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German Pages [347] Year 2022
JUS PRIVATUM Beiträge zum Privatrecht Band 261
Johanna Croon-Gestefeld
Gemeininteressen im Privatrecht Eine Betrachtung der privatrechtlichen Leiterzählung
Mohr Siebeck
Johanna Croon-Gestefeld, geboren 1985; Studium der Rechtswissenschaften an der Bucerius Law School, Hamburg; 2009 Erstes Juristisches Staatsexamen; 2010 Master in Comparative, European and International Laws (EUI, Florenz); 2013 Doctor of Laws (EUI, Florenz); 2015 Zweites Juristisches Staatsexamen; 2020 Habilitation; derzeit Lehrstuhlvertretung am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Rechtstheorie, Universität zu Köln. orcid.org/0000-0002-5272-6204
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft – Projektnummer 491084902. ISBN 978-3-16-161562-7 / eISBN 978-3-16-161563-4 DOI 10.1628/ 978-3-16-161563-4 ISSN 0940-9610 / eISSN 2568-8472 (Jus Privatum) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde Druck in Tübingen aus der Garamond gesetzt und auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt. Es wurde von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden. Printed in Germany.
Vorwort Die Arbeit wurde im Mai 2020 fertiggestellt und im Dezember 2020 von der Bucerius Law School, Hamburg als Habilitationsschrift angenommen. Für die Veröffentlichung habe ich Literatur und Rechtsprechung bis Herbst 2021 aktualisiert und Anregungen aus den Habilitationsgutachten aufgenommen. Mein herzlicher Dank gilt meiner akademischen Lehrerin und Mentorin, Professorin Dr. Anne Röthel. Sie hat mein Arbeiten und mein Verständnis von Rechtswissenschaft entscheidend geprägt. Ich danke ihr für ihre stete Gesprächsbereitschaft, ihre hilfreichen Anmerkungen, ihre fortwährende Unterstützung, ihren guten Zuspruch während des Projekts und das angenehme Arbeitsumfeld am Lehrstuhl. Ebenfalls sehr herzlich möchte ich mich bei Professor Dr. Christian Bumke für viele wertvolle Denkanstöße, die er mir mit auf den Weg gegeben hat, sowie für die Erstellung des Zweitgutachtens bedanken. Außerdem gebührt Professor Dr. Gregor Bachmann großer Dank für das Drittgutachten. Die Veröffentlichung der Habilitationsschrift wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert. Für diese finanzielle Unterstützung möchte ich mich ebenfalls bedanken. Aus tiefstem Herzen danke ich Familie, Freunden und Wegbegleitern, die mich in der Zeit der Abfassung der Habilitationsschrift begleitet haben. Diejenigen, die gemeint sind, werden sich angesprochen fühlen. Besonders erwähnen möchte ich aber meinen Mann Jan, der mich in all der Zeit stets verständnisvoll unterstützt hat, und meinen Sohn Linus. Sein Wissensdurst und seine Energie sind mir ein Vorbild. Ihm ist das Buch in Liebe gewidmet. Hamburg, Februar 2022
Johanna Croon-Gestefeld
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 I.
Gemeinwohl – Gemeininteressen – Individualinteressen . . . . . . 3
II. Verhältnis zu verwandten Themen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1. Das Verhältnis von Gemeininteressen zur Wertungsjurisprudenz . 7 2. Das Verhältnis von Gemeininteressen zur Materialisierung . . . . 10 3. Das Verhältnis von Gemeininteressen zum Steuerungspotenzial des Privatrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
III. Historische Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 IV. Methode der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 V. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
Kapitel 1: Die privatrechtliche Leiterzählung: Gemeininteressen als Fremdkörper im Privatrecht . . . . . . . . 21 I.
Gefahr und Mehrwert einer Selbstbeschreibung . . . . . . . . . . . 22
II. Rechtswissenschaft und Leiterzählung . . . . . . . . . . . . . . . . 25 III. Die freiheitlich-individualistische Leiterzählung . . . . . . . . . . 29 1. Der individualistische Grundriss des Privatrechts . . . . . . . . . 29 a) Der liberale Individualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 b) Privatautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 c) Öffentliches Recht und Privatrecht . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2. Das privatrechtliche Sozialmodell der materialen Ethik . . . . . . 33 3. Die Überformung durch das GG und die Europäischen Verträge . 35 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 IV. Rechtshistorische Widerlegung der Leiterzählung . . . . . . . . . 38 1. Das soziale Gesicht des BGB um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . 38
VIII
Inhaltsverzeichnis
2. Wieackers tendenziöse Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 3. Kontaktaufnahmen des Privatrechts mit der Verfassung . . . . . . 41
V. Gesucht: Fürsprecher der Leiterzählung . . . . . . . . . . . . . . . 46 1. Einflussreiche Stimmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 a) Diederichsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 b) Zöllner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 c) Reuter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 d) Picker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 2. Die Essenz der Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 3. Die Selbsteinschränkung der Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 4. Weitere freiheitlich-individualistische Stellungnahmen . . . . . . . 56 5. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 VI. Alternative Privatrechtsverständnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 1. Zur „politischen Funktion der Privatrechtsordnung“ . . . . . . . . 59 a) Raiser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 b) Wiethölter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 2. Konstitutionalisierung des Privatrechts . . . . . . . . . . . . . . . 61 a) Canaris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 b) Neuner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 c) Stimmen der Wissenschaft vom öffentlichen Recht . . . . . . . 63 d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 3. Europäisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 a) Riesenhuber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 b) Heiderhoff und Grundmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 4. Alternative methodische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 a) Karsten Schmidt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 b) Wagner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 5. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 VII. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
Kapitel 2: Erklärungen für die Beharrungskraft der Leiterzählung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 I.
Rechtliche Erklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 1. Inhaltliche Überzeugungskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 2. Absorptionskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 3. Prinzipienorientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 4. Dogmatische Anschlussfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 a) Formales und materiales Dogmatikverständnis . . . . . . . . . 84 b) Formales Dogmatikverständnis und Leiterzählung . . . . . . . 86 c) Materiales Dogmatikverständnis und Leiterzählung . . . . . . 86
Inhaltsverzeichnis
IX
II. Außerrechtliche Erklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 1. Diskursanalytische Erklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 a) Diskursanalytische Referenzpunkte . . . . . . . . . . . . . . . 88 b) Diskursinterne Beharrungsmechanismen . . . . . . . . . . . . 92 aa) Verkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 bb) Ausschließlichkeitsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 cc) Standardisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 dd) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 2. Soziologische Erklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 a) Eigenarten der juristischen Ausbildung . . . . . . . . . . . . . 98 b) Eigenarten des privatrechtswissenschaftlichen Feldes . . . . . . 101 aa) Einführung in Feld und Habitus . . . . . . . . . . . . . . . 102 bb) Feldspezifische Beharrungsmechanismen . . . . . . . . . . 104 (1) Institutionelle Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . 104 (2) Personal der Privatrechtswissenschaft . . . . . . . . . . 110 (a) Mangel an Perspektivenvielfalt . . . . . . . . . . . . 110 (b) Matthäus-Effekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 (c) Schulenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 (3) Privatrechtswissenschaftlicher Habitus . . . . . . . . . 115 (a) „Recht als Wissenschaft“ . . . . . . . . . . . . . . . 115 (aa) Wissenschaft und Systematisierung . . . . . . 116 (bb) Dogmatik-Zentrierung der Privatrechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 (cc) Verhältnis zur Leiterzählung . . . . . . . . . . 119 (b) Recht als „Kulturprodukt“ . . . . . . . . . . . . . . 119
III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
Kapitel 3: Umweltschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 I.
Umweltschutz durch Privatrecht: Eine Verortung . . . . . . . . . . 125 1. Begriffliche Klärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 2. Breite Verankerung des Umweltschutzes im Recht . . . . . . . . . 126 3. Wiedererstarktes Interesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
II. Typisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 1. Individualinteressen vereint gegen Umweltschutzinteressen . . . . 131 a) Nichtigkeit wegen Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot . . . 131 b) Nichtigkeit aufgrund Sittenwidrigkeit . . . . . . . . . . . . . . 134
2. Interessen des Anspruchstellers und Umweltschutz gerichtet gegen Interessen des Anspruchsgegners . . . . . . . . . . . . . . . 135 a) Sachmängelgewährleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 b) Nachbarrechtliche Ansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 c) Haftungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
X
Inhaltsverzeichnis
3. Interessen des Anspruchstellers gegen Interessen des Anspruchsgegners und Umweltschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 4. Gleichlauf von Individualinteressen und dem Gemeininteresse an Umweltschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148
III. Weitergehende Beobachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 1. Individualgeschützte Umwelt und Umwelt mit Gemeingutcharakter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 a) Individualgeschützte Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 b) Als Gemeingut geschützte Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . 153 2. Legislative und judikative Verarbeitung . . . . . . . . . . . . . . . 154 3. Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 a) Umweltschutz als Gesetzeszweck . . . . . . . . . . . . . . . . 158 b) Festlegung vertraglicher Außenschranken . . . . . . . . . . . . 159 c) Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe . . . . . . . . . 160 d) Verweis auf Art. 20a GG? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 4. Praktische Bedeutsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 5. Bezug zur Leiterzählung des Privatrechts . . . . . . . . . . . . . . 163
Kapitel 4: Infrastruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 I.
Infrastruktur und Privatrecht: Eine Verortung . . . . . . . . . . . 168 1. Begriffliche Klärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 2. Förderung von Infrastruktur als Gemeininteresse . . . . . . . . . 169
II. Typisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 1. Gleichgerichtete Individualinteressen gegen das Gemeininteresse an der Förderung von Infrastruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 2. Individualinteressen einer Partei vereint mit Infrastrukturinteressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 a) Enteignungen zugunsten privater Infrastrukturprojekte . . . . 173 b) Der bürgerlich-rechtliche Aufopferungsanspruch und Infrastrukturprojekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 aa) Entwicklung des bürgerlich-rechtlichen Aufopferungsanspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 bb) Der bürgerlich-rechtliche Aufopferungsanspruch bei Infrastrukturprojekten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 c) Haftung für Infrastrukturprojekte . . . . . . . . . . . . . . . . 180 3. Verträge zwischen Privaten und das Gemeininteresse an der Förderung von Infrastruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 a) Besonderheiten des Regulierungsrechts . . . . . . . . . . . . . 183 b) Energierecht und kollektive Versorgungsgewähr . . . . . . . . 185 aa) Kontrahierungszwänge im Energierecht . . . . . . . . . . 186 bb) Einseitige Preisänderungsrechte im Energierecht . . . . . . 187 cc) Baukostenzuschüsse im Energierecht . . . . . . . . . . . . 189 dd) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190
Inhaltsverzeichnis
XI
III. Weitergehende Beobachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 1. Gewichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 2. Legislative und judikative Verarbeitung . . . . . . . . . . . . . . . 192 a) Betonung legislativer Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . 192 b) Unionsrechtliche Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 3. Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 a) Gesetzeszweck und Regulierungsziel . . . . . . . . . . . . . . 196 b) Festlegung vertraglicher Außenschranken . . . . . . . . . . . . 197 c) Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe . . . . . . . . . . . . . 197 d) Ergänzende Vertragsauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 e) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 4. Praktische Bedeutsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 5. Bezug zur Leiterzählung des Privatrechts . . . . . . . . . . . . . . 200
Kapitel 5: Nichtdiskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 I.
Nichtdiskriminierung im Privatrecht: Eine Verortung . . . . . . . 203 1. Definition und Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 2. Nichtdiskriminierung als Gemeininteresse . . . . . . . . . . . . . 208 3. Rechtlicher Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209
II. Typisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 1. Reaktives Nichtdiskriminierungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . 211 a) Das Diskriminierungsverbot im allgemeinen Zivilrechtsverkehr 212 aa) Bankenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 bb) Recht des Scorings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 cc) Mietrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 dd) Hausverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 ee) Energieversorgungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 ff) Versicherungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222
b) Entwicklung: Die Wirkung verfassungsrechtlicher Gleichheitssätze zwischen Privaten . . . . . . . . . . . . . . . . 225 aa) BVerfG: Der Stadionverbots-Beschluss . . . . . . . . . . . 226 bb) BGH: Das Hassredevorwurf-Urteil . . . . . . . . . . . . . 227 cc) EuGH: Von Defrenne zu Egenberger . . . . . . . . . . . . 228 2. Proaktives Nichtdiskriminierungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . 231 a) Privat initiierte positive Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . 232 b) Die Diversitäts-Vorgaben des DCGK . . . . . . . . . . . . . . 233 c) Starre Quoten und Zielgrößenvorgaben für die Besetzung von Führungsebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234
III. Weitergehende Beobachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 1. Individuelles Interesse und Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 2. Legislative und judikative Verarbeitung . . . . . . . . . . . . . . . 238
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Inhaltsverzeichnis
3. Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 a) Spezielle nichtdiskriminierungsrechtliche Gesetzgebung . . . . 240 b) Festlegung von Außenschranken für rechtsgeschäftliches Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 c) Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe . . . . . . . . . 243 d) Verweis auf Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 4. Praktische Bedeutsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 5. Bezug zur Leiterzählung des Privatrechts . . . . . . . . . . . . . . 246
Kapitel 6: Umweltschutz, Infrastruktur, Nichtdiskriminierung: Übergreifende Beobachtungen . . . . . 251 I.
Individualinteresse und Gemeininteresse . . . . . . . . . . . . . . . 251
II. Legislative und judikative Verarbeitung . . . . . . . . . . . . . . . 252 III. Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 1. Spezielle Gesetzgebung mit Bezug zu Gemeininteressen . . . . . . 253 2. Festlegung von Außenschranken für rechtsgeschäftliches Handeln 254 3. Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe . . . . . . . . . . . 255 4. Mediatisierte Verarbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 IV. Praktische Bedeutsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 V. Bezug zur Leiterzählung des Privatrechts . . . . . . . . . . . . . . 258
Kapitel 7: Folgerungen für die Leiterzählung des Privatrechts 261 I.
Realistische Beschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261
II. Überzeichnungen überdenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 III. Keine Zeit für neue Leiterzählungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 265
Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323
Abkürzungsverzeichnis a. A. anderer Ansicht a. F. alte Fassung ABl. Amtsblatt Abs. Absatz/Absätze AcP Archiv für die civilistische Praxis AEUV Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union AG Die Aktiengesellschaft (Zeitschrift)/Amtsgericht AGB Allgemeine Geschäftsbedingungen AGG Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz AJCL American Journal of Comparative Law AktG Aktiengesetz allg. allgemein(e/en/er) ALR Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten Alt. Alternative AMG Arzneimittelgesetz Anh. Anhang Anm. Anmerkung AöR Archiv des öffentlichen Rechts Arch. Begriffsgesch. Archiv für Begriffsgeschichte Art. Artikel AT Allgemeiner Teil Aufl. Auflage AVB Allgemeine Versorgungsbedingungen AVBElTV Verordnung über Allgemeine Bedingungen für die Elektrizitätsversorgung von Tarifkunden AVBGasV Verordnung über Allgemeine Bedingungen für die Gasversorgung von Tarifkunden AVBWasserV Verordnung über Allgemeine Bedingungen für die Versorgung mit Wasser BAG Bundesarbeitsgericht BAGE Entscheidungssammlung des Bundesarbeitsgerichts BauR Baurecht Bay. AWG Bayerisches Gesetz über verunstaltende Außenwerbung Bay. GVBl. Bayerisches Gesetz- und Verordnungsblatt BB Betriebs-Berater BBodSchG Gesetz zum Schutz vor schädlichen Bodenveränderungen und zur Sanierung von Altlasten Bd. Band Bearb. Bearbeiter/Bearbeiterin
XIV
Abkürzungsverzeichnis
bearb. bearbeitet BeckOK Beck’scher Online-Kommentar Begr. Begründer BBergG Bundesberggesetz Beschl. Beschluss BGB Bürgerliches Gesetzbuch BGBl. Bundesgesetzblatt BGH Bundesgerichtshof BGHZ Entscheidungssammlung des Bundesgerichtshofes in Zivil sachen BImSchG Gesetz zum Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen durch Luftverunreinigungen, Geräusche, Erschütterungen und ähnliche Vorgänge BNatSchG Gesetz über Naturschutz und Landschaftspflege BR-Drs. Drucksache des Deutschen Bundesrates bspw. beispielsweise BT-Drs. Drucksache des Deutschen Bundestages BuchPrG Gesetz über die Preisbindung für Bücher BVerfG Bundesverfassungsgericht BVerfGE Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts BVerfGG Gesetz über das Bundesverfassungsgericht BVerwG Bundesverwaltungsgericht BVerwGE Entscheidungssammlung des Bundesverwaltungsgerichts bzw. beziehungsweise CCZ Corporate Compliance Zeitschrift CDE Cahiers de droit européen COM Europäische Kommission Conn. L. Rev. Connecticut Law Review CSR Corporate Social Responsibility D. Digesten d. h. das heißt DB Der Betrieb DCGK Deutscher Corporate Governance Kodex DDR Deutsche Demokratische Republik ders. derselbe dies. dieselbe(n) DJT Deutscher Juristentag DJZ Deutsche Juristen-Zeitung DÖV Die Öffentliche Verwaltung DRiG Deutsches Richtergesetz DrittelBG Drittelbeteiligungsgesetz Duke L. J. Duke Law Journal DVBl. Das Deutsche Verwaltungsblatt DZPhil Deutsche Zeitschrift für Philosophie e.V. eingetragener Verein ebd. ebenda EEG Erneuerbare-Energien-Gesetz EG Europäische Gemeinschaft
Abkürzungsverzeichnis
EGV Einl. EMRK
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Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Einleitung Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grund freiheiten EnWG Energiewirtschaftsgesetz EnWZ Zeitschrift für das gesamte Recht der Energiewirtschaft Erstdr. Erstdruck Erstveröff. Erstveröffentlichung ErwG Erwägungsgrund etc. et cetera EU Europäische Union EuGH Gerichtshof der Europäischen Union EUGRCh Charta der Grundechte der Europäischen Union EuR Europarecht EurUP Zeitschrift für Europäisches Umwelt- und Planungsrecht EUV Vertrag über die Europäische Union EuZA Europäische Zeitschrift für Arbeitsrecht EWiR Entscheidungen zum Wirtschaftsrecht f./ff. folgende FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung Fn. Fußnote(n) FS Festschrift FüPoG I Erstes Führungspositionengesetz FüPoG II Zweites Führungspositionengesetz GA Generalanwalt Ga. L. Rev Georgia Law Review GasGVV Verordnung über Allgemeine Bedingungen für die Grund versorgung von Haushaltskunden und die Ersatzversorgung mit Gas aus dem Niederdrucknetz GenTG Gesetz zur Regelung der Gentechnik GerSR German Studies Review GG Grundgesetz ggf. gegebenenfalls ggü. gegenüber GLJ German Law Journal GmbH Gesellschaft mit beschränkter Haftung GmbHG Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung GPR Zeitschrift für Gemeinschaftsprivatrecht grds. grundsätzlich GVG Gerichtsverfassungsgesetz GWB Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen HaftPflG Haftpflichtgesetz Harv. L. Rev. Harvard Law Review Hastings L. J. Hastings Law Journal HGB Handelsgesetzbuch HKK Historisch-kritischer Kommentar hL herrschende Lehre HRLRev Human Rights Law Review
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Abkürzungsverzeichnis
Hrsg. Herausgeber(innen) hrsg. herausgegeben HS Halbsatz i. d. F. in der Fassung i. E. im Ergebnis i. S. im Sinne i. V. in Verbindung ICON International Journal of Constitutional Law inkl. inklusive insbes. insbesondere Inst. Institutionen Int. J. Comp. L.L.I.R. The International Journal of Comparative Labour Law and Industrial Relations Iowa L. Rev Iowa Law Review JA Juristische Arbeitsblätter JEP Journal of Economic Perspectives JETL Journal of European Tort Law JöR Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart Jura Juristische Ausbildung JuS Juristische Schulung JZ Juristenzeitung KG Kammergericht KJ Kritische Justiz Kobe U. L. Rev. Kobe University Law Review krit. kritisch KritV Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechts wissenschaft KZfSS Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie LG Landgericht Losebl. Loseblatt LPartG Lebenspartnerschaftsgesetz m. w. N. mit weiteren Nachweisen Maastricht J. Eur. Maastricht Journal of European and Comparative Law & Comp. L. MDR Monatsschrift für deutsches Recht MitbestEG Gesetz zur Ergänzung des Gesetzes über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten und Vorständen der Unternehmen des Bergbaus und der Eisen und Stahl erzeugenden Industrie MitbestG Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer MontanMitbestG Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten und Vorständen der Unternehmen des Bergbaus und der Eisen und Stahl erzeugenden Industrie MüKoBGB Münchner Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch NAV Verordnung über Allgemeine Bedingungen für den Netz anschluss und dessen Nutzung für die Elektrizitätsversorgung in Niederspannung
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NDAV
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Verordnung über Allgemeine Bedingungen für den Netz anschluss und dessen Nutzung für die Gasversorgung in Niederdruck Nds. NatSchG Niedersächsisches Naturschutzgesetz NJ Neue Justiz NJW Neue Juristische Wochenschrift NJW-RR Neue Juristische Wochenschrift – Rechtsprechungs-Report No. Numero Nr. Nummer NundR Netzwirtschaften und Recht NuR Natur + Recht NVwZ Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht NZA Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht NZBau Neue Zeitschrift für Baurecht und Vergaberecht NZG Neue Zeitschrift für Gesellschaftsrecht NZM Neue Zeitschrift für Miet- und Wohnungsrecht OLG Oberlandesgericht Otago L. Rev. Otago Law Review Oxford J. Legal Stud. Oxford Journal of Legal Studies ProdHaftG Produkthaftungsgesetz RabelsZ Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht RdA Recht der Arbeit RdE Recht der Energiewirtschaft RHaftPflG Reichshaftpflichtgesetz RG Reichsgericht RGBl. Reichsgesetzblatt RGRK Reichsgerichtsrätekommentar RGZ Entscheidungssammlung des Reichsgerichtshofs RL Richtlinie Rn. Randnummer(n) RphZ Rechtsphilosophie Rs. Rechtssache Rspr. Rechtsprechung RTD eur. Revue trimestrielle de droit européen RW Rechtswissenschaft S. Cal. L. Rev. Southern California Law Review S. Seite(n)/Satz (Sätze) s. siehe SGB Sozialgesetzbuch Slg. Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Euro päischen Union und des Gerichts Erster Instanz Sp. Spalte st. ständige Stanford L. Rev. Stanford Law Review StGB Strafgesetzbuch StPO Strafprozeßordnung SZ Süddeutsche Zeitung
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TabStG Tabaksteuergesetz TA-Lärm Sechste Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum BundesImmissionsschutzgesetz (Technische Anleitung zum Schutz gegen Lärm) TA-Luft Erste Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum BundesImmissionsschutzgesetz (Technische Anleitung zur Rein haltung der Luft) u. a. unter anderem/und andere U. Chi. L. Rev. University of Chicago Law Review U. Pa. L. Rev. University of Pennsylvania Law Review U.S. United States Reports (Supreme Court) UAbs. Unterabsatz Übers. Übersetzung UKSC United Kingdom Supreme Court UmweltHG Umwelthaftungsgesetz UNCh Charta der Vereinten Nationen UPR Umwelt- und Planungsrecht Urt. Urteil US United States USchadG Gesetz über die Vermeidung und Sanierung von Umwelt schäden UVPG Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung v. versus/vom/von v. a. vor allem verb. verbundene VersR Versicherungsrecht VerwArch Verwaltungsarchiv vgl. vergleiche VO Verordnung Vor. Vorbemerkungen VVDStRL Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer VwGO Verwaltungsgerichtsordnung VwVfG Verwaltungsverfahrensgesetz WHG Gesetz zur Ordnung des Wasserhaushalts WuM Wohnungswirtschaft und Mietrecht WuW Wirtschaft und Wettbewerb Yale L. J. Yale Law Journal ZaöRV Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht z. B. zum Beispiel ZBB Zeitschrift für Bankrecht und Bankwirtschaft ZDRW Zeitschrift für Didaktik der Rechtswissenschaft ZERP Zentrum für Europäische Rechtspolitik ZESAR Zeitschrift für europäisches Sozial- und Arbeitsrecht ZEuP Zeitschrift für Europäisches Privatrecht ZfA Zeitschrift für Arbeitsrecht ZfB Zeitschrift für Betriebswirtschaft ZfPW Zeitschrift für die gesamte Privatrechtswissenschaft
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ZfU Zeitschrift für Umweltpolitik & Umweltrecht ZG Zeitschrift für Gesetzgebung ZGB Zivilgesetzbuch ZGR Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht ZHR Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht Ziff. Ziffer ZIP Zeitschrift für Wirtschaftsrecht zit. zitiert ZJS Zeitschrift für das Juristische Studium ZNR Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte ZPO Zivilprozessordnung ZR Revisionen in Zivilsachen und Berufungen in Patent nichtigkeitsverfahren ZRG GA Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung ZRG KA Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung ZRP Zeitschrift für Rechtspolitik Zs. f. Rechtssoz. Zeitschrift für Rechtssoziologie zugl. zugleich ZUR Zeitschrift für Umweltrecht zust. zustimmend ZVersWiss Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft ZVertriebsR Zeitschrift für Vertriebsrecht ZZP Zeitschrift für Zivilprozess
Einleitung „Publicum jus est, quod ad statum rei publicae Romanae spectat, privatum, quod ad singulorum utilitatem spectat.“1 Nach dieser gemeinhin dem römischen Rechtsgelehrten Ulpian zugeschriebenen 2 Unterscheidung ist das öffentliche Recht auf das Gemeinwohl ausgerichtet, während das Privatrecht auf das individuelle Wohl blickt. Nun finden sich auch heute noch Referenzen auf das Zitat, wenn das Privatrecht vom öffentlichen Recht abgegrenzt werden soll.3 Doch wird zugleich darauf verwiesen, dass eine trennscharfe Unterscheidung zwischen den beiden Rechtsgebieten mittels des Kriteriums der Interessenausrichtung zum Scheitern verurteilt ist.4 So wie es Gesetze des öffentlichen Rechts gibt, die dem Interesse einzelner Personen dienen, existieren Gesetze des Privatrechts, die auch darauf gerichtet sind, das Gemeinwohl zu fördern.5 Teilweise überschneiden sich die im Privatrecht und im öffentlichen Recht behandelten Materien. Vor dem Hintergrund dieser Überschneidungen ist das Interesse an Untersuchungen zu verstehen, die die beiden Rechtsgebiete als „wechselseitige Auffangordnungen“6 begreifen. In den letzten Jahren ist die Diskussion um das Verhält1
Ulpian, D. 1, 1, 1, 2 = Inst. 1, 1, 4. Romanisten ist umstritten, ob die Stelle Ulpian zugeschrieben werden kann, s. Bullinger, Öffentliches Recht und Privatrecht, 1968, S. 13; Molitor, Über Öffentliches Recht und Privatrecht, 1949, S. 8 Fn. 2. 3 Dies geschieht unter dem Stichwort der Interessentheorie, s. aus der Kommentarliteratur etwa Schoch/Schneider/Ehlers/Schneider, VwGO, 2021, § 40 Rn. 219 Fn. 814; Fehling/Kastner/Störmer/Kyrill-Alexander Schwarz, VerwR, 5. Aufl. 2021, Einl. zum VwVfG Rn. 19; Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 40 Rn. 290 Fn. 452; Fehling/Kastner/Störmer/Unruh, VerwR, 5. Aufl. 2021, § 40 VwGO Rn. 93; s. des Weiteren Behrends in Behrends/Sellert (Hrsg.), Der Kodifikationsgedanke und das Modell des Bürgerlichen Gesetzbuches, 9 (19 Fn. 25); Boehmer, Einführung in das Bürgerliche Recht, 2. Aufl. 1965, S. 8; Jan Schröder FS Gernhuber, 961; Uerpmann, Das öffentliche Interesse, 1999, S. 70. 4 So schon Boehmer, Einführung in das Bürgerliche Recht, 2. Aufl. 1965, S. 10; Nipperdey, Kontrahierungszwang und diktierter Vertrag, 1920, S. 29. 5 Das gilt allerdings nicht, wenn man die beiden Rechtsgebiete mit Hilfe der Interessentheorie abgrenzt und die Ansicht vertritt, dass sich im Privatrecht Gesetze öffentlich-rechtlicher Natur und vice versa befinden, so etwa Mohr, Sicherung der Vertragsfreiheit durch Wettbewerbs- und Regulierungsrecht, 2015, S. 31 f.; ders. in Säcker/Schmidt-Preuß (Hrsg.), Grundsatzfragen des Regulierungsrechts, 94 (114 f.); Säcker AöR 130 (2005), 180 (220). 6 Grundlegend Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen, 1996; „Ergänzungsverhältnis“ – Voßkuhle, VVDStRL 62 (2003), 266 (309 f.). Generell zum Verhältnis von Privatrecht und öffentlichem 2 Unter
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Einleitung
nis von Privatrecht und öffentlichem Recht (wieder-)erstarkt.7 In der Privatrechtswissenschaft widmet man sich vermehrt der Frage, was das Privatrecht von anderen Rechtsgebieten unterscheidet. Man sucht seinen Wesenskern zu ergründen. Daneben ist eine verstärkte Beschäftigung mit den Methoden, die in der Privatrechtswissenschaft Anwendung finden, wahrnehmbar. 8 Das „Pro prium“9 der Privatrechtswissenschaft bildet mithin auf zweierlei Weise Anlass für aktuelle Forschung: Einerseits geht es darum, den Inhalt des Privatrechts als Untersuchungsgegenstand der Privatrechtswissenschaft näher zu ergründen; andererseits geht es um eine Selbstreflektion der Disziplin über das eigene Arbeiten. Drei Beobachtungen stützen diese Wahrnehmung: Zunächst steht die Frage nach den grundlegenden Inhalten des Privatrechts im Fokus aktueller, einflussreicher rechtstheoretischer Untersuchungen.10 Zweitens sind nunmehr des Öfteren rechtsökonomische Ansätze in der Privatrechtswissenschaft anzufinden, insbesondere in den Teilen, die sich mit dem Gesellschafts- oder Kapitalmarktrecht beschäftigen.11 Arbeiten, die rechtsökonomische Methoden aufgreifen, eint die Prämisse, dass das Recht steuernd auf das Verhalten Privater Einfluss nimmt und damit auch zu utilitaristischen Zwecken eingesetzt werden Recht Becker NVwZ 2019, 1385 ff.; Bullinger, Öffentliches Recht und Privatrecht, 1968; Franz Bydlinski AcP 194 (1994), 319 ff.; Krüper VVDStRL 79 (2020), 44 ff.; Molitor, Über Öffentliches Recht und Privatrecht, 1949; Radbruch in Ralf Dreier/Paulson (Hrsg.), Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 2003 (Erstveröffentlichung 1932), S. 119 ff.; Detlef Schmidt, Die Unterscheidung von privatem und öffentlichem Recht, 1985; Somek VVDStRL 79 (2020), 7 ff.; historische Nachzeichnung bei Haferkamp AJCL 56 (2008), 667 (668 ff.); Hofmann Der Staat 57 (2018), 5 ff.; HKK/Rückert, 2003, Vor § 1 Rn. 72 ff.; Jan Schröder FS Gernhuber, 961 ff.; Stolleis in Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen, 41 ff.; für den anglo-amerikanischen Kontext Horwitz U. Pa. L. Rev. 130 (1982), 1423 ff.; Kennedy U. Pa. L. Rev. 130 (1982), 1249 ff. 7 S. insbes. Somek VVDStRL 79 (2020), 7 ff., der eine kategoriale Unterscheidung der beiden Rechtsgebiete ablehnt und auf ihre unterschiedlichen Handlungsformen abstellt sowie Krüper VVDStRL 79 (2020), 44 ff. 8 S. bspw. die Referate anlässlich der Tagungen der Zivilrechtslehrervereinigung 2013 zu dem Thema „Methoden des Privatrechts“, insbes. Stürner AcP 214 (2014), 7 ff. sowie 2015 zu dem Thema „Perspektiven des Privatrechts“, insbes. Auer AcP 216 (2016), 239 ff. und Lobinger AcP 216 (2016), 28 ff.; ferner Kuntz AcP 219 (2019), 254 ff.; ders. AcP 216 (2016), 866 (903 ff.). 9 Engel/Schön (Hrsg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 2008. 10 S. nur mit ganz unterschiedlichen Ansätzen Auer, Der privatrechtliche Diskurs der Moderne, 2014; Hellgardt, Regulierung und Privatrecht, 2016; Rödl, Gerechtigkeit unter freien Gleichen, 2015. 11 Aus den letzten Jahren etwa für das Vertragsrecht Walter Doralt, Langzeitverträge, 2018; für das Haftungsrecht Franck, Marktordnung durch Haftung. Legitimation, Reichweite und Steuerung der Haftung auf Schadensersatz zur Durchsetzung marktordnenden Rechts, 2016, S. 54 ff.; für das Abfindungsrecht Klöhn, Das System der aktien- und umwandlungsrechtlichen Abfindungsansprüche, 2009, S. 31 ff.; für das Kapitalmarktrecht Kuntz, Gestaltung von Kapitalgesellschaften zwischen Freiheit und Zwang. Venture Capital in Deutschland und den USA, 2016; für das internationale Privatrecht Rühl, Statut und Effizienz. Ökonomische Grundlagen des Internationalen Privatrechts, 2011.
I. Gemeinwohl – Gemeininteressen – Individualinteressen
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kann. Drittens nahm sich die Zivilrechtslehrervereinigung auf ihrer Tagung 2015 des Themas der Methodenvielfalt im Privatrecht an und diskutierte 2019 über die Gemeinwohlorientierung des Privatrechts.12 Dies zeigt, dass es sich bei der Vergewisserung der Privatrechtswissenschaft um den ihr spezifischen Untersuchungsgegenstand und das eigene Arbeiten nicht um randständige Überlegungen handelt, sondern die Diskussion um Gegenstand und Selbstbild der Privatrechtswissenschaft in ihrer Mitte stattfindet. In diesem Klima eines spürbaren Bedürfnisses nach Selbstvergewisserung der Privatrechtswissenschaft ist diese Arbeit entstanden. Sie konzentriert sich auf einen spezifischen Aspekt: Sie untersucht die Rolle und Wirkung von Gemeininteressen im Privatrecht. Aus rechtstheoretischer Perspektive erkundet sie den Stellenwert, den die Privatrechtswissenschaft Gemeininteressen in der Beschreibung ihres Untersuchungsgegenstandes zukommen lässt. Aus rechtsdogmatischer Perspektive analysiert sie, wo und wie Gemeininteressen im Privatrecht Berücksichtigung finden. An ihrem Ende wird einerseits der Befund stehen, dass Gemeininteressen mehr als nur sporadisch im Privatrecht anzutreffen sind, andererseits die Einschätzung, dass sich dieser Umstand in der privatrechtswissenschaftlichen Selbstwahrnehmung erst noch verankern muss. Bevor jedoch die eigentliche Analyse beginnen kann, ist eine Klärung einiger für die Untersuchung bedeutender Begriffe angezeigt (I.). Zudem wird das Thema der Berücksichtigung von Gemeininteressen im Privatrecht in Bezug zu verwandten Themen gesetzt (II.) und abgegrenzt zu Missbräuchen der Gemeininteressenargumentation in der Vergangenheit (III.). Des Weiteren werden die Methoden offengelegt, die dieser Analyse zu Grunde liegen (IV.). Die Einführung endet mit einer kurzen Darstellung des weiteren Gangs der Untersuchung (V.).
I. Gemeinwohl – Gemeininteressen – Individualinteressen Wenn die Berücksichtigung von Gemeininteressen behandelt werden soll, muss erläutert werden, was unter Gemeininteressen zu verstehen ist. Dabei bietet es sich an, sich dem Begriff der Gemeininteressen über den noch abstrakteren Begriff des Gemeinwohls zu nähern. Eine eindeutige Antwort darauf, was das Gemeinwohl ausmacht, ist allerdings nicht zu bekommen.13 Vielmehr handelt 12 2015 stand die Tagung unter dem Oberthema „Perspektiven des Privatrechts“, 2019 unter dem Oberthema „Gemeinwohl und Privatrecht“. 13 S. aber die intensive Beleuchtung des „Gemeinwohl“-Begriffs bei Münkler/Bluhm (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn, Bd. I, 2001; Münkler/Fischer (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn, Bd. II, 2002; Münkler/Fischer (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn im Recht, Bd. III, 2002; Münkler/Bluhm (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn, Bd. I V, 2002; ferner Anderheiden, Gemeinwohl in Republik und Union, 2006, S. 5 ff.; Brugger/Kirste/Anderheiden (Hrsg.), Gemeinwohl in Deutschland, Europa und der Welt, 2002; Denninger KJ
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Einleitung
es sich bei der Frage, was den Inbegriff des Gemeinwohls ausmacht, um eine der ältesten und grundlegendsten Fragen der Rechtsphilosophie, die schon zur Blütezeit der griechischen Polis Gegenstand von Debatten war.14 Es lässt sich allerdings feststellen, dass das Gemeinwohl im Zusammenhang mit dem übergeordneten Ziel des Staates Erwähnung findet.15 Beispielhaft zeigt dies die eingangs erwähnte Übersetzung des Zitats von Ulpian. Hier steht das Gemeinwohl für den „statum rei publicae Romanae“, d. h. für den Zustand des römischen Staates. Diese Verbindung zwischen Gemeinwohl und Staatsbefinden kommt nicht von ungefähr. Nach der Staatstheorie ist es „ein der Staatslogik immanenter Zweck“16 , das Gemeinwohl zu fördern. Das Gemeinwohl steht also als Chiffre für einen generellen Bezugspunkt, auf den der Staat sein Handeln auszurichten hat. Historisch gesehen war es früher leichter, dem Begriff des Gemeinwohls Konturen zu verleihen. In Monarchien konnte das Gemeinwohl mit den Zielen gleichgesetzt werden, die der Herrscher für seinen Staat und seine Untertanen verfolgte.17 Eine solch eindeutige Bestimmung ist – man möchte hinzufügen erfreulicherweise – unter den Bedingungen von Demokratie und Pluralismus deutlich erschwert. Hier bieten lediglich die Vorgaben der Verfassung Orientierung.18 Jenseits der Leitplanken, die das GG und europäische Verfassungsartikel vorgeben, darf ein wie auch immer geartetes Gemeinwohl nicht verfolgt werden. Damit verbleibt der Gesellschaft die Aufgabe, das Gros dessen, was unter den Begriff des Gemeinwohls fällt, in einem stetigen Diskurs immer wieder aufs Neue auszuhandeln.19 2019, 361 ff.; Hellgardt, Regulierung und Privatrecht, 2016, S. 239 ff.; Koslowski (Hrsg.), Das Gemeinwohl zwischen Universalismus und Partikularismus, 1999; Schmitt-Egner, Gemeinwohl. Konzeptionelle Grundlinien zur Legitimität und Zielsetzung von Politik im 21. Jahrhundert, 2015; v. Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, 1977, S. 5 ff.; v. Zezschwitz, Das Gemeinwohl als Rechtsbegriff, 1967, S. 13 ff. Zum verwandten Begriff des öffentlichen Interesses Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970; Uerpmann, Das öffentliche Interesse. Seine Bedeutung als Tatbestandsmerkmal und als dogmatischer Begriff, 1999; Viotto, Das öffentliche Interesse. Transformationen eines umstrittenen Rechtsbegriffs, 2009, S. 15 ff. 14 Zu dem Diskurs über Gemeinwohl im antiken Griechenland Kirner in Münkler/Bluhm (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn, Bd. I, 31 ff. 15 S. Christian Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, 2001, S. 76; v. Zezschwitz, Das Gemeinwohl als Rechtsbegriff, 1967, S. 49. 16 Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, 1997, S. 200 f. 17 S. Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 28 f., 68 f.; „inhaltlich bestimmte, vorgegebene Größe“ – Dieter Grimm, Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, 1987, S. 13 f. 18 Mit ausschließlichem Bezug auf die Grundrechte Hellgardt, Regulierung und Privatrecht, 2016, S. 242 m. w. N. 19 Denninger KJ 2019, 361 (371); Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns. Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Bd. II, 2009, insbes. S. 132; Hellgardt, Regulierung und Privatrecht, 2016, S. 241 f.; vgl. Bachmann, Private Ordnung, 2006, S. 169; ferner zu Gemeinwohlverfahren v. Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, 1977, S. 48 ff.; Offe in
I. Gemeinwohl – Gemeininteressen – Individualinteressen
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Eng verbunden mit dem Begriff des Gemeinwohls ist der der Gemeininteressen. Gemeininteressen lassen sich zunächst als konkretere Formulierungen des Gemeinwohls verstehen,20 wobei es sich freilich nur um eine „relativ“ zum Gemeinwohl erzielbare Konkretisierung handelt. Gemeininteressen können also als größere Anliegen verstanden werden, die eine staatlich (oder auch überstaatlich) organisierte Gesellschaft verfolgt. Ein beispielgebendes Gemeininteresse ist etwa das Gemeininteresse an Umweltschutz. Ohne an dieser Stelle auf Details einzugehen – eine genauere Analyse findet sich in Kapitel 3 –, es existieren auf nationaler wie europäischer Ebene Zielbestimmungen, die Deutschland zum Umweltschutz anhalten. Diese Bestimmungen haben sich verfassungsgebende Gewalten der Union bzw. Deutschlands gegeben, um im Interesse des Allgemeinwohls die Natur zu schützen. Bei einem Verständnis von Gemeininteressen als Konkretisierungen des Gemeinwohls bleibt allerdings offen, wessen Interessen gemeint sind. Es ist nicht abschließend geklärt, ob die Interessen Einzelner den Gehalt von Gemeininteressen annehmen können oder ob Ge meininteressen nur solche Interessen sein können, die eine – wie auch immer zu definierende – Gemeinschaft hat. Daher lassen sich Gemeininteressen konzeptionell besser erfassen, wenn man sie in Abgrenzung zu Individualinteressen definiert. Individualinteressen sind solche Interessen, die einer bestimmten Person zugerechnet werden können. Das Interesse eines Käufers, mit einem Verkäufer einen bestimmten Vertrag zu schließen, ist ein Individualinteresse. Dass der Verkäufer eventuell ebenfalls ein Interesse am Vertragsschluss hat, ändert an der Einordnung als Individualinteresse nichts. Denn die beiden Willenserklärungen, in denen sich das jeweilige Interesse äußert, sind wechselseitig ausgerichtet. Neben „singuläre“ Individual interessen treten gebündelte Individualinteressen. So kann etwa eine größere Gruppe an Personen ein gleichgerichtetes Interesse daran haben, sich zu einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts zusammenzuschließen. Oder mehrere Einzelpersonen haben das Interesse, über ein bestimmtes Geschehnis informiert zu werden. Ihre Individualinteressen an Information werden bisweilen als Interesse „der Leserschaft“21 zusammengefasst. Diese Bezeichnung ändert jedoch nichts daran, dass das Informationsinteresse bestimmten Personen oder einem begrenzten Kreis an Personen zugerechnet werden kann. Gemeininteressen sind als ein aliud zu Individualinteressen zu verstehen. Bei Gemeininteressen handelt es sich um solche Interessen, die nicht einzelnen Personen individuell zugerechnet werden können.22 Münkler/Fischer (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn, Bd. II, 55 (73); vgl. auch Alexy, Theor ie der juristischen Argumentation, 2001, S. 261 ff. 20 Vgl. v. Zezschwitz, Das Gemeinwohl als Rechtsbegriff, 1967, S. 10 sowie nochmals differenzierter S. 125 f. 21 BVerfGE 120, 180 (222); OLG Dresden NJW 2012, 782 (785). 22 S. Alexander in Säcker/Schmidt-Preuß (Hrsg.), Grundsatzfragen des Regulierungs-
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Einleitung
Es ist allerdings nicht zwingend, in Gemeininteressen etwas substantiell anderes als in Individualinteressen zu sehen. Man kann mit guten Argumenten die Meinung vertreten, dass sich Gemeininteressen und Individualinteressen auf einem Spektrum befinden, wobei das jeweilige Interesse einmal mehr dem Einzelnen, ein anderes Mal mehr der Allgemeinheit zuzuordnen ist. Um das Beispiel des Umweltschutzes heranzuziehen: Die Einzelne kann ein Individualinteresse daran haben, dass die Bäume in ihrem Garten ungehindert wachsen, auch wenn dies die Grundstücke ihrer Nachbarn beeinträchtigen sollte. Genauso kann die Allgemeinheit ein Interesse an dem Bestand zusammenhängender Naturschutzgebiete zum Zwecke der Förderung von Biodiversität haben. In beiden Fällen handelt es sich um Umweltschutzinteressen. Für eine graduelle Konzeption spricht, dass sie nicht zwischen Individualinteressen und Gemeininteressen abgrenzen muss. Dies ist insbesondere deshalb von Vorteil, weil eine trennscharfe Abgrenzung zwischen den Elementen eines Interesses, die individuell, gebündelt oder allgemein sind, bisweilen artifiziell wirkt und es zu Überschneidungen der Teilinteressen kommen kann.23 Gesetze, die dem Baumbestand in Privatgärten nutzen, dienen nicht nur dem Individualinteresse der Garteneigentümer an Umweltschutz, sondern auch dem gleichsinnigen Ge meininteresse.24 Dennoch ist mit den von Rousseau angestellten Überlegungen zur Unterscheidung zwischen der volonté de tous und der volonté générale an der Auffassung festzuhalten, dass es sich bei Gemeininteressen und Individualinteressen um Unterschiedliches handelt.25 Laut Rousseau setzt sich die volonté de tous aus einer „Summe von Sonderwillen“26 zusammen, während die volonté générale „nur […] das Gemeininteresse“27 verfolgt. Rousseau bringt damit deutlich zum Ausdruck, dass sich die beiden Willen nach verschiedenen Orientierungspunkten ausrichten. Was im Interesse eines Einzelnen oder einer bestimmten Menge Einzelner ist, kann mit dem Gemeininteresse übereinstimmen, muss aber nicht. Außerdem klingt in der Unterscheidung ein Aspekt an, der ebenfalls für eine rechts, 119 (130); Kirste in Brugger/Kirste/Anderheiden (Hrsg.), Gemeinwohl in Deutschland, Europa und der Welt, 327 (331, 334); vgl. Nipperdey, Kontrahierungszwang und diktierter Vertrag, 1920, S. 33, der von einem „soziale[n] Interesse“ spricht; ähnlich Habersack, Vertragsfreiheit und Drittinteressen, 1992, S. 23 sowie Staudinger/Kohler, 2017, Einl zum UmweltHR Rn. 8 m. w. N.; Seibt, Zivilrechtlicher Ausgleich ökologischer Schäden, 1994, S. 9 mit Ausführungen zum ökologischen Schaden; a. A. v. Arnim, Gemeinwohl und Gruppen interessen, 1977, S. 35, 81 sowie Koller in Brugger/Kirste/Anderheiden (Hrsg.), Gemeinwohl in Deutschland, Europa und der Welt, 41 (56), der zusätzlich eine Überordnung der Gemeininteressen als bezeichnend anzunehmen scheint. 23 Poelzig, Normdurchsetzung durch Privatrecht, 2012, S. 424. 24 S. hierzu Kap. 3. III. 1. a). 25 Gleichsinnig bzgl. des Gemeinwohls Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, 1997, S. 200. 26 Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, 2004, S. 31. 27 Ebd.
II. Verhältnis zu verwandten Themen
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konzeptionelle Trennung von Individual- und Gemeininteressen spricht: Ein individuelles Interesse wird grundsätzlich nur Personen zugesprochen, die im Falle natürlicher Personen bereits geboren 28 oder im Falle juristischer Personen gegründet worden sind.29 Das Gemeininteresse unterliegt diesen Beschränkungen nicht. Es kann sich, wie das Beispiel Umweltschutz abermals zeigt, auf Objekte beziehen, denen nach geltendem Recht keine Rechtspersönlichkeit zukommt.30 Außerdem kann es den Interessen künftiger Generationen 31 zum Ausdruck verhelfen.32
II. Verhältnis zu verwandten Themen Die bisherige Einführung deutet bereits an, dass es sich bei der Berücksichtigung von Gemeininteressen um eines der wiederkehrenden grand thèmes der Privatrechtswissenschaft handelt. Damit es in der Diskussion um das Privatrechtsverständnis innerhalb der Privatrechtswissenschaft verortet werden kann, ist es gegenüber verwandten Themen in Bezug zu setzen. Zu denken ist hierbei insbesondere an die methodischen Grundannahmen der Wertungsjuris prudenz (1.), Materialisierungstendenzen 33 im Privatrecht (2.) und das Potenzial des Privatrechts, menschliches Verhalten zu steuern (3.).
1. Das Verhältnis von Gemeininteressen zur Wertungsjurisprudenz Besonders deutlich zeigen sich Verbindungslinien zwischen der Berücksichtigung von Gemeininteressen im Privatrecht und der Wertungsjurisprudenz. Um 28 Über diesen Grundsatz hinaus ist für den nasciturus die zumindest in Teilen bestehende Grundrechtsfähigkeit (BVerfGE 88, 203 [238]) und die Anerkennung bestimmter privatrechtlicher Rechte, die sich mit seiner Geburt realisieren (z. B. §§ 844 Abs. 2 S. 2, 1923 Abs. 2, 2108, 2178 BGB) zu beachten. Ferner gelten für den nondum conceptum die § 331 Abs. 2 BGB (s. RGZ 65, 277 [281]) sowie §§ 2101 Abs. 1, 2106 Abs. 2, 2162 Abs. 2, 2178 BGB. 29 Der terminologischen Genauigkeit halber ist hierunter auch die Gründung von Vorgesellschaften, Vorvereinen oder Vorgenossenschaften zu verstehen, s. Karsten Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2002, S. 290 ff. 30 Hierzu die „Möglichkeiten des Begriffs der Rechtsperson“ für die Natur auslotend Fischer-Lescano ZfU 2018, 205 und passim; zuvor schon etwa Bosselmann KJ 1986, 1 (8 ff.); Leimbacher, Die Rechte der Natur, 1998, S. 40 ff. 31 Weiterführend Häberle FS Zacher, 215 ff.; Kleiber, Der grundrechtliche Schutz künftiger Generationen, 2014, S. 11 ff.; Saladin/Zenger, Rechte künftiger Generationen, 1988, die sich allerdings selbst für eine grundrechtliche Absicherung aussprechen (S. 73 ff.); Unnerstall, Rechte zukünftiger Generationen, 1999. 32 Vgl. Kleiber, Der grundrechtliche Schutz künftiger Generationen, 2014, S. 2 25 f., der allerdings auf kollektive Güter abstellt, die sich ihrem Inhalt nach von Gemeininteressen unterscheiden (s. S. 113 ff.). 33 Angelehnt an Canaris, Wandlungen des Schuldvertragsrechts – Tendenzen zu seiner „Materialisierung“, AcP 200 (2000), 273.
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Einleitung
dieser Verbindungen Gewahr zu werden, ist es nicht erforderlich, die methodologische Entwicklung von einem als Begriffsjurisprudenz34 „geschmäht[en]“35 Normverständnis über die Interessenjurisprudenz und die Verästelungen der Freirechtsschule hin zu der „heute vorherrschende[n]“36 Wertungsjurisprudenz in all ihren Einzelheiten nachzuzeichnen.37 Es reicht aus, den teleologischen Ansatz der Wertungsjurisprudenz in Erinnerung zu rufen. Demnach ist jedes Gesetz im Lichte des mit ihm verfolgten Zweckes auszulegen.38 Dabei versteht die Wertungsjurisprudenz den Gesetzeszweck als eine „gesetzgeberische Interessenbewertung“,39 die es primär mit Hilfe des Gesetzestextes, dem Kontext der Entstehung des Gesetzes sowie der Gesetzesmaterialien zu ermitteln gilt.40 Lässt sich anhand der so ausgewerteten Materialien der Gesetzeszweck nicht eindeutig bestimmen, ist es laut einer Strömung der Wertungsjurisprudenz legitim, über die historischen Materialien des speziellen Gesetzes hinauszugehen und weitere, dem Rechtssystem immanente Wertungen in den Blick zu nehmen.41 Eine solche Weitung des Blickes kann insbesondere erforderlich sein, wenn neue Fragestellungen an das Recht herangetragen werden, die bei Gesetzeserlass noch nicht bedacht worden waren, oder sich gesellschaftliche Grundannahmen darüber, was gesetzmäßig oder gesetzwidrig sein soll, im Laufe der Zeit ändern. Die Wertungen, auf die in solchen Fällen Bezug zu nehmen ist, stehen – so eine verbreitete Strömung der Wertungsjurisprudenz – „hinter dem [jeweiligen] Gesetz“42 oder als „Ordnungselemente […] über den zu ordnenden 34 Bezeichnung rückführbar auf v. Jhering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz, 1884, S. 330 f.; s. hierzu Haferkamp AcP 214 (2014), 60 (61 Fn. 8). 35 Kreutz, Das Objekt und seine Zuordnung, 2017, S. 117. 36 Petersen, Von der Interessenjurisprudenz zur Wertungsjurisprudenz, 2001, S. 8; gleichsinnig Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, 2005, S. 77; Hassold FS Larenz, 211 (235); Hellgardt, Regulierung und Privatrecht, 2016, S. 360. 37 Hierfür wird auf Auer in Hilgendorf/Schulze-Fielitz (Hrsg.), Selbstreflexion der Rechtswissenschaft, 301 (308 ff.); Franz Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl. 1991, S. 109 ff.; Fikentscher, Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. III, 1976, S. 87 ff.; Haferkamp AcP 214 (2014), 60 ff.; Pawlowski, Einführung in die Juristische Methodenlehre, 2. Aufl. 2000, Rn. 148 ff.; Petersen, Von der Interessenjurisprudenz zur Wertungsjurisprudenz, 2001, S. 6 ff. verwiesen. 38 Grundlegend v. Jhering, Der Zweck im Recht I, 6.–8. Aufl. 1923, S. 200 ff. Diese Vorstellung teilt die Wertungsjurisprudenz mit ihrem ideengeschichtlichen Vorgänger, der Interessenjurisprudenz. Zu den Grundlagen der (subjektiv-)teleologischen Auslegung Heck AcP 112 (1914), 1 (8, 59 ff.); zur Abwendung der Wertungsjurisprudenz von den naturalistischen Annahmen über die Interessenabwägung der Interessenjurisprudenz Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, 2005, S. 73 Fn. 33; Franz Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl. 1991, S. 123 ff. 39 Franz Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl. 1991, S. 117. 40 Vgl. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers, 2017, S. 23 ff. 41 Dezidiert ausgeführt bei Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Aufl. 1983, S. 41 ff.; Harry Westermann, Wesen und Grenzen der richterlichen Streit entscheidung im Zivilrecht, 1955, S. 16. 42 Engisch, Einführung in das juristische Denken, 12. Aufl. 2018, S. 266.
II. Verhältnis zu verwandten Themen
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Tatbeständen.“43 Aus institutioneller Perspektive bedeutet dies, dass Gerichte in ihrer Rechtsprechung an den Willen des Gesetzgebers gebunden sind, aber rechtsfortbildend tätig werden können, wenn eine Konsultierung des historischen Gesetzeszweckes versagt oder grob unangemessen erscheint.44 Wertungsjurisprudenz und Berücksichtigung von Gemeininteressen sind demnach auf zweierlei Art und Weise miteinander verbunden: Einerseits kann der Wille des Gesetzgebers darauf gerichtet gewesen sein, mittels der von ihm verabschiedeten Gesetze Gemeininteressen zu fördern. So kann er etwa Haftungsregeln erlassen haben, die unter anderem den Zweck verfolgen, die Umwelt zu schützen.45 Oder er kann privatrechtliches Nichtdiskriminierungsrecht verabschiedet haben, um soziale Inklusivität zu stärken.46 Diesen gesetzgeberischen Willen gilt es dann bei der Ermittlung des Gesetzeszwecks zu beachten. Andererseits kann ein merkliches gesellschaftliches Interesse, bestimmte Gemeininteressen intensiver zu fördern, Gerichte zu der Wertung veranlassen, diesen Gemeininteressen in ihren Entscheidungen ein stärkeres Gewicht beizumessen.47 Denn ihrem Charakter als Methodenlehre entsprechend muss sich die Wertungsjurisprudenz nicht festlegen, welchen Gehalt die für die Auslegung des Gesetzeszwecks herangezogenen Wertungen haben. Es können Wertungen sein, die sich auf Individualinteressen, umgrenzbare Gruppeninteressen oder Gemeininteressen beziehen. So wäre es mit einem der Wertungsjurisprudenz verpflichteten Verständnis des Privatrechts vereinbar, wenn Gerichte bei der Frage, ob ein Nachbesserungsverlangen gemäß § 439 Abs. 4 S. 1 BGB wegen unverhältnismäßiger Kosten verweigert werden darf, dem Umstand Beachtung schenken, dass Reparaturen grundsätzlich nachhaltiger sind als Ersatzlieferungen.48
43
Coing JZ 1951, 481 (485), Hervorhebung im Original. etwa Franz Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl. 1991, S. 436; Klaus Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, S. 632; aus dem öffentlichen Recht Isensee in Ipsen u. a. (Hrsg.), Verfassungsrecht im Wandel, 571 (583); Schlink Der Staat 19 (1980), 73 (101). 45 So der Gesetzesentwurf eines UmweltHaftG, BT-Drs. 11/7104, S. 1. 46 ErwG 12 RL 2000/43/EG (ABl. 2000 L 180/22); s. auch „Förderung der Vielfalt im Bereich der Beschäftigung“ – ErwG 25 RL 2000/78/EG (ABl. 2000 L 303/16). 47 Westermann führt zu den „möglichen Bewertungsfaktoren“ bei der von den Gerichten anzustellenden Bewertung aus: „In erster Linie gehören hierhin die Notwendigkeiten, die Privatinteressen in der geistesgeschichtlich, sozial und wirtschaftlich bedingten Form den Gemeinschaftsinteressen anzupassen“ (Harry Westermann, Wesen und Grenzen der richterlichen Streitentscheidung im Zivilrecht, 1955, S. 18, Hervorhebung nicht im Original). 48 Zu dem umweltschützenden Potenzial des Privatrechts demnächst ausführlich Schirmer, Nachhaltigkeit im Privatrecht, Habilitationsschrift im Entstehen. 44 S.
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2. Das Verhältnis von Gemeininteressen zur Materialisierung Berührungspunkte bestehen auch zu den Debatten um eine Materialisierung des Privatrechts. Dabei ist der Begriff der Materialisierung nicht eindeutig besetzt.49 Die Ungereimtheiten um seinen genauen Aussagegehalt hindern aber nicht daran, dass er vielfach verwendet wird.50 Insbesondere Canaris und Lüttringhaus haben ihn genauer vermessen. Canaris beleuchtet den Begriff der Materialisierung unter drei Gesichtspunkten, nämlich im Hinblick „auf die Vertragsfreiheit, auf die Vertragsgerechtigkeit und auf die dem Vertragsrecht zugrunde liegende weltanschaulich-politische Grundhaltung.“51 Mit Bezug auf seinen ersten Untersuchungsgegenstand, die Vertragsfreiheit, nimmt er den Unterschied zwischen einer „recht lichen“52 , 53 54 „formal“ verstanden Vertragsfreiheit und einer „tatsächlichen“ , „material“55 verstandenen Vertragsfreiheit auf.56 Einer Materialisierung des Privatrechts begegne man, wo im Interesse der Gewähr tatsächlicher Vertragsfreiheit die rechtlichen Rahmenbedingungen zur Ausübung der formalen modifiziert würden.57 Gehe es um die Vertragsgerechtigkeit, werde der Begriff „formeller Äquivalenz“ bemüht, „wenn die Rechtsordnung als Gegenleistung grundsätzlich anerkennt, was die Vertragsparteien als solche vereinbart haben.“58 Im Unterschied hierzu bezeichne die „materielle[] Äquivalenz […], wenn sie [Anm. JCG: die Rechtsordnung] ihrerseits die Gegenleistung unabhängig vom Parteiwillen inhaltlich festlegt.“59 Auch hier sei ein Trend zur Materialisierung vernehmbar, wenn die von den Parteien vereinbarten Vertragsinhalte aufgrund von Wertungen geändert würden. Schließlich geht Canaris auf den Zusammenhang zwischen der 49 Canaris AcP 200 (2000), 273 (276); „schillernde[r] Begriff“ – Lüttringhaus, Vertragsfreiheit und ihre Materialisierung im Europäischen Binnenmarkt, 2018, S. 323. 50 S. nur Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, 2005; Canaris AcP 200 (2000), 273 ff.; Derleder FS Wassermann, 643 (650); Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, 1998, S. 296; Hellgardt, Regulierung und Privatrecht, 2016, S. 64; Hess JZ 2005, 540 (548); Lüttringhaus, Vertragsfreiheit und ihre Materialisierung im Europäischen Binnenmarkt, 2018; Riesenhuber ZfPW 2018, 352 (358); Röthel NJW 2012, 337 (338); Rüping, Der mündige Bürger. Leitbild der Privatrechtsordnung?, 2017, S. 38 ff.; Eike Schmidt JZ 1980, 153 (155); Wagner in Blaurock/Hager (Hrsg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert, 13 ff.; ders. ZEuP 2008, 6 (13 ff.); Wiethölter Anales de la Cátedra F. Suárez, No. 22 (1982), 125 (128, 161). 51 Canaris AcP 200 (2000), 273 (276). 52 Ebd., 277 (Hervorhebung im Original nicht übernommen). 53 Ebd. 54 Ebd. (Hervorhebung im Original nicht übernommen). 55 Ebd. 56 Ebd. Dabei bezieht er sich allerdings nicht auf Adam Smith, sondern auf Texte der Privatrechtswissenschaft (Fn. 5). 57 Ebd., 278 ff. 58 Ebd., 283. 59 Ebd.
