Zur Frage der Neubildung einer deutschen Identität im 21. Jahrhundert: Deutschland nach Krieg und Wiedervereinigung [1 ed.] 9783428538195, 9783428138197

Der Wandel liegt in der Natur der Dinge. Insbesondere ihre äußeren Präsentationen, ihre identitätsrelevanten Erscheinung

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German Pages 118 Year 2012

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Zur Frage der Neubildung einer deutschen Identität im 21. Jahrhundert: Deutschland nach Krieg und Wiedervereinigung [1 ed.]
 9783428538195, 9783428138197

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Zur Frage der Neubildung einer deutschen Identität im 21. Jahrhundert Deutschland nach Krieg und Wiedervereinigung

Von Peter Olivet

Duncker & Humblot  . Berlin

PETER OLIVET

Zur Frage der Neubildung einer deutschen Identität im 21. Jahrhundert

Zur Frage der Neubildung einer deutschen Identität im 21. Jahrhundert Deutschland nach Krieg und Wiedervereinigung

Von Peter Olivet Mit einem Geleitwort von Max Maginot

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten © 2012 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 978-3-428-13819-7 (Print) ISBN 978-3-428-53819-5 (E-Book) ISBN 978-3-428-83819-6 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 ○ Internet: http://www.duncker-humblot.de

Alfred Nell, dem langjährigen Mitglied der aufrechten Tübinger Judenschaft, und ihrem unbeirrbarem Fürsprecher in schwerer Zeit in Zuneigung gewidmet

Geleitwort Wenn man im Mai 1945 gegen Mittag, vom südlichen Stadtrand Prags herkommend, die alte Heerstraße nach Budweis (Budowice) ins Tal der Moldau hinunterfuhr, um sodann den ehemaligen Militärkontrollpunkt 3 (Prag Süd) zu passieren, dann mochte man auf den ersten Blick wohl glauben, durch eine Landschaft vollendeter Friedlichkeit zu fahren. Niemand störte anscheinend diesen Eindruck; und wenn man weiter südwärts die verschwimmende Straße entlang ins südliche Moldautal blickte, so sah man auf der Straße und den angrenzenden, teilweise schon landwirtschaftlich wie gartenbaulich genutzten Grundstücken niemanden. Tatsächlich war dieser Friede aber eine Täuschung. Eigentlicher Friede war überhaupt noch nicht; nicht einmal war er in Sicht. Es war die Ruhe nach dem Sturm; es war die eine, bohrende Frage, die über diesem ganzen Bild eines überstürzten Abzugs lag mit den verstreut herumliegenden Kraftfahrzeugteilen, vergessenen Patronengürteln und zerschossenen Fensterfassaden: – was nun? Um diese Maimittagszeit in Prag Süd bewegte sich damals lediglich alle zwei Tage ein Militär-Meldefahrzeug in Richtung Budweis, um die Sicherheit der noch in Prag befindlichen deutschen Truppen zu gewährleisten, und neuerdings auch, um einen Abzugssicherungsplan nach Westen hin zu erstellen und diesen mit den örtlichen Kommandanten abzustimmen, soweit diese noch vor Ort waren. Am 12. Mai 1945 fuhr wieder ein Meldefahrzeug von der Stadt her in südliche Richtung. In dem Melde-Kübelwagen neben dem Chauffeur rechts saß der Befehlshaber Prag-Mitte, Oberstleutnant Max Maginot. Er hatte heute die Fahrt selbst übernommen. Eigentlich nur deshalb, weil er wieder einmal, vielleicht zum letzten Mal, die Schönheit des frühsommerlichen Moldautals genießen wollte. Angesichts der blühenden Landschaft dachte er bei sich, dass man im Grunde doch

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Geleitwort

mit sich selbst im Reinen sein konnte. Wenn auch neuerdings einiges geschehen war. Er sagte zu seinem Chauffeur, links über die Achsel hinüber: „Scheint mir doch so, als ob wir nochmal mit einem blauen Auge davongekommen sind“. Der Chauffeur war verblüfft über die ungewohnte Leutseligkeit des Obersten; er überlegte, was richtigerweise auf dessen Worte zu sagen wäre, als unerwartet ein scharfes, anscheinend technisches – motorentechnisches – Geräusch zu hören war, das an sich hier gar nicht sein konnte und das sich aber langsam näherte. Max Maginot hatte es sofort bemerkt und sagte zu seinem Chauffeur hinüber: „Es ist doch die Höhe, dass sie mit ihren Spitfires jetzt schon bis nach Böhmen kommen.“ Der Chauffeur drehte seinen Kopf etwas in die Herkunftsrichtung des Geräusches und murmelte: „Ich glaube nicht … nein, das sind nicht englische Feuerspeyer, das ist deutsche Wertarbeit, DKW, wahrscheinlich der 250 PS-Motor vom PSW / 42 (Panzerspähwagen).“ Der Oberst wusste es besser: „Moment warten, hinter dieser Straßenbiegung werden wir gleich sehen, was los ist.“ Tatsächlich sah man kurze Zeit später hinter der Straßenbiegung eine Staubwolke auftauchen, darin undeutlich einen Wehrmachtskübelwagen mit zwei Mann auf dem Vordersitz und dahinter zwei Panzerspähwagen, die hintereinander platziert waren und gewichtig einen 3,2 Liter Mercedes (Generalsmercedes) eskortierten. Die Staubwolke löste sich rasch auf; nach der Straßenbiegung war wieder normaler Asphaltbelag aufgetragen. Der Militärkonvoi kam deutlich sichtbar näher. Und plötzlich stand vor dem Meldewagen von Max Maginot der erste Panzerspähwagen des Konvois, schräg rechts auf der Straße stehend und anhaltend, da er nicht an dem Meldekübelwagen vorbei kam. Er hatte auf den Hinterachsen Ketten aufmontiert, die ihn erheblich breiter machten. Zunächst war der Panzerfahrer des PSW unschlüssig, was er nun tun sollte. In dem direkt vor ihm stehenden Meldekübelwagen saß offenbar ein Offizier in Oberstenrang. Zunächst machte der Panzerfahrer Anstalten, einfach nach vorne den Weg freizuschreien. Dann aber winkte er zurück, zum Generalswagen hin. Im Fond des Wagens war

Geleitwort

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mittlerweile Generalfeldmarschall A. Schörner aufgestanden, in voller Uniform. Mit herrischer Geste rief er in Richtung des Kübelwagens: „Weg freimachen, sofort, sonst passiert etwas.“ Erst jetzt sah er Oberstleutnant Maginot genauer und erkannte seinen Rang. Immer noch in schreiendem Ton, aber doch schon friedlicher, machte er seinem Ärger über die Straßensperre des vor ihm haltenden Meldekübelwagens Luft. Er schrie: „Wieso stehen Sie so da? Dies ist ja eine Sperre.“ Max Maginot war jetzt auch aufgestanden in seinem Kübelwagen, antwortete aber nicht. Er deutete nur auf seinen Stander als Ortskommandanten von Prag hin, der routinemäßig am Kübelwagen angebracht worden war; dadurch wurde auf die Feldjägerbefugnisse des Ortskommandanten hingewiesen, die auch für einen Generalfeldmarschall unangenehm werden konnten (unbeschränkte Personenkontrolle). Schörner lenkte ein und fragte in relativ ruhigem Ton, wer er, Max Maginot denn überhaupt sei? Maginot antwortete: „Bisheriger Ortskommandant hier, das sehen sie doch. Und was sind Sie, 4 Tage nach dem 8. Mai?“ Max Maginot hatte schon längst gewußt, wie hier die Sachlage war: Schörner war mit seiner Panzerarmee hier gewesen in Südböhmen schon vor dem 8. Mai 1945: Er war aber nicht in Richtung Osten abgezogen, in Richtung Kapitulation. Maginot ahnte, warum. Schörner wollte noch Tage nach dem Kapitulationszeitpunkt nach Westen in völkerrechtswidriger Weise durchbrechen, um noch in amerikanische Kriegsgefangenschaft zu kommen. Das bestätigte Schörner in dem Gespräch, das sich nunmehr entspann, mit folgender Ergänzung, die dieses Gespräch berühmt gemacht hat: „Wir können den Krieg nicht verlieren; denn wenn wir diesen Krieg verlieren würden, hätten unsere Kinder keine Zukunft mehr. Ich will dies alles eigentlich nur aus diesem Grunde.“ Maginot hatte darauf sofort geantwortet: „Deswegen können wir den Krieg doch verlieren. Ja, wir haben ihn ja schon verloren. Wir sollten ihn nur nicht verloren haben.“ Diese letztere Feststellung, auf dem Hintergrund der Äußerungen von A. Schörner, ging ihm denn doch einige Zeitlang im Kopf herum: Konnte es stimmen, dass unsere Kinder nunmehr keine Zukunft mehr hätten?

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Geleitwort

Bis in den Abend hinein beschäftigte ihn diese Frage. Da er ohnehin seine Frau wegen des laufenden Rückzugs anrufen musste, fragte er sie bei dieser Gelegenheit, wie es denn in ihren Augen jetzt mit der Zukunft unserer Kinder aussehe? Vorsichtig meinte sie, dass etwas daran sei, was Schörner gesagt hatte: Ganz so wie zu normalen Zeiten werden es unsere Kinder in Europa und in der Welt nicht haben: Wohl nicht bei jedem Kind wird es gleich sein. Aber vielleicht kann man, typisiert, folgendermaßen die hier in Frage kommenden Fälle kennzeichnen: Zunächst ist da das Kind, das, sprachlich etwas verunglückt aber inhaltlich zutreffend, als „treulose Tomate“ bezeichnet wird. Es ist ein hübsches Mädchen, das in einer Heirat mit einem Amerikaner sein Glück zu finden glaubt („Fräulein Wunder“). Es hat eine geachtete Stellung in den USA; es war aber immer Deutsche, jedenfalls nie ganz Amerikanerin. Dies kam allerdings deutlich erst später zum Vorschein, erst bei dem Auftauchen von erbrechtlichen Fragen, von namensrechtlichen Fragen sowie in Bezug auf die gesundheitliche Konstitution in späteren Jahren. Sie saß, insbesondere zum Schluss dieses ganzen Abenteuers, zwischen sämtlichen Stühlen. Sodann ist da das Kind, das als das „stets wankelmütige“ zu bezeichnen ist: Es ist in Deutschland aufgewachsen. Der Ausbildungsbeginn war in Deutschland, das Studium und der Studienabschluss dann in den USA. Arbeits- und Tätigkeitsschwerpunkt war vornehmlich in den USA. Auf diesem Weg wurde es aber nie Amerikanerin; allein schon sprachlich war das unmöglich. In dieser Variante sitzt die von Haus aus nun einmal Deutsche letztlich wieder zwischen den Stühlen. Schließlich ist da das Kind, das im Prinzip heimattreu bleibt. Es bleibt mit seinem Lebensmittelpunkt in Deutschland. Hier wird die gesamte Ausbildung absolviert, der sprachliche und kulturelle Hintergrund ist deutsch. Jedoch ist die kulturelle und politische Orientierung amerikanisch. Dies ist heute die Mehrzahl aus der jüngeren Generation. Die Tendenz ist dabei die, nach den USA, zumindest professionell, überzusiedeln und dort zu reüssieren. Der Erfolg ist zweifelhaft. Es bleibt das Kind, das auch kulturell und politisch deutschorientiert ist, also gegen den US-Life-Style Stellung bezieht. Dazu ist im Ergebnis zu sagen: Gegen den Strom schwimmen ist auch schlecht.

Geleitwort

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Also hat für die Mehrzahl der typisierten Fälle wahrscheinlich A. Schörner mit seiner Vorhersage recht. Zumindest muss jeder überprüfen, inwieweit er mit einem doch mehr oder weniger deutsch geprägten Profil heute reüssieren kann. Er muss sich also den nun im Folgenden aufzuwerfenden Fragen einer Bestimmung des deutschen Profils und deren praktischen Erfolgschancen in der Welt stellen. Stuttgart im Februar 2012

Oberstleutnant Max Maginot

Vorwort Es liegt in der Natur der Dinge, dass sie sich ständig ändern. Insbesondere ihre Konturen und Profile wechseln, und – um auf den vorliegenden Zusammenhang des Wechsels bzw. der Konstanz von staatlichen Identitätsprofilen einzugehen – die Identitäten von Individuen und auch von ganzen Völkern und Staaten erscheinen immer wieder neu. Erfahrungsgemäß treten solche Wechsel relativ schnell ein, wenn Entwicklungen pejorativer Art vorliegen; zum Guten dauern Entwicklungen länger. Die zeitgeschichtlichen Erfahrungen, insbesondere Deutschlands, zeigen dies deutlich. Die Auflösung der alten Identität des deutschen Reiches ging relativ schnell, expressis factis in 6 Jahren von 1939 – 1945. Die Bildung eines neuen Selbstverständnisses Deutschlands ging und geht eher zögernd voran. Allein schon die Ziel- und Eckpunkte einer solchen Entwicklung zu finden, ist schwierig: Zielt sie etwa auf die Wiedervereinigung und den Entwicklungsstrang eines neuen Nationalismus? Oder eher auf die Gründung und Entwicklung einer Europäischen Union, also auf die Entwicklung einer föderativen, europäischen Identität? Oder etwa auf eine uneingeschränkte Solidarität mit den USA im Rahmen von NATO und Auslandseinsätzen der Bundeswehr, also auf eine militärische Zielrichtung einer transatlantischen Partnerschaft? – Oder schließlich, bescheidener, nur auf eine Bundesrepublik in ihrer ursprünglichen Form als „Wirtschaftswunderland“, also nur auf die ökonomische Kraft als Basis des Lebensunterhalts; alles andere wäre Sache der Individuen (Jeder ist Ausländer fast überall)? Welchen Entwicklungsstrang man favorisiert, hängt vom Horizont des Wählenden ab, aber weitgehend auch von den subjektiven Dimensionen des Autors: was die folgenden Ausführungen bedeuten, kann einmal logisch deduktiv beurteilt werden, zum andern aber wohl noch besser, wenn man weiß, wer das schrieb. Dazu nur soviel: der Verfasser stammt aus einer deutsch-französischen Juristen- und Offiziersfamilie mit Immigrationshintergrund. Vor

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Vorwort

der französischen Reformation ansässig im südfranzösischen Nîmes, zog sie nach Aufhebung des Ediktes von Nantes nach Brandenburg, und wirkte dort nach Kräften mit bei der Stärkung des preußischen Offizierskorps. Der Verfasser ist ausgebildeter Jurist, war Staatsbeamter und Richter in Deutschland, später Angestellter an der Universität von Heidelberg und nun in Tübingen und Manchester tätig. Es bleibt anzumerken, dass der Verfasser tatsächlich ganz überwiegend Deutscher ist; in den zehn Generationen, die seine Familie in Deutschland nun ist, nahm man fast immer eine Deutsche zur Frau. Wenn dies hier besonders betont wird, so deshalb, weil ihm als Deutschem die verfassungsrechtliche Verankerung des heutigen deutschen Staates in Menschenwürde und Menschenrechten am Herzen liegt und insbesondere die Anbindung dieser rechtlichen Prinzipien an die Philosophie des deutschen Idealismus. Das diesbezügliche Kapitel ist denn auch ausführlicher und genauer abgefasst worden, als es andernfalls wohl geschehen wäre. Peter Olivet

Inhalt 1. An deutschen Winterabenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Europäische Identitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Der Ermächtigungsvorgang 1933 / 1934 in Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Faschismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5. Militäraktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6. Positivrechtliche Erörterung des Prinzips der Menschenwürde. Die positiv-rechtliche Darstellung der individualistischen Variante der kategorialen Geisteshaltung (Individualistisches Prinzip) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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b) Begriffliche Erörterung des Prinzips der Menschenwürde . . . . . . . . .

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c) Immanuel Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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d) Johann Gottlieb Fichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Der Ausweg Fichtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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e) Georg Wilhelm Friedrich Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Hegels Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Hegels Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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f) Die weitere philosophische Entwicklung des 19. Jahrhunderts . . . .

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g) Übergang zum Ausgangsbegriff des staatsrechtlichen Prinzips der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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7. Gleichheit und Gerechtigkeit – Der Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 GG)

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8. Im Wald von Compiègne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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a) Militärische Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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b) Ludendorff und Wilhelm II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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c) George Clemenceau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 d) Baccarole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 9. Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. An deutschen Winterabenden Wie er sich seufzend zurücklehnt und hineingleiten lässt in die Dämmerung des sinkenden Abends, nicht ohne in gewohnter Gründlichkeit die Einzelheiten des vergangenen Arbeitstages noch einmal Revue passieren zu lassen, da will es ihm scheinen, dass all diese im Dämmerlicht vorbeiziehenden Bilder des Tages doch eigentlich recht undeutlich sind; könnte dies nicht auch anders sein, deutlich konturierter, trotz Winterabend? seufzt er zum wiederholten Male. Und wie er sich entschließt, sich dieser Frage entschiedener zu stellen und eine nähere Konturierung aller Bilder ernstlich in Erwägung zu ziehen, ist ihm eines klar: das alles hat er schon einmal erlebt, und zwar schon mehrfach und gerade in jüngster Zeit. Wenn man diese metaphorischen Andeutungen nun in mehr gegenständlichem und konkretem Sinne fassen und ausdrücken will, so kommt man auf den Boden unserer heutigen Tatsachen und sieht den Deutschen vor sich, wie er immer wieder einmal seine jüngste Vergangenheit aufmerksam betrachtet und sich fragt, wie eigentlich es so kommen konnte, und wie es eigentlich nun ist. Unsere Nachbarn aus der europäischen Pentarchie1, als die großen Fünf, die die kulturelle und politische Entwicklung Europas bislang getragen haben, sind trotz räumlich fast gleicher Position wie wir weit weniger häufig in dieser Situation der Selbstreflexion. Am wenigsten oft – stellt man fest – sind es die Engländer, deren Selbsteinschätzung sowie auch die im Wesentlichen gleiche Fremdeinschätzung durch ihre Nachbarn seit der elisabethanischen Zeit ziemlich unverändert geblieben ist.

1 So genannt nach dem Vorbild der antiken Pentarchie, die damals die kulturelle und politische Entwicklung trug (die fünf Diadochen Alexanders).

2. Europäische Identitäten Kennzeichnend für sie ist ihre Seemacht seit dem Sieg über die Armada im Jahr 1588 sowie der sich daran anschließende Erwerb von Kolonien in stetig steigendem Umfang. Die Herrschaft zur See und die Herrschaft über die Kolonien wurde gesichert durch die bekannte Politik einer „Balance of Power“, oder auch ausgedrückt als „divide et imperia“ (Pitt der Ältere und Desraeli), durch welche die kontinentaleuropäischen Mächte gegeneinander in Stellung gebracht wurden und die eigenen Kräfte für Seeherrschaft und Kolonieherrschaft frei gesetzt wurden. Kennzeichnend für diese Situation ist die bekannte Äußerung des britischen Premierministers Disraeli nach der königlichen Thronrede im Januar 1886: „It takes me like an ecstasy, whenever I see the globe beeing allover red“ (British red). Diese Situation blieb unverändert bestehen bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Die englische Monarchie war die einzige unveränderliche Größe im Auf und Ab der europäischen Geschichte der beiden folgenden Jahrhunderte; sie musste sich unter anderem aber immerhin sagen lassen: Wer glaubt etwas zu sein, hat aufgehört etwas zu werden. Dies führt hin zum Identitätsprofil Frankreichs, das sich seit je versteht als „Lumière de la Civilisation“, begriffen in steter kultureller Entwicklung an der Spitze dieser Entwicklung, und zwar sowohl in wissenschaftlich, künstlerischer als auch in politisch-militärischer Hinsicht; die borbonische Monarchie kennzeichnete sich als „Majesté la plus chrétienne“, die stets das Niveau des Superlativs für sich in Anspruch nahm. Unter der späteren laizistischen Einstellung mit den Grundsätzen: egalité, liberté, fraternité waren die Situation und der politische Anspruch der herrschenden Kreise Frankreichs die gleichen. Im Übrigen war die Situation ähnlich wie in England; ab dem Mittelalter war der Nationalstaat in unitaristischer Form gebildet mit der Folge einer starken nationalen Flotte sowie dem Erwerb von Kolonien.

2. Europäische Identitäten

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Die russische Monarchie erschien als geographisch größte Macht Europas; von räumlicher Weite und Unendlichkeit assoziierte es sich leicht auf eine Weite und Tiefe des Gefühls und des Intellekts. Man fasste dies politisch auf als panslawistische Herrschaftsform und Herrschaftsstreben. Hinzu kamen dann noch die imperialistischen Eroberungen im asiatischen Raum, die anstelle der Kolonien bei den Westmächten traten. Schwieriger ist das Identitätsprofil Österreichs zu kennzeichnen. Ausgangsposition ist der germanische Katholizismus, der dem objektiven Betrachter dieselbe Hochachtung abnötigt wie der germanische Protestantismus im Norden Deutschlands; er ist zu sehen auf der Grundlage des „Sacrum Imperium Nationalitatis Teutonici“, in welchem Österreich seit 12731 die Kaiser stellte. Hierher rührt die imperialistische Initiative und der zäsaristische Impetus des Reiches, der zur Südosteuropäischen Vorherrschaft geführt hat (Österreichische Doppelmonarchie). Den historischen Bruch und das Ende aller imperialistischen Bestrebungen brachte der Vertrag von Saint Germain zum Ende des Ersten Weltkriegs (Vertrag vom 1. 4. 1919, abgeschlossen im Pariser Vorort Saint Germain). Was von Österreich noch blieb, war knapp ein Zwanzigstel des Staatsgebiets und eine Hauptstadt, die trotz verlorener Größe immer noch weltweit Achtung und Bewunderung fand. Immerhin blieb Österreich außerdem noch die alpine Bergwelt und der Charme von Johann Strauß dem Jüngeren, sowie im Notfall ein fragender Blick nach Norden zum großen deutschen Bruder. Bei diesem wird es allerdings schwieriger. Er hat nicht nur einen Bruch in seiner Geschichte, sondern mehrere Etappen der historischen Entwicklung zu verzeichnen und das heißt mehrere Etappen seines Identitätsprofils. Zunächst wurzelt auch er im mittelalterlichen „Sacrum Imperium“ und im Gedanken des Katholizismus (Gedanke des Kathechon). Der Kaiser war höchstes Organ nicht nur der weltlichen Macht, sondern, neben dem Papst, auch der kirchlichen Organisation. Diese imperialistische Erscheinung führte nicht nur zum damals größten und angesehensten Reich Europas, sondern später zum Auf1

Nach dem Interregnum von 1256 – 1273.

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2. Europäische Identitäten

treten vieler großer Persönlichkeiten, wie Religionsstifter, großer Musiker, Philosophen und Dichter, sowie auch berühmter Kaiser, Feldherrn und Staatsmänner. Hier zeigen sich bereits die später ganz deutlich in Erscheinung tretenden zwei Aspekte dieses Kathechon: (1) einerseits die Individuen im Gegensatz zum „Common Sense“, sowie (2) andererseits die machtvolle Persönlichkeit in einmaliger Perfektion von Kunst und Wissenschaft. Gemeinsam ist ihnen eine überdurchschnittliche geistige Kraft sowie eine Totalität und Perfektion des geistigen Strebens und der geistigen Präsenz. Zusammengefasst wurde dieser Sachverhalt in allerdings mehr träumerisch-dichterischer Form von Wilhelm II.: „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“. Er wurde von seinem englischen Vetter Eduard V. wiederholt und bei unterschiedlichen Anlässen gefragt, worin denn eigentlich dieses Wesen bestehe. Wilhelm soll geantwortet haben: Mein Vetter, du kennst das Siegfriedidyll von Wagner wohl nicht! Tatsächlich kann man diese Frage am ehesten noch beantworten in den Kategorien der eigentlichen deutschen Stärke, nämlich in denen der Musik. Es gibt naturgemäß zahlreiche Beispiele, welche Musik und welches Musikstück im Einzelnen nun das deutsche Wesen am besten kennzeichnen könnte: Konkret denkt man wohl am ehesten an die Klaviersonaten von Beethoven und insbesondere die Klaviersonate opus 111 (Nr. 32). Wenn man allein die Anfangsakkorde des Maestoso (2. Satz, c-moll) vor sich hat, so ist dies sowohl einerseits eine vollendete geistige Individualität, als auch andererseits der Ausdruck einer machtvollen Persönlichkeit, einer Totalität des geistigen Strebens und einer Perfektion der geistigen Präsenz. – Es sind dies die zwei hier interessierenden Aspekte eines reinen Individualismus einerseits und einer Totalität und Vollendung der geistigen Kraft und Präsenz dieses Individualismus andererseits. Dieses Maestoso atmet darüber hinaus den Geist des beginnenden 19. Jahrhunderts. Es ist die Zeit der Kulmination des deutschen Geistes in Musik, Philosophie und Literatur sowie auch die Zeit

2. Europäische Identitäten

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der militärischen Superiorität der deutschen Freicorps über die Franzosen. Es sollten aber schnell andere Zeiten kommen; nach zwei Weltkriegen war das Bild Deutschlands ein völlig anderes. Unwillkürlich lenkt man den Blick auf das Jahr 1945, die Sommermonate Juni und Juli in der Mitte des Reiches, in Böhmen, wo noch nach dem 8. Mai 1945 der berüchtigte Privatkrieg „Schörner“ geführt wurde. Schörner wollte noch etwa 15 deutschen Divisionen zu westlicher Kriegsgefangenschaft verhelfen. Es zeichnet sich folgendes Bild ab: Unmittelbar am südöstlichen Ortsausgang von Prag in Richtung Brünn näherte sich eine kleine Gruppe deutscher Soldaten dem Ortseingang am Kontrollpunkt Prag-Ost, in der Mitte ein höherer Wehrmachtsoffizier in abgerissener Uniform. Er zog einen kleinen Handwagen mit zwei erschöpften Flüchtlingen, die offenbar abrupt hatten fliehen müssen, um nicht in Gefangenschaft zu geraten. Sie hielten sich aneinander fest, da sie sonst keine Stütze hätten finden können. Es bildete sich schnell eine Menschenansammlung, die diesen eigenartigen Einzug beobachtete, mit dem Ausdruck einer Mischung von Mitleid und Verachtung. Mitleid und Verachtung wandelten sich in Fassungslosigkeit, als der Grad der Erschöpfung der Flüchtlinge so groß wurde, dass die Fahrt des kleinen Handwagens stockte und die beiden herunterzufallen drohten. Was genau machte die beobachtenden Menschen fassungslos? War es nur die Niederlage? Man sah ihren Augen an, dass es mehr war. Eine Niederlage hatte man schon oft erlebt. Es war die Tatsache, dass Deutschland willentlich und absichtlich gegen im Wesentlichen dieselben Gegner geschlagen und verloren hatte, wie es dies schon 25 Jahre zuvor getan hatte. Aus den beobachtenden Blicken sprach eine Fassungslosigkeit gegenüber einem Deutschland, dessen Führung sich offenbar in der sozialen Realität Mitteleuropas nicht zurecht gefunden hatte und nunmehr den Eindruck eines sozial-inadäquaten „Outlaws“ bot. Ein solches Ereignis, wie das soeben geschilderte, durfte eine Staats- und Militärführung, die diesen Namen verdiente, schlechterdings nicht bieten.

3. Der Ermächtigungsvorgang 1933 / 1934 in Berlin Nun hatte sie, die deutsche Staatsführung, es getan und dieses katastrophale Ereignis verursacht. Und gerade auch die deutschen gebildeten Kreise aus Militär und Justiz haben der seinerzeitigen NS-Staatsführung bei der organisierten Machtergreifung und Machtausübung entscheidend geholfen; sie taten dies in einem Maße, das bislang gar nicht ganz zur Kenntnis genommen worden ist: Sie haben der NS-Führung zu einem Grad von Machtausübung verholfen, der in bestimmten Fällen über die Grenze der Gewaltanwendung gegen Andersdenkende, also seitens der NS-Führung gegen demokratische Kräfte, hinausging; dies gilt insbesondere auch in solchen Fällen, in denen die NS-Staatsund Parteiführer in dem genannten Machtergreifungsprozess die demokratischen Regeln nicht mehr einhalten konnten, ohne Gefahr zu laufen selber zu scheitern. Zunächst hielt sich der NS-Parteiapparat peinlich genau an die Vorschriften der Verfassung, insbesondere bei der Wahl und Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 31. Januar 1933; Hitler akzeptierte zunächst die vorgenommenen Einschränkungen seiner Machtstellung, die von den Kreisen um Hindenburg sowie Hugenberg (Deutsche Nationale Partei) eingeleitet worden waren, nämlich seiner Wahl lediglich als Koalitionskanzler (Angewiesenheit auf die Deutsch-Nationalen zur Erreichung einer parlamentarischen Mehrheit) – und sein kompletter Ausschluss vom Oberkommando der Reichswehr (ausschließlich in den Händen von Reichspräsident Hindenburg sowie Generaloberst Blomberg). In den Kreisen um Hindenburg sowie bei den Deutschnationalen (Hugenberg) glaubte man damals, – für den Fall von legalen, aber inhaltlich undemokratischen Maßnahmen Hitlers diese durch Entziehung der parlamentarischen Mehrheit (67 Stimmen der Deutsch-Nationalen im Reichstag) unterbinden zu können;

3. Der Ermächtigungsvorgang 1933 / 1934

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– für den Fall gewaltsamer Maßnahmen solcher Art (die SA umfasste damals ca. 1,1 Millionen Mann) diese durch Militäreinsatz stoppen zu können. Man glaubte damals allgemein, damit eine ausreichende demokratische Absicherung des Reichskanzlers Hitler erreicht zu haben.

Die weitere Entwicklung war dann aber bekanntlich die, dass die NS-Führung sukzessive die genannten Einschränkungen beseitigt hat: Am 23. März 1933 wurde das sogenannte Ermächtigungsgesetz (Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich vom 24. März 1933) eingebracht, durch welches die Reichsregierung ermächtigt werden sollte, alle Gesetze und Verordnungen sowie darauf beruhende tatsächliche Maßnahmen zu ergreifen, die zur „Behebung der gegenwärtigen Not von Volk und Reich“ notwendig waren. Zunächst wurde für das parlamentarische Verfahren im Reichstag eine einfache Mehrheit für das geplante Gesetz ins Auge gefasst; dies hätte normalerweise auch gereicht. Jedoch konnte bei der Tragweite und Radikalität der von der NSFührung geplanten Gesetzesverordnungen und tatsächlichen Maßnahmen im Zuge der Machtergreifung und Machtausübung stets eine Verfassungstangierung in Betracht kommen. Um nicht ständig Verfassungsklagen ausgesetzt zu sein oder anderweitig in der Durchführung der geplanten gesetzlichen und verordnungsrechtlichen Maßnahmen behindert zu werden, kam man auf den Gedanken, eine Zweidrittelmehrheit für das geplante Gesetz im Reichstag zu erreichen; notfalls auch verfassungstangierende NSMaßnahmen könnte man auf diese Weise in Zukunft ungestört durchführen (sog. kalte Verfassungsänderung). Zunächst war in diesem Zusammenhang allerdings schon fraglich, ob eine solche verdeckte, kalte Verfassungsänderung (keine ausdrückliche Änderung der Artikel 151 ff. WRV, sondern lediglich eine indirekte Änderung durch die genannten Maßnahmen) überhaupt zulässig war. Die damals herrschende Meinung bejahte diese Frage1. Heute ist

1 Vgl. Carl Schmitt, Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Änderungen der Reichsverfassung in: MDR 1933, Heft 6.

