyer für eine transkulturelle Erziehung. Interview, in: Humanistischer Pressedienst, 8.5.2013, online abrufbar unter: http://hpd.de/node/15880 [letzter Zugriff am 14.1.2019; A. M.]). Statt das Konzept kultureller Identitäten aufzulösen, könnten sie als prozessuale Größen verstanden werden, vgl. Yannik Porsché, Kulturelle Identitäten in Zwischenräumen. Migration als Chance für Fremdverstehen und kritische Identitätsaushandlung?, in: COMCAD working papers 52 (2008), online abrufbar unter: https:// www.uni-bielefeld.de/(en)/soz/ab6/ag_faist/downloads/workingpaper_52_porsch%C3%A9. pdf (letzter Zugriff am 15.1.2019; A. M.). 42 Vgl. die Veröffentlichungen des United Theological College, Bangalore, online abrufbar unter: http://www.utc.edu.in/publications-seminars/ (letzter Zugriff am 15.1.2019; A. M.). 43 Vgl. Mark Terkessidis, Interkultur, Frankfurt a. M. 2010.
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4. Ausblick Ökumene und Kosmopolitismus sind beide bezogen auf den Erdkreis. Die Ökumene steigt bereits in den globalen öffentlichen Raum mit Konzepten des Widerstandes und Ideen der Zusammengehörigkeit ein. Die kosmopolitische Ökumene ist sich dabei der wachsenden Interdependenzen der Welt bewusst. Sie reagiert mit Differenzsensibilität und Einheitsbewusstsein. Deshalb lässt sich nicht, wie Beck es meint, den Religionen insgesamt ein deformierter Kosmopolitismus unterstellen. Selbstverständlich stellen sich die Religionen nicht durchgehend bereits auf die neue zivilisatorische Formation ein. Die Ökumene stellt in Aussicht, dass Loyalität zur eigenen Identität nicht auf Kosten der Loyalität gegenüber Menschen anderer Überzeugungen und Traditionen gehen muss. Vielmehr muss Widerstand geleistet werden, wenn diese Partikularität zu Gunsten der Universalität differenzlos aufgelöst wird. Widerständigkeit heißt, Aufmerksamkeit für das Einzelne, das Individuum, die Minderheit zu entwickeln und für sie einzutreten. Schlussfolgernd lässt sich der Gedankengang zusammenfassen: Die weltbürgerliche Perspektive ist von Bedeutung. Aber der Kosmopolitismus steht wieder in der Kritik. Er stellt allein eine nicht-gestaltbare Loyalitätsvorstellung dar. Vielmehr müssen auch das Lokale und Partikulare integriert werden, um realistische Loyalitätsbindungen zu entwickeln. Die Ökumene kann ein Konzept der Mehrebenen-Loyalität anbieten: Loyalität gegenüber partikularer und universaler Dimension der Polis, gegenüber religiöser und weltbürgerlicher Verpflichtung. Die Ökumenische Bewegung wäre in diesem Sinn eine geerdete kosmopolitische Bewegung.
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Vernakular-kosmopolitische Ökumene oder: Einheit von den Margins und Fissuren her denken1 Claudia Jahnel „Vernacular cosmopolitanism, an oxymoron that joins contradictory notions of local specificity and universal enlightenment, is at the crux of current debates on cosmopolitanism. These pose the question whether the local, parochial, rooted, culturally specific and demotic may co-exist with the translocal, transnational, transcendent, elitist, enlightened, universalist and modernist“2.
1. ‚Ut unum sint!?‘ – Einheit, Differenz und kosmopolitische Vernakularität Ut unum sint!, so lautet nicht nur der Titel einer für die ökumenische Verhältnisbestimmung der römisch-katholischen Kirche zu anderen christlichen Kirchen wichtigen Enzyklika Papst Johannes Pauls II. aus dem Jahr 1995.3 Das Gebet Jesu, „dass sie alle eins seien […], auf dass die Welt glaube“ (Joh 17,21; Lutherbibel 2017), ist vielmehr ein Herzstück der Ökumenischen Bewegung des 20. Jahrhunderts. Dass dies nie Gleichmacherei konfessioneller und regionaler Unterschiede meinte, wurde von Anfang an betont. Aber es gehört zu den bemerkenswertesten Aspekten der Ökumenischen Bewegung der letzten zwei Jahrzehnte, dass Differenz zum einen als positiver, die Einheit belebender Faktor der Ökumene betrachtet wird, und zum anderen, dass Einheit und Differenz nicht als stabile, einander gegenüberstehende sowie rein theologisch bestimmte Kategorien verstanden werden. Schon die Ausschreibung und Themen der diesem Sammelband zugrunde liegenden Konferenz zeigen, dass es sich bei Einheit und Differenz vielmehr ähnlich wie bei Kosmopolitanismus und Vernakularität – so möchte ich behaupten und zeigen – um „unstabile, einander 1 Der
Titel des Beitrages nimmt einen früheren Beitrag auf, in dem ich die christliche Ökumene und ihre Einheitsvorstellungen unter der Perspektive des cultural turn beleuchtet habe, vgl. Claudia Jahnel, Vernakulare Ökumene in transkultureller Einheit. Ökumenische Theologie nach dem Cultural Turn, in: Interkulturelle Theologie 34 (2008), 10–34. Der vorliegende Beitrag knüpft daran an und vertieft Perspektiven, die aus der postkolonialen Theorie sowie aus der Debatte um den (Vernakularen) Kosmopolitanismus für das Thema gewonnen werden. 2 Pnina Werbner, Vernacular Cosmopolitanism, in: Theory, Culture & Society 23 (2006), 496–498, hier 496. 3 Vgl. Johannes Paul II., Enzyklika Ut unum sint. Über den Einsatz für die Ökumene (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 121), Vatikan 1995.
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überlappende Kategorien“4 wie auch um die „Ansammlung eines sich ständig verändernden Repertoires von Praktiken“5 handelt. Einheit und Differenz werden immer wieder neu hergestellt, ausgehandelt, bestätigt und hinterfragt. Eine zentrale Frage, die sich dabei in Zeiten neuerer Formen der Globalisierung stellt, ist die im Epigraph von Pnina Werbner benannte: Wie verhalten sich lokale und regionale Besonderheiten zu transnationalen universalistischen Ideen und Idealen einer kosmopolitischen Menschheit und Menschlichkeit? Werden sie überrollt, harmonisiert und nivelliert? Werden sie in der Konzipierung einer kosmopolitischen Vision, die Gültigkeit beanspruchen soll, überhaupt gehört? Innerhalb des Konzepts des Vernakularen Kosmopolitanismus impliziert dies darüber hinaus: Welche kosmopolitische Vision entwickeln jene, die an den Rändern leben und oftmals Opfer der Moderne geworden sind – „failed by capitalism’s upward mobility, and bereft of those comforts and customs of national belonging“,6 die intellektuelle und andere Elite-Kosmopoliten genießen? Bei der Debatte um den Vernakularen Kosmopolitanismus, an der seit Ende der 1990er Jahre vor allem viele postkoloniale Theoretikerinnen und Kulturwissenschaftler mitgewirkt haben,7 geht es letztlich um eine Form der Provinzialisierung Europas und um eine gegenhegemonische Geschichtsschreibung:8 Indigene Kosmopoliten, so Maximilian Forte, „write against hegemonic stories of modernity that suppress coloniality and its production of differences on a planetary scale“9. Sie schreiben ihre Geschichte, die Geschichte der ‚Unzufriedenen‘, der Unsatisfied, die die herrschenden Macht- und Verteilungsverhältnisse unbefriedigt lassen.10 Aufgrund der Erfahrung der Unterdrückung und Marginalisierung entwickelt sich in dieser Geschichte eine andere kosmopolitische Vorstellung von Solidarität. Diese Vorstellung beginnt gerade nicht bei der Vision einer universalen Menschlichkeit – „the dream for ‚the world made whole‘“ –, sondern bei der „Anerkennung von Differenz“ und der „Bereitschaft, die verschiedenen Formen der Traumatisierung durch die [koloniale/postkoloniale] Geschichte“ wahr4 Stephanos Stephanides/Stavros K arayanni, Introduction, in: Vernacular Worlds. Cosmopolitan Imagination (Cross/Cultures 181), hg. v. dens., Leiden 2015, XI–XXVII, hier XIII (Übers.; C. J.). 5 Sheldon Pollock, The Cosmopolitan Vernacular, in: Journal of Asian Studies 57 (1998), 6–37, hier 33 (Übers.; C. J.). 6 Sheldon Pollock et al., Cosmopolitanism, in: Cosmopolitanism, hg. v. dens., Durham 2002, 1–14, hier 6. 7 Vgl. ebd. 8 Vgl. Dipesh Chakrabarty, Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung (Theorie und Gesellschaft), Frankfurt a. M. 2010. 9 Maximilian C. Forte, Introduction, in: Indigenous Cosmopolitans. Transnational and Transcultural Indigeneity in the Twenty-First Century, hg. v. dems., New York, NY 2010, 1–16, hier 4. 10 Vgl. Homi K. Bhabha, Unsatisfied. Notes on Vernacular Cosmopolitanism, in: Text and Nation. Cross-Disciplinary Essays on Cultural and National Identities (Studies in German Literature, Linguistics, and Culture), hg. v. L. Garcia-Moreno/P. C. Pfeiffer, Columbia, SC 1996, 191–207, hier 202.
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zunehmen – so fasst Brigid Cohen die Position zusammen, die Homi Bhabha, der ‚Erfinder‘ von Vernacular Cosmopolitanism, vertritt.11 Innerhalb der weltweiten Ökumene lassen sich gegenwärtig, wie ich am Beispiel von Äußerungen auf der jüngsten Weltmissionskonferenz zeigen möchte, Entwicklungen erkennen, die in eine ähnliche Richtung gehen. Auch hier wird einerseits an der Vorstellung einer verbindenden Einheit festgehalten, wenngleich entweder sehr viel demütiger und selbstkritischer eingedenk der Tatsache, dass universalistische Vorstellungen auf eine mitunter traumatisierende Geschichte der Assimilation und Marginalisierung zurückblicken, oder aber mit neuen Einheitsvorstellungen, die zwar behaupten, die Stimme der Marginalisierten zu vertreten, aber nicht weniger exklusiv sind als frühere Einheitsvorstellungen. Andererseits werden Differenz und Vielfalt betont. Es lässt sich hier jene doppelte Dynamik beobachten, die der Begründer der cultural studies, Stuart Hall, immer wieder analysiert hat: dass Differenz sowohl der Grund dafür ist, „dass soziale Institutionen nach Beständigkeit streben, als auch die Bedingung dafür, das Subjekte ihrer Unterdrückung entfliehen, um in die Geschichte einzutreten.“12 Diese Entwicklungen sind, so sei vorweggesagt, überaus ambivalent. Denn sie stärken einerseits die Handlungs- und Deutungsmacht jener, die von globalisierenden Entwicklungen marginalisiert und in die Knie gezwungen werden. Andererseits lassen sich aber auch ‚Reethnisierungen‘ und abgrenzende Neuerfindungen lokaler Traditionen erkennen. Noch einmal in den Worten von Stuart Hall: „[H]istorisch marginalisierte und unterdrückte Völker [nutzen] durch eine spezifische und je eigene Form der Markierung kultureller Differenz ihrerseits ebenfalls die globale Ausbreitung von Differenz [aus] […], um sich selbst als neue Subjekte zu produzieren, die aufgrund eines symbolischen Umwegs entstehen, der die diskursiv konstruierte Vergangenheit kritisch wiederholt, und die unseren gegenwärtigen historischen Augenblick daher durch eine bestimmte Reethnisierung der Kulturpolitik der Differenz betreten.“13
2. ‚Gegen-kulturelle Communio‘ und anti-imperiale Praxis: Einheit oder Partikularismus? Auf einem jüngeren ökumenischen Großereignis, der Weltmissionskonferenz in Arusha im März 2018, stellte die Vorsitzende der Kommission für Glaube und Kirchenverfassung, Susan Durber, die jüngst veröffentlichte Studie der Kommission vor: Die Kirche. Auf dem Weg zu einer gemeinsamen Vision. Gegenüber den Teilnehmenden der Konferenz, die sich von der ersten Weltmissionskonferenz 11 Brigid Cohen, Stefan Wolpe and the Avant-Garde Diaspora (New Perspectives in Music History and Criticism 23), New York, NY 2012, 27 (Übers.; C. J.). 12 Kobena Mercer, Einleitung, in: Stuart Hall, Das verhängnisvolle Dreieck. Rasse, Ethnie, Nation, hg. v. K. Mercer, übers. v. F. Lachmann, Berlin 2018, 25–51, hier 25. 13 Hall, Dreieck, 140 (wie Anm. 12; Herv. i. O.).
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in Edinburgh im Jahre 1910 an der historischen Einheit der Mission verpflichtet weiß, führte Durber für die Näherbestimmung der Einheit der Kirchen den Begriff gegen-kulturelle Communio (counter-cultural community) ein.14 2.1 Counter-cultural communio Der Begriff counter-cultural communio ist im Kontext des Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRK) in den letzten Jahren häufiger in Gebrauch und erscheint etwa in plakativen Formulierungen wie ‚Jesus was counter-cultural‘, weil er gesellschaftliche Normen überschritten und Menschen von den Rändern ins Zentrum gestellt hat.15 Kirche dürfe sich nicht zufrieden geben mit ungerechten Bedingungen, unter denen Menschen und die Schöpfung heute leiden, so lautet die mit der counter-cultural community verbundene Botschaft. Der Begriff weist in kritischer Abgrenzung auf das globale neo-liberale Wirtschaftssystem hin, das Millionen von Menschen mitunter hart trifft. Der Sache nach ist diese Kritik nicht neu. Vielmehr sind Advocacy und der Einsatz für eine gerechtere Welt Kernanliegen der Ökumenischen Bewegung, ja, sie haben zentrale kohärenzstiftende Bedeutung. Nicht von ungefähr steht mit der Bewegung für Praktisches Christentum (Life and Work) die Suche nach einer gemeinsamen, kirchenverbindenden ethischen Praxis am Anfang der Ökumenischen Bewegung. Das Neue an Durbers Aufnahme des Begriffs counter-cultural community ist hingegen, wie sie ihn in Beziehung zur Einheit der Kirche setzt und begründet. Denn die Vorsitzende der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung (Faith and Order) geht in Arusha besonders auf den in den letzten Jahrzehnten gewachsenen Widerstand gegenüber traditionellen internationalen kirchlichen Organisationen ein. Viele Christen und Christinnen weltweit fühlten sich von den Organen der internationalen Ökumene nicht repräsentiert. Schon der Begriff ‚Einheit‘ werde als Ausdruck des kolonialisierenden und neo-imperialen Anspruchs auf Deutungsmacht westlicher, ökumenisch autoritativer Subjekte verstanden, die mit universalisierenden Einheitsvorstellungen die koloniale epistemologische Hegemonie fortsetzten. Auf diese Ängste und auf die in kolonialen und postkolonialen Zeiten gewonnenen Erfahrungen erwidert Durber nun, dass eine counter-cultural verstandene Ökumene Gott als Begründer der Communio und Einheit der Christen 14 Sämtliche Beiträge der Konferenz sind auf der Website des Internationalen Missionsrats online abrufbar unter: https://www.oikoumene.org/en/mission2018/documents-related-tothe-conference (letzter Zugriff am 20.1.2019; C. J.). 15 Vgl. das Interview mit Pfarrerin Eleni Poulos aus Australien, Mitglied der ÖRK-Kommission Kirche und Internationale Zusammenhänge, die im Zusammenhang mit dem Begriff counter-cultural die miserablen Lebensbedingungen von Aborigines in Australien anspricht, online abrufbar unter: https://www.oikoumene.org/en/resources/audio/wcc-un-advocacyweek-2009/rev-elenie-poulos (letzter Zugriff am 20.1.2019; C. J.).
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ins Zentrum stelle. Einheit sei daher gerade kein Konstrukt westlicher Akteure oder irgendeines anderen autoritativen ökumenischen Subjekts, das Christen und Christinnen des globalen Südens vereinnahmen wolle, ihnen eine Einheitsvorstellung aufoktroyiere und darin Geschichte kolonialer und postkolonialer Unterdrückung und Traumatisierung fortsetze. Die von Durber angesprochene Kritik, dass das Konzept der Einheit in Wirklichkeit ein universalistisches Projekt sei, mit dem der Westen den als partikularistisch definierten Christentümern im globalen Süden gegenübertrete und sich dabei selbst einen nicht-partikularistischen, also universalen Anschein verleihe, spiegelt die aus den postcolonial studies bekannte Kritik wider, dass der Universalismus in Wirklichkeit als ‚Partikularismus des Westens‘ verstanden werden müsse. In den Worten von Oliver Marchart: „Üblicherweise wird Universalismus verstanden als Partikularismus des Westens, als spezifisch europäische Erfindung, die durch den Prozess des Kolonialismus in alle Ecken der Welt getragen wurde.“16 Dieser Universalismus-Anspruch sei schon deshalb eine Anmaßung, so Marchart weiter, weil Europa alles andere als eine einheitliche universale Größe sei: „[S]elbst wenn wir die Geschichte des Kolonialismus beiseite lassen, erweist sich die universalistische Anmaßung Europas als viel komplizierter, da man von auch innereuropäisch rivalisierenden Begriffen von Universalität ausgehen muss. Der europäische Universalismus ist nicht einer, sondern er setzt sich zusammen aus rivalisierenden Universalismen. Schon ein Blick auf die Präambel des gescheiterten Verfassungsvertrags für Europa wird sowohl auf die religiöse Idee von Universalität stoßen, die im Monotheismus und im Christentum impliziert ist, als auch auf die Idee universaler Vernunft in Tradition der Aufklärung.“ Daneben gibt es „noch weitere Universalismen […], etwa den neoliberalen Universalismus des ungehinderten, freien Kapitalflusses, wie er von der Verfassung garantiert werden sollte (und der ja, wie man sich vorstellen kann, in vielerlei Hinsicht direkt den beiden anderen Universalismen des Christentums und der Aufklärung entgegenläuft).“17
Die von Marchart angesprochene Komplexität des ‚europäischen Universalismus‘ unterstreicht die eingangs konstatierte These, dass Kosmopolitanismus und Vernakularität, Universalität und Partikularität, Einheit und Vielfalt keinesfalls stabile Kategorien sind. Ein solches statisches und binäres Verständnis ist deutlich zu unterkomplex. Gerade in der Verwendung und Debatte des Begriffs counter-cultural communio zeigt sich, dass Einheit und Differenz gegenwärtig wieder neu ausgehandelt werden: Die Position des Differenten, des Counter, wird hervorgehoben. Gleichzeitig werden unter Berufung auf diese Position neue Einheitsvorstellungen entwickelt und deren universale Gültigkeit gefordert. 16 Oliver Marchart, Ein Universalismus des anderen. Übersetzung und der antagonistische Grund des Medialen, in: Medienbewegungen. Praktiken der Bezugnahme (Mediologie 18), hg. v. L. Jäger et al., Paderborn 2012, 163–174, hier 165. 17 Ebd., 165 f.
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2.2 Anti-Empire – die neue Einheitsformel? Die Einführung des Begriffs counter-cultural communio wird begleitet von einer Empire-Kritik, die im Kontext des ÖRK und anderer christlicher Weltbünde in den letzten Jahren deutlichen Einfluss gewonnen hat. Beispiele dafür liefern das von Karen Bloomquist organisierte Projekt The Church in the Midst of Empire18 oder die jüngste Missionserklärung des ÖRK aus dem Jahr 2012, Gemeinsam für das Leben, die in ihrer dichotomisierenden Globalisierungskritik der AntiEmpire-Logik deutlichen Ausdruck verleiht. Immer wieder – auch in Arusha – fällt auf, wie unscharf ‚Empire‘ definiert ist. Mal wird es als Synonym für die neo-koloniale Ideologie des Marktes betrachtet, die viele Menschen an die Ränder der Überlebensfähigkeit – an die margins – bringt, ein anderes Mal wird es mit der Außenpolitik und rassistischen Innenpolitik der USA assoziiert. Am ehesten kann Empire wohl als Bezeichnung von verschiedenen, miteinander verflochtenen Formen der Unterdrückung wie wirtschaftlicher Ausbeutung oder gender-, rassen- und auf sexuelle Orientierung hin bezogener Formen von Gewalt verstanden werden. Jörg Rieger hat eine offene Definition in diesem Sinne formuliert. Empire bezeichne „massive concentrations of power which permeate all aspects of life and which cannot be controlled by any one actor alone […]. Empire seeks to extend control as far as possible; not only geographically, politically, and economically […] but also intellectually, emotionally, psychologically, spiritually, culturally, and religiously […]. The problem with empire has to do with forms of top-down control that are established on the back of the empire’s subjects and that do not allow those within its reach to pursue alternative purposes […]. Empire displays strong tendencies to domesticate Christ and anything else that poses a challenge to its powers.“19
Die Anti-Empire-Forderung erhält zur Zeit in manchen Kreisen der weltweiten Ökumene den Status von einheitsstiftender Verbindlichkeit, der sich auf die folgende Formel bringen lässt: Die Kirchen haben einen anti-imperialen Auftrag und dieser begründet wiederum die Einheit der Kirchen als gegenkulturelle Communio. 2.3 Mission heißt, die Welt auf den Kopf zu stellen Paradigmatisch für die geschilderte gegenwärtige Dynamik ist die Eröffnungsrede, die der Vorsitzende der Kommission für Weltmission und Ökumene, Metropolit Mor Geevarghese Coorilos von der syrisch-orthodoxen Kirche In18 Vgl. K aren L. Bloomquist (Hg.), Being the Church in the Midst of Empire. Trinitarian Reflections (Theology in the Life of the Church 1), Minneapolis, MN 2007. 19 Joerg Rieger, Christ and Empire. From Paul to Postcolonial Times, Minneapolis, MN 2007, 2–3.
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diens, auf der Weltmissionskonferenz hielt. Mission heiße, so appelliert Coorilos in Arusha, die Welt auf den Kopf zu stellen und Widerstand zu leisten gegen die herrschenden Mächte, die Ungerechtigkeit förderten und Tod statt Leben brächten. Coorilos zitierte hierbei seine Landsfrau, die berühmte postkoloniale Schriftstellerin und Aktivistin Arundathi Roy: „Our strategy should be not only to confront empire, but to lay siege to it. To deprive it of oxygen. To shame it. To mock it. […] The corporate revolution will collapse if we refuse to buy what they are selling – […] their versions of history, their wars, their weapons, their notion of inevitability.“20
Folgen wir Coorilos und vielen anderen ökumenischen Akteuren heute, dann wird Einheit also mittels einer gemeinsamen anti-imperialen Praxis und einer Selbstverpflichtung zu dieser Praxis hergestellt. Empire-Kritik ist sozusagen die Eintrittskarte in die ökumenische Gemeinschaft und definiert, wer innerhalb und wer außerhalb der Einheit steht. Das Empire wird als Größe definiert, von der sich Kirchen abgrenzen (sollen), und die gerade dadurch zum identitätsstiftenden Faktor wird, denn Identität (der Kirchen) braucht Differenz (das Empire).
3. Ambivalenzen und Sackgassen einer counter-cultural communio Die Anti-Empire-Dynamik im Raum des ÖRK und anderer Kirchen-Weltbünde ist in der Weise, wie sie in jüngerer Zeit präsentiert wurde und wird, mindestens ambivalent, zumal im Spiegel der einführend dargestellten Debatte um den Vernakularen Kosmopolitanismus. Zwar gelingt es den Akteuren und Akteurinnen, gewohnte Denkmuster und konzeptuelle Ideologien kritisch zu hinterfragen und die oben genannte ‚Unzufriedenheit‘ (unsatisfaction) derer, die unter den gegenwärtigen globalen wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen leiden, im ‚Zentrum‘ so zu Gehör zu bringen, dass es für dieses durchaus unbequem zu werden beginnt.21 Fraglich ist aber, ob sich die alternativen Einheitsvorstellungen wirklich außerhalb der gewohnten Denkmuster und Ideologien verorten lassen und neue Formen und Inhalte der Generierung von Wissen ‚an der Grenze‘ und von der Grenze her entwickeln.22 Letzteres wird von Vertretern und Vertreterinnen des Vernakularen Kosmopolitanismus deutlich gefordert. Der 20 Arundhati Roy, Rede vor dem Welt-Sozialforum, 21.1.2003, online abrufbar unter: http://www.workersliberty.org/story/2017-07-26/world-social-forum-arundhati-roy (letzter Zu griff am 20.1.2019; C. J.). 21 Homi Bhabha spricht von der Notwendigkeit, zusammen mit der ‚Unzufriedenheit‘ die „uncanny site/sign of the native“ im Zentrum zu Gehör zu bringen, vgl. Bhabha, Unsatisfied, 202 (wie Anm. 10). 22 Vgl. Walter Mignolo, Geopolitik des Wahrnehmens und Erkennens. (De)Kolonialität, Grenzdenken und epistemischer Ungehorsam, in: eipcp multilingual webjournal, September 2011, online abrufbar unter: http://eipcp.net/transversal/0112/mignolo/de (letzter Zugriff am 20.1.2019; C. J.).
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indigene Kosmopolitanismus ist, so konstatiert etwa Sneja Gunew, einerseits eine Kritik an familiar conceptual ideologies. Andererseits aber offenbart diese Kritik einen Blick in alternative imagined worlds, die aus den Erfahrungen der Marginalisierung geboren sind.23 Die Rede von Metropolit Coorilos oder auch die genannte Missionserklärung von 2012 zeigen jedoch deutliche Anzeichen der Versuchung, dieselbe universalistische und exklusivistische Gültigkeit und Deutungsmacht zu beanspruchen wie die von ihnen kritisierten ‚kolonialen‘ Einheitsvorstellungen. Angesichts dieser Parallelen ist es kaum möglich, eine Anti-Empire-Einheitsvorstellung außerhalb gewohnter Denkmuster und vertrauter Ideologien – und vor allem nicht außerhalb einer bereits im ‚anti‘ enthaltenen unversöhnlichen binären Logik der Gegenüberstellung – zu verorten. Vielmehr werden Mechanismen der Ausschließung und der Einschließung unter neuen Vorzeichen wiederholt. Ein De-Centering des Westens wird zwar deutlich angestrebt, doch die Definitionsmacht verlagert sich nur von einem Zentrum zum anderen und zirkuliert nicht in dem Sinn, dass sich neue Machtstrukturen und neues Wissen etablieren. Darüber hinaus steht die Anti-Empire-Bewegung innerhalb des ÖRK vor dem Problem der Repräsentation, vor der im Übrigen auch andere kritische Theorien, u. a. der Vernakulare Kosmopolitanismus, stehen. Mit anderen Worten: Diejenigen, die auf einer Weltkonferenz die Stimme erheben, sind – wie schon Gayatri Spivak deutlich gemacht hat – bereits keine ‚Subalternen‘ mehr, selbst wenn sie deren Stimme ‚vertreten‘. Man kann also fragen: Wessen Handlungsmacht wird hier gestärkt? Wer produziert sich hier als ‚neues Subjekt‘, das sich durch eine spezifische und je eigene Form der Markierung kultureller Differenz auszeichnet, wie Stuart Hall anmerkte? Ein weiterer ambivalenter Punkt besteht darin, dass für die Anti-EmpireKritik der Antagonismus konstitutiv ist. Eine Einheitsvorstellung, die als zentralen und verbindenden Aspekt christlicher Identität ein ‚Anderes‘ – in diesem Fall das ‚Empire‘ – und die Abgrenzung von diesem ‚Anderen‘ braucht, kann sehr prophetisch-kritisch sein. Sie läuft aber auch Gefahr, sich im eigenen Partikularismus und der Zugehörigkeit zu einer Gruppe Gleichgesinnter identitär zu verschließen und weitere Differenzen nicht anzuerkennen. Damit zusammenhängend zeichnet sich in Anti-Empire-Einheit und counter-cultural communio ein exklusivistischer Diastase-Modus gegenüber ‚der Welt‘ ab, der auch theologisch zutiefst problematisch ist. Denn die Kirche ist ein corpus permixtum, besteht aus Sündern und Gerechtfertigten. Sie ist einerseits Teil der Welt, lebt in Konvivialität mit ihr und bedarf selbst der Umkehr – und steht der Welt andererseits gegenüber. Das Anti-Empire-Einheit-Modell jedoch 23 Vgl. Sneja Gunew, Post-Multicultural Writers as Neo-Cosmopolitan Mediators, London 2017, 72.
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impliziert Diastase – ‚wir‘ sind nicht Empire – und einen ökumenischen Perfektionismus. Hier besteht eine interessante Gemeinsamkeit zwischen Vertretern und Vertreterinnen der Anti-Empire-Einheit und den Gründern der Ökumenischen Bewegung Anfang des 20. Jahrhunderts. Beide waren bzw. sind geleitet von der Vorstellung einer kontinuierlichen, linearen und teleologisch ausgerichteten Vervollkommnung und Umsetzung der jeweiligen Einheitsvorstellung, wenngleich der geradezu kantische Optimismus der Ökumeniker Anfang des 20. Jahrhunderts heute eher dem (berechtigten) Protest, der Wut und der Sorge gewichen ist. Jacques Matthey nennt die auf Vervollkommnung bis hin zur Etablierung des Reiches Gottes im Hier und Jetzt ausgerichtete Missions- sowie Einheitsvorstellung eine messianische und unterscheidet sie von der pastoralen Vorstellung, von der die letzte Weltmissionskonferenz in Athen im Jahr 2005 schon in der titelgebenden Bitte um Heilung und Versöhnung geprägt war.24 Während die pastorale Vorstellung um die Angewiesenheit von Christen und Christinnen auf das versöhnende Wirken Gottes weiß, rückt die messianische Vision, wenig demütig, nicht nur die ungeheure Verantwortung und Aufgabe, die den Christen und Christinnen als Mitwirkende an der Mission Gottes zukommt, ins Zentrum. Sie birgt auch die Versuchung, dass hier eine Spiritualität des Gott-ist-mit-uns (und nicht mit den anderen) entwickelt wird. Was die Debatte im ÖRK in jedem Fall deutlich macht und was seit Ende der 1990er Jahre kaum mehr übersehen werden kann, ist, dass das Kriterium für Einheit und Differenz heute keinesfalls mehr nur ein theologisches sein kann. Darauf hat zwar bereits im Jahr 1951 eine Tagung der Konferenz von Glaube und Kirchenverfassung in Bossey unter dem Thema Non-Theological Factors that May Hinder or Accelerate the Church’s Unity hingewiesen.25 Die Bedeutung nicht-theologischer Faktoren für die Einheit wird aber erst mit der Einsicht wirklich bewusst, dass das Recht auf Gleichbehandlung und das Recht auf Differenz keinen Gegensatz darstellen. Es gibt vielmehr, so plädiert Homi Bhabha in Aufnahme von Julia Kristeva, ein „Recht auf Differenz in Gleichheit“26.