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ideologischen „Grundhaltung“60 zur Ausrichtung des Privatrechts und Mate rialisierung ein. Während „formal“ hier für eine „freiheitlich-individualistische“61 Perspektive stehe, werde „material“ mit einer „sozialen“ Sicht auf das Privatrecht gleichgesetzt. 62 Materialisierung beschreibe den Prozess, der von einem freiheitlich-individualistischen Verständnis des Privatrechts hin zu einem Verständnis führe, welches sich stärker an Gedanken des Schwächerenschutzes oder der gesellschaftlichen Funktion privatrechtlicher Ordnung orientiere. 63 Mit anderer Betonung zeigt Lüttringhaus in einer etymologischen Nachzeichnung, dass sich die Debatte um eine Materialisierung des Privatrechts – konkreter des Vertragsrechts – bis auf Äußerungen Adam Smiths zu Vertragsfreiheit und Vertragsgerechtigkeit zurückverfolgen lässt. 64 Schon der schottische Ökonom habe den Unterschied zwischen formal gleicher Vertragsautonomie und den tatsächlichen Möglichkeiten der Vertragsparteien, von dieser Gebrauch zu machen, benannt. 65 Des Weiteren verweist er auf Weber, der das materiale, „soziale[] Recht“66 mit dem formalen, modernen Recht kontrastierte. Weber, so die Auslegung von Lüttringhaus, habe im formalen Recht einen Fortschritt hin zu größerer Selbstbestimmung erblickt. Im Gegensatz hierzu sei sein Begriff des materialen Rechts eher negativ besetzt gewesen. Hinter ihm verbargen sich die Wertvorstellungen alter Eliten darüber, welcher Platz einzelnen Personen im gesellschaftlichen Gesamtgefüge zukam. 67 Von Webers Vorstellungen über ein materiales Recht schlägt Lüttringhaus schließlich die Brücke zu der bekannten Äußerung Wieackers, nach der „die formale Freiheitsethik, die der deutschen Privatrechtsordnung zugrundelag, in eine materiale Ethik sozialer Verantwortung zurückverwandelt“68 werde. 69
60 Ebd.,
289. Diese Beschreibung eines gängigen Privatrechtsverständnisses findet sich bei Hellgardt, Regulierung und Privatrecht, 2016, S. 328. Auer spricht ähnlich von einer „individualistisch-freiheitlichen […] Privatrechtsethik“ (Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, 2005, S. 3). 62 Krit. zur Unbestimmtheit dieser Begrifflichkeiten Canaris AcP 200 (2000), 273 (289 ff.). 63 Ebd. 64 Lüttringhaus, Vertragsfreiheit und ihre Materialisierung im Europäischen Binnenmarkt, 2018, 325 f. Hier bestehen freilich Parallelen zu Canaris Konturierung der Materialisierung. 65 Bezug nehmend auf Adam Smith, Der Wohlstand der Nationen, 5. Aufl. 1974, S. 58. 66 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1922, S. 506. 67 Lüttringhaus, Vertragsfreiheit und ihre Materialisierung im Europäischen Binnenmarkt, 2018, S. 327 Fn. 29 mit Verweis auf Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1922, S. 467 ff., 495 ff., 502 ff. und 510. 68 Wieacker in Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, 9 (24). 69 Lüttringhaus, Vertragsfreiheit und ihre Materialisierung im Europäischen Binnenmarkt, 2018, S. 327. Vor dieser historischen Aufarbeitung verwundert es, dass der Autor Selbstbestimmung und Selbstentfaltung als „Antrieb, Gegenstand und Ziel der Materialisie61
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Einleitung
Gemeinsam ist den Entwürfen von Canaris und Lüttringhaus, dass bei ihnen die Materialisierung für eine Entwicklung des Privatrechts steht, welche Autonomiedefiziten, gesellschaftlichen Ungleichgewichtslagen und dem Steuerungspotenzial des Rechtsgebiets mehr Berücksichtigung schenkt.70 Vor diesem Hintergrund werden die Schnittmengen zwischen Materialisierung und Berücksichtigung von Gemeininteressen erkennbar: Mit zunehmender Materialisierung finden Gemeininteressen vermehrt Berücksichtigung im Privatrecht. Materialisierung ist aber nicht einseitig „gemein“-orientiert. Oftmals zeigen sich Materialisierungstendenzen, wenn es um Individualschutz geht, etwa bei der Rücksichtnahme auf Informations- oder Entscheidungsdefizite einer strukturell unterlegenen Partei71 oder der Inhaltskontrolle von Eheverträgen.72 Diese eher „individuell“-orientierten Ausprägungen der Materialisierung stehen dann auch meist im Zentrum der Untersuchungen, die sich mit der Materialisierung auseinandersetzen. In Abgrenzung hierzu widmet sich die folgende Untersuchung im Schwerpunkt der „gemein“-orientierten Facette der Materialisierung.
3. Das Verhältnis von Gemeininteressen zum Steuerungspotenzial des Privatrechts Die Berücksichtigung von Gemeininteressen im Privatrecht weist außerdem eine thematische Verwandtschaft zum Steuerungspotenzial des Privatrechts auf. Zwar werden das Strafrecht und das öffentliche Recht immer noch als die klassischen Rechtsgebiete wahrgenommen, über deren Inhalte Einfluss auf menschliches Verhalten genommen wird. Doch hat sich in den letzten Jahrzehnten der Kenntnisstand darüber erweitert, inwieweit Privatrecht zur Verhaltenssteuerung eingesetzt werden kann.73 Bei der Bemessung von Schadensersatz für die Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts hat sich der BGH beispielshalber dazu entschlossen, mitunter zu berücksichtigen, ob von dessen Höhe ein „echter Hemmungseffekt“ ausgeht.74 Daran anknüpfend analysiert die Privatrechtswissenschaft, nach welchen Kriterien sich die abschrerung“ (S. 331) verstanden wissen möchte und damit mit historischen Vorstellungen von Materialisierung bricht. 70 Mit dieser Entwicklung geht ein stärkerer Einfluss des Gesetzgebers und der Gerichte auf privatautonome Betätigung einher. Gesetzliche Vorgaben können begrenzen, welches Verhalten rechtswirksame Folgen zeitigt. Gerichte können über eine „Abschluss- und Ausübungskontrolle“ (Röthel NJW 2012, 337 [338]) Verträge einer rechtlichen Bewertung zuführen. 71 S. BVerfGE 89, 214 (232). 72 BVerfGE 103, 89; BVerfG NJW 2001, 2248. 73 S. nur Grünberger AcP 218 (2018), 213 (241 ff.); Hellgardt, Regulierung und Privatrecht, 2016, S. 98 ff.; Micklitz GPR 2009, 254 (255 ff.); Möslein (Hrsg.), Regelsetzung im Privatrecht, 2019; Wagner AcP 206 (2006), 352 ff.; Wendehorst in Schumann (Hrsg.), Das erziehende Gesetz, 113 (115 ff.); dies. FS Canaris, 681 (686 ff.). – Explizit zu Wagner s. unten Kap. 1. VI. 4. b). 74 Caroline von Monaco – BGHZ 128, 1 (16); BGH, NJW 2005, 215 (218).
II. Verhältnis zu verwandten Themen
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ckende Wirkung solcher Schadensersatzansprüche bemessen lässt oder ob die Rechtsprechung übertragen werden kann auf Ersatzansprüche für andere immaterielle oder materielle Schäden.75 Zusätzlich gehen Forschungen der Frage nach, wie privatrechtliche Gesetze ausgestaltet sein sollten, um Verhalten in eine gewünschte Richtung zu beeinflussen.76 Oft bedient man sich dabei der Methoden der ökonomischen Analyse des Rechts, deren Spektrum an Ansätzen sich in den letzten Jahren merklich erweitert hat. Den rational handelnden homo oeconomicus vor Augen wird analysiert, welche Haftungsanordnung „effizient“ ist77 oder nach dem „bestmögliche[n] Design der Schadenshaftung“78 gesucht. Gleichzeitig spürt die „verhaltenswissenschaftlich-ökonomische[] Analyse des Rechts“79 der Frage nach, wie unter Anerkennung des Umstands, dass Menschen nur bedingt zu rationalem Urteilen fähig sind, Recht aussehen sollte, um ihr Verhalten in die „an sich“ gewünschte Richtung zu nudgen, d. h. zu stupsen.80 Die angesprochenen Phänomene Schadenshaftungsdesign und Nudging sind Regulierungsmethoden. 81 Als solche enthalten sie keine Aussage zu ihrer normativen Legitimation.82 Diese Legitimation müssen andere, materielle Ansätze vermitteln. Weil die Verhaltenssteuerung mittels Privatrechts unterschiedliche Ziele verfolgen kann, bieten sich verschiedene Ansatzpunkte zu ihrer Legitimation an. Insbesondere im Hinblick auf das Nudging wird als Legitimation der Paternalismus in der Spielart des „libertären Paternalismus“83 angeführt. Der Einzelne soll durch staatlichen Eingriff vor den Konsequenzen eines Handelns geschützt werden, mit dem er sich selbst schadet. Allerdings soll gemäß der libertären Paternalismus-Ausprägung dieser Eingriff minimalinvasiv sein. Dem Einzelnen soll die freie Entscheidung über sein Verhalten bleiben und lediglich der 75 S. etwa Thomas Dreier, Kompensation und Prävention, 2002, S. 133 ff.; Wagner AcP 206 (2006), 385 f. 76 Wagner, Deliktsrecht, 14. Aufl. 2021, S. 26 ff.; MüKoBGB/Wagner, 8. Aufl. 2020, Vor § 823 Rn. 53 ff.; speziell zur Kfz-Haftung Korch, Haftung und Verhalten, 2015, S. 79 ff. 77 Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 4. Aufl. 2015, S. 7 7 und passim. 78 Franck, Marktordnung durch Haftung, 2016, S. 4 4. 79 Eidenmüller JZ 2005, 216 (218 ff.); ders. AcP 210 (2010), 67 (87 ff.); Franziska Weber/ Schäfer Der Staat 56 (2017), 561 (564); ebenfalls die modifizierte Version des Ansatzes vertretend Faust in Reimann/Zimmermann (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, 826 (830). 80 Wegweisend Kahneman/Slovic/Tversky, Judgment under Uncertainty: Heuristics and Biases, 1982 sowie Jolls/Sunstein/Thaler, Stanford L. Rev. 50 (1998), 1471 ff. Einer breiten Öffentlichkeit wurde Nudging bekannt durch Thaler/Sunstein, Nudge. Improving Decisions about Health, Wealth, and Happiness, 2008. 81 So bzgl. des Nudgings Franziska Weber/Schäfer Der Staat 56 (2017), 561. 82 Eidenmüller JZ 2011, 814 (819 f.); gleichsinnig Franziska Weber/Schäfer Der Staat 56 (2017), 561 (575). 83 Grundlegend Sunstein/Thaler U. Chi. L. Rev. 70 (2003), 1159 ff.; weiterführend Kirste JZ 2011, 805 ff.; Neumann, Libertärer Paternalismus, 2013; Schmolke, Grenzen der Selbstbindung im Privatrecht, 2014, S. 219 f.
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Einleitung
rechtliche Rahmen, in dem die Entscheidung getroffen wird, so konzipiert werden, dass sich Rationalitätsdefizite so wenig wie möglich auswirken. Möchte man den Bogen zu den hier interessierenden Gemeininteressen schlagen, könnte man zunächst vermuten, dass Paternalismus als Schutz des Einzelnen vor sich selbst und die Berücksichtigung von Gemeininteressen disparat nebeneinanderstehen. Tatsächlich gibt es aber Verbindungen. Einerseits kann der Schutz des Einzelnen vor seinen eigenen Entscheidungen zu einem mittelbaren Schutz von Gemeininteressen führen.84 Wenn der Staat den Konsum harter Drogen verbietet, so geschieht dies nicht nur, um den Einzelnen vor der Drogensucht zu schützen, sondern auch, um die mit einer Drogensucht einhergehenden gesamtgesellschaftlichen Kosten gering zu halten. Anderseits kann der Schutz des Einzelnen vor seinen eigenen Entscheidungen auch bedeuten, dass er „an sich“ im Sinne einer Förderung von Gemeininteressen entscheiden möchte und vor einer gegenteiligen Entscheidung geschützt wird. Möchte sich eine Verbraucherin etwa umweltschonend verhalten, kommt ihr ein Gesetz, dass die unentgeltliche Ausgabe von Tragetüten in Geschäften verbietet, entgegen. Es bietet ihr einen zusätzlichen Anreiz, auf die Mitnahme der Tüten zu verzichten. Um die Steuerung individuellen Verhaltens durch Privatrecht zu legitimieren, können aber auch Argumente angeführt werden, die sich nicht auf die Interessen des Entscheiders stützen, sondern auf den Schutz externer Interessen abzielen. Die Präventionsfunktion privatrechtlicher Gesetze85 oder Urteile86 bezeichnet, dass mit Hilfe des Privatrechts in der Zukunft bestimmtes unerwünschtes Verhalten eingeschränkt oder gesetzwidriges Verhalten unterbunden werden soll. Dadurch sollen Interessen, die nicht dem Interessenkreis des Handelnden zuzurechnen sind, geschützt werden. Bei diesen Interessen kann es sich sowohl um die Individualinteressen Dritter als auch um Gemeininteressen handeln. Die letzte Gruppe – Recht, das Verhalten im Sinne von Gemeininteressen beeinflussen soll – fasst Hellgardt unter dem Oberbegriff des Regulierungsrechts zusammen. Mit „Regulierungsfunktion“ bezeichnet er „den Einsatz von Recht als staatliches Instrument mit einer über den Einzelfall hinausreichenden Steuerungsintention, die auf die Implementierung politischer Allgemeinwohlziele gerichtet ist.“87 Diese Arbeit macht sich den von Hellgardt gewählten Regulierungsbegriff nicht zu eigen, weil Regulierung schon vor der von ihm vor84 Darauf – auch mit Verweis auf das Verbot von Drogenkonsum – hinweisend Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, 2005, S. 19. Zur ähnlich gelagerten Abgrenzungsschwierigkeit von Rechtsmoralismus und Paternalismus Fateh-Moghadam, Die Einwilligung in die Lebendorganspende, 2008, 27 f. 85 So zu § 817 S. 2 BGB Canaris FS Steindorff, 519 (524); Klöhn AcP 210 (2010), 804 (817 f.); Wagner AcP 206 (2006), 352 (366 f.). 86 Bsph. BGHZ 128, 1 (16). 87 Hellgardt, Regulierung und Privatrecht, 2016, S. 50 (Hervorhebung nicht im Original). Ähnlich Wendehorst FS Canaris, 2017, 681 (687).
III. Historische Abgrenzung
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geschlagenen Definition ein mehrdeutig besetzter Begriff gewesen ist. 88 In der Sache aber folgt sie der von Hellgardt vertretenen These, gemäß der bestimmte privatrechtliche Gesetze der Umstand eint, dass sie Verhalten zu Gunsten des Gemeinwohls steuern.
III. Historische Abgrenzung Wenn Privatrecht eine Funktion zugeschrieben wird, die sich am Gemeinwohl orientiert, weckt dies mitunter Bedenken, dass hiermit ein nationalsozialistisches oder sozialistisches Rechtsverständnis propagiert werden könnte. Diese grundsätzlichen Bedenken sollen schon zu Beginn der Untersuchung adressiert und ausgeräumt werden. Das Rechtsverständnis der Nationalsozialisten basierte maßgeblich auf dem „Volkswohl“89. „Recht ist, was dem deutschen Volke nützt“90 ; „oberstes Gesetz ist das Wohl des deutschen Volkes“;91 oder „gesetzliche Bestimmungen, die vor der nationalsozialistischen Revolution erlassen sind, dürfen nicht angewendet werden, wenn ihre Anwendung dem heutigen gesunden Volksempfinden ins Gesicht schlagen würde“92 – an diesen Wendungen lässt sich ablesen, dass das „Volkswohl“ als Schlagwort zur Rechtfertigung von Regelungen benutzt wurde. Sofern Recht noch galt,93 war der Nutzen für das deutsche Volk zur „Rechtsmaxime“ geworden.94 Hinzu kam, dass laut nationalsozialistischem Rechtsverständnis die Rechtsstellung des Einzelnen nicht mehr über seine Subjektsqualität definiert, sondern nur noch über seine Position inner- oder außerhalb der 88 Hellgardt weist selbst auf alternative Definitionen von Regulierung hin, die besonders im öffentlichen Recht gebräuchlich sind, s. Hellgardt, Regulierung und Privatrecht, 2016, S. 4 4, 46. Ebenfalls krit. Kühne AcP 217 (2017), 687 (693 f.). 89 Grundlegende Analyse bei Stolleis, Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht, 1974, der aber primär auf den Begriff des Gemeinwohls und seine Verwendung abstellt. 90 So zitiert Arendt den unter den Nationalsozialisten gängigen Propagandaslogan (Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 10. Aufl. 2005, S. 854); fast deckungsgleich zitiert von Leibholz FS Kraus, 156 (160). Die Herkunft des Ausspruchs ist nicht zweifelsfrei belegt, wird aber Hans Frank zugerechnet, s. Gernhuber, Tübinger FS Kern, 167; Heller, Die Zivilrechtsgesetzgebung im Dritten Reich. Die deutsche bürgerlich-rechtliche Gesetzgebung unter der Herrschaft des Nationalsozialismus – Anspruch und Wirklichkeit, 2015, S. 289. 91 Hedemann/Lehmann/Siebert (Hrsg.), Volksgesetzbuch: Grundregeln und Buch I. Entwurf und Erläuterungen, 1942, S. 11. 92 Leitsatz 4 der Leitsätze über die Stellung und Aufgaben des Richters vom 14.01.1936, in Hürten (Hrsg.), Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellungen, Bd. IX, 262. 93 Fraenkel zeigt auf, dass sich unter den Nationalsozialisten ein Doppelstaat etablierte. Über dem Normenstaat, in dem gerichtliche Entscheidungen anhand des geltenden Rechts getroffen wurden, setzte sich ein Maßnahmenstaat, der das Recht nach Belieben außer Kraft setzen konnte, s. Fraenkel, Der Doppelstaat, 2. Aufl. 2001, S. 55 ff.; des Weiteren Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 10. Aufl. 2005, S. 825 ff. 94 Leibholz FS Kraus, 156 (160).
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Einleitung
Volksgemeinschaft gemittelt wurde.95 Hier hat Rüthers aufgezeigt, dass auch bei der Anwendung privatrechtlicher Gesetze der Leitgedanke des Volkswohls zum Tragen kam und das Recht überformte.96 Auch das Privatrecht der DDR wies schon deshalb enge Bezüge zum Gemeinwohl auf, weil es als sozialistisches Zivilrecht verstanden wurde.97 Zwar wurde das BGB erst 1976 durch das ZGB als einem in der DDR entworfenen, ideologisch im Sozialismus verankerten Zivilgesetzbuch abgelöst.98 Doch legte man bereits das BGB im Lichte der geänderten politischen Vorzeichen aus. In der DDR waren „Rechtssystem und politisches System […] nicht getrennt“99 und so war es möglich, den bestehenden Gesetzen neue Inhalte zu entnehmen.100 Das Recht war nunmehr „Instrument […] zur sozialistischen Umwälzung in der DDR“101 und letztlich darauf angelegt, „den Interessen des Volkes“102 zu dienen. So war auch im Bereich des Zivilrechts das Primat einer Gemeinwohlorientierung fest verankert.103 Das Recht unter den Nationalsozialisten hatte zuvorderst dem Volkswohl zu dienen und musste sich in der DDR insbesondere vor den Interessen des Volkes rechtfertigen. Aufgrund dieser Ähnlichkeit dürfen jedoch keine vorschnellen Systemparallelen gezogen werden.104 Es soll lediglich aufgezeigt werden, dass historisch der Rekurs auf Gemeininteressen oder verwandte Begrifflichkeiten im Recht benutzt und missbraucht wurde, um politische Agenden zu verfolgen. Die Umstände, unter denen Gemeininteressen heute auf das Privatrecht einwirken, sind jedoch gänzlich anders. Das GG und die unionsrechtlichen Verfassungsvorschriften bilden den rechtlichen Rahmen, innerhalb dessen sich die Berücksichtigung von Gemeininteressen in den Rechtsbeziehungen zwischen Privaten vollzieht. Aus diesem Grund lässt sich die Thematik von Gemeininteressen und Privatrecht im geltenden Recht, d. h. im Recht eines demokratischen 95 „Die Anerkennung des Volksgenossen als Rechtsgenossen in seiner konkreten Gliedstellung beruht auf dem Gemeinschaftsgedanken und nicht auf dem individualistischen Personbegriff.“ – Larenz in Dahm u. a. (Hrsg.), Grundfragen der neuen Rechtswissenschaft, 225 (249). 96 Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 8. Aufl. 2017, S. 91 ff. 97 S. Rainer Schröder in Eckert/Hattenhauer (Hrsg.), Das Zivilgesetzbuch der DDR vom 19. Juni 1975, 31 (40 f.). 98 S. hierzu Flinder, Die Entstehungsgeschichte des Zivilgesetzbuches der DDR, 1999. 99 Haferkamp FS 30 Jahre Kölner Juristische Gesellschaft, 101 (119). 100 S. Benjamin NJ 1951, 150 (152); Haferkamp FS 30 Jahre Kölner Juristische Gesellschaft, 101 (115); ders. in Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur der DDR, Bd. II, 15 (42 ff.); Thomas Aus Politik und Zeitgeschichte 1975, 3 (7). 101 Heuer/Lieberam in Heuer (Hrsg.), Die Rechtsordnung in der DDR, 25 (57). 102 Ebd. 103 Rainer Schröder in Eckert/Hattenhauer (Hrsg.), Das Zivilgesetzbuch der DDR vom 19. Juni 1975, 31 (46 ff., 52 f.). 104 Ebenfalls zur Vorsicht mahnend Haferkamp FS 30 Jahre Kölner Juristische Gesellschaft, 101 (103 f.); Rainer Schröder in Rainer Schröder (Hrsg.), Zivilrechtskultur in der DDR, Bd. I, 9 (12 ff.).
IV. Methode der Untersuchung
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Verfassungsstaates, der die Grundrechte als „normiertes Naturrecht“105 verbürgt, von etwaigen historischen Vorläufern abgrenzen.
IV. Methode der Untersuchung Es wurde angesprochen, dass es sich bei der Berücksichtigung von Gemeininteressen im Privatrecht um eines der großen Themen des Rechtsgebiets handelt.106 Nicht nur wird das Thema in der einen oder anderen Art, etwa bei der Abgrenzung von Privatrecht und öffentlichem Recht, seit langer Zeit diskutiert. Seine Diskussion kann auch ganz unterschiedliche Züge annehmen. Dies kann auf mindestens zwei Gründe zurückgeführt werden. Erstens bedingt die thematische Nähe zu den benannten anderen Großthemen wie Wertungsjurisprudenz, Materialisierung oder Steuerungspotenzial des Privatrechts,107 dass sich die konkrete Behandlung des Themas in sehr unterschiedliche Richtungen entwickeln kann. Zweitens lässt der Begriff der Gemeininteressen viel Raum für seine inhaltliche Ausgestaltung. Unter ihn lassen sich so diverse Interessen wie die Korrektur von Marktversagen, Umweltschutz oder soziale Inklusivität fassen. Mit der thematischen Breite geht eine Vielfalt an denkbaren Methoden einher, mit deren Hilfe man sich der Rolle und Wirkung von Gemeininteressen im Privatrecht nähern kann. Vor diesem Hintergrund ist es umso wichtiger, die hier angewandten Methoden deutlich zu benennen. Zunächst nähert sich die Arbeit ihrem Untersuchungsgegenstand aus rechtstheoretischer Perspektive108 und analysiert den rechtswissenschaftlichen Diskurs über Rolle und Wirkung von Gemeininteressen im Privatrecht. Der Diskurs selbst rückt damit in das Zentrum der Betrachtung. Es soll erkundet werden, ob aus seiner Konstituierung, d. h. aus seiner Zusammensetzung und der Art und Weise, wie er geführt wird, Erkenntnisse über unser Verständnis des Verhältnisses von Gemeininteressen und Privatrecht gezogen werden können.109 Dabei wird auch der Frage nachgespürt, inwieweit die Umweltbedingungen, unter denen rechtswissenschaftliche Forschung betrieben wird, Ein-
105 Harry Westermann, Wesen und Grenzen der richterlichen Streitentscheidung im Zivilrecht, 1955, S. 28. 106 S. Einl. II. 107 S. Einl. II. 108 Dabei wird die Definition von Auer übernommen, die Rechtstheorie als den Bereich der Rechtswissenschaft versteht, „deren Aufgabe es ist, die Erkenntnisansprüche der einzelnen juristischen Teildisziplinen mit den Methoden und Erkenntnissen anderer Wissenschaften und Fachkulturen zu einer multidisziplinären Rechtslehre zu verbinden“ (Auer, Zum Erkenntnisziel der Rechtstheorie, 2018, S. 10). 109 S. hierzu Kap. 2. II. 1.
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Einleitung
fluss auf die Wahrnehmung der Rolle von Gemeininteressen im Privatrecht nehmen.110 Nach der rechtstheoretischen Perspektive wird die rechtsdogmatische Perspektive eingenommen. Denn die Rechtsdogmatik generiert eigene Einsichten über das Recht und prägt unser Verständnis rechtlicher Inhalte. Anders als rechtstheoretische Ansätze, die sich der Methoden anderer Disziplinen bedienen, ermöglicht sie den „spezifisch juristischen“111 Blick auf das Recht. Wie Bumke beschreibt, ist sie die Disziplin innerhalb der Rechtswissenschaft(en), die „Begriffe formt, Unterscheidungen einführt, Figuren oder Prinzipien erarbeitet und den Stoff ordnet“112 und hierdurch „einen Beitrag zur Rationalisierung und damit auch zur Legitimierung des Rechts“113 leistet. Möchte man Rolle und Wirkung von Gemeininteressen im Privatrecht untersuchen, ist es angezeigt, das positive Recht zu sichten und zu schauen, wo und wie Gemeininteressen im Privatrecht Berücksichtigung finden.
V. Gang der Untersuchung Die Methoden, die für die Analyse der Rolle und Wirkung von Gemeininteressen im Privatrecht gewählt worden sind, geben den Gang der weiteren Untersuchung vor. Kapitel 1 spürt der Frage nach, welchen Platz die Berücksichtigung von Gemeininteressen im privatrechtlichen Selbstverständnis einnimmt. Dem ersten Augenschein nach mutet es an, als ob die oftmals unausgesprochene Auffassung in Form einer Leiterzählung vorherrsche, dass die Berücksichtigung von Gemeininteressen dem Privatrecht wesensfremd ist. Wird genauer untersucht, worauf diese Auffassung gründet, zeigt sich, dass es sich hierbei mehr um ein diffuses Gefühl denn um eine adäquate Darstellung des Privatrechts oder der Privatrechtswissenschaft handelt. Denn in Reinform wird die Ansicht, Gemeininteressen seien dem Privatrecht fremd, nicht vertreten. Vielmehr sind einflussreiche alternative Ansätze wahrnehmbar, die „gemeininteressenaffine“ Aspekte wie die Steuerungsfunktion oder die europa- und verfassungsrechtliche Beeinflussung des Privatrechts für die eigene Forschung nutzen. Kapitel 2 untersucht, weshalb sich die Annahme, dass man Gemeininteressen in der Privatrechtswissenschaft vorwiegend als Fremdkörper sehe, dennoch zu halten vermag. Zunächst werden die rechtlichen Argumente dargelegt, die die Annahme stützen. Im Anschluss wird den außerrechtlichen Gründen nachgegangen, die die Beharrungskraft der Annahme erklären. Hierfür bedient sich die Arbeit der bereits erwähnten Methoden der Diskursanalyse und nutzt so110
S. hierzu Kap. 2. II. 2. Waldhoff in Kirchhof/Magen/Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik?, 17 (31). 112 Bumke, Rechtsdogmatik, 2017, S. 1 m. w. N. 113 Ebd., S. 2. 111
V. Gang der Untersuchung
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ziologische Erkenntnisse, um Feld und Habitus der Privatrechtswissenschaft in Hinblick auf die Wahrnehmung von Gemeininteressen zu untersuchen. Die Kapitel 3 bis 6 analysieren aus rechtsdogmatischer Perspektive, wie Gemeininteressen tatsächlich Eingang ins Privatrecht finden. Dabei dienen ausgewählte Gemeininteressen als Referenzmaterien. Kapitel 3 beleuchtet, wie das Gemeininteresse an Umweltschutz im Privatrecht berücksichtigt wird, Kapitel 4 ist dem Gemeininteresse an der Förderung von Infrastruktur und seiner Verwirklichung mittels privatrechtlicher Instrumentarien gewidmet und Kapitel 5 handelt von der Förderung des Gemeininteresses an Nichtdiskriminierung im Privatrecht. Gewiss hätten hier auch andere oder weitere Gemeininteressen in den Blick genommen werden können.114 Doch vermitteln die gewählten Materien einen aussagekräftigen Eindruck von den Rechtsbereichen, in denen die Gemeininteressen Erwähnung finden sowie von den legislativen und juridischen Methoden ihrer Verarbeitung. Die so gewonnenen Erkenntnisse werden in Kapitel 6 zusammengefasst. Schließlich unternimmt Kapitel 7 den Brückenschlag zwischen dem rechtstheoretischen (Kapitel 1 und 2) und dem rechtsdogmatischen (Kapitel 3–6) Teil der Arbeit. Auf Grundlage der im dogmatischen Teil gewonnen Erkenntnisse wird in Kapitel 7 die Auffassung vertreten, dass Gemeininteressen in einer realistischen Beschreibung des Privatrechts ihren berechtigten Platz einnehmen und ein methodisch reflektierter Umgang mit Vorannahmen über Charakter und Gegenstand der Privatrechtswissenschaft angezeigt ist.
114 Man könnte insbesondere andenken, die Berücksichtigung des Gemeininteresses an funktionierenden Märkten in die Untersuchung mitaufzunehmen. Von einer detaillierten Behandlung (s. jedoch Kap. 1. VI. 1.) habe ich abgesehen, weil diese Frage zwar im Wirtschaftsrecht Gegenstand umfänglicher Diskussionen ist (s. nur Assmann, Wirtschaftsrecht in der mixed economy, 1980; Böhm in Mestmäcker [Hrsg.], Freiheit und Ordnung in der Marktwirtschaft, 105 [158]; ders., Wirtschaftsordnung und Staatsverfassung, 1950, insbes. S. 27 ff.; Mestmäcker FS Böhm, 383 [414, 416]; Wiethölter FS Böhm, 41 [56]; aus neuerer Zeit Alexander, Schadensersatz und Abschöpfung im Lauterkeits- und Kartellrecht, 2010, S. 275, 403; Franck, Marktordnung durch Haftung, 2016, S. 17 ff.; Poelzig, Normdurchsetzung durch Privatrecht, 2012, S. 29; Renner in Möslein [Hrsg.], Regelsetzung im Privatrecht, 165 [168]), im allgemeinen Privatrecht aber wenig Auswirkungen gezeigt hat.
Kapitel 1
Die privatrechtliche Leiterzählung: Gemeininteressen als Fremdkörper im Privatrecht In der Einleitung klang bereits an, dass sich die Privatrechtswissenschaft derzeit verstärkt mit den Vorstellungen über ihren eigenen Forschungsgenstand auseinandersetzt. Den an der Debatte Beteiligten geht es darum, zu erkunden, welche Funktionen dem Privatrecht zukommen bzw. zukommen sollen. An diese Debatte möchte das folgende Kapitel anknüpfen und danach fragen, welche Bedeutung Gemeininteressen in der Diskussion um das Privatrechtsverständnis zugeschrieben wird. Eine erste, intuitive Antwort auf die Frage mag lauten, dass Gemeininteressen für ein Verständnis des Privatrechts wenig relevant sind. Nach tradierter Definition zählt zu den zentralen Wesensmerkmalen des Privatrechts, dass es den Interessensausgleich zwischen freien und gleichen Individuen regelt.1 Diese Beschreibung kommt ganz ohne Erwähnung von Gemeininteressen aus. Man könnte daraus schließen, dass die Berücksichtigung von Gemeininteressen dem Privatrecht fremd ist und eine Analyse der Debatte über das Privatrechtsverständnis mit Bezug auf diesen Aspekt wenig bis keine Erkenntnisse liefert. Doch ist dieser Schluss nicht zwingend. Es kann auch der gegenteilige Standpunkt eingenommen werden. Danach kommt dem Verzicht auf die Erwähnung von Gemeininteressen bei der Beschreibung des eigenen Forschungsgenstandes ein eigener Aussagegehalt zu. Was sagt es über eine Disziplin aus, wenn sie Gemeininteressen einen fremdartigen Charakter zuweist, obwohl ihnen – wie die dogmatische Analyse in den Kapiteln 3 bis 6 zeigen wird – tatsächlich durchaus eine Rolle bei der Ausgestaltung des Privatrechts zukommt? Würde man Rechtswissenschaftler und Rechtswissenschaftlerinnen befragen, ob sie denken, dass innerhalb der Disziplin die Ansicht vorherrscht, dass Gemeininteressen dem Privatrecht fremd sind, oder viel eher die Ansicht, dass Gemeininteressen ein wesentlicher Bestandteil des Privatrechts sind, so würde vermutlich meist der Fremdheits-These der Vorrang zugesprochen.2 Unabhängig von den jeweiligen Ansichten über die Bedeutung von Gemeininteressen scheint das diffuse Gefühl vieler dahin zu gehen, dass es herrschender Meinung 1 Statt aller Brox/Walker, BGB AT, 45. Aufl. 2021, § 1 Rn. 10; Grüneberg/Grüneberg, 81. Aufl. 2022, Einl. Rn. 2 (Abkürzungen ausgeschrieben). 2 S. hierzu Gralf-Peter Calliess FS Teubner, 465 (477).
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Kapitel 1: Die privatrechtliche Leiterzählung
entspreche, dass sich das Privatrecht möglichst konsequent an der Verwirklichung individueller Gestaltungsfreiheit (Privatautonomie) auszurichten habe. Demnach seien Einflüsse, die von außen an das Privatrecht herangetragen würden – wie Gedanken zu Umweltschutz, der Förderung von Infrastruktur oder sozialer Inklusivität – „Fremdkörper“3. Diese Fremdkörper würden das Privatrecht mehr und mehr modifizieren und dabei fortwährend den Identitätskern des Privatrechts abschleifen. Das Verständnis des Privatrechts, das hier kursorisch wiedergegeben wird, ist nichts weniger als die tradierte freiheitlich-individualistische Leiterzählung4 des Privatrechts. Im Gegensatz zu der gerade beschriebenen Wahrnehmung wird hier die These vertreten, dass innerhalb der Privatrechtswissenschaft inzwischen die Ansicht vorherrscht, dass Gemeininteressen wesentlicher Bestandteil des Privatrechts sind. Das Unbehagen, das in der Vergangenheit gegen ihre Berücksichtigung bestanden haben mag, wird inzwischen selten geäußert und dann auch weniger vehement. Innerhalb der Privatrechtswissenschaft hat die Berücksichtigung von Erwägungen, die über den individuellen Interessenausgleich hinausgehen, inzwischen ihren gemeinhin akzeptierten Platz. Diese These gilt es im Folgenden zu begründen. Doch zunächst ist auf die Gefahren und den wissenschaftlichen Mehrwert von Selbstbeschreibungen einzugehen (I.) und zu erläutern, was sich hinter dem bereits aufgeworfenen Begriff der Leiterzählung verbirgt (II.). Im Anschluss an diese Vorarbeiten wird die freiheitlich-individualistische Leiterzählung vorgestellt (III.) und aufgezeigt, dass es sich bei ihr um einen Mythos handelt, der weder historisch fundiert ist (IV.), noch heutzutage in Reinform vertreten wird (V.). Im Gegenteil sprechen sich einflussreiche Stimmen für ein Privatrechtsverständnis aus, das Gemeininteressen unbefangen in den Blick nimmt (VI.).
I. Gefahr und Mehrwert einer Selbstbeschreibung Zu Beginn ist darauf hinzuweisen, dass es nicht die eine Debatte über die Berücksichtigung von Gemeininteressen im Privatrecht gibt. Das vorangehende Kapitel hat die Verbindung der Materie zu verwandten Themen der Wertungsjurisprudenz, der Materialisierung und der Steuerungsfunktion des Privatrechts aufgezeigt, um eine größere konzeptuelle Klarheit zu erzielen. Doch ver3 Zum Nichtdiskriminierungsrecht s. etwa Adomeit NJW 2006, 2169 (2171); Lobinger AcP 216 (2016), 28 (86); Picker JZ 2003, 540 (544); ders. in Egon Lorenz (Hrsg.), Karlsruher Forum 2004: Haftung wegen Diskriminierung nach derzeitigem und zukünftigem Recht, 7 (57); im Hinblick auf Frauenquoten Habersack, Gutachten zum 69. DJT, E 36 sowie Windbichler NJW 2012, 2625 (2627); ähnlich zum Artenschutz Diederichsen, Gutachten zum 56. DJT, L 50; ferner generell Peukert Kobe U. L. Rev. 48 (2014), 45 (66). 4 Zum Begriff der Leiterzählung zugleich unter II.
I. Gefahr und Mehrwert einer Selbstbeschreibung
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bindet die Themengebiete freilich weiterhin eine große Gemeinsamkeit: Alle genannten Debatten suchen, die Prinzipien und Leitgedanken des Privatrechts zu ergründen. In jeder der Debatten geht es darum, eine Beschreibung des Privatrechts zu liefern oder einen Vorschlag für die bestmögliche Ausgestaltung des Privatrechts zu entwerfen. Aus diesen Gründen kann auch die Debatte über Gemeininteressen im Privatrecht nicht nachgezeichnet werden, ohne die verwandten Themen mit in den Blick zu nehmen. Dabei setzt die Darstellung zeitlich um 1873, dem Datum des Beginns des Gesetzgebungsverfahrens zum Erlass eines BGB,5 an. Deutlich sollen auch die „Unsicherheiten“ benannt werden, denen ein solches Unterfangen zwangsläufig unterliegt.6 Als Rechtswissenschaftlerin ist es mir unmöglich, die Debatte aus einer anderen Perspektive als der der internen Beobachterin7 wahrzunehmen. Meine Beschreibung des Diskurses kann trotz allem Bemühen um Objektivität von anderen Akteuren der Privatrechtswissenschaft als „selektive“8 oder gar verzerrte Darstellung verstanden werden. Die dann zu erwartende Kritik lässt sich lediglich dadurch entkräften, dass die bestehenden Unsicherheiten offen angesprochen und die eigene Darstellung der Debatte durchweg selbstkritisch hinterfragt wird.9 Der Mehrwert, der in Selbstbeschreibungen liegt bzw. liegen kann, rechtfertigt es allerdings, die Gefahr eines nur begrenzt einlösbaren Objektivitätsanspruchs in Kauf zu nehmen. Mit Hilfe einer privatrechtswissenschaftlichen Selbstbeschreibung lässt sich klarer herausarbeiten, welche expliziten und welche verdeckten Annahmen über das Recht innerhalb einer Disziplin bestehen. Sie zwingt den Selbstbeschreibenden, klar zu artikulieren, wer, wann, was zu einem Thema vertreten hat oder vertritt. Diese Reflektion ermöglicht es, incompletely theorized agreements10 zu erkennen, Zwischentöne zur Kenntnis zu 5 Gesetz betreffend die Abänderung des Nr. 13 des Artikels 4 der Reichsverfassung vom 20.12.1873, RGBl. 1873, 379, umgangssprachlich Lex Miquel-Lasker. 6 Bumke, Rechtsdogmatik, 2017, S. 8; Röthel in Duve/Ruppert (Hrsg.), Rechtswissenschaft in der Berliner Republik, 579 (580); dies. AcP 220 (2020), 19 (25); Simon in Simon (Hrsg.), Rechtswissenschaft in der Bonner Republik, 7 (8). Für eine Selbstbeschreibung der Geschichtswissenschaft Hayden White in Conrad/Kessel (Hrsg.), Geschichte schreiben in der Postmoderne, 123. 7 „Sicht eines beobachtenden Teilnehmers“ – Bumke, Rechtsdogmatik, 2017, S. 8 . 8 Röthel AcP 220 (2020), 19 (25). 9 Eine weitere Verteidigung gegen die Kritik schlägt Gordon vor. Er bittet Akteure, die sich in der von ihm verfassten Selbstbeschreibung seiner Disziplin nicht wiederfinden, die eigenen Ansichten zu hinterfragen. Sollten die Akteure der Auffassung sein, dass er die von ihnen vertretenen Ansichten verzerrt als Teil der herrschenden Meinung wiedergebe, könne dies zunächst daran liegen, dass sie gar nicht der herrschenden Meinung zuzurechnen sind. Sollte dies nicht der Fall sein, sei immer noch zu fragen, ob die in der Selbstbeschreibung aufgeworfenen Hauptkritikpunkte an der herrschenden Meinung nicht dennoch auf ihre Ansichten zuträfen. Wenn auch dem nicht so sei, stehe es jedem offen, die Debatte um eine Replik zu bereichern, s. Gordon Stanford L. Rev. 36 (1984), 57 (59 f. Fn. 8). 10 Sunstein Harv. L. Rev. 108 (1995), 1733 ff. Erhellend aus kultursemiotischer Sicht Lot-
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Kapitel 1: Die privatrechtliche Leiterzählung
nehmen und Diskursgrenzen zwischen den rechtswissenschaftlichen Unterdisziplinen aufzudecken.11 Außerdem lassen sich anhand von Selbstbeschreibungen Entwicklungslinien innerhalb des wissenschaftlichen Programms nachzeichnen. Handelt es sich um eine neue Diskussion, die aufgrund technischer Innovationen im Recht Einzug gehalten hat? Oder wird vielmehr, was sich eventuell wegen einer unterschiedlichen Wortwahl nicht gleich erkennen lässt, eine „Langzeitdebatte“12 fortgeführt? Die Selbstbeschreibung kann dazu beitragen, Fortentwicklungen, Denkkollektive13 sowie Pfadabhängigkeiten14 innerhalb des Forschungsgesprächs sichtbar zu machen. Damit leistet die Selbstbeschreibung auch einen Beitrag bei der Formulierung eines in die Zukunft gerichteten Forschungsprogramms. Denn sie zwingt dazu, sich mit der Wahl der in einem Gebiet für besonders relevant erachteten Themen sowie mit der eigenen Methodik auseinanderzusetzen. Im öffentlichen Recht ist eine Kombination aus Rechtsanalyse mit einer Reflektion über die eigenen Arbeitsweisen des Öfteren anzutreffen. Die sich darunter versammelnden Methoden werden als „neue Verwaltungsrechtswissenschaft“15 zusammengefasst. Die Privatrechtswissenschaft hat erst in den letzten Jahren den Mehrwert einer Beobachtung über das eigene Arbeiten sowie das Verhältnis zu den Nachbarwissenschaften wiederentdeckt.16 An dieser Stelle kann und soll nicht geklärt werden, was die Gründe für diese Zeitversetzung sind. Aber einige Überlegungen lassen sich anstellen: Liegt es an den unterschiedlichen Forschungsgegenständen? Die thematische Nähe des Öffentlichen Rechts zur Demokratietheorie könnte die Wissenschaft des öffentliman Semiotica 12 (1974), 301 (302); ähnlich auch Koschorke, Wahrheit und Erfindung, 4. Aufl. 2017, S. 331. 11 Diskursgrenzen sind unter anderem wahrnehmbar zwischen der Erbrechtswissenschaft und der Erbschaftssteuerwissenschaft, s. Röthel AcP 220 (2020), 19 (33, 39 ff.). Auffällig ist auch, dass sich die Regulierungsrechtswissenschaft nach eigenem Anspruch mit öffentlichem Recht und Privatrecht beschäftigen möchte, tatsächlich aber spürbar häufiger die öffentlich-rechtliche Perspektive eingenommen wird, s. zum Regulierungsrecht noch Kap. 4. II. 3. a). 12 Röthel in Duve/Ruppert (Hrsg.), Rechtswissenschaft in der Berliner Republik, 579 (582). 13 Grundlegend Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, 13. Aufl. 2021, S. 53 ff. 14 Hierzu Hartmann in Wagner u. a. (Hrsg.), Pfadabhängigkeit hoheitlicher Ordnungsmodelle, 73 (81 ff.); Münkler in Wagner u. a. (Hrsg.), Pfadabhängigkeit hoheitlicher Ordnungsmodelle, 49 (58 ff.); für das common law Hathaway Iowa L. Rev 86 (2001), 601 ff. 15 Überblicksartige Charakterisierung bei Bumke in Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 73 (103 ff.); Fehling Die Verwaltung 2017, Beiheft 12, 65 (66 ff.). – Prägend Hoffmann-Riem AöR 115 (1990), 400 ff.; ders. in Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 9 ff.; Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2004, S. 18 ff.; Schuppert in Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Schuppert (Hrsg.), Reform des allgemeinen Verwaltungsrechts, 65 (98 ff.); skeptisch Wahl, Herausforderungen und Antworten. Das öffentliche Recht der letzten fünf Jahrzehnte, 2006, S. 91 ff. 16 S. Einl.
II. Rechtswissenschaft und Leiterzählung
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chen Rechts früher als die des Privatrechts dazu veranlasst haben, über das eigene Arbeiten zu reflektieren. Oder ist es nicht eher so, dass in der Privatrechtswissenschaft schon seit Jahrzehnten interdisziplinäre Ansätze, insbesondere die ökonomische Analyse des Rechts, anzutreffen sind und die damit verbundene Methodendiskussion lediglich nicht den gleichen Einfluss erreichte wie die der neuen Verwaltungsrechtswissenschaft? Schließlich kann man in all dem auch nur wissenschaftliche Moden sehen, die in „Zyklen“17 kommen und gehen.18
II. Rechtswissenschaft und Leiterzählung Ist die Entscheidung für eine Selbstbeschreibung gefallen, so gilt es im Anschluss zu klären, mit welchen Materialien und Techniken das Bild gezeichnet werden soll. Hier erweisen sich die Erkenntnisse der Erzähltheorie als aufschlussreich. Insbesondere liefert sie mit der Meistererzählung eine aussagekräftige Metapher, an die angeknüpft werden kann. Die Erzähltheorie beschäftigt sich mit der Kunst des Erzählens. Seit jeher erzählen Menschen Geschichten, um sich selbst und anderen ihre Umwelt und Erlebtes zu erklären.19 Diese Geschichten beschränken sich nicht auf Mythen oder Fiktionen.20 Sie sind auch in Bereichen anzutreffen, die in der Moderne mit Rationalität und logischem Denken in Verbindung gebracht werden.21 In den Worten Koschorkes: „Das Erzählen hat sich nicht ins Reservat der Schönen Künste einsperren lassen. Der Drang, die Welt erzählerisch zu modellieren, hält sich nicht an die Grenzziehung zwischen gesellschaftlichen Funktionssystemen. Das betrifft alle Ebenen – von den Alltagsgeschichten über wissenschaftliche Theorien bis hin zu den master narratives, in denen sich Gesellschaften als ganze wiedererkennen – und alle Formen: von den konventionellen Floskeln, in denen sich kleine Narrative verbergen und in die Grammatik der Umgangssprache einsenken, bis zu den elaboriertesten, nur von Spezialisten beherrschbaren Erzähllabyrinthen. Wo immer sozial Bedeutsames verhandelt wird, ist das Erzählen im Spiel.“22
Wenn Koschorke von den „nur von Spezialisten beherrschbaren Erzähllabyrinthen“ spricht, meint er unter anderem die Wissenschaften. Denn auch im wis-
17 Bumke in Marsch/Münkler/Wischmeyer (Hrsg.), Apokryphe Schriften, 47 (50); vgl. auch für die Rechtsgeschichte Rückert FS Wadle, 963 (968). 18 Kennedy in Trubek/Santos (Hrsg.), The New Law and Economic Development. A Critical Appraisal, 19 ff. 19 Statt aller Koschorke, Wahrheit und Erfindung, 4. Aufl. 2017, S. 9 f. 20 Ebd., S. 16 ff. 21 Ebd., S. 18, 329 ff.; s. auch die Beiträge im Band Klein/Martínez (Hrsg.), Wirklichkeitserzählungen, 2009. 22 Koschorke, Wahrheit und Erfindung, 4. Aufl. 2017, S. 18 f., Hervorhebung im Original.
26
Kapitel 1: Die privatrechtliche Leiterzählung
senschaftlichen Kontext bedient man sich Erzählungen, um Ereignisse und Entwicklungen sinnhaft zu erklären.23 Innerhalb des Wissenschaftssystems kam der Geschichtswissenschaft eine Vorreiterrolle dabei zu, die Erkenntnisse der Erzähltheorie, die ihre Ursprünge in der Literaturtheorie hat, für ihre eigenen Zwecke zu nutzen. Insbesondere Hayden White trug dazu bei, die Bedeutung von Narrativen für die Geschichtsdarstellung sichtbar zu machen.24 Er zeigte auf, dass jeder Beschreibung geschichtlicher Ereignisse eine „ideologische Komponente“25 , ein „fiktionale[s] Element“26 innewohnt. Dass man in der Geschichtsdarstellung Ereignisse in Relation zueinander stellt und manchen Ereignissen mehr Bedeutung als anderen zumisst, wertete White als Beleg für den „narrativen Grundcharakter[] historischer Darstellungen“27.28 Nun soll die Erkenntnis um den narrativen Gehalt von Geschichtsdarstellung nicht dazu führen, sie mit Romanen oder Märchen gleichzustellen. Geschichtsdarstellungen sehen ihre maßgeblichen Bezugspunkte immer noch in Ereignissen, die sich tatsächlich zugetragen haben. Es geht ihnen auch nicht darum, diese Ereignisse fiktional-literarisch zu verarbeiten. Ihr Anspruch ist es vielmehr, schlüssige „faktuale Erzählungen“29, sogenannte „Wirklichkeitserzählungen“30 , zu liefern. Inzwischen haben weitere Wissenschaften die Erzähltheorie für sich entdeckt. Auch in der Rechtswissenschaft gibt es Texte, die sich der Mittel der Erzähltheorie für ihre Analysen bedienen.31 Sie eint die Annahme, dass auch im Recht Narrativen neben „Normtext und Dogmatik“ eine Bedeutung zukommt.32 Dabei stellen sie nicht in Abrede, dass die Arbeit am Gesetzestext und die Anwendung des Rechts auf konkrete Sachverhalte im Mittelpunkt rechtspraktischen und rechtswissenschaftlichen Arbeitens stehen. Vielmehr möchten 23
Dann auch explizit ebd., S. 329 – „epistemische Narrative“. White, Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Eu rope, 1973. Dass ab Mitte der 1970er Jahre weitere Historiker die narrative Komponente in der Geschichtsdarstellung untersuchten, lässt sich der Nachzeichnung bei Chartier in Conrad/ Kessel (Hrsg.), Geschichte schreiben in der Postmoderne, 83 (85) entnehmen. 25 White, Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe, 1973, S. 21 und passim. 26 White in Conrad/Kessel (Hrsg.), Geschichte schreiben in der Postmoderne, 123 (155). 27 Jarausch/Sabrow in Jarausch/Sabrow (Hrsg.), Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945, 9 (13). 28 White, Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe, 1973, S. 21 und passim. 29 Klein/Martínez (Hrsg.), Wirklichkeitserzählungen, 2009, S. 6 . 30 Treffend der Titel von Klein/Martínez (Hrsg.), Wirklichkeitserzählungen, 2009. 31 Für diese Arbeitsweise s. etwa v. Arnauld in Klein/Martínez (Hrsg.), Wirklichkeitserzählungen, 14 ff.; ders. (Hrsg.), Völkerrechtsgeschichte(n). Historische Narrative und Konzepte im Wandel, 2017; Bumke in Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 73 (95 ff.). 32 Kotzur in v. Arnauld (Hrsg.), Völkerrechtsgeschichte(n). Historische Narrative und Konzepte im Wandel, 99. 24 Insbes.
II. Rechtswissenschaft und Leiterzählung
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sie auf die daneben bestehenden narrativen Elemente des Rechts hinweisen. In manchen Fällen treten Narrative offen zu Tage; etwa wenn man sich des Gründungsmythos der Europäischen Union 33 bedient, um Harmonisierungsvorhaben zu rechtfertigen. Meistens finden sie jedoch weniger explizit Erwähnung. Sie sind dann eher paradigmatische34 Hintergrundannahmen, die sich durch ein betont erzählendes Element auszeichnen. Sie formen untergründig unsere Vorstellungen von dem, was Recht ist oder sein sollte. Mindestens zwei Gründe können erklären, weshalb die Erzähltheorie nach der Geschichtswissenschaft die Rechtswissenschaft erreicht hat. Erstens geht es der Rechtswissenschaft ebenfalls um „Weltbeschreibung[en]“35 , die „immer auch historische Konstruktion“36 sind. Sofern Recht in einen historischen Kontext eingebettet wird, erlangt der Befund einer narrativen Komponente für die Rechtswissenschaft in gleicher Weise Geltung wie für die Geschichtswissenschaft. Zweitens besteht traditionell eine Verbindung zwischen der Literaturund der Rechtswissenschaft, an die angeknüpft werden kann.37 Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts dachte etwa Jakob Grimm Recht und Poesie als miteinander verwandt.38 Wenn sich also heute die Law-as-Literature-Bewegung rechtlichen Texten mit den Mitteln der Literaturwissenschaft nähert, greift sie die damaligen Gedanken wieder auf.39 Um zu analysieren, wie in der Rechtswissenschaft über Gemeininteressen im Privatrecht gedacht wird, ist aus dem Repertoire der Erzähltheorie der Begriff der Meistererzählung besonders erkenntnisversprechend. Konzeptionell ist die Meistererzählung in der Nähe der „großen Erzählung“40 , „Metaerzäh33 Laut Weiler speist sich dieser Mythos aus den Leitideen („ideals“) Frieden, Wohlstand und Supranationalität, s. Weiler in The Constitution of Europe. „Do the New Clothes Have an Emperor?“ and Other Essays on European Integration, 238 (240 und 244); ebenso Haltern, Europarecht und das Politische, 2005, S. 172 ff. 34 Weiterführend zu Paradigmen der Wissenschaft Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 2. Aufl. 1976, S. S. 25 ff., wobei Kuhn unter Paradigmen bzw. Paradigmata – enger als die hier verwendete Begrifflichkeit – wissenschaftliche Annahmen zählt, die problemlos an den bisherigen Kenntnisstand anknüpfen sowie zugleich innovativ und „offen genug [sind], um […] Fachleuten alle möglichen ungelösten Probleme zu stellen“ (ebd., S. 25.). 35 Kotzur in v. Arnauld (Hrsg.), Völkerrechtsgeschichte(n). Historische Narrative und Konzepte im Wandel, 99 (101), Hervorhebung im Original. 36 Ebd., 99 (101), Hervorhebung im Original. 37 Nachzeichnung bei v. Arnauld in Klein/Martínez (Hrsg.), Wirklichkeitserzählungen, 14 (45). 38 Jakob Grimm, Zeitschrift für die geschichtliche Rechtswissenschaft II, 1816, H. 1, S. 25 ff. 39 In Deutschland ist die Law-as-Literature-Bewegung eine kleine Randströmung, s. aber aus jüngerer Zeit Ino Augsberg, Die Lesbarkeit des Rechts, 2009; Blufarb, Geschichten im Recht. Übertragbarkeit von „Law as Narrative“ auf die deutsche Rechtsordnung, 2017; Lomfeld JZ 2019, 369 (370 f.). 40 Rückert FS Wadle, 963 ff. (insbes. 969). Von den „großen Meistererzählungen“ spricht Kotzur in v. Arnauld (Hrsg.), Völkerrechtsgeschichte(n). Historische Narrative und Konzepte im Wandel, 99 (Hervorhebung im Original).
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Kapitel 1: Die privatrechtliche Leiterzählung
lung“41, „Kollektiverzählung“42 oder schlicht dem bereits erwähnten „Narra tiv“43 verortet.44 Unter einer Meistererzählung versteht man „die in einer kulturellen Gemeinschaft zu einer gegebenen Zeit dominante Erzählweise des Vergangenen.“45 Es handelt sich bei ihr mithin um einen „kulturelle[n] Mod[us] der Weltkonstruktion.“46 Allerdings birgt die Verwendung des Begriffes der Meistererzählung, um eine „dominante Erzählweise“47 zu benennen, auch eine Gefahr: Bei der Meistererzählung schwingt mit, dass es sich um eine vortreffliche und exzellente Beschreibung handelt. Sie könnte daher leicht nicht nur als dominante, sondern auch als qualitativ besonders überzeugende Erzählung verstanden werden. Doch ist eine Aussage über die Qualität einer Erzählung mit ihrer Bezeichnung als Meistererzählung nicht notwendig verbunden. Um ungewollte Konnotationen zu verhindern, wird hier von der Leiterzählung als dem vorherrschenden Narrativ gesprochen. Es wundert nicht, dass der jeweiligen Leiterzählung für die Deutung ihres Themas eine machtvolle Wirkung zugesprochen wird.48 Da sie immer wieder und häufiger als alternative Erzählungen erzählt wird, verstetigt und verselbständigt sie sich. Sie gibt den Ton an.
41
Lyotard, Das postmoderne Wissen, 5. Aufl. 2005, S. 14. Sommer in Klein/Martínez (Hrsg.), Wirklichkeitserzählungen, 229 (231). 43 Bal in Bal (Hrsg.), Kulturanalyse, 7 (9); rezipiert von Schreiber, Narrative der Globalisierung, 2015, S. 14. – Speziell für die Rechtswissenschaft Bumke in Marsch/Münkler/ Wischmeyer (Hrsg.), Apokryphe Schriften, 47 (55): „Ein Narrativ ist eine Sammlung von Aussagen, Einschätzungen und Hypothesen über die Entwicklung des Rechts, der Rechtspraxis oder der Rechtswissenschaft.“ 44 Vgl. Schreiber, Narrative der Globalisierung, 2015, S. 13; krit. ob der terminologischen Ungenauigkeiten Jarausch/Sabrow in Jarausch/Sabrow (Hrsg.), Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945, 9 ff. 45 Jarausch/Sabrow in Jarausch/Sabrow (Hrsg.), Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945, 9 (17). 46 Gärtner, ‚Vaut mieux souffrir au paradis …‘ Das Imaginarium Europa und seine Meistererzählungen: Eine narrative Analyse am Beispiel Kameruns, https://www.wusgermany.de/ de/wus-service/wus-aktuelles/wus-foerderpreis/wus-foerderpreis-2018/vaut-mieux-souff rir-au-paradis-das-imaginarium-europa-und-seine-meistererzaehlungen-eine-narrative-0, S. 5 (letzter Abruf: 8.2.2022); Nünning in Strohmaier (Hrsg.), Kultur – Wissen – Narration. Perspektiven transdisziplinärer Erzählforschung für die Kulturwissenschaften, 15 (18). 47 Jarausch/Sabrow in Jarausch/Sabrow (Hrsg.), Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945, 9 (17). 48 Vgl. Koschorke, Wahrheit und Erfindung, 4. Aufl. 2017, S. 2 24. 42
III. Die freiheitlich-individualistische Leiterzählung
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III. Die freiheitlich-individualistische Leiterzählung 1. Der individualistische Grundriss des Privatrechts Auch im Recht sind Leiterzählungen anzutreffen.49 Speziell für das deutsche Privatrecht ist eine Leiterzählung wahrnehmbar,50 wonach das BGB als wichtigste deutsche, privatrechtliche Kodifizierung bei seiner Entstehung auf drei Leitideen beruhte: Auf den Konzepten des liberalen Individualismus (a)), der Privatautonomie (b)) und der Vorstellung, dass sich die Sphären des öffentlichen Rechts und des Privatrechts trennscharf abgrenzen ließen (c)). a) Der liberale Individualismus Der Erzählstrang zum Individualismus lautet wie folgt: Es war einmal ein Bürgertum, das für seine Rechte kämpfte. Mit seiner Forderung nach einer freiheitlichen Rechtsordnung war es in der Paulskirchenverfassung noch gescheitert. Aber zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als seine Blütezeit eigentlich schon hinter ihm lag, erreichte es sein Ziel doch noch mit der Verabschiedung des BGB.51 In ihm sah es den lange erstrebten liberalen Gesellschaftsentwurf verwirklicht. Der Einfluss von Herkunft und Stand wurde zurückgedrängt; den Ideen von einer gleichen Rechtsfähigkeit aller Bürger (§ 1 BGB) sowie von einem Raum zur freien wirtschaftlichen Betätigung wurde zur Durchsetzung verholfen. Dem BGB lag maßgeblich das Konzept des Individualismus zugrunde,52 gemäß dem das „private[] und allgemeine Wohl am ehesten durch die möglichst ungehinderte Verwirklichung des freien Willens jedes einzelnen Individuums“53 gesteigert wird. Dementsprechend gibt das BGB nicht vor, wie die Rechtsverhältnisse zwischen Privaten beschaffen sein müssen, sondern stellt die Konstrukte zur Verfügung, mit Hilfe derer die Individuen selbst ihre Beziehungen bestmöglich ausgestalten können. Die Leiterzählung verortet die philosophischen Grundlagen dieses Individualismus in der „formale[n] Freiheitsethik“54 der Aufklärung, wie sie vor allem 49 So auch Auer, Der privatrechtliche Diskurs der Moderne, 2014, S. 1; Kuntz AcP 219 (2019), 254 (287); gleichsinnig Bumke in Marsch/Münkler/Wischmeyer (Hrsg.), Apokryphe Schriften, 2018, 47 (55 f.); Kahn, The Cultural Study of Law, 1999, S. 1; Katharina Isabel Schmidt GerSR 39 (2016), 121 (124). 50 Ebenfalls ein vorherrschendes „Narrativ“ im deutschen Privatrecht ausmachend Kähler RW 2018, 1 (3) und passim; von einem „Rechtsverständnis“ sprechend Limbach JuS 1985, 10. 51 Wieacker in Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, 9 (15, 22); ders., Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 479 ff. 52 S. etwa BGB-RGRK/Denecke, 11. Aufl., 1959, Einl. Anm. 2 2. – Im Familienrecht dominierten jedoch patriarchische Vorstellungen, s. hierzu Derleder KJ 2000, 1 (4 f.); Meder, Familienrecht. Von der Antike bis zur Gegenwart, 2013, S. 192 ff. 53 Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, 2005, S. 12 m. w. N. 54 Wieacker in Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, 9 (24); ders. FS zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages, Bd. II, 1 (2).