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3. Der Ermächtigungsvorgang 1933 / 1934

man in diesem Punkt anderer Meinung (vgl. die Vorschrift des Art. 19 Abs. I, Satz 2 Grundgesetz). Tatsächlich wurde in der maßgeblichen Reichstagsabstimmung über das Ermächtigungsgesetz am 23. März 1933 eine Zweidrittelmehrheit für den gesamten Ermächtigungsgesetzentwurf erreicht; das Ermächtigungsgesetz wurde am folgenden Tag in Kraft gesetzt. Auf dieser Grundlage wurden dann folgende Maßnahmen (sog. Ermächtigungsmaßnahmen) getroffen: – Die im Reichstag vertretenen Parteien außer der NSDAP wurden am 2. Juni 1933 verboten2 bzw. lösten sich selbst auf. – Am 10. Januar 1934 wurden sämtliche Länder des Deutschen Reiches, wie man es nannte, „gleichgeschaltet“; die Länderparlamente wurden durch Notverordnung auf der Grundlage des Ermächtigungsgesetzes am 10. Januar 1934 aufgelöst und durch dieselbe Notverordnung wurden sämtliche Hoheitsrechte aller Länder auf das Reich übertragen. – Durch Volksentscheid vom 3. Juli 1934 wurde entschieden (98% Ja-Stimmen), dass das Amt des Reichspräsidenten nach dem Tod Hindenburgs nicht neu besetzt wurde. Vielmehr wurden dessen sämtliche Befugnisse auf die Person des Reichskanzlers übertragen (der Titel sollte nunmehr lauten: Führer und Reichskanzler). – Der Oberbefehl über die Wehrmacht ging am selben Tag auf den Reichskanzler über und zwar mit ausdrücklicher Zustimmung von Generaloberst Blomberg.

Allerdings hatte die Zweidrittelmehrheit, mit welcher das Ermächtigungsgesetz zustande gekommen war, einen Schönheitsfehler. Die 81 kommunistischen Abgeordneten des Reichstages wurden an der Abstimmungsteilnahme, zum Teil mit Gewalt, gehindert3. Andernfalls wäre die Zweidrittelmehrheit für das Ermächtigungsgesetz nicht möglich gewesen. Das maßgebliche Abstimmungsergebnis am 23. März 1933 lautete: 441 Ja-Stimmen und 94 Nein-Stimmen 2 Durch Verwaltungsakt des RIM auf der Grundlage einer Notverordnung der RR gemäß dem gerade in Kraft getretenen Ermächtigungsgesetz. 3 Auch einige Abgeordnete der SPD wurden an der Abstimmungsteilnahme gehindert; wie und vor allem für wie lange (vgl. im Folgenden), kann nunmehr nicht mehr rekonstruiert werden.

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(SPD); die 81 kommunistischen Abgeordneten sowie die vollständige Zahl der SPD-Abgeordneten (120 Abgeordnete) hätten mit 201 Stimmen die Zweidrittelmehrheit verhindern können; dafür reichte auch das vorliegende SPD-Ergebnis schon aus: 94 SPD-Abgeordnete (verminderte Zahl + 81 kommunistische Abgeordnete). Die für den Beratungsverlauf am 21. März, 22. März und 23. März sowie für den Abstimmungsverlauf am 23. März 1933 maßgeblichen Einzelheiten waren, soweit sie hier interessieren, die folgenden: Seit dem 21. 3. fanden Sitzungen des Reichstags im Zusammenhang mit der Erlassung von Gesetzen (hier: des Ermächtigungsgesetzes) nicht im Reichstagsgebäude statt, sondern wegen des Reichstagsbrandes in der Krolloper. Insbesondere war dies so am 22. März bei der Abstimmung über das Ermächtigungsgesetz gegen 12.30 Uhr. Die meisten kommunistischen Abgeordneten kannten sich in den Räumlichkeiten der Krolloper noch nicht genau aus. Ein besonderer, neuer Aufenthaltsraum wurde den ca. 80 Abgeordneten der KPD, die um 7.30 Uhr bereits anwesend waren, zugewiesen. Er war vom Plenarsaal abgelegen in einem Zwischengeschoß zwischen Untergeschoss und Hochparterre (Plenarsaal) gelegen. Nach einigem Warten auf den Sitzungsbeginn erschienen mehrere NS-Abgeordnete, die durch sogenanntes Filibustern sowie dann durch drohende und beleidigende Äußerungen in Anspielung auf den Reichstagsbrand die Abgeordneten der KPD festzuhalten versuchten; davon 35 – 40 Abgeordnete wurden tatsächlich bis in die Mittagszeit in dem genannten Raum aufgehalten und verpassten die Abstimmung. Immerhin 40 Abgeordnete erzwangen den Zugang nach dem etwas oberhalb gelegenen Plenarsaal, wurden aber durch Drohungen, die von weiteren NS-Abgeordneten ausgingen, eingeschüchtert („die Kommunisten haben den Brand gelegt“). Daraufhin sind trotz den Drohungen und Beleidigungen seitens der NS-Abgeordneten drei weitere kommunistische Abgeordnete vorgedrungen und bis in die unmittelbare Nähe des Plenarsaals gelangt. Von ihnen wurden zwei mit Brachialgewalt gestoppt und mit Worten beleidigt. Dies wurde sofort den nebenan wartenden ca. 35 KP-Abgeordneten bekannt, der Vorgang lief sehr lautstark ab. Die Abgeordneten wurden durch Drohungen und Beleidigungen sowie durch vernehmbare Anwendung von Gewalt erneut eingeschüchtert. Die wartenden

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ca. 35 Abgeordneten berieten sich bis gegen Mittag, was nun zu tun sei. Sie versäumten die Abstimmung. Die zwei Abgeordneten der KP, die, wie erwähnt, zum Plenarsaal vordringen wollten, konnten wegen erneuter Drohungen und Beleidigungen sowie Brachialgewalt ihr Ziel nicht erreichen. Der eine verließ sofort die Krolloper, der andere wohl etwas später. Das Wesentliche bei diesen Vorgängen war, dass strafbare Handlungen (§ 240 StGB, § 185 StGB sowie § 223 Abs. I StGB) begangen worden sind, um Abgeordnete an der Stimmabgabe zu hindern. Da in zwei Fällen Anzeigen eingingen beim Polizeiposten Moabit wegen Nötigung und nötigender Behinderung an der Stimmabgabe im Gebäude der Krolloper am 23. Mai 1933, musste rechtlich zwingend Folgendes geschehen: Gemäß § 152 Abs. II StPO musste die Staatsanwaltschaft Ermittlungen aufnehmen; gemäß § 170 Abs. I StPO musste die Staatsanwaltschaft bei zureichenden Anhaltspunkten die öffentliche Klage erheben; andernfalls hätte jeder Rechtsanwalt gemäß § 172 StPO ein Klageerzwingungsverfahren anstrengen können. Jedoch erging in diesem Fall eine Weisung des Generalstaatsanwalts beim Kammergericht Berlin mit dem Inhalt, im vorliegenden Fall von Ermittlungen abzusehen und keine öffentliche Klage zu erheben. Sie erfolgte denn auch nicht. Der weitere entscheidende Umstand war der gewesen, dass der vom Reichskommissar für Preußen (zuerst Franz von Papen, dann nach dem 31. 1. 1933 Adolph Hitler) eingesetzte Justizminister für Preußen (H. Göhring) diese Weisung dem Generalstaatsanwalt in Berlin übermittelt hatte. Am 20. Juli 1932 war Franz v. Papen zum Reichskommissar in Preußen berufen worden durch Notverordnung des Reichspräsidenten Hindenburg gemäß Art. 48 WRV. Diese Stellung von Papens war mit der Machtergreifung Hitlers am 31. Januar 1933 auf diesen übergegangen. Aufgrund dieser Stellung hatte A. Hitler seinen Parteifreund Hermann Göhring als Justizminister von Preußen eingesetzt (am 1. Februar 1933). Im April 1933 wurde die Stelle Hitlers als Reichskommissar von Preußen umgewandelt in diejenige eines Reichsstatthalters in Preußen. Nur so, d. h. auf Grund der genannten Weisung des preußischen Justizministers Hermann Göhring und der Weisung des Generalstaats-

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anwalts, Anklage nicht zu erheben, konnte die Abstimmung über das Ermächtigungsgesetz im Reichstag am 23. 3. 1933 als eine nicht durch strafbare Handlungen herbeigeführte Maßnahme angesehen werden. Damit war nach damals herrschender Meinung im Reichsgericht (vgl. im Folgenden) sowie auch in der Literatur die Reichstagsabstimmung über das Ermächtigungsgesetz am 23. 3. 1933 in Ordnung4. Das Reichsgericht konnte in dem bekannten (vorangegangenen, Juli 1932) Prozess des Bundesstaates Preußen gegen das Reich (1. Zivilsenat)5 feststellen, – dass zwar Preußen als juristische Person zum Zeitpunkt der Klageerhebung noch Bestand hatte und dass O. Severing (Ministerpräsident) jedenfalls für diesen Prozess rechtmäßiges Organ dieser juristischen Person war (wie auch in der Klageschrift ausführlich dargelegt worden war), – und dass also von einer Prozessführungsbefugnis des Klägers (Min. Präs.) auszugehen war, – dass andererseits aber Preußen am 10. 1. 1934 praktisch aufgelöst worden war (d. h. Parlament aufgelöst, Hoheitsrechte auf das Reich übertragen) und also als Prozesspartei nicht mehr existent war, und dies auf der Grundlage des wirksamen Ermächtigungsgesetzes. Dies bedeutete dann aber für das Reichsgericht, dass der Prozess für erledigt erklärt werden musste: eine der Parteien (Kläger) bestand nicht mehr. Die Klage wurde denn auch für erledigt erklärt und im Ergebnis die Einsetzung des Reichskommissars durch die Reichspräsidentenverordnung vom 20. Juli 1932 für rechtmäßig erklärt.

Im Einzelnen sah der reichsgerichtliche Prozessablauf folgendermaßen aus: Man musste zur Kenntnis nehmen, dass gewisse Unregelmä4 So jedenfalls die damals herrschende Meinung sowie die Auffassung des Reichsgerichts, hierzu im Einzelnen sogleich. Es gab jedoch eine Mindermeinung (vgl. Carl Schmitt, Lehrbuch des Verfassungsrechts 1932, 4. Aufl., S. 23 f.): die Abstimmung war mit Gewalt verhindert bzw. verändert worden, gleichgültig ob gemäß Art. 152 StPO sowie § 171 Abs. 2 StPO Anklage erhoben worden war oder nicht: Es liegt in jedem Falle ein Verstoß gegen das Demokratiegebot vor. Eine demokratische Abstimmung und Vorgehensweise war nicht eingehalten worden; die Folge war nach dieser Auffassung eine Rechtswidrigkeit der Abstimmung. 5 Prozess anlässlich der Absetzung der preußischen Ministerpräsidenten Severing durch NotVO von Hindenburg vom 20. 7. 1932, vgl. im Folgenden.

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ßigkeiten bei der Abstimmung über das Ermächtigungsgesetz in der Krolloper am 23. März 1933 vorgekommen waren. Die Hinderung von zwei kommunistischen Abgeordneten an einer geordneten Stimmabgabe war an sich bekannt. Wenn dies eindeutig und auch aktenkundig klar gewesen wäre, d. h. wenn dieser Umstand durch Strafverfahren bestätigt worden wäre (fol. 152 Abs. II, 179 Abs. I StPO), dann wäre klar gewesen, dass nur durch strafbare Handlungen das Ermächtigungsgesetz und die diesbezügliche Reichstagsabstimmung ermöglicht worden war. Dann hätte das Reichsgericht argumentiert: Wenn mittels strafbarer Handlungen ein Gesetz erlassen wurde, um ausschließlich die eigene außerordentliche und außerparlamentarische (Ermächtigungsgesetz) Macht herbeiführen zu können, so ist das nicht mehr im Bereich der materiellen Demokratiewerte („keine Brachialgewalt im demokratischen Auseinandersetzungsprozess, nur Mehrheitsentscheidungen; zivilistische Mäßigung: gerade Ausschluss von strafbaren Handlungen“). Tatsächlich war dann aber für die Argumentation maßgebend: nur durch die im Ergebnis mehr formell-kosmetische Einflussnahme des Generalstaatsanwalts beim Kammergericht (Weisung des Absehens von einer Strafverfolgung), also durch diese mehr formelle Beseitigung des Makels von strafbarkeitsbegründenden Handlungen beim Abstimmungsvorgang des Ermächtigungsgesetzes, konnte das Ermächtigungsgesetz gebilligt werden. Dass der Makel des Vorliegens von strafbarkeitsbegründenden Handlungen bei dem Abstimmungsprozess an sich vorgelegen hat, war klar. Also nur durch diesen mehr formalistischen Begründungsakt konnte man zu einer Billigung des Ermächtigungsgesetzes kommen. Die Sache wurde so angesehen, als ob formell, trotz der tatsächlichen Vorkommnisse, strafbarkeitsbegründende Handlungen tatsächlich nicht vorgelegen hätten, und zwar, weil in concreto nach den politischen Umständen keine Strafverfolgung stattfinden sollte bzw. konnte. Dies ist eine Rabulistik und ein Formalismus, welcher sonst dem Reichsgericht nicht eigen war. Normalerweise hätte der reichsgerichtliche Prozessverlauf nämlich folgendermaßen ausgesehen: – Klage des preußischen Ministerpräsidenten O. Severing mit dem Petitum, die Rechtswidrigkeit und damit Unwirksamkeit der Not-

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verordnung des Reichspräsidenten Hindenburg vom 20. 7. 1932 festzustellen (Bestellung des Reichskanzlers Franz v. Papen zum Reichskommissar in Preußen zur „Behebung der Not von Volk und Reich“). – Diese Notverordnung vom 20. 7. 1932 war formell gültig auf der Grundlage des Art. 48 WRV; sie war auch materiell gültig; das Verhältnis von Reich zu Preußen war immer problematisch, schon im Kaiserreich und erst recht in der Republik. Die in der späteren Weimarer Republik hervorgetretene Diskrepanz zwischen Reich und Preußen war auf Dauer nicht hinnehmbar und schon gar nicht in einer Notsituation für Volk und Reich. Es handelte sich um einen Geburtsfehler der Weimarer Republik. Er war, wie schon zur Zeit des Reichskanzlers Bismarck, an sich nur lösbar, indem eine Personalidentität von Reichskanzler und preußischem Ministerpräsidenten hergestellt wurde. Das entsprechende war dann eben der Reichskommissar für Preußen: Denn in diesen ohnehin schwierigen Zeit ging es nicht an, dass im Reich deutschnational regiert wurde und in Preußen sozialdemokratisch: Ein Reichskommissar für Preußen, also eine Analogie der parteipolitischen Ausrichtung im Reich und in Preußen, war in dieser Situation notwendig. Es bestanden auch keine Bedenken gegen diese Konstruktion wegen des Föderalismusprinzips. Preußen blieb als juristische Person bestehen, nur anstelle des Ministerpräsidenten trat der Kommissar.

Wenn also die Bestellung des Reichskommissars für Preußen in der damaligen politischen Situation rechtlich einwandfrei war, so kam für die rechtliche Beurteilung doch noch etwas Entscheidendes hinzu: Am 20. 7. 1932 lag unstreitig eine Gewaltanwendung von Seiten v. Papens gegenüber Otto Severing vor. Am Morgen des 20. Juli 1932 erschien v. Papen in Begleitung von vier Reichswehroffizieren im Hof der Gneisenauer Straße 10 (Villa des preußischen Ministerpräsidenten) und verlas vor Severing und dessen Begleitung eine Ausfertigung der Hindenburgschen Verfügung im Eingangsbereich der Ministerpräsidentenvilla. Er erklärte sodann, Severing möge sofort seine Diensträume verlassen, andernfalls würde er dazu mit Gewalt gezwungen; er deutete dabei auf die vier Reichswehroffiziere. Von Papen sagte wörtlich „Ich bin jetzt Reichskommissar“. Severing antwortete, er wolle ein Reichsgerichtsurteil, die Verfügung von Hindenburg reiche nicht.

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Severing wurde hierauf einfach aus seinem Amtszimmer herausgedrängt; dabei wurde die Grenze zu vis absoluta erreicht bzw. überschritten. Es ist rechtlich unstreitig, dass bei einer schwierigen und streitigen Rechtsfrage, wenn der Betroffene eine gerichtliche Entscheidung anfordert und eine Verwaltungsaktsentscheidung nicht für ausreichend hält, eine solche Gerichtsentscheidung ergehen muss, dass mit anderen Worten: ein Verwaltungsakt bzw. Akt der Regierung nicht mehr genügt, um eine Vollstreckung (körperlicher Gewalt) durchführen zu können. Da v. Papen eine solche reichsgerichtliche Entscheidung nicht hatte, hätte das Reichsgericht an sich sagen müssen: Die gewaltsame Abdrängung Severings am 20. Juli 1932 ist rechtswidrig bis zu einem reichsgerichtlichen Urteil in der Sache (Bestellung des Reichskommissars materiell gültig oder nicht), das bejahendenfalls dann ordnungsgemäß hätte vollstreckt werden können. Es kam dann allerdings unvorhergesehenerweise am 30. 1. 1934 die Auflösung des preußischen Landtages sowie die Übertragung der preußischen Hoheitsrechte auf das Reich dazwischen, und zwar aufgrund des Ermächtigungsgesetzes vom 23. 3. 1933. Preußen war also als juristische Person eleminiert; der Prozess Preußen gegen das Reich war mangels einer juristischen Person auf der Klägerseite erledigt. Jedoch wurden bei der Beschlussfassung über das Ermächtigungsgesetz am 23. 3. 1933, wie erwähnt, strafbare Handlungen begangen, die unstreitig Severing selbst, SPD-Vorsitzender von Preußen sowie stellvertretender SPD-Vorsitzender im Reich, hätte verfolgen lassen6,7. Die strafbaren Handlungen bei Beschlussfassung über das Ermächtigungsgesetz vom 23. 3. 1933 hätten damit bei dieser Sachlage vom Gericht nicht mehr einfach ignoriert werden können. Das Ermächti6 Insbesondere auch deshalb, weil eine größere Zahl von SPD-Abgeordneten auch mit körperlicher Gewalt an der Abstimmung am 23. 3. gehindert worden waren; die Gesamtstimmenzahl der SPD war von 120 Stimmen auf 94 Stimmen heruntergesetzt. 7 Vgl. § 151 Abs. 2 StPO sowie 179 StPO; eine Weisung des Justizministers bzw. Generalstaatsanwalts am Kammergericht Berlin, die Ermittlungen und Anklage nicht zu erheben bzw. durchzuführen, wäre nicht ergangen.

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gungsgesetz war vielmehr einmal mehr formell nicht in Ordnung8. Die Abstimmungsprozedur hätte also als ungültig behandelt werden müssen. Damit wäre Preußen als juristische Person nicht beseitigt; die Prozesspartei (Kläger, Severing) bestünde nach wie vor. Es bliebe damit dabei: die Anordnung des Reichspräsidenten Hindenburg auf der Grundlage des Art. 48 WRV (Notverordnung) war materiell einwandfrei; sie war jedoch wegen des formellen Mangels der Anwendung pysischer Gewalt bei der Vollstreckung nicht mehr rechtmäßig durchgeführt. Die Folge wäre dann die, dass die Reichspräsidentenanordnung ungültig war, so wie sie erlassen wurde und dann tatsächlich vollstreckt wurde. O. Severing hätte in dem gerichtlichen Prozess siegen müssen. Das Reichsgericht hat aber nach der Verhandlung vom 20. Juli 1934 nicht so entschieden. Wie erwähnt, sah die Entscheidung vielmehr so aus, dass das Ermächtigungsgesetz in formalistischer Weise als nicht durch strafbare Handlungen herbeigeführt angesehen wurde und als gültig behandelt wurde mit der Folge, dass Preußen als juristische Person aufgelöst war und der Prozess Preußen gegen das Reich erledigt war. Zusätzlich wurden noch folgende Argumente in der genannten Sitzung des Reichsgerichts vorgebracht: (1) Es waren im Wesentlichen nur kommunistische Abgeordnete an der Abstimmung über das Ermächtigungsgesetz gehindert worden; die Kommunisten haben sich aber nach ihrem Selbstverständnis aus dem wertmäßigen Demokratiebereich selbst ausgegrenzt, indem sie nicht das Mehrheitsprinzip bzw. Abstimmungsprinzip zur Streitentscheidung ausschließlich heranziehen wollen, sondern notfalls auch Gewaltanwendung. Nach dem Rechtsgrundsatz „Volonti non fit iniuria“ kann man dann aber, notfalls auch mit Gewalt, die Kommunisten aus dem Prinzip ausschließlicher Mehrheitsentscheidungen (Ausschluss von Gewalt) aussondern bzw. herausnehmen, ohne damit über den Wertkreis des Demokratieprinzips materiell hinauszugreifen. 8 Vgl. auch (oben S. 28) die reichsgerichtliche Stellungnahme für den Fall einer durch strafbare Handlungen herbeigeführten Abstimmung über ein Gesetz (Ermächtigungsgesetz).

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Diesem Argument kann im Ergebnis nicht gefolgt werden: Wenn man nun einmal, wie in der Weimarer Republik geschehen, die Kommunisten als Partner im politischen Prozess zulässt und akzeptiert, dann kann man nicht späterhin einfach sagen: Wenn es besser für den Einzelfall passt, wird notfalls auch Gewalt angewendet, um ein angemessenes Ergebnis zu ermöglichen. Dies ist gerade nicht das Demokratieprinzip mit dem Grundsatz des Gewaltverzichts und der Mehrheitsentscheidung. (2) Im Übrigen war die Grenze zwischen der kommunistischen Partei und der sozialdemokratischen Partei damals fließend. Eine marxistische Sozialisierung war auch nach dem damaligen SPD-Programm unter Umständen wünschenswert, allerdings nur auf der Grundlage des Demokratieprinzips (Gewaltverzicht / Abstimmungen). Die KPD war im letztgenannten Punkt stets anderer Meinung. In Reichstagswahlen konnte es damals durchaus sein, dass eine Arbeiterstimme einmal der KPD und das nächste Mal der SPD gegeben wurde, je nachdem wie die tagespolitische Akzentuierung gewesen ist. Die Folge wäre dann gewesen, dass, wenn die KPD einmal gewaltsam ausgegrenzt wäre, gewaltsam und willkürlich eine eigentlich der SPD zuzurechnenden Stimmen ausgegrenzt und aus dem demokratischen Meinungsbildungsprozess ausgegliedert worden wären. Dies wäre eine materielle Einflussnahme in den materiellen Demokratiewertkreis gewesen. Maßgeblich ist hier im Grunde aber lediglich die Feststellung, dass mit Hilfe formalistischer Formulierungen in dem Reichsgerichturteil vom 20. Juli 1934 das Ermächtigungsgesetz als einwandfrei angesehen wurde, mit der Folge der Auflösung Preußens und der Erledigung des Prozesses (Obsiegen der Prozesspartei Reich). Damit ist festzustellen, dass die herrschenden Kreise aus Justiz und Militär der NS-Parteiführung bei dem Ermächtigungsvorgang 1933 und 1934 die Stange gehalten haben auch in solchen Fällen, in denen seitens der NS-Führung über die Grenze einer Gewaltanwendung gegen Andersdenkende beim Entscheidungsprozess hinausgegangen wurde. Diese Unterstützung wurde nun nicht irgendjemandem gewährt, sondern der geschichtlichen Figur Adolf Hitler, dem Kontrahenten Severings im Reichsgerichtprozess: dem damals schon weltbekannten NS-Führer und sog. Nazigranden sowie auch seinen Paladinen. Man

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kann ihn eigentlich besser in lateinischer Sprache charakterisieren: als Faschisten und Duce, genannt nach Mussolinis Titel und dessen „fascio di combattimento“ (Kampfverband Mussolinis).

4. Faschismus Die faschistische Bewegung und Doktrin ist denn auch für Hitler der eigentlich kennzeichnende Charakterzug geworden. Sie ist eine Bewegung des 20. Jahrhunderts, die immerhin neue intellektuelle Grundlagen für die soziale und politische Ordnung bereitstellte. Sie geht zurück auf F. Nietzsches Abhandlung „Jenseits von Gut und Böse“1. Der maßgebende Grundgedanke war der, dass eine intellektuelle und motivatorische Selbstverwirklichung der Person nicht mehr in den (wie bislang immer) apollinischen Denkkoordinaten von – richtig – falsch – gut – böse – schön – hässlich stattfindet, sondern in den sogenannten bacchantischen2 Kategorien von Gefühls-Intensitäten, – schwach – stark – normal – rauschhaft – gesteigert auf Ekstase – bezogen auf Macht und die Superponierung des eigenen Willens über den der anderen; sowie letzten Endes Totalitarismus. Dies ist die psychologisch unmittelbarere, stets auch dem apollinischen Bereich zugrunde liegende intellektuelle Motivationsskala, herkommend vom einfachsten motivatorischen Entscheidungsmuster: ja – nein. Diese ist, wie Nietzsche ausführt, vorgreiflich vor der Skala: gut – böse. Die Beurteilungskriterien / Motivationskriterien für jede Hand1 Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral v. F. Nietzsche, München, Deutscher Taschenbuch-Verl. 2009, 424 S. 2 So genannt nach „Bacchus“, Gott des Rausches.

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lung haben damit gewechselt3. Maßgebend war nur noch die Stärke der Impression im Beurteilungs- und Entscheidungsprozess, nicht der Ausschlag in Richtung „gut“. Der Grund dieser Wechsel der Beurteilungs- / Motivationskriterien war nicht so sehr auf das Gebiet intellektueller Erkenntnistätigkeit bezogen, sondern mehr auf das der Entscheidungsfindungsaktivität. Für Entscheidungen vor allem war maßgebend, ob und wie die Stufen der Motivationsskala: schwach – stark, normal – Rausch, Ekstase etc. durchschritten wurden. Diese Gedanken führten hin zu George Sorel, der im Gegensatz zu Nietzsche nicht von philosophischen Theorien herkam, sondern von der gefühlsmäßigen Gegebenheit des Begriffs Mythos. Diesen fasste er auf als „totale Strukturierung“; er meinte damit einen „Totalitarismus“, der für alles den Motivationsgrund liefern sollte, und letzten Endes die Zielrichtung allen politischen und gesellschaftlichen Handelns darstellen sollte4. Dieser willensbetonte Totalitarismus wurde vor allem deshalb angestrebt, um wichtige Entscheidungen in Gesellschaft und Politik nur von einer Person (Führer, Duce) treffen zu lassen (dezisionistische Entscheidungen), nicht von einer Personenmehrheit, etwa einem Parlament, einem Senat oder Staatsrat o. ä. Gewollt ist nämlich eine persönliche Dezision nach einer persönlichen Delebiration, nicht dagegen eine Resultante von zufälligen Mehrheiten in einem Personengremium, die so, wie sie sich als Resultante darstellt, keiner gewollt hat und wollen konnte. Diese Delebiration ist eine bewusste, im Wesentlichen logische Abgleichung aller relevanten Fakten in einem Entscheidungsträger, einem Subjekt, im Gegensatz eben zu den Resultanten in Personengremien, die oft auf zufällige Mehrheiten und Gemengelagen zurückgehen. Nur eine logische Dezision bot die Gewähr für eine größtmögliche sachliche Richtigkeit der getroffenen Entscheidungen. Dies war dann auch das eigentliche Motiv für die Entwicklung des Dezisionsbegriffs und seiner Übernahme z. B. durch Mussolini sowie durch ganze politische Bewegungen (etwa in Argentinien die Peronnisten; in Frankreich die action française; in Italien Fascio di combattimento; in Spanien die 3 4

Von Nietzsche wurde dieser Wechsel genannt „Umwertung aller Werte“. George Sorel, „Traité de la violence“, Genf 1908, S. 20 f.

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Falange; in Kroatien die Ustascha; in Ungarn die Pfeilspitzen; in Belgien die Rex-Bewegung). Das Neuartige an der faschistischen Doktrin war also eine neue Motivationsgrundlage auf der Grundlage der Denkkoordinaten: schwach – stark etc. als Konstituentien eines Entscheidungsprozesses. Der weitere Gesichtspunkt war dann der, dass Gewalt in diesem System möglich war, wenn und soweit sie zur Erlangung einer fortlaufenden Motivationsbefriedigung in diese Koordinatenkette: schwach – stark etc. erforderlich war oder auch nur nützlich war: Die Koordinatenkette gut – böse etc. stand eben nicht mehr im Wege. Mussolini brauchte eine solche spezifische Rechtfertigung und Ermöglichung von Gewalt für seine verschiedenen politischen Aktivitäten (etwa den Marsch auf Rom 1922). Als philosophisch gebildeter, sprachlich begabter, überhaupt entwickelter Mensch konnte er ohne eine solche Motivationsstütze bei Gewaltakten und deren Rechtfertigung nicht auskommen. Die staatlichen Gesetze, insbesondere das Strafgesetzbuch und das Bürgerliche Gesetzbuch, konnten ihm eine solche Stütze nicht geben. Der deutsche Faschistenführer Hitler brauchte für seine noch bewegtere politische Laufbahn eine ähnliche Motivationsstütze zur Rechtfertigung der gelegentlich immer wieder vorkommenden Gewaltakte. Die Übernahme der faschistischen Doktrin in der Auffassung von Mussolini, d. h. von George Sorel, erfolgte denn auch schon in München in den Jahren 1923 und 1924. Hitler hatte damit von vornherein ein gespanntes Verhältnis zur Moralität. Gewalt konnte für ihn durchaus gerechtfertigt sein und schien prinzipiell in bestimmten Situationen auch wünschenswert. Wenn nun diese neue Koordinatenkette bzw. Motivationsskala theoretisch möglich war, so kann man sich doch praktisch z. B. bei politischen Auseinandersetzungen nicht über moralische Standards hinwegsetzen und auf Dauer anthropologische Konstanten ignorieren, ohne jeglichen Rückhalt in der Praxis zu verlieren. Daher hat sich A. Hitler schon 1924 in diesem Spannungsverhältnis geäußert und seine Verankerung im sogenannten „positiven Christentum“ proklamiert. Auf der anderen Seite wurde der Motivationswechsel hin nur zur Koordinatenkette der Intensitäten schwach – stark –

4. Faschismus

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rauschhaft etc. propagandistisch hochstilisiert und vereinfacht in Richtung des Schlagworts „Triumpf des Willens“5. Es bleibt festzuhalten, dass die führenden Kreise aus Militär und Justiz im sog. Ermächtigungsprozess nach dem Ersten Weltkrieg nicht irgendjemandem in den Sattel geholfen haben, sondern: einem Faschistenführer, der die Nietzschesche Motivationswende von „gut – böse“ hin zur Koordinatenkette „schwach – stark“ vollzogen hatte und dies in einer Zuspitzung auf das Prinzip des Willens und auf eine eindeutige Akzentuierung eines Triumphs dieses Willens.