24 Vgl.
Jacques Matthey, Some Reflections on the Significance of Athens 2005, in: Vom Geist bewegt – zu verwandelnder Nachfolge berufen. Zur Weltmissionskonferenz in Tansania, hg. v. dem Evangelischen Missionswerk, Hamburg 2018, 11–29; Jacques Matthey (Hg.), Come Holy Spirit, Heal and Reconcile. Report of the WCC Conference on World Mission and Evangelism, Athens, Greece, May 9–16, 2005, Genf 2008. 25 Vgl. Die Bedeutung sozialer und kultureller Faktoren für die Kirchenspaltung, mit Beiträgen von Charles H. Dodd, G. R. Cragg, Jacques Ellul, Kurt Dietrich Schmidt, einem Vorwort von Oliver Tomkins und dem Bericht einer ökumenischen Studienkonferenz, veröffentlicht im Auftrage des Ausschusses für Glauben und Kirchenverfassung im Ökumenischen Rat der Kirchen, n. d. (Genf 1951). 26 Homi Bhabha, The Location of Culture, London 2004, xvii (Übers.; C. J.).
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4. Partikularismus ohne Einheit? Wenn, wie gesehen, Einheitsvorstellungen wie die in Arusha präsentierte, aber auch wie die von postkolonialen Kritikern und Kritikerinnen infrage gestellte Universalität Europas offensichtlich dazu tendieren, partikularistische Standpunkte zu verallgemeinern und ihre grundsätzliche Gültigkeit zu fordern, ist die Frage zu stellen: Ist Einheit überhaupt nötig und erstrebenswert? Ist sie nicht zu sehr vorbelastet, ein überholtes ideologisches Konstrukt, das um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert herum aus der Wiege gehoben wurde, ganz als Kind der damaligen Zeit, am Höhepunkt der Ausbreitung des Christentums und des europäischen Kulturimperialismus? Ich halte diese Anfrage angesichts der postkolonialen Kritik, der Geschichte kolonialer Traumatisierungen wie auch der Geschichte der christlichen Einheit und Mission für eine eminent ernstzunehmende. Auch Ökumene und Mission wurden im 19. und 20. Jahrhundert einer „universalisierenden Perspektive des Imperiums einverleibt“,27 also jener Perspektive, die, dem Verständnis der Klassik folgend, nur die eigene Kultur als fähig betrachtet, „das Allgemeine zu umfassen“,28 und die sich allein auf menschliche Vernunft gründete. Die Wirkungsgeschichte dieser ‚Phase‘ ist nicht zu unterschätzen. Zwar haben sich die meisten Akteure in der wissenschaftlichen oder institutionellen Ökumene wie auch in weiten Teilen der Gesellschaft inzwischen für die – in Robert Schreiters Worten – „romantische Alternative zum Klassizismus der Aufklärung entschieden“29 und messen dem Partikularen und der Kultivierung von Vielfalt vorrangige Bedeutung hinsichtlich des Verhältnisses von ‚Einem‘ und ‚Vielen‘ bei. Trotzdem bleibt die Kernfrage bestehen, was die verschiedenen Hybridformen des Christlichen verbindet. Beim bloßen Partikularismus stehen zu bleiben, ist nicht nur aus theologischen Gründen keine Möglichkeit. Auch aus interkultureller Perspektive ist der bloße Partikularismus aufgrund der Einsicht in die kulturellen und religiösen Verflechtungen partikularer Christentümer keine Option. Außerdem zeigt die gerade dargestellte Diskussion in Arusha, dass partikularistische Positionen dazu tendieren können, universalistische Positionen zu besetzen, wodurch sie selbst totalisierend werden. Wenn wir, so konstatiert David Ferris, über die Welt nur nach Maßgabe einer grundlegend fragmentierten Erfahrung sprechen könnten, werde die Fragmentierung der Erfahrbarkeit der Totalität selbst totalisierend, othering zum Selbstzweck.30 27 Robert Schreiter, Verbreitung der Wahrheit oder interkulturelle Theologie. Was meinen wir, wenn wir heute von Mission sprechen, in: Interkulturelle Theologie 36 (2010), 13–31, hier 20. 28 Ebd., 19. 29 Ebd., 20. 30 Vgl. David Ferris, Indiscipline, in: Comparative Literature in an Age of Globalization, hg. v. H. Saussy, Baltimore, MD 2006, 78–99, hier 84.
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Schließlich liefert auch die Kritik am Multikulturalismus wichtige Argumente gegen ein Modell des Nebeneinanders verschiedener Partikularismen. Der Multikulturalismus ist nicht nur durch ‚Gönnerhaftigkeit‘ – und damit wieder durch die Einnahme einer privilegierten Position – gekennzeichnet, die von einer herrschenden Gruppe den Mitgliedern weniger etablierter oder machtloserer Gruppen entgegengebracht wird.31 Letztlich ist der Multikulturalismus auch, so Slavoj Žižek, eine Form des Kolonialismus und des Rassismus. Der Multikulturalist hält, indem er die Identität des Anderen ‚respektiert‘ und ihn als Repräsentanten einer einheitlichen ‚authentischen‘ Gemeinschaft versteht, den Anderen nicht nur auf Abstand, sondern bestätigt die eigene universale Überlegenheit. In seiner scheinbar neutralen Haltung besetzt er die Position „eines privilegierten leeren Platzes der Universalität, von dem aus man in der Lage ist, die anderen partikularen Kulturen zu bewerten (oder zu entwerten)“32. Beim bloßen Partikularismus stehen zu bleiben, hieße damit schließlich auch, die Machtfrage, die in interkulturellen – auch ökumenischen – Beziehungen allgegenwärtig ist, auszuklammern. Ich möchte im Folgenden auf die geschilderten Herausforderungen mit drei Impulsen reagieren, die sich in besonderer Weise der Debatte über den Vernakularen Kosmopolitanismus wie auch der erweiterten Kosmopolitanismusdiskussion verdanken, aber auch aus anderen kulturwissenschaftlichen und postkolonialen sowie theologischen Perspektiven auf den Einheitsdiskurs schauen.
5. Einheit von den Fissuren und Frakturen, Verbindungen und Neuerfindungen her denken Als die Ethikerin Martha Nussbaum am 1. Oktober 1994 ihren Artikel Patriotism and Cosmopolitanism im Boston Review veröffentlichte, löste dies eine kontroverse öffentliche Debatte darüber aus, ob eine kosmopolitische Vision und kosmopolitisch anerkannte Werte notwendig seien oder nur eine neue Form des Kulturimperialismus.33 Nussbaum hatte die These aufgestellt, dass ein kosmo31 Vgl. Stuart Halls Beschreibung der Erfahrungen von Gönnerhaftigkeit, „die wir machten, als wir von manchen wohlwollenden und aufgeklärten weißen Kirchen- oder Gemeindegruppen dazu eingeladen wurden, unsere ‚ethnischen Speisen‘ zuzubereiten, unsere ‚ethnische‘ Kleidung zu tragen und Lieder in unseren ‚ethnischen‘ Sprachen zu singen“, Hall, Dreieck, 112 (wie Anm. 12). 32 Slavoj Žižek, Ein Plädoyer für die Intoleranz, hg. v. P. Engelmann, übers. v. A. L. Hofbauer, Wien 42009, 70. 33 Vgl. Martha Nussbaum, Patriotism and Cosmopolitanism, in: Boston Review, 1.10.1994, online abrufbar unter: http://bostonreview.net/martha-nussbaum-patriotism-andcosmopolitanism (letzter Zugriff am 20.1.2019; C. J.). Die anschließende öffentliche Debatte in der Rubrik „Boston: Replies: Responses to Martha Nussbaum“ ist ebenfalls online abrufbar unter: http://bostonreview.net/archives/BR19.5/beacon%20articles/replies.html (letzter Zugriff am 20.1.2019; C. J.).
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politisches Selbst- und Weltverständnis und die Zurückstellung nationaler und partikularer kultureller Interessen eine wesentliche Voraussetzung dafür sei, dass Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft friedlich zusammen leben können. Die Ethikerin reagierte damit auf den zuvor geäußerten Appell Richard Rortys an den ‚linken Flügel‘ in Amerika, einen emotional erfüllten Nationalstolz und eine amerikanische Identität zu entwickeln. Denn nur diese könnten eine ethnisch, rassisch und religiös vielfältige Gesellschaft wie Nordamerika zusammenhalten und ein friedliches Zusammenleben gewährleisten. Dagegen setzt Nussbaum das „altehrwürdige Ideal des Kosmopoliten, also jener Person, die sich primär der Gemeinschaft der Menschen auf der gesamten Welt verpflichtet weiß“34. Der Fehler Rortys bestehe darin, dass er nur auf Amerika blicke, an keiner Stelle in Erwägung ziehe, dass es eine „internationale Grundlage für die Entwicklung politischer Emotionen und Verantwortung“ gebe, und ausblende, dass wir als „zugleich rationale und aufeinander angewiesene menschliche Wesen“ viele Dinge miteinander teilen.35 Die Kritik an Nussbaum hebt verschiedene Aspekte hervor. Kwame Appiah etwa behauptet gegen Nussbaum, dass eine emotional verankerte humanitäre Einstellung und die Sorge für das Leben in der Tat nur im Rahmen eines ‚kleineren Raums‘ und in Nähe zu konkreten anderen Menschen entwickelt werden könne. Die Menschheit sei eine zu abstrakte Größe.36 Anne Norton argumentiert, dass Nussbaums Forderung nach einem kosmopolitischen Selbstverständnis und kosmopolitischer Bildung letztlich einen „Parochialismus darstelle, der noch engstirniger sei als der Nationalismus, und zur Uniformität der menschlichen Spezies führe als Resultat eines Projektes des kulturellen Klonens.“37 Deutlich differenzierter und facettenreicher ist die Erwiderung Richard Sennetts auf Nussbaum, die den bezeichnenden Titel Christian Cosmopolitanism trägt. Sennett bezeichnet Nussbaums Kosmopolitanismus als ‚hellen‘ Kosmopolitanismus, weil er ein überaus positives Bild des menschlichen Wesens voraussetze. Sennett setzt diesem Kosmopolitanismus einen ‚dunkleren‘ Kosmopolitanismus entgegen, den er als christlichen Kosmopolitanismus bezeichnet. Der christliche Kosmopolitanismus beginnt, so Sennett, bei der Erkenntnis der eigenen Brüche und Unvollständigkeit. Diese Erkenntnis sei schließlich ausschlaggebend dafür, dass Menschen aufeinander zugehen, sich für die Nöte 34
Nussbaum, Patriotism and Cosmopolitanism (wie Anm. 33; Übers.; C. J.). „He nowhere considers the possibility of a more international basis for political emotion and concern. […] What we share as both rational and mutually dependent human beings was simply not on the agenda.“ (Übers.; C. J.). 36 Vgl. Kwame Anthony Appiah, Loyalty to Humanity, online abrufbar unter: http:// bostonreview.net/archives/ BR19.5/beacon%20articles/replies.html (letzter Zugriff am 20.1. 2019; C. J.; Übers.; C. J.). 37 Anne Norton, Cosmopolitan Seduction, online abrufbar unter: http://bostonreview. net/archives/ BR19.5/beacon%20articles/replies.html (letzter Zugriff am 20.1.2019; C. J.; Übers.; C. J.). 35 Ebd.:
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anderer und die Brüche und Unvollkommenheit der Welt interessieren und sich gegen Unrecht erheben: „Early Christian writers thought concern for others arose from recognizing the insufficiencies of the self. Only when we have come to acknowledge the fractures, self-destructiveness, and irresolvable conflicts of desires within ourselves will we be prompted to turn outward, St. Augustine wrote – to cross boundaries, to care for others unlike ourselves. Milton’s Paradise Lost retells that Christian homily in Adam and Eve’s expulsion from the Garden: the first humans lost Paradise because of their bodily desires; but in their unhappiness they became adults rather than God’s children, interrogating an unbounded, unfamiliar world. This is cosmopolitanism in the Christian sense: openness to the needs of others comes from ceasing to dream of this world made whole.“38
Sennetts Vorschlag, kosmopolitisches Denken und Engagement von der Einsicht in die Fissuren und Brüche des eigenen Lebens sowie des anderen und ganzer Gesellschaften her zu entwickeln, ist meines Erachtens eine wegweisende Perspektive und wichtige Herausforderung für die Ökumene im 21. Jahrhundert. Denn in einer Zeit intensivierter Globalisierungsprozesse geraten kulturelle, soziale und wirtschaftliche Sicherheiten ins Schwanken, was Menschen weltweit vor die Aufgabe stellt, mitten in diesem Zusammenbruch Sinn zu finden und zu stiften – oder auch daran zu verzweifeln oder in Reethnisierungen, Fundamentalismen oder anderen Partikularismen scheinbar identitätsstabilisierende Alternativen zu suchen. Die Ökumenische Vision der ersten Weltmissionskonferenz von Edinburgh 1910 hat tragischerweise nicht bei den Fissuren, der eigenen Unvollständigkeit, der Einsicht in den Mangel, der jede Selbstpositionierung begleitet, und damit auch nicht bei der Verletzbarkeit des menschlichen Lebens wie auch der Schöpfung als ganzer ihren Ausgang genommen. Edinburgh 1910 und die Missions- wie die Einheitsvision dieser Konferenz waren vielmehr von imperialistisch-triumphalistischen Allmachtsphantasien geprägt. Man träumte den Traum der Christianisierung der Welt innerhalb einer Generation und nur die Unterschiede der Konfessionen standen der Verwirklichung dieses Traums im Weg. Ganz anders die Ökumene nach dem Zweiten Weltkrieg und den weltweiten Dekolonisierungsprozessen: Sie ließ mit der Einsicht in die Brüchigkeit der Welt und universalistischer Idealismen zumindest ansatzweise einen ökumenischen Imperfektionismus zu. Die Missio Dei ist die theologische und demütigere Antwort auf die Erkenntnis, dass die Welt keine ‚heile Welt‘ ist, wie Sennett formuliert.39 ‚Wie stiften Menschen Sinn inmitten des Zusammenbruchs der Kultur und schaffen Identität im Leiden?‘, so lautet die zentrale Frage einer Ökumene, 38 Richard Sennett, Christian Cosmopolitanism, online abrufbar unter: http:// bostonreview.net/archives/ BR19.5/beacon%20articles/replies.html (letzter Zugriff am 20.1. 2019; C. J.). 39 Vgl. ebd.
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die von den Fissuren her denkt. Ich spreche nicht von einer fühligen oder gar Mitleids-Ökumene. Denn bei den Bruchstellen zu beginnen, impliziert auch die eminent kritische Herausforderung, zu analysieren, welches Wissen zu den heutigen Brüchen auf vielen verschiedenen Ebenen beigetragen hat und beiträgt. Dabei landen wir sehr schnell bei den skizzierten hegemonialen Ansprüchen kolonialer Epistemologien wie auch bei neo-imperialen Praktiken, die Menschen ein- und ausschließen. Den Ausgang bei Bruchstellen zu nehmen, bedeutet im Rahmen der Suche nach einer ökumenischen Vision für das 21. Jahrhundert also, ‚große Narrative‘, an denen Kirchen mitgewirkt haben und die Fissuren hinterlassen haben und noch immer kreieren, kritisch in den Blick zu nehmen mit dem Ziel, von dort aus eine differenzierte, die geschichtlichen Aushandlungsprozesse einbeziehende Wahrnehmung von Differenzen, Traumata und lebendiger Vielfalt zu entwickeln.
6. Einheit von Geschichten her denken Eine in der Ökumenischen Bewegung – wie auch in der postkolonialen Kritik – derzeit vielfach als bedeutsam bewertete und eingesetzte Praxis ist das Erzählen der eigenen Geschichte. Die von Metropolit Coorilos in Arusha zitierte Arundhati Roy bewertet diese Praxis als eminent wichtige Widerstandspraxis von subalternen und marginalisierten Bevölkerungsgruppen. Im weiteren Verlauf der von Coorilos nur ausschnittsweise zitierten Rede vor dem Weltsozialforum 2003 macht sie deutlich, wie das Erzählen eigener Stories der Auslöschung ohnehin schon marginalisierter Kulturen und ihres Wissens entgegenwirken kann: Es gilt, so Roy, „unsere Kunst, unsere Musik, unsere Literatur, unsere Sturheit, unsere Freude, unsere Brillanz, unsere schiere Ausdauer und unsere Fähigkeit, unsere eigenen Geschichten zu erzählen, jenen Geschichten entgegenzustellen, die zu glauben wir einer Gehirnwäsche unterzogen wurden“40. Die Frage, wie westliches Wissen, Europa, das Empire provinzialisiert werden können, sodass es nicht mehr alles einschließlich des Widerstands bestimmt, wird seit Jahrzehnten reflektiert: „How not to Compare African Thought and Western Thought?“, lautet der bezeichnende und hinsichtlich der permanenten Präsenz westlichen Denkens geradezu verzweifelte Titel eines Aufsatzes des ghanaischen Philosophen Kwasi Wiredu aus dem Jahr 1984.41 Der kongolesische Theologe Kä Mana hat die Totalität der Abhängigkeit des Denkens und Handelns in Afrika vom Westen mit Worten beschrieben, die an Mächtigkeit kaum noch zu überbieten sind: Der Westen sei eine mythologische Größe in uns, ein mysterium fascinans et tremendum im geradezu religiösen Sinne Rudolph 40
Roy, Rede (wie Anm. 20; Übers.; C. J.). Kwasi Wiredu, How not to Compare African Thought and Western Thought, in: African Philosophy. An Introduction, hg. v. R. Wright, Lanham, MD 1984, 149–162. 41 Vgl.
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Ottos, der Schlüssel zur Welt und der Dreh- und Angelpunkt für das Verständnis sämtlicher Ereignisse: „Si le mythe de l’Occident est constitué en nous par l’image d’enchantement et de désenchantement […] la fantasmagorie de l’Occident en nous consiste à dramatiser le mythe au point d’en faire la clé de tout notre univers, l’explication totale de ce qui nous est arrivé et de ce qui nous concerne aujourd’hui.“42
In postkolonialer Theorie und Theologie spielt das Erzählen der eigenen Geschichte eine wichtige Rolle bei der Dezentrierung des Westens und seiner universalen Geschichte. Postkoloniale Theologinnen wie etwa die Neutestamentlerin Musa Dube aus Botswana stellen afrikanische Novellen sehr bewusst den kolonial wirksamen westlichen Erzählungen etwa eines Josef Conrad – Herz der Finsternis –, aber auch kolonialen Bibelpassagen gegenüber. Es geht darum, die eigene Geschichte zu entdecken und zu Gehör zu bringen und dominante andere Geschichten auf den ihnen gebührenden Platz zurückzuverweisen. Story-telling ist ein Format, das sich auf vielen ökumenischen Konferenzen durchgesetzt hat. „Stories are data with soul“,43 so betonte die aus Sambia stammende Theologin Mutale Mulenga Kaunda ebenfalls in Arusha. Im Konzept des story-telling steckt aber auch eine Herausforderung für das Thema Einheit und Vielfalt, Universalität und Partikularität: Wie werden diese einzelnen Geschichten, die partikulare Erfahrungen schildern und durchaus auch die Tendenz enthalten können, andere auszuschließen – schließlich geht es um die individuelle oder um kollektive Identitäten –, anknüpfungsfähig zur gemeinsamen Geschichte? Die Exklusivität der persönlichen oder gruppenbezogenen Stories wird besonders dem Zuhörenden bewusst. Gerade Geschichten erfahrener Marginalisierung machen dem Zuhörenden bewusst, dass er oder sie außen steht, ja, erfordern von den Hörenden sogar Respekt und damit auch Abstand gegenüber dem Sprecher oder der Sprecherin. Vereinnahmende Solidarisierungen nehmen die Einzigartigkeit der jeweiligen Geschichte nicht ernst. Story-telling enthält damit die bleibende Spannung zwischen partikularer Besonderheit und Aufnahme dieser Einzelgeschichten in die gemeinsame Geschichte. Das Erzählen von Geschichten ist mehr als die Vermittlung von Fakten, so ist Kaundas Aussage „stories are data with soul“ wohl zu interpretieren, weil es das Gerippe historischer Tatsachen mit Fleisch und Leben füllt und damit die Möglichkeit eröffnet, Empathie und Solidarität zu entwickeln. Es sind Geschichten, die von Verletzlichkeit und Fissuren erzählen, so fährt Kaunda in ihrem Vor42
K ä Mana, L’Afrique va-t-elle mourir? Essay d’éthique politique, Paris 1991, 65. Mutale Mulenga K aunda, Keynote Speech Presented at the Conference of the Council for World Mission and Evangelism Arusha, 8.3.2018, online abrufbar unter: https:// www.oikoumene.org/en/mission2018/documents-related-to-the-conference (letzter Zugriff am 2.4.2019; M. N.). 43
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trag fort, die die Zuhörenden nicht unberührt lassen, sondern ‚transformieren‘: „speaker and listener are both active“44. Einheit von den Stories her zu denken, meint den Impuls, Abschied zu nehmen von universalisierenden Einheitsvorstellungen und sich in den Zwischenraum des Erzählens und Zuhörens zu begeben. Dipesh Chakrabarty, der Mitbegründer der subaltern studies, macht deutlich, welche Provokation in dem Modell des story-telling und Zuhörens gerade auch für den Einheitsdiskurs in der Ökumene liegt und welches Umdenken dies impliziert: „ [T]he subaltern can teach us to give up control – which amounts to nothing less than a new way of knowing the truth: ‚To go to the subaltern in order to learn to be radically ‚fragmentary‘ and ‚episodic‘ is to move away from the monomania of the imagination that operates within the gesture that the knowing, judging, willing subject always already knows what is good for everybody, ahead of any investigation‘“45.
Das Aufgeben von Kontrolle über das Wissen und die Einsicht in die eigene Fragmenthaftigkeit bedeutet aber nicht, dass wir bei den bloßen Partikularismen stehenbleiben müssen. Vielmehr öffnet es den Raum dafür, Einheit auf anderen Ebenen wahrzunehmen, zu suchen und voranzubringen.
7. Einheit von der Praxis her denken Einheit von der Praxis her zu denken, hat eine lange ökumenische Tradition. In jüngerer Zeit hat sie unter anderem zur Einrichtung des Global Christian Forums (GCF) geführt. Anders als der ÖRK versteht sich das GFC nicht als Gemeinschaft von Kirchen, sondern als ‚open space‘, also als eine etwas unverbindlicher anmutende Plattform, auf der sich Vertreter und Vertreterinnen aus der Vielfalt christlicher Kirchen und Organisationen in gegenseitigem Respekt begegnen und voneinander lernen wollen. Daneben findet die ökumenische Arbeit auf lokaler und regionaler Ebene weiterhin große Anerkennung. So urteilt etwa Wesley Grandberg-Michaelson auf einer ökumenischen Konferenz zur Zukunft der Ökumene im 21. Jahrhundert im Jahr 2005: „[F]resh ecumenical experiments tend to be found on the periphery of established structures and institutions“46. Gerade auf der von Grandberg-Michaelson angesprochenen Ebene der Peripherie, also der lokalen und regionalen Ökumene, findet ähnlich wie beim storytelling ein Austausch, ein Verständnis und vielleicht auch das manchmal nur den 44 Ebd.
45 Dipesh Chakrabarty, Radical Histories and Question of Enlightenment Rationalism, in: Mapping Subaltern Studies and the Postcolonial, hg. v. V. Chaturverdi, London 2000, 256–280, hier 275. 46 Wesley Granberg-Michaelson, The Future of Ecumenism in the 21st Century, 21.10.2005, Symposium hosted by His Holiness, Aram I., online abrufbar unter: http://www. oikoumene.org/resources/documents/the-future-of-ecumenism-in-the-21st-century (letzter Zugriff am 20.1.2019; C. J.).
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Augenblick wie ein Einbruch der Ewigkeit (Søren Kierkegaard) berührendes Bewusstsein einer ‚Einheit‘ statt,47 das sich nicht in propositionalen Aussagen formulieren lässt, sondern das eher ein implizites Wissen im Sinne des Philosophen Michael Polanyi ist. „In diesem Licht betrachtet“, so resümiert etwas weniger mystisch Andreas Nehring, der den Ansatz des impliziten Wissens auf die Ökumene übertragen hat, „sind für die Ökumene in erster Linie nicht der Dialog und die Lehrgespräche, sondern die kohärenzstiftende Bedeutung von konkreten, in gemeinsamer Praxis situativ geteilten Handlungen geltend zu machen“48.
8. Plädoyer für eine vernakular-kosmopolitische Ökumene Vernakular-kosmopolitische Ökumene ist ein Oxymoron. Es verbindet zwei, in diesem Fall drei Worte, die – wie ‚beredtes Schweigen‘ oder ‚alter Knabe‘ – einander offensichtlich widersprechen. ‚Vernakular‘ meint einen regional begrenzten Bereich mit einer vernakularen Sprache, also einer Sprache, die nur Menschen sprechen, die aus dieser Gegend kommen. Im Konzept des Vernakularen Kosmopolitanismus bezieht sich ‚vernakular‘ explizit auf das für die kosmopolitischen Eliten unbequeme Wissen an den Rändern der Gesellschaft, auf die Erfahrungen derer, die nicht zufrieden sind mit dem Leben in einer globalisierten Welt – also auf differentes und darin auch widerständiges Wissen. ‚Kosmopolitisch‘ und ‚Ökumene‘ hingegen bezeichnen einen die eigenen kulturellen, konfessionellen oder religiösen Grenzen überschreitenden Raum. Darüber hinaus meint es die in der Kosmopolitanismus-Debatte skizzierte Frage nach dem, was Menschen verbindet und zusammenhält. Der Begriff vernakular-kosmopolitische Ökumene beschreibt, so meine ich, Dynamiken, die gegenwärtig in der Ökumene deutlich wahrnehmbar sind: die Bemühungen um eine Dezentrierung Europas und darum, westliche epistemologische Konzepte durch das Einspeisen vernakularer Geschichten in den globalen Diskurs zu hinterfragen. Gleichzeitig haben sich in diese Geschichten längst schon globale Denk- und Handlungsmuster eingeschrieben. Es wäre unterkomplex, eine absolute Differenz vernakularer Geschichten und vernakularen Wissens zu konstatieren. Denn die verschiedenen Differenzen überlappen sich ebenso, wie sich auch verbindende Aspekte darin erkennen lassen. Eine der zentralen Fragen der Ökumene heute ist daher auch weniger die Frage der Einheit an sich, sondern die der Deutungsmacht und der handelnden, 47 Vgl.
326 f.
Søren Kierkegaard, Der Augenblick (Gesammelte Werke 34), Düsseldorf 1959,
48 Andreas Nehring, Partikularismus und Universalismus in der Ökumene und die Bedeutung interkultureller Begegnung, in: Dein Reich komme in aller Welt. Interkulturelle Perspektiven auf das Reich Gottes/Your Kingdom Come. Visions of the Kingdom of God, hg. v. C. Jahnel/H .‑H. Schneider, Erlangen 2015, 83–116, hier 109.
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bevollmächtigten, aber auch der bevollmächtigenden Akteure. Die Debatte um den Vernakularen Kosmopolitanismus, aber auch Sennetts ‚dunkler‘ Kosmopolitanismus legen nahe, die Gegenüberstellung von Partikularem und Universalem, von konkreten, lokalen oder konfessionellen christlichen Identitäten einerseits und ‚kanonischen‘ Kirchen oder global-kosmopolitischer ökumenischer Gemeinschaft andererseits aufzugeben. Stattdessen gilt es, das Gemeinsame und Verbindende im Vernakularen, in Fissuren und Brüchen und in dem zu suchen, was different in dem Sinne ist, dass es uns ganz und gar nicht gleichgültig – indifferent – lassen kann. Entsprechend ruft die Mission-from-the-MarginsGroup von Arusha dazu auf, Orte zu betreten, an denen sich Gleichgültigkeit in Ungleichgültigkeit niederschlägt: „Wir bestehen darauf, dass der Ort der Begegnung zwischen Menschen das Zentrum von Mission ist; er ist Gottes Raum. Er ist der Ort des Herzens – das Zentrum unseres Lebens, der Ort, an dem verwandelnde Nachfolge geschieht. Wir wollen nicht dafür plädieren, dies oder jenes zu tun, sondern dafür, dass wir einander zuhören und hören, dass Gottes Stimme zu uns allen spricht. Wir werden daran erinnert, dass die Mächte Jesus kontinuierlich an den Rand geschoben haben, während er sie kontinuierlich eingeladen hat. Die Ränder sind das Herz der Dinge, der Ort, an dem Herzensangelegenheiten Bedeutung haben. An den Rändern findet manchmal eine heilige Unterbrechung statt. Propheten haben in der Wildnis Visionen erfahren. […] Die Ränder sind Räume voller Gnade und Orte, die verwandeln.“49
49 Mission from the Margins Working Group, Moving in the Spirit – Called to Transforming Discipleship. Theological Reflections from the Margins, in: Resource Book. Conference on World Mission and Evangelism. Moving in the Spirit: Called to Transforming Discipleship, 8–13 March 2018, Arusha, Tanzania, hg. v. J. Keum, Genf 2018, 50–61, hier 50 f (Übers.; C. J.).