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Ausdruck in den Schriften Kants erfahren hat.55 Demnach habe der Einzelne nach der Maxime zu handeln, von der er zugleich wolle, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.56 Doch die innerliche Bindung an diese Maxime könne nur aus der eigenen Vernunft begründet und „unter der Idee der Freiheit“57 gedacht werden. Ein jeder müsse die Legitimation für sein Handeln bei sich selbst suchen und trage die Verantwortung hierfür. Auf das Recht übertragen ist die Freiheit des Einzelnen also Voraussetzung dafür, dass dieser als verantwortlicher Bürger handeln kann. b) Privatautonomie Eng hiermit verbunden ist der zweite Erzählstrang über die Bedeutung der Privatautonomie für das Privatrecht. Auch wenn sich die Verwendung des Begriffs Privatautonomie mindestens bis zum Ende des 18. Jahrhunderts nachverfolgen lässt,58 war es Werner Flume, der mit seinem Beitrag in der Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages59 maßgeblich unser heutiges Verständnis prägte. 60 Laut Flume bezeichnet Privatautonomie „das Prinzip der Selbstgestaltung der Rechtsverhältnisse durch den Einzelnen nach eigenem Willen. Die Privatautonomie ist ein Teil des allgemeinen Prinzips der Selbstbestimmung des Menschen.“61 Die Privatautonomie ist das „Prinzip für das Privatrecht der Moderne.“62 Die überragende Bedeutung, die ihr für unser heutiges Privatrechtsverständnis zugemessen wird, kommt in vielgestaltigen Formulierungen zum Ausdruck: Mal wird sie als „zentrales Element, Instrument und Grundmechanismus des Pri55 S. Behrends in Behrends/Sellert (Hrsg.), Der Kodifikationsgedanke und das Modell des Bürgerlichen Gesetzbuches, 9 (74); Coing FS Dölle, 25 (28); Jan Schröder in Rechtswissenschaft in der Neuzeit, 599 (600); vgl. auch Auer AcP 208 (2008), 584 (629), wobei selbst weitaus differenzierter (ebd., 586 ff.). 56 Kant in Akademie Textausgabe, Bd. I V, 385 (421). 57 Ebd. (452). 58 S. Hofer in Collin u. a. (Hrsg.), Selbstregulierung im 19. Jahrhundert – zwischen Autonomie und staatlichen Steuerungsansprüchen, 63 (65 ff.) und Rückert in Klippel (Hrsg.), Naturrecht im 19. Jahrhundert, 135 (145); beide mit Verweis auf Johann Christian Majer, Autonomie vornehmlich des Fürsten- und übrigen Adelstandes im R. deutschen Reiche, 1782, S. 199. Kiehnle bewertet ebenfalls die Ausführungen von Majer als maßgeblich für das Auftauchen der „Privatautonomie“ im privatrechtlichen Diskurs (S. 377 ff.), verortet den begrifflichen Ursprung von Privatautonomie aber in der Anerkennung der Religionsfreiheit nach der Spaltung der Kirche in Katholiken und Protestanten, s. Kiehnle ZRG KA 104 (2018), 346 (375 f.) und passim. 59 Werner Flume FS zum hundertjährigen Bestehen des DJT, Bd. I , 135 ff. 60 S. Röthel in Bumke/Röthel (Hrsg.), Autonomie im Recht, 91 (92). 61 Werner Flume FS zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages I, 135 (136); fast wortgleich ders., Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. II, 4. Aufl. 1992, S. 1. 62 Hofer in Collin u. a. (Hrsg.), Selbstregulierung im 19. Jahrhundert – zwischen Autonomie und staatlichen Steuerungsansprüchen, 63.
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vatrechts“63 bezeichnet, mal als „Leitbegriff“64, „oberster Grundsatz“65 , „das selbstverständliche Grundprinzip“66 , oder gar als „Fixstern des Privatrechtssystems“, 67 nach dem sich andere Prinzipien ausrichten. Gemäß der Leiterzählung bestimmen Selbstbestimmung, Selbstgestaltung, Selbstbindung und Selbstverantwortung, die alle in dem Begriff der Privatautonomie mitschwingen, den Charakter des Privatrechts. 68 Es geht nicht darum, die rechtlichen Beziehungen zwischen Privaten im Gemeininteresse zu gestalten. Vielmehr ist das Privatrecht darauf ausgelegt, jedem Einzelnen zu ermöglichen, seine rechtlichen Beziehungen weitestgehend nach seinem Willen zu formen. Dabei ist es zunächst einmal unerheblich, ob „sinnvolle“ oder „richtige“ Gründe den Willensentschluss des Einzelnen tragen oder dieser Willensentschluss auf ein sinnhaftes Ziel gerichtet ist. 69 Stat pro ratione voluntas.70 c) Öffentliches Recht und Privatrecht Eine weitere Grundannahme der Leiterzählung besteht in der Vorstellung, dass sich öffentliches Recht und Privatrecht trennscharf abgrenzen lassen. Danach mag es zuzugestehen sein, dass es Felder gibt, bei denen sich die öffentlich-rechtliche und die privatrechtliche Betrachtung überschneiden können. Im Kern handelt es sich aber bei dem öffentlichen Recht (zu dem für diese Zwecke auch das Strafrecht zu rechnen ist) und dem Privatrecht um zwei voneinander abgrenzbare, eigenständige Rechtsgebiete. Das öffentliche Recht regelt das Verhältnis des Staates zu seinen Bürgern sowie die Beziehungen innerhalb des Staatsgefüges; das Privatrecht regelt die Rechtsbeziehungen der Privaten untereinander.71 Laut der Leiterzählung handelt es sich bei der Aufteilung des Rechts in öffentliches Recht und Privatrecht nicht nur um eine Systematisierung des Rechtsstoffes. Vielmehr ist die Differenzierung Ausdruck bedeutender inhaltlicher 63 Bumke in Bumke/Röthel (Hrsg.), Autonomie im Recht, 69 (70). Krit. von einem „vermeintliche[n] Alleinstellungsmerkmal“ sprechend Ackermann ZEuP 2018, 741 (769). 64 Röthel in Bumke/Röthel (Hrsg.), Autonomie im Recht, 91 (92). 65 Dieter Grimm, Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, 1987, S. 24; gleichsinnig Looschelders JZ 2012, 105; ähnlich Behrends in Behrends/Sellert (Hrsg.), Der Kodifikationsgedanke und das Modell des Bürgerlichen Gesetzbuches, 9 (74). 66 Werner Flume FS zum hundertjährigen Bestehen des DJT, Bd. I , 135 (141). 67 „Rechtsgeschäftliche Privatautonomie und subjektives Recht, die Fixsterne des Privatrechtssystems“ – Mestmäcker AcP 168 (1968), 235 (238); übernommen von Reuter in Franz Bydlinski/Mayer-Maly (Hrsg.), Die ethischen Grundlagen des Privatrechts, 105 (113). 68 „Selbstbestimmung und Selbstverantwortung des Menschen als Grundkonstante des Privatrechts.“ – Zöllner JuS 1988, 329 (336); s. ferner Franz Bydlinski AcP 180 (1980), 1 (4); Medicus NuR 1990, 145 (146). 69 Menke, Kritik der Rechte, 2015, S. 179, 197. 70 Werner Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. II, 4. Aufl. 1992, S. 6 . 71 Explizit Kloepfer NuR 1990, 337 (340) sowie Franz Bydlinski AcP 194 (1994), 319 (321, 327); allerdings nuancierter ders. AcP 204 (2004), 309 (325, 341).
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Unterschiede: Während das öffentliche Recht sich mit dem Staat beschäftigt, geht es im Privatrecht um die Gesellschaft.72 Im Bereich des öffentlichen Rechts herrschen Gemeinwohlerwägungen vor; im Bereich des Privatrechts die eben erwähnte Privatautonomie.73 Demnach leistet das Privatrecht einen Beitrag dazu, dass der gesellschaftliche Raum ein Freiheitsraum bleibt, in dem sich die Individuen frei von steuernden Einflüssen des Staates entfalten können. Die Grundüberzeugung, dass das Privatrecht eigenständig neben dem öffentlichen Recht besteht, speist sich aus weiteren Punkten. Zwei sollen hier erwähnt werden: Erstens betont die Leiterzählung, dass das Privatrecht auf eine sehr viel längere Geschichte und Tradition blicken kann als das heutige rechtsstaatlich eingebundene und konstitutionalisierte öffentliche Recht. Das BGB beruhe maßgeblich auf dem ius commune, das sich wiederum aus dem römischen Recht speise. Noch heute gälten im Privatrecht Instrumente, die die Glossatoren, Kommentatoren und die Pandektenwissenschaft in jahrhundertelanger Bearbeitung erschlossen hätten. Daher sei das Privatrecht in seinen Wurzeln „wissenschaftlich entwickeltes, d. h. gelehrtes Recht.“74 Im Gegensatz dazu habe das öffentliche Recht den Charakter gesetzten Rechts. Anders als beim BGB sei die Positivierung öffentlich-rechtlicher Vorschriften nicht so sehr Kodifikation gewachsener Regeln, als vielmehr Ausdruck politischer Entscheidungen.75 Zweitens, und dieser Punkt ist eng mit dem vorherigen verbunden, spricht die Leiterzählung dem Privatrecht einen höheren Grad an Systematisierung als dem öffentlichen Recht zu.76 Die Verfasser des BGB hätten auf den strukturierten und prinzipienbasierten Vorarbeiten der Pandektistik aufbauen können.77 In der Folge zeichne sich das BGB in seiner ursprünglichen Fassung ebenfalls durch seine strukturelle Klarheit aus.78 Gemäß der Leiterzählung gilt es, die für
72 Darstellung der Evolution dieser Sichtweise bei Dieter Grimm, Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, 1987, S. 27, 46 f., 85 f., 194 und passim. Ebenfalls eine Nachzeichnung der Kontrastierung in HKK/Rückert, 2003, Vor § 1 Rn. 72 ff. 73 Diese Differenzierung vertrat wirkmächtig v. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. I, 1840, S. 22. 74 So zum ius commune Zimmermann JZ 2007, 1 (9 f.); gleichsinnig Haferkamp AJCL 56 (2008), 667 (674); Jansen, Rechtswissenschaft und Rechtssystem, 2018, S. 9 ff. Zu dieser Einschätzung in Bezug auf das Privatrecht s. nur Ernst in Engel/Schön (Hrsg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, 3 (insbes. 9 f.); HKK/Rückert, 2003, Vor § 1 Rn. 6 4; Wagner ZEuP 2007, 180. 75 Aus historischer Sicht Haferkamp AJCL 56 (2008), 667 (668 ff.). 76 Diesen Aspekt der Leiterzählung aufgreifend Kumm GLJ 2006, 341 (360); Tischbirek, Die Verhältnismäßigkeitsprüfung. Methodenmigration zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht, 2017, S. 145. 77 Statt aller HKK/Zimmermann, 2003, Vor § 1 Rn. 20 und 37. 78 Vgl. die differenzierte Sichtweise bei Harm Peter Westermann AcP 178 (1978), 150 (179). Zur „Systematisierungsleistung“ des BGB Achilles JZ 2018, 953 (954); Wagner ZEuP 2007, 180 (181); HKK/Zimmermann, 2003, Vor § 1 Rn. 37 sowie Rückert JZ 2003, 749 (751), der darin aber eine von der „gewohnte[n] Geschichte abweichende Beschreibung“ zu erkennen vermag.
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das Privatrecht charakteristische Struktur zu erhalten.79 Im Verfassungs- und Verwaltungsrecht könne man hingegen nicht auf eine lange Geschichte wissenschaftlicher Bearbeitung zurückgreifen, um sich Gesetze oder Rechtsinstrumente zu erschließen. Das öffentliche Recht sei stattdessen geprägt von der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes80 und Abwägungsprozessen.
2. Das privatrechtliche Sozialmodell der materialen Ethik Nun räumt auch die Leiterzählung ein, dass das heutige Privatrecht große Unterschiede zum Privatrecht um 1900 aufweist, als das BGB in Kraft trat. Demnach hat das Privatrecht auf die großen gesellschaftlichen Umwälzungen des letzten Jahrhunderts reagiert und seinen Charakter seither – wenn auch nicht vollständig verändert – in Teilen gewandelt. Wieacker entwarf ein Bild der privatrechtlichen Entwicklung in seinem Werk zur Privatrechtsgeschichte der Neuzeit81 sowie zum Sozialmodell des Privatrechts. 82 Bis heute gilt seine Erzählung als die „jedenfalls in Deutschland dominante[] Interpretation der Privatrechtsgeschichte.“83 Sie findet häufig Erwähnung, um auf ein gemeinsames Wissen um die Fundamente und die Entwicklung des deutschen Privatrechts anzuspielen. 84 Aufgrund der großen Prägekraft von Wieackers Arbeiten zur Fortentwicklung des BGB für das vorherrschende Privatrechtsverständnis scheint es angemessen, seine Ausführungen hierzu mit denen der Leiterzählung gleichzusetzen. Laut Wieacker wandelte sich das Privatrechtsmodell von seiner freiheitlichen Ausrichtung zu Beginn des 20. Jahrhunderts hin zu einem Modell der „materiale[n] Ethik.“85 Es kehre „zu den ethischen Grundlagen des älteren eu-
79 Zu diesen „Abkapselung[s]“-Tendenzen Ackermann ZEuP 2018, 741 (744); s. ferner Somek VVDStRL 79 (2020), 7 (10). 80 S. aber Tischbirek, der eine der Wurzeln der Verhältnismäßigkeitsprüfung im Notstandsrecht des BGB erkennt (Tischbirek, Die Verhältnismäßigkeitsprüfung. Methodenmigration zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht, 2017, S. 11 ff.). 81 Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967. 82 Wieacker in Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, 9 ff. 83 Gralf-Peter Calliess in Grünberger/Jansen (Hrsg.), Privatrechtstheorie heute, 2017, 55 (57). Ähnlich: „Hausbuch aller etwas gebildeteren Juristen“ – Rückert JZ 2003, 749 (750); „stil- und meinungsprägend“ – Rüping, Der mündige Bürger. Leitbild der Privatrechtsordnung?, 2017, S. 61. 84 Z. B. Gralf-Peter Calliess in Micklitz (Hrsg.), Verbraucherrecht in Deutschland, 65 (68); Canaris AcP 200 (2000), 273 (282); Eichenhofer JuS 1996, 857 (858); Habersack, Vertragsfreiheit und Drittinteressen, 1992, S. 17; Hesse, Verfassungsrecht und Privatrecht, 1988, S. 33; Kübler FS Raiser, 697 (698, 707 ff.); Limbach, JuS 1985, 10; Reuter AcP 189 (1989), 199 (200); Harm Peter Westermann AcP 178 (1978), 150 (152 f.); selbst distanziert Benöhr ZfA 1977, 187; Schubert in Hofmeister (Hrsg.), Kodifikation als Mittel der Politik, 11 (28). 85 Wieacker in Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, 9 (24); s. auch ders., Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 539 ff.
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ropäischen Gemein- und Naturrechts zurück.“86 Erste Materialisierungstendenzen des BGB hätten sich bereits in der Weimarer Republik gezeigt.87 Die Entwicklung des privatrechtlichen Sozialmodells unter den Nationalsozialisten zeichnet Wieacker allerdings nur in Ansätzen nach.88 Sie sind dahingehend zu ergänzen, dass sich das Privatrecht im Dritten Reich gänzlich an der Maxime des Volkswohls auszurichten hatte, um den Gesetzen des nationalsozialistischen Unrechtsregimes den Anschein von Rechtsstaatlichkeit zu vermitteln.89 Gemäß der von Wieackers Thesen geprägten Leiterzählung vermochte das Privatrecht aber nach dem Zweiten Weltkrieg und der Rückkehr zu demokratischen Strukturen mehr oder minder reibungslos an seinen Bestand vor 1933 anzuknüpfen. Allein die Gegebenheiten waren gänzlich andere. War das Wirtschaftsleben zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach der Leiterzählung insbesondere von der Landwirtschaft geprägt, trug nun der industrielle Sektor mit seiner großen Arbeiterschaft den Hauptteil zur Wirtschaftsleistung bei. Wo zu Beginn ein liberales Bürgertum seine Freiheitssphäre gegen den Kaiser als Souverän des Staates abzugrenzen suchte, fanden sich die Bürger nun in der Position, dass alle Staatsgewalt (und damit auch das Privatrecht) vom Volke ausging. Diese Veränderungen veranlassten – so die von Wieacker vertretene These – das Privatrecht dazu, seine liberale Grundausrichtung um soziale Elemente zu ergänzen. Als Beleg hierfür führt er etwa den Ansatz des BGH an, beim Einwand des Mitverschuldens „soziale[] Billigkeitsgesichtspunkte“90 in die Bewertung einzustellen, sowie die Entstehung eines sozialen Mietrechts durch die Tätigkeit
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Wieacker in Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, 9 (24). Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 514 ff. – Eine genauere Analyse der Rechtsentwicklung in der Weimarer Republik lieferte dann Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 8. Aufl. 2017, S. 13 ff. Er geht unter anderem ein auf die Rechtsprechung des RG zur Vertragsanpassung bei Unzumutbarkeit am Festhalten eines Vertrages zu den vereinbarten Konditionen (S. 24 ff.) sowie zur Möglichkeit, sich bei Wegfall der objektiven Geschäftsgrundlage vom Vertrag zu lösen (S. 38 ff.). 88 Wieacker erwähnt in seiner Privatrechtsgeschichte Gesetze aus der Zeit von 1933 bis 1945, die nach seiner Ansicht auch in einem Rechtsstaat hätten Geltung beanspruchen können. Dazu zählt er etwa die Verabschiedung des Verschollenheitsgesetzes oder Änderungen im Ehegesetz (Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 533 ff.). Als einer der in der Privatrechtswissenschaft „beteiligten Zeitgenossen“ (S. 514 Fn. 2) bemüht er sich um Abgrenzung von Rechtsidee und Ideologie der Nationalsozialisten, s. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 514 f., 518, 531, 533. – Eine im Vergleich mit seiner Selbstbezeichnung kritischere Auseinandersetzung mit Wieackers Wirken unter den Nationalsozialisten liefern Schumann FS der Juristenfakultät zum 600jährigen Bestehen der Universität Leipzig, 633 (636 ff.); dies. in Schumann/Wapler (Hrsg.), Erziehen und Strafen, Bessern und Bewahren. Entwicklungen und Diskussionen im Jugendrecht im 20. Jahrhundert, 73 (80, 92) sowie Winkler, Der Kampf gegen die Rechtswissenschaft. Franz Wieackers „Privatrechtsgeschichte der Neuzeit“ und die deutsche Rechtswissenschaft des 20. Jahrhunderts, 2014, S. 455 ff. 89 S. hierzu Einl. III. 90 Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 529. 87
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des privatrechtlichen Gesetzgebers.91 Wenn auch Wieacker diese Entwicklung in großen Teilen guthieß, so beklagte er dennoch „moralisierende[] Tendenzen“92 sowie die „ethische Aufladung des Privatrechts.“93
3. Die Überformung durch das GG und die Europäischen Verträge Ein weiterer bedeutender Erzählstrang der Leitererzählung beschäftigt sich mit dem Einfluss, den das BVerfG und die Institutionen der EU auf das deutsche Privatrecht nehmen. Im Gegensatz zu Wieackers prägender Einschätzung, dass sich das Privatrecht aus sich heraus (wieder) mehr einer materialen Ethik zuwende, um auf soziale Entwicklungen zu reagieren,94 geht es hier um die Bewertung von Einwirkungen, die von außen an das Privatrecht herangetragen werden. Laut der Leiterzählung sind die Aussagen des BVerfG zur Wirkung der Grundrechte innerhalb von Privatrechtsbeziehungen nur schwerlich mit der freiheitlich-individualistischen Grundkonzeption des Privatrechts in Einklang zu bringen. In dem Moment, in dem im Lüth-Urteil das GG zur objektiven Wertordnung erhoben wurde,95 habe das BVerfG den Grundstein für eine grundrechtliche Überformung des Privatrechts gelegt. Dabei blendet die Leiterzählung die Bedeutung des GG für den demokratischen Rechtsstaat nicht aus. Jedoch betont sie die kritischen Aspekte einer (mittelbaren) Bindung Privater an die Verfassung. Zum einen hätten die Grundrechte „lediglich den Charakter von Abwehrrechten und nur gelegentlich auch den Inhalt staatlicher Schutzversprechen“.96 Zum anderen böten die stark ausfüllungsbedürftigen Rechtsbegriffe97 des Grundrechtsteils wenig Orientierung für ihre Beachtung im privaten Rechtsverkehr.98 Eine verfassungsrechtliche Überformung beeinträchtige das historisch gewachsene, wissenschaftlich erschlossene System des Privatrechts. Sie führe zu Verwerfungen in der Beurteilung von Fällen, die ohne verfassungsrechtliche Wertungen gleich entschieden worden wären.99 Dies münde schließlich in einer Einbuße an Eigenständigkeit des Privatrechts.100
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Ebd., S. 540.
92 Ebd. 93 Ebd.
94 Wieacker stütze sich primär auf Gesetzesvorhaben des deutschen Gesetzgebers und die Rechtsprechung von RG und BGH, um seine These zu untermauern. 95 BVerfGE 7, 198 (205). 96 Diederichsen AcP 198 (1998), 171 (225). 97 Ebd., 199. 98 Aus internationaler Perspektive Smits in Barkhuysen/Lindenbergh (Hrsg.), Constitu tionalisation of Private Law, 9 (16). 99 Ebd. 100 Vgl. Behrends in Behrends/Sellert (Hrsg.), Der Kodifikationsgedanke und das Modell des Bürgerlichen Gesetzbuches, 9 (80 f.); Medicus AcP 192 (1992), 35 (54 ff.). Aus öffentlichrechtlicher Perspektive Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998, S. 78; Hesse, Verfassungs-
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Aufgrund dieser kritischen Sichtweise versteht es die Leiterzählung als eine Aufgabe der privatrechtlichen Rechtspraxis und Rechtswissenschaft, die Eigenständigkeit des Privatrechts gegenüber dem Verfassungsrecht zu wahren. In der Privatrechtswissenschaft hielt sich lange Zeit die Annahme, dass „der ‚Vorrang‘ der Grundrechte weitgehend ohne Bedeutung für die eigentlichen Inhalte der Privatrechtsdogmatik wäre.“101 Wo die Relevanz des Verfassungsrechts für das Privatrecht erkannt und akzeptiert wurde, arbeitete man daran, die verfassungsrechtlichen Wertungen so weit wie möglich in bestehenden privatrechtlichen Strukturen aufgehen zu lassen.102 Hinzu kamen Einflüsse aus einer neuen Richtung, die an das Privatrecht herangetragen wurden: europarechtliche103 Richtlinien und Verordnungen des Unions-Gesetzgebers sowie die Rechtsprechung des EuGH begannen, das in Deutschland geltende Privatrecht zu formen. Es gestaltete sich schwierig, die Zielsetzungen des Europarechts, wie etwa die Verwirklichung eines gemeinsamen Binnenmarktes, in das freiheitlich-individualistische Grundverständnis des Privatrechts zu integrieren. Konkret stieß sich die Leiterzählung an drei Punkten: Erstens trenne das Europarecht nicht scharf zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht,104 was zu Systembrüchen bei der Umsetzung traditionell öffentlich-rechtlicher Vorgaben innerhalb des Privatrechts führen könne.105 Zweitens richte sich das Europarecht an der Maxime des effet utile aus, also an dem Ziel, dem Europarecht zu seiner vollen Wirksamkeit zu verhelfen. Dieser utilitaristische Ansatz sei dem Privatrecht fremd.106 Drittens verfolge das Europarecht eine Strategie paternalistischer Gesetzgebung, die weit über das Maß der bis dahin bestehenden Schutzbestimmungen im deutschen Privatrecht hinausgehe. Als besonders problematisch wahrgenommen wurden die Initiativen zur Stärkung des Verbraucherschutzes107 sowie die Richtlinien zum Nichtdisrecht und Privatrecht, 1988, S. 25; diese Wertung wahrnehmend, aber sich nicht umfassend zu eigen machend Wahl FS Frank, 31 (51). 101 Diederichsen AcP 198 (1998), 171 (175). 102 Zu Canaris Ansatz bzgl. der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte s. noch ausführlich Kap. 1. VI. 1. 103 Europarecht bezeichnet hier das Recht der EU und nicht das europäische Recht im Sinne eines ius commune (modernum), das unter seinem Dach die Regeln der „nationalen Rechtsordnungen […] als lokale Variationen eines einheitlichen europäischen Themas“ (Kötz, Europäisches Vertragsrecht, 2. Aufl. 2015, S. V ) versammelt; wie hier Grundmann, Europäisches Schuldvertragsrecht, 2012, S. 4 ff.; Riesenhuber in Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, § 1 Rn. 12. 104 Weiterführend Azoulai RTD eur. 46 (2010), 842 ff. 105 Dieser Ansicht krit. begegnend Ackermann ZEuP 2018, 741 (756). 106 S. Müller-Graff NJW 1993, 13 (19); ebenfalls krit. ggü. der Handhabung des effet utileArguments Herresthal ZEuP 2014, 238 (259); Honsell ZIP 2008, 621 (624); mit ähnlicher Stoßrichtung die Begründungspraxis des EuGH kritisierend Joachim Schulze-Osterloh FS Zöllner, Bd. II, 1245 (1249). 107 S. etwa Achilles JZ 2018, 953; „Verbraucherschutzhysterie“ – Altmeppen FS Graf von Westphalen, 1 (12); Honsell ZIP 2008, 621 (623 f.).
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kriminierungsrecht.108 Inzwischen ergänzt diese Kritiken eine Mahnung „vor einer überbordenden Konstitutionalisierung“109 des Privatrechts durch das europäische Primärrecht. Aus den Schwierigkeiten, das integrative Moment, welches dem Europarecht innewohnt, mit einem Verständnis des Privatrechts in Einklang zu bringen, das sich maßgeblich auf seine freiheitlich-individualistische Leitideen bezieht, leitet die Leiterzählung ihre Haltung zu den europarechtlichen Einflüssen ab: Bei dem Europarecht handele es sich um ein Rechtsgebiet mit zu wenig Struktur und Dogmatik.110 Da die Umsetzungspflicht von Richtlinien sowie der Anwendungsvorrang des Unionsrechts es aber nicht zuließen, die europarechtlichen Vorgaben zu ignorieren, gelte es, den Einfluss des Europarechts gering zu halten und die Anpassungen so schonend wie möglich vorzunehmen.111 Dazu bediente sich die Leiterzählung eines wirksamen Mittels. Die vom GG sowie vom europäischen Primär- und Sekundärrecht besonders beeinflussten Gebiete deklarierte sie zum Sonderprivatrecht.112 Damit verfolgte sie die Absicht, die mit dem Einfluss von Verfassungs- und Europarecht einhergehenden materialen Änderungen auf eng umgrenzte Bereiche zu beschränken und abzusondern. Im „normalen“ Privatrecht mit Leitcharakter würden die verfassungsund europarechtlichen Überformungen weiterhin nicht verfangen.
4. Zusammenfassung Die freiheitlich-individualistische Leiterzählung gründet auf verschiedenen Motiven. Erstens betont sie, dass das Privatrecht in seinem liberalen Grundriss drauf ausgelegt sei, eine möglichst konsequente Verwirklichung individueller
108 S. Adomeit NJW 2006, 2169 ff.; Johann Braun JuS 2002, 424 f.; Honsell ZIP 2008, 621 (625 f.); Lobinger in Isensee (Hrsg.), Vertragsfreiheit und Diskriminierung, 99 ff.; ders. AcP 216 (2016), 28 (66 ff.); Picker in Egon Lorenz (Hrsg.), Karlsruher Forum 2004: Haftung wegen Diskriminierung nach derzeitigem und zukünftigem Recht, 7 ff.; Repgen in Isensee (Hrsg.), Vertragsfreiheit und Diskriminierung, S. 11 ff.; Säcker ZRP 2002, 286 ff. 109 Kainer NZA 2018, 894 (900); ähnlich Mörsdorf JZ 2019, 1066 (1068) und passim. 110 Hommelhoff AcP 192 (1992), 71 (102); Honsell ZIP 2008, 621 (622 f.); Junker NJW 1994, 2527 f.; Mörsdorf RabelsZ 83 (2019), 797 (817 f.); Müller-Graff, Privatrecht und Europäisches Gemeinschaftsrecht, 2. Aufl. 1991, S. 29; ders. NJW 1993, 13 (19 f.); Rolf Stürner AcP 214 (2014), 7 (22 f.); diesen Vorwurf aufgreifend Ackermann ZEuP 2018, 741 ff. 111 Grundmann spricht von „grundsätzliche[r] Ablehnungshaltung“, Grundmann in Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken in Kerngebieten des Europäischen Privatrechts, 1 (11). 112 „Spezialregelungen mit teilweise erheblichen Besonderheiten“ – Franz Bydlinski FS Kastner, 71; gleichsinnig für das Verbraucherrecht Koziol AcP 212 (2012), 1 (27); Lieb AcP 178 (1978), 196 (197); Roth JZ 2001, 475. Die Unterscheidung zwischen „Einheit des Zivilrechts“ und „Sonderprivatrecht“ krit. analysierend Damm in Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen, 85 (130); ferner Limbach JuS 1985, 10 (14); Karsten Schmidt BB 2005, 837.
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Gestaltungsfreiheit (Privatautonomie) zu gewähren.113 Zweitens stellt sie heraus, dass sich im Grundsatz das öffentliche Recht mit dem Staat beschäftige, während es im Privatrecht um die Gesellschaft gehe.114 Drittens nimmt sie die Entwicklung in sich auf, dass das Privatrecht seit 1900 einen sozialeren Charakter angenommen habe. Hierbei warnt sie jedoch vor einer übermäßigen Moralisierung des Rechtsgebiets.115 Viertens erkennt sie an, dass die individualistische Prägung des Privatrechts unter dem Einfluss von BVerfG und EU abnimmt. Darin sieht sie allerdings Entwicklungen, welche in die Eigenständigkeit und Eigenrationalität des Privatrechts eingreifen.116
IV. Rechtshistorische Widerlegung der Leiterzählung Die Leiterzählung des Privatrechts ist wirkmächtig. Dies verwundert insofern, als mehrere Ansatzpunkte bestehen, an welche sich anknüpfen lässt, um das Narrativ der Leiterzählung zu entkräften. Zu diesen Ansatzpunkten zählen privatrechtliche Gesetze, die schon um 1900 soziale Züge trugen (1.), eine Kritik der Aussagekraft von Wieackers „privatrechtlichem Sozialmodell“ (2.) und nachweisbare Kontaktaufnahmen mit der Verfassung, die von Seiten des Privatrechts ausgingen (3.).
1. Das soziale Gesicht des BGB um 1900 Zu Beginn steht die Feststellung, dass eine Vielzahl rechtshistorischer Untersuchungen den „Mythos“117 des freiheitlich-individualistischen Privatrechts um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert widerlegt hat.118 Diese widerlegenden Untersuchungen setzen an verschiedenen Punkten an. Zunächst gehen sie ein auf die „innere Entstehungsgeschichte“ des BGB, d. h. auf die „rechtswissenschaftliche[] Diskussion, die die unmittelbare Entstehungsgeschichte des Gesetzbuchs begleitet hat.“119 Sie fragen, welchem Privatrechtsverständnis die Verfasser und Kommentatoren des Gesetzentwurfs zum BGB anhingen und wel113
S. Kap. 1. III. 1. a) und b). S. Kap. 1. III. 1. c). 115 S. Kap. 1. III. 2. 116 S. Kap. 1. III. 3. 117 Hofer, Freiheit ohne Grenzen?, 2001, S. 1, 5, 275. 118 Ebd.; Repgen, Die soziale Aufgabe des Privatrechts, 2001; ders. ZNR 2000, 406 (412 ff.); HKK/Rückert, 2003, Vor § 1 Rn. 93 ff.; ders. JZ 2003, 749 (754 f.); bereits differenziert Benöhr ZfA 1997, 187 (216); Schubert in Hofmeister (Hrsg.), Kodifikation als Mittel der Politik, 11 ff.; mit Einschränkungen Schulte-Nölke, Das Reichsjustizamt und die Entstehung des Bürgerlichen Gesetzbuchs, 1995, S. 279 ff.; ders. NJW 1996, 1705 (1708 f.). Die hier vertretene These der Widerlegung teilend Rückert FS Wadle, 963 (984). 119 Repgen, Die soziale Aufgabe des Privatrechts, 2001, S. 6 . 114
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che Prinzipien diese Personen als für das Privatrecht charakteristisch begriffen. Dabei zeigt beispielsweise Hofer auf, dass die Privatrechtswissenschaftler des ausgehenden 19. Jahrhunderts kein Konzept „unbeschränkter Freiheit“ vertraten.120 Sie legt dar, dass die Überlegungen zum Zusammenspiel von Freiheit, Gleichheit, Gemeinwohl und Schwächerenschutz in der Breite der damals vertretenen Standpunkte sehr viel nuancierter waren als heute weithin angenommen.121 Außerdem seien die Ansichten zur idealen Privatrechtskonzeption schon damals interdisziplinär informiert gewesen, wie Einwirkungen der nationalökonomischen Theorie zur Wohlstandsmaximierung auf die Abhandlungen einiger führender Rechtswissenschaftler der damaligen Zeit – Arnold, von Jhering, Gierke, Roesler oder Gareis – zeigten.122 In ähnlicher Weise zeichnet Repgen nach, dass die Teilnehmer an den Beratungen zum BGB sich auch mit Ansätzen zur Lösung der sozialen Frage auseinandersetzten, also der Frage nachgingen, wie das Los der urbanen Arbeiterschaft verbessert werden könnte.123 Nimmt man die freiheitlich-individualistische Leiterzählung ernst, so würde aus ihr folgen, dass sich die Verfasser des BGB einer der drängendsten und am intensivsten debattierten politischen Fragen ihrer Zeit weitgehend verweigert hätten. Dass dem nicht so war, weist Repgen durch eine Analyse des privatrechtlichen Diskurses rund um die Entstehung des BGB nach.124 Abgesehen von der ideengeschichtlichen Nachzeichnung setzen sich die rechtshistorischen Untersuchungen auch mit der tatsächlichen Berücksichtigung sozialer Interessen in den Vorbereitungstexten zum BGB auseinander. Sie weisen darauf hin, dass schon der Erste Entwurf Vorschriften etwa im Dienstrecht enthielt, denen man keinen freiheitlich-individualistischen Charakter attestieren kann.125 Des Weiteren heben sie hervor, dass sich die meisten Kritiken, die das BGB als antisozial geißelten,126 auf den Ersten Entwurf bezogen und der später geltende Gesetzestext an einigen Stellen abgeändert worden war, um den geäußerten Bedenken Rechnung zu tragen.127 So zeichnet Repgen u. a. nach, 120
Hofer, Freiheit ohne Grenzen?, 2001, S. 275 und passim. Ebd., S. 13 ff. 122 Ebd., S. 107 ff. 123 Repgen, Die soziale Aufgabe des Privatrechts, 2001, S. 123 ff. 124 Ebd., S. 490 ff. und passim. 125 Ebd., S. 217, 491, 519; Schulte-Nölke, Das Reichsjustizamt und die Entstehung des Bürgerlichen Gesetzbuchs, 1995, S. 318 f. Fn. 43. 126 Noch heute sind die Kritiken von Gierke und Menger über die Kreise der Rechtshistorik hinaus bekannt, s. Gierke, Die soziale Aufgabe des Privatrechts, 2. Aufl. 1948 (Erstveröffentlichung 1889); ders., Der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs und das deutsche Recht, 1889; Menger, Das Bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksklassen, 3. Aufl. 1904. 127 Repgen ZNR 2000, 406 (408); ders., Die soziale Aufgabe des Privatrechts, 2001, S. 493, 518 f.; Rüping, Der mündige Bürger. Leitbild der Privatrechtsordnung?, 2017, S. 71; Schubert in Hofmeister (Hrsg.), Kodifikation als Mittel der Politik, 11 (12, 23, 25 f.); ähnlich Schwab ZNR 2000, 325 (335). – Zur Zeit der Zweiten Kommission wies Planck selbst auf Änderungen im Entwurf hin, die mit der Absicht vorgenommen worden waren, der Kritik am „unsozialen“ Privatrecht zu begegnen (Planck DJZ 1899, 181 ff.). 121
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dass es im Ersten Entwurf noch geheißen habe, dem Erwerber eines vermieteten Grundstücks stehe ein Sonderkündigungsrecht zu, während sich die Vorkommission zur Zweiten Kommission dann für den gegenteiligen Grundsatz „Kauf bricht nicht Miete“ ausgesprochen habe.128 Zudem liegt den rechtshistorischen Analysen daran, an die (an sich selbstverständliche) Tatsache zu erinnern, dass sich das Privatrecht nicht in den Regelungen des BGB erschöpft. Andere Gesetzeswerke, wie das Versicherungsrecht von 1883, das Arbeiterschutzrecht von 1890 oder das Abzahlungsgesetz von 1894 hätten in weitem Umfang soziale Interessen berücksichtigt.129
2. Wieackers tendenziöse Darstellung Außerdem hält Wieackers Darstellung der Entwicklung des Privatrechts hin zu einem privatrechtlichen „Sozialmodell“130 einer kritischen Überprüfung nicht unbeschadet stand. Wird nun Wieackers Einfluss auf das vorherrschende Privatrechtsverständnis als so groß angesehen, dass seine Beschreibung in Teilen mit der Leiterzählung gleichgesetzt werden kann,131 betrifft eine Kritik an seiner Arbeit auch die Überzeugungskraft der Leiterzählung. Rechtshistorische Untersuchungen zeigen auf, dass Wieacker die durch die Quellen belegte Erkenntnis, dass das BGB in seiner ursprünglich geltenden Version primär eine freiheitlich-individualistische Ausrichtung gehabt, aber auch darüber hinaus gehende Ansätze verfolgt habe, unzulässig verkürzte.132 Demnach überhöhte er absichtlich die freiheitlichen Elemente und spielte Elemente des Schwächerenschutzes oder der Berücksichtigung von Gemeininteressen herunter, um ein „glatt[es]“133 Bildnis des BGB zu entwerfen, gegen das er seine Geschichte von Aufstieg, Fall und Wiederaufstieg eines privatrechtlichen Sozialmodells mit einer „materiale[n] Ethik sozialer Verantwortung“134 in starken Kontrast stellen konnte. Nicht nur sein selektiver Umgang mit den Primärnachweisen rund um die Beratungen zum BGB wird kritisch gesehen, sondern auch seine Belege für die These eines Sozialmodells materialer Ethik, das in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wiedererstarkt sei.135 Wie Zöllner es formuliert: 128 Repgen, Die soziale Aufgabe des Privatrechts, 2001, S. 213 ff. Repgen selbst wertete die Änderung allerdings als „belanglos“ (S. 250 mit vorangehender Argumentation S. 241 ff.). 129 S. etwa Repgen, Die soziale Aufgabe des Privatrechts, 2001, S. 519 ff.; Rückert JZ 2003, 749 (755), wobei dieser die Gesetze nicht dem Zivilrecht, sondern dem Spezialrecht zurechnen möchte; gleichsinnig Benöhr ZfA 1977, 187 (213 ff.); Schwab ZNR 2000, 325 (350). 130 Wieacker in Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, 9 (24), s. auch ders., Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 539 ff. 131 S. Kap. 1. III. 2. 132 Hofer, Freiheit ohne Grenzen?, 2001, S. 2 ff. 133 „Zu zeitbedingt und glatt“ – Rückert in Klippel (Hrsg.), Naturrecht im 19. Jahrhundert, 135 (138). 134 Wieacker in Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, 9 (24). 135 Zöllner, Die Privatrechtsgesellschaft im Gesetzes- und Richterstaat, 1996, S. 31 ff.
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„Die Beispiele […] für diese These – Übergang von der Willenstheorie zur Vertrauenstheorie bei der Auslegung von Willenserklärungen; culpa in contrahendo und positive Forderungsverletzung; Geschäftsgrundlagenlehre – sind nicht eben sonderlich überzeugend. Mit einer von Wieacker postulierten Ethik ‚sozialer‘ Verantwortung haben sie wenig bis nichts zu tun.“136
Noch weiter geht Rückert. Er sieht in der generellen Stoßrichtung von Wie ackers Verständnis des BGB zu seinen Anfängen „Liberalismusattacken“, die ihre gedanklichen Ursprünge im Nationalsozialismus hätten.137 In Wieackers Darstellung schwinge ein antiliberales Rechtsverständnis mit, welches zu Zeiten des Dritten Reichs vorherrschend gewesen sei. Selbst wenn man sich zu den etwaigen ideologischen Ursprüngen von Wie ackers Darstellung des BGB in seiner Ausgangsversion nicht abschließend verhalten möchte,138 ist die Erzählung über das privatrechtliche Sozialmodell jedenfalls aus weiterem Grund problematisch: Der Begriff des privatrechtlichen Sozialmodells ist umfassend und ungenau.139 Wieacker selbst führt ihn mal einer „deskriptiv-analytische[n]“, mal einer „präskriptiv-normative[n] mal „deskriptiv-normative[n] Verwendung“140 zu; mal sucht er ihn erfolglos als die „Interdependenz zwischen dem Geist einer Rechtsordnung und der Struktur ihrer Gesellschaft“141 zu konkretisieren. Das privatrechtliche Sozialmodell ist so unscharf, dass sich unter ihm alles oder nichts verstehen lässt. Die Schwammigkeit des Begriffs erklärt aber auch einen Großteil seines Erfolges. Das privatrechtliche Sozialmodell vermag es, eine Vielzahl an unterschiedlichen Assoziationen zu wecken. Tendenzen, Strömungen und Entwicklungen, die das Privatrecht im Laufe der Zeit durchlebt hat und schwer zu fassen sind, lassen sich als Aspekte eines sich wandelnden Sozialmodells begreifen. Dass hiermit kein weiterer Erkenntnisgewinn verbunden und nur oberflächlich eine Übereinkunft gefunden ist, wird erst bei genauerem Hinsehen deutlich.
3. Kontaktaufnahmen des Privatrechts mit der Verfassung Auch die Aussagen der Leiterzählung zur Einwirkung der Verfassung auf das Privatrecht bedürfen der Ergänzung, um ein abgerundeteres und damit realitätsgerechteres Bild der Beziehung zwischen GG und Privatrecht vermitteln zu
136
Ebd., S. 33.
137 HKK/Rückert,
2003, Vor § 1 Rn. 93. S. Einl. Fn. 88. 139 Hierzu krit. Canaris AcP 200 (2000), 273 (289); Dauner-Lieb, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher, 1983, S. 52 Fn. 91. 140 Assmann, Wirtschaftsrecht in der mixed economy. Auf der Suche nach einem Sozialmodell für das Wirtschaftsrecht, 1980, S. 28; so auch Zöllner, Die Privatrechtsgesellschaft im Gesetzes- und Richterstaat, 1996, S. 30. 141 Wieacker FS zum hundertjährigen Bestehen des DJT, Bd. II, S. 6 . 138
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können. Dabei soll nicht angezweifelt werden, dass dem Lüth-Urteil142 aus dem Jahr 1958 zentrale Bedeutung für die Grundrechtswirkung zwischen Privaten zukommt. Jedoch verliefen die „Verkehrsströme“143 der intradisziplinären Beeinflussung von Verfassungsrecht und Privatrecht nicht einseitig von Richtung der Verfassung hin zum Privatrecht, worauf Untersuchungen inzwischen ebenfalls hinweisen.144 Rechtswissenschaft sowie zivilrechtliche Rechtsprechung hatten sich schon vor dem Lüth-Urteil des BVerfG Gedanken zum Verhältnis von GG und Privatrecht gemacht.145 Die Rechtswissenschaft der frühen 1950er Jahre interessierte sich dabei besonders dafür, ob und wie die Grundrechte zwischen Privaten wirkten. Sie griff das bereits unter der Weimarer Reichsverfassung behandelte Thema unter den neuen Gegebenheiten des GG bereitwillig auf.146 Andere Aspekte der verfassungsrechtlichen Einwirkungen auf das Privatrecht, wie etwa die Institutsgarantien der Verfassung oder die Bindung des Privatrechtsgesetzgebers an die Verfassung, fanden weitaus weniger Beachtung.147 Was die Bindung Privater an das GG anbelangte, so gingen die Meinungen darüber, ob das GG eine solche Bindung erlaubte oder gar forderte, auseinander. Während ein Lager, das sich um Nipperdey sammelte, die Ansicht vertrat, dass die Grundrechte unmittelbar gelten sollten,148 nahmen andere Rechtswissenschaftler, darunter Dürig, an, dass die Verfassung ausschließlich staatliche Akteure verpflichte und folglich eine direkte Bindung Privater auszuscheiden habe.149, 150 Damit stand zu Beginn der Bonner Republik nicht weniger als die Ausrichtung der Grundrechte – ob es sich um Abwehrrechte gegenüber staatlichen Akteuren oder auch um Anforderungen an die Gesellschaft handelte – zur Debatte. 142
BVerfGE 7, 198. Hoffmann-Riem in Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 9 (60). 144 Brüggemeier in Barkhuysen/Lindenbergh (Hrsg.), Constitutionalisation of Private Law, 59 (63 ff.); Bumke AöR 144 (2019), 1 (4, 10); Hellgardt JZ 2018, 901 (903). 145 Für eine Aufarbeitung der Rechtsprechung des BGH s. Brüggemeier in Barkhuysen/ Lindenbergh (Hrsg.), Constitutionalisation of Private Law, 59 (63 ff.). 146 Die historischen Parallelen ziehend Leisner, Grundrechte und Privatrecht, 1960, S. 293 ff.; hingegen von einer erstmaligen Befassung ausgehend Böckenförde Der Staat 29 (1990), 1 (2). 147 Jedoch mit Erwähnung der Institutsgarantie Scheuner in Wandersleb (Hrsg.), Recht. Staat. Wirtschaft, Bd. I V, 88 (93). Nachzeichnung bei Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, 1988, § 68 I 5. 148 Nipperdey RdA 1949, 214 (216); ders. RdA 1950, 121 (125); Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts, 14. Aufl. 1952, S. 57 f.; Mallmann JZ 1951, 27; Wieacker JZ 1954, 466 (467 Fn. 6); für Differenzierung je nach Grundrecht plädierend Laufke FS Lehmann, Bd. I, 145 (155). 149 Dürig FS Nawiasky, 157 ff.; Bettermann JZ 1954, 461 (465); Blomeyer JZ 1954, 309 (311); Nawiasky, Die Grundgedanken des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, 1950, § 5 Rn. 18; Würdinger WuW 1953, 721 (733); ferner Coing JZ 1954, 700. 150 Bumke AöR 144 (2019), 1 (23 f.). 143
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Nipperdey gilt bis heute als einer der zentralen Befürworter einer unmittelbaren Wirkung der Grundrechte zwischen Privaten. Er argumentierte, dass die „Durchsetzung grundrechtlicher Bestimmungen, also der Normen höchsten Grades […] nur dann voll gewährleistet [werde], wenn […] auch die einzelnen Rechtsgenossen, die Staatsbürger an sie gebunden sind.“151 Die Spannung seiner Position zum Wortlaut des Art. 1 Abs. 3 GG, der lediglich die Bindung der Gesetzgebung, vollziehenden Gewalt und Rechtsprechung nennt, suchte er aufzulösen, indem er darin ein ausdrückliches Postulat einer Grundrechtsbindung auch der Legislative erblickte.152 Als weitere Argumente für eine unmittelbare Wirkung der Grundrechte zwischen Privaten führte er an, dass private Akteure ebenso stark wie staatliche Akteure Individuen bei ihrer Grundrechtsausübung beeinträchtigen könnten,153 und dass ein modernes Demokratieverständnis eine ganzheitliche Grundrechtskonzeption einfordere.154 Dürig hingegen lehnte die Idee einer unmittelbaren Wirkung der Grundrechte zwischen Privaten angesichts des klaren Wortlauts des Art. 1 Abs. 3 GG ab.155 Aber auch er sah ein gesteigertes Bedürfnis für die Bindung Privater an das GG. In seiner 1956, also zwei Jahre vor dem Lüth-Urteil erschienenen Veröffentlichung „Grundrechte und Zivilrechtsprechung“ äußerte er die Ansicht, dass die Einzelgrundrechte Ausdruck eines der gesamten Verfassung zu Grunde liegenden Wertsystems seien.156 Zu diesem gehöre auf der einen Seite der Schutz vor Grundrechtsgefährdungen durch den Staat sowie auf der anderen Seite der Respekt vor Entscheidungen, mit denen der Einzelne seine Autonomie ausübe.157 Beide Aspekte müssten in Ausgleich gebracht werden, wenn staatliche Akteure über privatrechtliche Angelegenheiten zu entscheiden hätten. Um dies zu erreichen, böte es sich an, auf die privatrechtlichen Generalklauseln abzustellen.158 Im Einzelnen führte Dürig aus: „Die normativen Mittel zur Abwehr von Angriffen aus der Drittrichtung, mit deren Hilfe bei Fehlen spezieller zivilrechtlicher Schutznormen das objektive Privatrecht seinen Schutzauftrag (vgl. Art. 1 I Satz 2 GG) erfüllt, sind seine wertausfüllungsfähigen und wertausfüllungsbedürftigen Generalklauseln. Der Weg über ihre Anwendung wahrt einerseits die nach grundrechtlicher Anerkennung der privaten Dispositionsfreiheit im Drittverkehr rechtslogisch und rechtssystematisch notwendig gewordene Eigenständigkeit des Privatrechts, und wahrt andererseits die selbstverständlich nötige Einheit des Gesamtrechts in der Rechtsmoral.“159 151
Nipperdey RdA 1950, 121 (124). Ebd., 123. 153 „Soziale Gewalten“ – Nipperdey RdA 1949, 214 (216); ders. RdA 1950, 121 (125). 154 Nipperdey RdA 1950, 121 (124). 155 Dürig FS Nawiasky, 157 (158). 156 Ebd., 176. 157 Ebd. 158 Ebd. 159 Ebd., 176 f. 152
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Gemäß Dürigs Konstruktion dienen die Generalklauseln also als „Einbruchstellen“160 für grundrechtliche Wertungen im Privatrecht. Sie „mediatisieren“ die verfassungsrechtlichen Vorgaben,161 damit nicht die pauschale Abwägung grundrechtlicher Positionen systematische Tatbestandsprüfungen ersetzt, die sich über lange Zeit im Privatrecht herausgebildet haben. An dieser Stelle soll nicht das Für und Wider der divergierenden Positionen bewertet werden. Es geht lediglich darum, folgenden Aspekt zu verdeutlichen: Das BVerfG tätigte seine Aussagen zur Wirkung der Verfassung in Privatrechtsbeziehungen im Lüth-Urteil 1958 zu einem Zeitpunkt, als die Frage bereits intensiv diskutiert wurde. Neben Vertretern des Öffentlichen Rechts, wie etwa Dürig, hatte auch die Privatrechtswissenschaft die Meinungsfindung des Gerichts durch ihre Forschungen mitvorbereitet.162 Seinerseits ließ das BVerfG erkennen, dass es mit der akademischen Debatte gut vertraut war. Im Lüth-Urteil erwähnte der Erste Senat des Gerichts selbst den Streitstand um die „sogenannte ‚Drittwirkung‘“ 163 und knüpfte insbesondere an Dürigs Arbeiten an.164 Doch nicht nur die Rechtswissenschaft hatte sich mit dem Verhältnis von Verfassung und Privatrecht vor dem Lüth-Urteil beschäftigt, auch die zivilrechtliche Rechtsprechung der Zeit positionierte sich. Weithin bekannt ist die Tatsache, dass sich das Bundesarbeitsgericht unter seinem Präsidenten Nipperdey bereits 1954 für eine unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte ausgesprochen hatte.165 Seltener wird erwähnt, dass sich der BGH ebenfalls in einigen Entscheidungen vor dem Erlass des Lüth-Urteils zum Verhältnis von Verfassung zu Privatrecht äußerte.166 Wenige Jahre zuvor, im Jahr 1952, hatte der BGH einen Fall zu entscheiden, in dem eine Ehefrau begehrte, einen Titel gegen die Geliebte ihres Ehemannes zu erwirken. Der Titel sollte die Geliebte ver-
160 Dürig in Bettermann/Neumann/Nipperdey (Hrsg.), Die Grundrechte. Handbuch der Theorie und Praxis der Grundrechte, Bd. II, 525. – Wie Untersuchungen belegen, lässt sich die Bezeichnung der Generalklauseln als „Einbruchstellen“ bis auf Veröffentlichungen während der NS-Diktatur rückverfolgen (s. HKK/Haferkamp, 2007, § 242 Rn. 87; Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 8. Aufl. 2017, S. 214.; Tischbirek, Die Verhältnismäßigkeitsprüfung. Methodenmigration zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht, 2017, S. 42 ff.). Obwohl das BVerfG selbst von Einbruchstellen spricht (BVerfGE 7, 198 [206]) und es nunmehr um den Eingang grundgesetzlicher Wertungen in das Privatrecht geht, wird im Folgenden in Abgrenzung und neutraler von „Eingangstoren“ gesprochen. 161 Dürig FS Nawiasky, 157 (183). 162 S. insbes. die Erwähnung des Beitrags von Laufke FS Lehmann, Bd. I, 145 ff. in BVerfGE 7, 198 (204). 163 BVerfGE 7, 198 (204). 164 Zum Einfluss Dürigs auf das BVerfG s. auch Walter Schmidt in Simon (Hrsg.), Rechtswissenschaft in der Bonner Republik, 188 (196) – „Wechselspiel“. 165 BAGE 1, 185 (191 ff.). 166 S. jedoch Brüggemeier in Barkhuysen/Lindenbergh (Hrsg.), Constitutionalisation of Private Law, 59 (63 ff.); Hellgardt JZ 2018, 901 (903); Papier in Mertens/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. II, § 55 Rn. 25.
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pflichten, die gemeinsame Ehewohnung zu verlassen.167 Der BGH urteilte, dass die Ehefrau Anspruch auf Unterlassen des Zusammenlebens hatte und gründete ihn auf das Recht jedes Ehegatten auf Berücksichtigung des räumlich-gegenständlichen Bereiches der Ehe aus Art. 6 GG.168 Der BGH stellte also auf ein Grundrecht ab, um eine zivilrechtlich geschützte Position der Ehefrau zu begründen. Zwei Jahre später erkannte der BGH das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 1 und 2 GG an und führte aus: „Nachdem nunmehr das Grundgesetz das Recht des Menschen auf Achtung seiner Würde (Art. 1 GrundG) und das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit auch als privates, von jedermann zu achtendes Recht anerkennt, soweit dieses Recht nicht die Rechte anderer verletzt oder gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt (Art. 2 GrundG), muß das allgemeine Persönlichkeitsrecht als ein verfassungsmäßig gewährleistetes Grundrecht angesehen werden.“169
Noch vor dem Lüth-Urteil bekräftigte der BGH seine Aussagen zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht.170 Er nannte es ein „Grundrecht […], das sich nicht nur gegen den Staat und seine Organe richtet, sondern auch im Privatrechtsverkehr gegenüber jedermann gilt“171 und befand, dass im Falle eines Konflikts zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht und widerstreitenden Rechten ein Ausgleich durch eine „Güter- und Interessenabwägung“172 hergestellt werden müsse. Wie den Aussagen zu entnehmen ist, ging der BGH selbst davon aus, dass der Grundrechtskatalog unter dem GG sich auf die Beurteilung der Rechtspositionen von Privaten im Verhältnis untereinander auswirke. Als der BGH erstmals auf das GG verwies und auf das Recht auf Schutz der Ehe aus Art. 6 GG abstellte, handelte es sich zugegebenermaßen um Ausführungen anderer Qualität als die des BVerfG im Lüth-Urteil. Der Schutz gegen Beeinträchtigungen des räumlich-gegenständlichen Bereiches der gemeinsamen Ehewohnung wäre auch unter Rekurs auf privatrechtliche Gesetze, zum Beispiel § 862 BGB,173 begründbar gewesen. Die Erwähnung des Art. 6 GG lässt sich daher als intradisziplinäres Hilfsargument verstehen, welches die Richter 167
BGHZ 6, 360. BGHZ 6, 360 (365): „Das Recht des Ehegatten auf diesen Bereich, in welchem die Eheund Familiengemeinschaft sich gegenständlich verkörpert, genießt, soweit es auf anderem Wege nicht verwirklicht werden kann, den uneingeschränkten Schutz der staatlichen Ordnung, der der Ehe und Familie in Art. 6 GrundG zugesichert ist.“ Ob die Konstruktion des Anspruchs auf deliktischen Schutz des Ehebereiches als absolutem Recht gemäß § 823 Abs. 1 BGB oder direkt auf Art. 6 GG zu stützen sei, ließ der BGH explizit offen, s. BGHZ 6, 360 (366). 169 BGHZ 13, 334 (338), Hervorhebung nicht im Original. 170 BGHZ 15, 249 (257 f.); 24, 72 (76). 171 BGHZ 24, 72 (76). 172 BGHZ 24, 72 (80). 173 Allerdings hätte der BGH dafür die Ehefrau als Mitbesitzerin der Ehewohnung ansehen müssen. Gemäß dem 1952, zur Zeit der Entscheidung, herrschenden Verständnis hatte die 168
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vortrugen, um der gefundenen Lösung zusätzliche Überzeugungskraft zu mitteln. Anders stellt sich die Situation im Hinblick auf die Urteile des BGH zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht dar. Hier äußerte sich der BGH explizit zur Wirkung der Grundrechte zwischen Privaten und sprach ihnen Geltung innerhalb der Privatrechtsbeziehungen zu. Zwar ist den Aussagen des BGH deshalb weniger Bedeutung als denen des BVerfG in Lüth zuzumessen, weil dem obersten Zivilgericht die Letztentscheidungskompetenz bei verfassungsrechtlichen Fragen fehlt.174 Aber in der inhaltlichen Positionierung ist eine frühe Affirmation der Grundrechtswirkung im Privatrecht zu erblicken.175
V. Gesucht: Fürsprecher der Leiterzählung Rechtsgeschichtliche Forschungen haben gezeigt, dass die Leiterzählung bei einem Abgleich mit den Quellen nicht zu bestehen vermag.176 Wie fällt eine heutige Standortbestimmung aus? Gibt es heute Privatrechtswissenschaftler oder Privatrechtswissenschaftlerinnen, die die Leiterzählung in mehr oder weniger reiner Form vertreten? In diesem Zusammenhang tauchen immer wieder die Namen von Diederichsen, Zöllner, Reuter oder Picker auf, wenn es darum geht, einflussreiche Fürsprecher eines freiheitlich-individualistischen Privatrechtsverständnisses zu benennen.177 Ihre Schriften dienen als Belege für die Ansicht, dass das Privatrecht gegen jegliche Einwirkungen, die nicht Individualismus und Privatautonomie zum Ausgangspunkt haben, verteidigt werden müsse, da solche Einflüsse den Charakter des Privatrechts verfälschten. Doch eine nähere Analyse der als Standardnachweise zum freiheitlich-individualistischen PrivatrechtsverständEhefrau aber nur die Position einer Besitzdienerin (§ 855 BGB) inne, die nach den Weisungen ihres Ehemannes zu handeln hatte. S. hierzu Löhnig JA 2004, 611. 174 § 31 BVerfGG; s. auch BVerfGE 19, 377 (391 f.); 24, 289 (297); 40, 88 (93). 175 Gottwald sieht in dem Verweis auf Art. 1 und 2 GG für die Begründung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts den „Versuch einer Verleugnung der eigenen Irrwege“ (Gottwald, Zeitgeschichte und Dogmatik am Beispiel des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, https://for histiur.de/1997-08-gottwald/?l=de, letzter Abruf: 8.2.2022); ferner ders., Das allgemeine Persönlichkeitsrecht. Ein zeitgeschichtliches Erklärungsmodell, 1996, S. 66 f. Nach seiner Deutung unternahm der BGH eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, um historische Anknüpfungen zu vermeiden. Bei einer historischen Betrachtung hätten sich Ausführungen dazu aufgedrängt, weshalb die Debatte um das allgemeine Persönlichkeitsrecht als individualistisches, subjektives Recht bis in die Weimarer Republik geführt und unter den Nationalsozialisten fast vollständig eingestellt wurde. – Zum Debattenverlauf unter dem BGB Martin, Das allgemeine Persönlichkeitsrecht in seiner historischen Entwicklung, 2007, S. 172 ff.; Erman/Klass, 16. Aufl. 2020, Anh. § 12 Rn. 8 f. 176 S. Kap. 1 Fn. 118. 177 So verweist etwa Auer in diesem Zusammenhang u. a. auf Diederichsen, Zöllner, Reuter und Picker (Auer, Der privatrechtliche Diskurs der Moderne, 2014, S. 2 Fn. 4), Hellgardt auf Zöllner und Picker (Hellgardt, Regulierung und Privatrecht, 2016, S. 3).