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Vor allem in dem gleichnamigen Film von L. Riefenstahl von 1934.

5. Militäraktionen Wenn man nun dieses skizzierte Persönlichkeitsprofil Hitlers auf die damalige entscheidungsrelevante Situation projiziert und es in dieser Situation beurteilt, so sieht man Deutschland vor sich, erneut in einer Kriegssituation mit seinen Nachbarn und insbesondere mit dem stärksten dieser Nachbarn, der Sowjetunion. Und dies ist dann das Bild nach der Offensive 1941, das maßgeblich für die Beurteilung des skizzierten Profils ist. Nach dem rasanten Vorstoß der 6. Wehrmachtsarmee und einiger kleinerer Kampfverbände ab Mai 1942 nach Osten in das Wolgagebiet ist der Ort der militärischen Entscheidung der sowjetische Militärstützpunkt Stalingrad. Die 6. Wehrmachtsarmee hatte bis Anfang Oktober 1942 das Stadtgebiet von Stalingrad erreicht und bis Ende Oktober die eigentliche Innenstadt fast völlig erobert; nicht in deutscher Hand war lediglich ein westlich der Wolga gelegener Brückenkopf (ca. 2 km), der stark befestigt war. Trotz kombinierten Angriffen von Stuka- und Panzerverbänden konnte der Brückenkopf nicht eingenommen werden und auch nicht komplett zerstört werden. Der Brückenkopf wurde lediglich „abgeigelt“. Generalfeldmarschall Friedrich Paulus, Oberbefehlshaber der 6. Armee und der angeschlossenen Kampfverbände, hielt dies für vorläufig militärisch ausreichend. Vom 19. bis 22. November folgte dann ein erwarteter Gegenschlag der zwanzigsten Schukovschen Stoßarmee, der zu einem Durchstoßen der Roten Armee südlich und nördlich der Stellungen der Wehrmachtsarmee führte. Am 23. November 1942 kam es zu einer Einschließung der Deutschen Truppen. An sich war dies militärisch gesehen in der damaligen Situation nichts Ungewöhnliches und wurde nicht als beunruhigend empfunden: Die Offensive war über mehr als 550 km vorgetragen worden ohne eine Flankenabsicherung und ohne das Vorschieben einer einheitlich kohärenten Front nach Osten zu.

Karte 1: Stalingrad 1942/1943

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5. Militäraktionen

In einem Funkgespräch zwischen Paulus und Hitler am 25. November 1942 verlangte Paulus, wegen des hohen Technisierungsgrades der 6. Armee, einen sofortigen Ausbruch der Deutschen Truppen aus dem Kessel, auch notfalls in Richtung Westen, zu genehmigen. Hitler verbot schon in diesem Gespräch jeden Ausbruch der deutschen Truppen in Richtung Westen. Dies führte zu folgender militärischen Situation: Die 6. Armee war zu ca. 60% technisiert; wenn sie eingeschlossen war, war sie spätestens nach 3 Tagen reduziert kampffähig, insbesondere dann, wenn auch noch die Luftwaffe ausfiel; auf Grund der Feinderoberung von Fliegerhorsten war dies aber bald der Fall: zunächst hatte der Stalingradkessel vier Flugplätze, nach drei Wochen zwei Flugplätze und Anfang Dezember 1942 noch einen Flugplatz. Es gab infolgedessen keinen ausreichenden Nachschub mehr an Benzin, technischem Gerät und Munition; ferner fehlte die Stuka-Luftunterstützung. Damit waren die Panzer weitgehend wertlos. Das Gleiche galt für die technisierte Artillerie. Die sowjetischen Truppen waren nicht in dem Maße technisiert wie die Wehrmachtverbände und nicht so verwundbar bei Nachschubschwierigkeiten, also praktisch immer angriffsbereit. Außerdem hatte Stalin für den Wolgaabschnitt das sogenannte Kommissionsprinzip (Objektorganisation) eingeführt, das er selbst zeitweilig leitete; er hatte auf diese Weise eine zahlenmäßig den deutschen Truppen weit überlegene Streitmacht zusammengezogen (Ende 1942 / Anfang 1943 ca. 550 000 Mann). Auf diese Weise zeichnete sich eine Situation ab, die auf einen Kampf mit „Fäusten gegen Sowjetpanzer“ (so Paulus im genannten Gespräch mit Hitler) hinauslaufen konnte. Dies war nicht nur unmöglich auf Dauer, sondern auch unwürdig (so Paulus). Daher bat Generalfeldmarschall Paulus erneut, am 27. November 1942, um die Ausbruchserlaubnis notfalls auch nach Westen, oder aber um die Bereitstellung einer ausreichenden Entsatzarmee in kürzester Frist. In dieser Situation wurde am 27. / 28. November von Generalfeldmarschall Manstein (Heeresgruppenchef Süd) und Generalfeldmarschall Paulus dem Oberkommando der Wehrmacht folgender Entsatzplan unterbreitet: Eine Entsatzarmee sollte kurzfristig aus in Vichy-

5. Militäraktionen

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Frankreich stationierten Panzerdivisionen (8) bereitgestellt werden; hinzukommen sollten zwei Panzerdivisionen aus der Sicherungsgruppe Berlin sowie eine SS-Division aus Holland und eine Rekrutierungs-SS-Division, stationiert in Ellwangen / Jagst (Württemberg). Diese zwölf Panzerdivisonen sollten mit weiteren vier Panzergrenadierdivisionen aufgefüllt werden. Diese sechzehn Divisionen sollten dem Oberbefehl Adolf Hitlers unterstellt werden. Hitler sollte vorübergehend die Leitung des OKW an Generalfeldmarschall Keitel abgeben; selbstverständlich hätte er die maßgeblichen Kommandobefugnisse nach wie vor behalten. Die acht Panzerdivisionen in Frankreich waren allerdings in einem für Stalingrad benötigten Zustand nicht ohne weiteres einsetzbar. Am 11. November 1942 hatten diese Divisionen, vom Pariser Becken herkommend, Vichy-Frankreich besetzt, nachdem am 9. November Philippe Pétain einen Kriegseintritt Frankreichs an der Seite Deutschlands klar abgelehnt hatte. Diese Divisionen hätten trotzdem innerhalb weniger Tage oder auch Stunden wieder aus Vichy-Frankreich abgezogen werden können. Bei der deutschfreundlichen Haltung des französischen Oberbefehlhabers in Nordafrika, Alphonse Juin (am 2. November 1942 die Zusammenarbeit mit amerikanischen Truppen in Casablanca verweigert und sogar Kampfhandlungen gegen US-amerikanische Truppen angeordnet), waren acht Panzerdivisionen für kürzere Zeit in Vichy-Frankreich durchaus entbehrlich, insbesondere auch angesichts der ungewöhnlich großen Hochachtung der französischen Führung vor dem Nimbus Hitlers als „größter Feldherr aller Zeiten“ sowie ganz allgemein angesichts einer gewissen Vorliebe der französischen Führung gegenüber dem deutschen Faschismus („action française“). Jedoch waren diese 8 Panzerdivisionen nicht für den russischen Winter ausgerüstet. Um diesen Mangel in kürzester Frist zu beheben, wurde vom OKW (Abteilung Osteuropa, Planung und Ausrüstung Generalleutnant Magenot) die Operation „Gefrierfleischorden“ geplant. Durch notfalls persönliche Anordnungen des Oberbefehlhabers (A. Hitler) sollten danach in wenigen Tagen die acht Panzerdivisionen bei einem Zwischenstop in Berlin und Oberschlesien auf Wintererfordernisse umgestellt werden. Ein ergänzender Plan wurde am 28. November erstellt unter der Bezeichnung: Operation Substitutus. Danach konnten durch den Ober-

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befehlshaber in kürzester Frist Sommertruppen nach Norwegen, den Raum Berlin sowie Finnland verlegt werden, die dort die gleiche Zahl von Wintertruppen freigemacht hätten. Abschließend kam in dieser Projektplanungsphase die Planungsaktion „Hurra-Patriotismus“ hinzu. Nötig für die ins Auge gefasste Entsatzoperaktion war lediglich ein kurzer und einmaliger Durchstoß der Truppen durch den Stalingradring nordwestlich von dem Kessel oder wo auch immer. Denn bei der ersten Vereinigung der Entsatztruppen (Hitler) mit Generalfeldmarschall Paulus würde ein „Furor Teutonicus“ einsetzen, der alles, was es in dieser Richtung wohl schon gegeben hat, weit in den Schatten gestellt hätte. Bei Tschugujew war schon Teilen der 4. Panzerarmee Generalfeldmarschall Mansteins ein Vorstoß, und an zwei Stellen ein Durchbruch, bis 48 km an Stalingrad heran gelungen (vgl. im Folgenden S. 44). Wenn nun also bei der Suche nach dem Retter in der Not von Stalingrad die Wahl auf A. Hitler als Entsatzoperations-Chef gefallen war, so war dies keineswegs völlig überraschend. Fast dasselbe war schon einmal zehn Jahre früher vorgekommen bei dem Ermächtigungsvorgang im März 1933. Damals schon hatte man auf Hitler gesetzt, der als einziger ein gesichertes Großmachtselbstverständnis wieder in Deutschland herstellen konnte. Jetzt, zehn Jahre später in Russland, war vor allem maßgebend, dass Hitler einen unbeschreiblichen Nimbus als „größter Feldherr aller Zeiten“ besaß, als strategischer Führer gleichermaßen wie als lokaler Truppenführer. In Presseorganen, im Rundfunk und in den Wochenschauen wurde er in einem Atemzug mit Alexander, Julius Cäsar und Napoleon Bonaparte genannt. Bei der damaligen allgemeinen Meinung über den Charakter und die Qualitäten Hitlers, die zu Unrecht heute oft nicht zur Kenntnis genommen wird, lag in der Person und dem Ansehen Hitlers ein Potential, das in einer entscheidenden Situation der gesamten Entwicklung eingebracht werden musste. Zusammen mit einer hochmotivierten und hochkarätigen Streitmacht bot er, wenn überhaupt irgendjemand, die Gewähr für einen erfolgreichen Ausgang der bevorstehenden Entscheidung. Es waren zudem in dem genannten Vorschlag von Manstein und Paulus weitere, ergänzende Schritte vorgesehen, die den Erfolg der Entsatzoperation sicherstellen sollten.

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Zunächst sollte der bekannte Webfehler in der Wehrmachtstruktur, nämlich die separate Position von H. Göhring als Oberbefehlshaber der Luftwaffe und als Chef des Luftfahrtministeriums, beseitigt werden. Die Luftwaffe sollte befehlsmäßig direkt dem OKW unterstellt werden; die technische Entwicklungsabteilung, Versorgungsabteilung und Rekrutierungsabteilung des Luftwaffenministeriums sollten dagegen beim Kriegsministerium ressortieren. Damit wäre eine vom OKW vorzunehmende gezielte Bündelung aller Transportgeschwader und aller Stuka-Kampfverbände (Me 109 sowie Me 268 und Me 262) auf Stalingrad hin ermöglicht wurden. Es sollte ferner umgehend ein Separatfriede mit der Ukraine geschlossen werden. Wlassow und die führenden ukrainischen Militärs wünschten dies seit langem. Stalin und die Schukovschen Divisionen hätten nach Auffassung von Manstein und Paulus dem vereinten Angriff der zwölf Panzerdivisionen und 4 Panzergrenadierdivisionen der Entsatzarmee unter Hitler, unterstützt von Stuka-Kampfverbänden, nicht lange standgehalten, insbesondere nicht nach einem Ausfall der Ukraine. Es wäre zunächst ein Aufsprengen des Kessels erfolgt in der geplanten beschränkten Version, dann wäre bei dem zu erwartenden „Furor Teutonicus“ nach einer Vereinigung zwischen Kessel und Entsatzarmee auch ein Sieg über den sowjetischen Brückenkopf möglich gewesen. Insbesondere gilt dies angesichts des geplanten massiven Einsatzes der Hochleistungsflugzeuge Me 262, die seit Mitte 1942 in Serie gefertigt wurden. Die Folge wäre ein Einbrechen der sowjetischen Südwolgafront zwischen Stalingrad und Asowschem Meer gewesen. Dies wäre wahrscheinlich der militärische Geschehensablauf gewesen, wenn man auf die Generäle Manstein und Paulus gehört hätte. Tatsächlich sah die maßgebliche militärische Entscheidung Hitlers aber folgendermaßen aus: die Entscheidung fiel nicht durch eine Kollegialentscheidung (4 Abteilungsleiter des OKW), sondern durch eine, wie so häufig, Dezision Hitlers entsprechend dessen politischer Grundlagendoktrin. Immerhin bedeutete Dezision ja eine klare, bewußte Abgleichung aller relevanten Einzelheiten in einem einheitlichen Individualentscheidungsprozess. Inhaltlich ging sie aus von einer Superiorität Hitlers, seinen Qualitäten als „größter Feldherr aller Zeiten“ sowie auch dem Nimbus der

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Unbesiegbarkeit der Wehrmacht. Hitler war ferner der Meinung, die Sowjetunion sei bereits besiegt; er hatte 1941 im Oktober vor Moskau in der Wehrmachtszeitung (Ausgabe 10 / 11, 1941) veröffentlichen lassen, „der russische Bär liegt am Boden, der Rest ist Polizeiaktion“; „die Sowjetunion ist besiegt“. Auf diesem Hintergrund war überhaupt keine Sonderaktion (Entsatzaktion) erforderlich: Manstein (Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Süd) konnte alles durch eine routinemäßige Operation allein erledigen. Hitlers Meinung nach wäre es sogar ein Fehler gewesen, überzogen zu reagieren und sich persönlich in die lokalen Militäraktionen einzuschalten; man konnte Stalin nicht kopieren; der „kleine sowjetische Parteisekretär“ war es nicht wert, dass man sich auf gleiches Niveau mit ihm herab begab. Völlig ausreichend war eine routinemäßige Entsatzoperation ausgehend von der lokalen Militärführung. Das Gegebene war in dieser Situation also eine Routineaktion der lokalen Militärführung. So geschah es dann auch tatsächlich. Es wurde kurzfristig eine Entsatzoperation anberaumt unter der Verantwortung des Oberfehlhabers Süd und eine Entsatztruppe gebildet; die Operation erhielt den Namen „Wintergewitter“, zurückgehend auf Manstein und Paulus. Die Entsatztruppe stieß in der Zeit vom 26. – 28. November vor in Richtung südöstlich Stalingrad bis zum Militärstützpunkt Tschugujew, wo die Schukovschen Einkesselungslinien erreicht wurden. Die Entsatzoffensive blieb über Nacht liegen, am folgenden Tag drohte eine Einschließung durch Panzergarden Schukovs, worauf Manstein die gesamte Entsatztruppe sofort zurückzog. Am 29. November stand fest, dass ein Entsatz tatsächlich nicht auf diese Weise durchgeführt werden konnte. Die Situation war dann die, dass eine Entsatzmöglichkeit überhaupt nicht mehr bestand und darüber hinaus, dass zwei weitere Flugplätze am 30. 11. sowie am 10. 12. 1942 verloren gingen und dass ein Ausharren auch nicht mehr lange möglich war. Am 16. 12. 1942 stellte Generalfeldmarschall Paulus in einer Besprechung mit seinen Divisionskommandeuren fest, dass der letzte Zeitpunkt für einen selbständigen Westausbruch gekommen war. Am 17. 12. teilte Paulus in einem Richtfunkgespräch mit Manstein und Hitler diese Tatsache mit und verlangte, die Ausbruchsgenehmigung

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zu bekommen. Hitler lehnte erneut ab und verwies darauf, dass die Luftwaffe eine Versorgung der sechsten Armee sicherstellen werde. Angesichts des Verlusts der letzten Flughäfen hatten die Panzergeneräle der sechsten Armee Zweifel an der Realitätsnähe Hitlers. Am 18. 12. 1942 wurde dann in einem Funkgespräch Hitler mitgeteilt, dass ein Ausbruch nicht mehr möglich sei. Am 20. 12. trat Sowjetgeneral Rokossowski mit Paulus in Funkkontakt und forderte ihn auf, umgehend zu kapitulieren; Paulus lehnte ab, obwohl nur noch ein kleiner Flughafen nach dem 21. 12. 1942 zur Verfügung stand. Nochmals am 25. 12. verlangte Paulus in einem Gespräch mit Hitler einen sofortigen Entsatz und umgehende Auffüllung der Versorgungslücken. Wenig später fiel auch der letzte Flughafen weg; es war keine Munition mehr vorhanden sowie fast kein Treibstoff für die Panzer. Durch eine neue Offensive von Schukov wurde am 26. 1. 1943 der Kessel in zwei Teilkessel gespalten mit erheblichen Verlusten auf deutscher Seite. Es kam sodann die letzte Auseinandersetzung mit Hitler. Am 30. 1. 1943 wurde ein erneuter Funkkontakt zwischen Paulus und dem OKW hergestellt. In dem Gespräch zwischen Paulus und Hitler befahl Hitler kategorisch, in dem Teilkessel von Stalingrad einfach auszuharren; Paulus reagierte überhaupt nicht. Am folgenden Tag wurden sämtliche Funkgeräte und sonstige Elektrogeräte und Maschinen zerstört. Am 31. 1. 1943 kapitulierte Paulus gegenüber General K. K. Rokossowski. Das Datum war symbolisch auf zehn Jahre nach dem 31. 1. 1933 festgesetzt. Damit zeigte sich folgendes Bild: – es war eine Kapitulation gegen den ausdrücklichen Befehl des Oberbefehlhabers erfolgt; – die Kapitulation erfolgte mit etwas mehr als 90 000 Mann an sich bestens ausgerüsteter Elitetruppen; – die Kapitulation erfolgte von einem deutschen Generalfeldmarschall, der nach seinem Selbstverständnis eigentlich niemals kapitulieren konnte; – am Tag der Kapitulation gründete Generalfeldmarschall Paulus die Aktionsorganisation „Neues Deutschland“, die sich gegen die Art

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und Weise der NS-Kriegsführung wandte. Die Aktionsgruppe „Neues Deutschland“ hatte allerdings später keine große Bedeutung mehr, da eine weltanschaulich klare Fundierung fehlte und Paulus jegliches Interesse an ihr verloren hatte. Dies war praktisch das „Aus“ für Hitler im Südostabschnitt (Wolgafront) sowie dann an der gesamten Ostfront und zwar in krassester Form. Wie gravierend diese Geschehnisse und ihre Folgen waren, illustriert das weitere militärische Geschehen im unmittelbaren Anschluss daran: – sechs Monate später wurde Mussolini abgesetzt; – im Juni 1943 war die Kesselschlacht von Kursk (Donbogen); – ebenfalls im Juni 1943 erfolgte die Sizilien-Landung der US-Truppen; – im Juni 1943 war die Selbstversenkung der französischen Flotte bei Toulon.

Angesichts eines solchen Ereignisses drängen sich verschiedene Überlegungen auf. Dass Hitler bei mehreren Möglichkeiten einer erfolgreichen Fortführung der Militäraktion Südost (Asowsche Wolgafront) ausgerechnet die schwächste und katastrophenträchtigste Verhaltensmöglichkeit gewählt hat, konnte niemand voraussehen; damit hat niemand, der Hitler als Menschen und Militärpolitiker auf der Grundlage seiner faschistischen Willensdoktrin kannte, gerechnet. Im Nachhinein lässt sich allerdings leicht sagen, dass die Entscheidung im November / Dezember 1942 von Hitler fehlerhaft und selbstzerstörerisch getroffen worden ist. Die suggestive Wirkung der allgemeinen Verherrlichungen Hitlers und auch allgemein der Wehrmacht können heute nur noch schwer richtig eingeschätzt werden. Immerhin musste ein Mann, der in eine derartige Stellung gekommen war, im entscheidenden Moment eine innere Stimme hören, die ihm sagte, nunmehr endlich innezuhalten und nochmals zu überprüfen, wohin die in Gang gesetzten Geschehensverläufe führen würden. Hitler hat dies nicht getan. Dies hat er vor sich selbst zu vertreten: dies kann den Kreisen aus der deutschen Militärführung nicht angelastet werden. * Den Sinn dieser Erkenntnis schätzt man, um nun auf ein völlig verschiedenes Szenarium überzuwechseln, wenn man träumerisch und

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nach Klarheit suchend an deutschen Winterabenden, die unvermeidlich immer wieder auftauchenden Heldentaten der Wehrmacht diskutiert. Dabei lenkt sich der Blick auf den deutschen Soldaten, den dahinterstehenden Menschen. Sehr schnell sieht man: sehr tapfere Soldaten, groß an der Zahl, wohl diszipliniert, aber von sinnlosen Befehlen beschränkter Befehlshaber getrieben, sehr schnell in aussichtslose Lage geraten gegen die stets überlegenen Alliierten. Der bestürzte Deutsche, der diese abendlichen Bilder sieht, begegnet seinem Deutschtum nun mit Verständnislosigkeit; zuerst ist der Erklärungsausweg der, dass lediglich ein unglückseliger Feldherr an allem schuld war; da diese Version nicht tragfähig ist, lautet die dann auftauchende Alternative: auch die Untertanen sind schuld, vor allem die Paladine, auch Militärführer, und dann mehr oder weniger doch alle. Die Folge ist dann, dass das Deutschtum schlicht wegfällt. Dies geht schon zurück auf die bekannte Formulierung von F. Nietzsche, der Deutschland als „mitteleuropäisches Flachland“ bezeichnet hat und die Auswanderung nach Amerika empfahl. Spätestens hier hört der Deutsche dann aber auf mit seiner fortlaufenden Selbstaufgabe. Immerhin kann er sich wenigstens doch sagen, dass er im Grunde so ist wie die andern. Die Eigenmächtigkeiten und Anomalitäten bei Kriegsende und bei Kriegsverlauf sind Zufälle, die bestimmten historischen Einzelpersonen zuzurechnen sind, nicht seinem Charakter. Und doch deutet das Kriegsergebnis 1945 immer darauf hin, dass „kleine Brötchen zu backen sind“, was bedeutet, um auf das anfängliche Identitätsprofil (oben 2.) zurückzublenden, dass anzuknüpfen ist an die kleine Variante der kategorialen Geisteshaltung (oben 2.), also an den Individualismus (in moralisch gebundener Form), nicht an die „machtvolle“ Variante (oben 2.).

6. Positivrechtliche Erörterung des Prinzips der Menschenwürde Die positiv-rechtliche Darstellung der individualistischen Variante der kategorialen Geisteshaltung (Individualistisches Prinzip)

a) Allgemeines Normative Grundlage aller staatlichen Gewalt in der Bundesrepublik Deutschland ist ihre Verpflichtung, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen. Dieses normative Postulat wird in Art. 1 Grundgesetz im Indikativ formuliert, nämlich folgendermaßen: „die Würde des Menschen ist unantastbar“. Dies muss als sprachlich einwandfreie und sogar gelungene Formulierung bezeichnet werden, obwohl sie von der heutigen jüngeren Generation gelegentlich nicht richtig verstanden wird. Man hört den Einwand: „die Würde des Menschen ist (durchaus) antastbar“. Vom Grundgesetz ersichtlich gemeint ist aber, dass die Menschenwürde in nuce (im Kern) nicht angetastet werden kann und dass jedenfalls auf Dauer gesehen die Menschenwürde tatsächlich Bestand hat und unantastbar ist1. Eine Problematik in Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz wird hinter diesen Worten jedoch schon deutlich, nämlich eine gewisse Unsicherheit in den staatstragenden Schichten Deutschlands in Bezug auf eine dauerhafte Realisierung des Prinzips der „Menschenwürde“, welche die Durchsetzung des Prinzips der Menschenwürde im politischen Geschehen zunehmend zweifelhaft erscheinen lässt. Dieses theoretische Postulat der Würde des Menschen ist angesichts einer breiten Akzeptanz des Grundgesetzes heute soziale Wirklichkeit. Voraussetzung ist dabei, dass man den Begriff der „Würde des Menschen“ in einer den tatsächlichen Gegebenheiten und Auffassungen Rechnung tragenden Weise versteht2 und nicht überzieht3. 1 Diese Auffassung ergibt sich schon aus dem Standardkommentar des Grundgesetzes (Maunz, Dürig, Herzog, Art. 1, RdNr. 47).

a) Allgemeines

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Ein solches pragmatisches Verständnis wird im Wesentlichen die Methode der vorliegenden Untersuchung sein. Zunächst muss wegen der Begrifflichkeit dieser Untersuchung allerdings der begriffliche Aspekt des Prinzips der „Würde des Menschen“ erörtert werden, um so von der individuellen („Kleinen“) Variante der kategorialen Geisteshaltung (oben 2.) herkommend, unmittelbar auf den staatsrechtlich relevanten Begriff der „Menschenwürde“ zu gelangen. Der begriffliche Aspekt der „Menschenwürde“ im hier interessierenden Sinne ist nämlich der personale Wert der oben (2.) skizzierten 2 Vgl. hierzu die Äußerung von Carl v. Savigny zu den geistigen Grundlagen des Staates: „Die Grundlagen des Staates und der Charakter seiner Tätigkeiten sind bestimmt durch die seine Organe und deren Tätigkeiten betreffenden Rechtsvorschriften. Dies gilt jedoch in der Weise, dass die tatsächliche Gestalt dieser Rechtsvorschriften im Bewusstsein und in den Handlungen der staatstragenden Bevölkerungsschichten maßgebend ist und nicht ausschließlich ihre bloße begriffliche Fassung und ihr Wortlaut“. Carl v. Savigny, Philosophie des Rechts, Berlin 1895, 3. Aufl. S. 265ff. Diese Auffassung liegt der deutschen Methode von Staatsrechtsinterpretationen zugrunde. 3 Dass die Gefahr einer solchen Überziehung besteht, wird durch folgenden Rechtsstreit illustriert, der die Verwaltungsgerichte beschäftigte: Der Kläger, dessen Name in Telefonrechnungen statt mit „ö“ mit den Buchstaben „oe“ geschrieben war, verklagte die Post auf richtige Schreibweise seines Namens, ein Begehren, dem zu entsprechen technische Hindernisse im Weg standen, da die verwendeten EDV-Geräte keine Typen für Umlaute hatten (amerikanisch). Der Kläger begründete sein Begehren mit einer Berufung auf die Menschenwürde und das Persönlichkeitsrecht (Art. 2 GG). Er drang in 1. Instanz durch. Erst der VGH machte dem Unfug ein Ende. Immerhin sah sich das Gericht zu folgenden detaillierten Darlegungen veranlasst: Nach der richtigen Feststellung, der Begriff die Menschenwürde sei so vielgestaltig, dass er sich einer klaren Definition entziehe, folgen Sätze wie diese: „Die Würde des Menschen ist nicht unabdingbar mit der Beachtung der richtigen Schreibweise seines Namens verbunden … Dagegen ist die Persönlichkeit und das Persönlichkeitsrecht sicher dann verletzt, wenn der Name eines Menschen so verändert wird, daß er der Lächerlichkeit preisgegeben wird. Auch wird es mit der Würde des Menschen nicht vereinbar sein, wenn sein Name den Forderungen der Technik untergeordnet wird und so verändert wird, daß der Betroffene sich zum Objekt degradiert fühlt. Dies ist aber dann nicht zu bejahen, wenn es sich lediglich um die Änderung der formellen Schreibweise handelt und wenn die Änderung für die Identität des Klägers keine Bedeutung hat und wenn die Mitmenschen des Betroffenen die Änderung zur Kenntnis nehmen, ohne sie als Herabwürdigung anzusehen – Gott sei Dank! Dies ist die ebenso deutsche wie sichere Methode, einer guten Sache wie dem Grundrechtsschutz zu schaden, indem man sie ad absurdum führt.

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individuellen („Kleinen“) Variante des an die kategoriale Geisteshaltung gebundenen moralischen Individualismus. Dieses Verhältnis also von identitätsrelevanter und das heißt: profilrelevanter, kategorialer Geisteshaltung im individualistischen Sinn (oben 2. [„kleine Variante“]), zu dem staatsrechtsrelevanten Begriff der „Menschenwürde“ – lässt sich vom Ergebnis her noch klarer mit folgenden Worten kennzeichnen4: „Es kann als ein glücklicher historischer Zufall oder sogar als Ausfluß einer historischen ‚ratio superveniens‘ bezeichnet werden, daß die deutsche Geisteswissenschaft mit dem Begriff der Menschenwürde einen begrifflichen Rahmen und ein begriffliches Denkmuster gefunden hat, – das sowohl die kategoriale Geisteshaltung in der machtvollen Variant, also die Heroen der Wiener Klassik, umgreift, – als auch die kleine Variante der kategorialen Geisteshaltung trifft, also z. B. auch einen abgerissenen Wehrmachtsoffizier am Ortsausgang Prag-Ost, der trotz allem sich eine individuelle Menschenwürde noch bewahrte. Diesem Zufall und seiner Doppeldeutigkeit verdankt Deutschland die Möglichkeit einer neuen, tragfähigen Staatsgrundlage für einen Neuanfang“.

Wenn man dergestalt das Prinzip eines moralisch gebundenen Individualismus’ als Staatsprinzip bezeichnen kann, so nur mit folgendem Zusatz. Es gibt weitere in diesem Zusammenhang zu nennende Prinzipien staatsgrundsätzlicher Art, welche sich darstellen als – Ausdifferenzierungsprinzipien des Individualprinzips mit jedoch eigenständigem Charakter, nämlich

– dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) als rechtliche Sicherung des Individuums in der Gemeinschaft auf der Grundlage von Individualrechten, – dem Sozialstaatsprinzip als wirtschaftliche und allgemein faktische Sicherung des Individuums,

4 Die folgende Formulierung stammt von Georg („Schorse“) Diederichs, Erinnerungen an Bonn, Reden u. Aufsätze, Attempto Verlag 1962 S. 12 f. G. Diederichs war stellvertretender SPD-Fraktionsvorsitzender im Parlamentarischen Rat u. später Ministerpräsident in Hannover sowie hochgeschätzter Onkel des Verf.

a) Allgemeines

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– dem Prinzip des inneren Friedens (Art. 8 Abs. 1 GG) als der Ermöglichung tatsächlicher Entfaltung des Individuums im Schutze politischer, rechtlicher und polizeirechtlicher Maßnahmen, – dem Prinzip des äußeren Friedens (Art. 24 Abs. 1 GG) als die Antwort des Grundgesetzgebers auf die unmittelbare deutsche Vergangenheit, – oder welche, über die Ausdifferenzierung hinausgehend, sich darstellen als Ergänzungen des Grundsatzes des Individualismus. Vor allem ist in diesem Zusammenhang hinzuweisen auf das Postulat einer friedlichen Einordnung Deutschlands in die Welt und in das Staatengefüge Europas (Art. 24 Satz 2 Abs. 2 GG), welche eine gesicherte Staatlichkeit überhaupt erst ermöglichen5.