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IV. Überschreitungen der Ökumenischen Theologie
Fraktale und Ökumene Eine Theorie religiöser Vielfalt Perry Schmidt-Leukel Heinrich Döring, dem engagierten Ökumeniker, zum 87. Geburtstag Vor genau 25 Jahren erschien bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft das Buch Fraktale und Chaos.1 Chaostheorie war damals ‚in‘. Aus dem Buch wurde ein kleiner Bestseller, der mehrere Neuauflagen erlebte. Wenn der Titel meines Beitrags, Fraktale und Ökumene, Anklänge an diesen Buchtitel erweckt, so sind diese durchaus gewollt. Allerdings soll damit nicht etwa nahegelegt werden, dass ich den Zustand der Ökumene als ein Chaos betrachte. Der Clou der Chaostheorie lag ja gerade darin, dass man mithilfe der fraktalen Geometrie, chaotische Phänomene besser verstehen lernte und diese sogar geometrisch und mathematisch abbilden konnte. Das heißt, die fraktale Theorie zeigt, dass das Chaos eigentlich gar nicht völlig chaotisch ist, sondern durchaus innere Strukturen besitzt. Diesen Gedanken möchte ich auf das Phänomen der religiösen Vielfalt übertragen. Mit anderen Worten, auch die religiöse Vielfalt ist nicht rein chaotisch und zufällig, sondern lässt Strukturen erkennen, und zwar fraktale Strukturen.2 Und dies wiederum hat Konsequenzen für das Verständnis von Ökumene. Wenn wir heute über Ökumene diskutieren und nachdenken, dann konzentrieren wir uns zumeist auf institutionelle, kirchenrechtliche und pastorale bzw. praktisch-theologische Fragen. Wir analysieren unterschiedliche Kirchenverständnisse, rekonstruieren die Geschichte der Spaltungen und Verwerfungen und beklagen – aus je unterschiedlicher Perspektive – die Kluft zwischen Institution und Dogma auf der einen Seite und religiösem Zeitgeist und gelebter Praxis auf der anderen. Das alles ist wichtig und richtig. Doch damit wird sich mein Beitrag nicht beschäftigen. Stattdessen möchte ich den Blick auf ein sehr 1 Herbert Zeitler/ Wolfgang Neidhardt, Fraktale und Chaos. Eine Einführung, Darmstadt 1993. 2 Siehe hierzu auch: Perry Schmidt-Leukel, Eine fraktale Interpretation religiöser Vielfalt, in: Münchener Theologische Zeitschrift 69 (2018), 134–150. Zu einer Diskussion dieser Theorie aus multireligiöser und multidisziplinärer Sicht siehe: Alan R ace/Paul Knitter (Hg.), New Paths for Interreligious Theology. Perry Schmidt-Leukel’s Fractal Interpretation of Religious Diversity, Maryknoll, NY 2019.
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viel grundsätzlicheres Thema lenken, nämlich auf die Frage, was es eigentlich mit religiöser Vielfalt auf sich hat. Die Theorie, die ich hierzu vorlegen werde, hat vermutlich keine unmittelbaren Implikationen für das ökumenische Alltagsgeschäft. Aber sie kann die Perspektive, aus der heraus wir Ökumenische Theologie betreiben, bereichern und erweitern. Im Kern geht es hierbei um die Entdeckung eines profunden Zusammenhangs zwischen Ökumenischer und Interreligiöser Theologie. Ein solcher Zusammenhang wird heute gerne und häufig bestritten. Das war nicht immer so. In den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts machte das Wort von der ‚kleinen und der großen Ökumene‘ die Runde.3 Die ‚kleine Ökumene‘ bezog sich auf den Dialog der christlichen Konfessionen, die ‚große Ökumene‘ auf den Dialog der Religionen. In meinen folgenden Überlegungen wird sich zeigen, dass es zwischen diesen Dialogen so etwas wie eine wechselseitige Erhellung geben kann. Das heißt, von der großen Ökumene fällt ein neues Licht auf die kleine Ökumene und von der kleinen Ökumene können wir Einsichten gewinnen, die auch für die große Ökumene bedeutsam sind. Damit knüpfe ich zugleich an die Geschichte des Ökumenischen Instituts der Ruhr-Universität Bochum an. Denn auch dort wurde in den siebziger Jahren Ökumenische Theologie in durchaus enger Verbindung mit den Fragen einer Interkulturellen Theologie und dem benachbarten Lehrstuhl für Theologie der Religionsgeschichte betrieben.4 Diese Erinnerung an die Vergangenheit könnte eine Erinnerung an die Zukunft sein; hat sich doch das neu eröffnete Institut vorgenommen, das Zusammenleben christlicher Konfessionen im Kontext eines zunehmenden religiösen Pluralismus zu bedenken und zwar keineswegs nur mit einem westlich-europäischen, sondern vielmehr einem dezidiert global orientierten Fokus. Mein Beitrag umfasst drei Teile. In einem ersten Schritt werde ich zunächst kurz die Grundzüge fraktaler Strukturen erläutern, wie wir sie in der organischen und anorganischen Natur finden. Im zweiten Schritt werde ich zeigen, dass sich fraktale Strukturen auch in der religiösen Vielfalt entdecken lassen. Im dritten und letzten Schritt gehe ich dann auf die Konsequenzen ein, die diese Entdeckung für die Ökumenische und die Interreligiöse Theologie besitzt.
3 Siehe beispielsweise Emmanuel Jungclaussen (Hg.), Die größere Ökumene. Gespräch um Friedrich Heiler, Regensburg 1970. Vgl. auch Perry Schmidt-Leukel, Die ‚große Ökumene‘. Erinnerung an eine uneingelöste Vision, in: Wege und Welten der Religionen. Forschungen und Vermittlungen (FS U. Tworuschka), hg. v. J. Court/M . Klöcker, Frankfurt a. M. 2009, 515–522. 4 Vgl. Konrad R aiser, Ökumene unterwegs zwischen Kirche und Welt. Erinnerungsbericht über dreißig Jahre im Dienst der ökumenischen Bewegung (Ökumenische Studien 42), Berlin 2013, 235 f.
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1. Fraktale in der anorganischen und organischen Natur Die Begriffe ‚fraktal‘ und ‚Fraktale‘ wurden 1975 von dem Mathematiker Benoît Mandelbrot (1924–2010) eingeführt. Als ‚Fraktale‘ bezeichnet Mandelbrot bestimmte Muster, Strukturen oder Formen, die sich durch eine strenge oder auch weniger strenge Selbstreplikation über verschiedene Skalen hinweg auszeichnen. Das heißt, die gesamte Struktur repliziert sich entweder auf strikte oder doch zumindest ähnliche Weise in ihren Teilelementen.5 Selbstreplikation und Skaleninvarianz sind also die beiden zentralen Charakteristika von Fraktalen. Ein bekanntes Beispiel für eine fraktale geometrische Form mit strikter Selbstreplikation ist das sogenannte ‚Sierpinski-Dreieck‘. Dieses Dreieck setzt sich aus drei kleineren Dreiecken zusammen, die in sich wiederum dieselbe Struktur enthalten, das heißt, die wiederum aus denselben drei Dreiecken zusammengesetzt sind und so weiter. Nach Mandelbrot finden sich fraktale Strukturen mit weniger strikten und stärker irregulären Formen der Selbstähnlichkeit sowohl in einer Reihe von anorganischen als auch organischen Naturphänomenen. Mandelbrot wählte den Begriff ‚fraktal‘, weil er ihm gerade für die irregulären Formen der Selbstreplikation in natürlichen Phänomenen als besonders passend erschien. „Aus dem lateinischen Adjektiv fractus habe ich Fraktal geprägt. Das entsprechende lateinische Verb frangere bedeutet ‚zerbrechen: unregelmäßige Bruchstücke erzeugen‘. Es ist deshalb vernünftig – und für uns sehr geeignet! –, daß fractus neben ‚in Stücke zerbrochen‘ (wie in Fraktion oder Refraktion) auch noch ‚irregulär‘ meint. Beide Bedeutungen sind in Fragment enthalten.“6
Ein prominentes Beispiel solch irregulärer bzw. weniger strikter Selbstähnlichkeit sind Küstenlinien. Wenn man in eine ausgefranste Küstenlinie quasi hinein zoomt, also immer kleinere Ausschnitte betrachtet, dann stellt man insofern eine Selbstähnlichkeit fest, als sich in den Ausschnitten dieselben Strukturmomente wiederholen: das heißt, Linien mit Buchten, Fjorden, Spitzen, Zungen und so weiter. Andere bekannte Phänomene aus der anorganischen Natur sind gewisse Felsformationen oder Eiskristalle. Sie setzen sich aus kleineren Segmenten zusammen, die eine ähnliche Struktur, wenn auch in irregulärer Form besitzen. Als letztes Beispiel möchte ich die Struktur von Wellen bzw. ihrer Schaumkronen nennen, wie sie auf besonders eindrucksvolle Weise in dem bekannten Holzschnitt von Hokusai (1760–1849) Die große Welle künstlerisch dargestellt wurde. Ein bekanntes Beispiel aus der organischen Natur ist der Blumenkohl. Er setzt sich aus verschiedenen kleinen Blumenkohlröschen zusammen, von denen jede in ihrer Struktur dem Blumenkohl-Kopf insgesamt gleicht. Eine besonders 5 Vgl. Benoît B. Mandelbrot, Die fraktale Geometrie der Natur, übers. v. R. Zähle/ U. Zähle, Basel 1991, 13. 6 Ebd.
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schön anzusehende Variante ist der Romanesco, ein naher Verwandter des Blumenkohls. Fraktale Strukturen finden sich auch in vielen Baumarten oder Farnblättern. Auch hier wiederholt sich in den kleineren Komponenten die Struktur des Ganzen. Angesichts der starken Verbreitung fraktaler Phänomene betont Mandelbrot „die Effektivität und ‚Natürlichkeit‘ des fraktalen Zugangs. Man sollte ihm nicht nur keinen Widerstand leisten, sondern sich sogar wundern, so lange ohne ihn ausgekommen zu sein.“7 Seine Theorie fasst Mandelbrot in der These zusammen: „Die Geometrie der Natur hat ein fraktales Gesicht.“8 Es scheint, als hätten die großen Religionen beizeiten bereits ein gewisses Bewusstsein hinsichtlich der fraktalen Struktur unserer Welt besessen. Denn in ihnen allen finden wir immer wieder die Idee einer Parallelität zwischen Mikround Makrokosmos, also die Idee, dass sich gewisse Grundzüge der Struktur des Makrokosmos in seinen einzelnen Teilelementen wiederholen. So heißt es beispielsweise im Sufismus: „Das Universum ist ein großer Mensch und der Mensch ein kleines Universum.“9 Und im Christentum kennen wir die verbreitete, wohl auf Augustinus zurückgehende Vorstellung vom Abbild der Trinität in der menschlichen Seele. Im Spätmittelalter gab Heymeric de Campo (1395–1460) der verbreiteten Auffassung, dass die gesamte Welt triadisch strukturiert sei, mit seinem bekannten ‚Siegel der Ewigkeit‘ (sigillum aeternitatis) einen herrlich fraktalen Ausdruck.10 Das Bild erinnert zugleich sehr deutlich an ähnliche Versuche aus dem Hinduismus wie insbesondere das berühmte sog. Śrī Yantra oder Śrī Cakra. Die neun einander überschneidenden Dreiecke dieses Yantras besitzen eine vielschichtige symbolische Bedeutung, die jedoch um das mikromakrokosmische fraktale Grundschema kreist. Beispielsweise repräsentieren sie Erde, Luft und Sonne, die sich in Körper, Atem und Bewusstsein widerspiegeln und zu weiteren Dreiergruppen in Parallele gesetzt werden.11 Die irreguläre, aber eindeutig fraktale Struktur ist offensichtlich. Auch wenn in den Religionen somit ein Bewusstsein für die fraktale Replikation größerer Strukturen in ihren kleineren Elementen vorhanden war, so haben sie dieses Bewusstsein, soweit es mir bekannt ist, nicht auf den Bereich der religiösen Vielfalt ausgedehnt. Doch auch in Kultur und Religion lassen sich fraktale Muster erkennen. 7
Ebd., 15.
8 Ebd. 9
Titus Burckhardt, Introduction to Sufi Doctrine, Bloomington, IN 2008, 65. Lioba Geis, Das ‚Siegel der Ewigkeit‘ als Universalsymbol. Diagrammatik bei Heymericus de Campo (1395–1460), in: Vom Bild zur Erkenntnis. Visualisierungskonzepte in den Wissenschaften (Studien des Aachener Kompetenzzentrums für Wissenschaftsgeschichte 1), hg. v. D. Gross/S . Westermann, Kassel 2007, 131–147; Christel Meier-Staubach, Die Quadratur des Kreises, in: Die Bildwelt der Diagramme Joachims von Fiore. Zur Medialität religiös-politischer Programme im Mittelalter, hg. v. A. Patschovsky, Ostfildern 2003, 23–53. 11 Vgl. Subash K ak, The Great Goddess Lalitā and the Śrī Cakra, in: Brahmavidyā. The Adyar Library Bulletin 72–73 (2008–2009), 155–172, online abrufbar unter: http://ikashmir. net/subhashkak/docs/SriChakra.pdf (letzter Zugriff am 8.1.2019; P. S.‑L.). 10 Vgl.
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2. Fraktale Strukturen in der religiösen Vielfalt Seit mehreren Jahrzehnten verdankt die interkulturelle Philosophie wesentliche Denkanstöße dem Schweizer Philosophen Elmar Holenstein. Holenstein, der an den Universitäten von Bochum, Zürich, Tokyo und Hongkong gelehrt hat, stützt seine Überlegungen primär auf vergleichende Untersuchungen westlicher und östlicher Kulturen. Nach seinen Beobachtungen lassen sich „Strukturen, die in einer Kultur sehr stark ausgeprägt sind, […] (mindestens ansatzweise) in (nahezu allen) anderen Kulturen ebenfalls finden.“12 Eines seiner Beispiele ist die große Vielfalt unterschiedlicher Höflichkeitsformen innerhalb der japanischen Sprache. Redewendungen, die verschiedene Formen der Höflichkeit ausdrücken, gibt es in allen Sprachen, doch sind sie scheinbar nirgendwo so stark ausgeprägt wie im Japanischen.13 Es wäre jedoch irreführend, wollte man annehmen, dass ein bestimmtes Charakteristikum – oder ein Cluster bestimmter Charakteristika – ausschließlich in nur einer Sprache oder Kultur anzutreffen sei. Kulturelle Differenzen, so Holenstein, basieren vielmehr darauf, dass unterschiedliche Charakteristika in den verschiedenen Kulturen jeweils in unterschiedlicher Rangordnung und in unterschiedlicher Ausprägung anzutreffen sind.14 Das heißt, die Variationsbreite zwischen den Kulturen spiegelt sich zugleich auch innerhalb der Kulturen und sogar innerhalb eines einzelnen Individuums wider.15 „In Wirklichkeit findet man häufig dieselben Gegensätze, die man zwischen zwei Kulturen (interkulturell) festhalten zu können glaubt, der Art wie dem Grad nach auch innerhalb ein und derselben Kultur (intrakulturell), ja auch innerhalb ein und derselben Person (intrasubjektiv), in Abhängigkeit von Lebensalter, Umgebung, Aufgabenstellung oder auch nur Laune und Stimmung.“16
Mit dieser wichtigen These unterscheidet Holenstein drei Ebenen der Vielfalt: (1) die ‚interkulturelle Ebene‘, das heißt, die Ebene globaler kultureller Vielfalt; (2) die ‚intrakulturelle Ebene‘, das heißt, die Vielfalt innerhalb einer jeden Kultur; (3) die ‚intrasubjektive Ebene‘, das heißt, die Vielfalt innerhalb des mentalen Kosmos einzelner Personen. Damit bringt Holenstein zum Ausdruck, dass sich die verschiedenen Muster kultureller Vielfalt auf diesen drei Ebenen oder Skalen replizieren. Die kulturelle Vielfalt auf der globalen Ebene spiegelt sich wider in der Vielfalt innerhalb einer jeden Kultur und beides wiederum reflektiert sich, bis zu einem gewissen Grad, auf der noch kleineren Ebene in12 Elmar Holenstein, Menschliches Selbstverständnis. Ichbewußtsein – Intersubjektive Verantwortung – Interkulturelle Verständigung, Frankfurt a. M. 1985, 133. 13 Vgl. ebd. 14 Vgl. ebd., 137 ff. 15 Vgl. ebd., 149 ff. 16 Elmar Holenstein, Ein Dutzend Daumenregeln zur Vermeidung interkultureller Missverständnisse, in: Polylog online 4 (2003), 46, online abrufbar unter: https://them.polylog. org/4/ahe-de.htm (letzter Zugriff am 8.1.2019; P. S.‑L.).
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dividueller Personen. Daher verwirft Holenstein die Vorstellung einer radikalen Kulturverschiedenheit zugunsten des Modells zahlreicher Variationen identischer oder zumindest ähnlicher Charakteristika, die von weitreichenden strukturellen Analogien begleitet sind. Dies ist, auch wenn Holenstein selbst diesen Begriff nicht verwendet, der Sache nach eine fraktale Interpretation kultureller Vielfalt. Holensteins Beobachtungen gelten jedoch nicht allein für die Kultur, sondern umfassen auch den Bereich der Religion. Daher lässt sich im Ausgang von den drei von Holenstein benannten Ebenen nun die Kernthese einer fraktalen Interpretation religiöser Vielfalt folgendermaßen formulieren: Die Vielfalt der Religionen auf der interreligiösen Ebene repliziert sich intrareligiös in jener Vielfalt, die sich innerhalb einer jeden großen religiösen Tradition findet, und zeigt sich ansatzweise auch auf der intrasubjektiven Ebene, insofern das Individuum in Geist und Psyche zu vielfältigen Formen des religiösen Glaubens und Lebens disponiert ist, die sich diachron im Laufe einer religiösen Biographie oder auch synchron in der Form hybrider Religiosität manifestieren können. Was die ersten beiden Ebenen betrifft, so lässt sich die These leicht anhand einer Typologie illustrieren, die Julia Ching (1934–2001) und Hans Küng im Rückgriff auf Nathan Söderblom (1866–1931) und Friedrich Heiler (1892–1967) entwickelt haben. Söderblom und Heiler teilten die sogenannten ‚Weltreligionen‘ in zwei Haupttypen ein: prophetische und mystische Religionen. Ching und Küng machten daraus eine dreigliedrige Klassifikation, indem sie prophetische, mystische und weisheitliche Religionen voneinander unterscheiden. Die prophetischen Religionen, Judentum, Christentum und Islam, sind semitischen Ursprungs; die mystischen Religionen des Hinduismus und Buddhismus stammen aus Indien und bei den weisheitlichen Religionen handelt es sich um die chinesischen Religionen des Daoismus und Konfuzianismus. Nach Ching und Küng zeichnet sich jeder dieser drei Religionstypen durch ein unterschiedliches religiöses Leitbild aus: der Prophet, der Mystiker und der Weise. Ching und Küng versehen ihre Klassifikation jedoch mit einer wichtigen Modifikation. Demzufolge enthalten prophetische Religionen auch gewisse Elemente und Charakteristika der mystischen und weisheitlichen Religionen. Mystische Religionen enthalten wiederum Elemente und Charakteristika der prophetischen und weisheitlichen Religionen. Und weisheitliche Religionen enthalten schließlich auch prophetische und mystische Elemente und Züge.17 Erstaunlicherweise haben Ching und Küng dieser auffälligen Beobachtung damals keine größere Beachtung geschenkt. An ihr zeigt sich allerdings, dass der religiösen Vielfalt, wenn man sie auf diese Weise beschreibt, eine fraktale Struk17 Vgl. Hans Küng/Julia Ching, Christentum und Weltreligionen. Chinesische Religion, München 1999, 15 f.
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tur zugrunde liegt. Die Vielfalt prophetischer, mystischer und weisheitlicher Religionstypen repliziert sich in der Form einer religionsinternen Vielfalt, bei der die Elemente des Prophetischen, Mystischen und Weisheitlichen wiederkehren. Das Muster dieser Struktur entspricht den Fraktalen vom Typ der PoincaréKetten: In einer Kette von Kreisen enthält jeder Kreis in sich auch die Merkmale der anderen Kreise. Einige Vertreter der Religionsphänomenologie hatten bereits ähnliche Beobachtungen gemacht. So unterschied beispielsweise der Religionswissenschaftler und Theologe Hilko Wiardo Schomerus (1879–1945) vier Hauptformen von Religion: (1) ‚Gesetzesreligionen‘; (2) ‚magisch-sakramentale‘ bzw. mystische Religionen; (3) ‚gnostische‘ bzw. weisheitliche Religionen und (4) Religionen, die primär durch devotionale Frömmigkeit geprägt sind.18 Zugleich jedoch stellte Schomerus fest, dass es „Religionsgebilde“ gibt, in denen sich nicht nur einer dieser Haupttypen, sondern „alle vier nachweisen lassen, und zwar in mannigfaltiger Mischung“,19 auch wenn einer der vier Typen häufig einen dominierenden Einfluss ausübt. So kommt Schomerus einer fraktalen Interpretation sehr nahe, wenn er schreibt: „Die Religion an sich hypostasiert sich in einigen wenigen Haupttypen, die immer wiederkehren und sich überall in ähnlicher Weise entfalten, überall verwandte Formen und Gebilde hervorrufen.“20 Eine fraktale Interpretation religiöser Vielfalt beinhaltet demnach, dass es eine strukturelle Korrespondenz gibt zwischen der interreligiösen Vielfalt, also der Vielfalt des religiösen Lebens auf der Erde, und der innerreligiösen Vielfalt, das heißt, der Vielfalt, die wir innerhalb einer jeden größeren Religion finden. Wie aber steht es um die dritte, noch kleinere Ebene des religiösen Individuums? Auch hier, so meine ich, finden wir die Strukturmomente religiöser Vielfalt wieder. Kommen wir noch einmal auf die Typologie von Ching und Küng zurück. Es lässt sich beispielsweise durchaus vorstellen, dass ein Mensch im Laufe seines Lebens alle drei Typen von Religiosität durchläuft, also etwa mit einer prophetischen Religiosität beginnt, sich zu einer mystischen entwickelt und schließlich bei einer weisheitlichen endet. Wir können uns aber auch vorstellen, dass Elemente aller drei Typen in einer Person gleichzeitig koexistieren. Diesbezüglich sind wir keineswegs nur auf Spekulationen angewiesen. Vielmehr bestätigen religionspsychologische Studien solche Veränderungen von Religiosität im Lebenslauf.21 Doch nicht nur diachron, sondern auch synchron kann das Individuum unterschiedliche Typen von Religion manifestieren. Erste empirische Untersuchungen zu multireligiöser oder hybrider Religiosität zeigen, 18 Vgl.
Hilko W. Schomerus, Parallelen zum Christentum als religionsgeschichtliches und theologisches Problem, Gütersloh 1932. 19 Ebd., 22. 20 Ebd., 26. 21 Vgl. Gerhard Büttner/Veit-Jakobus Dieterich (Hg.), Die religiöse Entwicklung des Menschen. Ein Grundkurs, Stuttgart 2000.
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dass Menschen in der Lage sind, zwischen zwei Religionen bzw. Religionsformen in einer Art innerem Dialog zu oszillieren.22 Die These, dass sich in der religiösen Vielfalt über die genannten drei Ebenen hinweg fraktale Muster zeigen, hängt nicht an einer bestimmten Typologie, also etwa an der von Ching und Küng oder der von Schomerus. Vielmehr vermute ich, dass jede Form der Typologisierung religiöser Vielfalt zur Feststellung fraktaler Korrespondenzen führt. Solche Typologisierungen können bei unterschiedlichen Formen religiöser Erfahrung ansetzen oder bei Unterschieden der religiösen Praxis oder bei Unterschieden in den Glaubensvorstellungen. Beispielsweise haben in den letzten Jahren mehrere Theologen, die sich seit langem intensiv mit religiöser Vielfalt auseinandersetzen, eine enge Korrespondenz zwischen bestimmten Formen der religiösen Erfahrung und den diesen korrespondierenden Transzendenzvorstellungen beschrieben. So unterscheidet etwa John Cobb kosmische, akosmische und theistische Religionen.23 Jeder dieser drei Religions-Typen korreliert mit einer spezifischen Vorstellung von letzter Wirklichkeit und einem dementsprechenden Set an religiösen Erfahrungen. Das heißt, in kosmischen Religionen, wie beispielsweise im Daoismus oder in den Religionen der amerikanischen Indianer, wird die letzte Wirklichkeit als die heilige Natur des Kosmos selbst verstanden. Dem entsprechen Erfahrungen, die „eine solche Art der Verbundenheit mit dem Kosmos oder der Verwandtschaft mit anderen Geschöpfen“ bezeugen, „wie wir sie aus der gewöhnlichen Erfahrung nicht kennen“.24 Als Beispiele akosmischer Religionen nennt Cobb den Mahāyāna-Buddhismus und den hinduistischen Advaita-Vedānta. Dem mahāyāna-buddhistischen Konzept der ‚Leerheit‘ (śūnyatā) und der advaita-vedāntischen Idee vom ‚Brahman ohne Eigenschaften‘ (nirguṇa brahman) entsprechen Erfahrungen wie das „Gewahrwerden einer ‚Tiefe‘, die von allen Besonderheiten der normalen Erfahrung frei ist“25 oder auch die der Befreiung von allen vordergründigen Einschränkungen, einer Offenheit für das Wirkliche jenseits begrifflicher Barrieren. Den theistischen Konzepten letzter Wirklichkeit entsprechen schließlich Erfahrungen wie die der Gegenwart einer Person, zu der wir in Verbindung stehen, die uns leitet, uns zu einem Leben in Gerechtigkeit und Liebe aufruft und uns von Schuld befreit.26 22 Vgl. Rose Drew, Christliches Selbstverständnis und die Frage der doppelten Religionszugehörigkeit, in: Buddhismus im Westen. Ein Dialog zwischen Religion und Wissenschaft (Religionen im Dialog 6), hg. v. C. Roloff et al., Münster 2011, 109–122; Mira Niculescu, I the Jew, I the Buddhist. Multi-Religious Belonging as Inner Dialogue, in: Crosscurrents 62 (2012), 350–359. 23 Für eine Zusammenfassung der religionstheologischen Position Cobbs siehe David R. Griffin, John Cobb’s Whiteheadian Complementary Pluralism, in: ders. (Hg.), Deep Religious Pluralism, Louisville, KY 2005, 39–66. 24 John B. Cobb, Transforming Christiantiy and the World. A Way Beyond Absolutism and Relativism (Faith Meets Faith), hg. v. P. Knitter, Maryknoll, NY 1999, 117 (Übers.; P. S.‑L.). 25 Ebd., 118. 26 Vgl. ebd.
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Man beachte jedoch, dass Cobb bereits bei der Benennung seiner primären Beispiele selektiv vorgeht. Das heißt, er spricht nicht vom Buddhismus insgesamt, sondern nur von einer bestimmten Form des Buddhismus, nämlich dem Mahāyāna-Buddhismus, der in sich selbst wiederum äußerst vielfältig ist. Er benennt auch nicht den Hinduismus als ganzen, sondern nur den Advaita-Vedānta, womit bereits eingeräumt ist, dass der Hinduismus auch viele andere Typen von Religion enthält. In der Tat führt Cobb selbst explizit aus, dass „sich mehr als nur ein einziger dieser Typen in den meisten großen religiösen Traditionen finden lässt.“27 Das heißt, Cobb verwendet seine Typologie, um damit sowohl Unterschiede zwischen Religionen als auch unterschiedliche Ausprägungen innerhalb jeder dieser Religionen zu bestimmen. Mit anderen Worten, Cobb wendet der Sache nach eine fraktale Interpretation religiöser Vielfalt an. Die fraktalen Strukturen, wie sie sich in der religiösen Vielfalt identifizieren lassen, folgen jedoch nicht dem Muster einer strengen geometrischen Selbstreplikation wie im Fall des Sierpinski-Dreiecks. Wesentlich naheliegender scheint mir diesbezüglich der Vergleich mit Küstenlinien. Die großen Religionen unterscheiden sich voneinander, so wie es Buchten, Halbinseln, Fjorde oder Landzungen tun. Doch wenn man die Küstenlinie einer Halbinsel vergrößert, dann zeigen sich auch in ihr kleinere und größere Buchten, fjordähnliche Einschnitte oder herausstehende Spitzen. Ähnliches gilt für jede der genannten Küsten-Typen. In der Natur gibt es nirgendwo zwei exakt identische Phänomene. Das gilt auch für die Religionen. Eine fraktale Theorie religiöser Vielfalt leugnet daher nicht die individuelle Besonderheit jedes einzelnen religiösen Phänomens. Aber sie bestreitet deren absolute Inkommensurabilität. Das heißt, trotz aller Unterschiede im Detail lassen sich häufig analoge Muster und Strukturen in immer neuen Variationen erkennen. Zudem scheinen sich fraktale Strukturen religiöser Vielfalt im Laufe der Zeit weiter zu verästeln – so wie einem älter werdenden Baum neue Äste wachsen, die ihrerseits neue Zweige austreiben. Dabei bleiben die Verzweigungen jedoch dem Grundmuster erkennbar treu, auch wenn sie dieses Muster beständig variieren. In diesem Sinn hat Peter Antes einmal über die konfessionelle Vielfalt des Christentums gesagt: Natürlich gibt es nach wie vor all die unterschiedlichen Formen von Christsein, wie sie sich in den Konfessionen ausgebildet haben. Aber inzwischen gibt es diese Formen vor allem in den jeweiligen Konfessionen, sodass man die Leute eigentlich wieder neu auf die verschiedenen Kirchen verteilen müsste.28 Mit anderen Worten, jene unterschiedlichen Glaubensvorstellungen und die mit ihnen verknüpften Formen religiöser Erfahrung und Praxis, mittels derer wir die christlichen Konfessionen charakterisieren und voneinander unterscheiden, haben sich in gewisser Weise auch innerhalb dieser Konfessionen 27
Ebd., 121. wiederholt referiert von Peter Antes in seinen Vorträgen; bestätigt in einer persönlichen Mail von Peter Antes vom 14.7.2018. 28 So
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wieder ausgebildet, wenn auch in neuen Varianten. Letztendlich müssen wir vermutlich sogar dem Wort von Wilfred Cantwell Smith zustimmen, wonach es in der Welt ebenso viele Religionen gibt wie Menschen.29 Damit bin ich bereits bei meinem dritten und letzten Punkt, der Bedeutung einer fraktalen Interpretation religiöser Vielfalt für den Zusammenhang von Interreligiöser und Ökumenischer Theologie.