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nis herangezogenen Texte zeigt, dass man in ihnen ein ausdrückliches oder gar vorbehaltloses Bekenntnis zur Leiterzählung vergeblich sucht. Dafür sind die Aussagen zum Charakter des Privatrechts viel zu nuanciert, wie im Folgenden näher erläutert wird.
1. Einflussreiche Stimmen a) Diederichsen Einer der in diesem Zusammenhang häufig zitierten Texte ist die Abhandlung von Diederichsen über die Einflüsse der Rechtsprechung des BVerfG auf das Zivilrecht, die er anlässlich seines Referats auf der Zivilrechtslehrertagung 1997 verfasst hat.178 Darin kritisiert er insbesondere die Methode, oder den Mangel an Methode,179 mit dem das BVerfG zivilrechtliche Fälle beurteile. Erstens wäge es widerstreitende Grundrechtspositionen ab. Eine solche Abwägung vermöge es nicht in gleicher Weise wie die ausdifferenzierten Instrumente der Zivilrechtsdogmatik, eine Lösung für einen Konflikt zwischen Privatpersonen herbeizuführen, die sich auch stimmig in die Gesamtordnung des Rechtsgebietes einfüge.180 Zweitens lasse das BVerfG eine Unterscheidung zwischen „gesetzlichem und privatautonom geschaffenem Privatrecht“181 vermissen. Es nähere sich privatrechtlichen Fällen auf dieselbe Weise, unabhängig davon ob sie von vertraglichen oder gesetzlichen Schuldverhältnissen handelten. Drittens fördere die Rechtsprechung des BVerfG zu zivilrechtlichen Fällen ein zusätzliches Problem: Immer mehr verfassungsrechtliche Vorgaben würden privatrechtliche Ausgestaltungsräume einengen und damit „zum Verlust von Freiheit“182 führen. Nicht nur methodisch, sondern auch materiell sei der Einfluss des Verfassungsrechts auf das Zivilrecht also zu beklagen. Allerdings weist Diederichsen selbst darauf hin, dass mitunter Konzepte, die im Zivilrecht schon lange Gegenstand der Diskussion sind, in der verfassungsrechtlichen Beurteilung nur unter neuen Begrifflichkeiten auftauchen. Wenn das BVerfG über das „annähernde Kräftegleichgewicht“ zweier Vertragsparteien spreche, so setze es sich mit einer Thematik auseinander, die im Privatrecht
178
Diederichsen AcP 198 (1998), 171 ff. Diederichsen AcP 198 (1998), 171 (185) schreibt von „Freistellungen von der juristischen Methodenlehre.“ Aus diesem Grund spricht sich Diederichsen an anderer Stelle dafür aus, zwar den gesetzlichen Vorrang des GG zu akzeptieren, bei der Wertverwirklichung aber von einer Gleichrangigkeit von Verfassung und Privatrecht auszugehen, s. Diederichsen in Starck (Hrsg.), Rangordnung der Gesetze, 39 (70 f.). 180 S. Diederichsen in Starck (Hrsg.), Rangordnung der Gesetze, 39 (73 ff.); ders. AcP 198 (1998), 171 (185 f., 218 ff.). 181 Diederichsen AcP 198 (1998), 171 (207). 182 Ebd., (258). 179
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unter dem Begriff der Vertragsgerechtigkeit diskutiert wird.183 Zudem stellt er klar, dass den Ergebnissen, zu denen das BVerfG in den ursprünglich zivilrechtlichen Fällen gelangte, weitestgehend zugestimmt werden könne.184 Seine Kritik wendet sich demnach vor allem gegen eine seiner Ansicht nach zu pauschale Herangehensweise des BVerfG bei der Bewertung zivilrechtlicher Rechtsverhältnisse. Somit kann Diederichsen die Rolle eines Fürsprechers der Leiterzählung nur mit deutlichen Einschränkungen zugeschrieben werden. b) Zöllner Ähnlich verhält es sich bei näherer Durchsicht mit den Schriften Zöllners. Durch seine Arbeiten zieht sich das Leitthema, dass es die freiheitlich-individualistische Grundausrichtung des Privatrechts gegen Einschränkungen zu verteidigen gelte.185 Dem Privatrecht komme die „Rolle [zu], den privaten Rechtssubjekten einen breiten Raum der Selbstgestaltung ihrer Angelegenheiten zu eröffnen.“186 Zöllner geht es um die Bewahrung der Privatrechtsgesellschaft,187 mithin einer „Gesellschaft, die ihre Angelegenheiten tunlichst unmittelbar selbst regelt“188 und bei der im Zentrum ihres Selbstverständnisses die Privatautonomie und nicht der Staat steht.189 Im Einzelnen wendet er sich gegen Beschränkungen der Privatautonomie, die vom GG, dem Europarecht, aber auch von privatrechtlichen Gesetzgebungsvorhaben an das Privatrecht angetragen werden.190 Aus seiner freiheitlich-individualistischen Perspektive lehnt Zöllner insbesondere die Geltung der Grundrechte in vertraglichen Beziehungen zwischen Privatrechtssubjekten ab.191 Zu 183 Ebd., 250 mit Verweis auf Larenz/Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 8. Aufl. 1997, § 2 Rn. 21 ff. und § 42 Rn. 1 ff. 184 „Zustimmung in der Sache“ –Diederichsen AcP 198 (1998), 171 (178). 185 Zöllner AcP 188 (1988), 85 ff.; ders. JuS 1988, 329 ff.; ders. AcP 196 (1996), 1 ff.; ders. in Riesenhuber (Hrsg.), Privatrechtsgesellschaft. Entwicklung, Stand und Verfassung des Privatrechts, 53 ff. 186 Zöllner JuS 1988, 329 (335). 187 Zöllner, Die Privatrechtsgesellschaft im Gesetzes- und Richterstaat, 1996, S. 49. Begriffsprägend Franz Böhm in Mestmäcker (Hrsg.), Freiheit und Ordnung in der Marktwirtschaft, 105 ff., der jedoch eine prägnante, abschließende Definition unterlässt. Hinsichtlich der mannigfaltigen Deutungsansätze kann hier nur verwiesen werden auf Franz Bydlinski AcP 194 (1994), 319 (327 f.); Canaris FS Lerche, 873 (874 ff.) sowie die Beiträge in Riesenhuber (Hrsg.), Privatrechtsgesellschaft. Entwicklung, Stand und Verfassung des Privatrechts, 2007. 188 Zöllner in Riesenhuber (Hrsg.), Privatrechtsgesellschaft. Entwicklung, Stand und Verfassung des Privatrechts, 53 (59). 189 Ebd., 60. 190 S. etwa Zöllner AcP 188 (1988), 85 (91); ders. JuS 1988, 329 (331); ders. AcP 196 (1996), 1 (2); ders., Die Privatrechtsgesellschaft im Gesetzes- und Richterstaat, 1996, S. 28 ff.; ders. in Riesenhuber (Hrsg.), Privatrechtsgesellschaft. Entwicklung, Stand und Verfassung des Privatrechts, 53 (64 ff.). 191 Zöllner in Riesenhuber (Hrsg.), Privatrechtsgesellschaft. Entwicklung, Stand und Verfassung des Privatrechts, 53 (65).
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kurz kommt ihm die Auseinandersetzung mit den Folgen, die eine grundrechtliche Überformung privatrechtlicher Beziehungen für privatautonomes Handeln hat. Verfassungsrechtliche Vorgaben an das Verhalten von Vertragsparteien würden deren Freiheiten von vornherein verkürzen und in der Konsequenz die Qualität von Privatrecht und Privatautonomie grundlegend verändern.192 Weiter mahnt er, dass eine Ethisierung des Privatrechts selbst neue, bislang nicht bedachte oder vorhersehbare Missstände hervorrufen könne.193 Doch auch Zöllners Blick auf das Privatrecht und die auf das Privatrecht einwirkenden Kräfte ist letztlich differenzierter, als es klingen mag. Keineswegs möchte er sich als Fürsprecher „für ungehemmte Vertragsfreiheit“ verstanden wissen.194 Er weist selbst darauf hin, dass schon immer zwingendes Privatrecht existiert habe195 und dass das BGB von Beginn an Regelungen enthalten habe, die nicht allein nach der privatautonomen Maxime ausgerichtet gewesen seien.196 So beziehen sich viele seiner Argumente für ein freiheitlich-individualistisches Verständnis des Privatrechts auf das Vertragsrecht und zielen nicht auf Regelungen zu den gesetzlichen Schuldverhältnissen, wie etwa dem Deliktsrecht, ab.197 Des Weiteren erkennt Zöllner an, dass es Situationen geben kann, in denen es legitim ist, Privatautonomie zu beschränken. Zwar kritisiert er die Vorgehensweise des BVerfG, wie sie etwa in der Bürgschaftsentscheidung198 zum Ausdruck kam. Dort manifestierte das BVerfG den Anspruch, den Inhalt von Verträgen bei „ungleicher Verhandlungsstärke“199 zwischen den Vertragsparteien am Maßstab der Grundrechte kontrollieren zu wollen. Doch lehnt er Beschränkungen der Privatautonomie nicht grundsätzlich ab. Stattdessen sei eine Beschränkung der Privatautonomie aus dem Konzept selbst heraus zu begründen.200 Sie sei dann erlaubt, wenn es dem Einzelnen unmöglich sei, eine selbstbestimmte Entscheidung zu treffen, weil der Person „die Fähigkeit zur Selbstregelung“ fehle,201 sie nicht „tatsächlich die Macht zur Selbstbestim-
192
Ebd., 66. Zöllner AcP 196 (1996), 1 (35), wobei er keine konkreten Beispiele für solche Missstände benennt. 194 Ebd., 33. 195 Zöllner JuS 1988, 329 (335). 196 Zöllner AcP 188 (1988), 85 (95); ders. JuS 1988, 329 (330). 197 Die Unterscheidung legt Zöllner offen in AcP 196 (1996), 1 (12). 198 BVerfGE 89, 214, s. ausführlich Kap. 2. I. 2. 199 BVerfGE 89, 214 (234); s. auch BVerfGE 103, 89 (100 f.). Zöllner selbst bezeichnet die „Ungleichgewichtslage“ als „Uraltgut vertragstheoretischer Erwägungen“, s. Zöllner AcP 196 (1996), 1 (15). 200 Zöllner AcP 188 (1988), 85 (99); ders. AcP 196 (1996), 1 (24, 28); ders. in Riesenhuber (Hrsg.), Privatrechtsgesellschaft. Entwicklung, Stand und Verfassung des Privatrechts, 53 (70). 201 Zöllner in Riesenhuber (Hrsg.), Privatrechtsgesellschaft. Entwicklung, Stand und Verfassung des Privatrechts, 53 (70). 193
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mung“202 habe oder in relevanter Weise in ihrer Entscheidungsfreiheit beeinträchtigt sei.203 c) Reuter Die Arbeiten Reuters werden ebenfalls in der Nähe der Leiterzählung verortet.204 In seinen Schriften wendet er sich mitunter gegen die Materialisierungstendenzen im Privatrecht und bricht eine Lanze für die von ihm so genannte „formale Freiheitsethik“.205 Die Idee, dass das Privatrecht die Rechtsbeziehungen zwischen freien und gleichen Individuen regelt, dürfe nicht überfrachtet werden mit den von Wieacker propagierten Vorstellungen über die „materiale Ethik sozialer Verantwortung“206 oder umfassende Vorgaben zum Schutz des Schwächeren.207 Eine solche Ausrichtung verzerre nicht nur den Charakter des Privatrechts, sondern stehe auch im Widerspruch zum Menschenbild des GG, das großen Wert auf den Schutz der Individualität lege.208 In Abgrenzung zu den bisher vorgestellten Positionen stützt sich Reuter in seiner Begründung also dezidiert auf die Wertordnung des GG, anstatt seine Haltung fast ausschließlich privatrechtlich zu erklären. Reuters Kritik an der Materialisierung des Privatrechts ist allerdings ebenfalls nuanciert. So heißt es: „Die Forderung nach einer Rückkehr des Privatrechts zur formalen Freiheitsethik bedeutet keineswegs, daß das Privatrecht auf die Wahrnehmung seines Ordnungsauftrags verzichten soll.“209 Weiter merkt Reuter an, dass es die formale Freiheitsethik zulasse, mangelnde Möglichkeiten der Selbstbestimmung zu beachten.210 Auch innerhalb einer „formalen“ Privatrechtskonzeption seien wucherische Rechtsgeschäfte nichtig (§ 138 Abs. 2 BGB) und Unternehmen im Rahmen der Daseinsvorsorge zum Vertragsschluss verpflichtet.211 Ebenfalls lasse es sich mit der formalen Freiheitsethik vereinbaren, externe Effekte des privatrechtlichen Handelns Einzelner, z. B. Umweltverschmutzungen, im Privatrechtsregime zu berücksichtigen.212 Hier könnten 202 Zöllner AcP 196 (1996), 1 (24); mit Verweis auf Werner Flume, Allgemeiner Teil des BGB, Bd. II, 4. Aufl. 1992, S. 10. 203 Zöllner AcP 196 (1996), 1 (28). 204 Vgl. Auer, Der privatrechtliche Diskurs der Moderne, 2014, S. 2 Fn 4. 205 So schon im Titel von Reuters Beitrag in der AcP 189 (1989), 199 angelegt: „Die ethischen Grundlagen des Privatrechts – formale Freiheitsethik oder materiale Verantwortungsethik?“. 206 Reuter AcP 189 (1989), 199 (200) mit Bezug auf Wieacker. 207 Vgl. Reuter in Franz Bydlinski/Mayer-Maly (Hrsg.), Die ethischen Grundlagen des Privatrechts, 105 (111). 208 Reuter AcP 189 (1989), 199 (207). 209 Ebd., (214). 210 Reuter AcP 189 (1989), 199 (219); ders. in Franz Bydlinski/Mayer-Maly (Hrsg.), Die ethischen Grundlagen des Privatrechts, 105 (113 f.). 211 Reuter AcP 189 (1989), 199 (219). 212 Ebd., (219 f.).
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etwa eine entschlossene Anwendung der Haftungsvorschriften oder der Handel mit Emissionsscheinen geeignete privatrechtliche Instrumente zur Kosteninternalisierung sein.213 Wie die von Reuter selbst formulierten Einschränkungen zeigen, wendet er sich nur gegen eine umfassende, die privatrechtliche Grundkonzeption über lagernde Materialisierung. Einem „Ordnungsauftrag“214, punktuellem Schwächerenschutz und sogar Präventionserwägungen im Privatrecht steht er dagegen aufgeschlossen gegenüber. Die Elemente will er aber so verstanden wissen, dass sie sich in eine formale Freiheitsethik einfügen lassen. Das wirft allerdings die Frage auf, inwiefern bei einer so angereicherten Freiheitsethik noch von einer „formalen Freiheitsethik“ gesprochen werden kann. d) Picker Schärfer als die zuvor besprochenen Autoren tritt Picker für das freiheitlich-individualistische Privatrechtsverständnis ein. Ausgangspunkt seines Privatrechtsverständnisses ist, dass „in einer freien Gesellschaft […] das Individuum über seine Daseinsgestaltung grundsätzlich selbst“ befinde.215 Dazu bediene sich der Einzelne zum einen der Privatautonomie und zum anderen der allgemeinen Handlungsfreiheit.216 Dabei versteht Picker Privatautonomie nicht nur als Instrument der Selbstbestimmung, sondern auch als „einen rechtlichen und emanzipatorischen Standard, der – sieht man von Randkorrekturen ab – ohne grundsätzlichen Bruch mit der geltenden Ordnung als einem auf Freiheit gegründeten sozialen System nicht wieder zu unterschreiten ist.“217 Das Vertragsrecht verhelfe der Privatautonomie zur Durchsetzung. Es ermögliche dem Einzelnen, selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen. Die allgemeine Handlungsfreiheit komme hingegen insbesondere im Haftungsrecht zur Geltung. Das Haftungsrecht zeige dem Einzelnen einen möglichst großen Rahmen auf, in dem er sich entfalten könne, ohne rechtliche Sanktionen fürchten zu müssen.218 Bei dieser Grundkonzeption wundert es nicht, dass Picker ein Privatrechtsverständnis ablehnt, in welchem eine der Funktionen des Privatrechts in der Förderung von Gemeininteressen gesehen wird. So nimmt er in der Entwick213
Ebd., (220).
214 Ebd.
215 Picker in Egon Lorenz (Hrsg.), Karlsruher Forum 2004: Haftung wegen Diskriminierung nach derzeitigem und zukünftigem Recht, 7 (45). 216 Picker in Riesenhuber (Hrsg.), Privatrechtsgesellschaft. Entwicklung, Stand und Verfassung des Privatrechts, 207 (214) und passim. Picker verzichtet bei der Nennung von „Privatautonomie“ und „allgemeiner Handlungsfreiheit“ auf direkte Bezüge zu Art. 1 und 2 GG. Stattdessen verweist er in einer Fußnote (S. 214 Fn. 10) darauf, dass das BVerfG Flumes Definition der Privatautonomie übernommen habe. 217 Picker JZ 2002, 880 (881). 218 S. Picker in Riesenhuber (Hrsg.), Privatrechtsgesellschaft. Entwicklung, Stand und Verfassung des Privatrechts, 207 (214, 239 ff.).
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lung des Privatrechts eine „Tendenz zur ‚Veröffentlichrechtlichung‘“219 wahr und kritisiert, dass im Privatrecht immer mehr Handlungsvorgaben an den Einzelnen gestellt würden.220 Picker empfindet dies als Bevormundung und als ein „fraglich[es]“221 Vorhaben des Staates, den Bürgern eine Moral verordnen zu wollen.222 Als Hauptakteure dieser Moralisierung durch Privatrecht macht er den europäischen Gesetzgeber mit seinen Gleichbehandlungs-RL223 und die nationale Rechtsprechung aus, die rechtsgeschäftliche Bindungen fingiere224 oder dem Eigentümer immer größere Sicherungs- und Ersatzpflichten auferlege.225 Nach seinem Dafürhalten führten diese Entwicklungen dazu, dass der Staat seine Verantwortung immer weitreichender auf seine Bürger abwälze226 und dadurch individuelle Freiheitsräume unzulässigerweise beschneide. Aber selbst in der teilweise polemisch vorgetragenen Kritik finden sich Zwischentöne: Bei der Versorgung mit Gütern der Daseinsvorsorge hält Picker ein Eingreifen des Staates für notwendig, bei dem auch dem „Marktanbieter […] der knappen Ressource“ Verhaltensregeln auferlegt werden dürften.227 Und er erkennt an, dass das privatrechtliche Nichtdiskriminierungsrecht mit seinem Schutz von Angehörigen von Minderheiten „berechtigte[] Ziele[]“228 verfolge. Allein das Ausmaß und den Weg zur Verwirklichung des Schutzes lehnt er ab, da seiner Ansicht nach die privatrechtlichen Generalklauseln geeigneter seien, um von Einzelfall zu Einzelfall zu beurteilen, ob Abhilfe gegen eine differenzierende Behandlung geschaffen werden müsse.229
219 Picker in Egon Lorenz (Hrsg.), Karlsruher Forum 2004: Haftung wegen Diskriminierung nach derzeitigem und zukünftigem Recht, 7 (19). 220 Picker in Riesenhuber (Hrsg.), Privatrechtsgesellschaft. Entwicklung, Stand und Verfassung des Privatrechts, 207 (251). 221 Picker JZ 2002, 880. 222 S. auch Picker JZ 2003, 540 (543); ders. in Riesenhuber (Hrsg.), Privatrechtsgesellschaft. Entwicklung, Stand und Verfassung des Privatrechts, 207 (217, 260). 223 S. etwa Picker in Riesenhuber (Hrsg.), Privatrechtsgesellschaft. Entwicklung, Stand und Verfassung des Privatrechts, 207 (216, 255 ff.). 224 Ebd., (219 ff.). 225 Ebd., (239 ff.). 226 Picker in Egon Lorenz (Hrsg.), Karlsruher Forum 2004: Haftung wegen Diskriminierung nach derzeitigem und zukünftigem Recht, 7 (99). 227 Ebd., (95 f.). 228 Picker in Riesenhuber (Hrsg.), Privatrechtsgesellschaft. Entwicklung, Stand und Verfassung des Privatrechts, 207 (257). 229 Picker in Egon Lorenz (Hrsg.), Karlsruher Forum 2004: Haftung wegen Diskriminierung nach derzeitigem und zukünftigem Recht, 7 (115); ähnlich auch ders., in Riesenhuber (Hrsg.), Privatrechtsgesellschaft. Entwicklung, Stand und Verfassung des Privatrechts, 207 (257).
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2. Die Essenz der Kritik Aus all diesen Wortmeldungen lassen sich drei Hauptthemen der Kritik an der Entwicklung des Privatrechts seit In-Kraft-Treten des BGB filtern, die unter den Schlagwörtern „Verwässerung der Methodik“, „Verlust an Freiheit“ und „Moralisierung“ Eingang in die Diskussion um das Privatrechtsverständnis gefunden haben. Zunächst geht es um die Bewahrung der privatrechtlichen Methodik. Die genannten Autoren treibt die Befürchtung um, dass das über Jahrhunderte gewachsene Privatrechtssystem durch die Einflüsse des Verfassungsrechts und des Europarechts an Kohärenz und Eigenständigkeit verliert. Wenn etwa grundrechtliche Erwägungen die Lösung eines zivilrechtlichen Falles beeinflussten, so ließen sich diese meist schwerlich in die Auslegung von Tatbestandsmerkmalen des BGB einfügen. Eher fänden sie über eine extensive Anwendung der Generalklauseln Eingang in die Rechtsprechung. In den dann vorgenommenen grundrechtlichen Analysen ließen sich die vom Privatrecht bereitgehaltenen Abstufungen und Typenbildungen, zum Beispiel bei der Beurteilung der Schutzwürdigkeit einer Vertragspartei, nicht anwenden. Eine Aneinanderreihung von Einzelfalllösungen drohe, das bestehende privatrechtliche Regelungsregime auszuhöhlen. Mit dieser Methodenkritik eng verbunden ist eine institutionelle Kritik. Bei einer Vertragskontrolle durch die Gerichte verlagere sich die Entscheidungshoheit weg von den Privaten, über die Zivilgerichte, hin zum BVerfG bzw. bei Berührungspunkten mit dem europäischen Recht zum EuGH. Schließlich würde die Kompetenz, über Bestand und Inhalt der Verträge zu urteilen, von Personen ausgeübt, die mit der Methodik des Verfassungsrechts sehr viel vertrauter seien als mit der des Privatrechts.230 Zweiter Hauptkritikpunkt ist ein befürchteter Verlust von individueller Freiheit im weitesten Sinne, also von Selbstbindung, Selbstbestimmung und allgemeiner Handlungsfreiheit. Wer das Privatrecht primär als ein Rechtsgebiet begreift, das den Einzelnen zur selbständigen Regelung seiner Rechtsbeziehungen befähigen soll, der bewertet neue Handlungsvorgaben leicht als Rückschritte hinter einen bereits erreichten Freiheitsstandard.231 Das gilt umso mehr, wenn mit den Handlungsvorgaben nicht die Interessen der von der Regelung betroffenen Individuen, sondern Gemeininteressen verfolgt werden sollen. Der dritte Aspekt, der in der Kritik immer wieder zum Vorschein kommt, ist die Ablehnung einer Moralisierung, d. h. einer als negativ weil überschießend empfundenen Ethisierung des Privatrechts. Eine „Aufladung“ des Privatrechts mit Wertvorstellungen, die über die Gewähr von Privatautonomie hinausgehen, 230 Im Hinblick auf den EuGH, dem (auch) die Funktion eines obersten Gerichts zukommt, gilt diese Kritik allerdings nur eingeschränkt. 231 Vgl. Fastrich FS Canaris, Bd. II, 2007, 1071 (1088).
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wird abgelehnt. Zum einen wird das Argument angeführt, dass das Privatrecht der falsche Ort für die Verwirklichung moralischer Vorstellungen der Rechtssetzung sei. Handlungsanweisungen und -verbote seien dem öffentlichen Recht vorbehalten. Zum anderen richtet sich die Kritik häufig nicht so sehr gegen die Moralisierung an sich, sondern gegen ihre Inhalte. Anstoß wird insbesondere genommen an Verbraucherschutzvorschriften im weitesten Sinne232 sowie an privatrechtlichen Gleichbehandlungsgeboten.233 Insofern bestehen zwischen den von Diederichsen, Zöllner, Reuter oder Picker eingenommenen Standpunkten und der Leiterzählung234 erhebliche Überschneidungen.
3. Die Selbsteinschränkung der Kritik Bemerkenswert ist, dass die Arbeiten, denen eine starke Nähe zur Leiterzählung zugeschrieben wird, selbst ein weitaus differenzierteres Bild davon zeichnen, was für das geltende Privatrecht charakteristisch ist und wie ein Privatrecht idealiter konzipiert sein sollte. Alle der detailliert besprochenen Stimmen schränken ihre Kritik in entscheidenden Punkten ein. Diese Einschränkungen sind von so grundlegender Natur, dass sie den Inhalt der Kritik, wie er als verkürzter Standard in der Diskussion rezipiert wird, abändern. Es wird zugestanden, dass rechtliche Regelungen immer normativ und damit wertend sind.235 Dies schränkt den Moralisierungseinwand erheblich ein. Wer anerkennt, dass „auch das Privatrecht […] der Regelung sozialer Zusammenhänge“236 dient und hierzu auf Orientierungsstandards angewiesen ist, der richtet seine Moralisierungskritik nur gegen eine bestimmte Art der Moralisierung. Es geht ihm um die Ablehnung spezifischer Inhalte. Wie sich insbesondere an der Fundamentalkritik am Nichtdiskriminierungsrecht zeigt, ist die Kritik an dem Gesetz dann eher als politisches denn als rechtliches Statement zu verstehen. Zudem findet sich wiederholt der Hinweis, dass das Privatrecht schon immer Handlungsvorgaben enthalten habe.237 Auch diejenigen Stimmen, denen die 232 Picker in Riesenhuber (Hrsg.), Privatrechtsgesellschaft. Entwicklung, Stand und Verfassung des Privatrechts, 207 (215); Zöllner JuS 1988, 329 (332 f.); ders. in Riesenhuber (Hrsg.), Privatrechtsgesellschaft. Entwicklung, Stand und Verfassung des Privatrechts, 53 (55). 233 Picker JZ 2002, 880; ders. JZ 2003, 540 ff.; ders. in Egon Lorenz (Hrsg.), Karlsruher Forum 2004: Haftung wegen Diskriminierung nach derzeitigem und zukünftigem Recht, 7 (17 ff.); ders. in Riesenhuber (Hrsg.), Privatrechtsgesellschaft. Entwicklung, Stand und Verfassung des Privatrechts, 207 (217). 234 S. Kap. 1. III. 235 Vgl. Zöllner AcP 188 (1988), 85 (93); aus institutioneller Perspektive ders. in Riesenhuber (Hrsg.), Privatrechtsgesellschaft. Entwicklung, Stand und Verfassung des Privatrechts, 53 (70). 236 Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterrecht, 2005, S. 21. 237 S. Reuter AcP 189 (1989), 199 (214); Zöllner JuS 1988, 329 (335); vgl. Diederichsen AcP 198 (1998), 171 (178); Picker in Riesenhuber (Hrsg.), Privatrechtsgesellschaft. Entwicklung,
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Leiterzählung zugerechnet wird, bestreiten nicht die Existenz von zwingendem Privatrecht. Für sie steht außer Frage, dass eine Person für Schäden haften muss, die sie einer anderen vorsätzlich zufügt; oder dass ein Testament Formanforderungen entsprechen muss, damit es wirksam ist (§§ 2231 ff. BGB). Die Kritik bezieht sich dann auch meist auf das Vertragsrecht als dem Rechtsgebiet, das sich am intensivsten mit der Selbstgestaltung der Rechtsbeziehungen von Privaten beschäftigt; seltener auf das Sachen-, Delikts- oder Bereicherungsrecht.238 Es ist kein Zufall, dass das Familienrecht und das Erbrecht in diesem Zusammenhang wenig interessieren:239 In diesen Gebieten ist der regulatorische Einfluss des Staates, etwa im Personenstandsrecht240 oder beim Pflichtteilsrecht,241 allgemein akzeptiert. Außerdem wird durchaus eingeräumt, dass das Privatrecht – im konkreten das BGB – stets Regelungen enthalten habe, die sich an Gemeininteressen ausrichten.242 So bestätigt Zöllner, dass der vielbeschworene „Tropfen sozialistischen Öles“243 das BGB bereits bei seinem In-Kraft-Treten schmierte, und verweist auf die Bestimmungen zu Wucher (§ 138 Abs. 2 BGB) oder Lohnfortzahlung (§ 616 BGB).244 Damit ist das Eingeständnis verbunden, dass es ein freiheitlich-individualistisches Privatrecht in Reinform, wie es die Leiterzählung zu propagieren scheint, nie gegeben hat. Demnach lässt sich die Wahrnehmung des Ist-Zustandes aus Sicht derjenigen Personen, denen in der Tendenz ein freiheitlich-individualistisches Privatrechtsverständnis zugeschrieben wird, wie folgt zusammenfassen: Es wird nicht in Abrede gestellt, dass Privatrecht immer auf Wertvorstellungen basiert und zwingende Regelungen enthält. Und zweitens: Auch die Bewertung des idealen Soll-Zustandes des Privatrechts fällt differenzierter aus, als es die freiheitlich-individualistischen Standardaussagen glauben machen wollen. Es geht den Personen, denen eine Nähe zu einem freiheitlich-individualistischen Privatrechtsverständnis zugeschrieben wird, nicht um grenzenlose Privatautonomie. Trotz ihrer teils vehement vorgetragenen Kritik an Schwächerenschutz oder an der Berücksichtigung von Gemeininteressen erkennen sie diesen Aspekten dennoch ein wenig Raum innerhalb des Privatrechtsgefüges zu. So soll das PrivatStand und Verfassung des Privatrechts, 207 (257 f.); Zöllner in Riesenhuber (Hrsg.), Privatrechtsgesellschaft. Entwicklung, Stand und Verfassung des Privatrechts, 53 (71). 238 Jedoch auf das Sachenrecht eingehend Picker in Riesenhuber (Hrsg.), Privatrechtsgesellschaft. Entwicklung, Stand und Verfassung des Privatrechts, 207 (239 ff.). 239 Allerdings mit familienrechtlichem Beispiel Diederichsen AcP 198 (1998), 171 (243 ff.). 240 Gernhuber/Coester-Waltjen, Familienrecht, 6. Aufl. 2010, § 1 Rn. 21. 241 Muscheler, Erbrecht, Bd. I , 2010, Rn. 423 und 431 ff. 242 Reuter AcP 189 (1989), 199 (219 f.); vgl. auch Zöllner AcP 188 (1988), 85 (93). 243 Gierke, Die soziale Aufgabe des Privatrechts, 2. Aufl. 1948 (Erstveröffentlichung 1889), S. 10; zuvor schon von „einem Tropfen socialpolitischen Oeles“ sprechend Brunner in Verhandlungen des 19. DJT, Bd. III, 1888, S. 301 f.; historische Nachzeichnung bei Becker ZNR 1995, 264 f. 244 Zöllner JuS 1988, 329 (330 Fn. 16).
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recht weiter seinem „Ordnungsauftrag“ nachkommen 245 und die Privatautonomie in den Fällen eingeschränkt werden können, in denen nicht mehr von einer selbstbestimmten Entscheidung gesprochen werden kann.246 Allerdings setzen sich die Kritiker für eine Begründung von Einschränkungen der Privatautonomie ein, die sich aus der Logik der Privatautonomie selbst speist.247 Nur wer die Möglichkeit zur Selbstbestimmung besitzt, soll die mit der Privatautonomie einhergehende Verantwortung tragen müssen. Die Konsequenzen dieser Einschränkung des eigenen Standpunkts sind nicht gering: Der materielle Einwand gegen die Berücksichtigung einer Ungleichgewichtslage verändert sich in einen methodischen Einwand. Nicht der Umstand, dass Schwächerenschutz das Privatrecht prägt, wird kritisch gesehen, sondern die Art und Weise seiner Verarbeitung sowie das Ausmaß seiner Berücksichtigung. Die Frage nach dem ob wandelt sich also zu Fragen nach dem wie und wieviel. Die genannten Personen, die als Fürsprecher eines freiheitlich-individualistischen Privatrechtsverständnisses gelten, fordern insbesondere, die Eigenständigkeit des Privatrechts zu achten und der Überformung des Privatrechts durch grobschlächtige verfassungs- bzw. europarechtliche Interessenabwägungen entgegenzutreten. Es wird angemahnt, das Privatrecht nicht mit Erwägungen zum Schutz des Schwächeren oder von Gemeininteressen zu überfrachten. Wie die Stellungnahmen zum Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz248 oder einer verfassungsrechtlichen Vertragskontrolle249 zeigen, soll eine Korrektur individueller Entscheidungen lediglich in Extremfällen möglich sein und die Modifizierungen möglichst punktuell und gering gehalten werden. Somit bleibt festzuhalten, dass die Stimmen, die heute als einflussreiche Fürsprecher des freiheitlich-individualistischen Privatrechtsverständnisses wahrgenommen werden, bei näherer Betrachtung die Leiterzählung nicht in jeder Hinsicht und in der angenommenen Grundsätzlichkeit als ihre Erzählung über Charakter und Entwicklung des Privatrechts anerkennen.
4. Weitere freiheitlich-individualistische Stellungnahmen Es ist nicht möglich, aus der Fülle des privatrechtlichen Schrifttums alle Stimmen zu sichten und zu gewichten. Daher sei im Folgenden nur kursorisch auf weitere Arbeiten eingegangen, die sich mit bestimmten Aspekten der Leiter245
Reuter AcP 189 (1989), 199 (214). Picker JZ 2003, 540 (544); Zöllner AcP 188 (1988), 85 (99); ders. AcP 196 (1996), 1 (24); ders. in Riesenhuber (Hrsg.), Privatrechtsgesellschaft. Entwicklung, Stand und Verfassung des Privatrechts, 53 (70); s. ferner Reuter AcP 189 (1989), 199 (217 f.). 247 So deutlich Zöllner AcP 188 (1988), 85 (99). 248 Picker JZ 2003, 540 (544); ders. in Egon Lorenz (Hrsg.), Karlsruher Forum 2004: Haftung wegen Diskriminierung nach derzeitigem und zukünftigem Recht, 7 (28 ff.). 249 Diederichsen AcP 198 (1998), 171 (247 f.); Zöllner in Riesenhuber (Hrsg.), Privatrechtsgesellschaft. Entwicklung, Stand und Verfassung des Privatrechts, 53 (72). 246
V. Gesucht: Fürsprecher der Leiterzählung
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zählung auseinandersetzen und das Konzept eines freiheitlich-individualistischen Privatrechts forttragen. Um nur einige Beispiele zu nennen: Rittner wendet sich gegen den Bedeutungsverlust des Privatrechts gegenüber dem öffentlichen Recht. Er stellt nicht den Vorrang der Verfassung vor dem einfachen Gesetzesrecht (und damit dem Privatrecht) in Frage,250 möchte aber dennoch Argumente für den „Vorrang des Privatrechts“251 vortragen. Zum einen sei das Privatrecht in der rechtlichen Praxis am bedeutsamsten.252 Zum anderen befähige das Privatrecht zu privatautonomer Gestaltung und der Staat müsse hierauf gegründete Rechtsbeziehungen keiner Regelung mehr zuführen.253 Lobinger setzt sich mit dem „Mehrebenenproblem“254 auseinander, welches durch das Europarecht an das Privatrecht der Mitgliedstaaten herangetragen werde. Es käme zu „Systemverwirrungen europäischer Provenienz“255 , welche „das Ideal einer in sich konsistenten und nach innerer Widerspruchsfreiheit strebenden Rechtsordnung [zerstörten].“256 In seiner Einleitung zum BGB im Staudinger konstatiert Honsell „im europäischen Bereich ein Übermaß an Reglementierung […], welches die bürgerlichen Freiheiten unnötig einschränkt.“257 Mit Hinblick auf das AGG sieht er den Grundsatz der Privatautonomie preisgegeben 258 und Säcker ruft gar die „Tugendrepublik der neuen Jakobiner“259 aus. Das Gesetz sei darauf angelegt, im originär „freiheitliche[n] Privatrechtssystem […] neue Bürgertugenden zwangsweise durchzusetzen.“260 In Bezug auf ein anderes europäisches Gesetzesvorhaben zum Verbraucherschutz bei unbestellten Leistungen (vgl. § 241a BGB) beklagt Altmeppen eine „hysterisch überzogene Regelung“, die „mit Grundprinzipien des Privatrechts auf Kollisionskurs geraten“ sei.261 Riesenhuber wiederum betont die grundsätzliche Bedeutung der Privatautonomie und möchte sie primär formal verstanden wissen.262 Die Liste ließe sich fortführen.263 250
Rittner FS Müller-Freienfels, 509 (522). (509). 252 Ebd., (510). 253 Ebd., (insbes. 520). 254 Lobinger AcP 216 (2016), 28 (66). 255 Ebd., (67). 256 Ebd., (67 f.). 257 Staudinger/Honsell, 2018, Einl. zum BGB Rn. 112a; s. ebenso ders. ZIP 2008, 621 (622); ders. ZfPW 2015, 1 (2). Ferner gegen die Rechtsprechung des BVerfG mit privatrechtlichen Bezügen ders. ZIP 2009, 1689 ff. 258 Honsell ZfPW 2015, 1 (2). 259 Säcker ZRP 2002, 286; ähnlich Isensee in Isensee (Hrsg.), Vertragsfreiheit und Diskriminierung, 239 (244); Picker JZ 2003, 540 (541); ders. in Riesenhuber (Hrsg.), Privatrechtsgesellschaft. Entwicklung, Stand und Verfassung des Privatrechts, 207 (260). 260 Säcker ZRP 2002, 286 (289). 261 Altmeppen FS Graf von Westphalen, 1 (11). 262 Riesenhuber ZfPW 2018, 352 (358). 263 In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass mitunter auch Vertreter des Öffentlichen Rechts bemängeln, dass die Rechtsprechung des BVerfG die Eigenheiten vertraglicher 251 Ebd.,
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Kapitel 1: Die privatrechtliche Leiterzählung
5. Zwischenergebnis Am Ende der Suche nach aktuellen Fürsprechern der Leiterzählung steht die Erkenntnis, dass sich kein Œuvre benennen lässt, das einschränkungslos als Überlieferung der Leiterzählung gelten kann. Dafür sind die vertretenen Ansichten zu differenziert. Wenn man nach aktuellen Hinweisen auf die Wirkmacht der Leiterzählung sucht, so findet man zweierlei: Punktuelle Kritik an Entwicklungen des Privatrechts, wie sie auch von der Leiterzählung vorgebracht wird, sowie diffuse Verweise auf ein hergebrachtes, als bekannt und geteilt vorausgesetztes Privatrechtsverständnis.
VI. Alternative Privatrechtsverständnisse Zugleich finden sich in der Literatur Stimmen, die sich ganz bewusst vom freiheitlich-individualistischen Privatrechtsverständnis der Leiterzählung lösen. Den Vertretern dieser Sichtweise ist gemein, dass sie das Einwirken von Europa- oder Verfassungsrecht auf das Privatrecht oder die Berücksichtigung von Gemeininteressen innerhalb des Privatrechts als Bestandteile ihrer Privatrechtskonzeption ansehen und grundsätzlich anerkennen. Sie verstehen die Leiterzählung als überholt oder zumindest für ihre eigenen Ansichten darüber, was Privatrecht ist oder sein sollte, als nicht prägend. Meines Erachtens ist das Privatrechtsverständnis, das sich bewusst von der Leiterzählung lossagt, im gegenwärtigen Schrifttum so verbreitet, dass es inzwischen die „herrschende Lehre“ (hL) ausmacht. Möchte man diesen Befund untermauern, sieht man sich mit zwei nicht zu unterschätzenden Schwierigkeiten konfrontiert. Erstens stellt sich die Frage, wie sich die hL überhaupt aussagekräftig bestimmen lässt. Eine Näherung ist zu erreichen, wenn man die hL als soziales Phänomen versteht.264 Dazu genügt es nicht, alle Monographien und Artikel auf Stellungnahmen zu einem bestimmten Thema auszuwerten und danach einen headcount der Autoren anzustellen, an dessen Ergebnis steht, wie viele die eine und wie viele die andere Ansicht vertreten. Zu dem quantitativen Element, wie häufig eine Ansicht vertreten wird, kommt ein autoritatives Element bei der Ermittlung der hL hinzu.265 Selbstbindung und mithin die Privatautonomie zu wenig respektiere. So habe etwa laut Isensee das BVerfG „das Vertragsrecht unter [seine] Vormundschaft“ gebracht und übe eine übermäßige Inhaltskontrolle von Verträgen aus, s. Isensee FS Großfeld, 485 (489) und passim. 264 Für die herrschende Meinung Drosdeck, Die herrschende Meinung. Autorität als Rechtsquelle, 1989, S. 107; Rita Zimmermann, Die Relevanz einer herrschenden Meinung für Anwendung, Fortbildung und wissenschaftliche Erforschung des Rechts, 1983, S. 43 ff. Damit geht einher, dass sowohl „herrschende Meinung“ als auch hL Konstrukte sind, die den Diskurs über rechtliche Fragen mitgestalten. 265 Djeffal ZJS 2013, 463 (465); Drosdeck, Die herrschende Meinung. Autorität als Rechts-
VI. Alternative Privatrechtsverständnisse
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Lehrmeinungen angesehener und einflussreicher Wissenschaftlerinnen werden bei der Bestimmung der hL mit stärkerem Gewicht eingestellt als etwa Äußerungen in Dissertationen. Um ein in der Lehre herrschendes Privatrechtsverständnis zu ermitteln, beschreitet diese Arbeit den Weg, Stimmen zu analysieren, die besonders wirkmächtig im Diskurs sind (autoritatives Element) oder exemplarisch für eine verbreitete Konzeption stehen (quantitatives Element). Zweitens muss man sich der Gefahr bewusst sein, dass unter dem Schlagwort „alternative Privatrechtsverständnisse“ Positionen miteinander in Verbindung gebracht werden, die inhaltlich weit auseinanderliegen. Abgesehen von der Annahme, dass dem Privatrecht eine Vielzahl an Funktionen zukommt und sich das Privatrecht legitimer Weise an privatrechts-externen Faktoren ausrichten darf, unterscheidet die im Folgenden vorgestellten Standpunkte mehr als sie eint. Die unterschiedlichen Ansätze, mit ihren voneinander abweichenden Forschungsprogrammen, Schwerpunktsetzungen und Graden an Abkehr vom freiheitlich-individualistischen Privatrechtsverständnis sollen auch nicht über einen Kamm geschert werden. Vielmehr sollen die im Folgenden dargestellten Stimmen ein Bild davon liefern, wie sehr das derzeit in der Privatrechtswissenschaft überwiegende Selbstverständnis und Verständnis des eigenen Rechtsgebiets von dem der Leiterzählung abweicht und auf welch unterschiedlichen Wegen diese Abweichung Ausdruck findet. Hierfür folgt der Abschnitt einem Aufbau, der sich an Themenkreisen orientiert, die für die Leiterzählung als besonders bedeutend ausgemacht worden sind: Die Frage, ob das Privatrecht ein bestimmtes Gesellschaftsmodell verfolgt (1.), die Konstitutionalisierung des Privatrechts (2), die Europäisierung des Privatrechts (3.) und Vorstellungen zur Eigenständigkeit des Privatrechts (4.).
1. Zur „politischen Funktion der Privatrechtsordnung“ 266 Es ist schon auf Arbeiten hingewiesen worden, die dem Zerrbild eines einseitig liberalen Privatrechts bei In-Kraft-Treten des BGB entgegentreten.267 Das Bild der Leiterzählung wird aber nicht nur geradegerückt, sondern es werden ihm auch alternative Entwürfe entgegengesetzt. Im Schrifttum gibt es zahlreiche Abhandlungen zur „politischen Funktion der Privatrechtsordnung.“268 Auch hier ist angesichts der Fülle an Veröffentlichungen eine umfassende Sichtung und Gewichtung nicht möglich. Deshalb sollen exemplarisch besonders einflussreiche Untersuchungen genauer analysiert werden. quelle, 1989, S. 111 ff.; Gast, Juristische Rhetorik, 5. Aufl. 2015, Rn. 4 45; Schnur FS Forsthoff, 43 (48 ff.); Rita Zimmermann, Die Relevanz einer herrschenden Meinung für Anwendung, Fortbildung und wissenschaftliche Erforschung des Rechts, 1983, S. 59 f. 266 Raiser in Die Aufgabe des Privatrechts, S. V I. 267 S. oben Kap. 1. IV. 1. 268 Raiser in Die Aufgabe des Privatrechts, S. V I.
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a) Raiser Mit dem Projekt, ein alternatives Privatrechtsverständnis zu entwerfen, ist zunächst einmal der Name Raisers verbunden. Er vertrat die Auffassung, dass das Privatrecht nicht als ein in sich geschlossenes System zu verstehen sei,269 dass sich starr an einer Verteidigung von Freiheit und Privateigentum ausrichte.270 Vielmehr habe „die Privatrechtsordnung eine politische Funktion.“271 Bei der Ausgestaltung des Privatrechts seien nicht nur die Individualinteressen in den Blick zu nehmen, sondern auch der „Schutz allgemeiner Werte“272 , wie er unter anderem in Verfassungsvorgaben Ausdruck finde.273 So schreibt Raiser: „Meine These lautet also, daß unser Privatrecht nicht nur an einem, sondern an zwei Systemgedanken orientiert ist: an dem Ausbau und dem Schutz des Wirkungsbereiches der Einzelperson durch die Zuteilung subjektiver Rechte und an der Entfaltung und Sicherung der unserer gesellschaftliches Leben durchziehenden Institutionen durch die Ausbildung entsprechender Rechtsinstitute kraft objektiven Rechts. Dieser zweite Gedanke ist von der Rechtslehre lange vernachlässigt worden.“274
b) Wiethölter Die Wirtschaftsrechtswissenschaft verhandelte allerdings den von Raiser kritisierten Aspekt, dass dem Ordnungscharakter des Privatrechts zu wenig Aufmerksamkeit zuteilwürde. Raisers Analyse einer Leerstelle dürfte zu der intensiveren Beschäftigung mit der Thematik in den 1960er und 1970er Jahren beigetragen haben. Hier verlief die Diskussion zwischen zwei Polen, für welche die Ansichten Mestmäckers einerseits und Wiethölters andererseits exemplarisch stehen.275 Mestmäcker nimmt hierbei die Position der Ordoliberalisten ein.276 Diese sehen die Kernaufgabe des Wirtschaftsrechts darin, die Bedingungen für unverzerrten Wettbewerb zu gewährleisten.277 Der Staat solle nur über unabhängige Institutionen in das Marktgeschehen eingreifen und nur in dem Maße tätig werden, das zur Verhinderung von Marktmissbrauch erforderlich sei.278 Eine über diese Steuerung hinausgehende Regulierung privaten Verhaltens mit 269
Raiser in Die Aufgabe des Privatrechts, 162 (164). Raiser in Die Aufgabe des Privatrechts, 22 (33); ders. in Die Aufgabe des Privatrechts, 124. 271 Raiser in Die Aufgabe des Privatrechts, 162 (164). 272 Raiser in Die Aufgabe des Privatrechts, 124. 273 Raiser in Die Aufgabe des Privatrechts, 162 (164). 274 Raiser in Die Aufgabe des Privatrechts, 124 (126) mit Nachweisen zu Stimmen in der Literatur, die dem zweiten von ihm erwähnten Systemgedanken Beachtung schenken. 275 Besprechung der Positionen bei Joerges/Everson KJ 2019, 479 ff. 276 Bereits vor Mestmäcker s. etwa Böhm, Wirtschaftsordnung und Staatsverfassung, 1950, insbes. S. 27 ff., ders. in Mestmäcker (Hrsg.), Freiheit und Ordnung in der Marktwirtschaft, 105 (158). 277 Mestmäcker FS Franz Böhm, 383 (412 ff.); ders. ZHR 137 (1973), 97 (101 f.). 278 Mestmäcker FS Franz Böhm, 383 (414, 416). 270 Vgl.
VI. Alternative Privatrechtsverständnisse
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den Mitteln des Wirtschaftsrechts wird abgelehnt. Gegen diese Ansicht brachte Wiethölter seine Auffassung einer „politischen Rechtstheorie“279 in Stellung. Danach solle Wirtschaftsrecht „Gestaltungsaufgaben“280 wahrnehmen: Im Wirtschaftsrecht sollten „rechtsstaatliche wie sozialstaatliche wie demokratische Verantwortung des politischen Gemeinwesens für Ordnung, Wohlfahrt und sozialen Frieden“281 verhandelt werden. In den unterschiedlichen Beschreibungen des Wirtschaftsrechts wird offenbar, dass die ordoliberale Sichtweise eine Berücksichtigung von Gemeininteressen, welche sich nicht auf eine Funktionsgewähr der Märkte beschränkt, skeptisch sieht. Im Gegensatz hierzu zählt sie eine politische Rechtstheorie à la Wiethölter zu ihrem Programm. Die Diskussion kreiste um die bis heute nicht eindeutig besetzte282 Definition des Wirtschaftsrechts. Ihre Rückwirkungen auf das allgemeine Privatrechtsverständnis sind gering geblieben. So wurde zwar Wiethölters Ansicht als „Traditionsbruch“ mit der Privatrechtswissenschaft „als Ganze“ verstanden.283 Aber sie führte nur bei einem begrenzten Kreis – bei diesem allerdings äußerst einflussreich 284 – zu einer produktiven Irritation. Ganz überwiegend nahm man sie zur Kenntnis, ohne die eigene Überzeugung eines weitestgehend apolitisch verstandenen Privatrechts grundlegend zu überdenken.285
2. Konstitutionalisierung des Privatrechts Bei der Darstellung der Leiterzählung wurde angesprochen, dass Teile der Privatrechtswissenschaft Art und Maß der Grundrechtswirkung im Privatrecht kritisch sehen.286 Dieser Prozess einer voranschreitenden Durchdringung der Rechtsbeziehungen zwischen Privaten mit grundrechtlichen Wertungen wird als Konstitutionalisierung des Privatrechts287 beschrieben. 279 Wiethölter FS Raiser, 645 (646, 695). Prägnante Umschreibung bei Habermas KJ 1989, 138: „Es geht Wiethölter um die politische Zähmung und demokratische Verwandlung der kapitalistischen Gesellschaft im medium eines Rechts, dessen zivilisierende Kraft die kulturellen Lebensformen durchdringt und prägt.“ – Aus jüngerer Zeit s. insbes. Menke, Kritik der Rechte, 2015, S. 369 ff. 280 Joerges/Everson KJ 2019, 479 (486). 281 Wiethölter FS Franz Böhm, 41 (56). 282 Hierzu Karsten Schmidt AcP 206 (2006), 169 (176 ff.). 283 Joerges/Everson KJ 2019, 479 (487). 284 S. hierzu die Verfasserinnen und Verfasser in Joerges/Zumbansen (Hrsg.), Politische Rechtstheorie Revisited. Rudolf Wiethölter zum 100. Semester, ZERP-Diskussionspapier (https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-62576-3, letzter Abruf: 8.2.2022) und Heft 4, KJ 2019, 391 ff. 285 So auch die Selbsteinschätzung von Wiethölter FS Simon, 641; ferner Joerges/Everson KJ 2019, 479 (488). 286 S. Kap. 1. III. 3. 287 Wie Barczak treffend anmerkt, sind „zur Frage der Grundrechtswirkung im privatrechtlichen Bereich … Bibliotheken gefüllt worden“ (Barczak in Scheffczyk/Wolter [Hrsg.], Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts IV, 91 [95 f.]). Aus der umfangrei-
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a) Canaris Von Seiten der Privatrechtswissenschaft widmete sich unter anderem Canaris dem Thema.288 Dieser nahm sich der erstarrten Debatte über die Wirkung der Grundrechte zwischen Privaten an und prägte mit seinen dogmatischen Arbeiten maßgeblich den Diskurs innerhalb der Privatrechtswissenschaft. Canaris sieht die Zivilgerichtsbarkeit bei der Entscheidung von Streitigkeiten zwischen Privaten insofern grundrechtlich gebunden, als sie auf der einen Seite nicht ungerechtfertigt in die Grundrechtspositionen der einen Partei eingreifen darf und auf der anderen Seite aufgrund der Schutzgebotsfunktion der Grundrechte der anderen Partei gegenüber verpflichtet ist, alle notwendigen Maßnahmen zu treffen, um ein Unterschreiten eines gewissen Schutzstandards zu verhindern.289 Im Einklang mit der Leiterzählung betont Canaris den hohen Stellenwert der Privatautonomie, der er mithilfe seiner Konzeption eines Zusammenwirkens von Übermaß- und Untermaßverbot „Spielraum“ erhalten möchte.290 Aber er zeigt sich weitaus offener für verfassungsrechtliche Einflüsse als Autoren, denen eine Nähe zur Leiterzählung zugeschrieben wird. Denn er wählt den Vorrang des GG vor dem Privatrecht, mithin die Bindung von Privatrechtsgesetzgeber und privatrechtlicher Rechtsprechung, zum Ausgangspunkt seiner Betrachtung und verteidigt diesen Vorrang konsequent gegen Kritik.291 Dadurch trägt er entscheidend dazu bei, die Auffassung zu entkräften, dass die Grundrechtsbindung Privater eine unerwünschte, aber hinzunehmende Tatsache sei. An ihre Stelle setzt er eine dogmatische Konstruktion, über die die Grundrechte mittels einer schonenden Mediatisierung durch das Privatrecht und die Zivilgerichte zwischen Privaten Anwendung finden. Grundrechte und Privatrecht wirken also bei der Bewertung eines Falles zusammen. Mit seinem Ansatz verhilft er der Idee einer Konstitutionalisierung insbesondere in der Privatrechtswissenschaft zu größerer Akzeptanz. b) Neuner In der Privatrechtswissenschaft ist auch der Name Neuners stark mit dem Thema des Verhältnisses von Verfassung und Privatrecht verbunden.292 In seiner chen Literatur zur Konstitutionalisierung sei hier nur verwiesen auf Jarass in Wittreck (Hrsg.), 60 Jahre Grundgesetz, 47 ff.; Volkhart Schmidt, Gutachten zum 61. DJT, O 43 ff.; Schuppert/Bumke, Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, 2000. 288 Insbes. Canaris AcP 184 (1984), 202 ff. und aktualisiert ders., Grundrechte und Privatrecht, 1999; ferner ders. JZ 1987, 993 ff.; ders. JZ 1988, 494 ff.; ders. JuS 1989, 161 ff.; ders. FS Lerche, 873 ff. 289 Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 37 ff. 290 Ebd., S. 20, 43 ff. 291 Ebd., S. 15. 292 S. nur Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, 1999; ders. JöR 59 (2011), 29 ff.; ders. in Neuner (Hrsg.), Grundrechte und Privatrecht aus rechtsvergleichender Sicht, 159 ff.; ders. JZ 2016, 435 ff.
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Habilitationsschrift 293 untersucht Neuner, wie sich die Einwirkung des Sozialstaatsprinzips auf das Privatrecht legitimieren lässt. Dabei versteht er das verfassungsrechtliche294 Sozialstaatsprinzip weiter als die Garantie des Art. 20 Abs. 1 GG. Neben den sozialen Grundrechten 295 seien die sozialen Menschenrechte in den Blick zu nehmen, die über Art. 1 Abs. 2 GG296 in die Verfassung inkorporiert würden. Das so umfassend konzipierte Sozialstaatsprinzip prägt, so Neuner, das Privatrecht in verschiedener Weise. Dabei komme der Staatszielbestimmung des Art. 20 Abs. 1 GG nur eine untergeordnete Rolle zu. Zwar sei der Gesetzgeber bei der Privatrechtsgesetzgebung an Art. 20 Abs. 1 GG gebunden, doch könne er aufgrund seines hohen „Grad[es] an Allgemeinheit in der Regel“ die Gerichte nicht anleiten.297 Anders sehe es im Hinblick auf die sozialen Menschenrechte aus. Sie entfalteten „in ihrem absoluten Kernbereich eine allseitige Wirkung“298 , würden also Verfassungsgeber, Staatsgewalten und Private in die Pflicht nehmen. Die Grundrechte mit sozialer Ausprägung würden „lediglich“ staatliche Akteure binden. Auf die Rechtsverhältnisse zwischen Privaten würden sie Einfluss nehmen, da sie staatliche Akteure, wie Gesetzgeber oder Gerichte, verpflichteten, bei Bedarf zum Schutz eines Privaten gegen einen anderen Privaten tätig zu werden.299 Laut Neuner wirkt das Sozialstaatsprinzip also nicht pauschal auf das Privatrecht ein. Stattdessen sei beim Grad der Bindung des Privatrechts an verfassungsrechtliche Vorgaben danach zu differenzieren, um welchen Aspekt des Sozialstaatsprinzips – Menschenrecht, Grundrecht oder Staatszielbestimmung – es sich handle.300 c) Stimmen der Wissenschaft vom öffentlichen Recht Beobachtbar ist weiter ein gestiegenes Interesse der Wissenschaft vom öffentlichen Recht für das Verhältnis von Verfassung und Privatrecht. Beispielhaft stellt Ruffert in das Zentrum seiner Betrachtung des Zusammenspiels der bei293
Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, 1999. Neuner setzt sich auch mit den europarechtlichen Vorgaben zum Sozialstaatsprinzip auseinander, s. ebd., S. 174 ff. 295 Ebd., S. 157. 296 Art. 1 Abs. 2 GG: „Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“ 297 Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, 1999, S. 171. 298 Ebd., S. 173 und gleichsinnig S. 70, 149 ff. 299 Ebd., S. 173 und gleichsinnig S. 158 ff. 300 Neuners Arbeit zum Verhältnis von Privatrecht zu Sozialstaat weist mindestens so viel verfassungsrechtliche wie privatrechtliche Würdigung auf. Es wäre daher unzutreffend, das intradisziplinäre Werk einseitig der Privatrechtswissenschaft zuzuschlagen. Jedoch hat Neuner die Arbeit am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht von Canaris geschrieben (s. Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, 1999, Vorwort). Schon deshalb kann sie als Produkt einer Privatrechtswissenschaft angesehen werden, die die Konstitutionalisierung des Privatrechts anerkennt und mit ihrer Forschung zu konzeptualisieren sucht. 294
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den Rechtsgebiete die These, dass der Geltungsvorrang des Verfassungsrechts neben dem Erkenntnisvorrang des Privatrechts stehe.301 Aus der langen Geschichte des Privatrechts sowie seiner größeren Sachnähe zu den Rechtsbeziehungen Privater leitet er ab, dass das Verfassungsrecht „die Begriffe, Institute und dogmatischen Strukturen des Privatrechts so weit wie möglich […] zu beachten“ habe.302 Von diesem Gedanken lässt er sich leiten, wenn er im Folgenden aufzeigt, dass die Debatte um die Drittwirkung die Vielfalt der Interaktionen zwischen Verfassung und Privatrecht nicht abbildet. Vielmehr gestalteten die Grundrechte in ihren unterschiedlichen Funktionen das Privatrecht, sei es als Einrichtungsgarantien, Abwehrrechte, Schutzpflichten, soziale Leistungsansprüche oder Organisations- und Verfahrensgarantien.303 Schuppert und Bumke analysieren den Prozess der Konstitutionalisierung in einem noch weiter gefassten theoretischen Rahmen. Sie ordnen die Mechanismen, mit denen die Verfassung auf das einfache Recht einwirkt, und zeigen auf, wie der Einfluss der Verfassung auf die Rolle der unterschiedlichen Akteure durchschlägt. Sie beschreiben, dass die „Leitbildfunktion“304 des GG zu einer unterschwelligen „Veränderung von Grundanschauungen“305 führen kann. Auf das Verhältnis von Verfassung zu Privatrecht angewandt bedeutet dies beispielshalber, dass sich eine anfängliche Skepsis gegenüber der Wirkung der Grundrechte zwischen Privaten hin zu einer Akzeptanz wandelte und die Wirkung inzwischen vielfach als integraler Bestandteil des Privatrechts gutgeheißen wird. Zusätzlich zeigen Schuppert und Bumke auf, dass die Konstitutionalisierung die Eigenständigkeit der ordentlichen Gerichte gegenüber dem Privatrechtsgesetzgeber fördert.306 Wenn ordentliche Gerichte bei der Beurteilung eines Falles grundrechtliche Positionen miteinander abwägten, so eröffne ihnen dies einen großen Gestaltungsspielraum.