Dieser Ausgangspunkt mit seiner geschilderten Gesamtheit normativer Prinzipien auf der Grundlage des Hauptprinzips eines moralisch gebundenen Individualismus besteht nunmehr unverändert seit über einem halben Jahrhundert. An diesem Prinzip hat weder die wirtschaftlich und politisch gewandelte Stellung Deutschlands in der Welt seit der Zeit der Abfassung des Grundgesetzes etwas geändert, noch hat auch der deutsche Wiedervereinigungsprozess bislang grundsätzlich Neues im hier interessierenden Kontext gebracht. Alle Verfassungsänderungen seit dem 3. 10. 1990 haben die genannten normativen Staatsgrundlagen nicht berührt. Gewisse zu gegebener Zeit wahrscheinlich relevant werdende Änderungen haben sich allerdings seit Beginn und als Folge des Einigungsprozesses tatsächlich doch abgezeichnet. Es sind dies die Tendenzen in der öffentlichen Meinung, welche auf die Bildung oder auf Ansätze eines neuen Staatsselbstverständnisses Deutschlands hindeuten. Gemeint ist hier die schon stets mit Schwierigkeiten verbunden gewesene Frage der Art und Weise einer Einordnung Deutschlands in die Staatengemeinschaft, insbesondere Europas. In tatsächlicher Beziehung, nämlich im technischen und wirtschaftlichen sowie im sicherheitspolitischen Bereich, hat Deutschland rein 5 Es gibt noch weitere Staatsprinzipien, deren Normierung sich nicht im Grundgesetz befindet, deren Formulierung in einer solchen Weise aber erörtert wird; vgl. hierzu den Bericht der Sachverständigenkommission „Staatszielbestimmungen, Gesetzgebungsaufträge“, Bonn, 1983.

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tatsächlich gesehen längst Großmachtgewicht und Großmachtcharakter. Dieser Umstand muss sich auch und gerade auf den normativen, d. h. den völkerrechtlichen Bereich auswirken, also die rechtliche Stellung Deutschlands in den internationalen Organisationen UNO, NATO und EU. In Bezug auf die UNO ist zu beobachten, dass von Deutschland ein ständiger Sitz im Sicherheitsrat angestrebt wird. Im Bereich der EU besteht die Bestrebung, eine Führungsposition neben Frankreich und Großbritannien zu erreichen. Inwieweit diese Umstände auf eine grundsätzliche Änderung der Selbsteinschätzung Deutschlands hindeuten, ist derzeit noch offen und bleibt abzuwarten6. b) Begriffliche Erörterung des Prinzips der Menschenwürde Jede Erörterung des verfassungsrechtlichen Verständnisses der „Menschenwürde“ im oben genannten Sinne zielt notwendig in zwei Richtungen. Einmal stellt sich die Frage, was mit dem Prinzip des kategorial begründeten Individualismus (Menschenwürde, oben S. 50) hier gemeint ist. Zum anderen hat diese verfassungsrechtliche Grundlagenerörterung eine Antwort auf die Frage zu geben, ob dieses Prinzip tragfähig ist7. Denn Staatsgrundlage kann nur sein, was Tragfähigkeit besitzt. Der Begriff „Würde des Menschen“ in Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG ist, rein sprachlich gesehen, vage. Und auch in seiner weltanschaulichen Verankerung konnte bei Abfassung des Grundgesetzes keine Einigung 6 Vgl. zu dem problematischen Verhältnis von Selbsteinschätzung (Profil) zu Europa im Einzelnen unten 9. 7 Unter tragfähig wird hier verstanden: (1) – objektive Widerspruchsfreiheit vom Erkentnisniveau der staatstragenden Bevölkerungsschichten her, (2) – eine tatsächliche Kohärenz im Sinne einer Einbeziehung aller tatsächlichen Voraussetzungen und deren Kausalbedingungen („zutreffender Sachverhaltsausgangspunkt“) in Bezug auf die hier in Frage stehenden Urteile (Einzelheiten sogleich S. 55). (3) Dies läuft auf eine objektive Vernünftigkeit des in Rede stehenden Prinzips hinaus (vgl. im Folgenden).

c) Immanuel Kant

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erzielt werden. Es blieb unklar, auf welchen Weltanschauungshintergrund sich das Prinzip der „Würde des Menschen“ eigentlich beziehen sollte, es kann mehreres bedeuten: – Es kann ein christlicher Gedanke sein und in christlichem Sinne gedeutet werden. Es wäre in diesem Fall seinem Inhalt nach mit der „Ebenbildlichkeit des Menschen zu Gott“ und dem Gedanken der „Solidarität in Christo“ gleichzusetzen; – es kann anthropologisch gedeutet werden. Es wäre in diesem Fall eine empirisch feststellbare und beschreibbare Tatsache, welche aus der Beobachtung des Menschen und seiner Natur folgt, nämlich des Menschen als der Kulmination der bisherigen Entwicklung; – auch eine utilitaristische Deutung ist möglich. „Würde des Menschen“ wäre in diesem Fall die Fähigkeit, welche das auf Selbsterhaltung und Selbstverwirklichung angelegte Zweckmäßigkeitsstreben des Menschen darstellt. – Am ehesten legt der Begriff der „Würde des Menschen“ allerdings die vernunftrechtliche Begründungsdimension der kritisch-transzendentalen Philosophie Kants nahe. Er zeigt eine klare, schon sprachliche Affinität zu Kants Begriff der „Menschenwürde“ und der grundgesetzlichen Postulierung von bestimmten mit diesem Postulat zusammenhängenden Menschenrechten. Gerade diese Verbindung zu Menschenrechten ist es, welche die Kantische Herkunft des Begriffs der „Menschenwürde“ sichtbar macht. Heute wird denn auch dieser Begriff ganz überwiegend im Kantischen Sinne aufgefasst8.

Bei Kants Transzendentalphilosphie hat also jede Klärung des Begriffs der „Würde des Menschen“ anzusetzen. Diese ist sodann auch bestimmend für die eigentliche Hauptfrage der vorliegenden Erörterung, welche auf die begriffliche Tragfähigkeit des Prinzips der Menschenwürde zielt. c) Immanuel Kant Die „Würde des Menschen“ ist nach Kant die menschliche Autonomie. Ihr Wesen ist die menschliche Vernunft und zwar im vorliegen8

Vgl. Nachweise bei Olivet, NJW 1989, S. 2033f.

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den Zusammenhang der äußeren Wirksamkeit und Tätigkeit des Menschen die sog. praktische Vernunft9. Diese Autonomie und praktische Vernunft stellt nach Kant die Fähigkeit dar, – sich selbst, d. h. im Wesentlichen die eigene Handlungsweise, vernunftgemäß zu bestimmen sowie dann auch – die Umwelt vernunftgemäß zu gestalten.

Diese Auffassung wirft zunächst die Frage auf, was unter menschlicher Vernunft als dem subjektiven Vermögen vernünftigen Denkens und Handelns zu verstehen ist. Kant nennt dieses Vermögen Verstand im Gegensatz zur sog. objektiven Vernunft und definiert diesen „Verstand“ wie folgt: Verstand ist die Funktionsweise des menschlichen Bewusstseins, welche durch bestimmte, klar festgelegte und im Wesentlichen aus der philosophischen Tradition stammende Kategorien des Bewusstseins konstituiert ist. Diese befähigen es, mit Hilfe von Empfindungen und sinnlichen Anschauungen aus der Außenwelt zu einem bestimmten Weltbild zu gelangen (Vorstellung)10. Die zweite Frage, die der Kantische Bezug der „Menschenwürde“ auf die praktische Vernunft und die Abstützung der Menschenwürde in dieser Vernunft mit sich bringt, ist die, ob das menschliche, subjek9 Mit „praktischer Vernunft“ ist die das Handeln in der Gemeinschaft bestimmende Vernunft (praktein = handeln) gemeint, und zwar im Gegensatz zur theoretischen Vernunft (Erkenntnis). 10 Es gibt eine von Kant zusammengestellte Tafel von Kategorien begrifflicher Bewusstseinsstrukturierung, welche in ihrer Gesamtheit sämtliche denkbaren Verstandesresultate (empirisches Weltbild, Vorstellung) konstituieren sollen. Im Einzelnen sind es folgende Kategorien, welche hier wegen ihrer Bedeutung für die folgenden Ausführungen der Nachfolgesysteme Kants ausdrücklich aufgeführt werden: Kant unterschied nach vier Gesichtspunkten der Quantität, Qualität, Relation und Modalität je drei Urteilsarten: – allgemeine, besondere, einzelne – bejahende, verneinende, unendliche, – kategorische, hypothetische, disjunktive, – problematische, assertorische, apodiktische. Diesen Urteilsarten entsprachen sodann die folgenden zwölf Kategorien: – Einheit, Vielheit, Allheit – Realität, Negation, Limitation – Inhärenz und Subsidänz, Kausalität und Dependenz, Gemeinschaft und Wechselwirkung – Möglichkeit und Unmöglichkeit, Dasein oder Nichtsein, Notwendigkeit und Zufälligkeit.

c) Immanuel Kant

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tive Vernunftvermögen (Verstand) im Ergebnis objektiv vernünftig ist, d. h. ob es in der Lage ist, eine kohärente, in sich begrifflich widerspruchsfreie sowie systemisch geschlossene und damit als tragfähig zu bezeichnende Gesamtmotivation jeglichen menschlichen Handelns herzustellen. Diese Frage zielt also auf die philosophische Tragfähigkeit des Begriffs der Vernunft und damit dann auch des Postulats der „Menschenwürde“. Kants Stellungnahme in dieser Situation ist die, dass er in apodiktischer Weise die objektive Vernünftigkeit des menschlichen Verstandes postuliert. Es geschieht dies unter Hinzunahme sogenannter heuristischer Prinzipien (hierzu sogleich im Folgenden). Die Begründung findet sich in der „Kritik der praktischen Vernunft“11: Der menschliche Verstand, also die subjektive Vernunft als die Begriffsbasis der „Menschenwürde“, macht das Wesen des Menschen aus. Er unterscheidet ihn von allen anderen Lebewesen und stellt seine eigentliche Dignität bzw. Würde dar. Diese Würde bedeutet nach Kant, dass die subjektive Vernunft des Menschen sich nicht in einem Ergebnis sinnloser Handlungen erschöpfen kann und nicht darauf hinaus laufen kann, dass sein Vernunftvermögen letzten Endes zu inkohärenten, d. h. begrifflich widersprüchlichen, empirisch nicht geschlossenen und damit zu einem eine tragfähige Gesamtmotivation für seine Tätigkeiten nicht ermöglichenden Ergebnis führt. Dieses Vermögen kann also nicht im Ergebnis objektiv unvernünftig sein. Dies ist entgegen dem ersten Anschein keine petitio principii etwa der folgenden Art: – „Menschliche Würde“ – Menschliche Vernunft – und zwar tatsächliche, d. h. objektive tragfähige Vernunft, – da sonst von Würde und Dignität nicht gesprochen werden könnte.

Vielmehr verbirgt sich hinter dieser Dignitätsargumentation folgendes: Kant hat die Würde und Dignität des Menschen zwar sehr wohl auf dessen Vernunft bezogen und diese dann auch wieder im Licht der 11 Kant, Immanuel, Kritik der praktischen Vernunft, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Wiss. Buchges. 1956, S. 433 f.

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„Würde“ gesehen. Jedoch in seiner moralphilosophischen Schrift, der Grundlegung der Metaphysik der Sitten, hat er die „Würde“ unabhängig von dieser Vernunft auf breitere philosophische Basis gestellt. Er fasst den Menschen und seine Dignität auf als Zweck der Natur an sich, ohne die Notwendigkeit oder auch nur Zulässigkeit etwaiger weiterer Fragen nach detaillierten Zwecken des Menschen anzuerkennen: Dies würde ihn nämlich von solchen abhängig machen und seiner Würde dann berauben. Diese Argumentation steht auf dem Hintergrund der christlichen Lehre vom Menschen als „Ebenbild Gottes“ und auf dem Prinzip der allgemein zwecksetzenden Moralität des Menschen, welches seine Würde begründet, ohne dass seine Vernunft und Autonomie als Begründung der Würde hier als Argumentationsbasis überhaupt herangezogen werden müsste. Diese moralphilosophische Kennzeichnung des Menschen als natürlicher Zweck ist nach Kant ein Würdebegriff, welcher die Postulierung der objektiven Vernünftigkeit des Menschen erfordert und rechtfertigt. Kant hat noch ein weiteres und wohl stärkeres Argument zur Begründung des Postulats der objektiven Vernünftigkeit des Menschen verwendet. Menschliches vernünftiges Handeln ist insofern objektiv vernünftig, als es seinem Wesen nach gerichtet ist auf allgemeingültige Gegenstände des Wollens, welche nicht bloß hypothetische Gegenstände solchen Wollens in einer Zweck-Mittel-Relation sind. Durch diese allgemeingültigen Gegenstände des Wollens erhalten alle anderen Gegenstände des Wollens, z. B. ausgehend von moralisch-defizitären Menschen oder auch von Tieren etc., ihren Beurteilungswert. Dies ist der kategorische Imperativ in seiner ursprünglichen, an die erkenntnistheoretischen Überlegungen anknüpfenden Form, welcher zusammenfassend meist wie folgt formuliert wird: Objektiv vernünftiges Handeln wird stets realisiert durch ein subjektives Handeln nach den Maximen der Kategorien der praktischen Vernunft des Menschen, ohne irgendwelche andere von diesen Kategorien unabhängige Motivationen oder Zwecke. Diese Kategorien sind zusammenfassend zu kennzeichnen als das Prinzip der Pflichterfüllung auf der Grundlage einer allgemeinen Gesetzlichkeit (Kategorien)12. Und dies heißt dann eben, 12 Kritik der praktischen Vernunft (a.a.O. Fn. 11); diese Kategorien der praktischen Vernunft finden sich auch in anderer Formulierung z. B. in dem

c) Immanuel Kant

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dass subjektiv vernunftgemäßes menschliches Handeln im Kern stets ein Handeln entsprechend dem eigentlichen Wesen und den Notwendigkeiten des Handlungsmechanismus der menschlichen Natur ist. Eine Frage nach irgendwelchen außerhalb der Verwirklichung des genannten Handlungsmechanismus liegenden Zwecken oder Motiven stellt sich nicht mehr. Damit ist dieses subjektive Handeln des Menschen in sich kohärent, also widerspruchsfrei begründet sowie von den Bedingungen und Zwecken her geschlossen im oben genannten Sinn, und es ist tragfähig. Und damit ist dieses Handeln objektiv vernünftig. Kant hat auf diese Weise mit zwei Argumenten die philosophische Tragfähigkeit des Begriffs der „Menschenwürde“ im autonomie-vernunftbezogenen Sinne begründet. Auf die hieraus resultierende Begründbarkeit der politischen Tragfähigkeit des Begriffs der „Menschenwürde“ als staatsrechtliches Prinzip wurde hingewiesen. Kant hat es bei diesen Argumenten nicht bewenden lassen. Er konnte dies angesichts der Bedeutung der hier in Rede stehenden Frage nach einer Begründbarkeit der objektiven Vernünftigkeit des menschlichen Wesens auch nicht tun. Im Rahmen erkenntnistheoretischer Erwägungen tauchen weitere Argumente der objektiven Vernunfterörterung auf. Notwendigerweise, weil im Zusammenhang der sogleich zu erörternden Kritik an Kants objektivem Vernünftigkeitspostulat auch und gerade erkenntnistheoretisch orientierte Argumente vorgebracht werden. Es besteht ein sachlicher Zusammenhang zwischen praktischer Vernunfterörterung und erkenntnistheoretischer Vernunfterörterung. Bei genauer Betrachtung ist sogar eine Vorgreiflichkeit der letzteren in Bezug auf die erstere festzustellen: Vernünftig gehandelt kann immer nur werden, wenn zuvor vernünftig erkannt wurde.

Terminus „Gesinnung“, oder „guter Wille“, „Maximen des Willens“, vgl. hierzu auch: Kant, Grundlegung der Metaphysik der Sitten, I, S. 393.

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Die moralphilosophischen Ausführungen Kants zur objektiven Vernünftigkeit des Menschen sind nicht ohne Widerspruch geblieben. Die bekannteste Kritik an Kants objektivem Vernunftpostulat ist diejenige von F. Nietzsche13. Diese ist in Kantischer Manier und in rein erkenntnistheoretischer Denkweise von zwei Seiten her konzipiert: Zunächst geht sie vom subjektiven menschlichen Vernunftvermögen (Verstand) aus und beurteilt dieses sowie dessen Ergebnis (Vorstellung) mit folgenden Worten: „Die menschliche Vernunft ist nicht (…) vernünftig und damit ist auch die Welt nicht vernünftig“. Diese Äußerung wird auch folgendermaßen gefasst: „Unsere menschliche Vernunft ist nicht allzu vernünftig und so wird es die übrige Welt auch nicht sein“. Sodann kritisiert Nietzsche das objektive Vernunftpostulat auf umgekehrte Weise und zwar von der anderen Seite der empirischen Welt her kommend, und bemisst im Anschluss daran die Qualität der menschlichen Vernunft (Verstand) folgendermaßen: „Bei allem ist eines unmöglich …, die objektive Vernünftigkeit der Welt … und damit als Teil dieser Welt auch die des menschlichen Verstandes“14. Es ist dies ein umfassender Angriff auf das Kantische System, also sowohl der reinen als auch der praktischen Vernunft. Dies gilt nämlich einmal auf der praktisch-handlungsbezogenen Seite als Möglichkeit des Menschen, objektiv vernünftig zu handeln, als auch darüber hinaus auf der erkenntnistheoretischen Seite als die Möglichkeit des Menschen, die Welt widerspruchsfrei und komplett, also objektiv vernünftig, zu erkennen: letzterer Umstand ist also ebenfalls maßgeblich, wie bereits erwähnt (oben S. 57) für die Stützung des objektiven Vernunftpostulats, und ist von Kant zur Stützung des objektiven Vernunftpostulats herangezogen worden. Schon aus diesem letztgenannten Grund ist auf diesen erkenntnistheoretischen Bereich einzugehen. Vor allem ist diese erkenntnistheoretische Abstützung des objektiven Vernunftpostulats also notwendig, weil eine Vorgreiflichkeit15 der 13 F. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, II. Band, Schlechta-Ausgabe, Hanser Verlag 1973, S. 873. 14 F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, München, Dt. Taschenbuch-Verlag 1999, S. 410.

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erkenntnistheoretischen Vernunfterörterung vor den praktisch-handlungsbezogenen Vernunfterörterungen besteht, welche stets eine erkenntnistheoretische Betrachtung des objektiven Vernunftpostulats erforderlich macht. Kant hat daher selbst den Erörterungen der praktischen Vernunft die erkenntnistheoretischen Erörterungen der reinen Vernunft vorgeschaltet16. Die Antinomien: Kant stellt in seiner erkenntnistheoretischen Untersuchung der Leistungsfähigkeit des Verstandes und seiner Kategorien fest, dass dieser in vier für jede Erkenntnis wichtigen Bereichen sog. Antinomien17 enthält. Dies bedeutet, dass der Verstand in diesen Punkten zu einerseits notwendigen, sich andererseits aber diametral widersprechenden Ergebnissen kommt. Dies bedeutet im hier interessierenden Zusammenhang: Der Verstand ist in den genannten Bereichen widersprüchlich und nie in der Lage, zu objektiv vernünftigen Ergebnissen zu gelangen. Diese Widersprüchlichkeit bezieht sich nach Kant auf folgende Punkte: – Jede Erkenntnis stellt einen Teilkausalprozess der Welt dar, nämlich in Form einer isomorphen Abbildung des Kausalprozesses im Seit alters her bekannt und bereits oben erwähnt (oben S. 57). Dies beruht auf griechischer Tradition. Seit alters her ist es üblich, die philosophische Reflexion zu beziehen auf: Wahrheit – Sittlichkeit – Ästhetik, (verum, bonum, pulchrum) und damit auf: – Erkenntnis – sittliches Handeln – ästhetische Beurteilung. Dementsprechend verfasste Kant drei grundlegende Erörterungskritiken über die reine Vernunft – die praktische Vernunft – die Urteilskraft. Die genaue Einteilung ist erstmals bekannt geworden durch Quintus Septimus Tertullianus (Kirchenvater aus Kartago, 150 – 220 n.Chr.), insbes. durch seine Maxime: „Credo quia mundum absurdum adhibere est“, welche eine besondere Qualifizierung des Verhältnisses: verum / honum brachte. Dies bedeutet nach Tertullian nämlich: Es besteht keine Erkenntnismöglichkeit (verum) in Bezug auf die Welt und damit keine weltadäquate Handlungsmöglichkeit. Vielmehr besteht ausschließlich die handlungsbegründende Denkkategorie des „Glaubens“ (bonum). 17 Nomos (grch.) = Gesetz; Antinomie = Widergesetzlichkeit, Widersprüchlichkeit. 15 16

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menschlichen Verstand und zwar in seiner Unendlichkeit nach vorne und zurück. Dies führt dann aber wegen dieser Unendlichkeit zum sog. „regressus in infinitum“, und zwar sowohl die Ursachenkette als auch die Folgenkette betreffend; – das Erkenntnisbedürfnis erfordert aber stets eine Geschlossenheit im Sinne einer unbedingten Erstursache und einer abgeschlossenen Folgenkette.

Kant sucht zu beweisen, und zwar mit dem Argument des zwingenden Charakters der jeweils diametralen Gegenposition, dass sowohl der regresses in infinitum notwendigerweise angenommen werden muss, als auch andererseits, dass die Annahme einer unbedingten Erstursache zwingend ist, wenn man eine begrifflich geschlossene Erkenntnis haben will. Diese Beweise sind zwar formell und in scholastischer Form vorgetragen, legen aber klar erkennbar den Gedanken frei, dass weder der regresses in infinitum, noch das Unbedingte in Bezug auf Ersterfolg und Erstursuche für den menschlichen Verstand vorstellbar sind. Die zweite Antinomie bezieht Kant auf die Endlichkeit bzw. Unendlichkeit des Raumes. Beides bewies er als notwendig vorzustellende Gegebenheit trotz der zuvor bereits bewiesenen diametralen Gegenposition und zwar jeweils unter Verwendung des Arguments eines zwingenden Charakters dieser Gegenposition. Wie bei der Kategorie der Kausalität zeigte er, dass im Grunde beides für den menschlichen Verstand nicht vorstellbar ist. Die dritte Antinomie betrifft das Zeitproblem. In völlig analoger Weise beweist Kant die Unvorstellbarkeit zeitlicher Limitation sowie die des Gegenteils einer zeitlichen Unendlichkeit. Die vierte Antinomie ist die der unendlichen bzw. limitierten Teilbarkeit der Substanz (Materie). Beide Gegebenheiten werden von Kant als nicht vorstellbar angesehen und bewiesen. Damit ist nach Kant die Substanz selbst im Prinzip nicht vorstellbar. Die regulativen Prinzipien: Wenn Kant die Widersprüchlichkeit des menschlichen Verstandes in den genannten Punkten feststellte, so konnte es hierbei nicht sein Bewenden haben. Dies schon deshalb nicht, weil mit einem solchen Ergebnis nicht nur keine objektiv-vernünftige Erkenntnis begründet werden konnte, sondern weil auch die

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Möglichkeit eines objektiv-vernünftigen Handelns nicht erklärt werden konnte. Kant suchte die solchermaßen festgestellte Widersprüchlichkeit des menschlichen Verstandes zu überwinden, indem er regulative Prinzipien formulierte, welche die Offenheit in den vier genannten Bereichen regeln und schließen sollten. Diese Prinzipien sind: „Gott“ als die Unbedingte Erstursache im regressus in infinitum; Welt18 als das unbedingte Prinzip der Geschlossenheit im Raumproblem sowie im Zeitproblem und auch im Problem der Teilbarkeit der Substanz19. Sie sind ersichtlich der kulturellen christlichen Tradition entnommen. Als weiteres regulatives Prinzip kommt in der Kritik der reinen Vernunft dasjenige der Unsterblichkeit der Seele hinzu. Es betrifft nicht mehr die Herstellung einer wenigstens potentiellen Geschlossenheit des zu erkennenden Weltsystems (Kausalität, Raum, Zeit), sondern die Herstellung eines erkenntnistheoretisch brauchbaren, in sich geschlossenen personalen Substrats = Subjekts. Wenn nämlich eine Unsterblichkeit nicht besteht, wenn also menschliches Handeln und Denken zeitlich limitiert ist, dann ist mit Sicherheit ein Ende in der Zeit anzunehmen, und es ist dann völlig gleichgültig, was man gegenwärtig tut oder erkennt; das Ergebnis ist in jedem Fall dieses Gleiche Totalende. Es besteht insofern keine Möglichkeit der Änderung und damit keine Motivation, überhaupt irgendetwas zu tun20. Dies würde dazu führen, dass jede Tätigkeit oder Erkenntnis unterbleiben würde. Da dies nicht sein kann, muss das regulative Prinzip der Unsterblichkeit der Seele angenommen werden. Wenn Kant also die Überwindung der Antinomien durch die Verwendung regulativer Prinzipien bewerkstelligen wollte, so ist zu18 Zu verstehen im hebräisch-christlichen Sinne als Inbegriff der Schöpfung Gottes, welche keinen Raum für Fragen nach einem Ende oder einer Offenheit des Raumes mehr lässt. 19 Das regulative Prinzip der „Freiheit“ als weiteres regulatives Prinzip Kants als notwendige Kritik der praktischen Vernunft läuft auf eine ganz analoge Argumentation hinaus: Wenn menschliche Freiheit (librium arbitrium) nicht besteht,wenn also alles im Bereich personaler Erkenntnis und Handlung determiniert ist, so ist keine Handlung möglich, weil ohnehin alles festgelegt ist und kein Motiv besteht, irgendetwas zu ändern oder zu handeln. 20 Sog. ignavia ratio: entwickelt von den Stoikern (insbes. Chrysippos).

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nächst zu klären, welchen begrifflichen Charakter sie überhaupt haben sollen. Einerseits erscheinen sie nämlich als bloße Postulate („regulative“ Prinzipien). Sie werden als logische Voraussetzungen zu verstehen gegeben, unter welchen allein eine objektiv vernünftige Erkenntnis möglich wäre. Über die tatsächliche Existenz dieser logischen Voraussetzung wird hier dann noch nichts gesagt. Zum andern erscheinen die regulativen Prinzipien aber als Faktizitäten, bezeichnet als Ideen der Vernunft, welche eine vernünftige Erkenntnis tatsächlich ermöglichen. Dies ist eine deutliche begriffliche Ambivalenz. Diese Ambivalenz löste Kant nicht begrifflich-diskursiv, sondern prärequiositionell: (1) In der christlichen Tradition, in der er nun einmal stand, waren die Termini Gott und Welt tragfähige, d. h. grundlagenfähige Vorstellungen bzw. Begriffe, die einer geschlossenen Erkenntnis zugrunde gelegt werden konnten; (2) Es war ferner davon auszugehen, dass in dem Erkenntnissystem der „Kritik der reinen Vernunft“ eine volle Erkennbarkeit der empirischen Welt für den menschlichen Verstand postuliert und vorausgesetzt wurde und bei einem solchen Werk vorausgesetzt werden musste. Es zeigte sich als einziges methodisches Defizit die antinomiebedingte Offenheit bzw. Widersprüchlichkeit jeder Erkenntnis. Diese besteht aber lediglich in vier Punkten (oben S. 59, 60). Um einen Schlussstein des kritisch transzendentalen Erkenntnissystems im Sinne einer völligen Geschlossenheit dieses Systems zu erreichen, lag es bei dieser Sachlage nahe, dass aus dem an sich schon als ziemlich geschlossenen zu bezeichnenden System der Rest an Geschlossenheit gefolgert wurde. Die regulativen Prinzipien waren bei dieser Sichtweise als gegebene Faktizitäten anzusehen. Es ist also so, dass Kant die Ambivalenz der regulativen Prinzipien im Sinne der zweiten Auffassungsalternative (oben) löste und deutete, nämlich als Faktizitäten im Zuge der erkenntnistheoretischen Prozesse und Überwindung der Antinomien ansah. Er sah damit das Problem der Antinomien überhaupt als gelöst an. Dieser dargelegte Ausweg Kants aus dem Dilemma der Antinomien mittels als Faktizitäten aufgefasster regulativer Prinzipien bringt allerdings Schwierigkeiten mit sich.

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(1) Zunächst machte schon die allgemeine kulturelle Entwicklung21 den Kantischen Rückgriff auf erkennbar christliche Gedanken eines als „unbedingt“ zu denkenden Gottes schwer. (2) Darüber hinaus ist das Kantische kritisch-transzendentale Erkenntnissystem tatsächlich weit davon entfernt, einen derartigen Grad von Geschlossenheit aufzuweisen, dass die soeben dargelegte (S. 62) Argumentation zulässig wäre und dass man also aus einer vermeintlich schon bestehenden Geschlossenheit auf eine nunmehr auch methodisch vollkommene Geschlossenheit folgern könnte. Es bestehen folgende Mängel im kritisch-transzendentalen Erkenntnissystem, welche von einer Geschlossenheit dieses Systems zu sprechen nicht erlauben. Kant ging im Gegensatz zu allen vorangegangenen erkenntnistheoretischen Systemen nicht davon aus, dass die Welt und deren Strukturen das menschliche Weltbild, also die menschliche Erkenntnis und deren Strukturen bestimmt, sondern umgekehrt vielmehr davon, dass die Strukturen des menschlichen Verstandes die empirische Welt und deren Strukturen bestimmen (sog. Kopernikanische Wende). Der Grund für diese an sich eigenartige Sicht der Dinge ist bekannt und dennoch im vorliegenden Zusammenhang kurz anzuführen, da er eine entscheidende Rolle bei der Beurteilung des Kantischen Systems durch sämtliche Nachfolgesysteme spielt, und zwar dies im Zusammenhang mit deren Bestrebungen, eine wirkliche Geschlossenheit erkenntnistheoretischer Art zu gewinnen (vgl. dazu im Folgenden Fichte und Hegel). Der Grund für Kants erkenntnistheoretische Umkehrung des Verhältnisses von Welt zu Verstandeserkenntnis (Weltbild) ist der, dass die so gewonnene Maßgeblichkeit des Verstandes und dessen Katego21 Vgl. die hier maßgeblichen Entwicklungspunkte vom Erdbeben in Lissabon im Jahr 1753 über die Schlacht von Solferino 1859 bis hin zu Gerhard Hauptmann’s „Die Weber“ (die bekannte, allgemein beachtete Schlussszene), welche die Vorstellung eines allmächtigen Gottes, der prinzipiell das Gute wollte und beförderte, sehr schwer machte. Insbesondere schon das Erdbeben von Lissabon 1753 tat das: das Beben traf genau und nur den Stadtkern; eine geringfügige Verschiebung nach West oder Ost oder auch Süd hätte ein völlig harmloses Seebeben verursacht. Der portugiesische Staat war damals ein vorbildliches christliches Gemeinwesens, dessen Zerstörung nicht als allmächtigsinnvoll angesehen werden konnte.