3. Ökumenische und Interreligiöse Theologie Halten wir zunächst nochmals fest: Eine fraktale Interpretation religiöser Vielfalt setzt etwas voraus, was in der heutigen Religionswissenschaft völlig unbestritten ist. Religionen sind keine homogenen Blöcke. Es gibt nicht den Islam, das Judentum, den Hinduismus, den Buddhismus oder das Christentum. In interreligiösen Dialogen hat sich diese Einsicht jedoch noch lange nicht herumgesprochen und erst recht nicht in unseren Medien. Da wird vielfach immer noch so getan, als gäbe es so etwas wie die jüdische, die islamische, die christliche usw. Position. Christlichen Ökumenikern ist es natürlich seit Langem bewusst, dass es das Christentum nur als „kumulative Tradition“30 von höchst vielfältigen und nicht selten heterogenen ekklesialen Manifestationen gibt. Doch auch jede der christlichen Kirchen und Gemeinschaften ist selbst wiederum in sich weitaus weniger homogen, als wir es uns oft vormachen. Zudem unterliegen solche Subgemeinschaften ebenfalls einem beständigen historischen Wandel. Die Behauptung fraktaler Strukturen setzt diese Einsicht in die enorme intrareligiöse Vielfalt voraus, geht jedoch noch einen wesentlichen Schritt weiter, indem sie vertritt, dass es signifikante Korrespondenzen gibt hinsichtlich der Unterschiede zwischen den großen religiösen Traditionen und den Unterschieden, die zwischen den einzelnen Manifestationen innerhalb dieser Traditionen bestehen. Nehmen wir als Beispiel die typologischen Merkmale, mittels derer wir gewöhnlich Buddhismus und Christentum voneinander unterscheiden.31 Das Christentum, so heißt es, hat eine personale Gottesvorstellung, der Buddhismus hingegen eine impersonale Transzendenzvorstellung; die christliche Spiritualität ist weltzugewandt, die buddhistische weltflüchtig; dem Christentum geht es um Liebe, dem Buddhismus um Anhaftungslosigkeit; das Christentum lehrt die Erlösung aus Gnade, der Buddhismus die Erlösung aus eigener Kraft; die 29 „[T]here are as many religions in the world as there are people.“ (Wilfried C. Smith, The Meaning and End of Religion, New York, NY 1978, 233, Anm. 120). 30 So der Begriff, den W. C. Smith eingeführt hat, um einem reifizierenden Verständnis von ‚Religionen‘ vorzubeugen. Vgl. ebd. 31 Für eine ausführliche Darstellung der im Folgenden genannten Gesichtspunkte siehe: Perry Schmidt-Leukel, To See a World in a Flower. A Fractal Interpretation of the Relation Between Buddhism and Christianity (zweisprachige Ausgabe), Peking 2019.
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zentrale Figur des Buddhismus ist ein erleuchteter Lehrer, die zentrale Figur des Christentums eine göttliche Inkarnation und so weiter. Wenn wir uns jedoch die innere Vielgestaltigkeit von Christentum und Buddhismus näher ansehen, dann werden wir bald erkennen, dass sich dieselben Unterscheidungsmuster auch innerhalb beider Religionen aufzeigen lassen. Mit anderen Worten, auch innerhalb des Christentums finden wir Transzendenzvorstellungen, in denen das personale Element deutlich zugunsten impersonaler Vorstellungen zurücktritt, wie etwa in der einflussreichen Vorstellung von Gott als dem ‚Sein selbst‘ (esse tantum) oder als dem Gottesgrund hinter seinen Manifestationen als Vater, Sohn und Geist. Umgekehrt gibt es breite Stränge im Buddhismus, bei denen die Vorstellung personaler, überweltlicher Buddhas und Bodhisattvas gegenüber den impersonalen Transzendenzkonzepten in den Vordergrund tritt. In diesem Zusammenhang ist es erwähnenswert, dass gemäß neuerer soziologischer Erhebungen unter den Christen in Deutschland die Zahl jener, die an eine impersonale göttliche Wirklichkeit oder Kraft glauben, signifikant höher ist als die Zahl von denjenigen, die ein klassisches theistisches Gottesbild haben.32 Umgekehrt hat eine Untersuchung in Thailand festgestellt, dass dort 40 Prozent der befragten Buddhisten die Erfahrung der letzten Wirklichkeit als die Erfahrung eines personalen Gegenübers bezeugen.33 Ähnliches lässt sich auch über die anderen genannten Unterscheidungsmerkmale sagen. Auch im Christentum gab und gibt es immer wieder Stränge einer eher weltflüchtigen Spiritualität sowie das Wissen um den Wert des Nicht-Anhaftens an der Welt. Besonders im frühen, apokalyptisch geprägten Christentum war diese Form der Spiritualität sogar dominant. In Teilen der monastischen und asketischen Traditionen hat sie sich bis heute erhalten. Umgekehrt kennt auch der Buddhismus eine Spiritualität der weltzugewandten Liebe, wie sie besonders im Zusammenhang mit dem Bodhisattva-Ideal kultiviert wurde und heute ihren deutlichen Ausdruck in Bewegungen wie der des ‚Engagierten Buddhismus‘ findet. Der Buddha, das heißt, der ‚Erwachte‘, wird schon in frühen buddhistischen Texten nicht nur als erleuchteter Lehrer, sondern zugleich auch als eine Verkörperung der ewigen Wahrheit und der letzten Wirklichkeit des Nirvāṇas verehrt. Und die Vorstellung, dass der Buddha die Inkarnation eines überweltlichen Buddhas ist und dieser wiederum die Inkarnation der unbegreifbaren letzten Wirklichkeit, findet im Mahāyāna-Buddhismus weite Verbreitung.34 Umgekehrt können wir feststellen, dass es in den Evangelien keinen Titel gibt, der so häufig auf Jesus angewendet wird wie der Titel ‚Lehrer‘ (διδάσκαλος), 32 Vgl.
Detlef Pollack/Gergely Rosta, Religion in der Moderne. Ein internationaler Vergleich (Religion und Moderne 1), Frankfurt a. M. 2015, 133–137. 33 Vgl. Bertelsmann Stiftung (Hg.), Woran glaubt die Welt? Analysen und Kommentare zum Religionsmonitor 2008, Gütersloh 2009, 236. 34 Vgl. Perry Schmidt-Leukel, Buddhismus verstehen. Geschichte und Ideenwelt einer ungewöhnlichen Religion, übers. v. H.‑G. Türstig, Gütersloh 2017, 207–215.
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nämlich insgesamt einundvierzigmal.35 Im zweiten Jahrhundert verstand man im frühen Christentum die Rolle Jesu sogar primär als die eines Lehrers der Wahrheit. Dementsprechend galt die Erlösung als ein Prozess des Wachstums im Verstehen letzter Wahrheit.36 Auch der Unterschied zwischen Erlösung aus Selbstkraft und Erlösung aus Fremdkraft findet sich in beiden religiösen Traditionen. Im Buddhismus hat der Glaube an die Erlösung aus Gnade vor allem in Gestalt der Tradition des ShinBuddhismus’ (Reines Land-Buddhismus) einen besonders starken Ausdruck gefunden.37 Als die Jesuitenmissionare im 16. Jahrhundert nach Japan kamen und dort diese Form des Buddhismus kennenlernten, berichtete der Missionsobere Alessandro Valignano (1539–1606) nach Europa: „Sie [d. h. die Reines Land-Buddhisten; P. S.‑L.] haben in Wirklichkeit dieselbe Doktrin, die der Teufel, der Urheber von beidem, dem Luther eingab. […] Möge dies doch den elenden Häretikern unserer Tage zum Anlass werden, ihre eigene Blindheit, verführt von ihrer eigenen Lehre, zu erkennen, indem sie sehen, dass der Teufel und seine Diener die gleiche Lehre dem japanischen Heidentum eingegeben haben. Es gibt hier keinen Unterschied mit Ausnahme des Namens der Person, an die sie glauben und der sie vertrauen.“38
Im zwanzigsten Jahrhundert kam Karl Barth (1886–1968) im § 17 seiner Kirchlichen Dogmatik ebenfalls auf diese erstaunliche Parallele zu sprechen. Er deutet sie freilich nicht als ein Zeichen dafür, dass die reformatorische Lehre vom Teufel stammt, sondern schreibt sie der Vorsehung Gottes zu: „Es darf wohl als eine geradezu providentielle Fügung bezeichnet werden, dass die, soweit ich sehe, genaueste, umfassendste und einleuchtendste ‚heidnische‘ Parallele zum Christentum, eine Religionsbildung im fernen Osten in Parallelität nicht etwa zum römischen oder griechischen Katholizismus, sondern nun ausgerechnet gerade zu der 35 Vgl. Rüdiger Feulner, Christus Magister. Gnoseologisch-didaktische Erlösungsparadigmen in der Kirchengeschichte der Frühzeit und des Mittelalters bis zum Beginn der Reformation mit einem theologiegeschichtlichen Ausblick in die Neuzeit (orientalia – patristica – oecumenica 11), Wien 2016, 14. 36 Vgl. ebd., 15; vgl. auch John N. D. Kelly, Early Christian Doctrines, London 51977, 163–170. 37 Vgl. Schmidt-Leukel, Buddhismus verstehen, 287–293 (wie Anm. 34). 38 Vgl. den Wortlaut des Originals in: Alessandro Valignano S. I., Historia del Principio y Progresso de la Compañía de Jesús en las Indias Orientales (1542–1564), hg. v. J. Wicki S. I., Rom 1944, 161 (Übers.; P. S.‑L.). Valignano war nicht der erste, der den Vergleich zwischen Shin-Buddhismus und Luther angestellt hatte. Valignanos Vorgänger als Oberer der Jesuitenmission in Japan, Pater Franciscus Cabralis, schrieb bereits 1571 über die Jōdoshin-shū, diese sei „hier das, was die lutherische [Sekte; P. S.-L] in Europa ist: denn sie sagen, es brauche zur Seligkeit weiter nichts, als den einzigen Namen des Amida, und man füge seinen vortrefflichen und dem menschlichen Geschlechte heilbringenden Verdiensten eine Unbild zu, wenn man glaubt, die Werke der Tugend, und eines jeden eigenes Bestreben sey noch über dieß hiezu nothwendig.“ Zitiert bei Hans Haas, ‚Amida Buddha unsere Zuflucht‘. Urkunden zum Verständnis des japanischen Sukhāvatī-Buddhismus, Göttingen 1910, 6.
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reformatorischen Gestalt des Christentums steht und also das Christentum gerade in seiner Form als konsequente Gnadenreligion vor die Frage nach seiner Wahrheit stellt.“39
Barth zögert natürlich nicht, auf diese Frage seine eigene Antwort zu geben. Und diese lautet: „Die christlich-protestantische Gnadenreligion ist nicht darum die wahre Religion, weil sie eine Gnadenreligion ist. Wäre dem so, dann müsste dasselbe […] billigerweise auch vom Jodoismus gelten, und warum […] dann […] nicht auch gleich von einer Reihe von anderen Religionen […], denen die Gnade unter allerlei Titeln und in allerlei Zusammenhängen auch keine ganz fremde Größe ist? Entscheidend über Wahrheit und Lüge ist wirklich nur Eines. Und darum ist die Existenz des Jodoismus eine providentielle Fügung zu nennen, weil er das mit relativ größter Dringlichkeit so deutlich macht, dass über Wahrheit und Lüge zwischen den Religionen nur Eines entscheidet. Dieses Eine ist der Name Jesus Christus.“40
Mit anderen Worten, Gott hat in seiner Vorsehung den Shin-Buddhismus hervorgebracht, um zu verdeutlichen, dass die Wahrheit des Christentums nicht in irgendwelchen Inhalten besteht – auch und besonders nicht in der Betonung der Erlösung aus Gnade und Glaube –, sondern allein im formal korrekten Namen. Barth macht dies ganz unmissverständlich klar, indem er fortfährt, der Unterschied zwischen ‚Wahrheit und Lüge‘ bestehe ausschließlich „in dem einen Namen Jesus Christus und sonst in gar nichts […]. Wirklich in der ganzen formalen Simplizität dieses Namens als des Inbegriffs der göttlichen Offenbarungswirklichkeit, die ganz allein die Wahrheit unserer Religion ausmacht! Also nicht in ihrer mehr oder weniger ausgeprägten Struktur als Gnadenreligion, also nicht in der reformatorischen Lehre von der Erbsünde, von der stellvertretenden Genugtuung, von der Rechtfertigung allein durch den Glauben, von der Gabe des Heiligen Geistes und von der Dankbarkeit. Das alles können die Heiden […] auch lehren und sogar in ihrer Weise leben und als Kirche darstellen, ohne darum weniger Heiden, arme, gänzlich verlorene Heiden zu sein. […] Der christliche Protestantismus ist insofern die wahre Religion, als die Reformation Erinnerung war an die in diesem Namen beschlossene Gnade und Wahrheit und als diese Erinnerung in ihm wirksam ist.“41
An diesem Beispiel wird nun unmittelbar deutlich, dass es einen engen Zusammenhang gibt zwischen der Beurteilung interreligiöser Vielfalt und intrareligiöser Vielfalt. Während Barth in den innerchristlichen Kontroversen die Frage nach dem Gnadencharakter sehr wohl als unterscheidend und vor allem als wahrheitsentscheidend betrachtet, ändert er seine Strategie in dem Moment, als er realisiert, dass ihn dies dazu zwingen würde, auch eine bestimmte Ausprägung des Buddhismus für wahr zu halten. Folglich verfällt er auf den Gedanken, den Unterschied zwischen ‚Wahrheit und Lüge‘ nun allein an das Kriterium des 39
K arl Barth, Die Kirchliche Dogmatik. Bd. I,2, Zollikon-Zürich 51960, 372. Ebd., 376 (Herv. i. O.). Als ‚Jodoismus‘ bezeichnet Barth die Jōdoshin-shū, eine sich auf Shinran (1173–1263) beziehende japanische Schule des Reines Land-Buddhismus. 41 Ebd. 40
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Namens ‚Jesus Christus‘ zu binden, ohne Rücksicht auf die Person des Namensträgers oder die mit dem Namen verbundene inhaltliche Deutung. Die Wahrheit bestehe allein „in der ganzen formalen Simplizität dieses Namens“42. Doch genau das lässt er freilich gegenüber römischen Katholiken und Orthodoxen nicht gelten, die sich ja ebenfalls zu diesem Namen bekennen. Es geht mir hier nicht um die hochgradig widersprüchlichen Aussagen Barths.43 Ich möchte damit lediglich den engen Zusammenhang verdeutlichen, der zwischen einer Theologie der interreligiösen und einer Theologie der intrareligiösen Vielfalt besteht. Genau das aber ist es, was die fraktale Interpretation der religiösen Vielfalt impliziert. Da sich die Unterscheidungsmuster auf der interreligiösen und der intrareligiösen Ebene wiederholen, besteht zwischen Ökumenischer Theologie und Interreligiöser Theologie weitaus mehr Kontinuität, als man es gemeinhin erwartet. Ökumenische Theologie bemüht sich um eine theologische Interpretation der intrareligiösen Vielfalt; Interreligiöse Theologie strebt nach einer Deutung der interreligiösen Vielfalt. Die fraktale Korrespondenz in den Mustern zwischen beiden Ebenen der Vielfalt begründet den engen sachlichen Zusammenhang von Ökumenischer und Interreligiöser Theologie. Ökumenische und Interreligiöse Theologie zeichnen sich zudem dadurch aus, dass sie der Vielfalt innerhalb und unter den Religionen einen positiven Sinn abgewinnen wollen. Im Unterschied zu Barth glauben ihre Protagonisten nicht daran, dass Wahrheit nur an eine bestimmte Manifestation des Christentums gebunden ist und erst recht nicht, dass die befreiende Wahrheit an der Exklusivität eines Namens hängt, der noch dazu in seiner „ganzen formalen Simplizität“44 jeglichen Inhalts entkleidet wird. Demgegenüber rechnen Ökumenische und Interreligiöse Theologie mit der Möglichkeit, dass sich Wahrheit – göttliche Wahrheit – unter uns Menschen in vielfältiger Form bezeugt und manifestiert. Das heißt jedoch wiederum nicht, dass Vielfalt immer gut wäre. Es gibt auch eine Vielfalt von Übeln. In diesem Fall macht die Vielfalt das Übel keineswegs besser, sondern noch schlechter. Dass es eine Vielfalt tödlicher Krankheiten gibt, macht diese nicht besser. Und dass die Menschheit eine Vielfalt von Foltermethoden entwickelt hat, macht Folter nicht zu einem höheren Kulturgut. Aber es gibt auch das Schöne und das Gute in großer Vielfalt und in diesem Fall erhöht die Vielfalt den Wert. Warum sollte dies nicht auch für das Heilige bzw. für die Wahrheit der Gotteserkenntnis und des menschlichen Gottesverhältnisses gelten? Die Entdeckung fraktaler Muster in den Strukturen religiöser Vielfalt 42 Ebd.
43 Siehe dazu Perry Schmidt-Leukel, Theologie der Religionen. Probleme, Optionen, Argumente (Beiträge zur Fundamentaltheologie und Religionsphilosophie 1), Neuried 1997, 131–144. 44 Barth, Dogmatik, 376 (wie Anm. 39).
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kann der Theologie bei der Aufgabe helfen, Wahrheit in Vielfalt zu denken.45 Denn es geht nun um die Erforschung der inneren Gründe für die Ausprägung der wiederkehrenden Muster: Warum wird die letzte Wirklichkeit sowohl auf personale als auch auf impersonale Weise vorgestellt und warum kann sie auf beiderlei Weise erfahren werden? Ist es denkbar, dass beide Formen Wahrheit vermitteln? Welche Gültigkeit liegt in einer Spiritualität des Nicht-Anhaftens und welche in einer Spiritualität selbstloser Liebe? In welchem Sinn ist das Heil reines Geschenk und in welchem Sinn erfordert es unseren ganzen Einsatz ‚von ganzem Herzen und ganzer Seele, mit ganzem Denken und ganzer Kraft‘? Wie kann Paulus in höchst paradoxer Weise die Gültigkeit sowohl von Selbstkraft als auch von Fremdkraft behaupten, wenn er schreibt: „[S]chaffet, dass ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern. Denn Gott ist’s, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen“ (Phil 2,12 f; Lutherbibel 2017)? Mit anderen Worten, eine fraktale Interpretation religiöser Vielfalt drängt die Ökumenische und die Interreligiöse Theologie dazu, über die mögliche innere Komplementarität konträrer Formen von religiöser Vorstellung, Erfahrung und Praxis nachzudenken. Ich meine, dass der lange theologische Reflexionsprozess, der schließlich zur Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre geführt hat, hierfür ein ausgezeichnetes Beispiel darstellt. Denn er hat gezeigt, dass die Aussagen der reformatorischen und römisch-katholischen Theologen nicht notwendig als unversöhnliche Gegensätze interpretiert werden müssen, sondern dass man sie auch als Ausdruck einer spannungsreichen Komplementarität lesen kann. Meines Erachtens sollten wir eine ähnliche hermeneutische Sorgfalt und ein ähnliches hermeneutisches Wohlwollen auch auf die Unterschiede zwischen den Religionen anwenden. Die Erkenntnis einer Parallelität zwischen der innerchristlichen und der interreligiösen Vielfalt gibt uns dazu einen guten Anlass. Sie wird uns helfen, den Wert der Vielfalt – interreligiös und intrareligiös – besser zu erkennen und zu würdigen. Nur dann können wir mit Vielfalt in einer uns alle, also keineswegs nur uns Christen, spirituell bereichernden wie herausfordernden Weise umgehen.
45 Vgl. Perry Schmidt-Leukel, Wahrheit in Vielfalt. Vom religiösen Pluralismus zur interreligiösen Theologie, übers. v. M. Ottermann, Gütersloh 2019.
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Komparative Theologie zwischen Text und Ritual1 Marianne Moyaert 1. Einleitung Die Komparative Theologie entstand aus einer gemeinsamen Debatte mit der Religionstheologie, einer theologischen Disziplin, die sich im Zeitraum des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965) entwickelte und sich unversehens zu einem der anspruchsvollsten, kreativsten und konstruktivsten Felder der Theologie entwickelte. Den Ausgangspunkt hat folgende Kernfrage gebildet: Wie lässt sich die überwältigende Vielfalt der Religionen aus einer christlichtheologischen Perspektive sinnvoll verstehen? Von Brisanz in der damaligen theologischen Debatte waren vor allem lehrmäßige Fragen bezüglich der Soteriologie (‚Können Nicht-Christen erlöst werden und wenn ja, wie?‘), der Christologie (‚Ist Jesus Christus der alleinige und einzige Heiland?‘) und der Offenbarungstheologie (‚Sind Offenbarungsmomente auch in anderen Religionen zu finden?‘). Die auf diesen und anderen Fragen basierenden theologischen Diskussionen brachten die heutzutage wohlbekannten Modelle des Exklusivismus, des Inklusivismus und des Pluralismus hervor. Die in der Religionstheologie geführten theologischen Streitgespräche wa ren sehr intensiv, zum Teil sogar hitzig. Diese Diskussionen sind deshalb so umkämpft, weil sie am Herzstück des christlichen Selbstverständnisses rühren. Dennoch hat die zunehmende Intensität von interreligiösen Begegnungen in den letzten Jahren den Blickpunkt der theologischen Disziplin verschoben. Einige in interreligiösen Gesprächen sehr sachkundige Theologinnen äußern ein wachsendes Unbehagen darüber, wie die christlichen Lehrfragen im interreligiösen Dialog den Ton angeben und dessen Grenzen definieren. Ihrer Meinung nach wird versäumt, das Selbstverständnis der anderen, nicht-christlichen Religionen zugehörigen Personen, also ihrer Dialogpartner und -partnerinnen, angemessen zu adressieren. Manchmal heißt es sogar, Religionstheologen seien so sehr damit beschäftigt gewesen, den Anderen zu theologisieren, dass sie die Vielfalt anderer religiöser Traditionen nicht zur Genüge zur Kenntnis genommen haben. Auch wenn die Kritik, Religionstheologien seien ein intra-christlicher und kein interreligiöser Dialog gewesen, vielleicht etwas übertrieben ist, scheint ihr doch ein Körnchen Wahrheit innezuwohnen. Es ist häufig so, dass das theologische Inte1 Der vorliegende Text wurde von Henriette Hufgard aus dem Englischen ins Deutsche übertragen.
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resse, das für die Komplexität der christlichen Tradition aufgebracht wird, nicht in gleicher Intensität für die Vielschichtigkeit anderer Religionen entwickelt wird. Anders ausgedrückt weckte die nuancierte Komplexität fremder religiöser Traditionen nicht in gleichem Maße das Interesse der Theologie, wie es die Vielfältigkeit der christlichen Tradition tut.2 Die Kritik fährt damit fort, Religionstheologen würden sich dessen ‚schuldig‘ machen, ‚apriorische theologische Allgemeinplätze‘ über andere Religionen auszusprechen, die deren historischkulturell verflochtener und ausdifferenzierter Realität nicht gerecht werden. Auch wenn immer Ausnahmen bestehen, werden Religionssysteme allzu oft als ahistorische Gegebenheiten und als getrennt vom Chaos der Lebensrealität präsentiert. Paul Knitter, der häufig Bilder einbringt, um ein vorliegendes Problem zu erfassen, äußert dazu Folgendes: „Die heutigen Theologen, wie sie an ihren großen Theorien und Religionstheologien arbeiten, lassen sich ausgezeichnet mit Lehnstuhl-Anthropologen vergleichen, die atemberaubende Schemata vom Aufbau anderer Kulturen erstellen, ohne diese auch nur ein einziges Mal besucht zu haben.“3
Als würde es Sinn ergeben, über Buddhismus, Judentum oder sogar Hinduismus so zu sprechen. Peter Feldmeier verdeutlicht das Problem anhand zweier Beispiele und einer Frage: „Ohne den Hinduismus studiert zu haben, behauptete Hans Urs von Balthasar, die christliche Kontemplation sei transzendent orientiert, während die hinduistische Meditation lediglich immanent orientiert sei. John Hick argumentierte, dass der Ewige Dao, der Brahmane, die christliche Trinität und das Nirwana alles verschiedene Namen für dieselbe transzendente Wirklichkeit seien. Wie kann man behaupten, Buddhisten und Christen folgten demselben Erlösungsplan, wenn eine Vielzahl buddhistischer Traditionen sich nicht einmal untereinander in diesem Punkt einig ist.“4
Komparative Theologinnen haben insbesondere gegenüber der Bedeutsamkeit und Aussagekraft der Religionstheologie schwere Bedenken geäußert, und zwar hauptsächlich deswegen, weil sie in viel zu generalisierender Weise über andere Religionen und deren Traditionen spricht.5 Die Argumentationslinie lautet 2 Vgl. Catherine Cornille, Rezension: James Fredericks, Faith Among Faiths. Christian Religion and Non-Christian Religions, in: Buddhist-Christian Studies 21 (2001), 130–132, hier 131. 3 Paul F. Knitter, Introducing Theologies of Religions, Maryknoll, NY 2002, 204 (Übers.; H. H.). 4 Peter Feldmeier, Is the Theology of Religions an Exhausted Project, in: Horizons 35 (2008), 253–270, hier 255 f (Übers.; H. H.). 5 Die Beziehung zwischen Komparativer Theologie und der Theologie der Religionen kann eher als komplementär denn als antagonistisch charakterisiert werden. Die meisten Vertreterinnen einer Theologie der Religionen engagieren sich im interreligiösen Dialog und entwickeln theologische Konzepte, während sie gleichzeitig für die Eigenheiten der Religionen achtsam bleiben. Gleichzeitig entwickeln Vertreter Komparativer Theologie auch allgemeinere theologische Konzepte hinsichtlich der Beziehung des Christentums zu anderen Religionen.
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wie folgt: Wenn man unter theologischen Gesichtspunkten die Sinnhaftigkeit anderer religiöser Traditionen mit Blick auf das Christentum und umgekehrt ergründen will, müsste man folgerichtig zunächst möglichst viele detaillierte Daten über den Untersuchungsgegenstand, also andere Religionen sammeln. Anstatt all seine wissenschaftlichen Energien darauf zu verwenden, große theologische Erzählungen zu entwerfen, wäre es zweckmäßiger, diejenigen Traditionen, die man theologisch diskutieren möchte, zunächst aufmerksam zu untersuchen. Man muss bedenken, dass viele dieser Traditionen sehr alt, zum Teil sogar älter als das Christentum sind. Da sie in den unterschiedlichsten historischen und kulturellen Kontexten praktiziert werden, scheint es für Theologen durchaus sinnvoller, sich auf eine einzige weitere Tradition zu konzentrieren, anstatt zu versuchen, etwas Gehaltvolles über alle zugleich auszusagen. Theologisches Reflektieren und Urteilen, das auf unsichere oder verzerrte Erkenntnisse von einer fremden Tradition gründet, bringt (nur) schlechte Theologie hervor. Von diesem Standpunkt aus argumentieren Theologinnen für einen neuartigen theologischen Ansatz, der komparativ vorgeht und „einen Großteil [seiner] Energien unmittelbar für die Erforschung der Materialien anderer einsetzt“6. In gewisser Weise ist das gar keine so revolutionäre Forderung. Letztlich erwarten wir auch von jemandem, der sich theologisch mit der sogenannten ‚Migrationskrise‘ auseinandersetzt, dass er sich auf konkrete Fakten und Zahlen bezieht. Ebenso fordert man von jemandem, der Theologie zum Thema der ‚ökologischen Krise‘ betreibt, dass er im wissenschaftlichen Diskurs über die Erderwärmung, den Klimawandel und das Anthropozän bewandert ist. Und von theologischen Ethikern ist es legitim zu erwarten, dass sie keine radikalen Aussagen über Euthanasie treffen, ohne tatsächlich einen Einblick in das wissenschaftlich komplex beschreibbare Ausmaß menschlichen Leidens und Sterbens zu haben. Das bedeutet nicht, dass die Theologie einfach die Erkenntnisse anderer Forscherinnen duplizieren soll; es heißt vielmehr, dass sie ihre theologischen Überlegungen ausgehend von vielschichtigen und komplexen Datensätzen entfalten soll. Komparative Theologen verlangen entsprechend, dass der theologische Diskurs, um sich in irgendeiner Weise fortzuentwickeln, durch einen intensiven Kontakt mit anderen Traditionen aufgebrochen werden muss. Wie es Francis Clooney umfassend ausgedrückt hat: „[Es bedarf ] einer neuen Ära, deren existenzieller Bestandteil es ist, die Stimmen der religiösen Anderen Einige von ihnen fordern jedoch ein Moratorium für die Theologie der Religionen. Siehe hierzu James L. Fredericks, Faith Among Faiths. Christian Theology and Non-Christian Religions, New York, NY 1999. Vermutlich möchten sie damit zum Ausdruck bringen, dass Theologinnen dabei zurückhaltend sein sollten, „zu versuchen für die großen Narrative der Anderen zu werben.“ (James L. Fredericks, Buddhists and Christians. Through Comparative Theology to Solidarity, Maryknoll, NY 2004, 28). 6 Kristin B. Kiblinger, Relating Theology of Religions and Comparative Theology, in: The New Comparative Theology. Interreligious Insights from the Next Generation, hg. v. F. X. Clooney, London 2010, 21–43, hier 25 (Übers.; H. H.).