301 Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, insbes. S. 51, 550 mit Verweis auf Mestmäcker AcP 168 (1968), 235 (240), der in der „Privatrechtsordnung ein der Verfassung vorgegebenes Normsystem“ sieht, „das in seiner Eigenart an der Verwirklichung der verfassungsmäßigen Ordnung teilhat und sie gewährleistet.“ 302 Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 51. 303 Ebd., S. 61 ff. 304 Schuppert/Bumke, Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, 2000, S. 27 in Anlehnung an Voßkuhle AöR 119 (1994), 35 (53 f.). – Zur Funktion von Leitbildern im Recht Johanna Braun, Leitbilder im Recht, 2015, S. 23 ff.; Helleberg, Leitbildorientierte Verfassungsauslegung 2016, S. 213 ff.; Rüping, Der mündige Bürger. Leitbild der Privatrechtsordnung?, 2017, S. 21 ff.; Volkmann AöR 134 (2009), 157, 178 ff.; generell Baer in Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 223 (232 ff.). 305 Schuppert/Bumke, Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, 2000, S. 16. 306 S. ebd., S. 57.
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d) Zwischenergebnis Diese exemplarisch vorgestellten Beiträge zeichnen gewiss kein vollständiges Bild davon, wie die Konstitutionalisierung des Privatrechts in der Rechtswissenschaft wahrgenommen wird. Aber sie sind Indizien für einen Trend beim Verständnis der Beziehung von Verfassungs- und Privatrecht: Die erwähnte, vom GG angestoßene unterschwellige „Veränderung von Grundanschauungen“307 schreitet kontinuierlich fort. Die Erfolgsgeschichte des GG und der Rechtsprechung des BVerfG308 zeigt auch im Privatrechtsverständnis Wirkung.309 Was zunächst als schwierige Überformung des Privatrechts mit verfassungsrechtlichen Werten beurteilt wurde, wird heute eher als Betonung der besonderen Bedeutung einer Rechtsposition verstanden. Das verfassungsrechtliche Argument ist fester Bestandteil privatrechtlicher Diskussion geworden. Dies kann man unter anderem daran ablesen, dass bei Untersuchungen der Vertragsfreiheit auf ihre verfassungsrechtliche Verankerung in Art. 2 Abs. 1 GG hingewiesen wird310 oder in mietrechtlichen Diskussionen Art. 14 GG Erwähnung findet.311 Die Bestimmung der Reichweite der deliktischen Rahmenrechte geht weitgehend in grundrechtlich gesteuerten Abwägungsprozessen auf; im Familienrecht gehört der Hinweis auf Art. 6 GG ebenso zum Standardrepertoire312 wie im Erbrecht der Verweis auf Art. 14 Abs. 1 GG, um die Bedeutung der Testierfreiheit zu unterstreichen.313 Allerdings kommen die Differenzierungen, die die verfassungsrechtliche Argumentation mit den unterschiedlichen Grundrechtsfunktionen bietet,314 selten zum Ausdruck. Der Verweis auf ein Grundrecht erfolgt vielmehr, um das Gewicht einer Rechtsposition zu unterstreichen.
307
Ebd., S. 16. S. hierzu Michaela Hailbronner, Traditions and Transformations. The Rise of German Constitutionalism, 2015, S. 41 ff. 309 Ackermann ZEuP 2018, 741 (751). 310 S. etwa Arnold, Vertrag und Verteilung, 2014, S. 201 ff.; Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang, 1999, S. 22 ff.; Wendland, Vertragsfreiheit und Vertragsgerechtigkeit, 2019, S. 30 ff. 311 Dies lässt sich an den privatrechtlichen Stellungnahmen zu Entwicklungen des Mietrechts ablesen, s. etwa Gsell/Siegmund NZM 2019, 489 (494, 497); Herrlein/Tuschel NZM 2020, 217 (225, 230); Streyl NZM 2017, 785 (786). 312 S. etwa BGH FamRZ 2008, 845 Rn. 2 2; Coester in Röthel/Heiderhoff (Hrsg.), Mehr Kinderrechte? Nutzen und Nachteil, 29 ff.; Sanders, Mehrelternschaft, 2018, S. 103 ff., 311 ff.; Schumann, Gutachten zum 72. DJT, B 11 ff. 313 S. etwa Christandl, Selbstbestimmtes Testieren in einer alternden Gesellschaft, 2016, S. 53; Dutta, Warum Erbrecht?, 2014, S. 3, 467; Muscheler, Erbrecht, Bd. I, 2010, Rn. 207 ff. 314 S. nur Ruffert, Vorrang der Verfassung und Eigenständigkeit des Privatrechts, 2001, S. 61 ff. 308
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Kapitel 1: Die privatrechtliche Leiterzählung
3. Europäisierung Die Leiterzählung zum Privatrechtsverständnis speist sich neben Bedenken im Hinblick auf die Konstitutionalisierung des Privatrechts aus Bedenken, die gegen den Einfluss des Europarechts vorgebracht worden sind. Laut ihr fehlt es dem Europarecht an Struktur, die Figur des effet utile wird genutzt, um rechtliche Bewertung durch politische Erwägungen zu ersetzen und europarechtliche Vorgaben bevormunden des Öfteren die einzelne Person.315 Eine solch kritische Wahrnehmung des Europarechts ist in der Privatrechtswissenschaft größtenteils einem pragmatischen und akzeptierenden Umgang mit den europäischen Einflüssen gewichen. Dies liegt zum einen an der Entwicklung, die das Europarecht über die Jahre genommen hat. Strukturierung und konsistente Prinzipienorientierung haben zugenommen. Zum anderen gründet die geänderte Wahrnehmung aber auch darin, dass privatrechtswissenschaftliche Untersuchungen ein besseres Verständnis des Zusammenwirkens von nationalem und europäischem Privatrecht ermöglichen. a) Riesenhuber In den letzten Jahren wurde die These, dass das Europarecht unmethodisch auf das deutsche Privatrecht einwirke, widerlegt. Exemplarisch stehen hierfür die Beiträge in der von Riesenhuber herausgegebenen europäischen Methodenlehre.316 Sie geben wieder, dass im europäischen Privatrecht gängige Methodikin strumente wie Auslegung oder Konkretisierung zur Anwendung kommen und die Eigenheiten des Rechtsgebietes dabei dennoch Berücksichtigung finden können.317 So entwickelt etwa Riesenhuber selbst in seinem Beitrag zur Auslegung des europäischen Sekundärrechts, dass auf das Gebot des effet utile nur dann zurückgegriffen werden müsse, wenn eine Analyse des Gesetzeszwecks keine vorrangigen Ergebnisse für die teleologische Auslegung liefere.318 Steht hinter einer Regelung etwa die Verwirklichung eines hohen Verbraucherschutzniveaus (vgl. Art. 114 Abs. 3 AEUV), so hat sich die Auslegung an diesem Zweck und nicht am vageren effet utile auszurichten. Wie die Beiträge in Europäische Methodenlehre zeigen, geht es den Verfasserinnen und Verfassern nicht darum, die Methodenanwendung durch den EuGH in jedem Einzelfall zu rechtfertigen.319 Ihr Anliegen richtet sich vielmehr darauf, Entwicklungen kritisch nach315
Kap. 1. III. 2. Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 4. Aufl. 2021. 317 S. zu diesem Forschungsprogramm auch Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken in Kerngebieten des Europäischen Privatrechts, 2000; ders. RabelsZ 75 (2011), 882 ff.; Möslein in Liebscher (Hrsg.), Harmonisierung des Wirtschaftsrechts in Deutschland, Österreich und Polen, 57 (59 ff.). 318 Riesenhuber in Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, § 10 Rn. 45. 319 Vgl. bsph. Neuner in Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, § 12 Rn. 53 sowie Rebhahn in Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, § 17 Rn. 2. 316
VI. Alternative Privatrechtsverständnisse
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zuvollziehen und ein dogmatisches Gerüst für zukünftige Fallbearbeitungen zu liefern. b) Heiderhoff und Grundmann Untersuchungen zum Europäischen Privatrecht entkräften ebenfalls den Vorwurf der paternalistischen Gesetzgebung, die auf den „bevormundenden“ Schutz einzelner Personengruppen ziele. Das lässt sich anhand der Diskussion um den europäischen Verbraucherbegriff nachzeichnen. So hat unter anderem Heiderhoff herausgearbeitet, dass das europäische Verbraucherrecht nicht ausschließlich auf ein Schutzmodell setzt, gemäß dem zwingende Regeln den Verbraucher gegen übervorteilendes Unternehmerhandeln absichern.320 Stattdessen greife das europäische Verbraucherrecht, wie etwa Grundmann betont, vielerorts auf das Informationsmodell zurück.321 Richtlinien wie die Verbraucherkredit-322 oder die Verbraucherrechte-RL323 statuierten Informationspflichten, damit Verbraucher in die Lage gebracht würden, aufgeklärte Entscheidungen zu treffen. Das Mehr an Information sei notwendig, um einen Ausgleich für Informationsdefizite zu schaffen, die aufgrund der besonderen Situation der Vertragsanbahnung – Überrumpelung in der eigenen Wohnung oder Abschluss eines Kaufvertrags im Internet ohne Möglichkeit der Begutachtung der Ware vor Vertragsabschluss – in den geregelten Fällen fehlen.324 In den Einzelheiten ist vieles umstritten und es werden unterschiedliche Ansichten dazu vertreten, was das Leitbild des europäischen Verbrauchers ist bzw. welchen Anteil das Schutzmodell und welchen Anteil das Informationsmodell bei der Ausgestaltung des Rechtsbereiches hat. Aber ein Aspekt ist den Analysen gemein: Sie entkräften den pauschalen Vorwurf, das Europarecht würde „den Verbraucher“ schützen und setzen dieser Ansicht einen vielschichtigen Entwurf dieses Teilgebiets des europäischen Privatrechts entgegen, das auf den situativen Charakter des Verbraucherschutzes sowie seine marktregulierende Funktion eingeht. 320 S. Heiderhoff, Europäisches Privatrecht, 5. Aufl. 2020, Rn. 205 ff. sowie schon dies., Grundstrukturen des nationalen und europäischen Verbrauchervertragsrechts, 2004, S. 281; Nachzeichnung der Entwicklungen auch bei Micklitz ZEuP 1998, 253 (258 ff.); ders., Gutachten zum 69. DJT, A 36 ff.; ders., The Politics of Justice in European Private Law, 2018, S. 222 ff. Zum Schutzmodell nach dem (früheren) deutschen Recht Dauner-Lieb, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher, 1983, S. 62 ff. 321 „Besonderes Gewicht des Informationsmodells“ – Grundmann in Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, § 9 Rn. 41 sowie ders. JZ 2000, 1133 (1138); s. auch Reich/Micklitz, Europäisches Verbraucherrecht, 4. Aufl. 2003, S. 45; Roth JZ 2001, 475 (480); krit. zur Zweckmäßigkeit überbordender Informationspflichten nach dem EU-Recht Heiderhoff, Europäisches Privatrecht, 5. Aufl. 2020, Rn. 253; Martinek in Grundmann (Hrsg.), Systembildung und Systemlücken in Kerngebieten des Europäischen Privatrechts, 511 (520 ff.). 322 RL 2008/48/EG, ABl. 2008, L 133/66. 323 RL 2011/83/EU, ABl. 2011, L 304/64. 324 Grundmann JZ 2000, 1133 (1139 ff.); ders. in Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, § 9 Rn. 42.
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Kapitel 1: Die privatrechtliche Leiterzählung
c) Zwischenergebnis Wie die Diskussionen zu Methode und Verbraucherrecht zeigen, bringt die deutsche Privatrechtswissenschaft Arbeiten hervor, welche die funktionale Ausrichtung sowie die materialen Grundlagen des europäischen Privatrechts in den Fokus nehmen. Allerdings ist sehr viel häufiger eine andere Arbeitsweise anzutreffen, die dem Trend zur verfassungsrechtlichen Argumentation im Privatrecht ähnelt. In Rechtsbereichen, die seit längerem starke Bezüge zum europäischen Primär- oder Sekundärrecht aufweisen – wie etwa dem Kapitalmarktrecht, dem Kollisionsrecht, dem Arbeitsrecht oder dem Nichtdiskriminierungsrecht – werden die europarechtlichen Bezüge nicht als fremd empfunden. Stattdessen wird das Europarecht als eine der Rechtsordnungen analysiert, die positives Recht auf dem Gebiet hervorbringt. Hier zeichnen sich die Arbeiten durch einen selbstverständlichen Umgang mit der Materie aus und nicht durch den Versuch, die europarechtlichen Bezüge klein zu halten.325 Am Ende steht der Befund, dass die Privatrechtswissenschaft in den letzten Jahren sehr viel empfänglicher für europäische Einflüsse geworden ist.326
4. Alternative methodische Ansätze Überdies ist wahrnehmbar, dass solche Werke der Privatrechtswissenschaft auf breite Resonanz innerhalb der Disziplin treffen, die es vermögen, das Privatrecht in den größeren Zusammenhang gesellschaftlicher Entwicklungen oder ökonomischer Erkenntnisse zu stellen. Der Gebrauch inter- und intradisziplinärer Arbeitsweisen ist nicht zwangsläufig mit einer Abkehr von einem freiheitlich-individualistischen Privatrechtsverständnis verbunden. Doch zeigt ihre Verwendung und die Rezeption der Texte, die unter ihrer Zuhilfenahme hervorgegangen sind, eine erstarkte Methodenvielfalt und -offenheit. Zudem lassen sich die Werke, die unter dem Aspekt der methodologischen Offenheit in einer Gruppe zusammengefasst sind, dahingehend interpretieren, dass sie der Wahrung der Eigenständigkeit des Privatrechts eine untergeordnete Bedeutung zu325 Monographisch z. B. für das Kapitalmarktrecht Brüggemeier, Harmonisierungskonzepte im europäischen Kapitalmarktrecht, 2018; für das Kollisionsrecht Rühl, Statut und Effizienz. Ökonomische Grundlagen des Internationalen Privatrechts, 2011; für das Arbeitsrecht Hartmann, Negative Tarifvertragsfreiheit im deutschen und europäischen Arbeitsrecht, 2014, S. 221 ff.; für das Nichtdiskriminierungsrecht Grünberger, Personale Gleichheit, 2013, S. 288 ff.; Mörsdorf, Ungleichbehandlung als Norm, 2018, S. 49 ff. 326 In den Worten von Riesenhuber in der Einleitung zur 4. Aufl. der Europäischen Methodenlehre: „Als 2006 die erste Auflage dieses Bandes erschien, gingen wir noch von dem Befund aus, dass das Europarecht ungeachtet seiner zunehmenden Breite und Tiefe in vielen Bereichen unbeachtet blieb: dass Lehrbücher zum nationalen Recht die europarechtlichen Bezüge nicht oder nicht ausreichend ansprächen und diese mitunter nur in Form eines knappen Hinweises oder nur in Fußnoten berücksichtigt würden. Die Lage hat sich seither grundlegend geändert, gerade auch im Bereich der Methodenlehre“ (Riesenhuber in ders. [Hrsg.], Europäische Methodenlehre, § 1 Rn. 1).
VI. Alternative Privatrechtsverständnisse
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messen. Somit bewerten sie ein zentrales Anliegen der Leiterzählung, nämlich den Erhalt der Eigenständigkeit des Privatrechts, als für sich nicht maßgeblich. Dieser Kategorie lassen sich viele inter- oder intradisziplinär informierte Arbeiten zuschlagen.327 Die von Karsten Schmidt sowie Wagner vertretenen Ansätze sollen hier herausgegriffen werden, da sie das derzeit vorherrschende Privatrechtsverständnis besonders prägen. a) Karsten Schmidt Schmidt konzipiert das Handelsrecht als ein Außenprivatrecht der Unternehmen.328 Wenn Schmidt den Regelungsgegenstand des Handelsrechts umreißt, wählt er nicht das HGB zum Ausgangspunkt seiner Betrachtung. Stattdessen schaut er auf die tatsächlichen wirtschaftlichen Gegebenheiten und fragt, nach welchem Grundkonzept sie rechtlich zu erfassen sind. So verfolgt er etwa das Ziel, den aus seiner Sicht veralteten Kaufmannsbegriff durch ein Verständnis zu ersetzen, das sich an den unternehmerischen Akteuren orientiert.329 Dies ermöglicht ihm eine grundlegend andere Sicht auf das Handelsrecht: Beziehungen zwischen Privaten werden nicht ausschließlich an den bestehenden Regelungen gemessen, sondern die Grundordnung eines Rechtsgebiets wird im Hinblick auf die tatsächlichen Gegebenheiten und Bedürfnisse der Wirtschaft entwickelt.330 Schmidts rechtswissenschaftliche Arbeitsweise begünstigt originelle Einsichten in die von ihm untersuchten Rechtsmaterien. Er selbst hat sein Forschungsprogramm als „juristische[] Institutionenbildung“ beschrieben, einen „permanente[n] Prozeß, bestehend aus Beobachtung, Spekulation und Erkenntnis“, der „rechtsdogmatischer und zugleich rechtspolitischer Art“331 sei. Er sieht die Rechtswissenschaft an der Rechtsfortbildung beteiligt 332 und weist ihr eine Rolle dabei zu, neue, aber stets auch dogmatisch fundierte333 Antworten auf Fragen zu entwerfen, für die das geltende Recht keine offensichtlichen Lösungen bereithält. 327 Angesichts der Vielzahl der Abhandlungen ist eine umfassende Abbildung an dieser Stelle nicht leistbar. Auf den Mehrwert und die Schwierigkeiten, die mit inter- und intradisziplinärem Arbeiten verbunden sind, wird in Kap. 2. II. 2. b) bb) (3) (b) zurückgekommen. 328 S. Karsten Schmidt, Unternehmensrecht. Handelsrecht, 6. Aufl. 2014, insbes. § 2 Rn. 10 ff.; ferner ders. JuS 1985, 249 ff. 329 S. hierzu – auch nach der Reform des HGB von 1998 – Karsten Schmidt, Unternehmensrecht. Handelsrecht, 6. Aufl. 2014, insbes. § 2 Rn. 10 ff. 330 Bitter in Grundmann/Riesenhuber (Hrsg.), Deutschsprachige Zivilrechtslehrer des 20. Jahrhunderts in Berichten ihrer Schüler, Bd. II, 161 (168 f.); Bumke FS Karsten Schmidt, Bd. I, 169 (174). 331 Karsten Schmidt in Karsten Schmidt (Hrsg.), Rechtsdogmatik und Rechtspolitik, 9 (20). 332 Karsten Schmidt in Behrends (Hrsg.), Privatrecht heute und Jherings evolutionäres Rechtsdenken, 77 (86, 95). 333 Karsten Schmidt in Karsten Schmidt (Hrsg.), Rechtsdogmatik und Rechtspolitik, 9 (17).
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Kapitel 1: Die privatrechtliche Leiterzählung
b) Wagner Wagner wiederum ist einer der einflussreichsten Vertreter der ökonomischen Analyse des Rechts innerhalb der deutschen Privatrechtswissenschaft, der neben genuin juristischen Betrachtungen des Rechts wirtschaftswissenschaftliche Erwägungen betont. Er geht davon aus, dass der Funktion des Privatrechts, menschliches Verhalten zu steuern, maßgebliche Bedeutung zukommt.334 Die Steuerungs- bzw. Präventionsfunktion durchziehe das Privatrecht und viele privatrechtliche Regeln seien erst vor dem Hintergrund verständlich, dass mit ihnen ein bestimmtes Handeln gefördert oder unterbunden werden soll.335 Es sei überholt, die Aufgabe der Verhaltensteuerung allein dem öffentlichen Recht zuzuweisen. Vielmehr würde die Steuerungsfunktion des Privatrechts an den Stellen Relevanz gewinnen, an denen das öffentliche Recht keine Vorgaben mache.336 Dies sei speziell im Haftungsrecht der Fall.337 Wenn z. B. die staatliche Versicherungsaufsicht reduziert worden sei, so trete an ihre Stelle eine verstärkte ex post Kontrolle der allgemeinen Geschäftsbedingungen der Versicherer durch die Zivilgerichte.338 Damit zieht Wagner Parallelen zwischen den Funktionen des öffentlichen Rechts und des Privatrechts und rüttelt am Gedanken der Eigenständigkeit des Privatrechts, nach der das Privatrecht von den Ideen der Privatautonomie und des Interessenausgleichs zwischen Privaten geleitet werde.339 Der legal mainstream hat Wagners ökonomische Analyse des Haftungsrechts aufgenommen. Hierzu dürften sein Lehrbuch zum Deliktsrecht 340 ebenso wie seine Kommentierung der §§ 823 ff. BGB im Münchener Kommentar341 beigetragen haben. Generell lässt sich ausmachen, dass das Theorieangebot der ökonomischen Analyse des Rechts in Deutschland bereitwillig rezipiert wird.342 Es handelt sich hierbei nicht um eine Randströmung, die das Recht aus interdisziplinärer Perspektive betrachtet. Vielmehr setzt die ökonomische Analyse des Rechts mit ihren diversen Unterströmungen bedeutende Forschungsakzente und prägt nachhaltig das Rechtsverständnis der Wissenschaftler, die sich ihrer bedienen. Auch wenn diese in ihrer Forschung primär auf eine Systematisierung des Rechtsstoffes bedacht sind, bauen ihre Untersuchungen auf dem mit der ökonomischen Analyse des Rechts erworbenen Wissensbestand auf. Das be334 Wagner AcP 206 (2006), 352 ff. Schon zuvor ders. JZ 1991, 175 (176 ff.); ders. NundR 1992, 201 (209); ders. ZEuP 2000, 200 (207 ff.); darauffolgend etwa auch ders. in Blaurock/ Hager (Hrsg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert, 13 (80 f.). 335 S. nur Wagner AcP 206 (2006), 352 (422 ff.). 336 Wagner bedient sich des Bildes „kommunizierende[r] Röhren“ (Wagner AcP 206 [2006], 352, [450]). 337 MüKoBGB/Wagner, 8. Aufl. 2020, Vor 823 Rn. 53 ff. 338 Wagner AcP 206 (2006), 352 (450). 339 S. auch Wagner in Blaurock/Hager, Obligationenrecht im 21. Jahrhundert, 13 (77 ff.). 340 Wagner, Deliktsrecht, 14. Aufl. 2021 mit ökonomischer Analyse bei S. 26 ff. 341 Insbes. MüKoBGB/Wagner, 8. Aufl. 2020, Vor. 823 Rn. 53 ff. und § 823 Rn. 478 f. 342 S. bereits Einl. Fn. 11.
VII. Zusammenfassung
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deutet wiederum, dass im Zuge der Rezeption der ökonomischen Analyse des Rechts der ihr zu Grunde liegende Gedanke, dass Privatrecht zur Verhaltenssteuerung eingesetzt wird bzw. werden kann, an Verbreitung und Ansehen gewonnen hat.
5. Zwischenergebnis Die ausführlicher dargestellten Forschungsprogramme können kein umfassendes Bild der Privatrechtswissenschaft zeichnen. Jedoch stehen sie exemplarisch für ein Arbeiten in der Privatrechtswissenschaft, das sich „gemeininteressenaffinen“ Aspekten zuwendet. Sie belegen, dass Untersuchungen auf die Steuerungsfunktion des Privatrechts abstellen (1 und 4.b)), sich ein selbstverständlicher Umgang mir den grundgesetzlichen und europarechtlichen Prägungen des Privatrechts entwickelt (2. und 3.) sowie Ansätzen, die sich nicht mittels der Unterteilung in Rechtsdogmatik, -politik, -theorie etc. einordnen lassen oder starke interdisziplinäre Züge aufweisen, große Aufmerksamkeit zu Teil wird (4.).
VII. Zusammenfassung In der Privatrechtswissenschaft ist eine Leiterzählung343 wahrnehmbar, auch wenn sie selten ausdrücklich artikuliert wird. Danach fußt das Privatrecht auf einem individualistischen Grundriss: Die philosophischen Grundlagen des Privatrechts seien im liberalen Individualismus zu verorten,344 dem Prinzip der Privatautonomie komme innerhalb des Rechtsgebiets eine herausragende Bedeutung zu345 und das Privatrecht sei in Abgrenzung zum öffentlichen Recht als das Rechtsgebiet zu verstehen, das sich mit den Rechtsbeziehungen Privater untereinander beschäftigt.346 Verglichen mit dem öffentlichen Recht könne das Privatrecht auf eine längere Geschichte und einen höheren Grad an Systematisierung blicken.347 Gemäß der Leiterzählung hat das Privatrecht seit In-KraftTreten des BGB Gesetze und Rechtsprechung mit sozialer Ausrichtung in sich aufgenommen. Diese Entwicklung, deren Wahrnehmung maßgeblich von Wieackers „Privatrechtsgeschichte der Neuzeit“ geprägt ist, berge allerdings das Potenzial einer tiefgreifenden und unerwünschten Moralisierung des Privatrechts.348 Auch hätten Konstitutionalisierung und Europäisierung das Privatrecht verändert. Die Änderungen seien insofern kritisch zu sehen, als mit ihnen 343
Hierzu Kap. 1. II. Kap. 1. III. 1. a). 345 Kap. 1. III. 1. b). 346 Kap. 1. III. 1. c). 347 Ebd. 348 Kap. 1. III. 2. 344
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Kapitel 1: Die privatrechtliche Leiterzählung
Aufgaben an das Privatrecht herangetragen würden (bspw. Schwächerenschutz, Erschaffung eines europäischen Binnenmarkts), die im Privatrecht nicht angelegt seien und den Eigenständigkeitsanspruch des Privatrechts schwächten.349 Rechtshistorische Untersuchungen entkräften die Leiterzählung zum Privatrecht. Sie zeigen auf, dass bereits bei Verabschiedung des BGB innerhalb der Privatrechtswissenschaft ein breites Spektrum an Privatrechtsverständnissen – von einem liberalen bis hin zu einem sozialistischen – anzutreffen war und privatrechtliche Gesetze soziale Züge trugen.350 Die Untersuchungen weisen ferner darauf hin, dass Wieacker in seiner wirkmächtigen Schilderung der Entwicklung des Privatrechts mit starken Überzeichnungen arbeitete.351 Zudem ist rechtshistorisch belegt, dass die Konstitutionalisierung nicht einseitig an das Privatrecht herangetragen wurde, sondern Privatrechtspraxis und -wissenschaft ihrerseits Verbindungen zum GG herstellten.352 Bei der Suche nach Fürsprechern der Leiterzählung wird man ebenfalls nicht fündig.353 Autoren, wie etwa Diederichsen, Zöllner, Reuter oder Picker, denen einen Nähe zur Leiterzählung zugeschrieben wird, vertreten allesamt differenziertere Privatrechtsverständnisse als die Leiterzählung. Zwar eint sie die Betonung der freiheitlich-individualistischen Elemente des Privatrechts. Doch geben auch sie in ihren Darstellungen des Privatrechts oder ihren Vorstellungen darüber, wie das Privatrecht beschaffen sein sollte, dem gesellschaftlichen „Ordnungsauftrag“354 des Privatrechts Raum.355 Stattdessen ist eine Vielfalt an Privatrechtsverständnissen beobachtbar, die sich von der Leiterzählung abheben.356 Die politische Funktion des Privatrechts wird betont,357 das Verhältnis des Privatrechts zur Verfassung eingehend beleuchtet358 und der Einfluss des Unionsrechts auf das Privatrecht einer dogmatischen Verarbeitung zugeführt.359 Zudem wird methodischen Ansätzen, die das Privatrecht in den größeren Zusammenhang gesellschaftlicher Entwicklungen oder ökonomischer Erkenntnisse stellen, gesteigerte Aufmerksamkeit zuteil.360
349
Kap. 1. III. 3. Kap. 1. IV. 1. 351 Kap. 1. IV. 2. 352 Kap. 1. IV. 3. 353 Kap. 1. V. 354 Reuter AcP 189 (1989), 199 (214). 355 Kap. 1. V. 3. 356 Kap. 1. VI. 357 Kap. 1. VI. 1. 358 Kap. 1. VI. 2. 359 Kap. 1. VI. 3. 360 Kap. 1. VI. 4. 350
Kapitel 2
Erklärungen für die Beharrungskraft der Leiterzählung Kapitel 1 stellte die Leiterzählung vor, zeigte aber zugleich auf, dass es schwierig ist, Privatrechtswissenschaftler oder Privatrechtswissenschaftlerinnen zu finden, die sie sich aktiv zu eigen machen würden. Gleichzeitig erschütterte diese Beobachtung aber noch nicht die Wahrnehmung, die den Anlass für die Untersuchung lieferte: Untergründig prägt die Leiterzählung weiterhin die Privatrechtsverständnisse innerhalb der Privatrechtswissenschaft. Deshalb widmet sich das folgende Kapitel der Frage, weshalb sie sich „trotz allem“ zu halten vermag. Es geht den Gründen für ihre Standfestigkeit nach. Dabei werden mögliche Erklärungsansätze vorgestellt und daraufhin untersucht, inwiefern sie den Erfolg der Leiterzählung erläutern können. Zunächst werden Erklärungen diskutiert, die das Thema von einer genuin juristischen Perspektive her beleuchten (I.). Im Anschluss daran widmet sich das Kapitel Ansätzen, die sich der Frage nach der Beständigkeit der Leiterzählung von außerrechtlicher Perspektive her nähern (II.). In einzelnen Punkten ist die Linie zwischen genuin juristisch, also rechtlich, und außerrechtlich nicht trennscharf zu ziehen. Ist es etwa eine rechtliche oder eine außerrechtliche Argumentation, wenn es heißt, dass ein Privatrechtsverständnis, welches dem Privatrecht eine verhaltenssteuernde und damit eventuell auch gemeininteressenfördernde Funktion zuweist,1 schwer mit einer Konzeption des Privatrechts als prinzipienbasiert zu vereinbaren ist (s. hierzu I. 3.)? Für die Annahme einer rechtlichen Argumentation spricht, dass „Prinzipien“ und „prinzipienbasiert“ im rechtlichen Diskurs gebräuchliche Begriffe sind. Dagegen spricht, dass bei der Beurteilung der Vereinbarkeit dieses Privatrechtsverständnisses mit dem Prinzip der Prinzipientreue etwa auch semantische oder psychologische Faktoren entscheidend sein können. Was bedeutet Prinzip? Oder wie lange empfindet eine Person zwei Gedanken als kompatibel, auch wenn sie nicht deckungsgleich sind? Das sind nicht genuin juristische Fragen, weil sie sich in den unterschiedlichsten Kontexten stellen können. In Anlehnung an Luhmann bezeichnet die vorliegende Untersuchung daher rechtliche Erklärungen als solche, die der juristischen Argumentation entspringen und der Welt des Rechts zuzurechnen sind.2 Rechtliche Erklärungen richten sich an 1 2
Hellgardt, Regulierung und Privatrecht, 2016, S. 365 ff. Luhmann, Recht der Gesellschaft, 1995, S. 38 ff., 66 ff., 338 ff.; s. ferner Teubner Zs. f.
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Kapitel 2: Erklärungen für die Beharrungskraft der Leiterzählung
Begriffen wie „Norm“, „Prinzip“, oder „Rechtsakt“ aus. Außerrechtliche Erklärungen haben ihren Ursprung in anderen Systemen als dem Recht, wie der Wirtschaft oder der Gesellschaft, und sind nicht an den rechtlichen Kontext gebunden, um plausible Erklärungen zu liefern. Wenn sich beispielshalber bestimmte Gedanken im wissenschaftlichen Diskurs lange halten, weil sie Autoritäten des Faches zugeschrieben werden, so ist dies eine außerrechtliche Begründung für den Erfolg einer Ansicht.3 Denn die Berücksichtigung der Autorität von Debattenteilnehmern ist kein Spezifikum des juristischen Diskurses. Sie kann in gleicher Weise etwa in naturwissenschaftlichen oder politischen Diskursen auftreten.
I. Rechtliche Erklärungen Vier Thesen ragen heraus, wenn es darum geht, den Erfolg der Leiterzählung von einem Standpunkt innerhalb des Rechts zu erklären. In Stichworten lauten sie: inhaltliche Überzeugungskraft (1.), Absorptionskraft (2.), Prinzipienorientierung (3.) und dogmatische Verarbeitung (4.).
1. Inhaltliche Überzeugungskraft Zunächst kann als Erklärung für den Bestand der Leiterzählung angeführt werden, dass sie es versteht, Kernelemente der privatrechtlichen Ordnung mit Hilfe einiger weniger, eingängiger Schlagworte zu überliefern. Viele – wenn auch nicht alle – bedeutenden Elemente des geltenden Privatrechts lassen sich veranschaulichen, indem man wie die Leiterzählung die Verankerung des Privatrechts im liberalen Individualismus, die Bedeutung der Privatautonomie sowie die Unterschiede zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht betont. Auch Privatrechtsverständnisse, die nicht in Nähe der Leiterzählung verortet werden, müssen diese Elemente in ihre Erklärungen aufnehmen. Andernfalls sehen sie sich zu Recht der Kritik ausgesetzt, zentrale Aspekte der privatrechtlichen Ordnung nicht angemessen abzubilden. Würde man etwa gänzlich auf die Erwähnung der Privatautonomie als Baustein in einer Konzeption des Privatrechts verzichten, so würde man sich eines Rechtselements berauben, das einen für das Privatrecht bedeutenden Aspekt zum Ausdruck bringt: Eine DarRechtssoz. 29 (2008), 9 (14) und passim; mit anderer Schwerpunktsetzung, die auf Unterschiede zwischen positivistischen und zweckmäßigen Urteilsgründen abzielt, Martens Rechts theor ie 42 (2011), 145 ff. 3 S. Kap. 2. II. 2. b) bb) (1). A. A. wohl Jansen, The Making of Legal Authority, 2010, S. 20. Er rechnet die Bestimmung rechtlicher Autorität vor allem innerrechtlichen Vorgängen zu, weil nur Mitglieder der juristischen Community über das Fachwissen verfügten, welches für die Beurteilung notwendig sei.
I. Rechtliche Erklärungen
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stellung des Privatrechts, die auf die Privatautonomie verzichtete, wäre nicht nur unvollständig, sondern auch unbrauchbar. Denn die Privatautonomie besagt, dass die Rechtsordnung die Entscheidungen eines jeden Einzelnen, sein Handeln an seinen individuellen Vorstellungen auszurichten, zunächst einmal respektiert und eine Sphäre des Privaten anerkennt, die es zu achten gilt. Regelungen des Vertragsrechts, aber auch des Delikts-, Familien- oder des Erbrechts beschäftigen sich damit, einen Rahmen für selbstbestimmtes Handeln zu schaffen. Eine Darstellung des Vertragsrechts, welche nicht auf die Vertragsfreiheit – also die freie Wahl, ob, wie, mit wem und welchen Inhalts man Verträge mit anderen schließt4 – verweist, vermag es nicht, das Rechtsgebiet zu erklären. Auch die Konzeption des Deliktsrechts gewinnt durch eine Bezugnahme auf Privatautonomie an Kontur. Denn das Deliktsrecht umreißt, welche Handlungen – die häufig zugleich Ausdruck von selbstbestimmten Entscheidungen sind – die Rechtsordnung billigt und welche nicht.5 Und Einführungen in das Familien- oder Erbrecht kommen ebenfalls nicht ohne Hinweis auf die Privatautonomie aus. Sie erwähnen die Wahrung der Autonomie der Familienmitglieder6 oder die Testierfreiheit7 als Leitprinzipien der jeweiligen Rechtsgebiete. Ähnliches gilt für die Abgrenzung zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht. Auch sie ist weiterhin von Bedeutung in einer Beschreibung des Privatrechts. Zwar hat das derzeitige Theorieangebot zu der Thematik Schwierigkeiten, hard cases, die auf der Trennlinie zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht liegen, einem der beiden Rechtsgebiete überzeugend zuzuordnen. Dennoch kommt eine Privatrechtskonzeption nicht umhin, sich auch über eine Abgrenzung zum öffentlichen Recht zu definieren. Zunächst ist die Abgrenzung eine Notwendigkeit, die das positive Recht an die Praxis heranträgt.8 Die Kompetenzverteilung des GG, die das Bürgerliche Recht der konkurrierenden Gesetzgebung zuordnet (Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG), die Regelung zur Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs (§ 40 Abs. 1 VwGO) und die Zuständigkeitsanordnung der ordentlichen Gerichte (§ 13 GVG) verlangen die Einordnung von Gesetzesvorhaben oder Streitigkeiten als entweder privatrechtlich oder öffent4 S. nur die „klassischen“ Texte von Raiser JZ 1958, 1; v. Hippel, Das Problem der rechtsgeschäftlichen Privatautonomie, 1936, S. 112 Fn. 4; aus neuerer Zeit Lüttringhaus, Vertragsfreiheit und ihre Materialisierung im Europäischen Binnenmarkt, 2018, S. 31 ff.; a. A. Werner Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. II, 4. Aufl. 1992, S. 12, der die Vertragsfreiheit als „inhaltliche Gestaltungsfreiheit“ versteht und ihr die Abschlussfreiheit gegenüberstellt. 5 Vgl. Wagner, Deliktsrecht, 14. Aufl. 2021, Rn. 4 ff. 6 S. Dethloff, Familienrecht, 32. Aufl. 2018, § 1 Rn. 8 f.; Gernhuber/Coester-Waltjen, Familienrecht, 7. Aufl. 2020, § 1 Rn. 18. 7 Lange, Erbrecht, 2. Aufl. 2017, § 7 Rn. 10 Fn. 21 und § 11 Rn. 3; Röthel, Erbrecht, 18. Aufl. 2020, § 1 Rn. 2, § 7 Rn. 1; vgl. Muscheler, Erbrecht, Bd. I, 2010, Rn. 224, der die Testierfreiheit neben der Privatautonomie als Ausdruck „der Selbstbestimmung“ begreift. 8 S. Franz Bydlinski AcP 194 (1994), 319 (330 f.).
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Kapitel 2: Erklärungen für die Beharrungskraft der Leiterzählung
lich-rechtlich.9 Außerdem sagt die Unterscheidung zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht auch auf einer abstrakteren, theoretischen Ebene etwas über das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft bzw. zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre aus. Ganzheitliche Ansätze, die die Rechtsgebiete als „wechselseitige Auffangordnungen“10 verstehen, liefern zwar eine akkuratere Beschreibung ihrer Beziehung als Trennungstheorien. Doch ohne eine anfängliche Unterscheidung zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht kommen auch sie nicht aus. Letztlich ist die Leiterzählung also immer noch attraktiv, weil sie es vermag, unangefochtene, wichtige Elemente der privatrechtlichen Ordnung in ihrem Narrativ zum Vorschein zu bringen. Gegen eine Erwähnung der freiheitlich-individualistischen Fundamente des Privatrechts, der Privatautonomie, oder der Unterschiede zum öffentlichen Recht in einer Beschreibung des Privatrechts ist daher zunächst einmal auch nichts einzuwenden. Zweifelhaft ist jedoch der mit der Erwähnung einhergehende Anspruch einer abschließenden Erklärung. Noch schwieriger liegen die Dinge, wenn damit unterschwellig ein Regel-Ausnahme-Verhältnis etabliert wird, gemäß dem diejenigen Erklärungen mit einer erhöhten Rechtfertigungslast belegt werden, die sich nicht ohne Weiteres in das Narrativ einweben lassen. Auf diesen Punkt ist noch zurückzukommen.11
2. Absorptionskraft Zweitens vermag sich die Leiterzählung auch deshalb so erfolgreich zu halten, weil die ihr zu Grunde liegende freiheitlich-individualistische Konzeption es versteht, Strömungen in sich aufzunehmen, die sich auf das Privatrecht zubewegen.12 Zwei Beispiele mögen die Absorptionskraft der Leiterzählung verdeutlichen: Zunächst sei auf die Debatte um die Privatautonomie und Schwächerenschutz verwiesen, die durch zwei Entscheidungen des BVerfG in den 1990er-Jahren befördert wurde. In der Handelsvertreterentscheidung von 1990 erklärte das BVerfG § 90a Abs. 2 S. 2 HGB, der eine Entschädigung bei Wettbewerbsverboten für Handelsvertreter im Fall einer Kündigung aus wichtigem Grund vorsah, für unvereinbar mit Art. 12 Abs. 1 GG.13 Drei Jahre später entschied das BVerfG in der Bürgschaftsentscheidung, dass es unter Umständen gegen Art. 2 Abs. 1 GG verstößt, wenn ein Zivilgericht eine zwischen zwei Vertragsparteien beste9
Bzgl. § 13 GVG Bullinger, Öffentliches Recht und Privatrecht, 1968, S. 53. Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen, 1996. 11 Kap. 2. II. 1. b) cc). 12 S. auch Hellgardt, Regulierung und Privatrecht, 2016, S. 353 ff., der als Beleg für diese These auf die Abfolge der Theorien der historischen Schule über die Interessenjurisprudenz hin zur Wertungsjurisprudenz abstellt; s. hierzu bereits Einl. II. 1. 13 BVerfGE 81, 242. 10
I. Rechtliche Erklärungen
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hende besondere Störung der Vertragsparität nicht korrigiert.14 Konkret hatte es sich mit dem Fall einer Frau auseinanderzusetzen, die im Alter von 21 Jahren bei einer Sparkasse für Schulden ihres Vaters bürgte, wobei schon bei Vertragsschluss ersichtlich war, dass sie kein „eigenes wirtschaftliches Interesse“15 an dem gesicherten Kredit hatte und die Bürgschaft aufgrund ihrer beruflichen und finanziellen Situation nicht würde bedienen können. Beide Beschlüsse begründete das BVerfG damit, dass die „Privatautonomie […] nur im Rahmen der geltenden Gesetze“ bestehe, „und diese […] ihrerseits an die Grundrechte gebunden“16 seien. In Fällen, in denen typischerweise ein Vertragsteil dem anderen strukturell so unterlegen sei, dass dieser „den Vertragsinhalt faktisch einseitig bestimmen“17 könne, sei nicht mehr von einer selbstbestimmten Entscheidung des schwächeren Vertragspartners auszugehen. Solche „strukturelle[n] Störungen der Vertragsparität“18 müssten bei der Ausgestaltung und Auslegung von Gesetzen berücksichtigt und, wenn notwendig, durch verfassungsrechtliche Wertungen korrigiert werden. Das BVerfG verhielt sich in dem Fall also zur Grundrechtswirkung im Vertragsrecht, argumentierte mit der Figur der Ungleichgewichtslage zwischen Vertragsparteien und äußerte sich zu den Voraussetzungen privatautonomen Handelns. Die privatrechtliche Literatur begegnete den Beschlüssen mit viel Kritik.19 Diese richtete sich nicht so sehr gegen die Ergebnisse, 20 als vielmehr gegen ihre Begründungen. Hinsichtlich der Bürgschaftsentscheidung wurde kritisiert, dass nunmehr der Inhalt von Verträgen zwischen Privaten an den Grundrechten zu messen sei. Der „verfassungsrechtlichen Überhöhung“21 des „zum Uraltgut vertragstheoretischer Erwägungen gehörenden Begriffs der Ungleichgewichtslage“22 hätte es nicht bedurft.23 Die Instrumentarien des Vertragsrechts 14
BVerfGE 89, 214 (234). Ebd., (230). 16 BVerfGE 81, 242 (254); inhaltliche Übernahme in BVerfGE 89, 214 (232). 17 BVerfGE 89, 214 (232); ähnlich BVerfGE 81, 242 (255). 18 BVerfGE 89, 214 (234). 19 S. etwa Adomeit NJW 1994, 2467 ff.; Diederichsen AcP 198 (1998), 171 (247); Medicus AcP 192 (1992), 36 (64); Zöllner AcP 196 (1996), 1 (9 ff.); krit. Stimmen des öffentlichen Rechts Hillgruber AcP 191 (1991), 69 (77 ff.); Spieß DVBl. 1994, 1222 (1228 f.). 20 Selbst Personen, die der Leiterzählung gemeinhin zugerechnet werden, fanden es richtig, einer Tochter nicht die finanzielle Bürde einer Bürgschaft aufzuhalsen, die sie für ihren Vater eingegangen war und voraussehbarer Weise nie würde bedienen können, s. Adomeit NJW 1994, 2467; mit Einschränkungen Zöllner AcP 196 (1996), 1 (15). 21 Zöllner AcP 196 (1996), 1 (15). 22 Ebd. Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass das BVerfG selbst Monographien zur gestörten Vertragsparität aus der privatrechtlichen Literatur zitierte, BVerfGE 89, 214 (233) mit Verweis auf Fastrich, Richterliche Inhaltskontrolle im Privatrecht, 1992, S. 70 ff.; Hönn, Kompensation gestörter Vertragsparität, 1982 und Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht, 1993, S. 216 ff. 23 S. Zöllner AcP 196 (1996), 1 (15 ff.); in der Tendenz auch Adomeit NJW 1994, 2467 (2468); Diederichsen AcP 198 (1998), 171 (247); Lobinger AcP 216 (2016), 28 (67). 15
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würden ausreichen, um Fälle wie den der von Beginn an aussichtslos überforderten Bürgin einer „gerechten“ Lösung zuzuführen. So werde die Frage, ob bei gestörter Vertragsparität von einem privatautonom gefassten Willensentschluss gesprochen werden könne, seit langem im Vertragsrecht diskutiert.24 An dieser Argumentation bezüglich der Ungleichgewichtslage ist die Absorptionskraft des freiheitlich-individualistischen Privatrechtsverständnisses ablesbar: Wenn externe Einflüsse, wie hier eine Kontrolle von Vertragsinhalten an den Wertungen des GG, an das Privatrecht herangetragen werden, wird darauf hingewiesen, dass es dieser externen Einflüsse gar nicht bedürfe. Alle entscheidungserheblichen Wertungen, wie hier die Bedingungen privatautonomer Willensentschlüsse, seien schon im Privatrecht selbst angelegt. Mit anderen Worten absorbiert man externe Einflüsse, indem man ihnen ihre Notwendigkeit oder ihren Mehrwert abspricht. Das ist eine der Strategien, um die Eigenständigkeit des Privatrechts zu verteidigen, mit der Konsequenz, dass hierdurch die Leiterzählung fortgetragen wird. Ein zweites Beispiel für die Absorptionskraft der Leiterzählung lässt sich generell im Zusammenhang mit der Diskussion um die Wirkung der Grundrechte im Privatrecht beobachten. So zielt die Leiterzählung darauf ab, externe Einflüsse auf das Privatrecht so schonend wie möglich zu verarbeiten. Die von Canaris entwickelte Konzeption der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte ist ein Beispiel für diese Art der Absorption. Zwar wurde Canaris’ Verständnis des Zusammenwirkens von Verfassungsrecht und Privatrecht im vorigen Kapitel als Beleg für ein Privatrechtsverständnis angeführt, welches sich offen für verfassungsrechtliche Einflüsse zeigt.25 Dies steht aber nicht im Widerspruch zu der Beobachtung, dass Canaris’ Aussagen zum Verhältnis von Grundrechten und Privatrecht auch ein Beispiel für die Absorptionskraft der freiheitlich-individualistischen Privatrechtskonzeption sind. Vielmehr trifft es die Dinge besser, dass Canaris’ Konstruktion, die mittelbare Drittwirkung als eine Kombination aus grundrechtlichen Abwehrrechten und Schutzpflichten zu denken,26 der Idee der Konstitutionalisierung des Privatrechts zu größerer Akzeptanz innerhalb der Privatrechtswissenschaft verholfen hat. Sie hat in der Privatrechtswissenschaft aber auch deshalb so großen Anklang gefunden, weil die von Canaris vertretene Konstruktion dem Privatrecht einen großen Bereich belässt, der frei von verfassungsrechtlicher Beeinflussung bleibt. Laut Canaris sind die Zivilgerichte angehalten, mit ihren Entscheidungen so wenig wie möglich in die Grundrechte der einen Partei einzugreifen (Grundrechte als Abwehrrechte) und zugleich die Grundrechte der anderen Partei so weit zu schützen, dass ein gewisser Mindestschutzstandard nicht unterschritten 24 Zöllner unternimmt hierfür eine historische Sichtung der Arbeiten, die sich mit der Thematik beschäftigen, s. Zöllner AcP 196 (1996), 1 (17 ff.). 25 S. Kap. 1. VI. 2. a). 26 Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 37 ff.
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wird (Grundrechte als Schutzpflichten). Allerdings bestehe zwischen Übermaßverbot und Untermaßverbot ein Ermessensspielraum, in dem die Gerichte nicht durch grundrechtliche Vorgaben gebunden seien.27 Solange sie diesen Raum einhielten, könnten sie einen Fall so oder anders entscheiden und jede ihrer Entscheidungen wäre verfassungskonform. Die von Canaris vorgeschlagene Konstruktion wird mitunter kritisch gesehen. Ein Kritikpunkt lautet, dass sie diejenige Partei bevorzuge, die in den Rechtskreis der anderen eingreife. Ihr gegenüber sei das Gericht angehalten, dass stärker schützende Übermaßverbot zu wahren. In der Konsequenz habe das Gericht höhere Begründungsschwellen zu überwinden, wenn es mit einem Urteil auf Unterlassen in die Grundrechte des Störers eingreifen wolle, als wenn es den Schutz des Beeinträchtigten für ausreichend erkläre und eine Klage gegen den Störer abweise.28 Canaris geht auf diesen Punkt ein, versteht ihn aber nicht als Schwäche seines Ansatzes.29 Im Gegenteil verteidigt er den Raum zwischen Über- und Untermaß, bzw. die Asymmetrie zwischen Abwehrrechts- und Schutzgebotsfunktion der Grundrechte. Der Raum führe als „wesentliche Pointe“30 dazu, dass „der Respekt vor der Eigenständigkeit des Privatrechts und insbesondere vor der Privatautonomie“31 gewahrt werde. Und in der Asymmetrie „spiegel[e] sich […] lediglich das Prinzip vom Vorrang der Gesellschaft gegenüber dem Staat adäquat wider.“32 Hier liegt aus der Perspektive des freiheitlich-individualistischen Privatrechtsverständnisses die (im Vergleich zu den Alternativangeboten hohe)33 Attraktivität des Ansatzes von Canaris, der die abwehrrechtliche Dimension der Grundrechte mit ihrer Schutzpflichten-Komponente kombiniert. Die von Canaris vorgeschlagene Kombination befolgt die Vorgaben des BVerfG, hält allerdings die Wirkung der Grundrechte auf die Rechtsbeziehungen zwi-
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Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 37 ff. die gesamte Argumentation Christian Calliess JZ 2006, 321 (324); Hager JZ 1994, 373 (381); Jarass AöR 110 (1985), 363 (384); vgl. auch Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003, S. 89 f., 286. 29 Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 43 ff. 30 Ebd., S. 43. 31 Ebd., S. 45. 32 Ebd., S. 47, Hervorhebung im Original; in jüngerer Zeit die These bestätigend Auer in Hilgendorf/Schulze-Fielitz (Hrsg.), Selbstreflexion der Rechtswissenschaft, 301 (316). 33 Zu dem Alternativangebot einer rein abwehrrechtlichen Konstruktion der Grundrechtswirkung zwischen Privaten Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003, S. 317 ff.; Schwabe, Die sogenannte Drittwirkung der Grundrechte, 1971, S. 14 ff., 154 ff.; ders., Probleme der Grundrechtsdogmatik, 1977, S. 213 ff.; in der Tendenz Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, 1995, S. 91 ff.; zu einer rein schutzrechtlichen Konstruktion Epping, Grundrechte, 9. Aufl. 2021, Rn. 367 ff.; Lenz/Leydecker ZG 2006, 407 (418 ff.) und zur unmittelbaren Drittwirkung Leisner, Grundrechte und Privatrecht, 1960, S. 306 ff.; Nipperdey RdA 1949, 214 (216); ders. RdA 1950, 121 (124 f.). 28 Für
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schen Privaten gering.34 Somit verbleibt dem Privatrecht ein autonom gestaltbarer Raum. Diese beiden Absorptionsmechanismen – die Beanspruchung als eigenes Gedankengut und die Mindestumsetzung – sind Phänomene, die auch außerhalb des Privatrechts anzufinden sind. Die Rechtstheorie bietet weiteres Anschauungsmaterial dafür, wie es eine Ansicht versteht, sich die Argumente der anderen Ansicht einzuverleiben. So finden sich inzwischen unter den Rechtspositivisten Stimmen, die moralische Prinzipien als Bestandteil des Rechts anerkennen, wenn die allgemeine Erkenntnisregel (rule of recognition)35 einer Gesellschaft dies zulasse.36 Diese Spielart des Rechtspositivismus, die unter der Bezeichnung „inklusiver Rechtspositivismus“ Eingang in die andauernde Debatte zwischen Positivismus und Naturrecht gefunden hat, nimmt also die für das Naturrecht fundamentale Wertung auf, dass Recht und Moral zusammen zu denken sind, und inkorporiert sie in das positivistische System.37 Wie bei der Auseinandersetzung mit der Position des inklusiven Positivismus drängt sich auch im Zusammenhang mit den absorbierenden Elementen des freiheitlich-individualistischen Privatrechtsverständnisses die Frage auf, ob nicht die Absorption zu einem grundlegenden Wandel des eigenen Standpunkts geführt hat. In der Tat kann eigentlich nicht mehr von einem autonomen Privatrechtsverständnis gesprochen werden, sobald grundrechtliche Wertungen automatisch in das Privatrechtsverständnis aufgenommen werden. Folglich wäre es überzeugender, die auf das Privatrecht einwirkenden Strömungen, ihre Quellen und Verläufe deutlich zu benennen und sichtbar zu belassen.
3. Prinzipienorientierung Hellgardt weist in seiner Abhandlung zu Regulierung und Privatrecht auf eine weitere Erklärung für die Standhaftigkeit der Leiterzählung hin. Nach seiner Ansicht trägt „der theoretische Ansatz zur Konstanz des freiheitlich-individualistischen Privatrechts“38 bei. Das freiheitlich-individualistische Privatrechtsverständnis zeichne sich nämlich unter anderem dadurch aus, dass es auf Prin34 Zumal auch die vom BVerfG vertretene These der mittelbaren Drittwirkung ein richterliches Tätigwerden erfordert, um eine Wirkung der Grundrechte zwischen Privaten zu erzeugen. 35 Hart, The Concept of Law, 2. Aufl. 1961 (Nachdruck 1975), S. 92. 36 Für die anglo-amerikanische Debatte Coleman, The Practice of Principle. In Defense of a Pragmatist Approach to Legal Theory, 2001, S. 108 ff.; Himma in Coleman/Himma/Shapiro (Hrsg.), The Oxford Handbook of Jurisprudence and Philosophy of Law, 123 ff.; Waluchow, Inclusive Legal Positivism, 1994, insbes. S. 80 ff. 37 Somit ist Auers Bewertung zuzustimmen, dass „Rechtspositivismus und Nichtpositivismus […] als rechtstheoretische Theoriealternativen jedenfalls weitgehend ausgedient“ haben (Auer, Zum Erkenntnisziel der Rechtstheorie, 2018, S. 38 [Hervorhebung im Original]). 38 Hellgardt, Regulierung und Privatrecht, 2016, S. 366.
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zipien basiere.39 Im Gegensatz hierzu würde ein alternatives Theorieangebot, das dem Privatrecht eine Regulierungsfunktion zuspricht, Recht folgenorientiert betrachten.40 Da sich beide Sichtweisen nicht miteinander in Einklang bringen ließen, stelle ein Privatrechtsverständnis, das dessen Regulierungsfunktion umfasse, einen echten „Paradigmenwechsel“ dar.41 Anders gewendet versteht Hellgardt die Prinzipienorientierung des freiheitlich-individualistischen Privatrechtsverständnisses als einen Faktor für die Langlebigkeit der Leiterzählung. Doch hält diese Engführung einer näheren Hinterfragung nicht stand. Dazu muss der für die These zentrale Begriff „auf Prinzipien basierend“ näher beleuchtet werden. Das Unternehmen wird dadurch erschwert, dass Hellgardt damit unterschiedliche Bedeutungen verbindet. In einer ersten Näherung nennt er freiheitlich-individualistische „Privatrechtstheorien […] ‚prinzipienbasiert‘ […], weil sie ausgehend von abstrakten Vorgaben die Lösung der Einzelfälle durch ‚Konkretisierung‘ der Normen bzw. des Rechts verfolgen. Ausgangspunkt und Determinanten des Systems sind stets abstrakte (oder abstrahierte) Prinzipien, Begriffe, etc.“42 An anderer Stelle zählt Hellgardt zu den wesentlichen Merkmalen prinzipienbasierter Privatrechtstheorien, dass sich diese „aus Rechtsprinzipien oder allgemeinen Rechtsgrundsätzen [konstituieren], d. h. aus generellen, normativen Aussagen, welche entweder deduktiv aus übergeordneten Grundsätzen (etwa der Gerechtigkeit) oder induktiv aus einzelnen Normen des Rechtssystems gewonnen werden.“43 Diese beiden Definitionen sind nicht deckungsgleich. Während sich erstere ausschließlich auf die Methode der Rechtserkenntnis bezieht, fließen in letzterer Aussagen über Methode und inhaltliche Ausrichtung ineinander. Damit hat letztere zwar den Vorteil, dass sie in größerem Einklang mit dem herkömmlichen Prinzipienverständnis steht, wonach Prinzipien gewichtete Normen mittlerer Abstraktionsstufe sind.44 Mit ihr ist aber auch der Nachteil verbunden, dass sie sich weiter davon entfernt, die methodischen Besonderheiten des Privatrechts zu erfassen. Folglich scheint es mir sinnvoll, den mehrdeutigen Begriff der „Prinzipienorientierung“ aus der Betrachtung auszuklammern45 und direkt auf die dahin39
Ebd., S. 365 ff. Ebd., S. 369 ff. 41 Ebd., S. 372. 42 Ebd., S. 366 f., Fußnoten im Original weggelassen. 43 Ebd., S. 375, Fußnote im Original weggelassen. 44 Zu dem hier vertretenen Prinzipienverständnis Alexy, Theorie der Grundrechte, 1994, S. 75 f.; Dworkin, Taking Rights Seriously, 1977 (Nachdruck 2004), S. 22 ff. 45 Für diese Vorgehensweise spricht auch, dass mit einer abstrakt gehaltenen Definition der Prinzipienorientierung Eigenheiten des Privatrechts nicht erklärt werden können. Im öffentlichen Recht wie im Strafrecht spielen Prinzipien (Rechtsstaatsprinzip, Sozialstaatsprinzip, etc. für das öffentliche Recht; nulla poena sine lege, ne bis in idem, etc. für das Strafrecht) ebenfalls eine gewichtige Rolle, wenn es darum geht, Aufbau und Inhalt der Rechtsgebiete zu beschreiben. 40
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terstehende Argumentation abzustellen. Hellgardt erklärt, dass ein Privatrechtssystem, welches der freiheitlich-individualistischen Konzeption folgt, über Rechtssätze geringer, mittlerer und hoher Abstraktionsebene verfüge und damit alle Mittel bereithalte, um einen Fall zu lösen. Das System sei in der Lage, aus sich heraus – autopoietisch46 – Lösungen zu entwickeln und müsse hierfür keine weiterführenden, folgenorientierten Erwägungen einbeziehen. Jede Einzelfalllösung ließe sich auf die Befolgung bestimmter privatrechtlicher Prinzipien, wie etwa des Prinzips der relativen Rechtfertigung, des Subsidiaritätsprinzips und des Prinzips der Selbstverantwortung, herunterbrechen.47 Zwei Aspekte sind damit angesprochen: Zum einen, dass mit dem freiheitlich-individualistischen Privatrechtsverständnis der Gedanke verbunden ist, dass das Privatrecht ein geschlossenes System ist; zum anderen, dass das freiheitlich-individualistische Privatrechtsverständnis das Recht „deontologisch“, also ohne Rücksicht auf die Folgen, begründet.48 Die Standhaftigkeit der Leiterzählung kann nur bedingt mit Hinweis auf die systemische Geschlossenheit des Privatrechts erklärt werden. Zwar übt die Leit erzählung unter anderem deshalb immer noch Anziehungskraft aus, weil sie ein einfaches wie absolutes Bild des Privatrechts zeichnet. Aber wie die bisherige Analyse gezeigt hat,49 bildet eine solche Vorstellung die Realitäten privatrechtlicher Gesetzgebung und Rechtsprechung nicht akkurat ab. Das Argument der so verstandenen Prinzipienorientierung kann darüber hinaus auf andere Art und Weise entkräftet werden. Der systemische Aspekt der Prinzipienorientierung stellt nur auf Besonderheiten der zivilrechtlichen Methode ohne Ansehung der inhaltlichen Ausgestaltung ab. In der Folge ließen sich die im Zivilrechtssystem anerkannten Prinzipien um zusätzliche, bislang als systemfremd verstandene Elemente erweitern, ohne dass damit die Prinzipienorientierung selbst in Frage gestellt würde. So könnten Gemeinwohlförderung oder Effizienz in den Kanon anerkannter Prinzipien aufgenommen werden.50 Eine Entwertung des Systemgedankens wäre damit nicht verbunden. Der erste Aspekt der Prinzipienorientierung vermag die Standhaftigkeit der Leiterzählung also nicht zu begründen. Überzeugender ist der zweite Punkt, der mit der Prinzipienorientierung des freiheitlich-individualistischen Privatrechtsverständnisses angesprochen wird: seine starken deontologischen Züge. Das freiheitlich-individualistische Privat46 S. Luhmann, Soziale Systeme, 1987, S. 60 ff.; ders., Das Recht der Gesellschaft, 1995, S. 30, 45; Teubner, Recht als autopoietisches System, 1989. 47 S. Hellgardt, Regulierung und Privatrecht, 2016, S. 367 mit Verweis auf Franz Bydlinski, System und Prinzipien des Privatrechts, 1996, S. 773 ff. 48 „Deontologische […] Rechts- und Moraltheorie“ – Auer, Der privatrechtliche Diskurs der Moderne, 2014, S. 61. 49 S. Kap. 1. IV. 50 Für kritische Überlegungen im Hinblick auf die Effizienz Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 4. Aufl. 2015, S. 463 ff.; Zickgraf ZfPW 2021, 482 (505 ff.).