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rien für die empirische Welt (Weltbild) die Konstituierung synthetischer Urteile a priori erlaubt. Solche synthetischen Urteile a priori sind nämlich nur möglich, wenn nicht die Welt und deren Strukturen auf die Verstandeserkenntnis bestimmend einwirken22 und auf diese Weise notwendig bloße a posteriorische, empirische Urteile dieser Welt zustande bringen, sie sind vielmehr nur möglich, wenn die Urteile dem Urteilsmechanismus selbst und seinen Kategorien entstammen und also durch sie bestimmt werden. Sie sind nur möglich, wenn also eine Apriorität der maßgeblichen Urteilskonstituentien besteht23. Das Ergebnis der in der beschriebenen Kantischen Weise gewonnenen Erkenntnis ist, wie erwähnt, natürlich lediglich die empirische Welt, nämlich die Welt für die menschliche Erfahrung (Strukturen des menschlichen Verstandes). Dieses Ergebnis wird von Kant auch Vorstellung genannt24. Nicht ist dieses Ergebnis eine Welt für jedes denkbare Erkenntnissubjekt und nicht ist es ein Vorstellungssubstrat ohne Bezug auf die Welt, also auf die äußere Welt oder das Ding an sich. Maßgeblich für die so gewonnene Erkenntnis ist also darüber hinaus, dass die Verstandeskategorien nicht allein verantwortlich für die Vorstellung (Weltbild, empirische Welt) sind, sondern dass zusätzlich noch eine von Kant als „Ding an sich“ bzw. auch äußere Welt „Welt an sich“ bezeichnete Gegebenheit zu aller kategorialer Verstandesarbeit von außen hinzukommen muss. Diese Gegebenheit wird von Kant als vorgegebene Anschauung bzw. Empfindung vom Ding an sich herrührend bezeichnet. Auf diese Weise einer kategorialen Ver22 So hoch David Hume, Of human understanding, Ausgabe Vogtländer, S. 312; ferner in: Treatise, Ausgabe Vogtländer S. 170 ff. 23 Insbes. ist dieser Gedanke wichtig für Kausalprozessurteile deren a priorischer oder a posteriorischer Charakter Gegenstand des Streits (zwischen Hume und Kant) war und der gesamte Ausgangspunkt des Kantischen Erkenntnissystems ist. Kausalprozessurteile sind nur dann a priorisch möglich, wenn die Kantische Apriorizitätskonstruktion der Vorrangigkeit sämtlicher Verstandeskategorien zugrunde gelegt wird. Die englische Empirieposition führt zu lediglich empirischen Konsequenzurteilen, keinen eigentlichen Kausalurteilen (Beispiel von D. Hume: Wenn einhundertmal die Spaltung eines Balkens die Folge eines Axthiebes war, so wird dies das hunderterstemal auch so sein, es muss aber nicht so sein). 24 Dieser Ausdruck taucht häufiger auf als derjenige der menschlichen „Erfahrung“ oder derjenige der „empirischen Welt“, vgl. Kritik der reinen Vernunft, a.a.O., S. 297.

c) Immanuel Kant

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standesarbeit zuzüglich der Anschauung und Empfindungen kommt also überhaupt erst eine „Vorstellung“ (Empirische Welt) zustande. Eine „Welt an sich“ bzw. ein „Ding an sich“, welches nicht lediglich für den menschlichen Verstand nach dessen kategorialer Maßgabe existiert und welches nicht bloß empirischen, sondern vielmehr an sich existierenden, absoluten Charakter hat, gibt es nach Kant also. Dies wird hier auch deshalb besonders betont, weil es bei den Nachfolgern Kants, F. W. Fichte u. G. W. F. Hegel, eben nicht mehr der Fall war. Dieses Ding an sich zeigt deutlich in seinem transzendentalen25 Charakter, was sein Gegenstück, die nicht transzendentale, vorstellungsimmanente Welt (Weltbild) tatsächlich ist: nämlich eine lediglich empirische Welt für und nach kategorialer Maßgabe des menschlichen Verstandes. Dieses „Ding an sich“ ist nun zwar prinzipiell nicht erkennbar, da außerhalb der Kategorien der menschlichen Verstandeskapazität liegend, es ist aber fähig, die empirische Erkenntnis der Welt, also die Vorstellung im menschlichen Verstand, hervorzurufen; und dies auf der Grundlage der Kategorien des Verstandes, auf welche es als Empfindung / Anschauung einwirkt. Das Ding an sich ist damit kausal für das menschliche Verstandesresultat (die empirische Welt). Es wird in dem Kantischen Erkenntnissystem also ein Kausalverhältnis zwischen der „Welt an sich“ (Ding an sich) in Form der vorgegebenen Empfindungen und Anschauungen einerseits sowie dem menschlichen Verstand und seinen Kategorien andererseits angenommen. Das Ding an sich, selbst unerkennbar, ist immerhin gekennzeichnet als kausalitätsorientiert auf den menschlichen Verstand hin. Die Kausalkategorie ist aber nach Kant, wie dargelegt (oben S. 54, FN 10), eine bloße bewusstseinsbezogene Verstandeskategorie. Sie kann nicht für das „Ding an sich“ in irgendeiner Weise strukturbestimmend oder konstituierend gelten. Sie kann damit in keiner Weise dem „Ding an sich“ kausalorientierte Qualitäten vindizieren. Es ist dies eine Inkonsequenz Kants, welche bereits früh erkannt wurde26. 25 Jegliche Vorstellungkraft und Vorstellungsmöglichkeit (Kategorien) überschreitend. 26 Z. B. von Friedrich Heinrich Jacobi in seinem Werk: „David Hume: Über den Glauben oder Idealismus und Realismus“, in: Jacobis sämtliche

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Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass Kant niemals direkt das Verhältnis von „Ding an sich“ zu „menschlichem Bewusstsein“ als Kausalverhältnis bezeichnet hat. Es werden Ausdrücke verwendet wie „Aufeinanderangewiesenheit“27 von menschlichen Vorstellungskategorien auf die Empfindungen und Anschauungen aus der „Welt an sich“, wodurch überhaupt erst die empirische Welt (Vorstellung) sodann zustande kommt. Oder es wird der Terminus gebraucht: „Vorgegebenheit“ der Empfindungen und Anschauungen im menschlichen Bewusstsein sowie auch „Erzeugung des Weltbildes“ (Vorstellung) aus den Empfindungen und Anschauungen heraus mittels der kategorialen Bewusstseinstätigkeit. Diese Termini tendieren ersichtlich mehr zur Postulierung eines strukturellen Korrespondenzverhältnisses zwischen „Ding an sich“ und menschlichem Bewusstsein, als zu einem Kausalverhältnis zwischen beidem. Jedenfalls ist aber, ob man nun terminologisch von einem Kausalverhältnis zwischen „Ding an sich“ und menschlichem Bewusstsein ausgeht oder aber von einem Korrespondenzverhältnis zwischen beidem, eine prägende Qualität des „Dings an sich“ auf das menschliche Bewusstsein und seine kategoriale Arbeit postuliert. Insofern ist Kant eben durchaus Realist28. Diese Verhältnischarakterisierung ist seinem Kern nach als Kausalverhältnis zwischen Ding (Welt) an sich und menschlichem Bewusstsein (Verstand) zu werten, und wird ganz allgemein so gewertet. Damit ist ein hoher Grad an Ungeschlossenheit des kritisch-transzendentalen Erkenntnissystems Kants sichtbar, und zwar gerade in Bezug auf eine objektiv vernünftige, das heißt widerspruchsfreie und geschlossene Erkenntnis der Welt. Es kann unter solchen Umständen offensichtlich nicht mehr gesagt werden, wie das Kant zur Stützung der regulativen Prinzipien aber getan hatte, dass als zu extrapolierender Schlussstein eines an sich bereits geschlossenen Erkenntnissystems die regulativen Prinzipien als Faktizitäten betrachtet werden müssen und also das Problem der Antinomie lösen. Werke, herausgegeben von F. Roth, F. R. Köppe, Darmstadt 1968, Bd. 2 II S. 302 f. 27 Vgl. Einzelheiten bei W. Windelband, Lehrbuch der Philosophie, Mohr u. Siebeck Verlag, 1957, S. 497. 28 Vgl. diese Bezeichnung bei F. H. Jacobi, (Anm. 26), S. 310 f.

d) Johann Gottlieb Fichte

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Das Problem der Antinomien und damit das der regulativen Prinzipien bricht dann aber wieder voll auf. Damit ist von einem noch höheren Grad an Ungeschlossenheit des kritisch-transzendentalen Erkenntnissystems auszugehen. Die erkenntnistheoretische Deduktion des menschlichen Verstandes als objektiv vernünftig ist nicht ohne weiteres möglich: diese war nun aber vorgreiflich für den Nachweis einer objektiven Vernünftigkeit des Menschen und damit für den Nachweis der Tragfähigkeit des Kerns des Begriffs der „Menschenwürde“, der menschlichen Vernunft. Mit dieser Feststellung hat sich nun allerdings die vorliegende Fragestellung nicht erledigt. Die vorliegende Untersuchung über den philosophischen staatsrechtlichen Begriff der „Menschenwürde“ und dessen Tragfähigkeit muss deshalb fortgesetzt werden, weil das Grundgesetz dieses Prinzips zwar im kantischen Sinne auffasst, dies aber ersichtlich im Kontext der kritisch-transzendentalen Philosophie (deutscher Idealismus) tut. Mehrere Autoren des deutschen Idealismus haben die zu vermissende Geschlossenheit des Kantischen Systems gesehen. Sie haben in Anknüpfung an Kants Theorien einen höheren Grad an Geschlossenheit angestrebt und auch erreicht.

d) Johann Gottlieb Fichte Derjenige, der als erster und wohl auch am deutlichsten die Mängel des Kantischen Systems sah, war Johann Gottlieb Fichte29. Er knüpfte an die dargelegte Inkonsequenz Kants in Bezug auf das Kausalverhältnis vom „Ding an sich“ zu menschlichem Verstand an; er kritisierte, dass dasjenige, was aus der menschlichen Verstandeskapazität und Erkenntnisfähigkeit von vorneherein herausfiel, nämlich die „Welt an sich“ (Ding an sich), tatsächlich dann aber die eigentliche, absolute, nicht mehr nur auf den Menschen bezogene Welt sein sollte. Ferner stellte Fichte klar, dass vermöge der spezifisch kantischen Auffassung aller Kausalverhältnisse als lediglich menschlicher Verstandeskategorien dieser Kausalmaßstab an das „Ding an sich“ nicht angelegt 29 Joh. Gottlieb Fichte, Gesammelte Werke, hrsg. von Imman. Fichte, Berlin 1971, insbes. Bd. I.

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werden konnte, ohne dass man dabei in einen Systemwiderspruch geriet und ferner, dass auf diese Weise der zusätzlichen Postulierung eines Dings an sich als kausale Grundlage aller Verstandestätigkeit eine weitere unerwünschte Folge herbeigeführt wurde, nämlich eine Nichtherstellbarkeit einer wissenschaftlich fassbaren Beziehung der zu erkennenden Welt zur menschlichen Erkenntniskapazität selbst. – Ein Erkenntnissystem in Bezug auf die eigentlichen Dinge, die eigentliche Welt („Ding an sich“), war das nach Fichte überhaupt nicht. Es war lediglich die Explizierung der längst bekannten Tatsache, dass der Mensch nichts erkennen könne, also nichts über die eigentliche Welt (Ding an sich). Fichte wählte in dieser Schwierigkeit folgenden Ausweg: Er leugnete schlicht die Gegebenheit des Kantischen „Dinges an sich“, also von irgendetwas außerhalb der menschlichen Vorstellung. Die Folge war die, dass er alles, was menschliche Erkenntnis war und überhaupt sein konnte (Welt), als kategoriale Vorstellung (uneingeschränkter Idealismus) ansah. Dies bedeutete mit den Worten Fichtes30: „Alles, was die Welt ausmacht, ist Erzeugnis des menschlichen Bewußtseins. Etwas, was jeglicher kategorialen Tätigkeit des menschlichen Verstandes und dessen Ergebnissen voraus liegt, ist nicht nur nicht erkennbar, sondern überhaupt nicht existent“. Der entscheidende Gewinn dieser Konstruktion war der, dass – zunächst betrachtet – ein geschlossenes Erkenntnissystem erreicht wurde. Es bestand aus – einer wissenschaftlich fassbaren kategorialen Tätigkeit des menschlichen Verstandes auf der Grundlage der von Kant entworfenen Kategorientabelle; – aus der Tatsache, dass dieses Ergebnis nicht gestört wurde und in seiner Relevanz in Frage gestellt wurde durch ein jenseits dieser kategorialen Tätigkeit liegendes „Ding an sich“, welches dann auch noch den eigentlichen und absoluten Teil der Welt darstellen sollte. – Damit war es als Folge dieser Geschlossenheit dann statthaft, die regulativen Prinzipien als Faktizitäten anzusehen31. Das Problem der Antinomien war auf diese Weise dann gelöst. Das Fichtesche 30 31

J. G. Fichte, Gesammelte Werke, Bd. I, S. 283 f. Vgl. Kant, oben c).

d) Johann Gottlieb Fichte

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Erkenntnissystem konnte damit als vollends geschlossen bezeichnet werden, zumal auch das Kausalschwierigkeitsproblem: Ding an sich zu menschlichem Verstand nicht mehr bestand (Ding an sich weggefallen). Es wurde denn auch von Fichte selbst wie von seinen Nachfolgern dieses System als objektives geschlossenes Vernunftsystem bezeichnet. Mit dieser erkenntnistheoretischen Vorgehensweise Fichtes ist allerdings folgende Schwierigkeit verbunden. Wenn die Welt allein Vorstellung des Bewusstseins und seiner Kategorien ist, also allein als Erzeugnis des Bewusstseins anzusehen ist, dann ist völlig unklar, wo der eigentliche bewusstseinsexterne Inhalt, also die eigentliche Substanzialität in Form von Empfindungen und Anschauungen in der Kantischen Terminologie32, herkommen sollen. Eine solche externe Substanzialität im genannten Sinne braucht das Bewusstsein aber auch nach Fichte: jedes Bewusstsein, das Erkenntnis der Welt liefern soll, ist nur die Fähigkeit einer kategorialen Strukturierung von externen objektiven Gegebenheit, eben die Fähigkeit, den bewusstseinsexternen Gegebenheiten die subjektive Strukturierung der Vorstellungskategorien anzulegen: Ein Bewusstsein ohne eine solche externe Gegebenheit, also ohne Bezug auf die Objektivität (Welt) ist ein bloß subjektiver Selbstreflexionsprozess. Er ist bloße kategoriale Form ohne objektiven Bezug und Inhalt und an sich erkenntnistheoretisch ohne Interesse.

(1) Der Ausweg Fichtes Fichte half sich in dieser Schwierigkeit folgendermaßen. Das menschliche Bewusstsein ist nach Fichte stets Selbstbewusstsein, von Fichte auch „Ich“ genannt. Es wird – zunächst verstanden als eine stufenweise Reflexion des Bewusstseins auf sich selbst bezogen, also im Sinne einer ständigen Reflexion des Ich zur Erzeugung einer Bewusstheit seiner selbst, – sodann aber im Sinne einer eigentlich substanzialitätsbezogenen, das heißt objektiv, extern, gegebenheitsbezogenen Reflexion. Denn innerhalb des genannten steten Stufenwechsels (Reflexion) „weisen“ 32

Kant, oben c), S. 64, 65.

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sich nach Fichte diejenigen objektiv bewusstseinsexternen Funktionen des Selbstbewusstseins auf33, welche seinerzeit von Kant von seinem Ansatzpunkt her als Empfindungen und Anschauungen bezeichnet worden waren. Sie führen nach Fichte auf der Basis der kategorialen Tätigkeiten (oben S. 54) dann zur Vorstellung der empirischen Welt. Wenn auch die dargelegte Reflexionsfigur Fichtes einleuchtet und man sagen muss, dass jedes entwickelte Bewusstsein stets auch „Selbstbewusstsein“ ist und dass die eigene Subjektivität immer und in jeder Reflexion, auch in solcher externen Charakters, in irgendeiner Form mitschwingt, so bleibt doch unklar, wie sich in dieser Reflexionsfigur gerade die genannten bewusstseinsexternen objektiven Funktionen der Intelligenz aufweisen sollen, welche an die Stelle der Kantischen Empfindungen und Anschauungen aber treten müssen. Es bleibt in diesem Punkt der Fichteschen Argumentation offen, wie die bewusstseinsexternen, objektiven Gegebenheiten nur der Tätigkeit der Bewusstseinsreflexion zu verdanken sein sollen. Fichte verwendete in dieser Schwierigkeit einen philosophischen Kunstgriff. Er nahm an, dass zwar in der dargelegten Reflexionsfigur die objektiven, bewusstseinsexternen oder substanzialitätsbezogenen Gegebenheiten keineswegs vorhanden sein müssen, dass sie aber vorhanden sein können. Und zwar dies dann, wenn es irgendeine feststellbare Faktizität will, dass in der vielfältigen Bewusstseinsreflexion des Selbstbewusstseins bzw. des Ich solche Bewusstseinsstrukturen auftauchen, welche als objektiv und bewusstseinsextern qualifiziert werden können. Da wir nun die empirische Welt vor uns haben einschließlich ihrer notwendigen bewusstseinsexternen Objektivität, muss von dieser Faktizität tatsächlich ausgegangen werden. Bei diesem Gedanken bleibt wiederum unklar, wie diese objektiven Faktizitäten und ihr Verhältnis zum subjektiven menschlichen Bewusstsein (Vorstellung) zu qualifizieren sind. Es bleibt offen, wie eine tatsächliche Existenz bewusstseinsexterner Faktizitäten sowie ihre Wirkung auf das menschliche Bewusstsein bewiesen werden soll. Damit bleibt nach wie vor die Herkunft der bewusstseinsexternen Objektivitäten bzw. Faktizitäten im Fichteschen System des Selbstbewusstseins unklar. 33

Fichte, Werke (Fn. 29) Bd. 3 III, S. 233.

e) Georg Wilhelm Friedrich Hegel

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Die Fichtesche Erklärung der kategorialen Vorstellung lediglich als Variante des menschlichen Selbstbewusstseins (des menschlichen Ich’s) hat sich denn auch nicht durchgesetzt. Es bleibt damit beim Stand der Kantischen Erkenntnistheorie. Es lässt sich nach wie vor nicht beweisen, dass die Tätigkeit des menschlichen Verstandes zu einer objektiven Vernünftigkeit (oben S. 67, vorher schon S. 55 und 52, FN 7) führen kann. e) Georg Wilhelm Friedrich Hegel Das Fichtesche Erkenntnissystem eines uneingeschränkten Idealismus auf der Basis eines menschlichen Selbstbewusstseins (Ich) sowie dann der Postulierung von bewusstseinsexternen Gegebenheiten, welche jedoch nur aus diesem subjektiven, menschlichen Bewusstsein selbst resultieren und nicht vom Ding an sich herstammen sollen, ist nun keineswegs das letzte Wort des deutschen Idealismus. Das System Fichtes wurde aufgegriffen und nach allgemeiner Auffassung in eine nunmehr geschlossene Form gebracht von Georg Wilhelm Friedrich Hegel34. (1) Hegels Ausgangspunkt Hegel sah deutlich die Fichtesche Schwierigkeit, in die Reflexionsfigur des subjektiven menschlichen Selbstbewusstseins die für eine „Vorstellung“ der Welt nun einmal notwendigen, objektiv-orientierten Empfindungen und Anschauungen (Kant) bzw. bewusstseinsexternen Gegebenheiten (Fichte) zu integrieren. Hegel war beeindruckt von dem philosophisch kühnen Akt einer ersatzlosen Streichung des „Dinges an sich“ in dem gesamten Erkenntnissystem. Insbesondere erstaunte ihn das Ergebnis der Auffassung der gesamten Welt als ausschließlich bewusstseinsresultierender Vorstellung. Die Folge eines völlig geschlossen auftretenden Erkenntnissystems ergänzte diesen Eindruck. 34 G. W. F. Hegel, Phänomonologie des Gesetzes; Berlin 1831, in: Gesammelte Werke, hrsg. von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Düsseldorf, Bd. 25.

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Hegel übernahm denn auch von Fichte die beschriebene Reflexionsfigur (Selbstbewusstsein), welche die Streichung des „Dinges an sich“ und damit der Empfindungen bzw. Anschauungen (Kant) überhaupt erst ermöglichte. Hegel nannte diese Reflexionsfigur allerdings anders als Fichte. Er bezeichnete sie als Dialektik bzw. dialektisches Prinzip.

(2) Hegels Vorgehensweise Die eigentliche Schwierigkeit Fichtes, in dieser Reflexionsfigur die für jede echte Vorstellung, jedenfalls im Kantischen Sinne, nun einmal notwendigen objektiven, bewusstseinsexternen Gegebenheiten (Empfindungen, Anschauungen) aufzuweisen, versuchte Hegel folgendermaßen zu beheben: Er ging davon aus, dass nicht – wie bei Kant und Fichte – eine subjektiv – bewusstseinsmäßige, kategoriale Vorstellung mit notwendigerweise hiermit verbundenen bzw. zugrundeliegenden externen Gegebenheiten verantwortlich sei für alles das, was wir „Welt“ nennen. Er postulierte vielmehr, dass dies ein vom menschlichen Subjekt verschiedener und selbständiger Weltgeist sei. Dieser Weltgeist ist sowohl der eigentliche objektive Grund als auch die subjektive Erscheinungsform aller Dinge. In menschlichen Subjektskategorien ist er in der ursprünglichen Hegelschen Fassung nichts anderes, als die in dem Fichteschen (1) Selbstbewußtseinsprozess (Ich, Reflexionsprozess) aufgewiesenen, (2) objektiven und bewußtseinsexternen Gegebenenheiten, und zwar dies mit ambivalenter Charakterisierung – einmal – als objektiv bestehend („objektiver Geist“) – aber andererseits im Medium des subjektiven Bewußtseins angesiedelt. Diese Objektivität im Medium des genannten subjektiven Bewusstseinsprozesses ist, und hier sieht man die weiteren Folgen des Fichteschen Gedankens, dasjenige, was sich in Form eines sogenannten Reflexionsprozesses (eines dialektischen Prozesses) zur Erscheinung bringt und also die Welt darstellt. Diese dialektische Charakterisierung von allem, was philosophisch gesehen Erkenntnis ausmacht, hat Hegel berühmt gemacht.

e) Georg Wilhelm Friedrich Hegel

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Um diese Dialektik inhaltlich zu konkretisieren, ist davon auszugehen, dass Hegel, wie alle Idealisten, Peripatetiker war und die gesamte Vorstellung, das heißt nach ihm alles Sein, als Bewegung auffasste. Da eine Bewegung als solche nie im begrifflich rein statischen menschlichen Bewusstsein isomorph darstellbar ist, kam Hegel auf folgenden Gedanken: Der begrifflich statische, aber dialektische Prozess35 ist die für das statische Bewusstsein zugeschneiderte Adäquanzform36 des realen stets fließenden und an sich fließend darzustellenden Bewegungsprozesses; es ist die Stufenleiter von These zu Antithese bis zu Synthese. Dies ist die dialektische Methode, die in der Folgezeit bekannt wurde als Hegelsche Dialektik. Diese Dialektik, d. h. diese dialektische Methode, wurde sodann von Hegel bezeichnet als Begegnung des Geistes mit sich selbst. Diese Bezeichnung ist oft als begrifflich unscharf charakterisiert worden. Sie bedeutet zunächst: – die Begegnung des Geistes mit sich selbst im Begriff (Wissenschaft), ihr Bezugspunkt ist die empirische Welt; – sodann die Begegnung des Geistes mit sich selbst in der Anschauung (Kunst); – und schließlich die Begegnung des Geistes mit sich selbst in der Vorstellung (Religion).

Damit ist alles abgedeckt, was überhaupt als Welt bezeichnet werden kann. Wenn man sich nun diese „Begegnung des Geistes mit sich selbst“ näher ansieht, so ist diese eher als metaphorisch zu bezeichnende Formulierung Hegels nur zu verstehen auf folgendem Hintergrund37. Hegel zielt auf eine bekannte Äußerung Goethes aus gleicher historischer Zeit, nämlich auf das Bild einer Deutung des Wesens aller Dinge 35 These – Antithese – Synthese: ist begrifflich statisch, stellt aber einen fließenden Entwicklungsprozess dar. 36 Getreu dem peripatetischen Grundsatz: veritas est adäquaio rei et intellectus (Aristoteles). 37 Dargelegt in: Hegels Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes; Nachschriften zu den Kollegien der Jahre 1822 u. 1825; hrsg. v. Christoph Johannes Bauer, Hamburg, Meiner-Verlag, 2008.

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als einer „ewigen Harmonie, welche sich mit sich selbst unterhält“; so am 1. Januar 1810 formuliert bei einer Aufführung des „Wohltemperierten Klaviers“ von J.S. Bach im Leipziger Gewandthaus. Wenn man dieses Werk, insbesondere dessen C-Dur Präludium Nr. 1 hört, auf das sich die Äußerung Goethes bezieht, so hat man eine ahnungsweise Erfassung dessen vor sich, was begrifflich im Begegnungsverhältnis von objektivem Geist zu subjektivem Geist (Bewusstsein) nicht voll fassbar ist. Es ist allenfalls zu kennzeichnen als Ambivalenz von – Bewusstsein im subjektiven Sinn (Traum, Vorstellung) sowie – Bewusstsein im objektiven Sinn als bewusstseinsobjektive externe Gegebenheiten mit objektivem Charakter (objektive Realität im Bewusstsein).

Mit dieser Ambivalenz zielt Hegel nun auf eine weitere bekannte Metapher Goethes, und zwar auf dessen Ballade „Der Erlkönig“. Es ist dies die dichterische Fassung einer Ambivalenz von: – einer Qualifizierung der Macht und Person des Erlkönigs als objektive Realität (im Sinn der Auffassung des Sohnes) – sowie andererseits der Qualifizierung dieser Macht und Person lediglich als subjektives Produkt der Phantasie des Sohnes (im Sinn des Vaters).

Bis zum Schluss des Werkes ist diese Ambivalenz offengehalten. Diese Hegelsche Qualifizierung der Begegnung des objektiven Geistes mit sich selbst als Ambivalenz von sowohl subjektivem Bewusstsein als auch objektiver Gegebenheit ist, dies bleibt festzuhalten, begrifflich nicht voll geschlossen. Es bleibt letzten Endes immer unklar, was eigentlich im Verhältnis objektiver Geist / subjektiver Geist gemeint ist, was noch subjektiv ist (Vorstellung Traum), und was schon objektive Gegebenheit und Realität ist. Es ist eben eine lediglich ahnungsweise Erfassung des genannten Verhältnisses.

f) Die philosophische Entwicklung des 19. Jahrhunderts

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f) Die weitere philosophische Entwicklung des 19. Jahrhunderts Wenn man also davon ausgehen muss, dass dem menschlichen Verstand eine begrifflich klare Erkenntnis auf der Grundlage einer klaren Trennung von subjektivem Bewusstsein und objektiver Realität (also eine objektiv vernünftige, begrifflich geschlossene Bewusstseinserkenntnis) nicht möglich ist, und infolgedessen also davon, dass er ein objektiv vernünftiges Handeln im obigen Sinne zu steuern nicht in der Lage ist, so gibt es zwei Möglichkeiten, sich zu verhalten: Es kann die Selbstverwirklichung der menschlichen Person in ihrem Kern lediglich auf die Erlangung äußeren Genusses sowie die Realisierung und Durchsetzung des eigenen Willens bezogen werden. Dies schließt die Ignorierung von Aspekten der objektiven Vernunft ein; es impliziert sogar in einer intensiveren Stufe eine absichtliche Frontstellung gegen jegliche Vernünftigkeit, um auf diese Weise die Ausschließlichkeit der personalen Realisierung lediglich im „Willen“ und nicht in der Vernunft zu betonen. Dies bedeutet eine Selbstverwirklichung der Person nicht mehr in den motivatorischen Kategorien: richtig – falsch; wahr – unwahr; gut – böse, sondern in den sog. bacchantischen Kategorien38 von schwach – stark (Grad der Intensitäten), gesteigert zu rauschhafter Intensität, Ekstase, sowie schließlich Superponierung des eigenen Willens über den der anderen. Wie oben erwähnt, ist dies die psychologisch unmittelbarere, stets auch dem appollinischen Bereich zugrundeliegende Kategorienkette. Wenn nicht als erster, so doch am deutlichsten begründet, hat diese Möglichkeit F. Nietzsche formuliert39. Er tat dies im Sinne der CharakVgl. Einzelheiten oben 4. (Faschismus) S. 35 f. Ausgeführt in „Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral“ v. F. Nietzsche, München, Dt. Taschenbuch-Verl. 2009. S. 424. Ferner ist dieser Gedanke ausgeführt in der Schrift Ecce Homo (S. 1063 a.a.O.). Noch ausführlicher ist er dargelegt in den Konvoluten „Aus dem Nachlaß der 80er Jahre“ (Schlechta-Ausgabe Band III, S. 415 ff.), und zwar insofern von besonderem Interesse, als hier die Konsequenz einer Obsolenz des Verstandes mangels Vernunftrealisierungsmöglichkeit im Mittelpunkt steht (s. S. 433, 437 a.a.O.). 38 39

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6. Das Prinzip der Menschenwürde

terisierung der hier in Rede stehenden Selbstverwirklichung als die eine Verwirklichung im „Willen zur Macht“. Er verstand dies als stärkste Realisierung des Willens, und zwar im Sinne einer Superponierung des eigenen Willens über den der anderen als stärkste Motivationsquelle des Individuums. Es liegt auf der Hand, dass diese Art der Persönlichkeitsrealisierung auf Dauer gesehen nicht befriedigen kann. Es gibt dann noch folgende Möglichkeit, sich zu verhalten. Auch diese hat Nietzsche als erster formuliert40. Wenn für den menschlichen Verstand die Erreichung objektiver Vernünftigkeit nicht möglich ist, so führt dies noch nicht zwingend zu der Feststellung, dass es hierbei für immer sein Bewenden hat. Es ist denkbar und muss als realisierbar angesehen werden, dass ein Mensch und ein menschlicher Verstand gebildet werden kann, welcher über den derzeit bestehenden Menschen und dessen Verstand hinausgehend die erkenntnistheoretische sowie die handlungsdimensionale Kohärenz der objektiven Vernünftigkeit tatsächlich erreichen kann. Es ist dies die bekannte Nietzsche’sche Begriffsprägung des Übermenschen. Wenn Nietzsche auch vielfach beide Alternativen in nicht streng wissenschaftlicher Weise vermischt hat, so ist doch festzustellen, dass er, wenigstens in seinen späteren Äußerungen41, zur zweitgenannten Alternative neigte. Er griff den alten Entwicklungsgedanken der peripatetischen Tradition auf mit einem allerdings bislang nie dagewesenen Ziel: er war der Meinung, den peripatetischen Entwicklungsgedanken als einen bewusst von Menschenhand gesteuerten Prozess der Züchtung eines Übermenschen darstellen zu können42.