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zu hören, um überhaupt eine glaubwürdige Unterhaltung über Religionen beginnen zu können.“7 Komparative Theologinnen animieren dazu, genauer hinzusehen, wenn es um das komplexe (und häufig intern nochmals ausdifferenzierte) Selbstverständnis anderer Religionen geht, indem man sich einer sorgfältigen Lektüre ihrer religiösen Texte und Kommentare widmet. Wenn Theologie als ein ‚Glaube, der nach Einsicht sucht‘, zu verstehen ist, und eine ihrer gegenwärtig zentralen Fragen lautet, wie der christliche Glaube angesichts der Vielzahl von Religionen zu verstehen ist, sollte man als Theologe nicht nach den Selbstbeschreibungen der anderen fragen? Man nehme die Behauptung ernst, dass Religion als solche nicht existiert, sondern immer nur als in jeweils spezifischen Traditionen eingebettetes Phänomen auftritt, welches in sich aufgrund historischer Veränderungen, kultureller Unterschiede und laufender intellektueller Auseinandersetzungen über die verschiedensten Fragen vielfältig verfasst ist. Sollte man dann nicht ebenfalls davon Abstand nehmen, generalisierende Aussagen über Religion und religiöse Pluralität zu treffen, sowie auch davon, über den Buddhismus, das Judentum, den Hinduismus usw. auf diese generalisierende Weise zu sprechen? Wenn man eine Theologie entwickeln möchte, die nicht nur dem christlichen Selbstverständnis gerecht wird, sondern auch das Selbstverständnis anderer Traditionen anerkennt, sollte man nicht dabei ansetzen, diese Traditionen in ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit zu verstehen? Sollte man nicht gerade auf diese komplexen, oft auch intern nochmals vielfältigen Selbstverständnisse anderer Traditionen ein besonderes Augenmerk lenken? Das bedeutet Komparativen Theologen zufolge nicht, dass man aufhören sollte, theologische Fragen zu stellen, die sich nach dem Kern der christlichen Tradition(en) richten. Es heißt, dass man sich von der Vorstellung verabschieden muss, in naher Zukunft eine allumfassende Systematische Theologie aufstellen zu können, und es heißt zu akzeptieren, dass der theologische Prozess des ‚Glaubens, der nach Einsicht sucht‘, mannigfaltige vergleichende Konversationen miteinschließt, die – jede für sich – neue Einsichten in eine Tradition gewähren.8 Wie James Fredericks es ausdrückt: „Komparative Theologie zu betreiben bedeutet, sich in die Welt eines Andersgläubigen hineinzubegeben und die Wahrheiten kennenzulernen, die dessen Leben beseelen. Theologie komparativ zu verfolgen, heißt auch, durch diese Wahrheiten verändert in das 7 Francis X. Clooney, Theology, Dialogue and the Religious Others, in: Religious Studies Review 29 (2009), 319–327, hier 320 (Übers.; H. H.). 8 Vgl. Michelle V. Roberts, Introduction. A Place for Comparative Theology in Christian Systematic Reflection, in: Comparing Faithfully. Insights for Systematic Theological Reflections, hg. v. ders., New York, NY 2016, 1–22, hier 14; Catherine Cornille, The Problem of Choice in Comparative Theology, in: How to Do Comparative Theology (Comparative Theology. Thinking Across Traditions), hg. v. F. X. Clooney/K . von Stosch, New York, NY 2018, 19−36, hier 33.
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Christentum zurückzukehren und nun in der Lage zu sein, Fragen an den christlichen Glauben und seine Bedeutung für das heutige Leben zu richten.“9
Bevor ich weiter voranschreite, möchte ich das Verhältnis von Religionstheologie und Komparativer Theologie thematisieren. Wie bereits erwähnt, entwickelte sich die Komparative Theorie aus einer Kritik am religionstheologischen Ansatz und dessen Tendenz, eher theologisch über die Anderen zu sprechen, als sich tiefgründig mit ihnen und ihrer Tradition auseinanderzusetzen. Die Komparativen Theologinnen glaubten fest daran und tun es immer noch, dass jedwede Religionstheorie notwendig auf einem intensiven intertraditionellen Lernprozess fußen muss. Ausgehend von der verfügbaren wissenschaftlichen Literatur ist mein Eindruck dennoch derjenige, dass heutzutage die meisten (Komparativen) Theologen die beiden Ansätze einander nicht gegenüberstellen würden. Vielmehr plädieren sie für eine ergänzende Beziehung zwischen den beiden.10 Letztendlich gründet alle Arbeit Komparativer Theologen auf einer gewissen Form von Religionstheologie. Daher wäre es logisch, sie auch ausdrücklich zum Teil der komparativen theologischen Forschung zu erklären und die eigenen treuhänderischen Interessen eines solchen vergleichenden Projekts so aufzudecken, dass sie Teil des wissenschaftlichen Diskurses werden. So schreibt auch Kristin Kiblinger: „Wenn man sich zu seiner eigenen theologischen Befangenheit gegenüber dem Anderen im Vorhinein bekennt – so weit es eben möglich ist, sich ihrer bewusst zu werden – und sich vorsichtig, nicht dogmatisch an sie herantastet, ist man besser dazu in der Lage, sich der Fallen gewahr zu werden, bei denen der eigene Blickwinkel die Interpretation verfälschen würde, und sie entsprechend zu korrigieren. Sich zu der eigenen Theologie im Voraus zu bekennen, ist denjenigen gegenüber, die Teil der Tradition sind, respektvoller. Die eigenen Ziele und Standpunkte offenzulegen, mag dabei helfen, eine verbesserte Kooperation mit dem Anderen zu fördern, was für einen Komparatisten oder eine Komparatistin mit hoher Wahrscheinlichkeit vonnöten ist.“11
Des Weiteren sollten Komparative Theologinnen nicht nur dazu in der Lage sein, theologische Gründe für die Vergleiche zu liefern. Sie sollten ebenso fähig sein, (vorläufige) Antworten auf das zu formulieren, wonach sich mit diesem oder jenem Vergleich ihr theologisches Streben richtet und inwiefern die komparative Auseinandersetzung mit Anderen für den religionstheologischen Diskurs relevant ist. In der Tat ist es genau das, was bereits passiert.12 Die derzeitige, sich immer weiter vertiefende Auseinandersetzung mit Andersgläubigen hat 9
Fredericks, Buddhists and Christians, XII (wie Anm. 5; Übers.; H. H.). Zu nennen sind hier Kristin B. Kiblinger, Stephen J. Duffy, Marianne Moyaert, D’Costa, Hugh Nicholson. 11 Kiblinger, Relating, 31 (wie Anm. 6; Übers.; H. H.). 12 Vgl. David Cheetham, Rezension: James Fredericks, Faith Among Faiths. Christian Theology and Non-Christian Religions, in: Reviews in Religion and Theology 7 (2000), 358–360, hier 359. 10
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viele Theologen für religiöse Vielfalt sensibilisiert und sie wachsam bezüglich verallgemeinernder Aussagen über andere Traditionen und deren Anhängerinnen gemacht. Anstelle sich für ein ‚Moratorium‘ einzusetzen – wie es manche Komparative Theologen in der Vergangenheit zu tun pflegten –, ist es aus intellektueller Sicht wohl angemessener, den religionstheologischen Ansatz (verstanden als theologische Aussagen, die über den Anderen getroffen werden) um eine Komparative Theologie (verstanden als theologische Aussagen, die vom Standpunkt des Anderen aus formuliert werden) zu ergänzen. Das letzte Wort in dieser Sache überlasse ich Clooney: „Angesichts der Vielzahl von Wissenschaftlern, die sich der Religionstheologie widmen, wäre es nicht unvernünftig, dafür zu plädieren, dass sich einige mehr der Komparativen Theologie zuwenden, um spezifisches Lernen über spezifische Traditionen zur Sprache zu bringen. So sollte man auf lange Sicht in der Lage sein, sich darauf zu einigen, dass die Religionstheologie und die Komparative Theologie einander widerspiegeln und einander bedingen, ja, sich sogar gegenseitig voranbringen. Wenn man die Komparative Theologie und die Religionstheologie eng beisammen hält – in der Praxis, bezogen auf Erwartungshorizonte – werden sie ihre jeweiligen verborgenen Schwächen gegenseitig aufdecken und abmildern.“13
Wie betreibt man Komparative Theologie? Im Normalfall beginnt man in der Komparativen Theologie damit, Texte zu untersuchen, und zwar biblische Texte und heilige Schriften, die kanonisiert wurden, sowie Kommentare zu diesen Texten – sowohl philosophische als auch theologische und mythische Abhandlungen. Vor einem komparativen Hintergrund führt eine solche Annahme zu einer Herangehensweise des Querlesens, die manchmal auch als ‚Zwischenlesen‘ bezeichnet wird. Komparative Theologinnen lesen, überdenken und vergleichen die religiösen Schriften zweier Traditionen und ergründen, ausgehend von diesem sorgfältigen Hin-und-Her in der Lektüre der verschiedenen religiösen Texte, wie neue Fragen und theologische Einsichten zutage treten.14 Im Bemühen darum, das Hineininterpretieren zu vermeiden, beispielsweise wenn man die eigenen Vorannahmen auf einen fremden Text projiziert, widmen sich Komparative Theologen einer gewissenhaften Lesart (close reading). Das bedeutet, den entsprechenden Textausschnitt in seinen größeren literarischen Zusammenhang einzubetten, um ihn in seinen historischen und kulturellen Ursprüngen zu kontextualisieren; es heißt, sein literarisches Genre miteinzubeziehen, genauso wie seine Rezeptions- und seine Wirkungsgeschichte. Normalerweise nimmt man auch auf verschiedene Kommentare Bezug, auf die verschiedensten Übersetzungen, und erhofft sich Orientierungshilfen von 13 Francis X. Clooney, Response, in: ders. (Hg.), Comparative Theology, 191–200, hier 196 (Übers.; H. H.) (wie Anm. 6). 14 Vgl. Emma O’Donnell, Methodological Considerations on the Role of Experience in Comparative Theology, in: Clooney/Stosch (Hg.), Comparative Theology, 259–270, hier 259 (wie Anm. 8).
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Gelehrten innerhalb der schriftlichen Tradition, welche untersucht werden soll. Diese gewissenhafte Lesart ist ein höchst anspruchsvoller geistiger Vorgang. Sie erfordert eine Vielzahl kritischer Kompetenzen, wie zum Beispiel das Erlernen einer Sprache, aber auch kulturwissenschaftliche, linguistische und geschichtliche Kenntnisse und Fähigkeiten. In diesem Sinne kann man die kritische Arbeit der Komparativen Theologie auch als eine Form von Textexegese betrachten, die sich in ähnlicher Weise diverser kritischer Methoden bedient und zum Beispiel die Literaturkritik und eine historisch-kritische Herangehensweise anwendet. Wie bei jeder tiefergehenden Auseinandersetzung ist die Grundvoraussetzung für jedes komparativ-theologische Vorhaben eine gewissenhafte, wissenschaftliche Arbeitsweise: Diese ist als langsam und geduldig zu bezeichnen. Ein solch sorgfältiges Wissenschaftsverständnis ist Teil des theologischen Projekts. Wie Clooney erläutert, ist die Komparative Theologie eine fides quaerens intellectum. Die komparative Theologin untersucht ihre eigene Tradition und die der Anderen, um insgesamt ein besseres Verständnis zu erlangen. Zugleich bleibt die Bestrebung, durch diese verbesserte Einsicht auch zu einem klareren Verständnis der eigenen Tradition zu kommen, bestehen. Hier kann erneut auf Fredericks’ Definition verwiesen werden: „Komparative Theologie zu betreiben bedeutet [entsprechend], sich in die Welt eines Andersgläubigen hineinzubegeben und die Wahrheiten kennenzulernen, die dessen Leben beseelen. Theologie komparativ zu verfolgen, heißt auch, durch diese Wahrheiten verändert in das Christentum zurückzukehren und nun in der Lage zu sein, Fragen an den christlichen Glauben und seine Bedeutung für das heutige Leben zu richten.“15
Insofern folgt die Komparative Theologie in all ihrer Neuartigkeit und Kreativität einem doch recht klassischen Muster, Theologie zu betreiben. Ein Beispiel mag das Vorhaben des Auszugs und der Rückkehr – exitus-reditus – des Überquerens und des Heimkehrens sein, insofern man bereichert von den neuen Erfahrungen und Erkenntnissen, die den Blick auf die eigene Tradition herausfordern und verändern, hervorgeht und mit frischen Augen darauf zu blicken vermag. Wenn man Komparative Theologie von ihrer eigenen Tradition loslöst, trennt man sie von der Quelle ab, die sie nährt, und entzieht ihr den Urgrund ihrer Existenz. Die Herausforderung, der sich Komparative Theologinnen stellen, ist es, als eine Andere nach Hause zurückzukehren und sich von Neuem auf einen intra-religiösen Dialog darüber, was man voneinander lernen kann, einzulassen.
15
Fredericks, Buddhists and Christians, XII (wie Anm. 5; Übers.; H. H.).
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2. Warum liegt der Fokus der meisten Komparativen Theologinnen auf religiösen Schriften? Es scheint die allgemeine Übereinkunft unter Komparativen Theologen zu herrschen, dass man sich über das Lesen und Studieren der jeweiligen religiösen Texte Zugang zu den innersten Überzeugungen einer bestimmten religiösen Gemeinschaft verschaffen kann. Es gibt freilich zahlreiche Gründe, die diesen starken Fokus auf das Verschriftlichte in der Komparativen Theologie rechtfertigen und begründen. Erstens haben viele der großen Weltreligionen ihr religiöses Vermächtnis in schriftlicher Form überliefert. Einige dieser religiösen Texte, die sogenannten Klassiker, haben einen erheblichen Beitrag dazu geliefert, dass ganz spezifische religiöse Praktiken bewahrt wurden. Wie Anne Blackburn erklärt: „[D]ie für religiöse Traditionen und Glaubensgemeinschaften zentralen Texte sind – und waren schon lange – in der Welt lebendig. Diese Texte werden in Liturgien und Ritualen vorgetragen. Auf sie wird sowohl in gehobenen intellektuellen Diskursen Bezug genommen, aber sie sind auch grundlegende Mittel der Erziehung. Abgesehen davon, dass sie in religiösen Gemeinschaften zelebriert werden, formen diese Texte auch die Welt der materiellen Kultur, sie geben Anlass zur Erschaffung von Statuen und Bildwerken und dienen als Anleitung für die Konstruktion ritueller Räume und von Orten der Andacht.“16
Zweitens sind viele religiöse Texte Schriftstücke, die so verfasst wurden, dass sie die Vorstellungskraft der Leserinnen ansprechen, religiöse Gefühlsregungen in ihnen wecken und eindrückliche religiöse Erfahrungen anregen. Die Fremdartigkeit eines religiösen Textes, auch wenn er nur einen geringen Teil des großen religiösen Ganzen darstellt, beschwört die Schönheit, Lebhaftigkeit und Fülle des religiösen Lebens eines Anderen herauf. Er besitzt die Kraft, uns gerade deswegen in Bann zu schlagen, weil das von ihm Ausgedrückte, Symbolisierte und Dargestellte so grundverschieden von dem ist, wie man selbst sein (religiöses) Leben führt. Religiöse Texte sind häufig poetisch und verfügen über die Macht, das Vertraute zu durchbrechen und den Leser in das Reich des Möglichen zu geleiten. Kurz gesagt, sie zeichnen sich durch die Macht aus, neue Welten eröffnen zu können. Drittens haben religiöse Texte, wenn man sie zusammen mit Kommentaren liest, die Schlüsselstellung bei der Entfaltung theologischer Reflexionen inne.17 Hier werden die großen Fragen gestellt und überdacht: Was ist ein menschliches Wesen? Was ist der Sinn des Lebens? Was ist moralisch gut und was schlecht? Was ist Leiden und wozu dient es? Was ist unsere letzte Bestimmung?18 Die 16 Anne M. Blackburn, The Text and the World, The Cambridge Companion to Religious Studies, New York, NY 2012, 151–167, hier 151 (Übers.; H. H.). 17 Vgl. Francis X. Clooney, Comparative Theology. Deep Learning Across Religious Borders, Oxford 2010, 58. 18 Bzgl. dieser Fragen siehe Nostra Aetate 1: Decretum de ecclesiae habitudine ad religiones non-christianas/Erklärung über die Haltung der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen Nostra aetate, in: Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils. Konstitutionen, Dekrete,
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Religionen berichten in verschiedenen Erzählungen von der unergründlichen Wahrheit Gottes, der Menschheit und der Natur. Clooney zufolge kann theologisches Argumentieren, wie es in zahlreichen Religionen stattfindet, dabei helfen, Schranken zwischen Traditionen zu überbrücken: „Wenn der Glauben in vernunftvoller Weise formuliert und verteidigt wird, bieten solche logischen Folgerungen einen gemeinsamen theologischen Ausgangspunkt und machen Meinungsverschiedenheiten im religiösen Kontext möglich.“19 Wenn man theologisches Argumentieren über Glaubensinhalte für die Komparative Theologie als essenziell betrachtet, ist es augenscheinlich sinnvoll, von den Heiligen Schriften der Glaubensgemeinschaften auszugehen. Viertens ermöglicht das gemeinsame Lesen religiöser Schriften innerhalb der Glaubensgemeinschaften einen deutlicheren Einblick in die Vorgänge des religiösen Erschließens und Wahrnehmens. Entsprechend verbürgen religiöse Texte nicht nur ein gewisses Ausmaß an Stabilität, was für die Fortdauer des Glaubens und die Weiterführung einer Tradition unerlässlich ist. Sie schützen Tradition und Glauben auch vor einer zu dogmatischen Auslegung, die sich darauf versteift, nur ganz spezifische Lehrsätze miteinander zu vergleichen. Beim Lesen religiöser Texte in Kombination mit ihren zugehörigen Kommentaren kann man ein Spiel von Sedimentierung und Innovation ausmachen. Mit den Worten Clooneys’: „Die Doktrin, als Text und als Demarkation eines Theologisierungsprozesses, eröffnet einen schöpferischen Ort, der vergleichbar in die Tiefe gehen kann. Umgekehrt bewahrt das Textstudium die Theologie davor, in extrinsischer Verdoktrinalisierung zu versinken, und widersteht so der problematischen Neigung, Religionen dahingehend zu verallgemeinern, dass sie steril bleiben oder Schaden anrichten oder nur der eigenen Gemeinschaft dabei nützen, sich selbst zu vergewissern.“20
3. Was wäre der Beitrag eines ritual turn zum Vorhaben der Komparativen Theologie? Aufgrund ihres Fokus auf das vergleichende Lesen ist die Komparative Theologie innovativ und klassisch zugleich. Einerseits ist es in der Tat innovativ, ja sogar unorthodox, unter theologischen Aspekten religiöse Texte von verschiedenen Traditionen zu lesen und zu untersuchen. Es ist nochmals an die Ausgangslage zu erinnern, dass religiöse Schriften normalerweise im Gottesdienst und damit unter ‚monoreligiösen‘ Rahmenbedingungen gelesen, studiert und verwendet Erklärungen, Lateinisch-deutsche Studienausgabe (Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil 1), hg. v. P. Hünermann, Freiburg i. Br. 2004, 355–362, hier 356. 19 Francis X. Clooney, Hindu God, Christian God. How Reason Helps Break down Barriers Between Religions, New York, NY 2001, 8–9 (Übers.; H. H.). 20 Francis X. Clooney, A Catholic Comparativist’s View of Scriptural Reasoning in the Anglican Context, in: Journal of Anglican studies 11 (2013), 217–232, hier 230 (Übers.; H. H.).
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werden. Es ist für Christen – und dies gilt mutatis mutandis in gleicher Weise auch für Nicht-Christen – in keiner Weise selbstverständlich, sich überhaupt dem Studium oder gar der Lektüre fremder religiöser Texte zu widmen. Zusätzlich ist es mit Sicherheit nicht üblich, christliche Texte zusammen mit fremden religiösen Schriften zu lesen, wie es die Komparative Theologie vorschlägt. Das gilt für die christliche Tradition ebenso wie für andere Traditionen. Im Überschreiten der Grenzen der klassischen Theologie antworten komparative Theologinnen der Aufforderung der Theologie, „an der Front der kirchlichen Erfahrung und Reflexion“21 zu stehen. Sie sind dazu aufgefordert, Brücken zu bauen, nicht Mauern zu errichten; sie sollen lernen und untersuchen, um wahrzunehmen, wo Gott in jeder Kultur und Religion am Werk sein könnte. Eine Möglichkeit für Theologen, mit dieser Aufforderung umzugehen, ist es, neue und unerforschte Gebiete zu erkunden und mit anderen Disziplinen zu interagieren, da „der Wind (Geist Gottes) weht, wo er will“ (Joh 3,8; Einheitsübersetzung 2016). Andererseits macht der Fokus auf religiöse Texte als Ort der Übermittlung und Entwicklung lehrmäßiger Traditionen die Komparative Theologie eher zu einer klassischen Disziplin. Sie folgt dem Muster der meisten Theologien: „[K]onzeptionelles Argumentieren auf der Grundlage kritischer Auseinandersetzung mit Texten“,22 das sich vor allem mit den großen Fragen nach Gott, der Menschheit und der Natur beschäftigt. Der vorherrschende theologische Ansatz rührt von einem eher kognitiven Verständnis von Religion her, welches vorrangig den Bereich der Glaubenssätze und Überzeugungen als das assoziiert, was zur Diskussion steht. Theologie ist eine bestimmte Form des textorientierten Diskutierens und Komparative Theologie überträgt dieses klassische Paradigma auf einen interreligiösen Schauplatz. Ich habe längere Zeit über diesen textorientierten Fokus und vor allem über das, was dabei unbeachtet bleibt, nachgedacht. Es ist besonders irritierend, dass die Komparative Theologie nicht sonderlich an der rituellen und materiellen Dimension von Religion interessiert zu sein scheint. Dies wirft in zweifacher Weise Fragen auf: (i) Inwiefern beeinflusst die Vernachlässigung des Rituals die Komparative Theologie in ihrem hermeneutischen Leistungsvermögen, das religiöse Andere und seine Tradition zu verstehen?; (ii) wie wirkt sich das auf ihre Aufgabe der theologischen Wahrnehmung aus? Diese beiden Fragen zwingen uns im Weiteren zu ergründen, ob religiöse Traditionen durch Vermittlung 21 International Theological Commission, Theology Today. Perspectives, Principles and Criteria, § 47, online abrufbar unter: http://www.vatican.va/roman_curia/congre gations/cfaith/cti_documents/rc_cti_doc_20111129_teologia-oggi_en.html (letzter Zugriff am 7.5.2019; M. M.; Übers.; H. H.). 22 Martha Moore-Keish, Interreligious Ritual Participation. Insights from InterChristian Ritual Participation, in: Ritual Participation and Interreligious Dialogue. Boundaries, Transgressions and Innovations, hg. v. M. Moyaert/J. Geldhof, London 2015, 67–80, hier 67 (Übers.; H. H.).
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ihrer religiösen Texte am authentischsten sind und ob religiöse Schriften der bevorzugte Ort dafür sein sollten, Theologie zu betreiben.
4. Sind religiöse Traditionen anhand ihrer religiösen Texte am authentischsten wahrgenommen? Wie oben bereits angedeutet, ist es ein legitimer Teil des Projekts der Komparativen Theologie, ein besseres Verständnis von anderen religiösen Theorien mittels der Methode des Zwischenlesens zu ermöglichen. Zugleich teile ich die große Sorge anderer Religionswissenschaftler, dass die Komparative Theologie aufgrund ihrer Textorientierung einen zu beschränkten Anwendungsbereich haben könnte, denn diese Fokussierung auf das Schriftliche stellt sehr wahrscheinlich ein Hindernis beim Erreichen umfassenderer Erkenntnisse über andere Religionen und deren volle Komplexität dar. In der Art und Weise, wie Religionen menschliche Wesen als ‚Vernunftwesen‘ adressieren, werden andere Dimensionen dessen, was es heißt, ein religiöses Wesen zu sein, ausgeblendet. Es bleibt zu sehr im Verborgenen, dass Religion die menschliche Person auch in ihrer Fähigkeit zu symbolisieren und zu ritualisieren anspricht. Dies ist zweifelsohne keine neue Erkenntnis. Kulturanthropologinnen, Ritualforscher und Religionssoziologinnen vertreten seit längerem die These, dass sich die Religionshermeneutik mehr dem zuwenden sollte, wie religiöse Menschen handeln – ihren symbolischen Praktiken und ihren gelebten, verkörperten, rituellen Traditionen. Viel mehr noch als Texte stellen ihrer Ansicht nach symbolische Praktiken das pulsierende Herz religiösen Lebens dar. Ein Ritual bedeutet zu ‚handeln‘. Es ist durch und durch performativ: das Brot brechen und den Wein trinken (Eucharistie), das Kreuzzeichen schlagen, die Reliquien von Heiligen berühren, vor dem Altar knien, Kerzen anzünden, sich auf Pilgerfahrt begeben, von den Rollen der Thora lesen, Matze und bittere Kräuter bei der Passah-Mahlzeit essen, Psalmen singen, bei einer Zeremonie (puja) einer Gottheit Essen und Wasser darbringen (prasada), Zazen sitzen oder in einem buddhistischen Tempel skandieren. Rituelle Handlungen sollen den Menschen als Ganzes einbinden, als soziales, schöpferisches, fühlendes und körperliches Wesen (nicht nur als ein geistiges); sie erfassen alle Sinne (Sehen, Hören, Riechen, Tasten und Schmecken), evozieren starke Emotionen (oder bändigen Gefühle, die zu überwältigend sind), wecken religiöse Empfindungen, regen die Vorstellungskraft an und richten den Körper auf das Göttliche aus.23 Indem es 23
‚Religiöse Erfahrung‘ ist ein viel diskutierter Begriff, dem in den Diskursen der zeitgenössischen Theologien der Religionen und den sich fortsetzenden Diskursen liberaler und postliberaler Theologien zentrale Aufmerksamkeit zukommt. Besonders die Beziehung zwischen ‚Sprache‘ (in der Umfänglichkeit dieses Begriffs) und ‚Erfahrung‘ ist ein zentraler Punkt dieses Diskurses. In der Debatte über die Frage, ob die Erfahrung vor der Sprache oder die Sprache vor der bedeutsamen Erfahrung den Vorrang hat und sie sogar determiniert, vertrete ich eine
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auf die Person in ihrer Ganzheit, als verleiblichter Geist und beseelter Körper, einwirkt, besitzt das Ritual potenziell die Kraft, die Gläubigen zu verwandeln und ihre Identität weniger durch die Veränderung ihres Geistes als durch die Disziplinierung ihres Körpers zu formen. Durch die körperliche Betätigung, die das Innerste der rituellen Handlung ausmacht, wird ein umfassendes Wissen erworben. Von dieser Warte aus könnte man sogar wagen zu behaupten, dass Rituale eine viel wichtigere Rolle beim Erhalt einer Tradition und der Vermittlung von Glaubensinhalten spielen als Texte. Verkörperte rituelle Praktiken bedingen die jeweilige Ausgestaltung eines Glaubens, was spezielle religiöse Erfahrungen und die Affirmation gewisser Überzeugungen miteinschließt. Indem sie symbolische Handlungen ausführen, werden Gläubige von den Wahrheiten, die in ihrer Tradition herrschen, zutiefst durchdrungen und sie erlangen religiöses Wissen. Auf dieser Linie ist auch Talal Asad zu verstehen, wenn er sagt, dass „die Unfähigkeit, in eine Gemeinschaft mit Gott zu treten“, sehr wohl das Ergebnis „nicht unterwiesener Körper“ sein könne.24 Das im Ritual vermittelte Wissen darf nicht mit wissenschaftlichem (theologischem) Wissen verwechselt werden. Denn ein solches ist dem ursprünglichen religiösen Wissen nachgeordnet, das durch symbolische Praktiken übermittelt und dem Körper durch die Erfahrung eingeschrieben wird.25 Es handelt sich beim Ritual eher um ein implizites als um ein explizites Wissen; es ist ein Wissen vom ‚Wie‘ und nicht ein Wissen davon, was der Fall ist; es ist ein Wissen, das auf eine Art und Weise bis ‚ins Mark‘ hineinreicht, wie es ein Text nicht vermag. Dies ist eine wichtige Einsicht interreligiöser Hermeneutik, wie Jeanine Fletcher feststellt: „Während ein Christ mit den hebräischen Schriften seines jüdischen Gesprächspartners vertraut sein mag, ist er oder sie doch kein praktizierendes Mitglied der jüdischen Gemeinde; entsprechend bleibt ihm oder ihr das umfassende Verständnis verschlossen, Zwischenposition, die sich an Stephen L. Stell anlehnt. Ohne Sprache ist die Erfahrung blind; aber ohne Erfahrung ist religiöse Sprache starr. So von Stell vertreten: „Die Erfahrung hat einen interpretativen Kontext, welcher seine Bedeutung definiert und die Facetten der Erfahrung selbst formt, wie es für alle Erfahrungen gilt. Und dennoch erfordert diese Eigenschaft der Erfahrung (in dieser Weise gesehen) eine Transformation des interpretativen Kontextes und ein Aufbrechen der kulturell-linguistischen Schranken.“ (Stephen L. Stell, Hermeneutics in Theology and the Theology of Hermeneutics. Beyond Lindbeck and Tracy, in: Journal of the American Academy of Religion 61 [1993], 679–703, hier 692 [Übers.; H. H.]). 24 Talal Asad, Genealogies of Religion. Discipline and Reasons of Power in Christianity and Islam, London 1993, 77 (Übers.; H. H.). 25 Wie bereits an anderer Stelle dargelegt: Religiöses Wissen ist nur in Teilen explizites Wissen, d. h. codiertes Wissen, welches in Schriften und Kommentaren, Lehren und Richtlinien zu finden ist. Ein solches explizites Wissen kann verhältnismäßig einfach kommuniziert werden und möglicherweise einen Zugang für Außenstehende bieten. Siehe dazu Marianne Moyaert, Inappropriate Behavior? On the Ritual Core of Religion and its Challenges to Interreligious Hospitality, in: Journal for the Academic Study of Religion 27 (2014), 222–242, hier 225.