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rechtsverständnis ist nur bedingt darauf ausgerichtet, bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Handelns privater Akteure Folgeerwägungen in den Blick zu nehmen. Zwar werden im Rahmen der teleologischen Auslegung Zweck erwägungen eingestellt,51 doch ist dies mit der von Hellgardt vorgeschlagenen weiten Folgenbetrachtung52 nicht ohne Weiteres gleichzusetzen. Stattdessen kommt etwa der Frage gesteigerte Bedeutung zu, ob eine Falllösung das Prinzip der Privatautonomie, dem ein intrinsischer Wert beigemessen wird, verwirklicht. Utilitaristische Erwägungen sind dabei nicht von Belang.53 Wer im ethischen Streitstand zwischen Deontologie und Utilitarismus die besseren Argumente auf Seiten der Deontologie sieht, wird mithin auch eher dem deontologischen Modell der Leiterzählung etwas abgewinnen können und sich vom freiheitlich-individualistischen Privatrechtsverständnis angesprochen fühlen. Schlussendlich kann die dem Privatrecht zugeschriebene Prinzipienorientierung nur bedingt die Langlebigkeit der Leiterzählung begründen: Die Liste privatrechtlicher Prinzipien lässt sich erweitern und eine deontologische Sicht auf das Privatrecht ist nicht der einzig legitime Blick auf das Rechtsgebiet.
4. Dogmatische Anschlussfähigkeit Schließlich heißt es, die Leiterzählung behalte trotz aller Kritik eine solche Wirkkraft, weil sich ein freiheitlich-individualistisches Privatrechtsverständnis so gut mir der Privatrechtsdogmatik vereinbaren ließe. Dabei wird die These mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung vorgebracht und unterschiedlich bewertet. Lobinger stellt beispielshalber darauf ab, dass die Dogmatik von dem Leitgedanken der Gerechtigkeit getragen sei und dieser Gedanke vor allem im freiheitlich-individualistischen Privatrechtsverständnis Ausdruck finde.54 Die 51 Zur Verfolgung ökonomischer Erwägungen Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 4. Aufl. 2015, S. 452 ff. 52 Diese weist vielmehr Anleihen zu Überlegungen über eine folgenorientierte Methodenlehre auf, wie sie z. B. angestellt werden von Deckert, Folgenorientierung in der Rechtsanwendung, 1995, S. 222 ff.; Lübbe-Wolff, Rechtsfolgen und Realfolgen, 1981, insbes. S. 137 ff.; Teubner Rechtstheorie 6 (1975), 179 (197 ff.); Zhang, Juristische Argumentation durch Folgenorientierung, 2010, S. 85 ff. sowie in Teubner (Hrsg.), Entscheidungsfolgen als Rechtsgründe. 53 In diesem Sinne verweist die „Prinzipienorientierung“ auf eine der zentralen Debatten der Ethik, nämlich auf das Thema, ob das Handeln ausschließlich an deontologischen oder auch an utilitaristischen (s. nur Mill/Bentham, Utilitariansim and Other Essays, 1987, mit einer Einleitung von Ryan) Erwägungen auszurichten ist, s. Auer, Der privatrechtliche Diskurs der Moderne, 2014, S. 61. 54 So lese ich Lobinger AcP 216 (2016), 28 (43). Lobinger selbst sieht allerdings als „Kern [der Gerechtigkeit] die Gleichbehandlung von Gleichem,“ so dass man in einer ersten Näherung nicht auf ein freiheitlich-individualistisches Verständnis schließen würde. Allerdings ist sein Gleichheitsverständnis so formal (s. insbes. 43 f. und die Auseinandersetzung mit Grünberger in S. 48 Fn. 203) und sein Verständnis der Eigenständigkeit des Privatrechts so ausgeprägt (s. insbes. 69 ff.), dass sich eine differenzierte, aber im Grundton letztlich freiheitlich-individualistische Sichtweise zeigt.
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bereits beschriebenen Einwirkungen auf das Privatrecht – insbesondere Konstitutionalisierung und Europäisierung55 – würden zu Verwerfungen in der über einen langen Zeitraum geschaffenen Ordnung des Privatrechts führen.56 Mit anderem Ausblick meint Hellgardt, dass die tradierte Dogmatik es bislang nicht verstanden habe, alternative Privatrechtsmodelle überzeugend zu verarbeiten.57 Zu den Gründen, weshalb Regulierung als eine dem Privatrecht fremde Funktion angesehen wird, schreibt er: „Die Regulierungsfunktion des Privatrechts findet bislang in der deutschen Rechtswissenschaft auch deshalb kaum Beachtung, weil die Rechtsdogmatik in ihrer vorherrschenden Ausprägung keine Mittel bereit hält, das Privatrecht folgenorientiert, d. h. regulatorisch zu untersuchen. Regulierung wird sich deshalb nur dann als Kategorie in der deutschen Privatrechtswissenschaft durchsetzen können, wenn es gelingt, die Rechtsdogmatik entsprechend weiterzuentwickeln.“58
Die These, wonach sich das freiheitlich-individualistische Privatrechtsverständnis als langlebig erweist, weil es besonders gut an die bestehende Dogmatik anknüpfen kann, hält einer Analyse aber nur bedingt stand. a) Formales und materiales Dogmatikverständnis Am Anfang dieser Analyse steht dann eine Vergewisserung darüber, was unter Dogmatik zu verstehen ist. Doch das Wesen von Dogmatik zu erfassen und es auf eine griffige Beschreibung herunterzubrechen, ist ein schier auswegloses Unterfangen.59 Zum einen ist Dogmatik die Methode, 60 mit der das Recht geordnet, systematisiert, in Zusammenhänge gebracht und damit begreifbar gemacht werden soll. Zum anderen ist Dogmatik aber auch das Produkt61 dieser Bemühungen. Dogmatik hat nicht nur die zurückschauende Aufgabe, bestehende Rechtsentscheidungen in eine Ordnung von mittlerer Abstraktionsstufe einzugliedern,62 sondern auch die nach vorne gewandte Aufgabe, potentielle Be55
S. Kap. 2. III. 3 und 2. VI. 2. und 3. Lobinger AcP 216 (2016), 28 (66 ff.). 57 Hellgardt, Regulierung und Privatrecht, 2016, S. 388 ff. 58 Ebd., S. 389. 59 Jestaedt JZ 2014, 1 (4); Lobinger AcP 216 (2016), 28 (35); Wahl in Stürner (Hrsg.), Die Bedeutung der Rechtsdogmatik für die Rechtsentwicklung, 121 f.; Waldhoff in Kirchhof/Magen/Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik?, 17 (21). 60 S. Susanne Lepsius in Essen/Jansen (Hrsg.), Dogmatisierungsprozesse in Recht und Religion, 55 (56). Ähnlich Jansen, für den Dogmatisierungsprozesse „historische Prozesse [sind], in denen sich […] Ordnungsvorstellungen und Deutungsmuster herausbilden – bzw. als solche etabliert werden – und sich dann als professionell tradiertes Wissen verfestigen“ ( Jansen ZRG GA 128 [2011], 1 [7]); Thier in Essen/Jansen (Hrsg.), Dogmatisierungsprozesse in Recht und Religion, 217 (220). 61 S. nur Hellgardt, Regulierung und Privatrecht, 2016, S. 390; Jansen in Anderheiden u. a. (Hrsg.), Enzyklopädie der Rechtsphilosophie, Art. Rechtsphilosophie im Zivilrecht, Rn. 2. 62 Hassemer in Kirchhof/Magen/Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik?, 3 (7 f., 14). 56
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gründungsmuster für zukünftige Entscheidungen aufzuzeigen. 63 Des Weiteren beteiligt sich nicht nur die Wissenschaft an der Dogmatikbildung, sondern sie wird auch ganz wesentlich von der rechtlichen Praxis mitgestaltet. 64 Der Umstand, dass der Begriff Rechtsdogmatik schließlich verwendet wird, um die Unterdisziplin der Rechtswissenschaft, die sich mit der Systematisierung des geltenden Rechts beschäftigt, zu benennen, 65 erschwert seine Handhabung zusätzlich. Trotz dieser bekannten Unschärfen des Begriffs lässt sich Dogmatik beschreiben als System von Sätzen, „die das positive Recht durchdringen und ordnen […], um die rechtliche Arbeit anzuleiten, und jene Fragen zu beantworten sucht, die die Rechtspraxis aufwirft.66 Bei der Ordnung des Stoffes können sich Dogmatiker verschiedener Mittel, wie Auslegungsgrundsätzen, Prinzipien oder Instituten, bedienen. Dieses Verständnis von Dogmatik wird hier als „formales“ Verständnis bezeichnet. Daneben gibt es ein „materiales“ Verständnis,67 das darauf abstellt, dass ein inhaltlicher Orientierungspunkt die Ordnung des Rechtsstoffes anleitet. So geht etwa Lobinger davon aus, dass sich Dogmatik an der „Leitidee der Verwirklichung von Gerechtigkeit“68 orientiere. Danach zeichne sich Dogmatik nicht nur durch ihre Verankerung im positiven Recht und den Anspruch aus, das Recht vollständig erfassen und ordnen zu können, sondern auch durch ihren „Gerechtigkeitsanspruch“. 69 Dem materialen Verständnis ist zuzugestehen, dass Dogmatik in ihrer konkreten Anwendung nie ohne Inhalte gedacht werden kann. Das Rechtsinstitut der Sicherungsübereignung lässt sich nicht erklären, ohne auf die Sicherungsinteressen der Sicherungsnehmerin oder das sachenrechtliche Publizitätsprinzip einzugehen. Der rechtliche Umgang mit der faktischen Lebensgemeinschaft erschließt sich nur durch einen Vergleich mit den Regelungen zu Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft. Allerdings lenkt ein materiales Verständnis von Dogmatik die Aufmerksamkeit von den Aspekten, die Dogmatik als Methode ausmachen, ab und ist nur begrenzt aussagekräftig, wenn als Orientierungspunkt ein so abstraktes und umfassendes Konzept wie Gerechtigkeit gewählt wird. 63 S. bereits Zasius, In primam partem digestorum paratitia, 1550, D. 1, 3, 17; aus jüngerer Zeit Bumke, Rechtsdogmatik, 2017, S. 49 ff., 122; Canaris JZ 1993, 377 (378); Jansen in Alexy (Hrsg.), Juristische Grundlagenforschung, 29 (32). 64 Bumke, Rechtsdogmatik, 2017, S. 11 m. w. N.; Oliver Lepsius in Kirchhof/Magen/ Schneider (Hrsg.), Was weiß Dogmatik?, 40 (43). 65 Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, 2001, S. 307; Bumke, Rechtsdogmatik, 2017, S. 1. 66 Bumke, Rechtsdogmatik, 2017, S. 1 m. w. N., wobei Bumke nicht auf Rechtsdogmatik als ein System von Sätzen, sondern als eine Disziplin abstellt; s. auch Volkmann JZ 2005, 261 (262). 67 Ähnlich Lobinger AcP 216 (2016), 28 (42: „theoretisch-prämissenhaft[]“) und (66: „inhaltlich-systematische[] Betrachtung“). 68 Ebd., (43). 69 Ebd.
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Kapitel 2: Erklärungen für die Beharrungskraft der Leiterzählung
b) Formales Dogmatikverständnis und Leiterzählung Für das Verhältnis von Dogmatik zum Fortbestand der Leiterzählung bedeutet dies Folgendes: Stellt man auf ein formales Dogmatikverständnis ab, so lässt sich eine These, dass Dogmatik ein freiheitlich-individualistisches Privatrechtsverständnis besser erfassen könne als alternative Konzeptionen, nicht aufrechterhalten. Es ist grundsätzlich möglich, Privatrechtsdogmatik um neue Institute oder Prinzipien zu erweitern und dadurch Entwicklungen, die an das Privatrecht herangetragen werden, zu verarbeiten.70 Die Dogmatik, verstanden als Systematisierungsleistung und Arbeitshilfe bei der Entscheidungsfindung in der Rechtspraxis, hindert nicht daran, Strukturen innerhalb der beschriebenen Einflüsse ausfindig zu machen und in den derzeitigen dogmatischen Bestand aufzunehmen. Der dogmatische Standpunkt fordert hierfür nur eine Übersetzung dieser Einflüsse in das positive Recht. Was von der These verbleibt ist eine akkurate Beschreibung des derzeitigen Zustands. Die tradierte Privatrechtsdogmatik ist bislang wenig darauf angelegt, folgenorientierte Erwägungen innerhalb des Privatrechts zu ordnen und dadurch erklärbar zu machen. Gleiches gilt für die Berücksichtigung von Gemein interessen: Auch hier fehlt es bislang an Theorien, die in ihrer dogmatischen Durchdringung der Thematik an Lehren wie z. B. denen zur Wirkung der Grundrechte zwischen Privaten heranreichen. So ist dann auch Hellgardts Aussage eher als Beobachtung und Arbeitsauftrag zu verstehen, wenn er dafür plädiert, die Rechtsdogmatik so weiterzuentwickeln, dass sie auch regulatorische Elemente des Privatrechts abzubilden vermag.71 c) Materiales Dogmatikverständnis und Leiterzählung Anders liegen die Dinge, wenn man auf ein materiales Dogmatikverständnis abstellt. Dann vermag sich die These zu behaupten, dass die bestehende Dogmatik mit einem freiheitlich-individualistischen Privatrechtsverständnis besser harmoniert als mit alternativen Entwürfen. Nur stellt sich dann die Frage, welcher Mehrwert der These der dogmatischen Anschlussfähigkeit zukommt. Erstens lässt sie sich nicht einfach von der bereits erwähnten These, der inhaltlichen Überzeugungskraft von Teilaspekten des freiheitlich-individualistischen Privatrechtsverständnisses,72 abgrenzen. Sieht man Dogmatik und den Inhalt der dogmatisch erschlossenen, freiheitlich-individualistisch fundierten Figuren als so eng verwoben an, wie es ein materiales Dogmatikverständnis tut, kann die Dogmatik nicht anders, als den Charakter dieser Figuren zu spiegeln. Und wenn es an einem Verständnis von privatrechtlichen Inhalten, die über die frei70 S. Grünberger AcP 218 (2018), 213 (243 f.); Kilian AcP 180 (1980), 47 (83); Teubner in Grundmann/Thiessen (Hrsg.), Recht und Sozialtheorie im Rechtsvergleich, 145 (160 f.). 71 S. Hellgardt, Regulierung und Privatrecht, 2016, S. 389. 72 S. Kap. 2. I. 1.
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heitlich-individualistische Konzeption hinausgehen, fehlt, bildet die Dogmatik die als fremd wahrgenommenen Elemente auch nicht ab. Es fehlt dann an ihrer systematischen Erschließung und leitet in den von Hellgardt formulierten Arbeitsauftrag einer dogmatischen Fortbildung über. Zweitens lässt sich die These der ausgeprägteren dogmatischen Anschlussfähigkeit nicht einfach von der These unterscheiden, dass die Dogmatik in ihrer jetzigen Ausprägung historisch-kontingent gewachsen und dadurch freiheitlich-individualistisch geprägt ist. Auf diese Bedingtheit ist noch zurückzukommen.73
II. Außerrechtliche Erklärungen In juristischen Diskursen werden die vorgetragenen Argumente häufig als stark kontextunabhängig wahrgenommen. Das mag mit der spezifischen juristischen Argumentationsweise zu tun haben, die sich durch einen hohen Grad an Abstraktion und (vermeintlicher) Rationalisierung auszeichnet.74 Doch kein Diskurs, der über das Privatrechtsverständnis eingeschlossen, findet im leeren Raum statt. Wer sich zu einem Thema äußert, welche Begrifflichkeiten verwendet werden, zu welchem Zeitpunkt und in welchem gesellschaftspolitischen Umfeld es geschieht – all das prägt Diskurse. Wenn es darum geht, die Gründe für den Fortbestand der privatrechtlichen Leiterzählung zu untersuchen, wäre es also unzureichend, lediglich auf die genuin rechtlichen Erklärungen abzustellen. Eine mindestens ebenso große Rolle bei der Erklärung der Standhaftigkeit der Leiterzählung spielen außerrechtliche Erklärungen. Darunter sind solche Erklärungen zu verstehen, die sich mit den Strukturen befassen, in denen die oben behandelten rechtlichen Erklärungen vorgetragen werden. Zu diesen Strukturen gehören Strukturen, die in direktem Zusammenhang mit dem Diskursverlauf stehen (1.), Eigenarten der juristischen Ausbildung (2.a)) sowie Feld und Habitus der Privatrechtswissenschaft (3.b)).
1. Diskursanalytische Erklärungen Als erstes sollen die diskursiven Mechanismen im Gespräch über das vorherrschende Privatrechtsverständnis im Zentrum der Betrachtung stehen. Nach einer Einführung in die methodischen Grundlagen des Ansatzes, mit Hilfe dessen der Diskurs im Folgenden analysiert werden soll (a)), geht der Abschnitt der Frage nach, welche Mechanismen zum Fortbestand des freiheitlich-individualistischen Privatrechtsverständnisses beitragen (b)).
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S. Kap. 2. II. 2. b) bb) (3) (b). Bumke in Marsch/Münkler/Wischmeyer (Hrsg.), Apokryphe Schriften, 55.
74 S.
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a) Diskursanalytische Referenzpunkte Anliegen des folgenden Abschnitts ist es, die diskursiven Mechanismen selbst als Forschungsobjekte zu untersuchen. Denn die Konstituierung des privatrechtlichen Diskurses, d. h. seine Zusammensetzung und die Art und Weise, wie er geführt wird, ist Teil der Erklärung, weshalb sich die Leiterzählung so beständig hält. Mit dem Unternehmen einer Diskursanalyse bewegt man sich auf einem Terrain, welches an dieser Stelle der Untersuchung einiger erklärender Bemerkungen bedarf. Denn „die Diskursanalyse“ mit einem einheitlichen Methodenkanon gibt es nicht. Vielmehr können hinter einer Diskursanalyse unterschiedliche Herangehensweisen stehen. Diskursanalyse kann in Anlehnung an Habermas untersuchen, inwiefern die Bedingungen eines Diskurses einer idealen Sprechsituation nahekommen.75 Oder sie kann strukturalistischer Natur sein und nach dem Bezug von sprachlichen Zeichen zueinander fragen.76 Die hier angewendete Methode orientiert sich, wie bereits erwähnt,77 an Diskursanalysen, die dem Poststrukturalismus78 zugerechnet werden können. Die Diskursstrukturen werden also nicht als statische Gebäude angesehen, sondern „als von vornherein temporalisiert.“79 Die Analyse ist wesentlich durch Einsichten geprägt, die sich aus einer Lektüre von Texten über die Archäologie des Wissens bei Foucault sowie von Abhandlungen über das performative Potenzial von Sprache ergeben. Aus verschiedenen Gründen kann lediglich von einer Orientierung und nicht von der weitergehenden Übernahme eines ganzen Methodenprogramms gesprochen werden: Im Hinblick auf die Anleihen bei Foucault ist darauf zu verweisen, dass Foucault selbst keine einheitliche Methode verwendet, die sich übernehmen ließe. Foucault selbst hinterfragt konstant die zuvor gewonnenen
75 Habermas in Habermas/Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Was leistet die Systemforschung?, 101 (insbes. 136 ff.). 76 S. etwa bei aller Unterschiedlichkeit Deleuze, Differenz und Wiederholung, 1992, S. 29 f., 159 ff.; de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, 2016; Lacan, Das Seminar, Buch 1. Freuds technische Schriften, 1978; Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie, 1967, S. 41 ff. 77 Einl. I V. 78 Nach der hier vertretenen Auffassung sammeln sich unter dem Begriff Poststrukturalismus geisteswissenschaftliche Ansätze, die darauf abzielen, „Inkohärenzen und Brüche scheinbar feststehender sozialer Tatsachen oder erkenntnistheoretischer Prämissen aufzuzeigen“ (Moebius, Die soziale Konstituierung des Anderen, 2003, S. 13); s. auch Moebius/Reckwitz in Moebius/Reckwitz (Hrsg.), Poststrukturalistische Sozialwissenschaften, 7 (8, 10); krit. ggü. der Möglichkeit einer eindeutigen Beschreibung Münker/Roesler, Poststrukturalismus, 2000, S. IX. 79 Moebius/Reckwitz in Moebius/Reckwitz (Hrsg.), Poststrukturalistische Sozialwissenschaften, 7 (17).
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Erkenntnisse, verwirft oder entwickelt sie weiter.80 Von einer festen Methode kann demnach – abgesehen von der rigorosen Analyse von Problematisierungen, d. h. dem „wie und warum bestimmte Dinge […] zum Problem wurden“81 – nicht die Rede sein.82 Die nachfolgende Diskursanalyse bezieht sich daher hauptsächlich auf die von ihm Ende der 1960er Jahre angewendete Arbeitsweise, wie sie in Die Ordnung der Dinge,83 Archäologie des Wissens84 und Die Ordnung des Diskurses85 zum Ausdruck kommt. Damit geht einher, dass insbesondere auf die Archäologie und weniger auf die Genealogie, die für Foucaults spätere Schriften an Bedeutung gewinnt,86 eingegangen wird. Eine Beschäftigung mit der Genealogie des privatrechtlichen Diskurses würde ein weiteres Forschungsvorhaben begründen. Foucault selbst umschreibt das Programm der Archäologie folgendermaßen: „Die Archäologie versucht, […] Diskurse als bestimmten Regeln gehorchende Praktiken“87 zu definieren. Sie „individualisiert und beschreibt diskursive Formationen“88 und ist darauf ausgelegt, „Regelmäßigkeit der Aussagen“89 zu finden und „die den Aussageregelmäßigkeiten innerlichen Hierarchien“90 aufzuzeigen. Es geht also darum, die diskursiven Praktiken selbst zu untersuchen und dadurch ein besseres Verständnis dafür zu entwickeln, wieso wir so und nicht anders über bestimmte Themen sprechen. Die Abhandlungen über Performativität dienen ebenfalls lediglich als Orientierungspunkte, zumal sich der Begriff der Performativität bislang erfolgreich einer exakten Definition entzogen hat, die von den ihn gebrauchenden Personen gemeinhin geteilt wird.91 Es fehlt also an dem einen konkreten Anknüpfungspunkt, an den die Untersuchung anschließen könnte. Unumstritten ist jedoch, dass einer der zentralen Ankerpunkte der Diskussion um Performativität und 80 So explizit formuliert von Foucault in Dits et écrits, Bd. I V, 675: „se rendre capable en permanence de se déprendre de soi-même“. 81 Foucault, Diskurs und Wahrheit. Die Problematisierung der Parrhesia, 1996, S. 178 (Hervorhebung im Original). 82 Baxter Stanford L. Rev. 1996, 449 (451); Ulrich Johannes Schneider in Honneth/Saar (Hrsg.), Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption, 220 (227). 83 Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, 2003. 84 Foucault, Archäologie des Wissens, 17. Aufl. 2015. 85 Foucault, Die Ordnung des Diskurses, 14. Aufl. 2017. 86 Deutlichere Betonung der Genealogie beginnend mit Foucault in Foucault, Dits et écrits, Bd. II, 136 ff. Zur Unterteilung des Werkes von Foucault in unterschiedliche „Werkphasen“ s. etwa Biebricher in Buckel/Christensen/Fischer-Lescano (Hrsg.), Neue Theorien des Rechts, 135. 87 Foucault, Archäologie des Wissens, 17. Aufl. 2015, S. 198. 88 Ebd., 224. 89 Ebd., S. 205 (Hervorhebung im Original). 90 Ebd., S. 209. 91 Bülow in Bülow u. a. (Hrsg.), Performativität in Sprache und Recht, 3; zur begrifflich verwandten Performanz Christensen/Lerch in Lerch (Hrsg.), Die Sprache des Rechts, 55 (71 f.); Wirth in Wirth (Hrsg.), Performanz, 9 (10); gleichsinnig Müller-Mall, Performative Rechtserzeugung, 2012, S. 141 f.
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Sprache die in dem Buch How to Do Things with Words 92 veröffentlichten Vorlesungen von Austin sind. In seiner ersten Vorlesung führt Austin die Unterscheidung zwischen konstativen und performativen Äußerungen ein. Letztere sind Äußerungen, die nicht der Bewertung als wahr oder falsch zugänglich sind und die man nicht bloß als dahingesagt verstehen würde, sondern die selbst eine Handlung oder Teil einer Handlung sind.93 Als Beispiel einer performativen Äußerung nennt Austin das Eheversprechen.94 Sagt die Frau vor der Standesbeamtin „Ja ich will“ und tut ihr Partner oder ihre Partnerin es ihr gleich, bewirken die Äußerungen eine Veränderung in der Realität. Austin selbst rückt in seiner achten Vorlesung von dem Begriff der performativen Äußerung ab. Um zum Ausdruck zu bringen, dass Sprechen als Handeln begriffen werden kann, bedient er sich nun der Unterscheidung zwischen lokutionären (die Handlung, dass man etwas sagt), illokutionären (die Handlung, indem man etwas sagt) und perlokutionären (der Sprechakt, der weitere Wirkungen zeitigt) Akten.95 Austin war nicht der Erste, der aufzeigte, dass Sprechen zugleich Handeln ist.96 Aber mit seinen Überlegungen, Sprechen als Handeln einer systematischen Betrachtung zugänglich zu machen, stieß er etwas in der Sprachphilosophie und in den Kulturwissenschaften an. Von dekonstruktivistischer Seite setzte sich unter anderem Derrida97 mit den von Austin vorgestellten und seinem Schüler Searle98 weiterentwickelten Ideen über Sprechakte auseinander. Dabei führte er einen Perspektivwechsel ein: Nicht nur das singuläre Ereignis eines Sprechens sei in den Blick zu nehmen, sondern der Kontext vorangegangenen und zukünftigen Sprechens. Laut Derrida ist Sprechen iterativ.99 Es nehme Bezug auf Zeichen, die so oder anders schon früher einmal gebraucht worden seien. Bei der Iteration handele es sich nicht um eine bloße Wiederholung der Zeichen, denn beim Sprechen würden die verwendeten Zeichen nicht notwendigerweise identisch wiedergegeben. Vielmehr würden sie in unterschiedlichen Kontexten geäußert. Bei der Äußerung in einem anderen Kontext als dem
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Austin, How to Do Things with Words, 2. Aufl. 1975. Ebd., S. 5: „Utterances can be found, satisfying these conditions, yet such that A. they do not ‚describe‘ or ‚report‘ or constate anything at all, are not ‚true‘ or ‚false‘; and B. the uttering of the sentence is, or is a part of, the doing of an action, which again would not normally be described as, or as ‚just‘, saying something“ (Hervorhebung im Original). 94 Ebd. 95 Ebd., S. 94 ff. 96 Zuvor etwa schon Wilhelm von Humboldt, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwickelung des Menschengeschlechts, Bd. I, 1836, S. 248. 97 S. etwa Derrida in Randgänge der Philosophie, 6 ff.; ders. in Randgänge der Philosophie, 124 ff. 98 S. etwa Searle, Speech Acts, 1969; ders. Glyph 1 (1977), 172 ff. 99 Derrida in Randgänge der Philosophie, 124 (133, 135, 150), wobei er das Argument an der Schrift entwickelt und sich über den Umweg der Schrift dem gesprochenen Wort nähert. 93
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der vorherigen Verwendung entstünde eine différance, eine Verschiebung.100 Die „verschobene“ Äußerung diene wiederum als Bezugspunkt beim weiteren Zeichengebrauch. Nach der von Derrida vertretenen Auffassung kommt also jeder Äußerung „eine eigene gesellschaftliche Zeitlichkeit“101 zu. Für das Vorhaben einer Diskursanalyse ist dieser Perspektivwechsel bedeutend. Er zeigt auf, dass innerhalb eines Diskurses die Art und Weise des Sprechens inhaltliche Änderungen bedingen kann. Performativität erfasst das Potenzial der Sprache, „die Wirklichkeit im Gebrauch der Sprache“ zu verändern.102 Eine so verstandene performative Äußerung zeichnet sich einerseits durch ihre Vorgängigkeit aus.103 Wer performativ spricht, der nimmt zwangsläufig auf vorangegangene, zuvor benutzte Zeichen Bezug. Andererseits ist für eine performative Äußerung ihre Selbstbezüglichkeit charakteristisch. Da es durch sie zu einer Verschiebung in der Zeichenbedeutung kommt, wohnt ihr ein schöpferisches Element inne. Sie ist selbstbezüglich, weil die Äußerung selbst etwas Neues in Existenz bringt.104 Äußerungen innerhalb eines Diskurses sind demnach produktiv.105 In den Worten Foucaults: „[D]ie Diskurse [… sind] als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen.“106 Um noch einmal den Ausgangspunkt der Untersuchung ins Gedächtnis zu rufen: Ziel ist, mit diskursanalytischen Mitteln Einsichten über die Langlebigkeit der Leiterzählung zu gewinnen. Wie können Archäologie und Performativität nun dabei helfen? Archäologie und Performativität machen das iterative Moment in der Überlieferung der Leiterzählung sichtbar. So können mittels Archäologie und Performativität diskursinterne Beharrungseffekte und Sinnverschiebungen bei der Wiedergabe von Zitaten benannt werden, die zum Fortbestand der Leiterzählung beitragen.107
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Ebd., 124 (149, 151); Derrida in Randgänge der Philosophie, 6 (insbes. 18 f.). Butler, Haß spricht. Zur Politik des Performativen, 2006, S. 69. 102 Müller-Mall in Bülow u. a. (Hrsg.), Performativität in Sprache und Recht, 21; ebenfalls prägnant Loxley, Performativity, 2007, S. 2; speziell bzgl. Narrativen Nünning in Strohmaier (Hrsg.), Kultur – Wissen – Narration. Perspektiven transdisziplinärer Erzählforschung für die Kulturwissenschaften, 15 (40). 103 Müller-Mall, Performative Rechtserzeugung, 2012, S. 131 ff.; Wirth in Wirth (Hrsg.), Performanz, 19 ff. 104 Krämer in Wirth (Hrsg.), Performanz, 323 (345); Müller-Mall, Performative Rechtserzeugung, 2012, S. 134 ff.; Wirth in Wirth (Hrsg.), Performanz, 25 ff. 105 „Produktive Kraft“ – Krämer in Wirth (Hrsg.), Performanz, 323 (329, 345). 106 Foucault, Archäologie des Wissens, 17. Aufl. 2015, S. 74. 107 S. auch Doris Schweitzer Zs. f. Rechtssoz. 2015, 201 (216). Somit knüpft die Untersuchung nicht an die rechtswissenschaftliche Debatte um performative Rechtserzeugung an. S. hierfür Christensen/Lerch in Lerch (Hrsg.), Die Sprache des Rechts, 55 ff.; Kuntz AcP 216 (2016), 866 ff.; Müller-Mall, Performative Rechtserzeugung, 2012; dies. in Bülow u. a. (Hrsg.), Performativität in Sprache und Recht, 21 ff. 101
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b) Diskursinterne Beharrungsmechanismen Wendet man den Blick auf die Leiterzählung und das von ihr weitergetragene freiheitlich-individualistische Privatrechtsverständnis, so lassen sich bestimmte Charakteristika ausfindig machen. aa) Verkürzungen Zunächst arbeitet die Leiterzählung mit Verkürzungen. Im Diskurs werden vorangegangene Äußerungen regelmäßig aufgegriffen, komprimiert und weitergetragen. Dabei handelt es sich freilich nicht um eine Besonderheit des privatrechtlichen Diskurses. Es ist „rhetorische Gewohnheit[]“,108 ständige Praxis und notwendig, den Kerngehalt einer Aussage von den ihn umgebenden Anmerkungen zu filtern. Verkürzungen reduzieren Komplexität und machen die Aussage für die weitere Rezeption verwertbar. Als Kehrseite ist damit allerdings der Verlust von Differenzierungen und Zwischentönen verbunden. Im schlimmsten Fall führt dies dazu, dass sich Fehlvorstellungen festsetzen. Veranschaulicht werden kann der Mechanismus der Verkürzung innerhalb der Leiterzählung anhand des bereits erwähnten Zitates von Flume zur Privatautonomie: „stat pro ratione voluntas.“109 Mit dieser Wendung beschreibt Flume die Privatautonomie dahingehend, dass sie allen Personen die Freiheit gibt, selbst nach ihrem unvernünftigen Willen zu handeln. Die Verweise auf die Passage sind zahlreich.110 Erheblich seltener findet Erwähnung, dass Flume es als Bestandteil seiner Konzeption der Privatautonomie verstand, dass sie „nach Form und möglichem Inhalt durch die Rechtsordnung bestimmt“111 werde und „nur verwirklicht werden [könne], wenn auch tatsächlich die Macht zur Selbstbestimmung besteh[e].“112, 113 Wenn man nur auf das gängige Zitat abstellt, dann gerät ins Vergessen, dass Flume selbst Grenzen privatautonomer Verwirklichung anerkannte. Das Beispiel zeigt, wie das freiheitlich-individualistische Element von Flumes Privatautonomieverständnis rezipiert wird und aufgrund 108
Foucault, Archäologie des Wissens, 17. Aufl. 2015, S. 88. Werner Flume FS zum hundertjährigen Bestehen des DJT, Bd. I, 135 (141); ders., Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. II, 4. Aufl. 1992, S. 6. 110 S. etwa Canaris FS Lerche, 873 (881); Derleder FS Wassermann, 643; Gamillscheg AcP 164 (1964), 385 (413); Isensee in Isensee (Hrsg.), Vertragsfreiheit und Diskriminierung, 239 (249); Lobinger in Isensee (Hrsg.), Vertragsfreiheit und Diskriminierung, 99 (104); Otto, Personale Freiheit und soziale Bindung, 1978, S. 1; Picker JZ 2002, 880; ders. in Egon Lorenz (Hrsg.), Karlsruher Forum 2004: Haftung wegen Diskriminierung nach derzeitigem und zukünftigem Recht, 7 (45); Spieß DVBl. 1994, 1222; ähnliche Verweise bei Mörsdorf, Ungleichbehandlung als Norm, 2018, S. 1; Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, 1999, S. 287. 111 Werner Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. II, 4. Aufl. 1992, S. 6 . 112 Ebd., S. 10; schon zuvor differenziert Werner Flume FS zum hundertjährigen Bestehen des DJT, Bd. I, 135 (144 ff.). 113 So aber bspw. Habersack, Vertragsfreiheit und Drittinteressen, 1992, S. 45 und 50; Spieß DVBl. 1994, 1222 (1223). 109
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der Verkürzung die ebenfalls vorhandenen einschränkenden materialen Inhalte für den weiteren Diskursverlauf an Bedeutung verlieren.114 bb) Ausschließlichkeitsanspruch Eng damit verbunden ist ein zweiter Aspekt: Die Betonung der freiheitlich-individualistischen Grundsteine des BGB und der Bedeutung der Privatautonomie für das Privatrechtsverständnis läuft bisweilen Gefahr, mit einem Ausschließlichkeitsanspruch vermengt zu werden.115 An dieser Stelle kann die Diskursanalyse nicht mehr als Vermutungen anstellen, wie und warum sich die Schlagworte der Leiterzählung im kollektiven Verständnis darüber, was das Privatrecht ausmacht, festsetzen. Mit Gewissheiten lässt sich hier nicht arbeiten. Aber mit der nötigen Vorsicht kann man sagen, dass gängige Wendungen der Leiterzählung die Tendenz aufweisen, den freiheitlich-individualistischen Aspekten des Privatrechts eine Alleinstellung einzuräumen. Wenn die Privatautonomie als „Fixstern des Privatrechts“116 gepriesen wird, so soll damit zum Ausdruck gebracht werden, dass es sich bei der Privatautonomie um einen für das Privatrecht besonders relevanten Grundsatz handelt. Der Ausspruch kann aber auch weiter gedeutet werden. Der Fixstern steht dann eher für einen Grundsatz, der – um in der herangezogenen Bildsprache zu bleiben – andere Grundsätze wie Gemeinwohlorientierung, Schwächerenschutz oder Verhaltenssteuerung so überstrahlt, dass sie nicht länger sichtbar sind.117 Reuter, der das Bild des Fixsterns bemühte, tritt einer solchen Deutung zwar explizit entgegen,118 doch dürften seine Nuancierungen aufgrund der bereits angesprochenen Verkürzungseffekte weniger deutlich wahrgenommen werden. Ähnliches lässt sich sagen über die Beschreibung des Privatrechts als Rechtsgebiet, das „die Beziehungen der Einzelnen zueinander auf der Grundlage der Gleichordnung und Selbstbestimmung regelt.“119 Diese Beschreibung ist akkurat, kann aber auch dazu führen, dass sich im Diskurs ein Privatrechtsverständnis festsetzt, in dem externe Kosten, die dieser Interessenausgleich verursacht, keine Berücksichtigung finden.
114 Ebenfalls anmerkend, dass Werner Flume „mitunter einseitig gelesen wird“ Röthel in Bumke/Röthel (Hrsg.), Autonomie im Recht, 91 (93). 115 Vgl. Eike Schmidt JZ 1980, 153 (154). 116 Mestmäcker AcP 168 (1968), 235 (238); Reuter in Franz Bydlinski/Mayer-Maly (Hrsg.), Die ethischen Grundlagen des Privatrechts, 105 (113). 117 S. Bullinger, Öffentliches Recht und Privatrecht, 1968, S. 55. Diesen Punkt differenziert betrachtend Franz Bydlinski AcP 180 (1980), 1 (20). 118 Reuter in Franz Bydlinski/Mayer-Maly (Hrsg.), Die ethischen Grundlagen des Privatrechts, 105 (113 f.). 119 Grüneberg/Grüneberg, 81. Aufl. 2022, Einl. Rn. 2 (Abkürzungen ausgeschrieben); s. auch Köhler, Bürgerliches Gesetzbuch, 88. Aufl. 2021, S. IX.
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cc) Standardisierung Schließlich lässt sich beobachten, dass sich das freiheitlich-individualistische Privatrechtsverständnis als das Normale verfestigt, an dem sich alternative Verständnisse als Abweichungen messen lassen müssen. Diese Standardisierung vollzieht sich im Kleinen und im Großen. Im Kleinen vollzieht sie sich dort, wo Schlüsselbegriffe120 der freiheitlich-individualistischen Konzeption als Regeln benannt werden, zu denen es Ausnahmen und Einschränkungen gibt. Die Schlüsselbegriffe legen also den Standard und Ausgangspunkt der Diskussion fest. Oder anders gewendet in den Worten der Performativität: Die diskursive Darstellung im Regel-Ausnahme-Verhältnis führt dazu, dass Privatrechtsverständnisse, die etwa die Gemeinwohlorientierung des Privatrechts betonen, nicht als gleichrangige, sondern als untergeordnete oder weniger valide Verständnisse begriffen werden. Zwei Beispiele sollen diese Wirkweise verdeutlichen: Wenn die Privatautonomie als „das selbstverständliche Grundprinzip einer jeden Zivilrechtsordnung“121 verstanden wird, so setzt sie als Grundsatz den Standard fest. Aber nicht einmal die vermeintlichen Anhänger einer streng freiheitlich-individualistischen Sichtweise auf das Privatrecht vertreten die Idee, dass die Privatautonomie als absoluter Grundsatz zu verstehen sei.122 Vielmehr heißt es einschränkend, dass nicht von privatautonomer Betätigung gesprochen werden könne, wenn die Möglichkeiten eines freien Willensentschlusses nicht gegeben sind.123 Mit dieser Art der Darstellung ist allerdings die Annahme eines Rangverhältnisses von übergeordneter Privatautonomie und untergeordneten Prinzipien wie Schwächerenschutz oder Daseinsvorsorge verbunden. Ähnliche Mechanismen lassen sich bei der Behandlung der Frage beobachten, für welche Arten von Beeinträchtigungen eine Geschädigte Schadensersatz verlangen kann. Im Diskurs wird zunächst die Kompensationsfunktion des Schadensersatzes herausgestellt. Primärer Zweck des Schadensersatzes sei es, die durch ein schädigendes Ereignis erlittenen materiellen und immateriellen Schäden zu kompensieren.124 Im Anschluss wird darauf eingegangen, dass mit der
120 Zur Funktion von Schlüsselbegriffen, das Denken in bestimmte Bahnen zu lenken Voßkuhle Die Verwaltung, Beiheft 4, 2001, 197 (198); ders. VerwArch 92 (2001), 184 (196). Im hier verwendeten Sinn soll mit „Schlüsselbegriffen“ jedoch nicht zum Ausdruck gebracht werden, dass mittels ihrer Verwendung der Kontakt zu anderen Disziplinen gesucht wird, s. hierzu Baer in Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 223 (225 ff.). 121 Werner Flume FS zum hundertjährigen Bestehen des DJT, Bd. I , 135 (141). 122 S. Kapitel 1.V. 123 Picker JZ 2003, 540 (544); Zöllner AcP 188 (1988), 85 (99); ders. AcP 196 (1996), 1 (24); ders. in Riesenhuber (Hrsg.), Privatrechtsgesellschaft. Entwicklung, Stand und Verfassung des Privatrechts, 53 (70); s. ferner Reuter AcP 189 (1989), 199 (217 f.). 124 Staudinger/Hager, 2017, Vor § 823 Rn. 9; Koziol AcP 212 (2012), 1, 33; Larenz/Canaris,
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Zeit eine Präventionsfunktion125 im Schadensersatzrecht Fuß gefasst habe und bei der konkreten Bemessung des Anspruchsumfangs eine Rolle spielen könne.126 Dabei werden die präventiven Zwecke des Schadensersatzes als der Kompensation untergeordnete Zwecke angesehen.127 Diese Rangfolge der Funktionen ist insofern zutreffend, als dass der BGH Schadensersatzansprüche allein aus präventiven Erwägungen nicht gewährt.128 Für die Diskursanalyse interessiert aber ein anderer Aspekt: Die Art und Weise der Präsentation, in der Präventionsaspekte dem Kompensationszweck nachfolgen, wirkt ihrerseits verstärkend auf die Rangfolge der Schadensersatzzwecke ein. Die wiederholte Darstellung vom Vorrang der Kompensation und dem Nachrang bzw. „Nebenprodukt“129 der Prävention hat einen eigenen Anteil daran, welche Zwecke der Gewähr von Schadensersatzansprüchen beigemessen werden. Aber auch im Großen zeigen sich die Standardisierungsprozesse. Die Einschätzung, dass das freiheitlich-individualistische Privatrechtsverständnis den Standard festlegt, teilen selbst Debattenteilnehmer, die es sich selbst nicht zu eigen machen. Des Öfteren dient ihnen die Leiterzählung „als Kontrastfolie“130 , an der man sich abarbeiten kann oder als Projektionsfläche für das selbst vertretene Privatrechtsverständnis. Wenn kritische Stimmen eine solche Art der Darstellung wählen, tragen sie selbst dazu bei, den Geltungsanspruch der Leiterzählung zu untermauern. Zwei wirksame Mechanismen sind hier am Werk: Die Leiterzählung wird durch Wiederholung fortgetragen und der entgegengesetzte Standpunkt durch die Einnahme einer Defensivhaltung gestärkt.131 Schaut man sich den Aufbau von Arbeiten an, die sich mit Charakteristika des Privatrechts beschäftigen, so lassen sich auffällige Ähnlichkeiten in den Schilderungen ausmachen. In einem ersten Schritt geben die Arbeiten die Erzählung eines in seinen Ursprüngen, d. h. zur Zeit der Entstehung des BGB, freiheitlich-individualistischen Privatrechts wieder. Im Anschluss nutzen Stimmen, die der Leiterzählung kritisch gegenüberstehen, die Erzählung, um auf
Schuldrecht II/2, 13. Aufl. 1994, § 75 I 2i; Prütting/Kniepert ZfPW 2017, 458 (464 f.); Stoll, Haftungsfolgen im bürgerlichen Recht, 1993, S. 184. 125 MüKoBGB/Oetker, 8. Aufl. 2019, § 249 Rn. 9. 126 So etwa bei Kötz/Wagner, Deliktsrecht, 13. Aufl. 2016, Rn. 413 ff. 127 S. nur Koziol AcP 212 (2012), 1 (33); Prütting/Kniepert ZfPW 2017, 458 (464 f.); Stoll, Haftungsfolgen im bürgerlichen Recht, 1993, S. 184; a. A. Möller, Das Präventionsprinzip des Schadensrechts, 2006, S. 240 f.; Peter Müller, Punitive Damages und deutsches Schadensersatzrecht, 2000, S. 299. 128 BGHZ 165, 203 (207); 201, 45 (Rn. 19). 129 „Erwünschtes Nebenprodukt“ – Staudinger/Hager, 2017, Vor. § 823 Rn. 10; Wilhelmi, Risikoschutz durch Privatrecht, 2009, S. 6 4. 130 Kähler RW 2018, 1 (8); „Grundlage für eine Kritik am ‚liberalen Modell‘“ – Hofer, Freiheit ohne Grenzen?, 2001, S. 1. 131 Vgl. Hofer, Freiheit ohne Grenzen?, 2001, S. 1; Röthel in Bumke/Röthel (Hrsg.), Autonomie im Recht, 91 (101).
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Unzulänglichkeiten und Unstimmigkeiten des Verständnisses hinzuweisen.132 Diesen Aufbau wählte schon Wieacker in seiner so wirkmächtigen Darstellung des privatrechtlichen Sozialmodells. Wenn auch mit Einschränkungen,133 so zeichnete er erst das Bild eines liberalen Ursprungs-BGB, das in Sprache und Inhalt maßgeblich von der historischen Rechtsschule und der Pandektenwissenschaft beeinflusst sei.134 Gegen diesen Hintergrund kontrastierte Wieacker dann die Rechtsprechung zu den Generalklauseln sowie die Entwicklung zum sozialen Rechtsstaat, um den (Wieder-)Aufstieg einer materialen Ethik aufzuzeigen.135 Einer ähnlichen Struktur folgen Arbeiten der Privatrechtswissenschaft bis in die jüngere Zeit. Grünberger schreibt in seiner Analyse zum Grundsatz der Gleichbehandlung im Zivilrecht aus dem Jahr 2013, dass „sich nach traditioneller Auffassung die Bedeutung des Gleichheitsgrundsatzes in der Privatrechtsgesellschaft“ in der formalen Rechtsgleichheit erschöpfe.136 Er skizziert das freiheitlich-individualistische Privatrechtsverständnis, wonach es jedem freistehe, zu entscheiden, mit wem und mit wem er nicht in Vertragsbeziehungen eintreten möchte.137 In Kontrast zu diesem Privatrechtsmodell führt Grünberger eine „Bestandsaufnahme“138 durch, innerhalb derer er das Privatrecht auf Gleichbehandlungsgrundsätze sichtet. Darauf aufbauend plädiert er für eine „Neukonzeption.“139 Demnach gelte im Privatrecht der Grundsatz, dass niemand ohne Rechtfertigung ungleich behandelt werden dürfe. Ähnlich verfährt auch Hellgardt. Er widmet ein Kapitel seiner Abhandlung über die Regulierungsfunktion des Privatrechts140 einer Darstellung des Themas, wie sich die Rechtswissenschaft in der Vergangenheit zu „Regulierung und Privatrecht“ positioniert habe.141 Er beginnt ebenfalls mit einer Wiedergabe der Erzählung über die originär freiheitlich-individualistische Konzeption; wenn er auch durchgängig betont, dass schon bei Entstehung des BGB diese Position nicht in Reinform vertreten wurde und das damalige Meinungsbild vielschichtiger war.142 Dabei hebt Hellgardt hervor, dass er nicht so sehr den Inhalt dieser Konzeption als prägend für das vorherrschende Privatrechtsverständnis erachtet, sondern die damit einhergehende „prinzipienbasiert[e]“ Art 132
Hofer, Freiheit ohne Grenzen?, 2001, S. 1 f. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 479. 134 Ebd., S. 468 ff. 135 Ebd., S. 514 ff.; ähnliche Polarisierung im Hinblick auf den Systemgedanken im Privatrecht Coing, Zur Geschichte des Privatrechtssystems, 1962, S. 26. 136 Grünberger, Personale Gleichheit, 2013, S. 32. 137 Ebd., S. 34 f. 138 Ebd., S. 315. Teil 2 (S. 315–747) der Monographie trägt den Titel: „Der Gleichbehandlungsgrundsatz im Privatrecht – Eine Bestandsaufnahme“. 139 Ebd., S. 749. 140 S. für eine Auseinandersetzung bereits Einl. II. 3. und Kap. 2. I. 3. und 4. 141 Hellgardt, Regulierung und Privatrecht, 2016, S. 325 ff. 142 Ebd., S. 327 ff. 133
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und Weise der rechtlichen „Systembildung.“143 Erst nach einer Vorstellung des freiheitlich-individualistischen Privatrechtsverständnisses entwirft er seine Vision eines folgenorientierten Privatrechtsverständnisses. Diesem liegt die Idee zu Grunde, dass innerhalb privatrechtlicher Bewertungen darauf abgestellt werden müsse, welche potenziellen Auswirkungen die jeweils denkbaren Entscheidungen eines privatrechtlichen Falles nach sich ziehen.144 Auch Hellgardt folgt also dem Muster, zunächst die Leiterzählung zu rezipieren, um die eigene Arbeit dann von ihr abzugrenzen. Mit ihren Untersuchungen haben Grünberger und Hellgardt das Wissen um die Wirkungen des Gleichheitssatzes im Privatrecht, beziehungsweise das Steuerungspotenzial des Privatrechts entscheidend vorangebracht. Für die Analyse der Art und Weise, wie die beiden Autoren die Leiterzählung rezipieren, ist aber Folgendes bemerkenswert: Erstens trägt die von ihnen an den Anfang gestellte Präsentation der freiheitlich-individualistischen Privatrechtskonzeption dazu bei, dass sich diese als Darstellung des rechtswissenschaftlichen Mainstreams weiter verfestigen kann. Diese Darstellung hat zwar den Vorteil, dass man sich in der Folge gegen diese Sichtweise abgrenzen und der eigenen Position Konturenschärfe verleihen kann. Sie birgt aber gleichzeitig das Risiko, dass sich im kollektiven Verständnis zunächst einmal die Wahrnehmung verfestigt, dass das Privatrecht grundsätzlich freiheitlich-individualistisch gedacht wird und auch zu denken ist.145 Aufgrund des gewählten Aufbaus stärken die Autoren zunächst das Modell, das sie eigentlich als überkommen ansehen. Sie schreiben den Mainstream aus stilistischen Gründen bewusst oder unbewusst fort. Zweitens, und dieser Punkt ist eng mit dem vorangehenden verbunden, hat eine solche Herangehensweise den Effekt, dass die Deutungshoheit über das „adäquate“ Privatrechtsverständnis bei denjenigen Personen verbleibt, deren Ansichten sie nicht teilen. Die Autoren, die sich dieser Art der Darstellung bedienen, nehmen eine Defensivhaltung ein, aus der heraus sie ihren eigenen Ansatz rechtfertigen. Sie selbst unterstützen den Eindruck, dass sie gegen eine vorherrschende Meinung angehen müssen. Ihrer Privatrechtskonzeption verleihen sie damit einen Ausnahmecharakter, der sich gegen das Regelverständnis durchzusetzen sucht. Das wird auch bei der Wortwahl deutlich: Es geht dann um die Entkräftung oder „Einschränkung“ der freiheitlich-individualistischen Sichtweise.146 Der Standardisierungseffekt im Kleinen wie im Großen führt dazu, dass es nicht leicht ist, der Leiterzählung etwas Gleichwertiges entgegenzusetzen. Und 143 Ebd.,
S. 366. Ebd., S. 438 ff. 145 Im Rahmen der eher untergründig wirkenden Vorstellungen über den Charakter des Privatrechts besteht also darüber hinaus die Gefahr eines naturalistischen Fehlschlusses vom Sein auf das Sollen. 146 S. Hofer, Freiheit ohne Grenzen?, 2001, S. 2. 144
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es ist gewiss nicht ohne Ironie, dass auch diese Untersuchung, die ja selbst darauf angelegt ist, die Leiterzählung zu entkräften, den Aufbau wählt, das freiheitlich-individualistische Privatrechtsverständnis vorzustellen, um sie dann mit alternativen Verständnissen zu kontrastieren. Der Umstand ist aber auch ein weiterer Beleg für eine der zentralen diskursanalytischen Einsichten: Die dem Diskurs immanente „eigene gesellschaftliche Zeitlichkeit“147 macht es schwer, wenn nicht gar unmöglich, aus ihm heraus zu treten und gänzlich originell zu sprechen. Gezwungenermaßen nimmt eine Aussage auf „bereits Gesagte[s]“ Bezug.148 Ansonsten wäre sie für ihre Adressaten auch nicht verständlich. dd) Zusammenfassung Eine Reihe diskursinterner Mechanismen trägt zum Fortbestand der privatrechtlichen Leiterzählung bei. Verkürzung der Referenzaussagen, eine Vermengung von Wichtigkeits- mit Ausschließlichkeitsansprüchen und eine Standardisierung des freiheitlich-individualistischen Privatrechtsverständnisses begünstigen die andauernde Überlieferung der Leiterzählung.
2. Soziologische Erklärungen Weitet man den Fokus und untersucht, welche soziologischen Faktoren den Diskurs prägen, so geraten zusätzliche Erklärungen für den Fortbestand der privatrechtlichen Leiterzählung in das Blickfeld. Die Eigenarten der juristischen Ausbildung (a)) und des privatrechtswissenschaftlichen Feldes (b)) haben ebenfalls Anteil an der Langlebigkeit der Leiterzählung. a) Eigenarten der juristischen Ausbildung Der Rolle der juristischen Ausbildung muss dabei in der Analyse besondere Aufmerksamkeit zukommen. Wie im Folgenden näher ausgeführt wird, haben Struktur und Ausrichtung des Jurastudiums ebenfalls großen Anteil daran, dass das freiheitlich-individualistische Privatrechtsverständnis trotz aller von der Rechtswissenschaft unternommenen Modifikations- bzw. Widerlegungsversuche von Generation an Generation überliefert wird. Verschiedene Aspekte prägen die Ausbildung: In ihr findet sich das Ideal des Einheitsjuristen wieder.149 Jeder Jurist soll sich am Ende der Ausbildung im Pri147
Butler, Haß spricht. Zur Politik des Performativen, 2006, S. 69. Foucault, Archäologie des Wissens, 17. Aufl. 2015, S. 39, abgeschwächt S. 68. 149 Böning ZDRW 3 (2014), 195 (199); Gutmann in Hilgendorf/Schulze-Fielitz (Hrsg.), Selbstreflexion der Rechtswissenschaft, 93 (99); Hassemer/Kübler, Gutachten zum 58. DJT, E 36, 63; Trute in Bork (Hrsg.), Prüfungsforschung, 44 (49 f.); Wrase Zs. f. Rechtssoz. 2006, 289 (297); noch weitgehender vom Ideal eines „Rechtsingenieur[s] mit der Befähigung zum Richteramt“ sprechend Krüper in Brockmann/Pilniok (Hrsg.), Studieneingangsphase in der Rechtswissenschaft, 274 (278). 148
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vatrecht, öffentlichen Recht und Strafrecht auskennen. Spezialisierungen sind nur im Rahmen der universitären Schwerpunktbereiche vorgesehen. Auf den Unterricht an den juristischen Fakultäten wirkt sich dies insofern aus, als dass die Lehre sich gezwungen sieht, den Stoff „in der Breite statt in der Tiefe“150 zu vermitteln. Ein solches Vorgehen ist nur verständlich, möchten sich die Lehrenden nicht dem Vorwurf ausgesetzt sehen, schlecht auf die für das berufliche Vorankommen so bedeutende juristische Prüfung vorzubereiten. Außerdem zeichnet sich die juristische Ausbildung durch eine starke Staatsbeteiligung aus.151 Die Prüfungsordnungen der Bundesländer geben die Inhalte der Ersten und Zweiten Juristischen Prüfung vor. Da es auch nach dem Selbstverständnis der Fakultäten zu ihren Hauptaufgaben zählt, die Studierenden auf die Erste Juristische Prüfung vorzubereiten,152 ist ihnen ein Großteil des Curriculums bereits vorgegeben.153 Schließlich spiegelt sich in der juristischen Ausbildung der für die Rechtswissenschaft charakteristische Praxisbezug wider.154 Bei der Rechtswissenschaft handelt es sich um eine „Professionswissenschaft.“155 Das Studium soll das Wissen vermitteln, das in Vertiefung der prozessualen Kenntnisse während des Referendariats zum Richteramt befähigt.156 Damit einher geht eine Dogmatik-Zentrierung der Lehre.157 Ihr Hauptaugenmerk ist darauf gerichtet, Studierenden Fachkenntnisse zu vermitteln, die sie zur Rechtsanwendung, insbesondere zur Falllösung, befähigen sollen. Nicht nur die gelehrten Inhalte, sondern auch die Art der Fragestellung orientiert sich an der Rechtsan-
150 In Anlehnung an Wissenschaftsrat, Perspektiven der Rechtswissenschaft in Deutschland, Drs. 2558-12, 2012, S. 59. 151 S. etwa Kötz in Undogmatisches, 275; Lagodny in Warto u. a. (Hrsg.), Rechtsdidaktik – Pflicht oder Kür?, 51 (53 f.); Wrase Zs. f. Rechtssoz. 2006, 289 (297). 152 S. nur Kuntz AcP 219 (2019), 254 (278). 153 S. Hufen ZDRW 2013, 5 (11); Repgen in Brockmann/Pilniok (Hrsg.), Prüfen in der Rechtswissenschaft, 23. – Dabei sollen die Vorzüge der staatlichen Abschlussprüfungen, allen voran das Streben nach Chancengleichheit, nicht in Abrede gestellt werden. S. hierzu Trute in Bork (Hrsg.), Prüfungsforschung, 44 (65 ff.). 154 Vom Praxisbezug zu unterscheiden sind Möglichkeiten, praktische Erfahrung im Umgang mit Recht bereits in der Ausbildung zu sammeln. Ansätze einer Integration von Formaten wie Moot Courts oder Law Clinics zeigen sich verstärkt in den letzten Jahren, s. Hannemann in Astleitner u. a. (Hrsg.), Rechtsdidaktik zwischen Theorie und Praxis, 254 ff. 155 Gutmann JZ 2013, 697; „Anwendungswissenschaft“ – Bleckmann KJ 2016, 305 (306). 156 Zum rechtlichen Rahmen, s. § 5 Abs. 1 1. HS DRiG: „Die Befähigung zum Richteramt erwirbt, wer ein rechtswissenschaftliches Studium an einer Universität mit der ersten Prüfung und einen anschließenden Vorbereitungsdienst mit der zweiten Staatsprüfung abschließt“ sowie bspw. § 1 Abs. 1 HmbJAG: „Die juristische Ausbildung dient der Vorbereitung auf alle juristischen Berufe.“ – Zwar gibt es inzwischen innerhalb der juristischen Ausbildung Ansätze einer Differenzierung. Die Abschlüsse des Diplom-Wirtschaftsjuristen, LL.B. und LL.M. werden vermehrt an deutschen Hochschulen angeboten und die Fachhochschulen erweitern ihr Angebot juristischer Studiengänge. Aber der klassische Weg der beiden juristischen Prüfungen ist immer noch der am häufigsten eingeschlagene. 157 S. unten Kap. 2. II. 2. b) bb) (3) (a).