40 In dem Konvolut aus dem Jahre 1888: „Der Wille zur Macht; Versuch einer Umwertung aller Werte“, von F. Nietzsche unter Mitw. v. Elisabeth Foerster-Nietzsche. 41 Insbes. im Konvolut „Aus dem Nachlaß der 80er Jahre“ (a.a.O. FN 39), S. 13 ff. 42 Zu diesem Gedanken der „Züchtung“ eines Übermenschen, vgl. Einzelheiten in dem Werk „Der Antichrist“, Schlechta-Ausgabe, Bd. II, S. 1163, ferner findet sich dieser Gedanke in den Äußerungen in dem Konvolut „Aus dem Nachlaß der 80er Jahre“, Bd. III, (Schlechta-Ausgabe), S. 417 f.

g) Übergang zum Ausgangsbegriff

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Nietzsche hat diesem Gedankengang folgende konkrete Ansätze gebracht: – Grundlage und Ausgangspunkt einer Entwicklung im genannten Sinne ist eine „absolute“ Freiheit des zu entwickelnden Menschen. Diese wird verstanden als eine Freiheit, welche eine Unabhängigkeit von allen Traditionen erkenntnistheoretischen oder moralphilosophischen Charakters verschafft. – Diese absolute Freiheit wird postuliert als eine „große Individualität“, welche alle „Energie des Lebens“ in sich vereinigt. Für sie ist auf der Grundlage der absoluten Freiheit eine „freie“ im Sinne von „ursachloser“ Entwicklung auslösbar, welche das gewünschte Ergebnis dann herbeiführen kann. – Damit ist nach Nietzsche die Welt als potentiell vernünftig zu bewerten oder wenigstens ein Beginn der Entwicklung in diese Richtung erkennbar43.

g) Übergang zum Ausgangsbegriff des staatsrechtlichen Prinzips der Menschenwürde Nunmehr ist auf die (oben 1., 2.) festgestellte, eingeschränkte Bedeutung des Begriffs der Menschenwürde hinzuweisen. Der in seiner indikativen Form nicht immer leicht verständliche Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ ist nur sinnvoll unter folgender Einschränkung: (1) Die Aussage, dass die Würde des Menschen nicht antastbar ist, zielt zum einen nur auf das Aussageobjekt des Menschen schlechthin. Sie betrifft seine Eigenschaft als Mitglied der Menschengattung. Dies bedeutet, dass auf Dauer und in die geschichtliche Entwicklung projiziert kein Staat die „Würde des Menschen“ im Sinne der Achtung des Wertes des moralisch gebundenen Individuums ignorieren kann. Dies 43 In diesem Zusammenhang sind als bekannteste Äußerungen anzusehen diejenigen aus: Also sprach Zarathustra, III. Teil, 2. Kap., „Vor Sonnenaufgang“ (Schlechta-Ausg. Band II, S. 416): „Ein wenig Vernunft zwar, ein Same der Weisheit, zerstreut von Stern zu Stern, dieser Sauerteig der Vernunft ist allen Dingen eingemischt …“.

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heißt dann aber, dass sich im Laufe der geschichtlichen Entwicklung auf Dauer die „Menschenwürde“ im Sinne des moralisch gebundenen Individualismus als unverzichtbare Moralanforderung für jedes staatliche Handeln erweisen wird und damit prinzipiell unantastbar ist. (2) Zum anderen zielt die Aussage „die Würde des Menschen ist unantastbar“ auf die Qualifizierung der menschlichen Individualität. Die genannte Aussage bedeutet dann, dass jeder Mensch, mag er noch so geringe Entwicklungsstufen der Vernunft und Würde besitzen, kraft seiner Eigenschaft als Mensch zumindest eine Affinität zu seinem eigentlichen Wesen der Vernünftigkeit aufweist und insofern auch durch einen vernünftigen Charakter seiner Individualität gekennzeichnet ist. Das Postulat: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ heißt dann in Fortsetzung dieses Gedankens, dass der eigentliche Kern des Menschen als einer „Vernünftigkeit in nuce“ stets zu achten ist. Es ist erkennbar, dass man mit diesen Feststellungen in unmittelbarer Nachbarschaft Nietzsches in Bezug auf die geschilderte Erreichbarkeit einer objektiven Vernünftigkeit ist. Die abschließende Folgerung ist die, dass der Gedanke der „Würde des Menschen“, so wie er heute pragmatischerweise aufgefasst wird, den philosophischen Gedankengängen der Kulmination des deutschen Idealismus bei Nietzsche entspricht; er ist also im vorliegenden Zusammenhang als brauchbar zu bezeichnen. Er ist begrifflich aber nicht voll geschlossen (vgl. oben Hegel, 6. e), insbesondere S. 74).

7. Gleichheit und Gerechtigkeit – Der Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 GG) Wenn also das Prinzip der Menschenwürde und d. h. des Individualismus auf philosophischer Tradition beruht und philosophisch begründbar ist, so zeigt sich eben doch, dass dieses Prinzip bis zu begrifflicher Perfektion nicht gelangt ist. – Die Menschenwürde ist bei einer Gesamtbetrachtung nur „in nuce“ vorhanden. – Die „Menschenwürde“ wird nur auf Dauer gesehen als ein unabdingbares Handlungspostulat für jede staatliche Gewalt bezeichnet werden können. – Es muss also vorsichtshalber eine praktische Prüfung dahingehend angestellt werden, ob das Prinzip der Menschenwürde nun rein praktisch gesehen Grundlage des heute in Deutschland gelebten Individualismus ist, das heißt, ob es wirklich tragfähig und brauchbar im Sinne einer prägnanten Identitätsanalyse ist1.

Es bietet sich eine Prüfung an unter einem der wichtigsten rechtsstaatlichen Gesichtspunkt, nämlich dem der Gleichheitsmaxime (Art. 3 GG). Die Art und Weise der Handhabung und Durchführung des Gleichheitsgrundsatzes in der Gesellschaft ist maßgeblich für die Auffassung des Gerechtigkeitsprinzips im Staat überhaupt. (1) In der Weimarer Republik wurde der Gleichheitsgrundsatz folgendermaßen aufgefaßt: Der Satz galt grundsätzlich nur für den Bereich von Gesetzesanwendungen. Die allgemeinen Gesetze galten für und wurden angewendet auf jeden in gleicher Weise. Ausdifferenzierungen bei der Anwendung von Gesetzen (Erlass von VA auf ihrer Grundlage) durften nicht nach Gesellschaftsklassen, nach Glaube, 1 Also eine griffige Identität des Staatswesens auf der Grundlage des individuellen Prinzips der Menschenwürde (vgl. im Folgenden) darstellt.

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Religion oder rassischer Zugehörigkeit erfolgen, sondern lediglich nach rationalen Gesichtspunkten der richtigen2 Gesetzesanwendung. (2) In der Bundesrepublik Deutschland dagegen wird die Gleichheitsmaxime wesentlich weiter aufgefasst: Vor der Verfassung muss jeder staatliche Akt, also auch jedes Gesetz (oder ein auf ihm beruhender Verwaltungsakt) unter dem Gesichtspunkt der Gleichheitsmaxime Bestand haben können: Es darf also nicht ausdifferenziert werden nach dem Gesichtspunkt von Gesellschaftsklasse, Religion, Glaube etc., sondern es darf lediglich nach rationalen Gesichtspunkten der richtigen Gesetzesanwendung ausdifferenziert werden und muss auch so differenziert werden. Das bedeutet, dass der Prüfungsmaßstab der Rationalität der modernen Gesellschaft an jedes Gesetz angelegt werden kann und angelegt werden muss im Falle einer Verfassungsklage, und zwar dann von Seiten des hierfür zuständigen Gerichts (Bundesverfassungsgericht). Art. 3 GG als Gleichheitsmaxime bindet also nicht nur die Gesetzesanwendung des Staates im Sinne der Handhabung eines modernen Rationalismus (Willkürausschluss). Auch die Gesetzgebung ist gebunden in der Weise, dass Gesetze durchweg Bestand haben müssen und also überprüft werden können unter dem Gesichtspunkt einer allgemeinen Rationalität dieser Gesetzgebung. (3) Diese weite Auffassung der Handhabung des Gleichheitsprinzips wurde bereits in der ersten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts festgelegt3. Dies geschah ohne nähere Begründung, insbesondere ohne eine Begründung für den Wechsel der Auffassungen im Vergleich zur Weimarer Republik. Das Gericht führte lediglich aus: „Der Gleichheitssatz ist verletzt, wenn sich ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Ausdifferenzierung oder gesetzliche Gleichbehandlung nicht finden lässt, kurzum, wenn die Bestimmung als willkürlich bezeichnet werden muss. Dies gilt unabhängig davon, ob es sich um ein Gesetz oder einen Verwaltungsakt handelt“. Dies ist die Postulierung eines allgemeinen Prüfungsmaßstabes der Rationalität, der an jedes Gesetz angelegt werden muss, und zwar ge2 3

Vgl. BVerfGE 1, S. 52 (53). BVerfGE 1, S. 52 ff.

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gebenenfalls von Seiten eines Gerichts (Bundesverfassungsgericht). Das hatte es vorher nicht gegeben. (4) Es ist nunmehr klarzustellen, wie sich im Einzelnen die Auffassung der Handhabung des Gleichheitsgrundsatzes (Art. 3 GG) in der Bundesrepublik (1) sowie andererseits in der Weimarer Republik (2) unterscheiden. (a) In der Weimarer Republik war folgende justizrelevante Auffassung des Gleichheitsgrundsatzes herrschende Meinung: Gerichtlich überprüft werden konnte lediglich, ob ein Verwaltungsakt ordnungsgemäß, d. h. dem Gleichheitsgrundsatz entsprechend, aus dem Gesetz, das für den Verwaltungsakt maßgebend war, abgeleitet worden war. Diese gerichtliche Überprüfung hatte folgende Grundlagen: Zunächst wurde nach Maßgabe von Gesetzesziele und ggf. weiterer Detaillierungen der Gesetzesziele im Gesetz die Gesetzesanwendung auf die Erlassung des Verwaltungsakts hin überprüft und zwar unter dem Gesichtspunkt, ob die Gesetzesziele rational maßgebend gewesen waren für die Entscheidung (VA-Ableitung). Hinzu kam die weitere Überprüfungsgrundlage unter dem Gesichtspunkt von Präjudizien der Oberverwaltungsgerichte, welche die Gesetzesüberprüfung unter dem Gleichheitsgesichtspunkt weitgehend konkretisiert haben. Diese Überprüfung war demnach ein jurisdiktionelles Verfahren in einem kontradiktorischen Urteil, das hergestellt wurde durch logische Subsumtionen von Gesetzesobersatz zum Einzelfallanwendungssatz (Verwaltungsakt). Dies ist eine logische Prozedur, welche durch die juristische Ausbildung der Richter („Rechtsgelahrtheit“) vorgeformt und nachvollziehbar gestaltet wurde. Es handelt sich also um ein logisch nachvollziehbares und festgelegtes Verfahren, welches als rechtsstaatlich bestimmt bezeichnet wird. (b) Anders ist die Rechtssituation in der Bundesrepublik Deutschland. Es geht hier meist, und in den juristisch interessanten Fällen immer, um die Beurteilung eines Gesetzes vor der Verfassung nach den rationalen Prüfungskriterien der richtigen Gesetzesanwendung in einer modernen Gesellschaft (und nicht also nur: Ausschluss von Gesichtspunkten der Klassen, Religion, Glaube, rassischer Zugehörigkeit).

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Die Einhaltung dieser rationalen Kriterien bei Erlass bzw. bei der späteren Überprüfung der Gesetze ist im Sinne des Bundesverfassungsgerichts die eigentlich maßgebliche, rechtliche Gleichheit. An sich ist es nach der Verfassung nun Sache des Gesetzgebers, seine Gesetze bei Beschlussfassung und Erlass unter diesem genannten Gesichtspunkten einer rationalen modernen Gesellschaft zustande zu bringen ggf. zu überprüfen. Diese rationale Beurteilungsweise von Gesetzen auf der rationalen Grundlage der allgemeinen demokratischen Wertordnung führt aber zu inhaltlich beliebigen Argumentationsketten nach den rational festgelegten Grundregeln dieser modernen Gesellschaft; nicht mehr ist sie ein jurisdiktionelles Verfahren auf der Grundlage logischer Subsumtionen und wissenschaftlicher Gesetzeskenntnisse. Sie bedeutet, dass die Entscheidung der Überprüfung inhaltlich so oder auch anders, je nach weltanschaulichem Ausgangspunkt, ausfallen kann im Rahmen lediglich der vorgegebenen rationalen Wertordnung, und das heißt dann, dass schlicht das Ermessen der überprüfenden Instanz (Gericht) anstelle des Ermessens des seinerzeitigen Gesetzgebers (Gesetzeserlasse) gesetzt wird. Dies wird insbesondere dann deutlich, wenn man sich die logische Prozedur vergegenwärtigt, die in der Anwendung des Gleichheitssatzes stattfindet. Das Bundesverfassungsgericht ist in seiner umfangreichen Spruchpraxis über die oben wiedergegebene Formulierung der inhaltlichen Substanz des Gleichheitssatzes sowie dessen eigentlichen juristischen Gehalts nicht hinausgekommen. Dies ist keine Kritik am Bundesverfassungsgericht. Denn mehr ist in allgemeinen juristischen Formulierungen, wie sie in Urteilsgründen vorgenommen werden können, über diesen substantiellen Gehalt des Gleichheitsgrundsatzes tatsächlich nicht festzustellen; und wenn man nun diese Formulierungen daraufhin überprüft, was sie für den konkreten Fall hergeben, dann kann die Antwort nur die sein: im Ergebnis schlechterdings nichts. Denn der konkrete Fall ist der streitige Fall, nur er kommt zur gerichtlichen Entscheidung. Das heißt dann aber, dass es gerade streitig ist, ob die ratio leges – denn man muss dem Gesetzgeber wohl zugestehen, dass er seine Gründe hat – vernünftig, der Natur der Sache entsprechend oder sachlich einleuchtend ist. Diesen Streit kann das Gericht nun aber nur mit einer eigenen Wertung bzw. Ermessensaus-

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übung entscheiden, die mit Subsumtion juristischer Art nichts mehr zu tun hat und deshalb auch nicht als Anwendung einer allgemeinen juristischen Norm gelten kann. Es liegt in der Natur der Sache und ist logisch klar, dass diese Wertung und Ermessensausübung über Leerformeln nicht hinauskommen kann. Wieweit das Gericht den Rahmen seiner wertenden Ermessensentscheidungen an Stelle der des Gesetzgebers zieht, sei an einem Beispiel gezeigt. Das Wahlkostenerstattungsgesetz vom 24. Juli 1967 hatte in § 18 vorgesehen, dass an der Wahlkostenerstattung alle Parteien teilnehmen, die mindestens 2,5 % der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigt haben. Das angerufene Bundesverfassungsgericht setzte im Urteil vom 3. Dezember 19684 den Mindestprozentsatz auf 0,5% herab. Nun ist es so, dass mit keinem Mittel der juristischen Logik ein Mindestprozentsatz im Wahlrecht als der allein richtige ermittelt werden kann. Diese Festsetzung ist Sache der Erfahrung und der politischen Ermessensausübung. Deshalb ist der eine Mindestprozentsatz, wenn man so will, ebenso willkürlich oder logisch unerweislich wie der andere. Das Gericht hat nicht eine rechtlich falsche, insbesondere eine verfassungsrechtlich falsche gesetzliche Regelung durch eine verfassungsgemäße Regelung abgelöst – die Entscheidung hat normative Wirkung, vgl. § 35 Bundesverfassungsgerichtsgesetz –, sondern es hat sich schlicht an die Stelle des Gesetzgebers gesetzt, indem es die Gesetzeslage nach seiner Anschauung und seinem Ermessen völlig eigenmächtig abänderte; es hat also seine Wertentscheidung an die Stelle der Wertentscheidung des Gesetzgebers gesetzt. Offensichtlich handelt es sich nicht mehr um Rechtsprechung in dem Sinne, den man mit diesem Wort im Allgemeinen verbindet. Justiziell an diesem Verfahren ist nur noch die Tatsache, dass es von Richtern gehandhabt wird. Diese verfassungsrechtliche bzw. besser: verfassungsgerichtliche Auffassung dessen, was der Gleichheitsgrundsatz in der Rechtspraxis zu leisten hat, wurde noch in der Weimarer Republik – sowohl von der Rechtsprechung wie auch von der Literatur – einhellig abgelehnt5. Das Argument war, dass die Justiz bei solcher Verfahrensweise nichts zu gewinnen, aber alles zu verlieren habe, nämlich das Vertrauen in ein jurisdiktionell, gediegenes Rechtsverfahren, das juristisch und lo-

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BVerfGE, 24, S. 300 ff. Statt vieler: Anschütz, Kommentar zur WRV, Berlin 1933, S. 151.

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gisch nachvollziehbare Ergebnisse liefert und das aber zugunsten eines „vernünftigen“ und „einleuchtenden“ Überprüfungsverfahrens über Bord geworfen worden war. Nach damaliger allgemeiner Rechtsauffassung führte die abgelehnte Auffassung der Handhabung des Gleichheitsgrundsatzes zur Gefahr einer Rechtsunsicherheit. Auch im Nachkriegsdeutschland wurde die verfassungsgerichtlich weite Auffassung des Gleichheitsgrundsatzes zunächst von der Wissenschaft abgelehnt6. Das Bundesverfassungsgericht hat dagegen, wie erwähnt, von Anfang an die weite und rational-wertorientierte Auffassung von Art. 3 vertreten, und dies ohne irgendeine rechtliche Begründung, insbesondere ohne auf den eklatanten Widerspruch zur früheren Auffassung in der Weimarer Republik einzugehen. Das Bundesverfassungsgericht, das auch späterhin in seiner Spruchpraxis bei der weiten Auslegung des Gleichheitsgrundsatzes geblieben ist, erntete in der Folgezeit damit seine Apostrophierung als „Konterkapitän von Karlsruhe“. Als eigentlichen Grund für den Kurswechsel des Bundesverfassungsgerichts in der Auffassung des Gleichheitsgrundsatzes darf man den Umstand ansehen, dass staatliches Handeln in der Gegenwart nicht ohne Kontrolle gelassen werden kann; diesem Bedürfnis hat die Verfassungsgerichtsbarkeit in dankenswerter Weise entsprochen. Die zweite, mehr im Hintergrund stehende Motivation ist die Rechtssituation in den Vereinigten Staaten von Amerika. Dort ist die weite Auslegung der Gleichheitsmaxime seit je praktiziert worden. Die Situation ist aber in den USA eine andere als in der Bundesrepublik. In den USA gibt und vor allem gab es kein flächendeckendes, durchgebildetes positivrechtliches Regelungssystem. Es gibt und gab nur punktuell kodifizierte Bereiche, insbesondere im – Strafrecht – Zivilrecht (insbesondere Kaufrecht und Erbrecht) und in weiteren zivilrechtlichen Sondergebieten,

6 Vgl. so etwa Ernst Forsthoff, Rechtslehrertagung Heidelberg 1969, Verhandlungen I, 3. Abschnitt.

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– sowie in verschiedenen Gebieten des Verwaltungs- und Staatsrechts.

Im Übrigen, d. h. ursprünglich in den meisten Rechtsbereichen, wurden vom lokalen Gericht oder auch vom zuständigen Sheriff die für die Lösung eines aktuellen Rechtsstreits oder Verwaltungsfalles erforderlichen Rechtsnormen aus einem nationalen Rechtsgefühl heraus entwickelt, und zwar im Sinne der Frage, ob die Rechtsnormen einer „gerechten“ Lösung des anstehenden Rechtsfalls dienen konnten; gerecht bedeutete in diesem Zusammenhang meist: gleichbehandelt im Sinne von angemessen behandelt. An die Stelle dieser mehr gefühlsmäßigen Entwicklung von Rechtsnormen setzte sich dann das überprüfende Appellationsgericht, und auch hier war dann aber die Gleichheitsmaxime entscheidungsmaßgebend, d. h. die Frage einer gleichen und angemessenen Behandlung im anstehenden Beurteilungsfall. Später in der Entwicklung suchte dann der Sheriff bzw. das unterste Exekutivorgan im Zuge einer Typisierung aller Lebensverhältnisse Rechtsnormen zu entwickeln, die auf Kreis- bzw. Landesebene Gültigkeit hatten. Diese Rechtsnormen wurden dann im Appellationsverfahren vom zuständigen Appellationsgericht überprüft und zwar eben auch wieder nach dem Gesichtspunkt der Gleichheitsmaxime. (1) Man hatte also die Situation, dass auf der Grundlage der allgemeinen Gleichheitsmaxime Rechtsnormen gerichtlich überprüft wurden. Dies setzte sich fort bis hin zur obersten Ebene des Supreme Court, der für sich in Anspruch nahm und nimmt, fast sämtliche USNormen zu überprüfen, und zwar unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten, insbesondere dem Gesichtspunkt der weiten Gleichheitsmaxime. (2) In Deutschland ist und war es hingegen so, dass durchgängig positivrechtliche Rechtsnormen bestehen und bestanden und Art. 3 Grundgesetz, das heißt die allgemeine Gleichheitsmaxime, zunächst nur eingriff bei der Überprüfung von Verwaltungsakten oder Allgemeinverfügungen unter dem Gesichtspunkt ihrer gleichheitskonformen Subsumierbarkeit unter das betreffende Gesetz.

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Es handelte sich immer um ein jurisdiktionell-rechtsstaatlich, bestimmtes Verfahren (bezogen auf die Subsumtion von Verwaltungsakt) und nicht um wertorientierte, vernunftorientierte Beurteilungsverfahren nach der weitgefassten Gleichheitsmaxime. Dieses Verfahren einer wertmäßigen Kontrolle unter dem Gesichtspunkt der weitgefassten Gleichheitsmaxime ist nun aber – erstens ein Verstoß gegen das Prinzip der Rechtssicherheit (Rechtsstaatsprinzip)7; – es ist ferner ein Verstoß gegen das Gewaltenteilungsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG); – schließlich ist es ein Verstoß gegen das Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG): die Verfassungsrichter, auch die Richter des Bundesverfassungsgerichts, sind demokratisch nicht legitimiert, anstelle des Gesetzgebers gesetzgeberische Akte vorzunehmen.

Aus diesem Grunde besteht auch, wie erwähnt, Kritik an der Praxis des Bundesverfassungsgerichts bei seiner weiten Handhabung der allgemeinen Gleichheitsmaxime zum Zweck der Überprüfung von Gesetzen. Niemand geht jedoch angesichts solcher Kritik auf die Barrikaden. Im Zeitalter der Globalisierung kann in der Bundesrepublik Deutschland nicht völlig falsch sein, was in den USA richtig ist. Zwar kann die Ministerialbürokratie prinzipiell Gesetzgebungsverfahren besser vorbereiten als ein Gericht, und die vorhandenen Entscheidungsalternativen besser herausstellen. Sie hat wesentlich mehr technische Hilfsmittel, insbesondere Datenverarbeitungsgeräte und -systeme sowie technisch vorgebildete Mitarbeiter. Auch hat die Ministerialbürokratie die institutionalisierten Verbindungen zu den Wirtschaftsverbänden, wodurch erst die Hintergrundinformationen beschafft werden können. Im Zuge einer immer größeren Transparenz der Gesellschaft sowie einer allgemeinen Mediatisierung kann aber auch ein deutsches Obergericht ohne Schwierigkeiten alle maßgeblichen Informationen errei7 Vgl. hierzu ausführlich Anschütz, Kommentar zur Weimarer Reichsverfassung, a.a.O., Fn. 5.

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chen; es kommt hinzu, dass laufend die Zahl der wissenschaftlichen Mitarbeiter bei BGH und BVerfG aufgestockt wird. Was das Gewaltenteilungsprinzip anbelangt, so wird man sagen müssen, dass man es tatsächlich im Interesse eines sachgerechten Ergebnisses nicht so genau nehmen darf: – In großer Zahl werden täglich verwaltungsgerichtliche Urteile erlassen, die unmittelbar als Verwaltungsakte (Exekutivakte) Wirkung haben, – der Bundestag beschließt häufig Einzelfallgesetze, die im Grunde Regierungsakte sind und an sich Sache der Exekutive wären, – der heute in der Bundesrepublik Deutschland überhaupt wirksamste Gewaltenteilungsbereich, nämlich die horizontale Gewaltenaufteilung auf die Länder, ist von Montesquieu überhaupt nie ins Auge gefasst worden, – das BVerfG Ges., § 35 des Gesetzes, geht davon aus, dass Urteile und Beschlüsse des BVerfG unmittelbar gesetzliche Wirkung haben können, also direkt in die Legislative hereinwirken.

Abschließend muss aber eines festgestellt werden: Wenn so in der geschilderten Weise die seinerzeitigen staatsrechtlichen Auffassungen der Weimarer Republik, die Ausdruck einer weltweit anerkannten Rechtskultur waren, und auf die man heute nur neidvoll zurückblicken kann, derart geringschätzig behandelt werden, so kann man den hierfür Verantwortlichen nur eine Art von nationalem Defätismus attestieren. Man kommt damit unwillkürlich wieder auf die nationale Situation zu sprechen, wie sie sich als Folge der militärischen Ereignisse darstellt, nicht nur in Zusammenhang mit dem 2. Weltkrieg, sondern auch mit dem 1. Weltkrieg: Wenn auch bei letzterem von einem eindeutigen militärischen Verlust ausgegangen werden müsste, so wäre die Folge in der Tat die einer Charakterisierung Deutschlands als Verlierer des 20. Jahrhunderts, und eine Art von Defätismus wäre verständlich. Es ist daher im Folgenden auf die Beurteilung auch des 1. Weltkrieges und seines Endes einzugehen.

8. Im Wald von Compiègne a) Militärische Ausgangslage Nachdem im Westen lange nichts mehr geschehen war und man sich nach Neuem sehnte, kam dies dann im letzten Kriegsjahr im Überfluss. Als Folge des Sieges bei Tannenberg (Ostpreußen) sowie der ostpolitischen Aktivitäten der OHL im Jahr 1917 (Lenins Transport nach Petersburg), wurde am 9. Februar 1918 ein Sonderfriede mit der als Staat anerkannten Ukraine geschlossen und daraufhin am 3. März 1918 der Friede mit Sowjetrussland. Die gesamte Ukraine war zu diesem Zeitpunkt noch von deutschen Truppen besetzt; diese Truppen wurden nunmehr frei. Am 7. Mai 1918 wurde darüber hinaus ein Separatfriede mit Rumänien in Bukarest unterzeichnet; auch die an dieser Front stehenden deutschen Truppen (Heeresgruppe v. Eichhorn; Herresgruppe v. Woyrsch, südlich davon: Heeresgruppe v. Linsingen und Heeresgruppe v. BoehmErmoli; weiter im Süden: K.u.K. Heeresgruppe Herzog Karl sowie ganz südlich: Die 5. Armee Falkenheyn) wurden nunmehr frei. Die freigewordenen Truppen, insbesondere die Besatzungstruppen in der Ukraine (ca. 450 000 Mann Infanterie) wurden ab Mitte Mai 1918 laufend ins Reich zurückgeführt, dort humanitär versorgt und neu ausgerüstet (Ruhrgebiet); zuständig war Generaloberst Wilhelm Groener, Befehlshaber des Militärabschnitts Kiew sowie des Eisenbahntransportwesens in das Reich. Er war ein enger Vertrauter von Ludendorff. Die Rüstungsproduktion im Ruhrgebiet sowie in Oberschlesien und in den Großstädten lief auf Hochtouren. Das neue MG-Modell 08 / 15 wurde zu der Zeit serienmäßig gefertigt und ausgeliefert. Täglich kamen neu ausgerüstete Truppenteile aus dem Bereich auch der Kavallerie im westlichen Reich an und standen der OHL zur Verfügung.

a) Militärische Ausgangslage

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Am 21. März 1918 sodann begann Ludendorff seine „große Westoffensive“, zunächst bei Arras (Heeresgruppe Kronprinz Rupprecht). Im Mittelabschnitt (Heeresgruppe Kronprinz von Preußen) begann die Offensive zwischen Soissons und Reims am 27. 5. 1918; im Abschnitt Soissons / Compiègne (Marne), ebenfalls Heeresgruppe Kronprinz, am 15. Juli 1918. In verlustreichen Kämpfen wurden die französischen Linien teilweise durchbrochen; es kam zu ihrem Zurückweichen um durchschnittlich 20 bis 30 km, bei Compiègne um etwa 40 km bis ca. 80 km vor Paris. Die „große Westoffensive“ war jedoch zu früh angesetzt worden; die Angriffstruppen waren noch nicht genügend gestärkt. Die Offensive wurde Ende Juli 1918 gestoppt sowohl von englischen wie von französischen Truppen; sie standen ab dem 14. April unter dem Kommando von Marschall Foch, dessen unbeschränkte Befehlsgewalt über englische und französische Streitkräfte den bis dahin bestehenden Kompetenzwirrwarr der Alliierten abgelöst hatte. Marschall Foch führte am 18. 7. eine Gegenoffensive an der Marne (Abschnitt Soisson / Compiègne) durch, mit allerdings geringem Erfolg (Geländegewinn von ca. 10 bis 15 km). Mehr Erfolg hatte die englische Armee am 8. August bei einem Angriff von Amiens in Richtung Ypern (Flandern). Sie erzielten einen Geländegewinn von ca. 40 km, aber kamen bei Ypern zum Stehen. Diese Erfolge der Engländer waren mit extremen Verlusten erkauft. Die Kämpfe sind noch heute in Erinnerung, z. T. wegen des jährlichen Poppys-Day1. Die englischen Truppen waren in absichtlich geräumte deutsche Stellungen vorgestoßen, wurden dann aber von kombinierten MGStellungen aus beschossen; fast alle nicht in voller Deckung befindlichen Engländer wurden getroffen; ganze Quadratkilometer des flämischen Bodens sollen mit Blut bedeckt gewesen sein. Die englischen Mannschaften waren nachhaltig beeindruckt und nicht mehr willens oder in der Lage, gegen die deutschen Stellungen anzugehen. Am 20. September erfolgte im französischen Bereich die Rücknahme der „Siegfriedstellung“ (Reims / Rouen), auch als Reaktion auf 1 Poppys-Day (Gefallenen-Gedenktag am 11. Nov.), noch heute in ganz Großbritannien gefeiert; von Poppy-Moka, Klatschmohn rot: die Schlachtfelder in Flandern 1918 waren großenteils rot, wie von Klatschmohn bedeckt, jedoch tatsächlich nicht von Klatschmohn, sondern vom Blut der getroffenen englischen Soldaten, das teilweise knöcheltief stand.