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das nicht in Ansätzen nur durch das Lesen der Thora entsteht, sondern der Verkörperung im Rahmen ritueller Praktiken entspringt. […] [D]ie kritischen Momente der religiösen Geschichte des Judentums, die in der Bibel festgehalten wurden, sind nicht nur bloße Aufzeichnungen des Vergangenen oder Informationsquellen, sondern es sind Momente, die das jüdische Gedächtnis und Bewusstsein geprägt haben. Diese Prägung geht mit dem ‚liturgischen Wiederholen und dem Feiern prägender Ereignisse‘ einher.“26
Gerade weil religiöses Wissen implizites Erfahrungswissen ist, kann man es nicht durch Zwischenlesen erlangen. Wenn dieses Wissen aber nicht durch die Methode des Zwischenlesens zugänglich gemacht werden kann, bedarf es vielleicht einer anderen Herangehensweise, z. B. einer Inter-Ritualität. Um zu den tieferen Schichten einer anderen religiösen Tradition vorzudringen, muss man das tun, was die Anderen tun, und man muss den transformativen Effekt einer rituellen Handlung erfahren. Der Körper muss eingestimmt werden, um sich ein Wissen zu erschließen, das dem Geist verschlossen bleibt. In Analogie zu dem, was man teilnehmendes Lesen nennen könnte, sollte über mögliche Formen der Teilnahme an rituellen Handlungen nachgedacht werden. So könnte man es möglich machen, tief in eine andere Tradition einzutauchen. Es wäre zentral, so aus der Thora zu lernen, wie es jüdische Schüler tun, am Freitagsgebet der Muslime teilzunehmen, Zazen mit den Buddhistinnen zu sitzen, am PujaRitual im hinduistischen Tempel teilzunehmen.27 Emma O’Donnell zufolge „ist die liturgische Handlung ein Dialog, der jederzeit stattfinden kann. Sie ist die Verkörperung der Stimme einer religiösen Tradition, die lediglich die liturgisch verkörperte Stimme des ‚Anderen‘ braucht, um zu einem Dialog zu werden, der zu interreligiösem Lernen führt.“28 Vielleicht ist der Schwerpunkt der Komparativen Theologie so, wie sie ihn auf die religiösen Texte legt, zu weit entfernt von der gelebten Religion, wie sie in der Gemeinde von sogenannten ‚normalen‘ Gläubigen erlebt und praktiziert wird. Indem man den heiligen Ort einer anderen religiösen Gemeinschaft betritt und sich von ihren Ritualen formen lässt, ermöglicht man hingegen ein tiefergehendes interreligiöses Verständnis, das dem wirklichen religiösen Leben entspringt. Eine Hinwendung zur ‚gelebten Religion‘ könnte ein gutes Gegengewicht zu der sonst sehr kognitiven Orientierung der meisten Theologien bilden – die Komparative Theologie mit eingeschlossen – und die interreligiöse Vorstellungskraft noch weiter ausdehnen.29 Eine solche Praxis der Inter-Ritualität würde die 26 Jeanine H. Fletcher, As Long as We Wonder. Possibilities in the Impossibility of Interreligious Dialogue, in: Theological Studies 68 (2007), 531–554, hier 539 (Übers.; H. H.). 27 Vgl. Stephanie Paulsell, Faith Matters. Devotional Difference, in: The Christian Century, 10.1.2012, online abrufbar unter: https://www.christiancentury.org/article/2012-01/ devotional-difference (letzter Zugriff am 28.5.2019; M. M.). 28 Emma O’Donnell, Embodying Tradition. Liturgical Performance as a Site for Interreligious Learning, in: Cross Currents 62 (2012), 371–380, hier 375 (Übers.; H. H.). 29 Vgl. Albertus B. Laksana, Muslim and Catholic Pilgrimage Practices. Explorations Through Java (Ashgate Studies in Pilgrimage), Aldershot 2014. In seiner kürzlich veröffent-
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Möglichkeit schaffen, noch umfassender und über die Grenzen verschiedener Religionen hinweg Erkenntnisse zu gewinnen – ein experimentelleres Lernen, das die religiöse Person als leibliches Wesen adressiert.
5. Sind religiöse Texte der vorrangige Ort, um Theologie zu betreiben? Der Umstand, dass sich in der Religion, wie sie von normalen Gläubigen praktiziert wird, vieles um den Vollzug von Ritualen dreht, bedeutet im Rückschluss nicht notwendigerweise, dass das Ritual als Grundlage für Komparative Theologie zu betrachten ist. Man könnte immer noch behaupten, dass die Theologie als vernunftorientierte und wissenschaftliche Ergründung der göttlichen Offenbarung einen eigenen ausgewiesenen Geltungsbereich hat. Theologie ist „scientia Dei“30. Wenn in der römisch-katholischen Tradition die Heilige Schrift und das Brauchtum die vorrangigen Quellen der Theologie sind, wird ein römisch-katholischer Komparativer Theologe, der mehr als eine Tradition studiert und untersucht, sich recht unbefangen der Methode des Zwischenlesens bedienen. Das Ritual mag das Herzstück der gelebten Religion sein, aber es ist nicht der maßgebliche locus theologicus.31 Man könnte so weit gehen zu sagen, dass die gelebte Religion der Ort ist, an dem Tradition erhalten wird, nicht aber der Ort, wo sie geformt oder theologisch ergründet wird. Diese Behauptung bleibt es aber zu prüfen. Einige würden sagen, dass sie aus einer sehr alten Diskussion über das Verhältnis von Mythos und Ritus stammt. Auch wenn ich nicht vorhabe, die Mythos-Ritus-Debatte als solche neu anzustoßen, scheint es so, als habe sie einigen Einfluss auf diese Überlegungen. Die Beziehung von Mythos und Ritus wurde wesentlich von Kulturanthropologinnen diskutiert und untersucht. Laut den Hauptvertretern dieser intellektualistischen Denkweise, Edward Tylor und James Frazer, kann man den Ursprung der Religion auf das Bedürfnis der primitiven Menschen zurückführen, ihre Umgebung verstehen zu wollen, und vor allem die Kräfte, die auf ihre Leben einwirken.32 Religion entspringt also einem philosophischen Anliegen, das zutiefst menschlich ist. Aus dieser Perspektive erfüllt Religion einen Zweck, der analog zu dem der Wissenschaft in der Moderne ist. Religion bleibt lichten Studie nähert sich Albertus Laksana dieser Position an, indem er auf Java einen Zugang auf der Ebene der Komparativen Theologie entwickelt, der auf der Praxis des Doppelbesuchs basiert. Die Wallfahrt wurde für ihn zum primären Ort der Begegnung mit dem religiösen Anderen sowie mit Gott. Auf der Suche nach einer besseren Gotteserkenntnis war sie der ausgezeichnete Ort, den religiösen Anderen zu verstehen. 30 International Theological Commission, Theology Today, § 18 (wie Anm. 21). 31 Vgl. Achille M. Triacca, ‚Liturgia‘ ‚locus theologicus‘ o ‚theologia‘ ‚locus liturgicus‘? Da un dilemma verso una sintesi, in: Paschale Mysterium. Studii in Memoria dell’ abate Prof. Salvatore Marsili (1919–1993), hg. v. G. Farnedi, Rom 1986, 193–233. 32 Vgl. Edward B. Tylor, Primitive Culture. Researches into the Development of Mythology, Philosophy, Religion, Language, Art and Custom, 2 Bde., London 1871.
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in dieser Perspektive nach wie vor eine ‚Pseudowissenschaft‘. Tylor prophezeite des Weiteren, einem typisch evolutionistischen Muster folgend, dass Religion mehr und mehr verschwände, je umfassender die Wissenschaft Antworten auf die Fragen geben könne, die den Menschen im tiefsten Inneren seiner Existenz bewegen. Nach dieser intellektualistischen Auffassung von Religion wären alle Rituale Illustrationen oder Umsetzungen von Ideen, die in der Religion entwickelt wurden, um sich die Welt zu erklären. Was auffällt, ist ihre zweitrangige Natur: Sie tragen nicht wirklich irgendetwas Neues zur Religion bei. Das Ritual fügt dem Geschriebenen keinerlei weitere Bedeutung zu. Es ist nur ein Ausdruck des Glaubens. Es ist eine Handlung, die den Regeln folgt, wie sie bereits im Text dargelegt wurden. Weil das Ritual vom Mythos abhängt, muss man es nicht untersuchen, um die Religion der Anderen zu verstehen. Die praktische Dimension von Religion, vertreten durch Rituale, Gebete, Gebote und Verbote, wird als der kognitiven Dimension von Religion nachgeordnet betrachtet. Kurzum, religiöse Praktiken werden als Evidenzen von etwas anderem betrachtet, nämlich von Glaubenssätzen, die in religiösen Texten formuliert wurden.33 In den letzten Jahrzehnten haben sich Religionswissenschaftler einer kritischen Studie der Religionsgenealogie angenommen. Sie erforschten die Wurzeln der Textorientierung in den Religionswissenschaften, die bis in die „Geistesgeschichte der europäischen Moderne“34 zurückreichen. Diese kritische Untersuchung hat gezeigt, dass die intellektualistische Herangehensweise an Religion nicht nur Spuren eines aufklärerischen Verständnisses von Religion aufweist. Sie kann zugleich auf ein christianisiertes Religionskonzept zurückgeführt werden, demzufolge Überzeugungen (d. h. der Mythos) dem Ritual vorgeordnet werden.35 Von Beginn an stellt sich das Christentum als Religion dar, die der Wahrheitsfrage großes Gewicht beimisst. Seit ihren frühesten Anfängen ist die christliche Geschichte von theologischen Auseinandersetzungen über lehrmäßige Fragen geprägt, die im Rahmen diverser ökumenischer Konzilien durch Glaubensbekenntnisse, Dogmen und Kanonbildungen beantwortet wurden. Aus christlicher Perspektive sind Glaubenssätze die zentrale Kategorie.36 Mit dem Aufkommen des Protestantismus und seiner ikonoklastischen Kritik sowohl an der materiellen als auch an der rituellen Dimension des römischen Katholizismus erstarkte die Idee von Religion als vornehmlich an Glaubenssätzen orientiert immer mehr. Weiter noch, seit der Aufklärung entzweiten sich Theologie und Liturgie bis zu dem Punkt, dass die Theologie die Liturgie als locus theologicus vollends zurückwies.37 33 Vgl. Webb Keane, The Evidence of the Senses and the Materiality of Religion, in: Journal of the Royal Anthropological Institute 14 (2008), 110–127, hier 110. 34 Blackburn, The Text and the World, 154 (wie Anm. 16; Übers.; H. H.). 35 Vgl. Walter Van Herck, Enlightened Presuppositions of (Spiritually Motivated) CrossRitual Participation, in: Moyaert/Geldhof (Hg.), Ritual Participation, 43–53 (wie Anm. 22). 36 Vgl. Daniel Lopez, Belief, in: Critical Terms for Religious Studies, hg. v. M. C. Taylor, Chicago, IL 1998, 21–35, hier 21. 37 Siehe dazu Andrea Grillo, Einführung in die Liturgische Theologie. Zur Theorie des
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Auch wenn dieses intellektualistische Religionsverständnis von Kulturanthropologen und im Besonderen von Ritualwissenschaftlerinnen kritisiert wurde, hat es, wie Blackburn richtigerweise anmerkt, bis heute „einen ungeheuren Einfluss auf die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Religion“38. Nach wie vor konzentriert man sich unverändert auf diejenigen Religionen, die Schriften produziert haben. Dieses Verständnis von Religion hat sehr eingefahrene Pfade in der klassischen Theologie hinterlassen, die man ganz evident an ihrem Textfokus erkennt. Eine der Folgen daraus war die weitläufige Anerkennung des Gewichts dogmatischer Theologie auf Kosten liturgischer Theologie. Alexander Schmemann, der sich als vehementer Kritiker der Vernachlässigung von Ritualität in der klassischen Theologie positioniert, erläutert diesbezüglich: „Theologie beansprucht hier einen unabhängigen rationalen Status. Sie versteht sich als eine Suche nach einem System konsistenter Kategorien und Konzepte: intellectus fidei. Die Stellung des Gottesdienstes wird innerhalb der Theologie von der Quelle zu einem Objekt verkehrt, das es entsprechend der anerkannten Kategorien zu definieren und zu beurteilen gilt.“39
Unter diesem Gesichtspunkt muss man sich zumindest fragen, ob die Komparative Theologie tatsächlich eine Erbin der klassischen Theologie ist. Ist es so, dass Komparative Theologen das Ritual als bloßen Ausdruck der Glaubenssätze und Überzeugungen betrachten, die sie unter normalen Umständen in religiösen Texten untersuchen würden? Rituale zu untersuchen, würde dann bedeuten, Schicht um Schicht mit dem Ziel abzutragen, zu dem zu gelangen, was in der jeweiligen schriftlichen Tradition klar und deutlich beschrieben und verhandelt wird. Der Fokus, den die klassische Theologie auf den Text legt, wurde vor allem von liturgischen Theologinnen in Frage gestellt, die es sich vorgenommen haben, das Verhältnis von Liturgie und Theologie neu zu überdenken. Aidan Kavanagh führt z. B. das Argument an, dass der Gottesdienst viel mehr Anlass zu theologischer Reflexion gebe als andersherum. David Fagerberg, eine weitere bedeutende Stimme der liturgischen Theologie, propagiert, die Liturgie sei theologia prima: „Liturgien sind nicht nur Ausdrucksformen der Theologie: Sie sind die Grundlagen der Theologie. Liturgische Sprache bringt die Wirklichkeit zum Leben. Sie entbirgt eine neue Realität. Sie bedeutet Veränderung, nicht Ausdruck. Die lex orandi bedingt die lex credenda.“40 Auch wenn Fagerberg in seinen Ausführungen übertreibt und ein etwas differenzierteres Verständnis von Gottesdienstes und der Christlichen Sakramente (Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie 49), übers. v. M. Meyer-Blanck, Göttingen 2006. 38 Vgl. Blackburn, The Text and the World, 152 (wie Anm. 16). 39 Alexander Schmemann, Liturgy and Tradition. Theological Reflections of Alexander Schmemann, hg. v. Th. Fisch, New York, NY 1990, 13 (Übers.; H. H.). 40 Dorothea Haspelmath-Finatti, Theologia Prima. Liturgical Theology as an Ecu-
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Liturgie und Theologie angebracht wäre, ist es wichtig, sich bewusst zu machen, dass die Liturgie nicht etwas ist, das der Theologie beigefügt wird, sondern dass es sich hierbei um einen wichtigen Ort handelt, an dem eine Gemeinde ihre Theologie betreibt und ihr Verständnis vom Heiligen entwickelt. Manchmal tun sich während des Lobpreisens theologische Einsichten auf. Und diese Erkenntnisse können die Art, wie eine Kirche ihre Tradition theologisch betrachtet (und andersherum), verändern, wandeln und eben auch korrigieren. Bezüglich der Wahrheitssuche ist die Liturgie eine Quelle, die nicht übersehen oder unterschätzt werden darf. Wenn man dieses Argument in der Tat ernst nimmt und es in analoger Weise auf andere religiöse Traditionen anwendet, würde das für die Komparative Theologie bedeuten, sich vermehrt dem rituellen Vollzug zuwenden zu müssen. Sie müsste sich einer gewissen Form ‚Komparativer Liturgischer Theologie‘ widmen, die versucht, „die symbolische, verkörperte Sprache der liturgischen Handlung zu entziffern, die sich bemüht, den außer-sprachlichen Inhalt fassbar zu machen“41. Die Liturgie würde dann zu einem wichtigen Ort für die Komparative Theologie werden.
6. Abschließende Überlegungen und Fragen Wie ich in meinen Überlegungen gezeigt habe, sind Komparative Theologen in gewisser Weise Grenzgänger, da sie sich zwischen zwei Traditionen hin und her bewegen. Ihre Arbeitsweise ist, gerade weil sie sich bei der Suche nach Wahrheit auf unvermessenes Gebiet begeben, sowohl kreativ als auch konstruktiv. Ihre theologische Einstellung beinhaltet Aufnahmebereitschaft und Verletzlichkeit anstelle von Vollendung und Kontrolle. Entsprechend positionieren sie sich gegen eine rein objektivierende wissenschaftliche Sichtweise und dezidiert gegen die Theologie, die große Erzählungen entwirft, die das Problem des Anderen lösen sollen. Jedwede Ideologie der Reinheit ist ihnen unbekannt. Auch wenn der Eindruck entstehen mag, die Komparative Theologie sei ein abenteuerliches Unternehmen, ist sie zugleich Ausdruck eines gewissen Vertrauens. Es ist, als wären sich die Komparativen Theologinnen sicher, dass es andernorts Sinn und Wahrheit zu finden gibt, und dass es lohnend ist, danach zu suchen. Auch wenn ihr Arbeitsfeld gemeinhin in den Bereich religiöser Texte fällt, kann man dafür argumentieren, das Interessensgebiet auszudehnen und symbolische Praktiken miteinzuschließen. Wenngleich ich einen solchen ritual turn in der Komparativen Theologie favorisiert habe, stellen sich auch mir verschiedene Fragen: Es sind Fragen (i) hermeneutischer, (ii) methodologischer, (iii) ethischer und (iv) theologischer Natur. Indem ich ein Fazit ziehe, möchte ich einige dieser Fragen menical Challenge to Lutheran Worship, in: Dialog. A Journal of Theology 48 (2009), 374–379, hier 376–377 (Übers.; H. H.). 41 Emma O’Donnell, Embodying Tradition, hier 371 (wie Anm. 28; Übers.; H. H.).
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aufnehmen. Dabei geht es mir nicht nur darum, die Komplexität eines möglichen liturgical turn in der Komparativen Theologie hervorzuheben, sondern ich möchte zugleich andere Forscher dazu einladen, genauer zu ergründen, ob und wie ein solcher turn möglich wäre. Erstens ist es Teil der Komparativen Theologie, ein besseres Verständnis von den religiösen Anderen und ihrer Tradition zu erlangen, ohne in die Falle des Hineininterpretierens zu gehen. Die hermeneutische Behauptung, die dem liturgical turn zugrunde liegt, ist die folgende: Rituale gestatten viel eher den Zugang zu den verborgenen Ebenen einer anderen religiösen Tradition als Texte. Sie gewähren Zugriff auf die ursprüngliche religiöse Sprache, die vorgängig zur diskursiven (theologischen) Sprache ist. Außerdem bringt der liturgical turn Komparative Theologinnen so mit den anderen Religionen in Berührung, wie sie gelebt und praktiziert werden. Wenn Religion eher ‚wissen wie‘ ist als ‚wissen, dass‘, dann ist ein liturgical turn aus hermeneutischer Sicht sinnvoll. Einer der Einsprüche, die in der Komparativen Theologie allerdings gegen ihn erhoben werden können, ist der Verweis auf die Tatsache, dass die Bedeutung von Ritualen nicht gleichbleibend stabil ist. Auch wenn die Bedeutung weder vom Individuum abhängt (Rituale sind immer kollektiv) noch vom Moment (Rituale sind zeitlos), so ist es doch ein wohlbekanntes Phänomen, dass Gläubige, wenn man sie nach der Bedeutung der Rituale befragt, an denen sie teilnehmen, oft zu unterschiedlichen Interpretationen neigen. Wie sollten Komparative Theologen mit dieser Diskrepanz zwischen der ‚offiziell‘ dem Ritual beigemessenen Bedeutung und den abweichenden Meinungen der Gläubigen umgehen? In welcher Weise ist dieses Problem demjenigen vergleichbar, dass das Lesen von Texten ebenfalls eine Vielzahl von Interpretationen nach sich zieht? Zweitens ist hervorzuheben, dass auch wenn religiöse Texte zumindest zu einem gewissen Grad öffentliche Kulturgüter sind, dasselbe nicht für Rituale gilt. Es gibt natürlich symbolische Praktiken in jeder Tradition, die leicht zugänglich sind und an denen auch Außenstehende, zumindest in gewissem Umfang, teilnehmen dürfen.42 Der Zugang zu Ritualen kann daher als Bereich aus drei konzentrischen Kreisen mit unterschiedlichen Grenzbereichen beschrieben werden: Es gibt symbolische Praktiken, die eher nach außen gewandt und sogar für Außenstehende einladend sind, und es gibt Rituale, die nur mit anderen Gläubigen geteilt werden. Einige Rituale werden zu Hause durchgeführt und nicht an einem anderen Ort, wie z. B. einem Schrein, und sie gehören, wie Albertus Laksana erklärt, dann „nicht zu den essenziellen Aspekten der jeweiligen religiösen Tradition“43. In jedem Fall sind die liturgischen Handlungen, die zentral für das 42 Für Beispiele in den verschiedenen Traditionen vgl. Moyaert/G eldhof (Hg.), Ritual Participation (wie Anm. 22). 43 Albertus B. Laksana, Back-and-Forth Riting. The Dynamics of Christian-Muslim Encounters in Shrine Rituals, in: Moyaert/Geldhof (Hg.), Ritual Participation, 109–125, hier 110 (wie Anm. 22; Übers.; H. H.).
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Selbstverständnis einer Gemeinde sind, wie z. B. die kultische Praktizierung der Eucharistie, oft tabuisiert.44 Die Teilnahme an solchen kultischen Zeremonien ist normalerweise den Gläubigen vorbehalten, die (vollkommen) in die Tradition eingeweiht sind, die den Glaubensinhalten verpflichtet sind, und die willens sind, entsprechend der Regeln zu leben. Diese Zeremonien sind insofern heilig, als sie besonders ausgezeichnet sind. Wenn es Teil des Selbstverständnisses einer religiösen Gemeinschaft ist, bestimmte Wahrheiten vor Außenstehenden zu verbergen, um die Geheimnisse des Glaubens zu bewahren, weil diese in der Tat jenseits einer letzten Erklärung oder Legitimation liegen mögen, sollten Komparative Theologinnen das akzeptieren. ‚Religiöse Andere‘ sind dann, verallgemeinernd gesagt, ausgeschlossen. Sie können nicht Teilnehmende sein. Aus traditionellerer Sicht weckt die ganze Idee einer überschreitenden Teilnahme an Ritualen eben den Eindruck der Abgötterei und der Heteropraxis. Sie erscheint unangebracht, deplatziert, eine Anomalie, eine Grenzverwischung, eine Überschreitung symbolischer Schwellenbereiche, ein Übergriff über konventionelle religiöse Grenzen hinweg, der religiöse Identitäten bedrohen könnte.45 Auf der methodologischen Ebene kann man also davon sprechen, dass der liturgical turn nicht übermäßig selbstevident ist. Drittens wirft der Schritt vom Zwischenlesen zur Inter-Ritualität auch ethische Fragen auf, die mit dem Problem der (Nicht-)Authentiziät zusammenhängen. Dies ist sowohl in Bezug auf die eigene als auch auf die Gemeinde der Anderen ein Problem. Wenn man die Annahmen, die dem Zwischenlesen zugrunde liegen, auf die Inter-Ritualität überträgt, müsste die Komparative Theologin in die rituelle Handlung eintauchen. Sie müsste dasselbe tun wie die Anderen und dieselben Effekte des rituellen Vollzugs erfahren. Die Frage lautet aber, wie weit ein Komparativer Theologe dabei gehen kann und will, ohne seiner eigenen Tradition untreu zu werden. Aufgrund ihrer öffentlichen Natur ist eine rituelle Handlung nicht wirklich dasselbe wie das Lesen eines Textes, was allein und in der ruhigen Abgeschiedenheit des Studierzimmers geschehen kann. Ein Ritual mitten unter anderen Gläubigen auszuführen, ist ein öffentliches Bekenntnis. Man wird dabei von Anderen gesehen und kann sein Tun nicht abstreiten. Man muss fragen, ob es nicht ein Zeichen mangelnder Authentizität ist, das zu tun, was Andere tun, ohne deren rituelle Absichten zu teilen. Ist es nicht ein Zeichen von Respektlosigkeit der eigenen Tradition gegenüber, so 44 Etymologisch leitet sich das Wort ‚heilig‘ von dem hebräischen ‚qadash‘ ab, was so viel bedeutet wie ‚für bestimmte religiöse Zwecke abgesondert und gewidmet und somit verboten, zurückgehalten oder entfernt werden‘. Das Wörterbuch von Koehler und Baumgartner (KBL) führt die verschiedenen Bedeutungen „heilig [sein], dem gewöhnlichen Gebrauch entzogen, besonderer Behandlung unterworfen, dem Heiligtum verfallen sein“ an (Ludwig Koehler/ Walter Baumgartner, Hebräisches und Aramäisches Lexikon zum Alten Testament III, Leiden 31983, 1003). 45 Vgl. David Vishanoff, Boundaries and Encounters, in: Understanding Inter-Religious Relations, hg. v. D. Cheetham et al., Oxford 2013, 340–364, hier 341.
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ein öffentliches Bekenntnis abzugeben? Und welche Wege gibt es, mit diesem Problem umzugehen? Ich habe in diesem Beitrag ein Plädoyer für die hermeneutische und theologische Bedeutsamkeit der Komparativen Theologie und ihre Methode des Zwischenlesens formuliert. Ich habe die wichtigsten Begründungen der Textorientierung in der Komparativen Theologie erläutert und ich habe dargelegt, wie die Komparative Theologie aufgrund ihres vorrangigen Interesses am Lesen religiöser Texte sowohl ein innovatives als auch ein klassisches theologisches Unterfangen ist. Ich habe erklärt, warum der Fokus auf Texte nicht unproblematisch ist, und wieso ein liturgical turn vonnöten sein könnte. Es gibt sowohl hermeneutische wie auch theologische Gründe dafür, die Vorgehensweise des Zwischenlesens zumindest um die Praxis der Inter-Ritualität zu erweitern. Um diesen liturgical turn genauer zu verstehen, habe ich mich auf die Einsichten von Religionswissenschaftlerinnen und Theologen bezogen. Abschließend habe ich einige der hermeneutischen, methodologischen, ethischen und theologischen Herausforderungen akzentuiert, die sich im Zusammenhang mit einem möglichen liturgical turn in der Komparativen Theologie stellen könnten. Diese Herausforderungen sind vor allem dazu gedacht, weiterführende Überlegungen und Erkundungen in diesem noch immer neuen Feld der Religionstheologie und der Komparativen Theologie anzuregen.
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V. Schluss
Islam und Pluralismus der Religionen als Grundlage für Weltfrieden Bassam Tibi Die Erkenntnisse und Grundideen des vorliegenden Beitrags basieren auf wissenschaftlichen und praktischen Grundlagen. Wissenschaftlich grundlegend ist meine Beteiligung an zwei internationalen Projekten1 sowie mein wissenschaftliches Lebenswerk der islamologischen, d. h. nicht-islamwissenschaftlichen Erforschung des islamischen Glaubens und der Realitäten, in die dieser eingebettet ist.2 An der National University of Singapore wirkte ich 2005 als Senior Research Fellow am Asia Research Institute im Cluster of Religion an einem Projekt mit,3 das sich mit der Herausforderung beschäftigte, die sich an lang etablierte asiatische Pluralismen durch die Rückkehr der Religion zur öffentlichen Sphäre, verbunden mit politisch simplifizierten und globalisierten Ansprüchen der Religion, stellt. Wir Wissenschaftler im angeführten Cluster of Religion wollten diese Herausforderung verstehen und erklären.4 Das zweite Projekt wurde in den Jahren 2007 bis 2010 am Center for Advanced Holocaust Studies (CAHS) in Washington DC durchgeführt. Es ging um die Schaffung wissenschaftlicher Grundlagen für einen „Jewish, Christian, Muslim Trialogue“,5 d. h. eine Art Ökumene. In dem dazu veröffentlichten Band lege ich dar, dass dieses Ziel ohne eine Etablierung eines Pluralismus der Religionen nicht erreicht werden kann.6 Dies kann im Islam nur durch eine Reform erreicht werden.