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wendung.158 Der Befähigung zu rechtstheoretischer Reflektion – und damit auch zu der Reflektion über den Charakter des Rechts an sich und den einzelner Rechtsgebiete – kommt in der Folge in der Lehre ein untergeordneter Stellenwert zu.159 Die drei genannten Aspekte – Stoffmenge, staatlicher Einfluss, Praxisbezug – tragen dazu bei, dass einerseits in der Lehre wenig Zeit dafür verleibt, Grundlagen zu vermitteln, andererseits wenig Anreiz für Studierende besteht, sich mit alternativen Privatrechtsverständnissen zu beschäftigen und hierzu eine eigene Haltung zu entwickeln.160 Hinzu kommt, dass die Curricula einer strikten Unterscheidung zwischen Privatrecht, Öffentlichem Recht und Strafrecht folgen.161 Unter diesen Bedingungen ist es einfacher und effizienter, in Vorlesungen auf tradierte Erklärungen zum Selbstverständnis des Privatrechts zu verweisen, als auf neue, abweichende und bisweilen irritierende Ansätze einzugehen oder die Bezüge zwischen den einzelnen Rechtsgebieten hervorzuheben.162 Auf diese Art und Weise wird den Studierenden ein „spezifische[r] Kanon an traditioneller Theorie, Denkmodellen und Fragestellungen“163 vermittelt und die Leiterzählung fortgetragen.164 Die ökonomische Analyse des Rechts, die das Regulierungspotenzial des Privatrechts verdeutlicht, oder die Rechtstheorie, die ein Licht auf die über den Interessenausgleich zwischen Privaten hinausgehenden Funktionen des Privatrechts wirft, werden nicht als Gegenstand des grundständigen Lehrauftrags, sondern als Ergänzung verstanden.165 Sie sind dann auch eher Gegenstand von Wahlveranstaltungen. Dieser Befund fügt sich in die Beobachtungen zum Zustand der Rechtswissenschaft ein:166 Häufig wird kritisiert, dass Dogmatik und Grundlagen in der 158 Trute in Bork (Hrsg.), Prüfungsforschung, 44 (64); krit. Kötz in Undogmatisches, 274 (277); Krüper in Brockmann/Pilniok (Hrsg.), Studieneingangsphase in der Rechtswissenschaft, 274 (280); Kuntz AcP 219 (2019), 254 (278 f.). 159 Krüper in Brockmann/Pilniok (Hrsg.), Studieneingangsphase in der Rechtswissenschaft, 274 (276) sowie Wrase Zs. f. Rechtssoz. 2006, 289 (297). 160 Die geringe Nachfrage lässt sich u. a. daran ablesen, dass lediglich 3 % bis 6 % der Studierenden ein Grundlagenfach zum Wahlfach in der Ersten Juristischen Prüfung wählen, s. Sörgel, Die Implementation der Grundlagenfächer in der Juristenausbildung nach 1945, 2014, S. 209 ff., insbes. S. 256. 161 Hellgardt ZDRW 2020, 199 (206 ff.). 162 Zum letztgenannten Aspekt s. ebd., 207. 163 Sieg in Fröhlich/Rehbein (Hrsg.), Bourdieu Handbuch, 264 (266 f.). 164 Hierzu Manz/Wolff ZDRW 2021, 97 (105). 165 Vgl. ebd., 106 f. 166 S. Wissenschaftsrat, Perspektiven der Rechtswissenschaft in Deutschland, Drs. 2558-12, 2012 und anschließende Debatte mit Beiträgen u. a. von Bleckmann KJ 2016, 305; Funke/ Lachmayer (Hrsg.), Formate der Rechtswissenschaft, 2017 (zur rechtswissenschaftlichen Kommunikation); Gutmann JZ 2013, 697 ff.; Hillgruber JZ 2013, 700 ff.; Hufen ZDRW 2013, 5 ff.; Lorenz JZ 2013, 704 ff.; Rixen JZ 2013, 708 ff.; Stolleis JZ 2013, 712 ff.; lösungsorientiert Krüper in Brockmann/Pilniok (Hrsg.), Studieneingangsphase in der Rechtswissenschaft, 274 (297 ff.).
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Lehre nicht ausreichend verzahnt sind.167 Dabei mag es sich um eine Pauschalierung handeln, die den durchaus vorhandenen Beispielen einer Lehre, welche dogmatische Kenntnisse und Grundlagenwissen zu verknüpfen versteht, nicht genügend Beachtung schenkt. Doch ist das gewünschte stärkere Ineinandergreifen von Dogmatik und Grundlagen schwer zu erreichen, wenn die Menge des prüfungsrelevanten Stoffes eine Vertiefung in der Sache verhindert. Des Weiteren kann der Befund ein Zeichen für eine tiefere Divergenz zwischen juristischer Lehre und juristischer Forschung sein. Mangels belastbarer empirischer Daten kann auch hier nur gemutmaßt werden: Aber es scheint, als ob Rechtswissenschaftler in der Lehre kaum auf die eigene Forschung eingehen. Angesichts der Richterinnenorientierung der Ausbildung geht es primär darum, Studierende mit der Rechtsprechung und herrschenden Meinung zu einem Thema vertraut zu machen. Dieser Umstand könnte miterklären, wieso sogar Personen in der Rechtswissenschaft, die selbst ein Privatrechtsverständnis an den Tag legen, das nicht der freiheitlich-individualistischen Leiterzählung entspricht, ihr eigenes Verständnis noch nicht als vorherrschend empfinden. Denn sobald sie den Hut des Lehrenden aufsetzen, schwächen sie ihre eigene Position ab und verweisen selbst auf tradierte Erklärungen, wie sie die Leiterzählung liefert. Die Erwartungen an die juristische Lehre übertragen sich auf die Erwartungen, die an die Qualifikation der Lehrenden gestellt werden. Es wird zwar als wünschenswert erachtet, dass Lehrende rechtstheoretische Kenntnisse aufweisen und über diesen Zugang zum Recht ihr eigenes Privatrechtsverständnis reflektieren. Bei der Besetzung von Lehrstühlen ohne expliziter Grundlagen orientierung ist aber die Fähigkeit, den Rechtsstoff systematisieren und damit einer dogmatischen Erfassung zugänglich machen zu können, (zu Recht) von größerer Bedeutung.168 Dementsprechend muss sich der wissenschaftliche Nachwuchs zu der Frage „Welches Privatrechtsverständnis pflegst Du?“ nicht zwingend positionieren. Eine eingehendere Reflektion über die Aussagekraft der Leiterzählung für die persönliche Lehr- und Forschungsagenda ist nicht erforderlich und wird auch nicht erwartet. b) Eigenarten des privatrechtswissenschaftlichen Feldes Die vorangegangenen Ausführungen hinsichtlich der juristischen Ausbildung weisen darauf hin, dass die Strukturen des Feldes Privatrechtswissenschaft den Fortbestand der Leiterzählung begünstigen. Hierfür sollen zunächst die für die
167 Auer, Zum Erkenntnisziel der Rechtstheorie, 2018, S. 8; Grundmann JZ 2013, 693 (695); Gutmann JZ 2013, 697 (699); Uwe Meyer in Brockmann/Dietrich/Pilniok (Hrsg.), Exzellente Lehre im juristischen Studium, 107 ff.; Stolleis JZ 2013, 712 (713). 168 So auch der nicht wertende Befund von Gutmann in Hilgendorf/Schulze-Fielitz (Hrsg.), Selbstreflexion der Rechtswissenschaft, 93 (115); Kuntz AcP 219 (2019), 254 (279).
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folgende Analyse zentralen Begriffe Feld und Habitus erklärt werden (aa)), bevor sich die Untersuchung speziell der Privatrechtswissenschaft zuwendet (bb)). aa) Einführung in Feld und Habitus Bei einer Untersuchung, weshalb sich innerhalb einer Wissenschaft ein Verständnismodell besser als andere durchzusetzen vermag, stößt man früher oder später auf wissenschaftssoziologische Erklärungsansätze. Die Wissenschafts soziologie erkundet als Subdisziplin der Soziologie „wie […] die Produktion, Verbreitung und Geltung gesicherten Wissens möglich“169 ist. Da es sich bei der Rechtswissenschaft um eine normative Wissenschaft handelt, die einem Zugang über den binären Code von wahr/falsch nur begrenzt zugänglich ist,170 lässt sich zwar schwer von „gesichertem“ Wissen, wohl aber von „anerkanntem“ Wissen sprechen. So kann aus dem Blickwinkel der Wissenschaftssoziologie gefragt werden, welche soziologischen Aspekte dazu beitragen, dass sich die Leiterzählung als „anerkanntes“ oder tradiertes Wissen zu halten vermag. Hierfür lohnt es, aus dem breiten Theorieangebot171 im Besonderen auf die Arbeiten von Bourdieu172 und die für seine Analysen zentralen Konzepte von Feld und Habi tus einzugehen.173 169
Maasen u. a. in dies. (Hrsg.), Handbuch Wissenschaftssoziologie, 9 (10). können etwa mit Hilfe rechtssoziologischer Methoden falsifizierbare Aussagen etwa darüber getroffen werden, ob ein Gesetz befolgt wird; grds. zeichnet sich das Recht aber durch seine Codierung Recht/Unrecht aus (s. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1995, S. 61). 171 S. etwa die Arbeiten von Merton, Entwicklung und Wandel von Forschungsinteressen. Aufsätze zur Wissenschaftssoziologie, 1985; Parsons/Platt, Die amerikanische Universität. Ein Beitrag zur Soziologie der Erkenntnis, 1990, die ebenfalls für eine Analyse der Rechtswissenschaft fruchtbar gemacht werden können. 172 Mit Fokus auf dem Wissenschaftsbetrieb Bourdieu, Vom Gebrauch der Wissenschaft. Für eine klinische Soziologie des wissenschaftlichen Feldes, 1998; ders./Passeron, Die Erben. Studenten, Bildung und Kultur, 2007; Bourdieu, Homo academicus, 6. Aufl. 2014. – Nicht vertieft wird auf Bourdieus Aussagen eingegangen, die er speziell im Hinblick auf das juridische Feld getätigt hat (s. etwa Bourdieu Actes de la Recherche en Sciences Sociales 1986, 3 ff.; in englischer Übersetzung ders. Hastings L. J. 38 [1987], 814 ff.; ders. in Chazel/Commaille (Hrsg.), Normes juridiques et régulation sociale, 95 ff.). Dort geht es primär um eine praxistheoretische Erklärung der juristischen Entscheidungsfindung („droit de dire le droit“ [ders. Actes de la Recherche en Science Sociales 1986, 3 [4]) und das rechtswissenschaftliche Feld wird nur auf dieses Erkenntnisziel hin untersucht (ebd., 6 ff.). Zudem basiert Bourdieus Rechtsverständnis auf Annahmen und Behauptungen, die zumindest für die deutsche Rechtsordnung nicht vollständig zutreffend sind, vgl. Kerkemeyer ARSP 2019, 301 (307 f.); Villegas Droit et société 2004, 57 (58, 67); hierzu außerdem Morlok/Kölbel Rechtstheorie 32 (2001), 289 ff.; Nour in Buckel/Christensen/Fischer-Lescano (Hrsg.), Neue Theorien des Rechts, 179 ff.; Wrase in Pilniok/Brockmann (Hrsg.), Die juristische Profession und das Jurastudium, 41 ff.; hingegen mit dem hier verfolgten Fokus auf die Rechtswissenschaft Böning ZDRW 2014, 195 ff.; Kuntz AcP 219 (2019), 254 (274 ff.); Sow RphZ 5 (2019), 142 ff. 173 Auch hier sei allerdings darauf verwiesen, dass sich die anschließende Analyse der wissenschaftssoziologischen Forschung lediglich in Anleihen bedient. Wie schon bei der Diskursanalyse (s. Kap. 2. II. 1. a)) wird nicht das ganze Programm einer Disziplin übernommen, 170 Zwar
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Mit Feld bezeichnet Bourdieu den „ausdifferenzierten sozialen Raum […], in welchem Praktiken aktualisiert und erzeugt werden“174 und sich die Feldteilnehmer in Machtbeziehungen begegnen. Die Machtunterschiede zwischen den Feldteilnehmern liegen darin gegründet, dass sie über unterschiedlich viel Kapital verfügen, wobei Kapital hier nicht rein ökonomisch, sondern auch sozial und kulturell zu verstehen ist. Ein Feld zum Forschungsobjekt zu wählen ist deshalb gewinnbringend, weil sich mit der Unterteilung des menschlichen Zusammenlebens in verschiedene Felder diese gegeneinander abgrenzen und somit die Unterschiede wie Gemeinsamkeiten der Bereiche herausarbeiten lassen. So kann die Analyse darauf fokussiert werden, ob die für ein Feld spezifischen Gegebenheiten das Verhalten der Feldteilnehmer beeinflussen oder allgemeinere Kräfte am Werk sind. Mit Habitus bezeichnet Bourdieu ein „System von in der Beziehung zu einem Feld erworbener Dispositionen“175 , an denen die Feldteilnehmer ihr Verhalten ausrichten. Löst man sich von den soziologischen Fachtermini, so umfasst Habitus eine ganze Reihe von Einstellungen und Verhaltensweisen, die der einzelne Feldteilnehmer von anderen Feldteilnehmern bewusst oder unbewusst übernimmt.176 Hierzu gehören etwa Sprachstil, Themenwahl beim Smalltalk, oder auch das äußere Erscheinungsbild. Eine Analyse, die sich der Konzepte Feld und Habitus bedient, ist aus zweierlei Gründen gewinnbringend: Erstens fördert sie die Einsicht, dass das soziale Feld das Denken und Verhalten der Feldteilnehmer prägt. Zweitens schärft sie das Bewusstsein dafür, dass die Übernahme gängiger Denk- und Verhaltensweisen dazu beiträgt, dass die Feldteilnehmer die Machtstrukturen des Feldes als legitim erachten. Mit Hilfe der bourdieuschen Feldanalyse lässt sich dann auch die Privatrechtswissenschaft als sozialer Raum in den Blick nehmen. sondern mit punktuellen Einsichten gearbeitet. Das liegt zum einen daran, dass mein Wissen über die soziologischen Methoden und Streitstände begrenzt ist. Eine fundierte empirische Erhebung über Herkunft und Werdegang des privatrechtswissenschaftlichen Personals sowie seine Vernetzung untereinander kann hier nicht geleistet werden und bleibt als Forschungsdesiderat bestehen. Zum anderen liegt es aber auch daran, dass die einseitige Ausrichtung von Bourdieus Feldanalyse auf die Machtverhältnisse innerhalb eines Feldes zu Fehldeutungen führen kann. Machterwägungen mögen beeinflussen, welchen Verlauf Wissenschaft nimmt; gänzlich erklären können sie ihn nicht. So finden sich dann auch abweichende, aber nicht weniger einflussreiche Vorstellungen über den Wissenschaftsverlauf etwa bei Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 2. Aufl. 1976 oder Merton in Entwicklung und Wandel von Forschungsinteressen, 33 ff. 174 So die präzise Beschreibung bei Dörfler/Graefe/Müller-Mahn Geographica Helvetica 2003, 11 (16); ursprünglich Bourdieu in Der Tote packt den Lebenden, 55 (62 ff.). 175 Bourdieu in Rede und Antwort, 111 (115); ausführlich ders. in Der Tote packt den Lebenden, 55 (57 ff.). 176 „Set von Überzeugungen und Regeln […], das […] in Fleisch und Blut übergegangen ist‘“ – Maiwald in Pilniok/Brockmann (Hrsg.), Die juristische Profession und das Jurastudium, 11 (27); „Eine Art psychosomatisches Gedächtnis“ – Wrase in Pilniok/Brockmann (Hrsg.), Die juristische Profession und das Jurastudium, 41 (51).
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bb) Feldspezifische Beharrungsmechanismen Bei einer Feldanalyse zeigt sich allerdings, dass die institutionellen Arrangements der Privatrechtswissenschaft nicht zum Fortbestand der privatrechtlichen Leiterzählung beitragen ((1)). Besonderheiten der personellen Zusammensetzung der Privatrechtswissenschaft ((2)) sowie ein in der Privatrechtswissenschaft anzutreffendes Verständnis, das Recht mehr als systematisierbare Materie denn als gewachsene Kulturerscheinung versteht ((3)), stützen hingegen die Leiterzählung. (1) Institutionelle Rahmenbedingungen Wenn das soziale Feld Einfluss auf das Verhalten und die Einstellung der Feldteilnehmer hat, lässt sich die Hypothese aufstellen, dass die Organisation der Privatrechtswissenschaft einen Anteil am Fortbestand der Leiterzählung hat. Eine Untersuchung des rechtswissenschaftlichen Feldes, konkret der privatrechtswissenschaftlichen Forschungseinrichtungen und ihrer Finanzierung sowie der Zivilrechtslehrervereinigung, bestätigen die Hypothese allerdings nicht. Die institutionellen Rahmenbedingungen begünstigen eher eine Abkehr von der Leiterzählung und die Hinwendung zu Privatrechtsverständnissen, die sich vom freiheitlich-individualistischen Privatrechtsverständnis abgrenzen. Ein Großteil der privatrechtlichen Forschung findet statt an den 46 juristischen Fakultäten177 und den Max-Planck-Instituten mit privatrechtlicher Ausrichtung, d. h. insbesondere am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, dem Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern sowie dem Max-Planck-Institut für Immaterialgüter- und Wettbewerbsrecht. Daneben gibt es privatrechtliche Lehrstühle an den Fachhochschulen, deren Inhaber neben der Lehre in der Forschung tätig sind. Zusätzlich bringen sich Anwaltschaft, Notariat und Justiz mittels Veröffentlichungen und Vorträgen in die Forschungsgespräche ein. Ein Blick auf die Struktur der Privatrechtswissenschaft, der bei einer Analyse des Organigramms der Privatrechtswissenschaft verbleibt, lässt keine Rückschlüsse auf den anhaltenden Erfolg der Leiterzählung zu. Ist dieses Bild vielleicht zu korrigieren, wenn man den selten verschriftlichten178 Faktor der Forschungsreputation miteinbezieht? Dieser misst, welches Ansehen die eigene Zunft einzelnen Einrichtungen bezüglich der dort unternommenen Forschung
177 Der Deutsche Juristen-Fakultätentag listet 45 Hochschulen (https://www.djft.de/derdjft/, letzter Abruf: 8.2.2022) hinzu kommt die 2021 ins Leben gerufene Fakultät der BSP Business&Law School in Berlin. 178 So auch die Beobachtung für die Staatsrechtslehre von Schulze-Fielitz in Staatsrechtslehre als Mikrokosmos, 187 (189).
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zuspricht.179 Über die Zeit kann eine Forschungsinstitution ein selbständiges Ansehen entwickeln, das sich auf das individuelle Ansehen der einzelnen, in ihr vertretenen Forschenden übertragen kann.180 So lassen sich dann auch in der Privatrechtswissenschaft Institutionen ausmachen, denen ein besonders hohes Ansehen oder gemäß Bourdieu „Sozialkapital“181 zukommt. Dies sind zum einen die genannten Max-Planck-Institute, die sich mit besonderer Ausstattung und klar konturierten Forschungsagenden voll und ganz der Forschung widmen können, sowie die Fakultäten der LMU München, der Universität Freiburg, der Universität Bonn, der Humboldt-Universität Berlin und der Universität Heidelberg.182 Die als besonders renommiert geltenden rechtswissenschaftlichen Forschungsinstitutionen lassen sich mit den Wirkstätten der Personen abgleichen, denen eine Nähe zur Leiterzählung zugeschrieben wird.183 Dabei zeigt sich, dass an besagten Institutionen keine der Personen als Professor tätig war. Weder Diederichsen noch Zöllner, Reuter oder Picker waren auf Lehrstühle an den genannten Instituten oder Fakultäten berufen. Eine Korrelation zwischen der institutionalisierten Reputation der Fakultäten und dem Fortbestand der Leiterzählung besteht demnach nicht. Genauso wenig lassen sich belastbare Aussagen darüber treffen, dass die Zivilrechtslehrervereinigung Einfluss auf die Tradierung der Leiterzählung nimmt. Dem Verein kommt große Bedeutung für die Organisation der Zivilrechtswissenschaft im deutschsprachigen Raum zu. Nach eigenem Bekunden ist sein Zweck, „wissenschaftliche und rechtspolitische Ziele, nicht hingegen 179 S. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 1992, S. 245 ff.; Schulze-Fielitz in Staatsrechtslehre als Mikrokosmos, 187 (188 ff.); ähnlich Klausa KZfSS 30 (1978), 321. 180 S. Weingart in Hilgendorf/Schulze-Fielitz (Hrsg.), Selbstreflexion der Rechtswissenschaft, 185 (190); vgl. auch Klausa KZfSS 30 (1978), 321 (322) und passim; für die Staatsrechtslehre Schulze-Fielitz in Staatsrechtslehre als Mikrokosmos, 187 (191 f.) – Trotz der nicht zu bestreitenden Relevanz von Reputation innerhalb des Wissenschaftsbetriebs ist ein umsichtiger Umgang mit der Thematik in der weiteren Untersuchung angezeigt. Erstens handelt es sich bei Reputation um einen nur in Grenzen objektivierbaren Begriff, s. ebd., (199). Zweitens lassen sich Beobachtungen zur Reputation einer rechtswissenschaftlichen Institution bzw. Rechtswissenschaftlerin methodisch nur auf wenige Quellen stützen, s. ebd., (191). 181 „Das Sozialkapital ist die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind“ – Bourdieu in Kreckel (Hrsg.), Soziale Ungleichheiten, 183 (190); ferner ders., Homo academicus, 6. Aufl. 2014, S. 132 ff. 182 Diese fünf Fakultäten wurden von CHE auf der Datenbasis von 2014, als noch eine Professorenbefragung zum Thema Forschungsreputation erhoben wurde, als einflussreichste Fakultäten genannt (e-fellows.net, Recht richtig gewählt, https://www.e-fellows.net/e-fellows. net-Stipendium/Infos-speziell-fuer/Juristen/Wissen-fuer-Juristen/Jurastudium-Empfeh lungen, letzter Abruf: 8.2.2022). Laut einer 1978 veröffentlichten Befragung von Hochschullehrern wurden die Fakultäten in München, Tübingen, Freiburg, Bonn und Göttingen als in Westdeutschland führend angesehen (Klausa, Die Prestigeordnung juristischer Fakultäten in der Bundesrepublik und den USA, KZfSS 30 [1978], 321 [334]). 183 S. Kap. 1. V. 1.
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Kapitel 2: Erklärungen für die Beharrungskraft der Leiterzählung
standespolitische“184 zu verfolgen. Hierzu veranstaltet er alle zwei Jahre Tagungen, auf denen Referate zu einem oder mehreren Themen gehalten werden, die der Vorstand der Vereinigung zuvor festgesetzt hat. Über die Wahl der Themen kann die Zivilrechtslehrervereinigung steuernd auf die generelle Forschungsagenda einwirken. Sie kann als relevant erachtete Themen in den Fokus der Betrachtung rücken oder methodologische Impulse geben. Das bedeutet zugleich, dass die Wahl zum Vorstandsmitglied, allen voran zum Vorsitzenden, mit großem Prestige verbunden ist. Vor diesem Hintergrund könnte man wiederum die Hypothese aufstellen, dass die Zivilrechtslehrervereinigung über die Auswahl ihrer Vorstandsmitglieder sowie die Bestimmung der Tagungsthemen die Überlieferung eines freiheitlich-individualistischen Privatrechtsverständnisses begünstigt hat. Allerdings liefert eine Untersuchung der Zusammensetzung des Vorstands und der Tagungsthemen hierfür keine Beweise. Es lässt sich nicht ausmachen, dass diejenigen, denen die Leiterzählung zugeschrieben wird, als Mitglieder oder Vorsitzende der Zivilrechtslehrervereinigung besonderen Einfluss auf deren Agenda genommen haben. Zwar standen Zöllner von 1981–1987185 und Honsell von 1999–2001186 der Zivilrechtslehrervereinigung als Vorsitzende vor und waren Rittner von 1971–1975 und Picker von 1991–1995 Vorstandsmitglieder.187 Doch waren auch Professoren Vorstandsmitglieder, deren Arbeiten als Belege von Privatrechtsverständnissen angeführt wurden, die alternative Entwürfe zur Leiterzählung anbieten.188 So stand Karsten Schmidt der Vereinigung von 1993– 1997189 vor und Wagner hatte den Vorsitz 2015–2019190 inne.191 Man kann mithin nicht behaupten, dass es von Vor- oder Nachteil für eine Wahl zum Vorstandsmitglied durch die Mitgliederversammlung ist, wenn das eigene Werk der Leiterzählung zugerechnet wird. Auch in den gewählten Tagungsthemen zeichnet sich keine Nähe zur Leiterzählung ab. Unter den veröffentlichten Referaten, die beispielshalber aus den Tagungen im Zeitraum zwischen 1999 und 2019 hervorgegangen sind, finden sich einflussreiche Texte, die für Methodenvielfalt eintreten,192 einen selbstverständlichen Umgang mit den europarechtli184 http://www.zivilrechtslehrervereinigung.de/index.php?id=9 (letzter Abruf: 8.2.2022); ebenso § 1 Abs. 1 Satzung der Zivilrechtslehrervereinigung e. V. (Stand: 21.12.2009): „Der Verein dient der Pflege und Vertiefung der Zivilrechtswissenschaft“. 185 Vorstandsmitglied war er bereits ab 1975. 186 Vorstandsmitglied war er bereits ab 1991. 187 http://www.zivilrechtslehrervereinigung.de/fileadmin/PDF/Geschichte/Vorstands entwicklung_1951-2017_Internet.pdf (letzter Abruf: 8.2.2022). 188 S. Kap. 1. VI. 189 Seine Mitgliedschaft im Vorstand begann 1985. 190 Er gehört dem Vorstand seit 2007 an. 191 http://www.zivilrechtslehrervereinigung.de/fileadmin/PDF/Geschichte/Vorstands entwicklung_1951-2017_Internet.pdf (letzter Abruf: 8.2.2022). 192 Auer AcP 216 (2016), 239 (248 ff.); Stürner AcP 214 (2014), 7 (30 ff.).
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chen Bezügen im Privatrecht pflegen193 oder die verhaltenssteuernde194 bzw. gemeinwohlorientierte195 Funktion des Privatrechts in den Blick nehmen. Mit der nötigen Vorsicht soll aber auf einen anderen Aspekt hingewiesen werden: Innerhalb der Privatrechtswissenschaft gibt es eine beträchtliche Binnendifferenzierung. So unterscheiden sich die Feldteilnehmer in ihrer Methode. Einige verfolgen einen stärker theoretischen, geschichtlichen oder soziologischen, die Mehrzahl einen dogmatischen Ansatz. Differenzierungen lassen sich aber auch im Hinblick auf den Forschungsgegenstand benennen: Diskurse im Vertrags-, Sachen-, Delikts-, Familien-, Erb-, Verbraucherschutz-, Nichtdiskriminierungs-, Gesellschafts-, Handels-, Kapitalmarktrecht, etc. verlaufen weitgehend unabhängig voneinander und es gibt wenige Personen, die in mehreren Unterdiskursen parallel Autorität genießen. Diese Beschreibung der Privatrechtswissenschaft dürfte weitgehend anerkannt sein. Kontroverser ist schon die Einschätzung, dass es eine Reputationshierarchie196 bei der Forschung in den einzelnen privatrechtlichen Unterdisziplinen gibt. In der Breite betrachtet (und die immer bestehenden Ausnahmen einmal ausgeklammert) dürfte das größte Ansehen beim Vertragsrecht sowie beim Delikts- und Sachenrecht liegen.197 Eine intensive Beschäftigung mit dem Familienrecht hingegen wird selbst von Personen, die auf dem Gebiet forschen, als „greifbarer RenomméeNachteil“ empfunden.198 Die Rangfolge im Ansehen der Unterdisziplinen weist Parallelen zur Bedeutung der Leiterzählung für diese Unterdisziplinen auf: Die freiheitlich-individualistische Konzeption vermag das „klassische“ Vertragsrecht, bei dem Aspekte des Schwächeren- oder Minderheitenschutzes in Sonderprivatrechte des Verbraucherschutzes oder des Nichtdiskriminierungsrechts ausgelagert sind, gut zu erfassen. Sie ist allerdings weniger überzeugend in ihrer Beschreibung der privatrechtlichen Gebiete, bei der neben der Gewähr eines Interessenausgleichs zwischen Privaten andere Funktionen eine bedeutende Rolle spielen. Das Abstammungsrecht etwa lässt sich nur mit Hinweis auf seine Ordnungs193 Bachmann AcP 210 (2010), 424 ff.; Grünberger AcP 218 (2018), 213 (216 ff.); Gsell AcP 214 (2014), 99 ff.; Stadler AcP 212 (2012), 473 ff. 194 Dauner-Lieb AcP 210 (2010), 580 (593 ff.); Grundmann AcP 212 (2012), 502 ff.; Klöhn AcP 216 (2016), 281 ff.; Wagner AcP 206 (2006), 352 ff. 195 S. insbes. die Veröffentlichungen anlässlich der Zivilrechtslehrertagung 2019 von Habersack AcP 220 (2020), 594 ff.; Roth AcP 220 (2020), 458 ff.; Schumann AcP 220 (2020), 701 ff.; Schweitzer AcP 220 (2020), 544 ff. und zum österreichischen Mietrecht von Kletečka AcP 220 (2020), 674 ff.; zuvor Harm Peter Westermann AcP 208 (2008), 141 ff. 196 Schulze-Fielitz in Staatsrechtslehre als Mikrokosmos, 187 (187, 189). 197 Ein Indiz dafür ist, dass für gewöhnlich Referate, die sich schwerpunktmäßig mit diesen Rechtsgebieten befassen, zu Beginn der Tagungen der Zivilrechtslehrervereinigung gehalten werden und ihnen Referate aus den Bereichen des Familien-, Erb- oder Gesellschaftsrechts folgen. 198 Röthel in Duve/Ruppert (Hrsg.), Rechtswissenschaft in der Berliner Republik, 579 (596).
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funktion erklären.199 Bei einer Beschreibung des Verbraucherschutzrechts hat eine Auseinandersetzung mit dem Schwächerenschutz zu erfolgen, die durchaus kritisch ausfallen kann.200 Und eine Darstellung des Nichtdiskriminierungsrechts muss auf die Bezüge des Rechtsgebiets zum Gleichheitssatz eingehen.201 Das Verhältnis zwischen Rangfolge im Ansehen der Unterdisziplinen und der Überzeugungskraft eines freiheitlich-individualistischen Privatrechtsverständnisses lässt sich auf folgenden Nenner bringen: Je mehr eine Unterdisziplin im Einklang mit der Leiterzählung steht, desto größeres Ansehen genießt die Unterdisziplin. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass die Unterdisziplinen, die für eine sinnhafte Beschreibung auf weitergehende Begründungen angewiesen sind, geringeres Ansehen genießen oder als randständig wahrgenommen werden. Personen, die in diesen Untergebieten forschen, haben es demnach schwerer, sich eine herausgehobene Reputation bzw. ein hohes Sozialkapital 202 innerhalb der Privatrechtswissenschaft als Ganzer zu erarbeiten. Die vorangegangenen Ausführungen bezogen sich auf die Verteilung des Sozialkapitals innerhalb der Privatrechtswissenschaft. Doch wie sieht es mit dem ökonomischen Kapital aus? Gibt es für die Forschenden finanzielle Anreize, die Leiterzählung fortzutragen? Wenn sich hier überhaupt Aussagen treffen lassen, so scheint eher das Gegenteil der Fall zu sein. Grob skizziert werden die juristischen Fakultäten an den staatlichen Universitäten zum Großteil von Bund und Ländern finanziert.203 Ein geringer Teil der Finanzierung stammt von privaten Geldgebern, die etwa mit Stiftungslehrstühlen zur Ausstattung der Fakultäten beitragen. Die Max-Planck-Institute beziehen ihre Finanzierung ebenfalls hauptsächlich aus der öffentlichen Hand.204 Die drei privaten Hochschulen mit juristischer Fakultät (Bucerius Law School, EBS Law School und BSP Business&Law School Berlin) finanzieren sich über Studiengebühren, Spenden von Stiftungen und Sponsoren sowie aus Einnahmen von Fortbildungsangeboten, wobei die EBS Law School zusätzlich durch staatliche Gelder finanziert wird.205 Dabei spielen Drittmittel, die projektbezogen von großen und kleinen Stiftungen zur Förderung der Forschung gewährt werden, auch für die Finanzierung der Privatrechtswissenschaft eine immer bedeutendere Rolle. Die 2012 vom Wissenschaftsrat veröffentlichte Studie zur 199 Dethloff in Röthel/Heiderhoff (Hrsg.), Regelungsaufgabe Mutterstellung: was kann, was darf, was will der Staat?, 19 (20); Röthel in Röthel/Heiderhoff (Hrsg.), Regelungsaufgabe Vaterstellung: Was kann, was darf, was will der Staat?, 89 (100 f.). 200 S. hierzu die Nachweise in Kap. 1 Fn. 320. 201 S. hierzu ausführlich Kap. 5. I. 1. 202 S. Kap. 2 Fn. 181. 203 https://www.hrk.de/themen/hochschulsystem/hochschulfinanzierung/ (letzter Abruf: 8.2.2022). 204 https://www.mpg.de/zahlen_fakten (letzter Abruf: 8.2.2022). 205 https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/region-und-hessen/european-businessschool-wiesbaden-wird-sitz-einer-universitaet-1817269.html (letzter Abruf: 8.2.2022).
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Situation der Rechtswissenschaft in Deutschland führt an, dass die juristischen Fakultäten 2010 je Professur fast 34.000 € eingeworben haben.206 Diese Zahl dürfte noch zugenommen haben, wenn man bedenkt, dass die Hochschulen die Finanzierung der eigenen Forschung mit fremden Mitteln nicht nur begrüßen, sondern auch anregen. Das Informationssystem der Deutschen Forschungsgemeinschaft „GEPRIS“ listet für den Zeitraum ab 2000 47 geförderte Projekte unter dem Suchbegriff Privatrecht auf;207 in der Datenbank der Volkswagenstiftung finden sich ab 2004 21 Projekte mit Bezug zur Privatrechtswissenschaft.208 Gegenüber der Förderung durch Drittmittel werden immer wieder Bedenken geäußert, dass diese auf die Ausrichtung der Forschung Einfluss nehmen könnten.209 Verschiedene Mechanismen sollen eine illegitime Einflussnahme verhindern. Art. 5 Abs. 3 GG verbürgt die Freiheit der Forschung; Parallelvorschriften finden sich in den Stiftungskodizes der Universitäten sowie den Satzungen der Max-Planck-Gesellschaft und der privaten Hochschulen.210 Nun kann man, wie Fischer-Lescano, Überlegungen anstellen, ob Drittmittel trotz dieser Sicherheitsmaßnahmen unterschwellig oder aufgrund vorauseilenden Gehorsams der Wissenschaftsgemeinde die Forschung beeinflussen.211 Für die Leiterzählung würde dies etwa bedeuten, dass sie fortgetragen wird, sofern ihre Tradierung tatsächlich oder mutmaßlich mit größeren Förderungschancen verbunden ist. Doch steht man – wie schon bei der Frage, inwiefern sich das institutionelle Ansehen auf die wissenschaftliche Arbeit auswirkt – vor dem Problem, dass sich verlässliche Daten kaum erheben lassen werden. Ein Zusammenhang zwischen Finanzierung und Förderung der Leiterzählung kann also nicht zugrunde gelegt werden. Eher deuten die Profile der großen Forschungsförderinnen Deutsche Forschungsgemeinschaft und Volkswagenstiftung im Gegenteil darauf hin, dass sie kritische und innovative Projekte für unterstützungswert erachten. Ausweislich ihrer Vergaberichtlinien werden Projekte mit originellen Fragestel206 Wissenschaftsrat, Perspektiven der Rechtswissenschaft in Deutschland, Drs. 2558-12, 2012, S. 14 und 94 f. 207 Dabei variiert die Art der Förderung von Publikationsbeihilfen bis zur Finanzierung von Sonderforschungsbereichen, s. https://gepris.dfg.de/ (Stand: 1.11.2021, letzter Abruf: 8.2.2022). 208 Eine Suche mit Eingrenzung auf das Fachgebiet „Rechtswissenschaft“ ergab 189 Treffer. Davon konnten 21 der Privatrechtswissenschaft zugeordnet werden (https://portal. volkswagenstiftung.de/search/search.do?search=_&sort=&sortDirection=&page=1; Stand: 2.11.2021, letzter Abruf: 8.2.2022). 209 S. etwa Fischer-Lescano KJ 2014, 414 (415, 422); die Kritik beschreibend Misera, Drittmittelforschung. Chancen, Risiken und Praxisprobleme, 2010, S. 17. 210 § 1 Abs. 2 Satzung der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften i. d. F. vom 28.9.2020; § 5 Abs. 2 Satzung der Bucerius Law School i. d. F. vom 2.10.2018 (zuletzt geändert am 2.10.2019). Für die EBS Law School s. Wissenschaftsrat, Stellungnahme zur Akkreditierung der EBS Universität für Wirtschaft und Recht, Wiesbaden, Drs. 2224-12, 2012, S. 28 und 58 f. 211 Fischer-Lescano KJ 2014, 414 (422 f.).
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lungen und interdisziplinären Ansätzen gesucht.212 Demnach müssten Forschungsvorhaben, die von Privatrechtsverständnissen getragen sind, welche von der Leiterzählung abweichen, nicht schlechtere, sondern bessere Förderaussichten haben als solche, die der Leiterzählung unbesehen folgen. Weder die Organisation der Privatrechtswissenschaft noch ihre Finanzierung lassen sich also als Faktoren benennen, die eindeutig dazu beitragen, dass sich die Leiterzählung hält. Vielmehr ist eine Tendenz erkennbar, dass die Institutionen Methodenvielfalt unterstützen und alternativen Privatrechtsverständnissen Raum geben möchten. (2) Personal der Privatrechtswissenschaft Des Weiteren kann das Personal der Privatrechtswissenschaft in den Blick genommen und danach gefragt werden, ob es den Erhalt der Leiterzählung begünstigt. Wie im Folgenden näher ausgeführt wird, hat der Mangel an Perspektivenvielfalt Anteil daran, dass sich ein tradiertes Privatrechtsverständnis hält ((a)). Des Weiteren fördern der sogenannte „Matthäus-Effekt“, wonach den Veröffentlichungen bereits bekannter Forscher mehr Beachtung geschenkt wird als den Veröffentlichungen von Forschern zu Beginn ihrer Karriere213 ((b)), sowie die in der Privatrechtswissenschaft mitunter anzufindende Bildung von Schulen ((c)) die Langlebigkeit der Leiterzählung. (a) Mangel an Perspektivenvielfalt Die Privatrechtswissenschaft in Deutschland ist homogen. Mit anderen Worten: Privatrechtswissenschaftler hierzulande sind überwiegend männlich, weiß und deutsch.214 Die Zivilrechtslehrervereinigung zählte im Juni 2020 842 Mitglieder215 und wies einen Frauenanteil von 13,2 % aus.216 In absoluten Zahlen ausgedrückt bedeutet dies, dass sich die Zivilrechtslehrervereinigung zu gege212 Die Schwierigkeit, für rechtsdogmatische Forschung Drittmittel einzutreiben, konstatiert Rottleuthner in Hilgendorf/Schulze-Fielitz (Hrsg.), Selbstreflexion der Rechtswissenschaft, 241 (255). 213 Merton in Entwicklung und Wandel von Forschungsinteressen, 147 (155); ausführlich s. Kap. 2. II. 2. b) bb) (2) (b). 214 Ähnlich für die gesamte Universitätsprofessorenschaft in Deutschland Möller, Herkunft zählt (fast) immer, 2015, S. 16. 215 S. Hamann AcP 221 (2021), 287 (292). 216 Ebd., 298. Zwar sind in der Vereinigung Professorinnen und Professoren aus Deutschland, Österreich und der Schweiz versammelt (hinzu kommen Professorinnen und Professoren aus dem Ausland, die enge Bezüge zu der deutschsprachigen Privatrechtswissenschaft aufweisen, s. § 4 Abs. 3 Satzung der Zivilrechtslehrervereinigung e.V. [Stand: 21.12.2009]), aber das Geschlechterverhältnis dürfte in den einzelnen Staaten ähnlich sein. – Eine Studie für die gesamte Rechtswissenschaft an den Universitäten (inkl. Juniorprofessuren) gibt den Prozentsatz der Professorinnen für 2015 mit 16,3 % an (Schultz u. a., De jure und de facto: Professorinnen in der Rechtswissenschaft, 2018, S. 166).
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benem Zeitpunkt aus 731 männlichen und 111 weiblichen Mitgliedern zusammensetzte. Weniger eindeutig lassen sich Aussagen zu Herkunft und Hintergrund der in Deutschland lehrenden Privatrechtswissenschaftler treffen. Studien, die sich explizit auf die Privatrechtswissenschaft beziehen, sind – soweit ersichtlich – nicht zugänglich. Gesichert ist aber, dass ausländische Professoren selten an den juristischen Fakultäten fest angestellt sind. Nach der Erhebung des Wissenschaftsrats lag der Anteil von ausländischen Lehrstuhlinhabern für das Fach Rechtswissenschaft im Jahr 2010 insgesamt bei 2,1 %.217 Zudem ist ermittelt worden, dass innerhalb der Rechtswissenschaft über die einzelnen Unterdisziplinen hinweg eine starke „soziale Homogenität“218 vorherrscht. So gaben bei einer Erhebung aus dem Jahr 2010 79 % der Juraprofessoren und Juraprofessorinnen an nordrhein-westfälischen Universitäten an, aus Elternhäusern zu stammen, in denen beide Elternteile über einen Hochschulabschluss verfügen.219 Diese Homogenität bringt eine Perspektivarmut mit sich.220 Das heißt nicht, dass es keine Diversität in den Forschungsansätzen oder Themen der derzeitigen Privatrechtswissenschaft gibt. Wie oben beschrieben, ist eine Vielfalt an Methoden und Sichtweisen wahrnehmbar.221 Genauso wenig impliziert der Befund, dass Privatrechtswissenschaftler (männlich) androzentrisch forschen oder Privatrechtswissenschaftlerinnen (weiblich) stets aus feministischer Perspektive auf das Recht blicken. Aber der spezifische Hintergrund einer Person, die Erfahrungen, die sie im Laufe ihres Lebens gesammelt hat, prägen ihre Sicht der Dinge. Angehörige von Minderheiten betrachten Recht aus einer anderen Perspektive als Personen, die zufällig die Merkmale der Mehrheitsgesellschaft aufweisen.222 Die Sichtweisen ersterer sind nach derzeitigem Stand unterrepräsentiert. Der Umstand, dass Frauen und/oder People of Color 223 in der Privatrechtswissenschaft deutlich weniger als in der Gesamtbevölkerung vertreten sind, hat zur Langlebigkeit der Leiterzählung beigetragen.224 Dies lässt sich besonders 217 Wissenschaftsrat, Perspektiven der Rechtswissenschaft in Deutschland, Drs. 2558-12, 2012, S. 88, wobei der Anteil an den Universitäten bei 2,8 % und an den Fachhochschulen bei 0,5 % lag. 218 Grünberger u. a., Diversität in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis, 2021, S. 32. 219 Möller, Herkunft zählt (fast) immer, 2015, S. 2 29. 220 S. nur Grünberger u. a., Diversität in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis, 2021, S. 60 ff.; ebenfalls eine Perspektiverweiterung fordernd Wissenschaftsrat, Perspektiven der Rechtswissenschaft in Deutschland, Drs. 2558-12, 2012, S. 36 f. 221 S. Kap. 1. 222 S. hierzu Crenshaw u. a. (Hrsg.), Seeing Race Again. Countering Colorblindness Across the Disciplines, 2019; ferner Grünberger u. a., Diversität in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis, 2021, S. 60 f. 223 Zur Erklärung der Begrifflichkeit sei verwiesen auf Grünberger u. a., Diversität in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis, 2021, S. 18 f. 224 Vgl. v. Bogdandy/Peters ZaöRV 81 (2021), 1 (6): „Diversity in scholarship means less
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deutlich an zwei Punkten ablesen: So hat die Annahme, dass das BGB bei seinem In-Kraft-Treten auf der Idee einer „bürgerlichen Gesellschaft von Freien und Gleichen“ gründete, bei Frauen der damaligen Zeit Befremden hervorgerufen.225 Denn sie spiegelte nicht ihre Lebenswirklichkeit wider, weil das Familienrecht des Ursprungs-BGB stark patriarchalische Züge aufwies. Bis zu den Änderungen durch das Gleichberechtigungsgesetz im Jahr 1957 legte § 1354 BGB etwa fest, dass die Entscheidungsbefugnis in ehelichen Belangen beim Mann lag, und § 1395 BGB normierte, dass die Frau zur Verfügung über eingebrachtes Gut 226 der Einwilligung ihres Mannes bedurfte. Um 1900 war die an sich von einer freiheitlich-individualistischen Grundkonzeption versprochene Möglichkeit zur Selbstentfaltung für Frauen entscheidend beschränkt. Sie waren im Familienrecht nicht als „frei und gleich“ anerkannt. In diesem praktisch wichtigen Bereich war ihre Freiheit „gebrochen.“227 Damit fanden sich Frauen in dem Narrativ, dass das BGB einem jeden Möglichkeiten zur privatautonomen Selbstverwirklichung an die Hand gebe, nicht wieder. Ähnliche Erfahrungen begegnen in jüngerer Zeit bei der Debatte um die Einführung des AGG. Anfang der 2000er Jahre gab es einige Wortmeldungen, die den Bedarf eines eigenständigen Anti-Diskriminierungsgesetzes mit Privaten als Adressaten anzweifelten.228 Personen, die aufgrund ihres Aussehens, ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung Diskriminierung am eigenen Leib erfahren haben, dürften eher geneigt sein, eine solche Gesetzgebung als relevant zu erachten, und die sich entwickelnde Rechtspraxis zum AGG mit einer anderen Grundeinstellung kommentieren. (b) Matthäus-Effekt Auch der von Merton so genannte „Matthäus-Effekt“ begünstigt den Fortbestand der Leiterzählung. Damit ist gemeint, dass „hoch angesehenen Wissenschaftlern für bestimmte wissenschaftliche Beiträge unverhältnismäßig große Anerkennungsbeträge zufallen, während solche Anerkennung Wissenschaftconsensus, more histories, more differences of opinion, and more discursive and substantive engagement.“ 225 S. hierzu etwa die kritischen Reaktionen v. a. auf den Zweiten Entwurf des BGB von Kempin in Meder/Duncker/Czelk (Hrsg.) Die Rechtsstellung der Frau um 1900, 531 ff.; Augspurg in Meder/Duncker/Czelk (Hrsg.) Die Rechtsstellung der Frau um 1900, 41 (45); Proelß/ Raschke in Meder/Duncker/Czelk (Hrsg.) Die Rechtsstellung der Frau um 1900, 691 ff. 226 Vermögen, über das die Frau bei Eheschließung verfügte oder das sie während der Ehe erwarb, ohne Vorbehaltsgut zu sein. 227 In Anlehnung an Grünberger, Personale Gleichheit, 2013, S. 88, der von „gebrochene[r] Gleichheit“ spricht. 228 Adomeit NJW 2006, 2169 ff.; Johann Braun JuS 2002, 424 f.; Lobinger in Isensee (Hrsg.), Vertragsfreiheit und Diskriminierung, 99 ff.; Picker in Egon Lorenz (Hrsg.), Karlsruher Forum 2004: Haftung wegen Diskriminierung, 7 ff.; Repgen in Isensee (Hrsg.), Vertragsfreiheit und Diskriminierung, 11 ff.; Säcker ZRP 2002, 286 ff.
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lern, die sich noch keinen Namen gemacht haben, vorenthalten wird.“229 Der Matthäus-Effekt beschreibt, wie sich personale Hierarchien, die sich mit der Zeit innerhalb einer jeden Disziplin bilden, auf die Inhalte der Forschung auswirken. Angesichts der Publikationsflut des modernen Wissenschaftsbetriebs ist es selbst für Personen mit großer Expertise ihres Faches schwer möglich, über alle Neuerscheinungen auf dem Laufenden zu bleiben. Deswegen nehmen Forschende bei der Beurteilung, ob eine Veröffentlichung lesenswert ist, das Ansehen des Autors innerhalb der Forschungsgemeinschaft als Näherung.230 Folglich ist die Wahrscheinlichkeit, dass Veröffentlichungen bemerkt und rezipiert werden, bei „gestandenen“ Forschenden höher als bei ihren unbekannten Kollegen. Der vom Matthäus-Effekt erfassten personalen Hierarchie ist nicht nur das Element des Ansehens in der Forschungsgemeinschaft, sondern auch das der Seniorität inne. Denn von einigen Ausnahmen 231 abgesehen erarbeiten sich Forschende ihren Ruf im Laufe ihres akademischen Schaffens. Das heißt, dass Arbeiten der Älteren tendenziell mehr Beachtung finden als die der Jüngeren. 232 Merton entwickelte seine Theorie vom Matthäus-Effekt vor allem mittels Untersuchungen über das Ansehen und den Einfluss von Nobelpreisträgern in ihren jeweiligen Disziplinen.233 Doch lassen sich seine Einsichten auch auf die Privatrechtswissenschaft übertragen.234 Privatrechtswissenschaftliche Arbeiten sind lege artis verfasst, wenn sie die bestehende Literatur zu einem Thema sichten, die jeweiligen Lehrmeinungen darstellen und mit Hinweisen auf bestehende Werke belegen. Da häufig nicht mehr die gesamte Literatur Erwähnung finden kann, beschränken sich die Darstellungen auf exemplarische Standardwerke. Welche Arbeiten als Standardwerke qualifizieren, hängt gemäß dem Matthäus-Effekt auch vom Ansehen der Autoren ab. In der Privatrechtswissenschaft ist nun auffällig, dass solches Ansehen den Autoren zugesprochen wird, die zugleich als Vertreter der Leiterzählung gelten, insbesondere Diederichsen, 229 Merton in Entwicklung und Wandel von Forschungsinteressen, 147 (155). Die Bezeichnung als „Matthäus“-Effekt ist eine Referenz auf den Bibelvers Matth. 25, 29: „Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, und er wird die Fülle haben; wer aber nicht hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden.“ 230 S. Merton in Entwicklung und Wandel von Forschungsinteressen, 147 (159). Gleichsinnig Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, 1992, S. 249; Schulze-Fielitz in Staatsrechtslehre als Mikrokosmos, 187 (190). 231 Manchen Personen gelingt es, sich schon mittels ihrer Qualifikationsschriften hervorgehobenes Renommee zu erarbeiten. S. aus jüngerer Zeit Auer, deren Doktorarbeit (Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, 2005) und Habilitation (Der privatrechtliche Diskurs der Moderne, 2014) je zum juristischen Buch des Jahres gewählt wurden (Zimmermann NJW 2005, 3336 [3339 f.]; ders. NJW 2015, 3012 [3014 f.]), sowie Dutta mit seiner vielfach rezensierten Habilitation „Warum Erbrecht?“, 2014 (ebenfalls juristisches Buch des Jahres, s. Zimmermann NJW 2015, 3012 [3015]). 232 Vgl. Merton in Entwicklung und Wandel von Forschungsinteressen, 147 (158). 233 Ebd., (151 ff.). 234 Auf die Staatsrechtslehre anwendend Schulze-Fielitz in Staatsrechtslehre als Mikro kosmos, 187 (197, 199).
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Zöllner, Picker oder Reuter. Wenn Forschende nun annehmen, dass ein beträchtlicher Teil der Privatrechtswissenschaft (immer noch) einem freiheitlich-individualistischen Privatrechtsverständnis anhängt, werden sie die vermeintlichen Standardwerke der Leiterzählung dieser profilierten Privatrechtswissenschaftler zitieren, um zu belegen, dass sie in dem Gebiet über versierte Kenntnisse verfügen. So bilden sich aufgrund von Bezugnahmen, die durch den Matthäus-Effekt beeinflusst sind, sowie durch Wiederholungen und Verkürzungen 235 Rezeptionslinien, die die Leiterzählung weiter überliefern. (c) Schulenbildung In ähnlicher Weise begünstigen Schulen-Effekte die Tradierung von Ansichten, die ehemals als herrschend angesehen werden konnten. Der wissenschaftliche Nachwuchs erhält seine Ausbildung an den Lehrstühlen. Oftmals sind Doktoranden und Habilitanden an den Lehrstühlen derjenigen Professoren angestellt, die auch ihre Arbeiten betreuen. Dieses Umfeld hat Einfluss darauf, welche Werke gelesen und welche Positionen als bedeutend wahrgenommen werden. Für gewöhnlich wird ein Habilitand Veröffentlichungen seiner Betreuerin zitieren. Passende Zitate wird er einerseits einbauen, um zu zeigen, dass er um die Positionierung der Professorin im Forschungsgespräch weiß; andererseits, weil sein Rechtsverständnis von dem in seinem Umfeld vorherrschenden Privatrechtsverständnis geprägt ist. Mit der Zeit können sich so über berufliche Verbindungen und Zitationsmuster „Schulen“ bzw. „akademische Familien“236 herausbilden. Gehört eben erwähnter Habilitand einer einflussreichen Schule an, so „färbt“ die Reputation seiner Betreuerin auf ihn „ab“.237 Die wissenschaftliche Community schenkt seinen Veröffentlichungen schon deshalb größere Aufmerksamkeit, weil die Professorin seine akademische Betreuung übernommen hat. Wendet man diese Einsichten auf die Leiterzählung an, so bedeutet dies folgendes: Die Ansichten derjenigen, denen die Leiterzählung zugeschrieben wird, finden in den Arbeiten ihrer Schüler Erwähnung. Dadurch wird das freiheitlich-individualistische Privatrechtsverständnis fortgetragen. Mehr noch, weil es sich bei denjenigen, denen die Leiterzählung zugeschrieben wird, um einflussreiche und geschätzte Mitglieder der Forschungsgemeinschaft handelt, 235
S. Kap. 2. II. 1. b) aa). Beide Metaphern finden sich bei Schulze-Fielitz in Staatsrechtslehre als Mikrokosmos, 187 (191, 193, 199); Schultz u. a., De jure und de facto: Professorinnen in der Rechtswissenschaft, 2018, S. 354 ff. S. auch das Projekt von Grundmann/Riesenhuber (Hrsg.), Deutschsprachige Zivilrechtslehrer des 20. Jahrhunderts in Berichten ihrer Schüler, Bd. I und II (ausdrücklich Grundmann/Riesenhuber in Grundmann/Riesenhuber [Hrsg.], Deutschsprachige Zivilrechtslehrer des 20. Jahrhunderts in Berichten ihrer Schüler, Bd. I, 3 [7]). 237 Schulze-Fielitz in Staatsrechtslehre als Mikrokosmos, 187 (191); ähnlich Schultz u. a., De jure und de facto: Professorinnen in der Rechtswissenschaft, 2018, S. 354 ff. 236
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wird den Werken ihrer Schüler gesteigerte Aufmerksamkeit zuteil. Ein solcher Schulen-Effekt lässt sich etwa in der Tradierung der kritischen Haltung Pickers gegenüber dem AGG beobachten. Wie bereits erwähnt, kritisierte Picker vor Verabschiedung des AGG das Gesetzesvorhaben deutlich.238 Sein Schüler Lobinger, der erst als wissenschaftlicher Mitarbeiter und später als Assistent bei Picker arbeitete, übernahm die kritische Grundeinstellung seines Betreuers. Er setzt sich ein für eine Leseart des AGG, die Gleichbehandlungsgebote zwischen Privaten nur zum Schutz der Persönlichkeitsrechte Betroffener als legitim erachtet.239 Lobingers Schüler Hartmann wiederum teilt die gleiche Grundauffassung, auch wenn er der Begründung der Position weitere Argumente hinzufügt.240 (3) Privatrechtswissenschaftlicher Habitus Schließlich hat der der Privatrechtswissenschaft eigentümliche Habitus Anteil an der Langlebigkeit der Leiterzählung. Innerhalb der Privatrechtswissenschaft wird betont, das Recht einer wissenschaftlich-systematischen Erschließung zugänglich ist ((a)). Dem Umstand, dass es sich bei Recht um ein „Kulturprodukt“241 handelt, wird weniger Bedeutung zugemessen ((b)). Diese vielfach anzutreffende Einstellung zum eigenen Arbeiten und dem eigenen Forschungsobjekt fügt sich gut in das von der Leiterzählung fortgetragene frei heit lichindividualistische Privatrechtsverständnis ein. (a) „Recht als Wissenschaft“ 242 Die Leiterzählung vermag sich auch deshalb zu halten, weil sie sich in ein verbreitetes Verständnis von Recht als Wissenschaft einfügt. Die Leiterzählung hebt die Eigenständigkeit des Privatrechts vor allem gegenüber dem öffentlichen Recht hervor.243 Bei dem Privatrecht handle es sich um „gelehrtes Recht“244 , das
238 Picker JZ 2002, 880 ff.; ders. JZ 2003, 540 ff.; ders. in Egon Lorenz (Hrsg.), Karlsruher Forum 2004: Haftung wegen Diskriminierung, 7 ff. 239 Lobinger in Isensee (Hrsg.), Vertragsfreiheit und Diskriminierung, 99, insbes. 141; ders., Entwicklung, Stand und Perspektiven des europäischen Antidiskriminierungsrechts, 2015, S. 37 ff.; ders. AcP 216 (2016), 28 (82 ff.). 240 Staudinger-Eckpfeiler/Hartmann, 7. Aufl. 2020, Rn. B 8; ders. EuZA 2019, 24 ff. 241 Krüper in Krüper (Hrsg.), Grundlagen des Rechts, 276 (280); s. auch Haltern in Jayme (Hrsg.), Kulturelle Identität und Internationales Privatrecht, 15; Jestaedt JZ 2014, 1 (10); Zimmermann JZ 2016, 321 (331); ähnlich Behrends in Franz Bydlinski/Mayer-Maly (Hrsg.), Die ethischen Grundlagen des Privatrechts, 1 (26); generell Cotterrell in Reimann/Zimmermann (Hrsg.), The Oxford Handbook of Comparative Law, 709 (711 ff.). 242 So der Titel von Jan Schröders rechtshistorischer Monographie über die Methodenlehre, 3. Aufl. 2021. 243 S. Kap. 1. III. 1. c). 244 S. Kap. 1 Fn. 74.