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8. Im Wald von Compiègne

Karte 2: Deutsche Kampfstellungen 1918

a) Militärische Ausgangslage

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den Geländeverlust in Flandern um ca. 10 km in östlicher Richtung auf die sogenannte „Brunhildelinie“. Die französischen Truppen wurden in die geräumten Gefechtsbereiche hereingelockt und von speziellen kombinierten Maschinengewehreinheiten aus beschossen. Es gab enorme Verluste auf französischer Seite und als deren Folge erstmals massive Desertationen in der vordersten Kampflinie. Die dortigen Truppen waren nervlich dem Maschinengewehrfeuer auf Dauer nicht gewachsen. In dieser Situation kam Clemenceau aus Paris kurzfristig angereist und veranlasste umfangreiche Erschießungen an der vordersten Kampflinie. Er trug von da an den Beinamen „le tigre“. Ludendorff wollte in dieser Situation Zeit gewinnen für ein Rückfluten der Osttruppen, insbesondere von der Ukraine, um eine erneute und verstärkte Westoffensive einleiten zu können. Er machte ein erstes Waffenstillstandsangebot am 29. September 1918 an das Hauptquartier Foch. Ludendorff hatte die Kämpfe in Flandern sowie insbesondere im Heeresabschnitt Mitte (Kronprinz von Preußen) genau beobachten lassen. Er war zu der Überzeugung gekommen, dass die englischen und französischen Truppen Kämpfe dieser Art in der neuerdings hochtechnisierten Form nicht lange durchhalten könnten; eine Waffenruhe wäre auch und gerade in ihrem Interesse gewesen. Am 3. Oktober 1918 erfolgte dann ein offizielles Waffenstillstandsangebot der Mittelmächte an die Entente. Der Verhandlungsführer der Entente, US-Präsident Woodrow Wilson, antwortete mit einer ausführlichen Note am 20. Oktober; er war zu einem Waffenstillstand bereit, wenn – alle besetzten Gebiete von Deutschland geräumt würden, – der deutsche Kaiser sofort abdanken würde, – sowie wenn deutscherseits eine „Anerkennung des Selbständigkeitsstrebens“ der Völker der österreichischen Donaumonarchie erfolgen würde.

Ludendorff sah sofort, dass ein Waffenstillstand unter solchen Bedingungen eine neue Offensive an der Westfront unmöglich machen würde. Wenn die Stellungen im Westen, insbesondere die „Brunhildestellung“ geräumt würden und gleichzeitig der Kaiser abdanken würde, so hätte dies bedeutet, dass der oberste Heerführer in einer

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8. Im Wald von Compiègne

schwierigen militärischen Situation weggefallen wäre. Dies hätte mit ziemlicher Sicherheit zu einer Niederlage geführt. Die Akzeptierung des dritten Punktes der Note von Wilson, nämlich die Anerkennung des Unabhängigkeitsstrebens der Völker in der habsburgischen Donaumonarchie, hätte zudem bedeutet, dass die gesamte Südflanke auf Dauer ungeschützt gewesen wäre. Ein solcher Waffenstillstand war für Ludendorff nicht akzeptabel. Ludendorff war darüber hinaus der Meinung, dass eine neue Offensive im Westen ohne den Waffenstillstand zu gewinnen wäre wegen des Zurückflutens der gesamten Osttruppen. Mit dem revolutionären Unabhängigkeitsstreben der verschiedenen Völker der österreichischen Donaumonarchie würde man fertig werden, notfalls mit Hilfe der Osttruppen. Ludendorff trug diese seine Ansicht dem Kaiser am 26. 10. 19182 in Spa vor.

b) Ludendorff und Wilhelm II Kaiser Wilhelm sah die militärische Situation dann allerdings anders. Unter dem Einfluss des Prinzen Max von Baden (Reichskanzler seit dem 20. September 1918) war er der Meinung, dass es keineswegs nur so war, dass an der Westfront ein vorübergehendes Patt nach der Westoffensive vom 21. 3. 1918 und der Gegenoffensive von Marschall Foch vom 18. 7. 1918 eingetreten sei (so Ludendorff). Vielmehr bestehe seit der Hochseeflottenmeuterei vom 25. / 26. Oktober sowie der Meuterei auf der Hochseereederei in Kiel vom 26. / 27. Oktober sowie den sogenannten „revolutionären Obleuten“ von Spartakusführer Liebknecht und Kommunistenführerin Rosa Luxemburg die akute Gefahr in Berlin, dass revolutionäre Kampfhandlungen seitens der Spartakusverbände und der kommunistischen Partei vorge-

2 Vgl. Zu dieser Unterredung auch: E. Ludendorff, Aufzeichnungen von Hessleholmsga° rden, 1919. Einige Einzelheiten der folgenden Darstellung sind dieser Schrift entnommen; Ludendorff verfasste sie unmittelbar nach seiner Ankunft in Hesslesholmsga° rden / Schweden, wo er sich von Anfang November 1918 bis Februar 1919 bei schwedischen Freunden aufhielt.

b) Ludendorff und Wilhelm II

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nommen würden; es schreckte das Bild der russischen Oktoberrevolution („Onkel Nikolauseffekt“). Wilhelm traute sich nicht zu, derartige Bewegungen gewaltsam mit kriegerischen Mitteln niederzuschlagen; er war der Meinung, die Größe der Gefahr sei inkommensurabel. Sie konnte so groß sein wie vor einem Jahr in Russland, wenn man Glück hatte, konnte sie allerdings auch geringer bleiben. Auch die Situation an der Südflanke (österreichische Donaumonarchie) sei seit dem 4. Oktober, dem österreichischen Waffenstillstand mit der Entente, außer Kontrolle. Kaiser Wilhelm war damit der Meinung, nur durch einen alsbaldigen Waffenstillstand an der Westfront könne man mit den Belastungen in der Heimat sowie an der Südflanke fertig werden. Es kam nach Ansicht Wilhelms noch hinzu, dass die sozialistischen Führer Liebknecht und Rosa Luxemburg bei einem geschickten Abdanken und militärischen Abtreten seinerseits als „Dolchstoßführer“ dastünden, als „Beseitiger des Heerführers“. Sie hätten sich damit nach germanischem Selbstverständnis in Deutschland unmöglich gemacht. Zudem wäre der demokratische Druck von der Straße nach erfolgtem Kaiserabtritt größtenteils nur noch gering. Die Befürchtungen Ludendorffs, durch eine Akzeptierung der Bedingungen des Waffenstillstandes würde praktisch eine Niederlage herbeiverhandelt werden, könne er, der Kaiser, nicht teilen. Es sei ersichtlich ein Rémis, das man verhandeln wolle; die Räumung der besetzten Gebiete sei im Ergebnis geringfügig; Auffangstellungen seien vorhanden (Grenzstellung Flandern, Rheinlinie). Wenn er, der Kaiser, abdanke, so könne er dies ja nur für seine Person tun, nicht auch für die gesamte Dynastie, so dass dann sein Sohn, Kronprinz August Wilhelm, Heerführer (Kriegsherr) werden würde. Ludendorff reagierte in der mittlerweile heftigen Unterredung skeptisch auf das Rémis-Argument Wilhelms. Er, Ludendorff, habe aus seinen Geheimdienstquellen erfahren, Clemenceau verlange neuerdings die Herausgabe sämtlicher französischer Kriegsgefangenen, ohne auch nur einen deutschen Kriegsgefangenen aus seinen Lagern zurückgeben

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8. Im Wald von Compiègne

zu wollen. So etwas könne er nicht unterschreiben. Außerdem seien neuerdings nach den Meutereien und den gefährlichen Unruhen in Kiel und Berlin von Clemenceau für den Fall eines Waffenstillstandes die Übergabe von 200 LKW und 600 Eisenbahngüterwagen sowie eine große Zahl von Lokomotiven verlangt worden. Clemenceau wolle klar ersichtlich das Rückfluten der Osttruppen behindern oder unmöglich machen; er wolle damit Deutschland durch den Waffenstillstand in den Griff bekommen, was er bislang militärisch aber keineswegs habe. Dafür spreche auch, dass die Dauer des Waffenstillstands auf 34 Tage begrenzt werden soll. In dieser Zeit seien die Osttruppen noch nicht vollständig oder überhaupt noch nicht zurückgekehrt und Clemenceau könne Deutschland dann nach Kaiserabdankung und Stellungsräumung sowie nach Materialablieferung und angesichts der Meutereien / Unruhen mit Hilfe seines Marschalls Foch ungehindert erpressen. Was schließlich mit Elsass / Lothringen sowie anderen Gebietsabtretungen werden solle, sei bislang völlig unklar; es sei das Schlimmste von Clemenceau zu befürchten. Die Positionen der beiden Gesprächspartner standen unversöhnlich gegenüber. Dabei gingen beide, Ludendorff sowohl wie der Kaiser, prinzipiell noch davon aus, dass von der Gegenseite ebenso wie von Deutschland ein ehrlicher Waffenstillstand auf einer Rémisbasis angestrebt wurde. Sie taten dies und konnten dies tun unter dem Eindruck insbesondere der Kämpfe in Flandern3. Ersichtlich bestand ein großes Interesse der Alliierten an einer Einstellung der Kampfhandlungen. Tatsächlich war es aber dann nicht so, dass Clemenceau und Foch einen wirklichen Rémiswaffenstillstand wollten; Foch wollte nicht nur eine Räumung der besetzten französischen und belgischen Gebiete, sondern das gesamte linke Rheinufer einschließlich der dort befindlichen Festungen Ehrenbreitstein, Köln und Mainz; ferner auch die Herausgabe von Elsass / Lothringen. Damit wollte Foch nicht mehr nur ein Rémis; dies erhellte auch aus der erwähnten Tatsache, dass bei Waffenstillstand eine Übergabe von 200 LKW und 600 Militärgüterwagen sowie Lokomotiven gefordert wurde (Rückflutung der Ortstruppen behindert).

3

Vgl. Fn. 1 (Stichwort: Poppys).

b) Ludendorff und Wilhelm II

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Foch und Clemenceau verlangten dies von Deutschland auf Grund der neuen innenpolitischen Lage, insbesondere den Meutereien in Kiel und den revolutionären Obleuten in Berlin. Foch und Clemenceau sahen andererseits aber auch: – Compiègne lag ca. 80 km ungeschützt durch die Ile de France direkt vor Paris; – die Engländer hatten in Flandern das Erlebnis der „Poppys“ gehabt; – die Franzosen hatten die umfangreichen Desertationen bei Soissons und Compiègne erleben müssen; Foch brauchte dringend den Waffenstillstand, er brauchte ihn sogar als dauernden Waffenstillstand, auch wenn dieser durch eine Täuschung herbeigeführt werden würde. Man befand sich also in einer verworrenen Entscheidungssituation; im Grunde genommen sogar in der Situation eines Entscheidungsdilemmas. Eine Entscheidung musste nach militärischen Grundsätzen aber getroffen werden, und zwar in kürzester Zeit.

In dieser dilemmatischen Situation, gegen Mittag des 26. Oktober 1918, kam Ludendorff auf einen eigentümlichen Gedanken, der für ihn kennzeichnend war. Getreu seinem von Clausewitz übernommenen Grundsatz „Angriff ist die beste Verteidigung“, schlug er dem Kaiser ein „Königsopfer“ vor4. Ludendorff formulierte seinen Vorschlag an Kaiser Wilhelm folgendermaßen: Nach dem Vorbild König Friedrichs des Großen in der Schlacht bei Roßbach im Jahre 17475, sollte Wilhelm, an der Spitze einer Reiterattacke reitend, auf den Feind losgehen, entweder im Bereich Compiègne (ca. 80 km vor Paris) oder im Bereich Soissons (85 km vor Paris). Ludendorff deutete dem verdutzten Kaiser an, welches der Sinn dieses Vorschlags war. Wenn Wilhelm im Verlauf dieser Reiterattacke fal4 Dies ist, bis hin zu den Einzelheiten, an sich bekannt, wird hier aber nochmal dargelegt, um die Beurteilung der damaligen Entscheidungssituation diskursiv begründbar zu machen; außerdem ist neuerdings zu beobachten, dass auch in Fachkreisen die Kenntnisse über die damalige Entscheidungssituation in Spa unvollkommen sind. Vgl. hierzu S. A. Kaehler, Vier Untersuchungen zum Kriegsende 1918, Göttingen 1961, S. 85 f. 5 In Roßbach (Schlesien) traf Friedrich 1747 auf eine zahlenmäßig weit überlegene Streitmacht aus Franzosen und Österreichern. Unter Beibehaltung des Oberbefehls führte er persönlich eine Reiterattacke an, die die schon fast sichere Niederlage in einen Sieg verwandelte.

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len würde, was nun einmal nicht auszuschließen sei, wäre damit, wenn auch auf makabere Weise, der Forderung Wilsons und auch der Sozialdemokraten und Kommunisten nach einem Verschwinden Kaiser Wilhelms Genüge getan. Ganz wesentlich wäre dann aber weiterhin ein Aufbrausen des deutschen Heeres zu erwarten gewesen als Folge des unerwarteten heroischen Ereignisses; die Monarchie wäre entscheidend gestützt, und das Heer wäre in der stärkst möglichen Weise motiviert für einen erneuten Angriff im Westen. Ein Erfolg an der Westfront wäre damit insbesondere unter Berücksichtigung der zurückflutenden Osttruppen zum Greifen nahe. Ludendorff trug nebenbei in diesem Zusammenhang vor: Es lagen (außer den Osttruppen) 600 000 neue Gestellungen beim Kriegsministerium vor, davon 20 000 Gestellungen sofort verfügbar, dies war am Vortag vom Kriegsminister telefonisch gemeldet worden. Der Kaiser war blass geworden. Nach einer Pause fuhr Ludendorff fort. Friedrich der Große sei der direkte Ahne Wilhelms in der 4. Generation rückwärts; Wilhelm habe sich vielfach auf ihn berufen, insbesondere auch auf die hier in Rede stehende Roßbachattacke, und zwar im bekannten Herbstmanöver 1904 in der Schorfheide. Es gäbe eine berühmte Filmanfertigung, die auch Wilhelm bekannt sei, in welcher Wilhelm, auf einem Schimmel an der Spitze eines Reiterregiments reitend, im sogenannten „Friedrichlook“ auf einen imaginären Feind losging. Ludendorff redete auf den regungslos dastehenden Kaiser weiter ein: In einer großartigen Situation müsse man alle historischen Parallelen sehen, insbesondere auch aus der für Deutschland stets als Vorbild herangezogenen römischen Geschichte. Er spielte dann deutlich an auf den Opfertod von Publius Decius Priscus im latinischen Krieg6. Im latinischen Krieg war eine ähnliche Situation zwischen Rom und Latium entstanden wie sie vorliegend zwischen Deutschland und England bestand; zwischen beiden bestand eine enge Verwandtschaft. Die zahlenmäßigen Dimensionen der zur Verfügung stehenden Kräfte entsprachen sich ziemlich genau. In dieser Situation führte seinerzeit Publius Decius Priscus die Entscheidung am Veseris im Jahr 470 vor Christus herbei, indem er ein

6 Publius Decius Priscus, Konsul von Rom in den Jahren 468, 469 und 470 vor Christus.

b) Ludendorff und Wilhelm II

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berühmtes Orakel nach Vorsprechen durch den Pontifex Maximus formulierte: Bei den Römern solle der konsularische Heerführer den Manen der Unterwelt geopfert werden, bei den Latinern dafür aber das gesamte Heer und die Hilfsstreitkräfte. Publius Decius Priscus führte dieses Orakel in einer rauschhaften Besessenheit im Beisein des Pontifex Maximus aus7. Die Entscheidung fiel für Rom. Nach längerer Pause sagte Kaiser Wilhelm zögernd: Was er da höre, sei ein grauenhafter Atavismus, er sei außerdem in zwei Monaten 60 Jahre und ein körperbehinderter Mann, er verstehe überhaupt nichts mehr. Ludendorff machte sofort die Einschränkung, es müsse ja nicht der Tod sein, es komme nur auf die Attacke und das heroische Beispiel an; er könne natürlich, so wie sein Ahne Friedrich, auch ganz ohne Blessuren bei dem Reiterangriff davon kommen. Man könne seine Position in dem Angriff beliebig variieren und etwa weiter nach hinten verlegen. Kaiser Wilhelm beharrte bei seinem Nein, ohne überhaupt noch genau zuzuhören: Wir können allein schon jetzt im Winter keine Reiterattacke durchführen sagte er; er beabsichtige, das Gespräch abzubrechen. Ludendorff setzte aber unbeirrt seine Rede fort: Es sei richtig, dass in dieser Jahreszeit nur ausnahmsweise eine größere Reiterattacke durchgeführt werden könne; möglich sei aber, gerade in Compiègne, eine Tankattacke. Im vordersten Befehlstank (Befehlspanzer) nehme üblicherweise der Kommandeur Platz. Irgendetwas muss jetzt einfach geschehen; eine Tankattacke der angedeuteten Art sei von der zuständigen Generalstabsabteilung für Compiègne vorbereitet. Wilhelm war blass und sagte nichts. Er war ein militärisch gut ausgebildeter Truppenführer, auch in der regionalen Truppenführung. Er hatte stets das sogenannte „persönliche Regiment Wilhelms“ für sich reklamiert und zwar sowohl im zivilen Bereich als auch im militärischen Bereich. Er hatte Anspielungen bis hin zu Hereinsteigerungen 7 Vgl. Einzelheiten hierzu bei Leopold von Ranke, Weltgeschichte – Römische Geschichte – Band 1, S. 397.

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in die Person Friedrichs des Großen, wie auch in die Person des großen Kurfürsten, tatsächlich vorgenommen. Es waren bis zu diesem Tag mehr als 2 Millionen deutsche Soldaten gefallen, die ohne Ansehen der Person herangezogen worden waren, und die sich diesem Ruf nicht verschlossen hatten; er musste sich eingestehen, dass der Ludendorffsche Vorschlag nicht irreal war. Wilhelm äußerte sich dann aber dahingehend, dass er bei seiner Ablehnung dieses unerhörten Vorschlages Ludendorffs bleibe. Er sei aber bereit, standhaft als König von Preußen auszuharren und lediglich als deutscher Kaiser zurückzutreten. Das Kriegsheer habe dann nach wie vor einen Kriegsherrn und die OHL sowie die Marine habe nach wie vor ihren Dienstherrn und könne weiterkämpfen. Damit sei seines Erachtens ebenfalls der Forderung Wilsons in den Waffenstillstandsverhandlungen entsprochen und ebenfalls den Forderungen der Sozialisten in Berlin nach einem Abgang Wilhelms. Ludendorff ließ die jetzt eingetretene Situation, wie sie von Kaiser Wilhelm formuliert worden war, sofort von seinem Vertrauten Generaloberst W. Groener prüfen. Nach kurzer Zeit trug Groener sein kursorisches Prüfungsergebnis vor. Das Ergebnis war, dass der Kompromissvorschlag Wilhelms nicht funktionieren würde. Woodrow Wilson würde nicht akzeptieren, dass Wilhelm weiterhin König von Preußen wäre, nicht aber Kaiser in Deutschland; Wilson würde nicht akzeptieren, dass Wilhelm weiterhin Kriegsherr wäre, wenn auch „nur“ als König von Preußen. Generaloberst Groener unterstrich, dass ein Waffenstillstand mit Wilson auf dieser Grundlage unmöglich sei und er fügte hinzu, dass auch eine Bekämpfung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht praktisch nicht oder nur schwerer möglich sei, da Wilhelm nach wie vor in der entscheidenden monarchischen Stellung (Heer, Marine) verharren würde; Liebknecht und Rosa Luxemburg wären nicht kompromittiert (vgl. oben S. 93), da sie keinen Dolchstoß oder ähnliche Maßnahmen gegen Wilhelm geführt hätten. Erich Ludendorff sagte daraufhin lakonisch, es bleibe also nur die heroische Option. Er fügte nach einer kleinen Pause hinzu, dass er sich erinnere, aus Hofkreisen gehört zu haben Wilhelm träume schon lange davon, als

b) Ludendorff und Wilhelm II

Karte 3: Der deutsche Angriff im Westen 1918

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Wilhelm der Große in die Geschichte einzugehen. Dann sei die heroische Option ja wohl das einzig richtige. Der Kaiser war kreidebleich und sagte nichts mehr. Man hörte das Wort „Feigling“ in dem aufgeregten Stimmengewirr. Wilhelm fühlte sich in Spa nicht mehr sicher, das komplett von Ludendorff und Groener kontrolliert wurde. Am Abend des folgenden Tages (27. Oktober 1918) reiste er ab nach Berlin, unter Verwendung von Kraftfahrzeugen, weil die Eisenbahnreise bereits zu gefährlich war; die Großbahnhöfe im Ruhrgebiet waren bereits in sozialistischer Hand. In Spa, wo er autoritärer Fürst war und sein wollte, hätte man normalerweise annehmen müssen, dass er in einer eklatanten Notsituation seine Führungsrolle konkret wahrnehmen würde, also notfalls auch in einer Attacke unter Lebensgefahr. Man hätte annehmen können und müssen, dass die Attacke bei Compiègne unter seiner Leitung tatsächlich geführt worden wäre. Nach Lage der Dinge wäre ein „Königstod“ dann anzunehmen gewesen und wäre tatsächlich wohl auch eingetreten. Bei der damaligen Mentalität insbesondere der Truppen von den Ostgebieten hätte dies einen massiven Stimmungsumschwung, sogar ein Aufbrausen des „Heeres“ (so Ludendorff) zugunsten von „König und Vaterland“ bedeutet, das zusammen mit der technischen Überlegenheit der damaligen deutschen Waffenindustrie sowie den zurückkommenden Osttruppen einen Durchbruch bei Compiègne gebracht hätte. Obwohl Paris als Festung ausgebaut worden war, wären die Panzerverbände innerhalb von Stunden von Compiègne an der Seine gewesen. Die Geschichte hätte einen anderen Verlauf genommen. Tatsächlich lief es dann aber eben so: Am 28. Oktober war Kaiser Wilhelm in Berlin. In Potsdam (Sanssouci) beraumte er am 29. Oktober eine Besprechung mit Prinz Max von Baden an. Wilhelm berichtete über Verlauf und Ergebnis seiner Auseinandersetzung mit Ludendorff am 26. Oktober. Er drückte seine Angst vor den Geschehnissen in Spa aus. Er zeigte sich insbesondere besorgt über die Unklarheit hinsichtlich der objektiven Beurteilung seiner, des Kaisers Position, nämlich als

b) Ludendorff und Wilhelm II

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König von Preußen bleiben zu wollen, und nur als deutscher Kaiser abtreten zu wollen. Prinz Max beurteilte sodann diese Wilhelmsche Position genauso wie es Ludendorff und Groener in Spa getan hatten; „dieser Kompromiss funktioniert wahrscheinlich nicht“, sagte er zu Wilhelm. Prinz Max bezeichnete die nun bestehende Lage als „Gordischen Knoten“: Die heroische Option war ihm zuwider; er war westlich orientiert, insbesondere mit französischen und italienischen Familien verwandt, und in liberaler Erziehung aufgewachsen. Er war sehr skeptisch, ob ein sofortiger Durchbruch (November 1918) an der Westfront gelingen würde; er hatte darüber hinaus vor allem Angst vor den „revolutionären Obleuten“ in Berlin sowie in den anderen Industriegebieten, die damals umgehend handeln wollten, nämlich schon für den 11. November Versammlungen in Berlin (Borsigwerke) anberaumt hatten, veranlasst von Liebknecht und Rosa Luxemburg. Er hatte damit Angst vor weiterreichenderen militärischen Maßnahmen angesichts der Revolutionäre in Berlin und unter dem Druck „von der Straße“; er hatte aber auch Angst vor einem militärischen Eingreifen von Spezialbrigaden gegen Kommunisten und Spartakusbund: Wie ein solches Vorhaben ausginge, wäre äußerst fraglich … Präsident W. Wilson wäre sicher nicht zufriedengestellt mit der „Position Wilhelm“. Max fürchtete eine Angriffsreaktion oder ähnliches von Seiten der Westalliierten: Er glaubte, der von Foch und Ludendorff ins Auge gefasste Waffenstillstand sei prinzipiell ein Rémis-Waffenstillstand, so dass man diesen allenfalls noch akzeptieren könne und dann zusammen mit den Sozialdemokraten gegen die revolutionären Liebknecht und Luxemburg angehen könne. Prinz Max entschloss sich nach einigem Zögern, in dieser Situation zu handeln und, wie er sich ausdrückte, den „Gordischen Knoten“ zu durchhauen. Am 9. November vormittags gab er eine telegraphische Verlautbarung an das Wolffsche Telegraphenbüro in Berlin ab, im Wesentlichen mit dem Inhalt, … „der Kaiser habe dem Thron entsagt“. Prinz Max begab sich hierauf gegen 12 Uhr zum Reichstag und traf dort Friedrich Ebert (Reichsvorsitzender der Sozialdemokraten) und Philipp Scheidemann. Nach einer kurzen Besprechung mit Ebert bat er diesen, einen Vertrauten zu benennen, der vollendete Tatsachen

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schaffen könne, indem er das Bestehen einer deutschen Republik einfach vom Reichstag aus proklamierte. Friedrich Ebert beauftragte umgehend Scheidemann, dies zu tun. Um 14 Uhr erfolgte die Proklamation einer deutschen Republik vom Balkon des Reichstagsgebäudes aus in Richtung hin zum großen Exerzierplatz. Diese Tatsache wurde sofort Kaiser Wilhelm mitgeteilt8. Nach telefonischen Gesprächen mit allen deutschen Fürsten kam man überein, samt und sonders abzudanken, allerdings nur für die Person, nicht auch für ihre Dynastie. Um 19 Uhr erklärte Kaiser Wilhelm von Spa aus die Abdankung für seine Person. Eine Stunde später taten dies alle anderen deutschen Fürsten. Zwischen 20 Uhr und 21 Uhr erfolgte die Mitteilung dieser Umstände direkt an Matthias Erzberger in Compiègne (deutscher Verhandlungsführer, Staatssekretär des Auswärtigen Amts), veranlasst von Prinz Max. Am 10. November (Sonntag) vormittags wurden auf Ersuchen von M. Erzberger die Verhandlungen mit Marschall Foch und G. Clemenceau erneut aufgenommen. Grund war die neue Sachlage in Berlin. Erzberger teilte als erstes die Abdankung Kaiser Wilhelms mit, die nach der Proklamation der deutschen Republik erfolgt war. Dies reichte jedoch Foch nicht aus, um auf einen sofortigen Waffenstillstand einzugehen. Er brauchte die Zustimmung von Hindenburg und insbesondere Ludendorff bzw. dessen Nachfolger Wilhelm Groener. Foch wollte persönlich hören, dass eine Zustimmung seitens Hindenburgs und Groeners erfolgte. Erzberger rief daraufhin vom Eisenbahnwaggon des französischen Oberkommandos im Wald von Compiègne im deutschen Hauptquartier in Spa an und verlangte Hindenburg persönlich zu sprechen. Hindenburg war nach einiger Mühe am Apparat und nahm die Schilderungen von Erzberger zur Kenntnis. Er äußerte sich dahingehend, dass er Rücksprache mit Groener bzw. Ludendorff nehmen müsse und zurückrufen werde. Nach 15 Minuten war Hindenburg erneut am Appa8 Wilhelm war zwischenzeitlich wieder nach Spa zurückgekehrt, da er dazu neigte, doch nach dem Vorbild Friedrichs an der Spitze eines Angriffsverbandes seinem Traum von Größe nachzuhängen.

b) Ludendorff und Wilhelm II

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rat und auf eine wiederholte kurze Frage von Erzberger knurrte er nur das eine Wort „ja“ in das Telefon. Daraufhin stimmte Foch dem Waffenstillstand zu. Es war klar, dass dieser Moment der entscheidende war. Es war der schwierigste Moment, den Wilhelm Groener bzw. Ludendorff und Hindenburg erlebten: Ludendorff konnte und wollte dem Waffenstillstand nicht zustimmen, da nach einer Räumung der befestigten Stellungen sowie dem Abdanken des Kaisers ein erneutes ZudenWaffengreifen definitiv – auch unter Berücksichtigung der revolutionären Lage in Berlin – nicht mehr möglich war. Er musste aber zustimmen, da Kaiser Wilhelm nunmehr abgetreten war und er allein mit Groener und Hindenburg nicht mehr auf die Basis des Kaisers zurückgreifen konnte und „in der Luft“ hing9. Er konnte natürlich allein nicht gegen Foch kämpfen. Dies war nach damaliger Terminologie der „Dolchstoß“ in den Rücken des Heeres. Es erfolgten noch am selben Abend die Vorbereitungen für einen Rückzug des Heeres über den Rhein. Der Termin des Waffenstillstandes wurde auf Montag, den 11. November 11 Uhr 11 festgesetzt (Beginn des rheinischen Karnevals). Es war klar, dass M. Erzberger diese Handlung der Kapitulation nicht lange überleben würde. Auf der Rückreise von Compiègne nach Berlin im schwäbischen Memmingen ereilte ihn sein Schicksal. Er wurde von zwei Heeresoffizieren auf offener Straße im Innenstadtbereich durch Pistolenschüsse niedergestreckt. Im anschließenden Strafverfahren gegen die beiden Offiziere vor dem Landgericht Memmingen wurden diese freigesprochen (!). Dies war also, um es nochmals festzuhalten, die verworrene Entscheidungssituation der damaligen Zeit, in welcher eine Handlung der geschilderten Art vorgenommen werden konnte: Die militäristisch korrekte-konservative Position war diejenige von Erich Ludendorff: Er wollte einen erneuten Angriff des deutschen Heeres an der Westfront, unter zusätzlicher Teilnahme der herangeführten Osttruppen, mit dem zusätzlichen Umstand des sog. „Königstodes“. Nach überwiegender Auffassung aller Fachleute würde diese Vorgehensweise Erfolg gehabt haben. ° rden“, 1919, 9 So Ludendorff in den „Aufzeichnungen von Hessleholmsga S. 15; vgl. Anm. 2.