1 Die Buchveröffentlichung des ersten Projekts in Singapur liegt vor als: Anthony Reid/ Michael Gilsenan (Hg.), Islamic Legitimacy in a Plural Asia, London 2007; aus dem zweiten Projekt am CAHS in Washington, DC ging hervor: Leonard Grob/John Roth (Hg.), Encountering the Stranger. A Jewish-Christian-Muslim Trialogue, Seattle, WA 2012. 2 Vgl. Bassam Tibi, Islam’s Predicament with Modernity. Religious Reform and Cultural Change, London 2009. 3 Vgl. Reid/Gilsenan (Hg.), Islamic Legitimacy (wie Anm. 1). 4 Vgl. meinen Beitrag zum Projekt an der National University of Singapore: Bassam Tibi, Islam and Cultural Modernity. In Pursuit of Democratic Pluralism in Asia, in: Islamic Legitimacy, hg. v. A. Reid/M . Gilsenan, 28–52 (wie Anm. 1). 5 Grob/ R oth (Hg.), Encountering the Stranger (wie Anm. 1). 6 Vgl. Bassam Tibi, The Place of Non-Muslims in the Islamic Concept of the ‚Other‘. The Need for Rethinking Islamic Tradition in Pursuit of Religious Pluralism, in: ebd., 64–75.
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Die praktischen Erfahrungen, die der folgenden Argumentation zugrunde liegen, berufen sich auf meine gut zwanzigjährige Mitwirkung an diversen Veranstaltungen des christlich-islamischen Dialogs sowohl in Deutschland als auch in der Welt des Islam. Meine wissenschaftliche Disziplin ‚Internationale Beziehungen‘ beginnt mit dem Westfälischen Frieden 1648 als Religionsfrieden, und dies verstärkt meine Intention in diesem Beitrag, meine in der Theologie verankerten Gastgeber sowie Träger dieses Projekts anzuregen, zwei Überlegungen aufzunehmen: 1. die Departementalisierung im Wissenschaftsbetrieb zu überwinden und somit im Sinne der ersten These unten die Sozialwissenschaft und die Geschichtswissenschaft, vereint in den neuen Fächern historische Soziologie und Islamologie, in das Denken und Forschen über religionsübergreifende Ökumene miteinzubeziehen.7 2. den Westfälischen Frieden von 1648 als ein Modell für die anzustrebende Ökumene anzuerkennen bzw. heranzuziehen. Die Universität Osnabrück hat anlässlich der 350. Wiederkehr des Westfälischen Friedens zu Münster und Osnabrück einen wissenschaftlichen Kongress zu dieser Thematik veranstaltet, zu dem ich damals als Bosch-Forschungsprofessor an der Harvard Universität eingeladen wurde, um das einleitende Referat über den Religionsfrieden von 1648 als ein Modell für den Nahostfrieden zu halten. Aus diesem Kongress, der für das Bochumer Projekt hoch relevant ist, ging eine Buchveröffentlichung hervor.8 Diese beiden Anregungen sind als ein Nachdenken über eine über das Christentum hinausgehende Ökumene zu bewerten und in die Problematik ‚Wissen‘ einzuordnen. Der Begründer der Disziplin Wissenssoziologie, Karl Mannheim, hat bei der Bestimmung des Standorts des Wissens die ‚Seinslage‘ des in diesem Prozess involvierten Forschers als zentral bewertet. In diesem Sinne möchte ich die hier festgehaltenen Überlegungen mit meiner ‚Seinslage‘ verbinden. Diese war sowohl der Hintergrund zu der Einladung 1998 nach Osnabrück als auch zwanzig Jahre danach nach Bochum 2018, woraus dieser Beitrag hervorging. Die bemerkenswerte heutige epidemische Links-Rechts-Polarisierung hat auch meine Disziplin der Internationalen Beziehungen erfasst: ‚Die Linken‘ betreiben politische Ökonomie und ‚die Rechten‘ Sicherheitsstudien. Religion und Kultur bleiben als ‚Tabuthema‘ auf der Strecke. Meinem Londoner Kollegen, Anthony Giddens, dem Autor des Buches Beyond Left and Right,9 folge ich und 7 Hierzu die Literaturhinweise Theda Skocpol (Hg.), Vision and Method in Historical Sociology, Cambridge, MA 71995; Bassam Tibi, Islamische Geschichte und deutsche Islamwissenschaft. Islamologie und die Orientalismus-Debatte, Stuttgart 2017. 8 Vgl. Bassam Tibi, Friede im Nahen Osten im Lichte einer Vergegenwärtigung des Westfälischen Friedens, in: Religionsfriede als Voraussetzung für den Weltfrieden. Weltkonferenz der Religionen für den Frieden (WCRP). Regionalgruppe Osnabrück, hg. v. D. Kröger, Osnabrück 2000, 17–28; vgl. auch den Bericht: Die Stunde der Diplomaten. 350 Jahre Westfälischer Friede in Münster und Osnabrück, in: Neue Zürcher Zeitung, 17.11.1998, 46. 9 Vgl. Anthony Giddens, Beyond Left and Right. The Future of Radical Politics, Cam-
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habe ‚jenseits von links und rechts‘ innerhalb der Disziplin der Internationalen Beziehungen die Islamologie begründet; eine Wissenschaftsrichtung, die sich mit Religion und Kultur – am Beispiel des Islam – befasst, worauf auch dieser Beitrag weitgehend fußt. Hieraus ging auch mein in Harvard entstandenes und der Harvard-Universität gewidmetes, für unsere Thematik der Ökumene relevantes Buch hervor.10 Auf dieser Grundlage trage ich im Folgenden meine drei Thesen und anschließend acht Ideen als einen Beitrag zu einer globalen, religionsübergreifenden Ökumene vor.
1. Drei Thesen und acht Ideen Die Grundlage, von der ich ausgehe, ist die Realität der Rückkehr der Religionen in die öffentliche Sphäre. Religion ist ein spiritueller Glaube, der mit Religiosität als Einstellung sowie der Kultpraxis korrespondiert, die individuell und privat ist. Wenn aber Religion die öffentliche Sphäre betritt, dann werden – wie oben zitiert und in Singapur festgehalten worden ist – claims erhoben, also Ansprüche gestellt. Wie gehen wir – im Geiste einer Ökumene – damit um? Folgende drei Thesen bemühen sich um eine Antwort. 1.1 Globalisierung und Fragmentation Im Rahmen meiner wissenschaftlichen Erfahrung (Forschung in zweiundzwanzig islamischen Ländern und Wirkung an sechs ‚Ivy League‘-US-Universitäten) stellte ich eine Gleichzeitigkeit von Globalisierung und Fragmentierung fest. Während sich Strukturen der Ökonomie, Technologie, Kommunikation und Politik globalisieren, zerbricht der Konsens – wenn er jemals stabil existiert hat – über internationale, d. h. universell gültige Werte, Normen und Regeln (z. B. die Universalität der Religionsfreiheit und der Menschenrechte). Hierfür habe ich im internationalen Kontext die Formel „Simultaneity of Structural Globalization and Cultural Fragmentation“11 geprägt. Die Rückkehr der Religion zur öffentlichen Sphäre und besagte claims, die in diesem Kontext gestellt werden, gehören zu den Quellen kultureller Fragmentation. Francis Fukuyama führt identity politics als eines der mächtigsten Beispiele hierfür an.12 bridge, MA 1994; deutsche Übersetzung: ders., Jenseits von Links und Rechts. Die Zukunft der radikalen Demokratie, übers. v. J. Schulte, Frankfurt a. M. 1997. 10 Vgl. Bassam Tibi, Kreuzzug und Djihad. Der Islam und die christliche Welt, München 1999. 11 Bassam Tibi, Global Communication and Cultural Particularisms. The Place of Values in the Simultaneity of Structural Globalization and Cultural Fragmentation. The Case of Islamic Civilization, The Handbook of Global Communication and Media Ethics, Bd. I, Malden, MA 2011, 54–78. 12 Vgl. Francis Fukuyama, Against Identity Politics. The New Tribalism and the Crisis of
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1.2 Religionisierung der Politik und Wertekonflikte Besagte claims werden mit dem Eintritt der Religion in die öffentliche Sphäre, d. h. in die Politik, verbunden und tragen so dazu bei, dass politische und soziale Konflikte in der Aura der Religion ausgetragen werden. Hierfür habe ich in meiner islamologischen Forschung den Begriff ‚Religionisierung der Politik‘ eingeführt.13 Hierdurch wird die Lösung von Konflikten erschwert, denn über Politik kann man verhandeln – und es besteht die Möglichkeit nach Lösungen zu suchen –, nicht aber über das, was für einen religiösen Glauben gehalten wird. 1.3 Postsäkularität und De-Säkularisierung Meine dritte und letzte These bezieht sich darauf, wie die Rückkehr der Religion in die öffentliche Sphäre gedeutet wird. Jürgen Habermas weigert sich zu verstehen, dass Religion im Rahmen des angeführten Return of the Sacred (ein Begriff des Harvard-Professors Daniel Bell) dafür anfällig wird, eine politische Religion zu werden. Anders als Habermas, der von „post-säkularer Entwicklung“14 spricht, behaupte ich auf der Basis meiner Islam-Forschung eine DeSäkularisierung mit totalitären Trends zu sehen. Als ein empirisches Beispiel hierfür bietet sich die Entwicklung der Türkei von einer kemalistisch-säkularen Republik unter der islamistischen AKP-Herrschaft zu einer Islamokratie an.15 Unter einer Schari’a-geleiteten Islamokratie kann kein Pluralismus der Religionen gedeihen.
2. Acht Ideen über Islam und Pluralismus im Kontext einer über das Christentum hinausgehenden Ökumene Die folgenden acht Ideen verbinden Sachwissen mit einer normativen Orientierung, die vom Geist aufrichtiger, d. h. nicht wertebeliebiger, Toleranz und eines nicht nur rhetorischen Friedens der Religionen geprägt ist.
Democracy, in: Foreign Affairs 97 (2018), 90–114; sowie neu: ders., Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet, übers. v. B. Rullkötter, Hamburg 2019. 13 Vgl. Bassam Tibi, Islam in Global Politics. Conflict and Cross-Civilizational Bridging, London 2012. 14 Jürgen Habermas, Glauben und Wissen, Frankfurt a. M. 2001, 12–15; Kritisch dazu: Bassam Tibi, Habermas and the Return of the Sacred. Is it a Religious Renaissance?, in: Religion – Staat – Gesellschaft 3 (2002), 265–296. 15 Vgl. Bassam Tibi, Aufbruch am Bosporus. Die Türkei zwischen Europa und dem Islamismus, München 1998; vgl. auch zwanzig Jahre danach über den Islamismus in der Türkei Teil 4 in: ders., Basler unbequeme Gedanken. Über illegale Zuwanderung, Islamisierung und Unterdrückung der Redefreiheit, Stuttgart 2018, 167–194.
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2.1 Erste Idee: Pluralismus der Religionen Ich bin ein sozialwissenschaftlich orientierter Islamologe, also kein Theologe, und gehe daher nicht von einer unterstellten Mehrgewichtung des eigenen Faches, sondern von der Sache aus, wenn ich die politikwissenschaftliche Kategorie des Pluralismus auf das Verhältnis der Religionen zueinander anwende.16 In der Demokratie agieren politische Parteien mit unterschiedlicher Orientierung im Parlament unter der Anerkennung von zwei Voraussetzungen als Konsens: (1) Alle Parteien – ob linke, rechte oder in der Mitte angesiedelte – sind gleichwertig und gleichberechtigt. Keine darf eine Herrschaftsstellung über andere (supremacism) beanspruchen, weder in Bezug auf ihre moralische Einstellung noch in irgendeiner anderen Hinsicht. (2) Die Normen und Werte der parlamentarischen Demokratie gelten ohne Differenzierung für alle als verbindlich. Bei der Neueröffnungskonferenz des Bochumer Ökumenischen Instituts, deren Beiträge in diesem Band veröffentlicht werden, kam der kluge Einwand auf, Begriffe der Sozialwissenschaft sollten besser nicht auf die Religionswissenschaft übertragen werden. Bei gleichzeitiger Anerkennung des Arguments gebe ich zu bedenken, dass sich Friede – ob intern oder international – unter Menschen unterschiedlicher Religionen nicht verwirklichen lässt, wenn diese sich gegenseitig nicht als gleichwertig anerkennen. In meinem Hauptwerk zum Islam, das eine Reformagenda enthält, führe ich die islamische Doktrin der Überlegenheit über Andere (al-taghallub/supremacism) nicht nur als reformbedürftig an, sondern lehne sie ab, weil sie einer Ökumene im Wege steht.17 Warum ordnen sich Muslime als anderen überlegen ein? Die Antwort liegt in der islamischen Religionslehre mit den Begriffen Dhimmi (‚Schutzbefohlene‘) für Christen und Juden und Kafir (‚Ungläubige‘) für alle anderen. Ich werde diesen Gegenstand in der folgenden zweiten Idee wiederaufnehmen. 2.2 Zweite Idee: Reformatorisches Christentum als Vorbild Die Ideen der Reformation gehören nach Habermas – u. a. neben Aufklärung und Französischer Revolution – zu den Säulen der Moderne.18 Als ehemaliger Frankfurter Student von Habermas bewundere ich sein Werk und distanziere mich zugleich von der spät erfolgten „Niederlage der politischen Vernunft“19 durch Habermas. Das ist nicht die zweite Generation der Frankfurter Schule, 16 Vgl.
John Kekes, The Morality of Pluralism, Princeton, NJ 1993. Bassam Tibi, Islam’s Predicament, 209–236 (wie Anm. 2). Dieses Buch ist unter meinen zwischen 1969 und 2018 veröffentlichten 14 Büchern in England/USA und 31 Büchern in Deutschland mein Hauptwerk. 18 Vgl. Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a. M. 1986, 27. 19 Egon Flaig, Die Niederlage der politischen Vernunft. Wie wir die Errungenschaften der Aufklärung verspielen, Springe 2017, 264–274. 17 Vgl.
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wie Egon Flaig falsch behauptet,20 sondern deren politische und wissenschaftliche Abschaffung. Als ein in einer Aschraf/(‚Gelehrten‘)-Familie aufgewachsener Reform-Muslim mit einer zweiten Sozialisation in der Frankfurter Schule, nach einer islamischen Sozialisation in Damaskus, war es in den vergangenen fünfzig Jahren meine Lebensaufgabe, Islam und Reform bzw. Reformation mit der kulturellen Moderne in Einklang zu bringen. Mein in den USA entstandenes Hauptwerk Islam’s Predicament with Modernity bringt diese Intention und das damit verbundene Erkenntnisinteresse zum Ausdruck.21 Durch die Reformation erfüllten Christen das, was wir Muslime in der Denkschule des ‚Enlightened Muslim Thought‘22 zu erbringen versuchen, also Andersgläubige als gleichwertig zu respektieren und nicht mehr als Heiden bzw. Kuffar zu diskriminieren und zu entwürdigen. In diesem Sinne ist die christliche Reformation für mich als Reform-Muslim ein Vorbild. Nur durch einen ReformIslam könnten Muslime für eine Ökumene aufgeschlossen werden. 2.3 Dritte Idee: Aufgabe der islamischen Weltanschauung der Überlegenheit (Taghallub) gegenüber Nicht-Muslimen Selbst der als der große islamische Erneuerer des 19. Jahrhunderts zelebrierte Dschamal ad-Din al-Afghani bekennt sich zum Sabghat al-Islam (‚Grundcharakteristikum‘), das Anspruch auf „Sulta wa al ghalab, d. h. auf Dominanz und Überlegenheit“23 erhebt, bedauert jedoch, dass Muslime der neueren Geschichte hinter diesem Anspruch zurückbleiben. Der zitierte Anspruch hat theologische und historische Ursprünge. Im Koran steht in Sure 3 Vers 19 „al-din ind-Allah huwa al Islam“ (‚als Religion gilt bei Allah nur der Islam‘). Warum? Nach dem Verständnis des Koran besteht die Geschichte aus göttlichen Offenbarungen, die durch einen von Allah entsandten Propheten erfolgen. Moses und Jesus waren hierbei Vorfahren von Mohammed. Der Koran beansprucht jedoch für Mohammed und für die islamische Offenbarung einen Abschlusscharakter im Sinne von Perfektion und Vollständigkeit. Im Koran wird Mohammed die Eigenschaft zugeschrieben, als Prophet Khatem (‚Siegel‘) zu sein. Hieraus leiten Muslime den Anspruch ab, allen anderen überlegen zu sein. Die Tatsache, dass heute im 21. Jahrhundert Muslime genau das Gegenteil von dem sind, was sie beanspruchen, führt nicht nur zu Aggressivität und Suche nach Schuldigen („die 20
Vgl. ebd. Tibi, Islam’s Predicament, bes. Kap. 2–4 sowie Kap. 6–8 (wie Anm. 2) mit anschließenden Fallstudien. 22 Vgl. Abdou Filali-Ansary, The Sources of Enlightened Muslim Thought, in: Islam and Democracy in the Middle East, hg. v. L. Diamond et al., Baltimore 2003, 237–251. In diesem Geist haben zehn Muslime im November 2018 die Initiative ‚Säkularer Islam‘, zu deren Trägern ich auch gehöre, und die Deklaration Zehn Stimmen für einen aufgeklärten Islam, in: DIE ZEIT, 22.11.2018, 48, veröffentlicht. 23 Dschamal ad-Din al-Afghani, Al-A’mal al-Kamila, Kairo 1968, 328. 21 Vgl.
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Juden und Kreuzzügler“24), sondern die Spannung zwischen Anspruch und Realität resultiert auch in einer vom iranischen Gelehrten Daryush Shayegan artikulierten Cultural Schizophrenia25. Vollständigkeitshalber muss hinzugefügt werden, dass nicht allein die Theologie, sondern auch die historische Realität einer sich vom 7. bis zum 17. Jahrhundert erstreckenden weltweiten Dominanz der islamischen Zivilisation zur Weltanschauung des supremacism (‚der Überlegenheit‘) beigetragen hat.26 2.4 Vierte Idee: Islamische Toleranz (Tasamuh) Im Gegensatz zu Politik und deutschem Journalismus darf man – gleich ob positiv oder negativ – in der Wissenschaft nicht urteilen, ohne vorher klarzumachen, wovon man spricht. Es werden viele Lorbeeren über islamische Toleranz von Menschen vergeben, die hierüber in der Sache so gut wie nichts wissen. Daher gebe ich zuerst folgende Information: Die islamische Religionslehre schreibt Duldung für Monotheisten, d. h. Juden und Christen vor, die unter islamischer Vorherrschaft den Status Dhimmi, d. h. Schutzbefohlene erhalten. Für alle anderen Religionen (Hinduismus, Sikh, Buddhismus etc.) sowie für Menschen, die nicht glauben, gilt dies nicht. Ein Dhimmi ist ein Gläubiger zweiten Ranges, der nicht dieselben Rechte wie ein Muslim hat. Die jüdische Publizistin Bat Yeʼor hat in ihrem Buch Islam and Dhimmitude27 die islamische Doktrin der Toleranz mit historischen Fakten konfrontiert und gelangt zu Ergebnissen, die in Widerspruch zum islamischen Selbstbild der Toleranz stehen. Ich lasse Yeʼors Aussagen so stehen und bemühe mich um weitere Differenzierungen beim Vortrag meiner fünften Idee. Dieser Gegenstand ist es wert, vertieft zu werden, weil es von dem Ergebnis der Erläuterung abhängen wird, ob der Versuch sich lohnt, einen wohl nicht reformierten Islam in eine Ökumene miteinzubeziehen. Als Muslim empfehle ich Christen, die Spannung zwischen Wirklichkeit und Wunschdenken ernstzunehmen. Auf der Bochumer Konferenz habe ich postmodernen Christen zugehört, die die Wirklichkeit bestreiten und als ‚konstruiert‘ abtun. Als weberisch denkender Soziologe gehe ich von einer objektiv existierenden Wirklichkeit aus.28 Daher fehlt mir in diesem Fall jede Gesprächsgrundlage. 24 Vgl. z. B. Ali Mohammed Jarisha/M . Sh. Zaibaq, Asalib al-ghazu al-fikri li al-alam al-Islami (Methods of Intellectual Invasion of the Islamic World), Kairo 21978, 16–18. 25 Daryush Shayegan, Cultural Schizophrenia. Islamic Societies Confronting the West, London 1992. 26 Vgl. Kapitel 1 und 4 in: Tibi, Kreuzzug und Djihad (wie Anm 10); vgl. auch das zentrale Kapitel zum supremacism in: Tibi, Islam’s Predicament, 209–236 (wie Anm. 2). 27 Bat Ye’or, Islam and Dhimmitude. Where Civilizations Collide, Cranbury, NJ 2002. 28 Vgl. Max Weber, Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Soziologie, Weltgeschichtliche Analysen, Politik, hg. v. J. Winckelmann, Stuttgart 31964, 186–262.
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2.5 Fünfte Idee: Islamische Einordnung von Christen und Juden als Dhimmi schließt eine Ökumene der Gleichberechtigung aus Man sollte es nicht nur unterlassen, Objektivität als konstruiert abzutun, auch sollte man Geschichte und Gegenwart nicht miteinander verwechseln, denn selbst die alte, eingeschränkte Tasamuh (‚Toleranz‘) gegenüber Christen und Juden sowie anderen Minderheiten (z. B. Yesiden) existiert heute nirgends. Eine von der Christian Solidarity International (CSI) in Zürich organisierte Ringvorlesung, deren Vorträge der Menschenrechtsaktivist John Eibner als Buch unter dem Titel The Future of Religious Minorities in the Middle East herausgab,29 belegt empirisch die Aussage, dass islamische Mehrheitsgesellschaften alle Rechte aller religiösen Minderheiten missachteten; von der Tasamuh ist keine Spur mehr zu finden. Es gab bessere Zeiten, aber der Hinweis darauf darf nicht dazu instrumentalisiert werden, die heutige Misere zu verdecken. Coercion, d. h. Zwang gegenüber Andersgläubigen, so zeigt die Studie von Prof. Yohanan Friedmann, ist nicht neu. Diesen gab es auch in besseren Tagen der islamischen Geschichte.30 Es geht darum, dies zu verstehen – im Sinne einer policy (im Englischen bezeichnet dies nicht Politik, sondern Konzepte für Handlungen) für eine Ökumene, die möglicherweise den Islam einschließt. Ich möchte diesen Gedanken unter Rekurs auf den Islamhistoriker Bernard Lewis am Gegenstand der Juden als Dhimmi im Islam erläutern und entfalten. Jenseits der heute vorherrschenden Methoden der Extrema der Verherrlichung oder der Verteufelung untersucht Bernard Lewis das Leben der Juden im Islam sowohl geschichtlich und theologisch als auch in der Gegenwart: Er stellt positiv eine jüdisch-islamische Symbiose heraus und übersieht jedoch nicht die Existenz von Judenskepsis oder Judenhass, der allerdings kein Antisemitismus ist; dieser entwickelt sich erst in der Gegenwart als the new antisemitism. Lewis Buch The Jews of Islam31 ist ein Meisterwerk der Religions- und Geschichtswissenschaft. Die Größe des im Mai 2018 mit 101 Jahren verstorbenen Bernard Lewis macht mich stolz darauf, dass er zu den Autoren meiner Festschrift Zwischen Konfrontation und Dialog32 gehört und dass ich ein akademisches Jahr mit ihm als Gastprofessor in Princeton verbrachte. Der Aufbau des zitierten Buches bietet ein gültiges Muster für jede Analyse des Verhältnisses einer Religion zu an29 Vgl. John
Eibner (Hg.), The Future of Religious Minorities in the Middle East, London 2018; vgl. dort auch Bassam Tibi, Remarks on the ‚Arab Spring‘ and Religious Minorities in a Shariʼa State, in: ebd., 65–78. 30 Vgl. Yohanan Friedmann, Tolerance and Coercion in Islam. Interfaith Relations in the Muslim Tradition (Cambridge Studies in Islamic Civilization), Cambridge, MA 2003. 31 Bernard Lewis, The Jews of Islam, Princeton, NJ 1978; deutsche Übersetzung: ders., Die Juden der islamischen Welt. Vom frühen Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, übers. v. L. Julius, München 1987; vgl. dazu meine Würdigung: Bassam Tibi, Die Geschichte einer Symbiose, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.5.1989, 14. 32 Vgl. Marwan Abou-Taam et al. (Hg.), Zwischen Konfrontation und Dialog. Der Islam als politische Größe (FS B. Tibi), Wiesbaden 2011.
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deren Religionen und hierdurch wird es wichtig für das Denken über Ökumene, die eben dies zum Gegenstand hat. Nach einer Analyse über Islam und andere Religionen folgt die historische Beleuchtung der jüdisch-islamischen Tradition. Sie stellt den Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit dar. Hiermit endet die gute Tradition der besseren Islam-Tage. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. Mai 1989 gewährte mir ein nahezu ganzes Zeitungsblatt für die Würdigung dieses Buches, dessen Textteil auf Seite 170 mit dem traurigen Satz endet: „Die jüdisch-islamische Symbiose war eine […] schöpferische Periode […]. [Sie] ist nun zu Ende gegangen.“33 Dasselbe gilt auch für das Christentum in seiner Stellung in der heutigen Welt des Islam.34 2.6 Sechste Idee: Die Zeit des Kontrasts – Die Welt fordert einen Religionspluralismus der Toleranz und die Welt des Islam entfaltet einen intoleranten Islamismus Lewis beanstandet die untergeordnete Behandlung von Juden im klassischen Islam als Dhimmi, gibt aber zu bedenken, dass die Juden in Sicherheit unter Muslimen leben konnten, wohingegen mittelalterliche Christen sie ermordeten: Ein Leben als Dhimmi im Islam ist dem Tod unter Christen vorzuziehen. Im 21. Jahrhundert gelten diese Maßstäbe nicht mehr. Heute gilt islamische Toleranz als Diskriminierung. Juden und Christen aus der Welt des Islam fliehen nach Europa, um zu überleben. Europa ist besser, der Islam ist schlechter geworden. Bis auf Ausnahmen (z. B. Marokko) müssen Juden und Christen in der Welt des Islams um ihr Leben fürchten. Der Islamismus ordnet beide als Kuffar (‚Ungläubige‘),35 nicht mehr wie in besseren Zeiten als Dhimmi ein. Das ist eine erhebliche Verschlechterung. Das Extrem der Verfolgung religiöser Minderheiten durch Islamisten wird begleitet von der Geltung der Gleichheit der Religionen als internationalem Standard. Statt Ökumene entstehen in diesem Kontext Wertekonflikte, nicht nur in der Welt des Islam, sondern auch in Europa, wo durch islamische Zuwanderung „eine wachsende Islam-Diaspora“36 entsteht. Unter der Direktion der Forschungsstelle Global Islam an der Goethe Universität zu Frankfurt am Main wurde ein DFG-Projekt durchgeführt, aus dem das Buch Normenkonflikte in pluralistischen Gesellschaften37 hervorging. Das ist der kontextuelle Rahmen für eine Ökumene. 33
Lewis, The Jews, 170 (wie Anm. 31). Eibner, The Future (wie Anm. 29). 35 Vgl. Tibi, Islamische Geschichte, 67–81 (wie Anm. 7), über den Islamismus. 36 Bassam Tibi, Islamische Zuwanderung und ihre Folgen. Der neue Antisemitismus, Sicherheit und die ‚neuen Deutschen‘, Stuttgart 2018. 37 Unter diesem Titel ist auch das von Susanne Schröter herausgegebene Buch bei Campus erschienen; vgl. Bassam Tibi, Der neue Kalte Krieg zwischen den Zivilisationen und Alterna34 Vgl.
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2.7 Siebte Idee: Von der wissenschaftlichen Analyse zum Handeln. Policy Implications Auf der Bochumer Konferenz erzählte ich die Geschichte meiner Antrittsvorlesung in Harvard im Frühling 1982. Ich wurde nach meinen policy implications gefragt und meine Antwort war ehrlich: Das habe ich in meiner Ausbildung in Deutschland nie gelernt. Nach einer islamischen Sozialisation in Damaskus und einer deutsch-europäischen Sozialisation der ‚negativen Dialektik‘ bzw. ‚Kritischen Theorie in Frankfurt‘ erhielt ich von 1982 bis 2010 eine dritte Sozialisation in den USA, wo der wichtigste Teil meiner akademischen Laufbahn stattfand. Bis dahin, also 1982, waren mir policy implications fremd. Diesem Gegenstand wende ich mich jetzt zu, nachdem ich in den bisherigen sechs Ideen analysiert habe. Wer über Ökumene nachdenkt, muss in der Lage sein, dies auf die Realität im Rahmen von policy zu beziehen; ein realitätsfernes Denken ist mir seit meinen USA-Jahren in Harvard, Princeton, Berkeley, Yale und Cornell fremd geworden. Ich möchte meine policy-geleiteten Überlegungen am Gegenstand des am Center for Advanced Holocaust Studies (CAHS) durchgeführten Trialogs konkretisieren, aus dem das Buch Encountering the Stranger38 hervorging. Für jeden sind Angehörige anderer Religionen Fremde. Wie also geht man damit um? Mein Ausgangspunkt ist das reale Leben von Angehörigen unterschiedlicher Religionen in einem Zeitalter, in dem mittelalterliche Anschauungen, wie z. B. Überlegenheit über andere, nicht mehr zugelassen werden dürfen. Hier greife ich auf meine oben formulierte erste Idee des Pluralismus der Religionen zurück, wonach Religionen wie Parteien in einer Demokratie gleichwertig sind. Entgegengesetzte theologische Standpunkte lasse ich im Rahmen von Religionsfreiheit und weltanschaulicher Neutralität nicht zu. Am CAHS musste ich als ein ehrlicher Muslim gegen manchen meiner co-religionists mit einem täuschenden ‚Spielchen‘, d. h. mit Rückgriff auf die neo-islamische Doktrin der Iham (‚Täuschung der Ungläubigen im Dialog‘), argumentieren, ebenso gegen manche Christen, die zu viel Verständnis aufbringen. Es fiel auf, dass Juden hier selbstbewusster auftreten, Gleichheit für sich und Souveränität für ihren jüdischen Staat fordern. In meinem Kapitel „The Place of Non-Muslims in the Islamic Concept of the ‚Other‘: The Need for Rethinking Islamic Tradition in the Pursuit of Religious Pluralism“ im genannten Buch Encountering the Stranger39 bestand ich auf ein reform-islamisches rethinking des Platzes von Nicht-Muslimen im islamischen Konzept des Anderen (‚The Place of Non-Muslims in the Islamic Concept of the Other‘). In einem anderen Projekt an der Universität Dresden, tiven dazu, in: Normenkonflikte in pluralistischen Gesellschaften (Normative Orders 21), hg. v. S. Schröter, Frankfurt a. M. 2017, 77–132. 38 Grob/ R oth (Hg.), Encountering the Stranger (wie Anm. 1). 39 Vgl. ebd., 64–75.
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das den Namen ‚Politische Religion und Religionspolitik‘40 trug, warnte ich vor der Maske des ‚islamischen Konservatismus‘ zur Verdeckung einer politischen Religion (Islamismus) und trat für eine ‚Religionspolitik‘ ein, die diese Aufgabe erfüllen kann. Allein mit theologischen Argumenten kommen wir heute nicht weiter. Eine beständige Ökumene ohne Religionspolitik ist kaum realisierbar. 2.8 Conclusio als achte Idee Islam-Funktionäre, deutsche Kirchenleitungen sowie Politiker sprechen von ‚dem‘ Islam als einer unterstellten einheitlichen Größe. Im Gegensatz hierzu steht die Realität eines auf allen Ebenen binnendifferenzierten Islams. Aus der Perspektive des Bochumer Ökumene-Projekts muss man die Frage anschließen: ‚Welcher Islam?‘ Und meine Antwort lautet: ein Reform-Islam, der den Enlightened Muslim Thought enthält,41 der mit dem Bedarf an Pluralismus der Religionen kompatibel ist. Dies habe ich auch in der von DIE ZEIT am 22. November 2018 veröffentlichten Deklaration ‚Zehn Stimmen für einen aufgeklärten Islam‘ von der Initiative ‚Säkularer Islam‘ artikuliert. Ich gehöre zu den Trägern dieser Initiative. In der islamischen Geschichte gab es immer unterschiedliche Ansätze zur Anpassung des Islam an veränderte soziale Realitäten im Rahmen des kulturellen Wandels.42 Ich nenne hier drei miteinander konkurrierende islamische Richtungen: 1. Der skriptuelle, also schriftgläubige Islam, der von der Doktrin des sola scriptura nicht abweicht; 2. der islamische Konformismus, der sich an Veränderung pragmatisch anpasst, jedoch ohne ein rethinking von Tradition und Doktrin; 3. der islamische Rationalismus islamischer Aufklärer des Mittelalters, der heute durch das Denken mutiger Muslime wie Mohammed A. al-Jabri und Hichem Djait neu ins Leben gerufen wird. So bleibt die Frage: Welcher Islam taugt für eine Ökumene? Für die deutsche Religionspolitik besteht der Fehler darin, dass der deutsche Staat für eine Zusammenarbeit mit den organisierten Islam-Verbänden eintritt, die die erste Richtung in der obigen Liste vertreten.43 Die hierbei angestrebte ‚Verkirchlichung des 40 Gerhard Besier/H ermann Lübbe (Hg.), Politische Religion und Religionspolitik. Zwischen Totalitarismus und Bürgerfreiheit (Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung 28), Göttingen 2005; vgl. Bassam Tibi, Islamischer Konservatismus als Tarnung für den politischen Islam, in: ebd., 229–260. 41 Vgl. Filali-Ansary, The Sources (wie Anm. 22). 42 Vgl. Bassam Tibi, Der Islam und das Problem der kulturellen Bewältigung sozialen Wandels, Frankfurt a. M. 1985. 43 Vgl. Susanne Schröter, Gott näher als der eigenen Halsschlagader. Fromme Muslime in Deutschland, Frankfurt a. M. 2016. Schröter zeigt tabufrei die fließenden Grenzen zwischen Frömmigkeit und religiösem Fanatismus im Islam.
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Islam‘ tut nicht nur der Religion des Islam Gewalt an, die so etwas nicht kennt,44 sondern spielt darüber hinaus den organisierten Islam-Verbänden in die Hand, die an Macht, nicht an Toleranz, Religionsfreiheit und Pluralismus der Religionen denken. Das amerikanische Pew-Forschungsinstitut prognostiziert für Deutschland im Jahr 2050 den Anteil der Muslime an der Wohnbevölkerung auf zwanzig Prozent.45 Die Frage ist: Welcher Islam? Sie stellt sich zum Schluss dieser Abhandlung verbunden mit dem Bedarf nach einer Ökumene für Deutschland, die einen Reform-Islam einschließt. Diese Idee lässt sich durch die zunehmende Bedeutung des Islam in Europa in ein Euro-Islam-Konzept übersetzen.46
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Hierzu ausführlich und mit Belegen bes. Bassam Tibi, Die christliche Kirche als Modell für eine islamische Religionsgemeinschaft?, in: ders., Der Islam und Deutschland. Muslime in Deutschland, Stuttgart 2000, 265–290. 45 Vgl. Anteil der Muslime in Deutschland könnte sich bis 2050 verdoppeln, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.11.2017, online abrufbar unter: https://www.faz.net/aktuell/ politik/inland/muslime-in-deutschland-koennten-sich-bis-2050-zahlenmaessig-verdoppeln15317314.html?service=printPreview (letzter Zugriff am 1.3.2019; B. T.). 46 Reform-Islam für die heute circa 35 Millionen Muslime umfassende Islamgemeinde in der EU (plus circa 2 Millionen Muslime auf dem Balkan) erfordert eine Europäisierung des Islam. Diese Diskussion wird geführt in der erweiterten 2018-Ausgabe von Bassam Tibi, EuroIslam statt Islamismus. Ein Integrationskonzept, Stuttgart 2020.
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Literaturverzeichnis Marwan Abou-Taam et al. (Hg.), Zwischen Konfrontation und Dialog. Der Islam als politische Größe (FS B. Tibi), Wiesbaden 2011. Dschamal ad-Din al-Afghani, Al-A’mal al-Kamila, Kairo 1968. Anteil der Muslime in Deutschland könnte sich bis 2050 verdoppeln, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.11.2017, online abrufbar unter: https://www.faz.net/aktuell/ politik/inland/muslime-in-deutschland-koennten-sich-bis-2050-zahlenmaessig-ver doppeln-15317314.html?service=printPreview (letzter Zugriff am 1.3.2019; B. T.). Gerhard Besier/H ermann Lübbe (Hg.), Politische Religion und Religionspolitik. Zwischen Totalitarismus und Bürgerfreiheit (Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung 28), Göttingen 2005. Die Stunde der Diplomaten. 350 Jahre Westfälischer Friede in Münster und Osnabrück, in: Neue Zürcher Zeitung, 17.11.1998, 46. John Eibner (Hg.), The Future of Religious Minorities in the Middle East, London 2018. Abdou Filali-Ansary, The Sources of Enlightened Muslim Thought, in: Islam and Democracy in the Middle East, hg. v. L. Diamond et al., Baltimore 2003, 237–251. Egon Flaig, Die Niederlage der politischen Vernunft. Wie wir die Errungenschaften der Aufklärung verspielen, Springe 2017. Yohanan Friedmann, Tolerance and Coercion in Islam. Interfaith Relations in the Muslim Tradition (Cambridge Studies in Islamic Civilization), Cambridge, MA 2003. Francis Fukuyama, Against Identity Politics. The New Tribalism and the Crisis of Democracy, in: Foreign Affairs 97 (2018), 90–114. Ders., Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet, übers. v. B. Rullkötter, Hamburg 2019. Anthony Giddens, Beyond Left and Right. The Future of Radical Politics, Cambridge, MA 1994. Leonard Grob/John Roth (Hg.), Encountering the Stranger. A Jewish-ChristianMuslim Trialogue, Seattle, WA 2012. Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a. M. 1986. Ders., Glauben und Wissen, Frankfurt a. M. 2001. Ali Mohammed Jarisha/M . Sh. Zaibaq, Asalib al-ghazu al-fikri li al-alam al-Islami (Methods of Intellectual Invasion of the Islamic World), Kairo 21978. John Kekes, The Morality of Pluralism, Princeton, NJ 1993. Bernard Lewis, The Jews of Islam, Princeton, NJ 1978. Anthony Reid/M ichael Gilsenan (Hg.), Islamic Legitimacy in a Plural Asia, London 2007. Susanne Schröter, Gott näher als der eigenen Halsschlagader. Fromme Muslime in Deutschland, Frankfurt a. M. 2016. Daryush Shayegan, Cultural Schizophrenia. Islamic Societies Confronting the West, London 1992. Theda Skocpol (Hg.), Vision and Method in Historical Sociology, Cambridge, MA 71995. Bassam Tibi, Aufbruch am Bosporus. Die Türkei zwischen Europa und dem Islamismus, München 1998. Ders., Basler unbequeme Gedanken. Über illegale Zuwanderung, Islamisierung und Unterdrückung der Redefreiheit, Stuttgart 2018.
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Bassam Tibi
Ders., Der Islam und das Problem der kulturellen Bewältigung sozialen Wandels, Frankfurt a. M. 1985. Ders., Der neue Kalte Krieg zwischen den Zivilisationen und Alternativen dazu, in: Normenkonflikte in pluralistischen Gesellschaften (Normative Orders 21), hg. v. S. Schröter, Frankfurt a. M. 2017, 77–132. Ders., Die christliche Kirche als Modell für eine islamische Religionsgemeinschaft?, in: ders., Der Islam und Deutschland. Muslime in Deutschland, Stuttgart 2000, 265–290. Ders., Die Geschichte einer Symbiose, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.5.1989, 14. Ders., Euro-Islam statt Islamismus. Ein Integrationskonzept, Stuttgart 2020. Ders., Friede im Nahen Osten im Lichte einer Vergegenwärtigung des Westfälischen Friedens, in: Religionsfriede als Voraussetzung für den Weltfrieden. Weltkonferenz der Religionen für den Frieden (WCRP). Regionalgruppe Osnabrück, hg. v. D. Kröger, Osnabrück 2000, 17–28. Ders., Global Communication and Cultural Particularisms. The Place of Values in the Simultaneity of Structural Globalization and Cultural Fragmentation. The Case of Islamic Civilization, The Handbook of Global Communication and Media Ethics, Bd. I, Malden, MA 2011, 54–78. Ders., Habermas and the Return of the Sacred. Is it a Religious Renaissance?, in: Religion – Staat – Gesellschaft 3 (2002), 265–296. Ders., Islam and Cultural Modernity. In Pursuit of Democratic Pluralism in Asia, in: Reid/Gilsenan (Hg.), Islamic Legitimacy, 28–52. Ders., Islam in Global Politics. Conflict and Cross-Civilizational Bridging, London 2012. Ders., Islamische Geschichte und deutsche Islamwissenschaft. Islamologie und die Orientalismus-Debatte, Stuttgart 2017. Ders., Islamischer Konservatismus als Tarnung für den politischen Islam, in: Besier/ Lübbe (Hg.), Politische Religion, 229–260. Ders., Islamische Zuwanderung und ihre Folgen. Der neue Antisemitismus, Sicherheit und die ‚neuen Deutschen‘, Stuttgart 2018. Ders., Islam’s Predicament with Modernity. Religious Reform and Cultural Change, London 2009. Ders., Kreuzzug und Djihad. Der Islam und die christliche Welt, München 1999. Ders., Remarks on the ‚Arab Spring‘ and Religious Minorities in a Shariʼa State, in: Eibner (Hg.), Future, 65–78. Ders., The Place of Non-Muslims in the Islamic Concept of the ‚Other‘. The Need for Rethinking Islamic Tradition in Pursuit of Religious Pluralism, in: Grob/J. Roth (Hg.), Encountering the Stranger, 64–75. Max Weber, Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Soziologie, Weltgeschichtliche Analysen, Politik, hg. v. J. Winckelmann, Stuttgart 31964, 186–262. Bat Ye’or, Islam and Dhimmitude. Where Civilizations Collide, Cranbury, NJ 2002. Zehn Stimmen für einen aufgeklärten Islam, in: DIE ZEIT, 22.11.2018, 48.
Autorenverzeichnis Stefan Dienstbeck, Dr. theol. habil.; Professor am Institut für Ökumenische Forschung in Strasbourg, seit 2016 berufenes Mitglied im Dialog der VELKD mit dem Bistum der Alt-Katholiken in Deutschland; Forschungsschwerpunkte: Klassische Dogmatik, Ökumenische Theologie, Antike und Religionsphilosophie. Claudia Jahnel, Dr. theol. habil.; Professorin für Interkulturelle Theologie und Körperlichkeit an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum, 2008–2017 Leitung des theologischen Bildungs- und Grundsatzreferats Mission Interkulturell am Centrum Mission EineWelt, dem Centrum für Partnerschaft, Entwicklung und Mission der ELKB in Neuendettelsau; Forschungsschwerpunkte: Körperlichkeit, Kindheit interkulturell, Migrationskirchen, Pfingstkirchen. Rebekka A. Klein, Dr. theol. habil.; Professorin für Systematische Theologie/ Dogmatik und Ökumene an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der RuhrUniversität Bochum, 2011–2017 Leitung des Forschungsprojektes „Prekäre Souveränität: Dekonstruktion und Kritik einer Grundfigur der Politischen Theologie“ am Institut für Systematische Theologie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Forschungsschwerpunkte: Phänomenologie und Ontologie des Sozialen, Körperlichkeit, Kulturen der Souveränität, kritische Theorie der Ökumene. Ulrich H. J. Körtner, Dr. theol. DDr. h. c. habil.; Professor für Systematische Theologie (Reformierte Theologie) an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, 2014–2019 Direktor des Instituts für Öffentliche Theologie und Ethik der Diakonie; Forschungsschwerpunkte: Fundamentaltheologie, Hermeneutik, Ethik, Ökumenische Theologie. Annemarie C. Mayer, Dr. theol. habil.; Professorin für Systematische Theologiean der Fakultät für Theologie und Religionswissenschaft der Katholischen Universität Löwen, Mitglied der Abteilung ‚Systematic Theology and the Study of Religions‘; Forschungsschwerpunkte: Dogmatik, Ökumene, Interreligiöser Dialog, Theologie und Religionswissenschaft. Marianne Moyaert, Dr. theol. habil.; Professorin für Komparative Theologie und Hermeneutik des interreligiösen Dialogs an der Freien Universität Amsterdam; Forschungsschwerpunkte: Interreligiöser Dialog, Komparative Theologie, Hermeneutik, ritual turn.
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Autorenverzeichnis
Markus Mühling, Dr. theol. habil.; Professor für Systematische Theologie an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel, seit 2013 Mitglied des Center of Theological Inquiry in Princeton; Forschungsschwerpunkte: Narrative Ontologie, Relational-trinitarische Theologie, Soteriologie und Eschatologie, Dialog zwischen Theologie und Naturwissenschaften, Phänomenologische Grundlagen der Ethik. André Munzinger, Dr. theol. habil.; Professor für Systematische Theologie mit Schwerpunkt Ethik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, seit 2015 Leiter der Schleiermacher-Forschungsstelle ebendort; Forschungsschwerpunkte: Hermeneutik der Differenz, Entwicklungs- und Nachhaltigkeitsethik, Vertrauen und die Praktiken des Zusammenhalts moderner Gesellschaften. Risto Saarinen, Dr. theol. Dr. phil. Dr. theol. h. c. habil.; Professor für Ökumene an der Theologischen Fakultät der Universität Helsinki, 2014–2019 Direktor der Academy of Finland’s Centre of Excellence ‚Reason and Religious Recognition‘; Forschungsschwerpunkte: Ökumenische Theologie, Anerkennungstheorien, Europäische Reformationen, Systematische Theologie der Gegenwart. Dorothea Sattler, Dr. theol. habil.; Professorin für Ökumenische Theologie und Dogmatik sowie Direktorin des Ökumenischen Instituts der KatholischTheologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Wissenschaftliche Leiterin des Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen; Forschungsschwerpunkte: Ökumenische Theologie, Soteriologie, Ekklesiologie. Perry Schmidt-Leukel, Dr. theol. habil.; Professor für Religionswissenschaft und Interkulturelle Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, seit 2018 Geschäftsführender Direktor des Centrums für Religionsbezogene Studien; Forschungsschwerpunkte: Theologie der Religionen, Interreligiöse Beziehungen, Christlich-Buddhistischer Dialog, Interreligiöse Theologie. Wolfgang Thönissen, Dr. theol. habil.; Professor für Ökumenische Theologie sowie Leitender Direktor des Johann-Adam-Möhler-Instituts für Ökumenik der Theologischen Fakultät Paderborn, Mitglied im Ökumenischen Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen; Forschungsschwerpunkte: Ökumenische Theologie, Reformationszeit, Ekklesiologie. Bassam Tibi, Dr. phil. habil.; Professor Emeritus, 1973–2009 Professor für Internationale Beziehungen und A. D. White Professor an der Cornell University bis 2010 und zuvor Bosch Research Professor in Harvard, 1986–2004 zahlreiche Gastprofessuren in den USA, in Asien und Afrika, die letzte davon Cleveland B. Dodge distinguished Professor an der Amercanian University of Cairo 2016; Forschungsschwerpunkte: Islamologie, Politische Theorie, Interkulturelle Theorie.
Personenregister Augustinus, Aurelius 111, 230 Balthasar, Hans Urs v. 246 Barth, Karl 13, 148, 238–240 Benedikt XVI. siehe Ratzinger, Joseph Bhabha, Homi 12, 205, 209, 211 Blackburn, Anne 252, 260 Bultmann, Rudolf 35, 148
Koch, Kurt 19 Kristeva, Julia 211 Lange, Ernst 32 f Lim, Timothy 148 Luther, Martin 31, 79–82, 111, 131, 238
Chrysostomos, Johannes 160 f, 165
Marchart, Oliver 207 Marx, Reinhard 19 Meyer, Harding 88, 141
Dantine, Wilhelm 32 f
Nietzsche, Friedrich 9, 109–113, 120 f
Franziskus (Papst) 19, 61 f Fries, Heinrich 151–153
Pannenberg, Wolfhart 78, 80, 141 Paulus 10, 35, 104, 118–121, 132, 241 Paul VI. 51, 64
Hall, Stuart 205, 210, 213 Harnack, Adolf v. 112 f, 115 Hegel, Georg W. F. 146–148 Herder, Johann G. 188 Herms, Eilert 24, 196 Holenstein, Elmar 231 f Honneth, Axel 10, 145–148, 154, 156, 177–179 Huntington, Samuel P. 192 Ingold, Tim 10, 133, 136, 139 Johannes Paul II. 51, 102, 104, 203 Kant, Immanuel 111, 187 f Kasper, Walter 20, 151–153, 161 Kelly, Gerard 153 f
Rahner, Karl 32 f Ratzinger, Joseph (Benedikt XVI.) 35, 57, 151–153, 161 Ricœur, Paul 145 f, 148, 154 Sauter, Gerhard 28 Schleiermacher, Friedrich D. E. 12, 111, 148 f, 193 f Seneca d. J. 158–160 Serres, Michel 139 Taylor, Charles 10, 145 f, 148 Tillich, Paul 9, 114–118, 121 f, 124 Zinzendorf, Nikolaus L. v. 31 Zizioulas, Ioannis 142
Sachregister Anerkennung 7, 9–14, 28, 52 f, 66, 86, 96, 101, 123, 145–158, 160–165, 171 f, 175–181, 188, 190, 204, 218, 248, 260, 273 – ~stheorie 145, 148, 156 f, 161, 163 f – als Toleranz, siehe Toleranz Buddhismus 13, 143, 232, 234–239, 246, 248, 275 Christentum 1 f, 6, 10 f, 13 f, 20–22, 24–27, 31, 70, 84, 86, 100, 112, 120–122, 124 f, 143, 145, 149, 179 f, 195, 206 f, 212, 230, 232, 235–240, 247, 249, 251, 259, 270, 272 f, 277 – Welt~ 2 f Confessio Augustana 29, 77 f, 83, 89, 157, 171 Diaspora 6 f, 22, 30–34, 36, 277 – ~existenz der Kirche 3, 7, 32 f, 35 – ~theologie 22 f, 30–36 Differenz 1, 11, 13, 23–28, 30, 46, 52, 104, 141–143, 170, 172, 175, 178, 197 f, 203–205, 207, 209–211, 216, 219 – ~begriff 26 – ~hermeneutik 7, 23 – ~sensibilität 195, 199 – In~ 25, 117 – konfessionelle ~ 79, 172 – kulturelle ~ 193, 197 f, 210, 231 – Trans~ 197 Einheit 8–11, 17–20, 24–27, 30, 43–52, 54–56, 61–63, 65, 67, 71–74, 83, 85–88, 90, 93, 95–100, 102 f, 116–119, 121, 123 f, 141–143, 150, 169–172, 174, 181, 196, 199, 203–213, 215–219 – sichtbare ~ 8–10, 83, 89, 95, 141, 164 Ekklesiologie, siehe Kirche
Fremdheit 34 f, 93, 99, 123, 160, 172, 177, 238, 241, 246 f, 250, 252, 254, 278 Geist 6, 20, 26 f, 29 f, 45, 50, 54, 63, 80, 93–95, 99–101, 103, 114, 116 f, 174 f, 237, 239, 254 Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre 13, 17, 28, 70 f, 88, 241 Gemeinschaft – ~ der Demut 120 – ~ der Kirchen 3, 9, 17 f, 25, 29, 33, 46 f, 49, 51 f, 55 f, 64–66, 85, 102–104, 117, 145, 152 f, 162, 164, 170 f, 174, 179, 218, 236 – ~ der Menschheit 12, 193 f, 214 – ~ des Heiligen Geistes 26 f, 114 – ~ mit Gott 47, 119, 174–176, 256 – ~ mit Jesus Christus 7, 98, 118 – als communio 82, 133, 141 f, 206–210 – christliche ~ 2, 5, 94 f, 115 – gegenhegemoniale ~ 12 – Glaubens~ 9, 44, 77, 79 f, 99, 101, 104, 252 f – kommunitäre ~ 10 – Völker~ 32 Glaube 4–8, 21 f, 25 f, 29, 35, 44, 55, 82 f, 97, 103, 111, 132, 141, 152, 232, 235, 237 f, 248, 251, 253, 256, 259, 263, 271 Gott 4, 9, 30, 35, 45, 47, 54, 79, 95, 98, 103, 116, 122 f, 125, 140, 148–150, 174, 194, 206, 211, 237 f, 253 f – Wort Gottes 55, 81, 94, 105, 125, 174 Hinduismus 230, 232, 235 f, 246, 248, 275 Identität 2, 6, 9, 21, 25 f, 30, 36, 43, 46, 51, 56, 70, 104, 117, 125, 132, 140, 146, 149, 156, 169, 171, 177, 180, 187, 195 f, 209 f, 213, 215, 256, 263, 271 Individualität 12, 21, 71, 79 f, 147, 177, 193, 199, 231–233, 262
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Sachregister
Islam 14, 21, 143, 232, 236, 269, 272–277, 279 f – ~ismus 277, 279 Jesus Christus 7, 9, 11, 24, 35, 44, 47, 53, 55 f, 80, 84, 87, 100 f, 104, 109, 119, 143, 149 f, 171 f, 175, 239 Judentum 26 f, 30 f, 143, 232, 236, 246, 248, 256 f, 276–278 Kirche 2, 6–9, 11 f, 18, 20–22, 25 f, 28, 30, 32 f, 36, 44, 46 f, 50 f, 54 f, 57, 71, 78, 80, 85 f, 93, 95, 101, 103, 109, 112, 114–117, 122, 124 f, 133, 142, 150, 162, 172, 174, 176, 179, 206, 208, 210, 236 – als creatura verbi 77–79, 81, 85, 89 f – als Geistgemeinschaft 117 f – Lehre von der ~/Ekklesiologie 7, 9, 11, 25–27, 34, 44, 49, 51 f, 80, 82, 85 f, 109, 114–117, 121, 125, 142, 170–173, 176, 236 Konfession – anglikanische ~ 87, 152, 161, 163 – evangelische ~ 2 f, 8, 11, 14, 17–20, 22, 26, 29 f, 33, 50, 62, 71, 77, 80 f, 83, 87, 89, 113, 148, 153, 163, 170–172, 181, 197, 239, 259 – lutherische ~ 8, 17 f, 77 f, 90, 111, 148, 151 f, 154, 156, 170 f – orthodoxe ~ 22, 63, 85, 87, 151, 208, 240 – reformierte ~ 17, 68, 171 – römisch-katholische ~ 2, 7 f, 17–19, 30, 49, 53, 61, 69, 71, 85, 87, 96, 148, 150, 153, 156, 160 f, 198, 203, 240 f, 258 f Konsens 6, 8, 10, 14, 17, 21, 29, 102, 105, 142, 190, 271, 273 – differenzierter ~ 18, 23, 88, 151, 154 Kosmopolitismus 11, 124, 187–189, 193, 196, 199, 204 f, 207, 209, 213, 219 Kreuz 26 f, 35, 100, 115, 141 – ~estheologie 26, 32, 119 – ~zeichen 255 Kultur 5 f, 21, 25, 31, 47, 72, 83, 114 f, 121, 139, 164, 169, 174, 176, 191 f, 205, 212 f, 215 f, 230, 246 f, 250, 254, 270 f, 274, 279
– ~wissenschaft 9, 33, 192, 204, 213, 251, 255, 258, 260 – Interkulturalität 11 f, 169 f, 177, 180 f, 212, 228, 231 – Multikulturalität 2, 124, 146, 173, 176, 190, 195, 213 – Transkulturalität 12, 197 Leuenberger Konkordie 10, 17, 24, 27, 153, 170 f Liturgie 9, 28 f, 49, 93, 95, 101–103, 252, 257, 259 Lumen gentium 7, 47, 49–51, 53, 74, 80, 101, 150 Macht 2 f, 8 f, 11 f, 35, 89, 109, 111, 116, 119, 122, 124, 132, 155, 190, 204–206, 210, 213, 215, 219, 252, 273, 275, 280 Minderheit 2, 6, 22, 30, 34, 199, 204, 216 f, 276 f Moderne 2, 5, 8, 11, 32, 46, 72, 110, 117, 124, 139, 146 f, 149, 152, 156, 161, 163, 177, 179, 191 f, 203 f, 258 f, 273 – Post~ 2 f, 71 f, 179, 275 Nostra aetate 150, 252 Ökumene 1–3, 6–14, 17–21, 23–25, 27, 43, 49 f, 52, 61, 64 f, 68, 70 f, 88 f, 95, 103, 109 f, 112, 118, 121, 124–126, 140, 143, 161, 164, 170–172, 180, 188, 193, 195, 197–199, 203, 205 f, 208, 212, 215, 218 f, 227 f, 269–271 – ~ der Institutionen 62, 68, 71, 74 – ~ der Religionen 270–280 – ~ des Einspruchs 29 – Abrahamatische ~ 143 – Differenz~ 25 – Geistliche ~ 30, 93, 96, 100 f, 103 f – Konsens~ 21, 24, 29 – Kosmopolitische ~ 187 f, 193, 196, 199, 203, 219 – Ökumenische Bewegung 3, 6 f, 9–11, 17, 20, 45, 49–51, 63, 65, 73, 93 f, 96, 102, 149, 170, 194, 199, 203, 206, 211 – Ökumenische Ethik 18, 23 – Ökumenische Hermeneutik 23, 28, 52, 93
Sachregister
289
– Ökumenischer Dialog 8–10, 22, 28, 52, 66, 77, 86, 89, 93, 142, 173 – Ökumenisches Ethos 9, 126 – Ökumenische Theologie 2 f, 6, 13, 21, 23, 25, 27, 53, 102, 105, 123, 148, 154, 170, 179 f, 228, 240 – Ökumenismus 36, 56, 66 – Rezeptive ~ 158, 161–164
– Post~ 1, 3, 14, 25, 190, 196, 272 Schuld 9, 30, 45, 48, 51, 101, 159, 175, 234 Subjekt 11, 14, 20, 43, 57, 72, 136, 139, 147, 149, 152, 161, 179, 205 f, 231
Pluralität 6 f, 11, 13 f, 21 f, 24 f, 29 f, 52, 71, 85, 109, 116 f, 122, 140, 151, 171, 175, 177, 179, 181, 190, 195–197, 207, 227, 231, 239, 245, 250, 279
Unitatis redintegratio 46, 48 f, 55, 66, 74, 100, 150
Religion 6, 12 f, 20, 25, 122 f, 143, 174, 176, 180, 188 f, 191, 194, 196, 216, 227, 230, 232, 245, 248, 252, 254 f, 257 f, 262, 271, 276, 278, 280 Säkularität 11, 32, 72, 122 f, 148, 161, 163, 176
Toleranz 14, 28, 123, 146, 148, 177, 272, 275–277, 280
Versöhnung 10 f, 19, 26 f, 30, 51, 88, 109, 141, 154, 169, 172 f, 175, 179, 181, 211 Wahrheit 6, 8, 10, 13, 21, 28–30, 45, 52 f, 56, 72, 95, 116, 141, 149, 237, 239, 253, 256, 259, 261, 263 Zweites Vatikanum 9 f, 17, 30, 49, 53, 62, 64, 96, 99, 101, 148, 150, 162, 245