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Die politische-zivilistische Auffassung war diejenige von Max von Baden: Er war der Meinung, dass gegen den noch starken Westen (Frankreich, Großbritannien und die USA) mit einem zusätzlichen Druck von der Straße (Liebknecht und Luxemburg) ein militärischer Erfolg nicht zu erzielen war. Vielmehr wäre eine Niederlage unausweichlich. Daher war er für Abdankung und Waffenstillstand. In dieser an sich rein militärischen Beurteilungsfrage setzte sich der Reichskanzler Max von Baden zwar nicht durch: Wilhelm war nach wie vor gegen eine Abdankung, er war wie erwähnt nur für eine Abdankung als deutscher Kaiser, aber für ein weiteres Verharren als preußischer König; an dieser Haltung Wilhelms hatte sich auch im letzten Gespräch mit Reichskanzler Max von Baden nichts geändert. Max von Baden griff aber, wie erwähnt, zu dem Mittel der eigenmächtigen Benachrichtigung der Wolffschen Telegraphenanstalt. Max von Baden schaffte vollendete Tatsachen durch diesen Akt, der gemessen nach Form und Inhalt aber nicht der Wirklichkeit entsprach: Wilhelm hatte nicht dem Thron entsagt und hatte es nie gewollt; er wollte sogar später die heroische Lösung (s. Anm. 18); auf Grund dieser Täuschung war dann erst die Beauftragung von Friedrich Ebert bzw. Philipp Scheidemann möglich mit der Folge der Proklamation der deutschen Republik. Und erst infolgedessen am selben Abend erfolgte die Abdankung von Kaiser Wilhelm.

c) George Clemenceau Es bleibt festzustellen, dass es sich bei den vorstehend geschilderten Ereignissen um die Aushandlung eines Waffenstillstandes handelte, also an sich lediglich um die Fixierung des Status quo für alsbaldige Friedensvertragsverhandlungen. Dies wurde nach ganz allgemeiner Auffassung so bewertet: Es handelte sich an sich um ein Rémis, allerdings mit kleinen Schönheitsfehlern; der Kaiser dankte zwangsweise ab, die Stellungen, insbesondere die Brunhildestellung wurden geräumt; Unabhängigkeitsbestrebungen in Österreich / Ungarn wurden anerkannt. Die Tatsache von Schönheitsfehlern wurde bestätigt durch die weiteren Bedingungen von Marschall Foch:

c) George Clemenceau

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Bei Inkrafttreten des Waffenstillstandes (11. 11. 1918) waren abzugeben: 200 Kanonen, 300 Haubitzen, sämtliche U-Boote von Wilhelmshaven und Kiel, 200 LKW sowie 600 Eisenbahngüterwagen und Lokomotiven. Die OHL sollte nach dem Willen von Marschall Foch nicht mehr ohne weiteres in der Lage sein, nach Abschluss des Waffenstillstandsvertrages und Erfüllung der Bedingungen die Kampfhandlungen wieder aufzunehmen. Die materielle Einbuße von Geschützen, U-Booten und Transportfahrzeugen war im Ergebnis unbedeutend, da die Produktion bei den Firmen Krupp, Hösch, Thyssen und Mannesmann auf Hochtouren lief, ebenso in Oberschlesien (insbesondere in Kattowitz). Es war dann aber tatsächlich klar, dass nach Abschluss des Waffenstillstandsvertrages von Compiègne, also nach dem Abtreten von Kaiser Wilhelm und nach der Räumung der Brunhildestellung sowie nach der Anerkennung der österreichisch-ungarischen Unabhängigkeitsbestrebungen, das deutsche Heer nicht mehr weiter kämpfen konnte, oder wie es Generaloberst Wilhelm Groener ausdrückte: der Gnade von Marschall Foch ausgeliefert war. Es wurde daher mit Bedacht von deutscher Seite als Inkrafttretungstermin des Waffenstillstandes der 11. 11., 11 Uhr 11 festgelegt (vgl. oben). Der Waffenstillstandsvertrag von Compiègne war also seinem Inhalt nach ambivalent. Es kam jedoch noch schlimmer. In Versailles hat G. Clemenceau unter dem Eindruck des nunmehr demobilisierten Deutschland, also des Wegfalls jeglicher Gefahr von Deutschland, eine Reihe weiterer Bedingungen durchgesetzt, und zwar gegen den Willen des US-Präsidenten W. Wilson sowie des britischen Premierministers Lyold George. Diese Bedingungen waren: – der deutsche Kaiser war nicht nur für seine Person zurückgetreten, sondern die Dynastie der Hohenzollern, d. h. die Monarchie überhaupt, war in Deutschland abgeschafft; – Deutschland wurde die alleinige Kriegsschuld zugewiesen; – es wurden, vor allem im Osten Deutschlands, Gebiete weggenommen, die weit über den Umfang der besetzten Gebiete hinausgingen (Elsass-Lothringen, Eupen-Malmedy, Westpreußen, Oberschlesien, Danzig); – sämtliche Kolonien wurden ersatzlos weggenommen;

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– die gesamte Flotte war zu internieren (später Selbstversenkung); – es wurde einseitig eine Reparationssumme von 200 Milliarden Reichsmark festgesetzt.

Dies war im Ergebnis eine klare Niederlage, die durch ein Täuschungsmanöver nunmehr seitens Clemenceaus in Compiègne und Versailles der deutschen Seite aufgezwungen wurde. Dies wurde auch allgemein so in der deutschen öffentlichen Meinung gesehen; das maßgebliche Schlagwort lautete: es ist alles nur durch Verrat so gekommen. Diese Verratsanschuldigung bezog sich einmal – auf die Aktivitäten von Reichskanzler Prinz Max am 9. November gegenüber Kaiser Wilhelm (Wolffsche Telegraphenanstalt) und dann gegenüber Hindenburg und Groener am 9. / 10. November (sog. Dolchstoß), – sowie zum anderen auf die Denaturierung des Waffenstillstandsvertrages vom 10. November 1918 durch G. Clemenceau von einem Rémis-Waffenstillstand hin zu der Versailler Niederlage10.

Zur Illustrierung dieser Verratsauffassung sei Folgendes angemerkt: – Man sang damals das sogenannte Frankreichlied („Und haben wir sie geschlagen die blutige Schlacht und haben mit Frankreich Frieden gemacht“) allgemein in folgender Fassung: „Und haben wir sie geschlagen die blutige Schlacht und haben Frankreich zuschanden gemacht“. – Das Deutschlandlied wurde damals folgendermaßen gesungen: „Deutschland Deutschland über alles und im Unglück jetzt erst recht, erst im Unglück kann sich zeigen ob die Liebe wahr und echt“. – Bei den schlagenden Verbindungen wurde zu Beginn der sogenannten Paukabenden folgender Vers skandiert: „Jeder Stoß ein Franzos“.

10 Vgl. hierzu auch das sog. Burschenschafterlied, das mit folgender Zusatzstrophe versehen wurde: … „Wir hatten gebauet ein stattliches Haus, auf Gott drin vertrauet in Sturm, Wind und Braus; das Band ist zerschnitten, war schwarz rot und gold und Gott hat es gelitten, wer weiß was er gewollt …“.

d) Baccarole

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– Das Versailler Verhandlungsergebnis wurde allgemein nicht als Vertrag angesehen und bezeichnet, sondern als ein Diktat von Seiten Clemenceaus, das keinerlei moralisch-verbindliche Wirkung habe.

Neben diesen Reaktionen auf die Geschehnisse im November 1918 gab es noch eine erhebliche krassere, vorgenommen von A. Hitler in seiner berühmten „Ermächtigungsrede“ am 21. März 1933 im Berliner Sportpalast. Er sah in den Novembervorgängen 1918 nicht nur eine Niederlage und objektive „Entmannung“11 des deutschen Volkes, sondern die Herbeiführung einer Gemütskrankheit des deutschen Volkes, die durch die Herabstufung des in jedem Falle unbesiegten Deutschland in die Verliererposition durch Täuschung und Manipulierung herbeigeführt worden sei. Er sprach von einem „Scherbenhaufen“, der von dekadenten, westlich orientierten Kreisen im November 1918 in Berlin angerichtet worden sei und nannte in diesem Zusammenhang Compiègne und Versailles. Er schrie die berühmten Worte „wir müssen gesunden“; so begründete er das Ermächtigungsvorhaben, das am nächsten Tag im Reichstag in Berlin durchgeführt werden sollte und wurde, und leitete damit diese nationalsozialistische Machtergreifung ein.

d) Baccarole (1) Allgemein gesehen, außerhalb der nationalen Sondersituation im Herbst 1918, kennt der Deutsche diese angeschnittene Problematik durchaus, also einen stimmungsmäßigen Tiefpunkt, der durch ungünstige Kräfte herbeigeführt wurde und der eine Art „Gemütskrankheit“ in sich einschließt. Man denkt in diesem psychologischen Bereich unwillkürlich an das berühmte musikalische Singspiel der „Baccarole“ aus „Hoffmanns Erzählungen“ von Jaques Offenbach, 4. Akt (Allegro assai), „Schifffahrtslied“ (Baccarole). Dessen Leitmotiv wird regelmäßig auf Französisch gesungen. Es ist aber eine rheinische Melodie, wohl ein Kindervers, bestehend aus 11

So E. Ludendorff in: Meine Kriegserinnerungen 1914 – 1918, S. 598.

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zwei bezaubernden Lyrismen, die in wiegendem Rhythmus eine einschmeichelnde Melodie ergeben. Die Tatsache, dass die rheinische Melodie, als solche klar erkennbar, stets französisch gesungen wird, bringt den zuhörenden Deutschen unvermeidlich in eine Unstimmigkeit mit sich selbst. Die französische, sprachliche Schärfe und begriffliche Klarheit, aber auch damit verbundene emotionale Oberflächlichkeit, will ihm nicht zu der schlichten Schönheit des Liedes passen. Dieses Gefühl ist noch hinnehmbar, solange der Deutsche sich sagen kann, im Grunde ist er es, der diesen rheinischen Charakter darstellt und geschaffen hat (Offenbach), nicht irgendjemand anders, etwa ein Franzose. (2) Wenn jetzt aber noch eine psychische Sondersituation hinzukommt, eine Niederlage oder ein Inferioritätsgefühl, so ist die Stimmung nicht zu halten. Ein Absinken in Inferioritätsdepressionen gegenüber der westlichen Kultur kann leicht eintreten. Ein stabiles, nationales Selbstwertgefühl ist nicht mehr möglich. In der Terminologie der damaligen politischen Szene in Berlin ist die „Gemütskrankheit“ vorprogrammiert. Der einzige Ausweg ist folgender: Inferioritätsgefühle können behoben werden einmal – durch Augmentierung der eigenen Position; – oder aber auch durch Absenken der Position des konkurrierenden Nachbarn.

Es gibt zu dieser Relativität z. B. Ausführungen von A. Schopenhauer12, der meint, dass er immer lieber neben einem kleineren Mann stehe als neben einem größeren Mann, um sein Selbstwertgefühl in der richtigen Akzentuierung zu sichern. Wenn er trotzdem einmal neben einem größeren Mann zu stehen kommt, so kann er sich helfen, indem er durch Augmentierung der eigenen Position sich gegenüber dem konkurrierenden Nachbarn erhöht oder, indem er durch Diminuierung der Position des Nebenmannes in jedem Fall die richtige Größendifferenz schafft. Dies war auch die Lösung des Problems für Hitler: Er brauchte einen Nebenmann, der kleiner war als er, der 12

Arthur Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit, 3. Kapitel.

d) Baccarole

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– also inferiorer war als er, – und auch feindlich beherrschbar war für den Fall, dass die Größendifferenz korrigiert werden musste.

(3) Er kam konsequenterweise auf die Figur des „Juden“ und zwar durch E. Ludendorff und dessen Begriff von den sogenannten „übernationalen Kräften“13, insbesondere nämlich den Juden. Die Juden waren nach Ludendorff die führenden Köpfe dieser übernationalen Kräfte, die sich immer gegen den Nationalismus Deutschlands stemmten. Die Juden waren prädestinierte Feinde des deutschen Nationalismus und des deutschen Selbstwertgefühls. Sie waren in dieser Auffassung nicht nur Gegner jeglichen Nationalismus, sondern gerade des deutschen, und dies aus folgenden Gründen: – der deutsche Nationalismus war eindeutig besonders, ausgeprägt und teilweise sogar messianisch (vgl. unten 9., FN 2: Bismarck, sowie oben 2.: Wilhelm II), an dem sich die übernationalen Kräfte besonders gern rieben; – ferner waren beim Kriegsende 1918 viele an dem Unglück maßgeblich Beteiligte gebildete Juden (so insbesondere Erzberger in Compiègne sowie Rathenau für Versailles); – hinzu kamen Hitlers Erfahrungen auf Wiener Baustellen (galizische Juden); – und schließlich spielte eine Rolle, dass das Äußere, die Erscheinung und das Auftreten der Juden mehr als französisch, gallisch, welsch (= deutsch-feindlich) interpretiert wurde, denn als ursprünglich deutsch. Allerdings wurde diese Auffassung, diese Feindbildinterpretation, als unsachgerecht und psychologisch dilletantisch allgemein angesehen. Sie war nur möglich auf dem Hintergrund der faschistischen Einstellung Hitlers, dem es gar nicht um sachgerecht oder falsch ging, sondern um schwach – stark – rauschhafte Willensorientiertheit (vgl. oben 4.) bzw. Motivationsbasis.

In den gebildeten Kreisen Deutschlands wurde diese Art von Feindbildinterpretation als „zynisch“ eingestuft, auch in gebildeten NS13 Gründungsverfassung des Tannenbergbundes 1928, 6. Abschnitt. Die Freimaurer, Juden, Marxisten und Jesuiten wurden als übernationale Kräfte mit potentieller, stets feindlicher, Stoßrichtung gegen das nationale Deutschland aufgefasst.

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8. Im Wald von Compiègne

Kreisen; H. Göhring führte diese Interpretation ad absurdum, indem er postulierte: „Wer Jude ist, bestimme ich!“! Die Juden waren also erstens noch inferiorer als die Deutschen nach dem unglücklichen Ausgang des Krieges; sie konnten zweitens aber auf Grund ihrer sozialen Stellung in Deutschland und Europa manipuliert, beherrscht und auch verfolgt werden. So fasste Hitler diese Abneigung gegen eine inferiore und andersartige und dabei aber beherrschbare Volksgruppe, um das eigene Selbstwertgefühl in die gewünschte Richtung stabilisieren zu können. Diese Auffassung beginnend bei einer Abneigung bis hin zu einer offenen Feindschaft schaukelte sich gegenseitig auf14. Es ist zugegebenermaßen nicht die nobelste Art, wenn auf die geschilderte Weise eine nationale Contenance gewonnen werden sollte, welche natürlicherweise nach den historischen Umständen nicht bestehen konnte. Die Westalliierten konnten sich darüber allerdings wenig wundern. Sie hatten in Compiègne und noch mehr in Versailles ihrem deutschen Nachbarn nachhaltig mitgespielt. Man konnte sich tatsächlich nicht wundern, dass auf irgend eine Weise eine neue nationale Contenance hergestellt werden musste, wenn es auch unsachgerecht und dilettantisch geschah (vgl. oben S. 109). Dies ist klar erkennbar der rätselhaftesten Bereich der jüngsten deutschen Geschichte. Man kann aber den historisch nun einmal vorhandenen Bereich einer intellektuellen Herabstufung bzw. intellektuel14 Beispiel: Die „Jüdin aus Vigbyholm“: Der Verf. verbrachte mit seiner Schwester die Sommerferien 1964 in einem Kunstfreizeitheim in Vighyholm / Schweden. Das Heim stand bereits seit 25 Jahren unter der Leitung einer deutschen Jüdin. Wir Kinder hatten die Aufnahmeprüfung für den Kunsthandwerkskurs bestanden und einen entsprechenden Platz in den Unterrichtsräumen und im Logisgebäude des Heims erhalten. Die Heimleiterin hatte durch Zufall erfahren, dass unser Vater höherer Wehrmachtsoffizier gewesen war. Sie nahm allein diese Tatsache zum Anlass, uns in den Probandenstatus ohne bestandener Prüfung zurückzustufen mit entsprechender, bescheidenerer Logiseinweisung. Wir Kinder waren verunsichert. Durch einen Zufall und eine Ungeschicklichkeit wurden mehrere Becher mit Preiselbeeren, die bei einem Unterrichtsgang gesammelt worden waren, im Speisesaal auf den Parkett verschüttet. Die Heimleiterin stellte uns Kinder zur Rede und führte unsere Ungeschicklichkeit auf unsere Herkunft von einem Wehrmachtsoffizier zurück.

d) Baccarole

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len Diskriminierung der Juden sowie dann auch einer tatsächlichen Bekämpfung und Vernichtung der Juden in dem Profil einer Identitätsschilderung des heutigen Deutschland nicht ausklammern. Man kann aber andererseits auch nicht annehmen, dass die damit zusammenhängende Problematik in der vorliegenden Untersuchung befriedigend gelöst werden kann. Eine gesonderte Untersuchung auf dem Hintergrund einer historischen Erörterung aller Einzelheiten ist notwendig15. Wenn also vorliegend nicht abschließend Stellung zur Problematik der Judendiskriminierung sowie Judenbekämpfung und Judenvernichtung genommen werden kann, so muss trotzdem die Untersuchung zur Identitätsfeststellung des heutigen Deutschland fortgesetzt werden können. Der Deutsche muss in der Lage sein, sich zuerst auf sich selbst und seinen Charakter zu besinnen, um sich sodann der schwierigen Problematik des rätselhaftesten Teils seiner jüngsten Geschichte widmen zu können. Das jüdische Volk würde ihm wohl eine solche Position zubilligen. Gerade nach dessen kultureller Tradition soll auch bei schwierigen und gravierenden Fehlern eine weitere in der Zukunft liegende Entwicklung, insbesondere zum Besseren, nicht abgeschnitten sein. Dies ist aber nur dann möglich, wenn man dem als schuldig bezeichneten zunächst einen Freiraum lässt, um die erwähnte Selbstbesinnung durchzuführen16.

15 Sie ist bereits erfolgt mit dem Titel: Judendiskriminierung und Judenvernichtung in Deutschland von 1933 – 1945; einige Grundgedanken sind teilweise bereits oben d) (2) skizziert; die Veröffentlichung ist für 2012 vorgesehen. 16 So im Ergebnis schon die berühmte Bibelstelle aus dem Alten Testament (Jesaias): „Der Herr zürnt nicht ewiglich und vergilt dir nicht nach deiner Missetat“.

9. Folgerungen Wenn auch zuweilen den Deutschen suggeriert wird, sie seien einzig und besonders, zumindest gewesen (so der seinerzeitige US-Präsident G. Bush), insbesondere weil sie zwei Kriege hintereinander gegen den Rest der Welt geführt haben, im Jahr 1945 sich ein staatliches Totalende ohne Beispiel geleistet haben und danach ein Wirtschaftswunder ebenfalls beispielloser Art zustande gebracht haben, so muss man nüchternerweise doch feststellen, dass der Deutsche als solcher nicht völlig ungewöhnlich ist. Vielmehr sind die Zeitabläufe und Kausalumstände es, die in den zeitgeschichtlichen Zusammenhängen der vorigen Jahrhunderte, insbesondere bei Compiègne, so unwahrscheinlich und teilweise absichtlich unwahrscheinlich waren, dass es sich schon – in mathematischen Formulierungen – um sogenannte „Schweinereien der Natur“ (Begriff aus der Wahrscheinlichkeitsrechnung) handelt, nicht um Kausalabläufe, mit denen man üblicherweise rechnen muss. Die Deutschen brauchen sich insgesamt subjektiv nicht zurechnen zu lassen, was seinerzeit in Berlin, Compiègne und Versailles geschehen ist und was zu dem anschließenden Ermächtigungsvorgang in Berlin (A. Hitler) geführt hat. Insofern ist der Deutsche grundsätzlich normal, nur sind es die damaligen Zeiten nicht gewesen1. Auf diesem Hintergrund ist aber doch Folgendes festzustellen: Aufgrund seiner geographischen Mittellage in Europa hat der Deutsche keinen natürlichen geographischen Schutz, wie etwa England oder Italien; er muss „Rücken an Rücken“ aneinander stehen, um sich zu behaupten: andernfalls läuft er Gefahr, alles zu verlieren2.

1 So sah es auch etwa Thomas Mann (vgl. hierzu den „Zauberberg“, 3. Kap. 1. Abschnitt: „Der Berg ist heute zaubertoll und wenn ein Irrlicht euch die Wege weisen soll, so dürft ihr’s so genau nicht nehmen“).

9. Folgerungen

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Dies bedeutet, dass der Deutsche einen besonderen Nationalismus braucht, aus dieser seiner erklärten Sondersituation heraus, herkommend vom „Sacrum-Imperium“ und seiner damit verbundenen schon damals außerordentlichen Rolle in Europa. In diesem Sinne war einst das „Deutschlandlied“ gemeint, das in dieser Form (der 1. Strophe) wohl keine andere Nation gesungen hat. In der Praxis heißt dies weiter, dass der Deutsche seinen bekannten Perfektionismus nicht verleugnen kann und will, um sich mit Geradlinigkeit in der Mitte Europas zu behaupten. Hinzu kommt dann sein germanisches Naturell, ebenfalls Geradlinigkeit und Ehrlichkeit. Diese grundsätzliche Normalität zuzüglich der geographischen Mittellage und der daraus folgenden Besonderheiten und weiterhin zuzüglich seines spezifischen Naturells, steht also dem Deutschen naturgemäß an und ist ihm sozusagen von Natur aus gegeben. Zu diesem doppelten Profil muss er denn auch stehen. Wenn er aber heutzutage nach allem, was geschehen ist, dies tatsächlich tun will, so stößt er auf Schwierigkeiten. Wenn er sich in seinem historisch herausgebildeten Nationalprofil realisieren will, so scheitert er an zwei Punkten: – Moralisch kommt er nicht über die mit der Judendiskriminierung und Judenvernichtung im Dritten Reich zusammenhängenden Fragen hinweg, – praktisch kommt er nicht hinweg über zwei verlorene Weltkriege, die nun einmal objektiv geschehen sind und ihm natürlich angelastet werden.

Der Spagat gelingt nicht – einmal in historisch gewachsenem Deutschtum zu wurzeln, – und zum andern sich, nach allem was geschehen ist, zu realisieren und anerkannt zu werden. 2 So Otto v. Bismarck, Gedanken und Erinnerungen Kap. 2 Abschn. 3: „Wir Deutschen, in der Mitte Europas gelegen, müssen mehr zusammenhalten als andere Nationen. Wir müssen eins sein, wenn wir nicht verloren sein wollen. Wir haben keinen natürlichen Schutz und müssen Rücken an Rücken stehen, wenn nicht alle Opfer der Vergangenheit für uns verloren sein sollen“.

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9. Folgerungen

Als Lösung in diesem Dilemma kommt nur ein Kunstgriff in Frage: Auf der Basis der historisch gewachsenen Verwurzelung, der alten deutschen Identität, muss eine neue Identität in einer neu gebildeten Einheit gefunden werden. Und das ist nach Lage der Dinge die, teilweise im eigenen Bereich und darüber hinaus in der europäischen Umgebung befindliche, Gemeinschaft Europas. Dies ist eine sowohl vom alten herkommende, also alte Identität als auch eine neue Identität, die in der heutigen Reflexion anerkannt wird. In der deutschen Geschichte gibt es für einen derartigen an sich höchst ungewöhnlichen Vorgang ein berühmtes Beispiel: Es ist dies die preußische Identität, die in einem 1871 neu gebildeten Bundesstaat „Deutsches Reich“ zu einer neuen staatlichen und nationalen Identität kam, nämlich zu einer europäischen Macht. Diese Identitätsgrundlage Europa muss man sich notfalls etwas kosten lassen. Erfahrungsgemäß ist ein Meilenstein auf dem Weg zur Bildung einer neuen Staatengemeinschaft (Identität) die Bildung einer neuen Währung. So war es z. B. schon beim Norddeutschen Bund zur Vorbereitung der Bildung des Staates „Deutsches Reich“ (Mark statt Taler). Ein solcher Schritt als Vorreiter einer europäischen Staatenbildung ist notwendig und richtig. Wahrscheinlich wäre auch schon die Wiedervereinigung 1989 / 90 nicht möglich gewesen ohne die EU-Integration. Die Angst vor einem übermächtigen und unberechenbaren Deutschland wurde dadurch beseitigt. Das Ziel wäre also ein Bundesstaat Europa, zunächst vielleicht mit wirtschaftspolitischer Ausrichtung. Die Hauptstadt hieße allerdings nicht Berlin, sondern Paris. Den heutigen Deutschen würde dies nicht allzu sehr schrecken. In Paris lässt es sich leben. Was ist nun aber zu tun, wenn die europäische Option – also die europäische Identitätsbildung – nicht ohne weiteres möglich ist. Dies könnte etwa sein, wenn England und Frankreich obstruieren aufgrund ihres historisch gewachsenen Nationalismus sowie wegen ihrer immer

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noch vorhandenen Weltgeltung und ihres teilweise noch vorhandenen Empires. Auch ist vorstellbar, dass keine ausreichende deutsche, nationale Substanz mehr vorhanden ist, um eine geistig-nationale Eigenständigkeit – wenn auch nur im europäischen Rahmen und im europäischen Identitätsgedanken – erfolgversprechend anzustreben. Die Sachlage ist dann folgende: – die Verwurzelung im Deutschtum war und ist, nach allem was geschehen ist, unmöglich; – irgendeine staatliche Identität braucht aber jeder, und in irgendeiner Form hat sie auch jeder, ohne dass sie ihm in dieser Form allerdings unbedingt auch behagen müsste; jeder ist „Zoon politicon“; – angesichts der allgemeinen Globalisierung führt dies wahrscheinlich zu einem nach und nach verwässernden Deutschtum unter Betonung lediglich der individuellen Komponenten im Profilerscheinungsbild des Einzelnen und der Nation als solcher; dies wird geschehen unter Abstrahierung von allen deutschnationalen Grundlagen und Gemeinsamkeiten unter Verwendung von häufigen Amerikanismen und in Anlehnung an die amerikanische Lebensauffassung (life style).

Genau diese Kombination sieht man oft heute in Deutschland, insbesondere in den Medien (TV)3. Wenn man nun die Wahl hat, – sich in diesem Comedy-Niveau zu versuchen, – oder aber sich, auch gegen Widerstände, um die neue europäische Identitätsbildung, im Grunde also eine Föderationsbildung, zu bemühen; – und eine andere Wahl gibt es im Grunde nicht – dann kann die Wahl eigentlich nicht schwer fallen. 3 Beispiel: Dirty line / Comedy Darbietung in einer öffentlichen Rundfunkanstalt Deutschlands vom Samstag, den 15. 10. 2011: Versicherungsangestellter Will sitzt in einem Schnellzug und klatscht ständig in die Hände; sein Mitreisender Sam fragt: „Why that clapping and banging of your hands?“ Darauf hört er die Antwort: „That is to remind me that I have to change in Klatschenhausen“; die Antwort ist dann: „O my Goodness, what a blessing, that you havn’t to change in Pforzheim“.

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9. Folgerungen

Fragt man sich nun nach dem Reinertrag der vorstehenden Ausführungen, so lässt sich feststellen: Die zur Zeit noch letzte und umfassendste Beurteilung des objektiven Deutschtums sowie der subjektiven, deutschen Selbsteinschätzung, die von Th. Mann stammt, mündet4 in die berühmten Worte: „Gott sei deiner Seele gnädig, mein Freund, mein – Vaterland.“

Diese Worte zielen auf eine Qualifizierung des herbeigesehnten Gnadenerweises im Sinne des deutschen Protestantismus, insbesondere im Sinne der lutherischen „Kontritionslehre“. Diese lässt sich so zusammenfassen: – Es besteht kein Anspruch auf den erhofften Gnadenerweis, also auf eine befriedigende Identitätslösung im heutigen Zeitgeschehen der Deutschen; – es besteht kein Kausalverlauf, der zu dem gewünschten Ergebnis einer befriedigenden Identitätsbildung erkennbar und in absehbarer Zeit hinführen würde; – festzustellen ist lediglich eine „Zerknirschung“ (Kontrition) angesichts der eigenen Unvollkommenheit und das heißt hier: angesichts der deutschen Selbsteinschätzung in der Gegenwart, die irgendwann zu einem externen, im oben genannten Sinne „gnädigen“ Kausalverlauf und Kausalergebnis führen könnte.

Dies ist im tatsächlichen historischen Ergebnis wenig. Die vorliegend ins Auge gefasste europäische Identitätsbildung führt zwar mit großer Wahrscheinlichkeit zu Schwierigkeiten im außenpolitischen Bereich, da eine Obstruktion seitens Englands und auch Frankreichs gegen eine europäische Föderation eben vorhanden ist. – Die Franzosen zumindest werden aber einsehen, dass eine europäische Föderation, und das heißt dann auch immer natürlich ein Abgehen von Souveränitätsrechten althergebrachter Art, plus ein europäisch-föderatives Deutschland auf Dauer auch für sie eine Bereicherung wäre, mehr jedenfalls, als ein im Amerikanismus verwäs-

4 Im Schlusskapitel des Romans: Doktor Faustus, New York 1948 1. Aufl. Schlußkapitel.

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serndes Deutschland im Rahmen einer ebenfalls amerikanisierenden und globalisierenden Europäischen Gemeinschaft. – In Großbritannien ist die Situation wohl etwas schwieriger. Zumindest die USA werden aber einsehen, dass ein europäisch-fundiertes Deutschland eine Bereicherung auch für sie darstellen würde, mehr jedenfalls, als ein mehr oder weniger amerikanisches Deutschland, welches auf Dauer als selbständige staatliche Einheit in Mitteleuropa kaum eine identitätsrelevante Stellung einnehmen könnte.

Die USA werden dies ihrem ständigen Seniorpartner UK mitteilen. Wenn trotzdem die Entscheidung für eine europäische Föderation seitens der (Engländer und) Franzosen schwierig werden sollte, bei der entscheidenden Frage also, ob sie wirklich einen Bundesstaat mit dem wiedervereinigten Deutschland wollen, so wäre abschließend auf Folgendes hinzuweisen: – Die Franzosen und Engländer wissen genau, dass in den unseligen Novembertagen 1918 Deutschland sich, vorsichtig ausgedrückt, nicht als der Schwächere erwies im Vergleich zur Entente; es war lediglich Zufall – accidens ingerentia –, dass es so kam, wie geschehen – nicht war es Notwendigkeit.

Es ist dann aber ein Gebot der Fairness, Deutschland wieder zu einer angemessenen Weltstellung zurückzuverhelfen.