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Kapitel 2: Erklärungen für die Beharrungskraft der Leiterzählung
mit einem „eigenständigen Methodenkanon“245 erschlossen werden könne. Dies steht in Einklang mit einem Selbstverständnis der Privatrechtswissenschaft, die ihre Aufgabe vorrangig darin sieht, „gute“ Dogmatik zu betreiben.246 (aa) Wissenschaft und Systematisierung Um diesen Befund zu belegen, gilt es zunächst zu beleuchten, inwiefern der Rechtswissenschaft Wissenschaftscharakter zukommt. Der Wissenschaftscharakter der Rechtswissenschaft ist Gegenstand anhaltender Debatte.247 Geht man davon aus, dass spätestens zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Begriff Wissenschaft einer weithin anerkannten Definition zugeführt wurde, 248 so stellt sich zumindest seit diesem Zeitpunkt die Frage nach seiner Anwendbarkeit für die Rechtswissenschaft. Damals definierte Kant Wissenschaft als „eine jede Lehre, wenn sie ein System, d. i. ein nach Principien geordnetes Ganzes der Erkenntnis, sein soll.“249 Anforderungen, die über die Ordnung des Stoffes nach grundlegenden Prinzipien hinausgehen, stellte Kant an Wissenschaft nicht. Insbesondere verzichtete er darauf, die Näherung an ein Erkenntnisziel mittels Experiments oder die Suche nach einer objektiven Wahrheit in seine Definition aufzunehmen. Gemäß Kant qualifiziert sich eine Arbeit also schon dann als wissenschaftlich, wenn sie sich ihrem Erkenntnisziel anhand von Ordnung, Kategorisierung und Systematisierung nähert. Die Beschränkung der Voraussetzungen auf eine prinzipiengeleitete Systematisierung machte Kants Wissenschaftsbegriff attraktiv für die Juristen der damaligen Zeit.250 Savigny war einer derjenigen, die die Definition aufgriffen. Er entwickelte daraus den Gedanken, dass sich das Recht als geordnetes System 245
Zimmermann RabelsZ 83 (2019), 241 (242). Auer, Zum Erkenntnisziel der Rechtstheorie, 2018, S. 13; Basedow ZEuP 2018, 782 (784); Benedict JZ 2011, 1073 (1076 f.); Stürner AcP 214 (2014), 7 (10 f.); Vogenauer in Basedow/ Hopt/Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des europäischen Privatrechts, Bd. II, 1274; aus öffentlich-rechtlicher Perspektive Horst Dreier in Horst Dreier (Hrsg.), Rechtswissenschaft als Beruf, 1 (7, 25); Ralf Dreier in Recht – Moral – Ideologie, 48 (51); ders. in Recht – Staat – Vernunft. Studien zur Rechtstheorie 2, 211 (216 f.); Jestaedt in Funke/Lüdemann (Hrsg.), Öffentliches Recht und Wissenschaftstheorie, 17 (33); Oliver Lepsius in Jestaedt/ Oliver Lepsius (Hrsg.), Rechtswissenschaftstheorie, 1 (16). 247 Hierzu nur jüngst Auer in Hilgendorf/Schulze-Fielitz (Hrsg.), Selbstreflexion der Rechtswissenschaft, 301; dies., Zum Erkenntnisziel der Rechtstheorie, 2018, S. 7 ff.; Kuntz AcP 216 (2016), 866 ff. 248 S. Diemer in Diemer (Hrsg.), Beiträge zur Entwicklung der Wissenschaftstheorie im 19. Jahrhundert, 3 (24 ff.); Rückert in Hilgendorf/Schulze-Fielitz (Hrsg.), Selbstreflexion der Rechtswissenschaft, 13 (45). 249 Kant in Akademie Textausgabe, 465 (467). 250 S. Auer in Hilgendorf/Schulze-Fielitz (Hrsg.), Selbstreflexion der Rechtswissenschaft, 301 (302 ff.); Rückert in Hilgendorf/Schulze-Fielitz (Hrsg.), Selbstreflexion der Rechtswissenschaft, 13 (46). Grundlegende Nachzeichnung bei Jan Schröder, Recht als Wissenschaft, Bd. I, 3. Aufl. 2021, S. 251 ff. 246 S.
II. Außerrechtliche Erklärungen
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erschließen lasse, wenn man seine historische Entwicklung verfolge.251 Das Forschungsprogramm der historischen Rechtsschule war damit ausdekliniert: Es ging ihr darum, durch ein sorgfältiges Studium der Quellen die „leitenden Grundsätze“252 des römischen Rechts zu konstruieren und sein System umfänglich zu erschließen.253 „Recht als Wissenschaft“ und „Recht als System“ waren in ihrem Unterfangen also aufs Engste miteinander verknüpft. In der Folgezeit wurde der Wissenschaftscharakter der Rechtswissenschaft nur von wenigen gänzlich in Zweifel gezogen. Die Debatten kreisten eher darum, inwiefern sich das Recht einer umfassenden wissenschaftlichen Durchdringung entzieht 254 oder inwieweit rechtsphilosophische und rechtsgeschichtliche Betrachtungen neben die Systematisierung zu treten hätten.255 Alternative Selbstverständnisse, die sich radikaler von der Idee der Rechtswissenschaft als Wissenschaft abwandten, konnten weniger Anhänger um sich versammeln. Die Idee, dass es sich bei der Rechtswissenschaft um eine Kunst 256 oder ein Handwerk 257 statt einer Wissenschaft handle, dauert insofern fort, als dass man die Rechtswissenschaft mitunter als normative Wissenschaft 258 näher beschreibt, die subjektive Werturteile zulässt, oder als praktische Wissenschaft,259 die Handlungsanleitungen hervorzubringen sucht. (bb) Dogmatik-Zentrierung der Privatrechtswissenschaft Vor diesem Hintergrund ist es ein Leichtes zu erklären, worauf die DogmatikZentrierung der Privatrechtswissenschaft gründet. Dogmatik führt das For251 V. Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie 1802–1842, 2004, fol. 4r (S. 93); s. hierzu Benedict JZ 2011, 1073 (1081). Die Annahme, dass sich das Recht durch eine historische Exegese erschließen lasse, gipfelte in der Vorstellung vom „wissenschaftlichen Recht“, gemäß dem die „wissenschaftliche Deduktion“ als Ausdruck des „Volksgeistes“ das Recht selbst hervorbringe, vgl. v. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, 1840, 1. Buch, Kap. II, §§ 14 und 15; s. hierzu Jestaedt JZ 2014, 1 (4). 252 V. Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 1814, S. 22. 253 Rüfner in Basedow/Hopt/Zimmermann (Hrsg.), Handwörterbuch des europäischen Privatrechts, Bd. I, 823 (830, 832); Jan Schröder, Recht als Wissenschaft, Bd. I, 3. Aufl. 2021, S. 272 ff. 254 V. Kirchmann, Die Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, 1848. 255 V. Jhering, Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft?, 1868 (Neudruck 1998), 77 (92). 256 Engel/Schön in Engel/Schön (Hrsg.), Das Proprium der Rechtswissenschaft, IX (XII). 257 Diese Metapher aufgreifend etwa Hähnchen (Hrsg.), Methodenlehre zwischen Wissenschaft und Handwerk, 2019. 258 Hörnle in Horst Dreier (Hrsg.), Rechtswissenschaft als Beruf, 183 (188); Jestaedt in Hilgendorf/Joerden (Hrsg.), Handbuch Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 2021, 267; a. A. und die Rechtswissenschaft als Normwissenschaft, nicht als normative Wissenschaft klassifizierend, Horst Dreier in Horst Dreier (Hrsg.), Rechtswissenschaft als Beruf, 1 (2). 259 „Wissenschaft im Dienste der Praxis“ – Jestaedt in Horst Dreier (Hrsg.), Rechtswissenschaft als Beruf, 227 (241); „praktische Kunstlehre“ – Schulze-Fielitz in Staatsrechtslehre als Mikrokosmos, 405 (Hervorhebung im Original); des Weiteren Gutmann in Hilgendorf/ Schulze-Fielitz (Hrsg.), Selbstreflexion der Rechtswissenschaft, 93 (97).
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schungsprogramm einer systemorientierten Rechtswissenschaft aus, indem sie den Ansatz verfolgt, das in Gesetzestexten und Rechtsprechung erzeugte Recht 260 zu ordnen. Sie ist von zentraler Bedeutung für die Rechtswissenschaft, weil sie den Rechtsstoff in aufbereiteter Form der Rechtspraxis zugänglich macht und hierdurch in einen Dialog mit der Rechtspraxis tritt. Trotz des Wissens um alternative Forschungsansätze und dem Desiderat eines Mehr an Interdisziplinarität 261 nimmt die Dogmatik daher weiterhin – und es gilt hinzuzufügen berechtigterweise – einen hohen Stellenwert im Selbstverständnis der Privatrechtswissenschaft ein. Das zeigt sich unter anderem an der Bedeutung, der privatrechtlichen Kommentierungen nach wie vor beigemessen wird.262 Der Kommentar als eigene Gattung der juristischen Literatur zielt darauf ab, die Rechtsprechung so zu ordnen und aufzuarbeiten, dass sie für die Praxis handhabbar ist bzw. wird. Kommentierungen werden als selbstverständlicher und bedeutender Teil rechtswissenschaftlichen Arbeitens angesehen, wie auch ihre prominente Nennung in Publikationsverzeichnissen belegt. Die Privatrechtswissenschaft versteht es mithin als ihre primäre Aufgabe, den Rechtsstoff einer kohärenten Systematisierung zuzuführen. Oliver Lepsius merkt für die Wissenschaft vom öffentlichen Recht an, dass „[d]as Bekenntnis zum systematischen Denken, ja zur Systembildung als Inbegriff der Rechtswissenschaft […] fast schon etwas Rituelles“263 hat. Seine Beschreibung ist gleichermaßen für die Privatrechtswissenschaft zutreffend. Das Streben nach Systematisierung hat hohen Symbolgehalt. In der Terminologie Bourdieus: Der „Sys temanspruch“264 der Privatrechtswissenschaft formt habituell und untergründig ihr Forschungsprogramm. 260 Hier dem Ansatz folgend, dass Rechtssetzung nicht nur von der Legislative praktiziert wird, sondern auch in der Rechtsanwendung Ausdruck findet, s. Jestaedt in Erbguth/Masing (Hrsg.), Die Bedeutung der Rechtsprechung im System der Rechtsquellen: Europarecht und nationales Recht, 25 (69 f.); ebenso Singer, Rechtsklarheit und Dritte Gewalt, 2009, S. 144 ff. 261 Wissenschaftsrat, Perspektiven der Rechtswissenschaft in Deutschland, Drs. 2558-12, 2012, S. 36. 262 Schnur FS Forsthoff, 43 (56); vgl. ferner Jansen, The Making of Legal Authority, 2010, S. 108 und 121; Kästle-Lamparter, Welt der Kommentare, 2016, S. 332, die sich allerdings auf die Autorität der Kommentare, nicht der Kommentierenden beziehen. – Allerdings lässt sich durchaus kritisieren, dass sich inzwischen eine große Zahl an Kommentaren dem Privatrecht widmet und der Anstieg an Kommentierungen nicht mit einem Anstieg an dogmatischer Durchdringung korreliert (s. hierzu „Kommentar-Schwemme“ – Zimmermann NJW 2011, 3557; vgl. zum Parallelproblem im Öffentlichen Recht Horst Dreier in Horst Dreier [Hrsg.], Rechtswissenschaft als Beruf, 2018, 1 [9]; zum Europarecht Thym EuR 2015, 671 [685 f.]). In diesem Zusammenhang ist auch erstaunlich, dass bei der Menge an Kommentarliteratur gerade der Alternativkommentar zum BGB, dessen erklärtes Ziel es war, einen anderen Blick auf das BGB zu ermöglichen, keine weiteren Auflagen erfahren hat (s. Kästle-Lamparter, Welt der Kommentare, 2016, S. 332). 263 Oliver Lepsius in Hilgendorf/Schulze-Fielitz (Hrsg.), Selbstreflexion der Rechtswissenschaft, 53 (65). 264 Ebd., (65).
II. Außerrechtliche Erklärungen
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(cc) Verhältnis zur Leiterzählung Der in der Privatrechtswissenschaft anzutreffende Habitus, Recht als Wissenschaft zu begreifen und den Fokus des eigenen Arbeitens auf dogmatische Untersuchungen zu legen, harmoniert mit dem freiheitlich-individualistischen Privatrechtsverständnis der Leiterzählung. Diese hebt die Eigenständigkeit des Privatrechts hervor. Werden nun an das Privatrecht Einflüsse von außen herangetragen, wie etwa die Konstitutionalisierung, Transnationalisierung oder Digitalisierung, so gestaltet sich die Aufrechterhaltung eines im luhmannschen Sinne autonomen Systems als schwierig. Es wird als „Zumutung[]“265 empfunden, wenn das über Jahrhunderte entwickelte Privatrecht durch das relativ neue Verfassungsrecht mit seinen andersartigen Denkmustern 266 überformt oder vom Europarecht mit seiner unscharfen Unterscheidung zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht267 geprägt wird. Die Privatrechtswissenschaft hat hierauf reagiert, indem sie die Einflüsse anfänglich ablehnte und dann graduell absorbierte.268 Beide Mechanismen – Ablehnung und Absorption – sind darauf angelegt, einen in sich geschlossenen Entwurf des Privatrechts aufrecht zu erhalten, die Systemkohärenz zu wahren, sowie einem eigenen (Be-)Deutungsverlust entgegenzutreten. Damit lässt sich das Verhältnis von der gängigen Einstellung der Privatrechtswissenschaft zu Recht als Wissenschaft und der Leiterzählung wie folgt beschreiben: Weil die Einstellung dahin tendiert, Recht als Wissenschaft zu verstehen, und weil sich diese Einstellung in der Leiterzählung spiegelt, wirkt der privatrechtswissenschaftliche Habitus unterstützend auf den Fortbestand der Leiterzählung. (b) Recht als „Kulturprodukt“ 269 Ein weiterer Gesichtspunkt, der die Langlebigkeit der Leiterzählung erklärt, ist die habituell geringe Beachtung von Privatrechtsverständnissen, welche dem Systemanspruch nur untergeordnete Bedeutung zumessen. Wenn dogmatisches Arbeiten das Zentrum der Disziplin bildet, werden Arbeiten, die etwa rechtstheoretische, -philosophische, -geschichtliche oder -soziologische Ansätze verfolgen, als randständig wahrgenommen. Untersuchungen, die aus anderer Perspektive als der dogmatischen auf das Recht schauen, wird eine lediglich unterstützende Funktion als Klarstellungshilfe oder Kritikwerkzeug zugesprochen.270 265
Grünberger AcP 219 (2019), 924 (939).
266 S. Oliver Lepsius in Jestaedt/Oliver Lepsius (Hrsg.), Rechtswissenschaftstheorie, 2008,
1 (29 f.). 267 S. Ackermann ZEuP 2018, 741 (756). 268 Kap. 2. I. 2. 269 S. Kap. 2 Fn. 241. 270 Auer AcP 216 (2016), 239 (248 ff.); ferner Ralf Dreier in Recht – Staat – Vernunft. Studien zur Rechtstheorie 2, 211 (217).
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Kapitel 2: Erklärungen für die Beharrungskraft der Leiterzählung
Eine solche Sichtweise kann, muss aber nicht mit einer negativen Einschätzung von rechtstheoretischen, -philosophischen, -geschichtlichen oder -soziologischen Rechtsbetrachtungen einhergehen.271 Das gilt insbesondere für Rechtsverständnisse, die die kulturelle Prägung von Recht betonen. Darunter werden Ansätze verstanden, die maßgeblich darauf abstellen, dass das geltende Recht immer auch Ausdruck „der sinnhaften Erfassung und Aneignung der Welt“272 durch die Menschen ist. Zu ihnen zählen Ansätze wie Rechtsanthropologie, critical race theory oder feministische Rechtswissenschaft.273 Auch wenn der Hinweis auf Kultur Recht nicht abschließend erklären kann, liegt die Besonderheit dieser Rechtsverständnisse in ihrer Betonung des Umstands, dass Faktoren jenseits der „Verfahren und Organisationen der Rechtssetzung und -anwendung“274 das Recht untergründig prägen. Mit ähnlicher Stoßrichtung weist ihre Hervorhebung des gesellschaftlichen Charakters des Rechts darauf hin, dass Recht einerseits ein soziales Konstrukt ist und anderseits steuernd auf gesellschaftliche Entwicklungen einwirkt. Der in der Privatrechtswissenschaft anzutreffende Habitus neigt dazu, Forschungen, die sich dem Recht aus kulturwissenschaftlicher oder sozialwissenschaftlicher Perspektive nähern, nur begrenzt Beachtung zu schenken. Der rechtswissenschaftliche Mainstream weiß zwar um ihre Existenz, weist die mit ihrer Hilfe vorgebrachten Einsichten für die eigene Forschung aber eher zurück. Die von kulturtheoretischen oder sozialtheoretischen 275 Zirkeln entworfenen Theorieangebote werden nicht aufgegriffen oder nur als Randnotizen geführt. Sie mögen interessant sein; für die eigene, auf Systematisierung angelegte Forschung werden sie als wenig relevant erachtet. Selten setzt man sich mit den Forschungsanliegen der kultur- oder sozialtheoretisch orientierten Privatrechtswissenschaft intensiver auseinander.276 Insofern hat sich in der Privat271 S. nur für eine positive Betonung des kritischen Potenzials der Rechtsphilosophie einerseits Auer AcP 216 (2016), 239 (242); des brückenschlagenden Charakters der Rechtstheorie zwischen Rechtsphilosophie und -dogmatik andererseits dies., Zum Erkenntnisziel der Rechtstheorie, 2018, S. 43 ff. 272 Gutmann, Recht als Kultur?, 2015, S. 17, der sich jedoch in der Arbeit dezidiert gegen Kultur als sinnhaftes normatives Element im rechtlichen Diskurs ausspricht. – Eine nähere Definition von Kultur soll hier nicht unternommen werden, denn sie „erscheint so gut wie unmöglich“ (Zimmermann JZ 2007, 1); gleichsinnig Christoph Möllers in Rustemeyer (Hrsg.), Symbolische Welten. Philosophie und Kulturwissenschaften, 109 (121). 273 Für einen aktuellen Überblick s. Buckel/Christensen/Fischer-Lescano (Hrsg.), Neue Theorien des Rechts, 3. Aufl. 2019. 274 Gutmann, Recht als Kultur?, 2015, S. 24, selbst die Beschreibung von Recht als Kultur allerdings ablehnend (s. schon Kap. 2 Fn. 272). 275 In Anlehnung an Teubner Ancilla Iuris 2014, 183 ff.; vgl. auch Friedman Yale L. J. 1989, 1579 (1580 f.). 276 Einen Gegenentwurf liefert etwa der Ansatz einer „responsiven Rechtsdogmatik“ von Grünberger AcP 218 (2018), 213 (243 ff.); ders. AcP 219 (2019), 924 ff.; dazu krit. Riesenhuber AcP 219 (2019), 892 ff.
II. Außerrechtliche Erklärungen
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rechtswissenschaft ein „Kanon und ein Antikanon“277 etabliert, dessen Anfänge Teubner für Westdeutschland auf die Gründung der Bundesrepublik datiert.278 Er beobachtet: „Der Westen […] antwortete auf die unsäglichen Theorie-Recht-Symbiosen des Faschismus und des realen Sozialismus mit einem anderen Extrem: mit einer Immunreaktion des Rechts gegen jegliches Eindringen des Sozialtheorie-Bazillus. […] Gegen die selbstverordnete Abwehr jeglicher Interdisziplinarität konnten auch die kurzen, aber heftigen Sozialtheoriefieberanfälle von 1968 nichts ausrichten.“279
Zur Schilderung des status quo gehört aber auch, dass es für den privatrechtswissenschaftlichen Mainstream gute Argumente gibt, der Übernahme kulturoder sozialtheoretischer Ansätze kritisch gegenüberzustehen. Diese gründen im selbstgesetzten Anspruch an „Methodenehrlichkeit.“280 Aus Sicht der Dogmatiker verschließt sich die fremde Begriffswelt der kultur- oder sozialtheoretisch orientierten Privatrechtswissenschaft einem leichten Zugang. Außerdem verlangen kultur- oder sozialtheoretische Ansätze nach vertieften Kenntnissen der herangezogenen Theorien, damit es möglich ist, erkenntnisversprechende Angebote zu identifizieren oder – worauf Teubners Bemerkungen hinweisen – gefährliche Theorien von einer weiteren Verwertung auszuschließen. Fühlt sich eine Privatrechtswissenschaftlerin, die bislang dogmatische Arbeiten verfasst hat, in der Handhabe des Theorieangebots unsicher, handelt sie daher methoden ehrlicher, wenn sie auf „Chimären-Anleihen“281 verzichtet. Abschließend gilt es die Fäden zu verbinden: Die habituell geringe Beachtung von Privatrechtsverständnissen, die Recht insbesondere als Kulturprodukt oder soziales Phänomen begreifen, trägt zur Beharrungskraft der Leiterzählung bei. Wie gerade ausgeführt zeichnen Ansätze, die kulturwissenschaftliche oder soziologische Erkenntnisse über das Recht nicht verinnerlichen bzw. zumindest nicht für sich als relevant erklären, eher das Bild eines eigenständigen Privatrechts. Indem ein Verständnis von Rechtswissenschaft und vom Recht über277 Mangold hielt auf der Tagung „Apokryphe Schriften. Rezeption und Vergessen in der Wissenschaft vom Öffentlichen Recht“ am 31.3.2017 einen Vortrag mit dem Titel: „Kanon und Antikanon: Gegenhegemoniale Rechtswissenschaft von den Critical Legal Studies bis zur Feministischen Rechtswissenschaft“. Dieser Antikanon ist nicht mit dem US-amerikanischen, verfassungsrechtlichen anticanon (s. Greene Harv. L. Rev. 125 [2011], 379 [380]; Primus Duke L. J. 48 [1998], 243 [245]) zu verwechseln. 278 Teubner Ancilla Iuris 2014, 183 (194). 279 Ebd. Ganz im Gegensatz hierzu konstatiert Rorty zur Rechtswissenschaft in den USA: „[E]verybody seems to now be a legal realist“ (Rorty S. Cal. L. 63 [1990], 1811). 280 Hierzu Ino Augsberg in Ino Augsberg (Hrsg.), Extrajuridisches Wissen im Ver waltungsrecht, 3 (16); Voßkuhle in Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, § 1 Rn. 39. 281 Von „Chimären-Interdisziplinarität“ sprechend Röthel FG Institut für Recht und Technik, 213 (217); ähnlich Heckhausen in Kocka (Hrsg.), Interdisziplinarität, 129 (139); s. auch Croon-Gestefeld in Christandl u. a. (Hrsg.), Intra- und Interdisziplinarität im Zivilrecht, 51 (68).
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Kapitel 2: Erklärungen für die Beharrungskraft der Leiterzählung
haupt bevorzugt wird, das sich nach dogmatischer Erschließung ausrichtet, wird ganz im Sinne der Leiterzählung die systematische Geschlossenheit und Eigenständigkeit des Privatrechts betont. Insofern liefert die Skepsis gegenüber Recht als Kulturprodukt und soziales Phänomen der Leiterzählung eine Bestätigung ihres Privatrechtsverständnisses. Die weitgehende Zurückweisung von kultur- oder sozialtheoretisch geprägten Privatrechtsverständnissen ist damit ein letztes Element, mit dem sich die Beharrungskraft der Leiterzählung erklären lässt.
III. Zusammenfassung Diverse Gründe erklären die Langlebigkeit der Leiterzählung des Privatrechts. Die Gründe sind genuin juristischer sowie außerrechtlicher Natur. Auch stehen sie nicht unvermittelt nebeneinander, sondern ergänzen sich oder greifen teilweise sogar ineinander. Aus genuin juristischer Perspektive erklärt die Beharrungskraft der Leiterzählung, dass sie es versteht, Kernelemente der privatrechtlichen Ordnung mit Hilfe eingängiger Schlagworte zu vermitteln.282 Auch vermag es das freiheitlich-individualistische Privatrechtsverständnis, das der Leiterzählung zu Grunde liegt, auf das Privatrecht einwirkende Strömungen zu absorbieren.283 Weniger überzeugende Erklärungen für die Beharrungskraft der Leiterzählung liefern die These einer starken Prinzipienorientierung des Privatrechts, die sich in der Leiterzählung findet,284 oder die These der gelungenen Vereinbarkeit des freiheitlich-individualistischen Privatrechtsverständnisses mit der Privatrechtsdogmatik.285 Denn erstens lässt sich die Liste privatrechtlicher Prinzipien um Prinzipien erweitern, die bislang nicht in der Leiterzählung erscheinen. Zweitens sprechen keine methodologischen Gründe dagegen, die Privatrechtsdogmatik in einer Art und Weise weiterzuentwickeln, dass sie die Elemente stimmig abzubilden vermag, die in einem freiheitlich-individualistischen Privatrechtsverständnis eine marginale Rolle spielen. Aus außerrechtlicher Perspektive begünstigen die Verkürzung von Referenzaussagen innerhalb eines Diskurses, 286 eine Vermengung von Wichtigkeits- mit Ausschließlichkeitsansprüchen 287 und eine Standardisierung288 des freiheit-
282 283
284 285
286 287
288
S. Kap. 2. I. 1. S. Kap. 2. I. 2. S. Kap. 2. I. 3. S. Kap. 2. I. 4. S. Kap. 2. II. 1. b) aa). S. Kap. 2. II. 1. b) bb). S. Kap. 2. II. 1. b) cc).
III. Zusammenfassung
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lich-individualistischen Privatrechtsverständnisses die weitere Überlieferung der Leiterzählung. Im Schwerpunkt soziologische Erklärungsangebote für die Langlebigkeit der Leiterzählung hielten einem Abgleich mit den tatsächlichen Strukturen der Privatrechtswissenschaft nur bedingt stand. Die Eigenarten der juristischen Ausbildung, insbesondere ihr Fokus darauf, Studierende auf die Erste Juristische Prüfung vorzubereiten, fördern die Tradierung der Leiterzählung.289 Auch tragen innerhalb des privatrechtswissenschaftlichen Feldes ein Mangel an Perspektivenvielfalt,290 der Matthäus-Effekt 291 und eine beobachtbare Bildung von Schulen 292 zur Langlebigkeit der Leiterzählung bei. Der in der Privatrechtswissenschaft oftmals anzutreffende Habitus, rechtliche Forschung primär als systematisierende Wissenschaft zu begreifen 293 und dabei der kulturellen Komponente des Rechts wenig Beachtung zu schenken, 294 begünstigt ebenfalls die Langlebigkeit der Leiterzählung. Nicht bestätigt hat sich hingegen die These, dass die institutionelle Organisation der Privatrechtswissenschaft oder ihre Finanzierung zum Fortbestand der Leiterzählung beitragen.295 Bislang verfolgte die Arbeit das Anliegen, aufzuzeigen, weshalb die Leiterzählung mit ihrem freiheitlich-individualistischen Privatrechtsverständnis Schwierigkeiten hat, Gemeininteressen einen klar definierten Raum innerhalb des Privatrechts zuzuweisen. Liegt der Fokus des Privatrechtsverständnisses auf der Ermöglichung von Selbstverwirklichung und betont die Selbstbeschreibung die Eigenständigkeit des Privatrechts gegenüber dem öffentlichen Recht, erscheinen Gemeininteressen im Privatrecht systemfremd. Und doch finden Gemeininteressen im Privatrecht vielerorts Berücksichtigung, wie im Folgenden gezeigt wird. In den nachstehenden Kapiteln soll ergründet werden, auf welche Art und Weise Gemeininteressen im Privatrecht verarbeitet werden. Hierfür wird die Berücksichtigung dreier Referenzinteressen – Umweltschutz,296 Förderung von Infrastruktur297 und Förderung sozialer Inklusivität 298 – genauer untersucht. Zweck der folgenden Untersuchung ist es, Erkenntnisse über die Verarbeitung von Gemeininteressen im Privatrecht zu Tage zu fördern.
289
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294 295 296 297
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S. Kap. 2. II. 2. a). S. Kap. 2. II. 2. b) bb) (2) (a). S. Kap. 2. II. 2. b) bb) (2) (b). S. Kap. 2. II. 2. b) bb) (2) (c). S. Kap. 2. II. 2. b) bb) (3) (a). S. Kap. 2. II. 2. b) bb) (3) (b). S. Kap. 2. II. 2. b) bb) (1). S. Kap. 3. S. Kap. 4. S. Kap. 5.
Kapitel 3
Umweltschutz Als erste Referenzmaterie wird die Berücksichtigung von Umweltschutzerwägungen im Privatrecht in den Blick genommen. Es bietet sich an, bei der Untersuchung, wie Gemeininteressen Eingang in privatrechtliche Entscheidungen finden, mit dem Gemeininteresse an Umweltschutz zu beginnen. Denn das Verhältnis von Umweltschutz und Privatrecht ist inzwischen ein klassisches Thema des Privatrechts, wie sich an der Vielzahl der Veröffentlichungen ablesen lässt, die sowohl in den 1980er Jahren als auch in der jüngeren Zeit zu dem Thema erschienen sind.1 Das Kapitel beginnt damit, die Diskussion über Umweltschutz mittels Privatrechts zu umreißen (I.). Im Anschluss zeigt es die unterschiedlichen Konstellationen auf, in denen sich Individualinteressen und Umweltbelange im Privatrecht begegnen können (II.). Es schließt mit Beobachtungen dazu, wie Umweltbelange im Privatrecht Berücksichtigung finden (III.).
I. Umweltschutz durch Privatrecht: Eine Verortung 1. Begriffliche Klärungen Bei der Umwelt handelt es sich wie bei vielen anderen Begriffen, die große Konzepte benennen, um einen Begriff, der je nach Kontext eine andere Bedeutung annehmen kann.2 Für die Zwecke dieser Untersuchung wird Umwelt in einem
1 Hierzu zählen, ohne dass mit der Auflistung der Anspruch auf Vollständigkeit verbunden ist, als besonders relevante Texte Diederichsen, Referat zum 56. DJT; Ekardt ZUR 2016, 463 ff.; Gerlach, Privatrecht und Umweltschutz im System des Umweltrechts, 1989; Halfmeier AcP 216 (2016), 717 ff.; Kühn, Umweltschutz durch Privatrecht, 2007; Marburger, Gutachten für den 56. DJT; Mittwoch in Rühmkorf (Hrsg.), Nachhaltige Entwicklung im deutschen Recht: Möglichkeiten und Grenzen der Förderung, 87 ff.; Pöttker, Klimahaftungsrecht, 2014; Seibt, Zivilrechtlicher Ausgleich ökologischer Schäden, 1994. 2 Zu der Schwierigkeit einer Präzisierung vgl. Badura u. a., Staatszielbestimmungen. Gesetzgebungsaufträge. Bericht der Sachverständigenkommission, 1983, Rn. 144; Christian Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, 2001, S. 107; Saliger, Umweltstrafrecht, 2. Aufl. 2020, Rn. 25; Schink DÖV 1997, 221 (223) sowie im Hinblick auf die „natürlichen Lebensgrundlagen“ Kloepfer DVBl. 1996, 73 (76).
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Kapitel 3: Umweltschutz
begrenzten, ökologischen Sinn verstanden. Umwelt steht als Synonym für die belebte und unbelebte Natur, die den Menschen umgibt.3 In konzeptioneller Nähe zum Begriff der Umwelt ist der der Nachhaltigkeit angesiedelt. Er hat als „neue[s] alte[s] Paradigma“4 Eingang in den umweltrechtlichen Diskurs gefunden. Mehr noch als der „Umwelt“ wird dem Begriff der „Nachhaltigkeit“ entgegengehalten, dass es sich bei ihm um einen „gleichsam schillernden wie ungreifbaren Leitbegriff“5 handle. Nach gängiger Differenzierung kann Nachhaltigkeit einmal in einem weiten, inklusiven Sinn verstanden werden und einmal in einem engen, auf ökologische Aspekte begrenzten Sinn. 6 Inklusive Nachhaltigkeit wird herangezogen, um auszudrücken, „dass ökonomische, soziale und ökologische Entwicklungen nicht isoliert, sondern als zusammenwirkende, wenngleich nicht selten kollidierende Ziele zu sehen sind, zwischen denen stets aufs Neue ein angemessener Ausgleich herzustellen ist (Drei-Säulen-Konzept).“7 Der engere Nachhaltigkeitsbegriff besagt hingegen, dass menschliches Handeln sich daran zu orientieren hat, mit den auf der Erde verfügbaren, begrenzten Ressourcen sparsam und verantwortungsvoll umzugehen. 8 Die engere Definition hat mithin eine deutliche ökologische Stoßrichtung. Legt man letztere zu Grunde, so verhalten sich Umwelt und Nachhaltigkeit (im engeren Sinne) zueinander wie ein Rechtsgut9 und das dazugehörige Leitprinzip, das seiner Bewahrung dienen soll.
2. Breite Verankerung des Umweltschutzes im Recht Der Gedanke des Umweltschutzes ist im Recht breit verankert. Mit vielen rechtlichen Instrumenten auf supranationaler wie nationaler Ebene soll die Umwelt geschützt werden. Auf völkerrechtlicher Ebene halten das Übereinkom3 Wie hier Badura u. a., Staatszielbestimmungen. Gesetzgebungsaufträge. Bericht der Sachverständigenkommission, 1983, Rn. 144; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1984, § 21.II.3. Für ein extensiveres Umweltverständnis, das auch die Kultur umfasst Diederichsen BB 1973, 485 (487). 4 Kahl in Kahl (Hrsg.), Nachhaltigkeit als Verbundbegriff, 1. 5 Felber in Pufé, Nachhaltigkeit, 3. Aufl. 2017, S. 7; ähnlich krit. Berg in Kahl (Hrsg.), Nachhaltigkeit als Verbundbegriff, 425 (432); Richter Leviathan 2005, 257. 6 Kahl in Kahl (Hrsg.), Nachhaltigkeit als Verbundbegriff, 1 (6 ff.). 7 Ebd., (9); des Weiteren Rühmkorf in Rühmkorf (Hrsg.), Nachhaltige Entwicklung im deutschen Recht: Möglichkeiten und Grenzen der Förderung, 9 (17); krit. Ekardt ZfU 2009, 223 (227 ff.). Zentral für die weite Definition ist der Begriff des sustainable developments, wie er im Brundtland-Bericht, dem 1987 veröffentlichten Abschlussbericht der Sonderkommission der Vereinten Nationen zum Ausdruck kommt (Weltkommission für Umwelt und Entwicklung, Unsere gemeinsame Zukunft, 1987, S. 9 f.). 8 Grundlegend Rockström u. a. Ecology and Society 2009, 14(2): 32. 9 Für ein abweichendes, weil anthropozentrisches Verständnis von Umwelt als Rechtsgut Thomas Möllers, Rechtsgüterschutz im Umwelt- und Haftungsrecht, 1996, S. 28; grds. zum Rechtsgutsbegriff aus jüngerer Zeit Löffler, Rechtsgut als Verfassungsbegriff?, 2017, S. 16 f.
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men von Paris,10 die Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen11 und das Übereinkommen über die biologische Vielfalt12 die unterzeichnenden Staaten im „Dreiklang“13 an, Umweltschutzmaßnahmen zu ergreifen. Auf unionsrechtlicher Ebene werden die Mitgliedstaaten an verschiedenen Stellen des EUV und AEUV zum Umweltschutz verpflichtet. Art. 3 Abs. 3 S. 2 EUV nennt als Ziele der Union „nachhaltige Entwicklung […], sowie ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität.“14 Art. 11 AEUV legt fest, dass sich Unionspolitiken und -maßnahmen an Umweltschutzerwägungen zu orientieren haben und Art. 191 AEUV bekräftigt das Anliegen der EU, mit ihrer Umweltpolitik „Erhaltung und Schutz der Umwelt“ sowie eine „umsichtige und rationelle Verwendung der natürlichen Ressourcen“ anzustreben.15 Art. 37 EUGRCh gebietet, dass „ein hohes Umweltschutzniveau und die Verbesserung der Umweltqualität […] in die Politiken der Union einbezogen“ werden müssen. Außerdem wurden 2019 und 2020 mit der Offenlegungs-VO16 und der Taxonomie-VO17 zwei kapitalmarktrechtliche Regelungswerke veröffentlicht, die Finanzmarktteilnehmer anhalten, unter bestimmten Umständen über die ökologische Nachhaltigkeit von Finanzprodukten zu informieren. Des Weiteren statuiert das GG seit dem Jahr 1994 in Art. 20a GG eine Staatszielbestimmung,18 die auf den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen gerichtet ist. Der so entstandene Regelungsrahmen zielt grundsätzlich auf das Handeln der öffentlichen Hand ab.19 Diese setzt auf der Ebene der einfachen Gesetze ihre 10 Gesetz zu dem Übereinkommen von Paris vom 12. Dezember 2015 vom 30.9.2016, BGBl. II (2016) S. 1082 ff. 11 Vereinte Nationen, Transforming Our World: The 2030 Agenda for Sustainable Development, A/RES/70/1, https://sustainabledevelopment.un.org/content/documents/212 52030%20Agenda%20for%20Sustainable%20Development%20web.pdf (letzter Abruf: 8.2.2022). 12 Gesetz zu dem Übereinkommen vom 5. Juni 1992 über die biologische Vielfalt vom 30.8.1993, BGBl. II (1993) S. 1741. 13 Stäsche EnWZ 2019, 248 (249). 14 Hinzu kommen das Bekenntnis zu Umweltschutz und nachhaltiger Entwicklung in der Präambel des EUV sowie die Nennung der „nachhaltige[n] Entwicklung“ als eine der Leitlinien des auswärtigen Handelns der EU in Art. 21 Abs. 2 lit. d und f. 15 Art. 191 AEUV präzisiert die Ziele (Abs. 1) und Prinzipien (Abs. 2–4) der EU-Umweltpolitik weiter. 16 VO (EU) 2019/2088 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27.11.2019 über nachhaltigkeitsbezogene Offenlegungspflichten im Finanzdienstleistungssektor, ABl. 2019 L 317/1. 17 VO (EU) 2020/852 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18.6.2020 über die Einrichtung eines Rahmens zur Erleichterung nachhaltiger Investitionen und zur Änderung der VO (EU) 2019/2088, ABl. 2020 L 198/13. – Die Gesetzgebung begleitende Einschätzungen bei Stumpp ZBB 2019, 71 ff.; Veil u. a., Nachhaltige Kapitalanlagen durch Finanzmarktregulierung – Reformkonzepte im deutsch-französischen Rechtsvergleich, S. 182 ff. (https:// www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/1410/publikationen/2019-04-18_cli mate-change_13-2019_nachhaltige-kapitalanlagen.pdf, letzter Abruf: 8.2.2022). 18 Statt aller Kloepfer DVBl. 1996, 73 (74). 19 Ein neuer Weg wird allerdings im Kapitalmarktrecht beschritten, s. Kap. 3 Fn. 16 f.
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Verpflichtungen um, indem sie Handlungs- und Unterlassungspflichten von Privaten festlegt. Vorschriften des BImSchG,20 BBodSchG21 und USchadG22 treffen etwa Aussagen darüber, welche umweltschädigenden Handlungen Privater untersagt sind bzw. welche Maßnahmen Personen unternehmen müssen, um die Folgen ihres umweltschädigenden Verhaltens zu beseitigen. §§ 324 ff. StGB sowie strafrechtliche Nebengesetze23 komplementieren die Umweltschutzvorgaben, indem sie die strafrechtliche Bewehrung umweltschädigenden Verhaltens anordnen. Gesetze, die gemeinhin dem Privatrecht zugerechnet werden, greifen den Aspekt des Umweltschutzes seltener auf. Beispiele sind etwa das besondere Haftungsregime für Umweltschäden des UmweltHG oder §§ 60 ff. EEG 2021 mit ihren Regelungen bezüglich der EEG-Umlage. Doch bevor auf diese Regelungen im Folgenden näher eingegangen wird, ist zunächst die bisherige Debatte über die Berücksichtigung von Umweltschutz im Privatrecht in Grundzügen nachzuzeichnen.
3. Wiedererstarktes Interesse Vereinzelte Gesetze zum Umweltschutz existierten schon lange in Deutschland.24 Im Zuge der Industrialisierung bildete sich ein engmaschigeres Netz aus Vorgaben, welches unter dem Begriff des Umweltrechts als eigenständiges Rechtsgebiet wahrgenommen wurde.25 Und auch wenn das Umweltrecht bereits damals privatrechtliche Gesetze umfasste, wurde dem Umweltprivatrecht erst Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre in der Privatrechtswissenschaft gesteigerte Aufmerksamkeit zuteil. In dieser Zeit erschien eine Reihe von Arbeiten, die das Verhältnis von Privatrecht und Umwelt eingehender thematisierten.26 Weitere Veröffentlichungen rund um den 56. Deutschen Juristentag im 20 Das BImSchG enthält insbesondere Vorgaben darüber, welche Standards genehmigungsbedürftige und nicht genehmigungsbedürftige Anlagen einhalten müssen, um „Menschen, Tiere und Pflanzen, den Boden, das Wasser, die Atmosphäre sowie Kultur- und sonstige Sachgüter vor schädlichen Umwelteinwirkungen zu schützen und dem Entstehen schädlicher Umwelteinwirkungen vorzubeugen“ (§ 1 Abs. 1 BImSchG). 21 Die Vorgaben des BBodSchG verfolgen das Ziel, die Bodenqualität zu sichern bzw. wiederherzustellen (§ 1 S. 1 BBodSchG). Sie nehmen Private in die Pflicht, „schädliche Bodenveränderungen“ (§ 4 Abs. 1 BBodSchG) zu vermeiden bzw. zu beseitigen, s. insbes. §§ 4, 7 BBodSchG. 22 Das USchadG legt Mindestanforderungen zur Vermeidung und Sanierung von Umweltschäden fest, insbes. eine Informationspflicht (§ 4 USchadG), eine Gefahrenabwehrpflicht (§ 5 USchadG) und eine Sanierungspflicht (§ 6 USchadG). 23 Nach Kloepfer, Umweltrecht, 4. Aufl. 2016, § 7 Rn. 7 etwa §§ 59–62 LuftVG, §§ 27 ff. ChemG, §§ 71 f. BNatSchG und §§ 38 f. BJagdG. 24 Kloepfer, Zur Geschichte des deutschen Umweltrechts, 1994, S. 7. 25 Ebd., S. 30 ff. 26 Gerlach spricht von damaliger „Reformeuphorie“ in Privatrecht und Umweltschutz im System des Umweltrechts, 1989, S. 16 mit chronologischer Nennung von Forkel, Immissionsschutzrecht und Persönlichkeitsrecht, 1968; Lang AcP 171 (1971), 381 ff.; Bullinger VersR
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Jahr 198627 markieren, dass sich die Privatrechtswissenschaft spätestens zu diesem Zeitpunkt intensiver mit der Frage des Umweltschutzes durch Privatrecht auseinandersetzte.28 In den Abhandlungen wurde vermehrt die Ansicht vertreten, dass das Deliktsrecht des BGB mit seinen Anforderungen an den Nachweis von Kausalität und Verschulden nur bedingt geeignet sei, eine effektive Haftung bei Umweltschäden zu gewährleisten.29 In Folge dieser Analysen und einer politischen Diskussion darüber, wie sich ein Mehr an Umweltschutz erreichen ließe, wurde 1990 das UmweltHG verabschiedet, das eine Gefährdungshaftung30 für bestimmte Umwelteinwirkungen statuiert. Mit In-Kraft-Treten des UmweltHG nahm das Interesse an „Umweltschutz durch Privatrecht“ jedoch erst einmal merklich ab.31 In den letzten Jahren ist das Interesse der Privatrechtswissenschaft an der Thematik wiedererstarkt. Im Unterschied zu der Debatte der 1980er Jahre interessiert nun allerdings häufiger die Nachhaltigkeit.32 Auch die Fragestellungen sind vielgestaltiger geworden: Es wird erforscht, ob das Mängelgewährleistungsrecht nachhaltigen Konsum fördern könnte,33 oder inwieweit Corporate Social Responsibility (CSR)-Berichte dazu beitragen können, Unternehmen zu einem nachhaltigeren Wirtschaften zu bewegen.34 Im Gesellschaftsrecht erdenkt man außerdem Konstruktionen, die es Unternehmen ermöglichen, „Ge1972, 599 ff.; Simitis VersR 1972, 1087 ff.; Roth NJW 1972, 921 ff.; Köndgen UPR 1983, 345 ff.; zuvor schon Herschel JZ 1959, 76 ff. 27 Diederichsen, Referat zum 56. DJT, L 48 ff.; ebenfalls dazu zählend Hager NJW 1986, 1961 ff.; Medicus JZ 1986, 778 ff.; Ronellenfitsch/Wolf NJW 1986, 1955 ff.; v. Hippel ZRP 1986, 233 ff. 28 Gerlach, Privatrecht und Umweltschutz im System des Umweltrechts, 1989, S. 15. 29 S. etwa Köndgen UPR 1983, 345 f.; Lang AcP 171 (1971), 381 (382); Simitis VersR 1972, 1087 (1089). 30 S. etwa Staudinger/Kohler, 2017, § 1 UmweltHG Rn. 1; Kloepfer, Umweltrecht, 4. Aufl. 2016, § 6 Rn. 106. 31 Jedoch wurden auch nach 1990 wirkmächtige Monographien im Umweltprivatrecht veröffentlicht, s. insbesondere Seibt, Zivilrechtlicher Ausgleich ökologischer Schäden, 1994; Kühn, Umweltschutz durch Privatrecht, 2007. 32 S. etwa schon im Titel Halfmeier AcP 216 (2016), 717 ff.; Mittwoch in Rühmkorf (Hrsg.), Nachhaltige Entwicklung im deutschen Recht: Möglichkeiten und Grenzen der Förderung, 87 ff.; Schirmer ZEuP 2021, 35 ff.; Sonde, Das kaufrechtliche Mängelrecht als Instrument zur Verwirklichung eines nachhaltigen Konsums, 2016, S. 68 ff.; Stumpp ZBB 2019, 71 ff. 33 S. Brönneke in Brönneke/Wechsler (Hrsg.), Obsoleszenz interdisziplinär, 183 (190 ff.); Dickenhorst in Rühmkorf (Hrsg.), Nachhaltige Entwicklung im deutschen Recht: Möglichkeiten und Grenzen der Förderung, 195 (206 ff.); Hess, Geplante Obsoleszenz, 2018, S. 77; Latzel/Sausnikat ZIP 2016, 1420 (1424 ff.); Rudkowski RW 2015, 278 (279 ff.); Schlacke u. a. ZUR 2016, 451 (459 f.); Sonde, Das kaufrechtliche Mängelrecht als Instrument zur Verwirklichung eines nachhaltigen Konsums, 2016, S. 68 ff. 34 Bislang erstreckt sich die Pflicht, eine nichtfinanzielle Erklärung über die Berücksichtigung von Umweltbelangen abzugeben (§ 289c Abs. 1 und 2 Nr. 2 HGB), auf große Kapitalgesellschaften, die die Voraussetzungen des § 289b HGB erfüllen (zuzüglich Sondervorschriften für Kreditinstitute [§ 340a HGB], Versicherungsinstitute [341a HGB] und Societas Europea [Art. 61 SE-VO (EG) Nr. 2157/2001]). Zum Aspekt der Nachhaltigkeitsförderung durch CSR
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winn- und Gemeinwohlorientierung miteinander [zu] kombinieren.“35 Und im Deliktsrecht werden unter dem Schlagwort „Klimahaftungsrecht“ bekannte Ideen zur Nutzung des Privatrechts für Umweltschutzinteressen aufgegriffen.36 Die Untersuchungen zielen häufig darauf ab, Gestaltungsspielräume im Privatrecht aufzuzeigen. Es geht darum, zu benennen, wie das Privatrecht de lege lata und de lege ferenda als Werkzeug für Umweltschutz bzw. Nachhaltigkeit genutzt werden kann. So wird etwa angeregt, die Verjährungsfristen des Mängelgewährleistungsrechts zu verlängern, um dem Phänomen des geplanten Verschleißes zu begegnen,37 oder die Einrichtung von Klimahaftungsfonds vorgeschlagen, aus denen Schäden, die im Zusammenhang mit der Erderwärmung entstehen, beglichen werden sollen.38 Das Verhältnis von Umweltschutz zu Privatrecht lässt sich aber auch unter dem Aspekt der Berücksichtigung von Gemeininteressen im Privatrecht begutachten. Denn das Interesse an Umweltschutz kann nicht nur individuell, sondern auch überindividuell verstanden werden. Der Einzelne mag ein Interesse an Umweltschutz haben. Darüber hinaus besteht aber auch ein Gemeininteresse an Umweltschutz, das sich nicht individuell zuordnen lässt. Dieses Gemeininteresse an Umweltschutz wird im Umweltprivatrecht adressiert. Im Folgenden wird zunächst anhand einer Typisierung aufgezeigt, in welchen Konstellationen sich im Privatrecht Individualinteressen und das Gemeininteresse an Umweltschutz begegnen.39 Daran knüpfen weitergehende Beobachtungen zur Berücksichtigung des Gemeininteresses an Umweltschutz im Privatrecht an.40
II. Typisierung Theoretisch sind vier Konstellationen denkbar, in denen das Gemeininteresse an Umweltschutz auf eine privatrechtliche Rechtsbeziehung, bei der sich zwei s. Beisheim FS Stilz, 45 (51 ff.); Ekardt ZUR 2016, 463 (471 f.); Schrader ZUR 2013, 451 ff.; Spießhofer NZG 2018, 441 (445). 35 Möslein ZRP 2017, 175. Ferner Mittwoch in Rühmkorf (Hrsg.), Nachhaltige Entwicklung im deutschen Recht: Möglichkeiten und Grenzen der Förderung, 87 (92 ff.); Möslein/ Mittwoch RabelZ 80 (2016), 399 (404 ff.) im Anschluss an die Initiative für soziales Unternehmertum der Europäischen Kommission (COM[2011] 682 fin). 36 S. aus jüngerer Zeit Pöttker, Klimahaftungsrecht, 2014 und M.-P. Weller/Tran ZEuP 2021, 573 (597 ff.) oder aus Österreich Hinteregger JETL 2017, 238 ff.; hingegen krit. Chatzinerantzis/Appel NJW 2019, 881 ff. und Wagner NJW 2021, 2256 (2261 f.). 37 Gildeggen in Brönneke/Wechsler (Hrsg.), Obsoleszenz interdisziplinär, 269 (272 ff.); Sonde, Das kaufrechtliche Mängelrecht als Instrument zur Verwirklichung eines nachhaltigen Konsums, 2016, S. 171 f.; mit alternativen Vorschlägen Schlacke u. a. ZUR 2016, 451 (458 ff.). 38 Anknüpfend an die bestehende Debatte um spezielle Umwelthaftungsfonds Pöttker, Klimahaftungsrecht, 2014, S. 433 f. 39 S. Kap. 3. II. 40 S. Kap. 3. III.
II. Typisierung
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Private gegenüberstehen, einwirken kann: Erstens können die Interessen beider Privater darauf gerichtet sein, die Umwelt zu schädigen (1.). Zweitens kann auf Seiten des Anspruchstellers sein Individualinteresse mit dem Umweltschutzinteresse übereinstimmen und gegen das Interesse des Anspruchsgegners gerichtet sein (2.). Drittens können sich Umweltschutzinteressen und Individualinteressen unter umgekehrten Vorzeichen begegnen, wenn sich die Interessen des Anspruchstellers gegen die Interessen des Anspruchsgegners und das Umweltschutzinteresse richten (3.). Viertens können die Interessen beider Privater darauf gerichtet sein, die Umwelt zu schützen (4.). Die folgende Analyse stellt ausgewählte Beispiele aus der Rechtsprechung für eine jede der Konstellationen vor.
1. Individualinteressen vereint gegen Umweltschutzinteressen Bei gleichgerichtetem, umweltschädigendem Handeln, das sich auf vertragliche Vereinbarungen stützt, bewirkt die Rechtsprechung Umweltschutz, indem sie die Verträge für nichtig erklärt (§§ 134, 138 BGB). In der Folge können die Parteien keinen Rechtsschutz mehr für die Rückabwicklung der nichtigen Verträge verlangen (§ 817 S. 2 BGB).41 a) Nichtigkeit wegen Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot Wenn Gerichte über die Nichtigkeit eines Rechtsgeschäfts aufgrund eines Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot entscheiden (§ 134 BGB), müssen sie prüfen, ob „sich nicht aus dem Gesetz ein anderes ergibt.“ Zunächst ist also zu ermitteln, ob ein Gesetz das Verbot eines Rechtsgeschäfts anordnet oder nur eine Ordnungsvorschrift ist.42 Formulierungen wie „ist unzulässig“ oder „darf nicht“ sprechen für ein Verbotsgesetz mit Nichtigkeitsfolge, ebenso der zwingende Charakter einer Norm oder der Umstand, dass sich das Verbot gegen beide Vertragsparteien und nicht nur eine der Beteiligten richtet.43 Falls es sich um ein Verbot handelt, ist anschließend zu entscheiden, ob das Verbot die Nichtigkeit des Vertrages bezweckt.44 Bei der Bestimmung des Zwecks des Verbotsgesetzes verbietet sich eine schematische Betrachtung und es ist in jedem Einzelfall zu ermitteln, ob ein gegen ein Verbotsgesetz verstoßender Vertrag als nichtig anzusehen ist.45 41
Konkret mit Umweltschutz-Bezug OLG Oldenburg NuR 1996, 320. BGHZ 78, 263 (265); 93, 264 (267); 118, 142 (144). 43 BVerfG NJW 2016, 3153 (Rn. 46); BGHZ 132, 229 (231 f.); 146, 250 (257 f.); 159, 334 (341 f.); krit. zur Bemühung des Wortlauts MüKoBGB/Armbrüster, 9. Aufl. 2021, § 134 Rn. 49; s. auch zur Wertungsabhängigkeit Beater AcP 197 (1997), 505 (507); Krampe AcP 194 (1994), 1 (28 f.). 44 BGHZ 93, 264 (267); 110, 230 (240); 143, 283 (286); 199, 19 (Rn. 2 2). 45 MüKo/Armbrüster, 9. Aufl. 2021, § 134 BGB Rn. 66; Staudinger/Fischinger/Hengstberger, 2021, § 134 BGB Rn. 49. 42
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Kapitel 3: Umweltschutz
Als potenzielle Verbotsnormen aus dem Bereich des Umweltrechts kommen Vorschriften des Umweltstrafrechts (insbes. §§ 324 ff. StGB) sowie des öffentlichen Rechts (z. B. § 44 Abs. 2 BNatSchG, § 4 Abs. 1 BBodSchG) in Betracht. Die Zahl der Urteile, die sich mit der Frage der Nichtigkeit von „umweltschädigenden“ Verträgen aufgrund von Gesetzesverstößen auseinandersetzten, ist allerdings gering. Der Grund liegt auf der Hand: Selten werden Personen, die selbst Partei eines wohlmöglich gegen geltendes Recht verstoßenden Vertrages sind, einen Rechtsstreit beginnen. Dennoch sind einige Entscheidungen zu „umweltschädigenden“ Verträgen ergangen. So finden sich Urteile, in denen Gerichte die Nichtigkeit von Verträgen gemäß § 134 BGB feststellten. Für nichtig befand das LG Augsburg einen Vertrag, in dem sich ein Plakatierer verpflichtet hatte, Wahlwerbung in der freien Landschaft anzubringen.46 Das Gericht nahm einen Verstoß gegen Art. 2 des damaligen bay. AWG47 an, der Wahlwerbung im ländlichen Bereich ausnahmslos verbot. Es führte aus, dass das Gesetz den Schutz der freien Landschaft bezwecke. Um seinen Zweck erfüllen zu können, richte sich das Verbot nicht nur gegen die Werbetätigkeit an sich, sondern auch gegen Rechtsgeschäfte, die diese Tätigkeit zum Inhalt hätten. „Denn für das Vorliegen eines Verbotsgesetzes i. S. des § 134 BGB ist es gleichgültig, ob das Gesetz den Abschluß des Geschäftes unmittelbar verbietet […] oder ob der Inhalt des Rechtsgeschäfts mit dem Gesetz in Widerspruch steht.“48 Um das Schutzziel einer von Werbung unberührten Natur erreichen zu können, müsse das Verbot die privatrechtliche Nichtigkeit des Plakatiervertrages nach sich ziehen.49 Zudem entschied das OLG Celle in einem vergleichsweise eindeutigen Fall, dass ein Kaufvertrag, in dem sich der Verkäufer verpflichtet hatte, der Käuferin einen Ozelotmantel zu verkaufen, nichtig war.50 Der zuständige Zivilsenat erkannte auf einen Verstoß gegen das Veräußerungsverbot des damaligen § 34a Nds. NatSchG i. V. mit § 20f Abs. 2 Nr. 2 BNatSchG. Danach war der Verkauf von besonders geschützten Tierarten bzw. von Produkten, die aus den geschützten Tieren hergestellt waren (§ 20a Abs. 2 BNatSchG a. F.) verboten. Inzwischen ist ein Verbot dieses Inhalts in § 44 Abs. 2 Nr. 2 BNatSchG gesetzlich verankert. Schließlich streifte das LG Essen in zwei strafrechtlichen Entscheidungen 51 die privatrechtliche Wirkung von Verstößen gegen § 326 StGB, der den unerlaubten Umgang mit Abfällen unter Strafe stellt. Es verurteilte Personen, die an 46
LG Augsburg NJW 1958, 796 f. Bay. Gesetz über verunstaltende Außenwerbung vom 2.3.1954 (Bay. GVBl. S. 41). 48 LG Augsburg NJW 1958, 796 (797). 49 Das LG Augsburg würdigte, dass es sich bei der angebrachten Werbung um Wahlwerbung handelte. Angesichts vorhandener rechtmäßiger Möglichkeiten zur Wahlwerbung sah es aber keinen Anlass, politisches Wildplakatieren anders zu bewerten als kommerzielles. 50 OLG Celle Urt. v. 7.10.1994 – Az. 4 U 134/93 (juris). 51 LG Essen Urt. v. 23.1.2017 – Az. 35 KLs 35 Js 162/13 -13/15 (juris); Urt. v. 21.12.2016 – Az. 35 Kls 35 Js 162/13–26/16 (juris). 47
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einem illegalen Handel mit Quecksilberabfällen beteiligt waren. Bei seinen Ausführungen dazu, ob das aus den Taten „Erlangte“ einzuziehen sei (§ 73 Abs. 1 S. 1 StGB), führte das Gericht aus, dass die jeweiligen Täter Forderungen aus den Quecksilbergeschäften erlangt hätten. „Dass diese Ansprüche nach deutschem Recht (§§ 134, 138 BGB) nicht wirksam entstanden sein dürften, steh[e] der Annahme des Erlangens […] nicht entgegen.“52 In den bislang vorgestellten Entscheidungen stellten die Gerichte Verstöße gegen Umweltschutzvorschriften und eine daraus resultierende Vertragsnichtigkeit fest, ohne dass sie hierfür größeren Begründungsaufwand betreiben mussten.53 Argumentativ anspruchsvoller sind Fälle, in denen Gerichte beurteilen müssen, ob Verträge nichtig sind, die auf die Durchführung von umweltrechtlich genehmigungspflichtigen, aber nicht genehmigten Vorhaben gerichtet sind. Hierzu äußerte sich der BGH in einem Urteil,54 in dem ein Bauvertrag über die Errichtung von Garagen geschlossen worden war, bevor die erforderliche Genehmigung vorlag. Die Genehmigung wurde allerdings drei Monate nach Fertigstellung der Garagen erteilt. In dem konkreten Fall war das Bauvorhaben also genehmigungspflichtig und genehmigungsfähig. Der BGH sah den Vertrag als wirksam an. Eine Nichtigkeit gemäß § 134 BGB scheide aus, weil die baurechtlichen Genehmigungsvorgaben nicht den „Abschluß des Bauvertrages, sondern das Bauen ohne Genehmigung verb[ö]ten.“55 Mit dem Fall einer beabsichtigten Umgehung von Genehmigungsvorschriften hatte sich das OLG Jena zu beschäftigen.56 Die Klägerin, ein Unternehmen für die Errichtung von Anlagen zur Nutzung erneuerbarer Energien, vereinbarte mit den Beklagten, dass diese Genehmigungen für die Errichtung von Windenergieanlagen einholen und diese dann an einen Dritten abtreten sollten. Hinter dem Geschäftsmodell stand die Idee, eine Umweltverträglichkeitsprüfung zu verhindern. Diese war zum damaligen Zeitpunkt gemäß § 3b UVPG i. V. mit Nr. 1.6.1. der Anlage zum UVPG für Windkraftprojekte mit mehr als 20 Windenergieanlagen zwingend vorgesehen. Durch eine Stückelung des Projekts in Unterprojekte wollte man das auf Umweltschutz angelegte Prüfungsverfahren umgehen. Das OLG Jena nahm die Nichtigkeit des Vertrages an. Die Nichtigkeitsanordnung des § 134 BGB „erfass[e] auch zivilrechtliche Verträge, 52 LG Essen Urt. v. 23.1.2017 – Az. 35 KLs 35 Js 162/13–13/15, Rn. 399 (juris); Urt. v. 21.12.2016 – Az. 35 Kls 35 Js 162/13–26/16, Rn. 543 (juris). 53 In einem ähnlich gelagerten Fall konnte es das LG Bonn dahinstehen lassen, ob ein Vertrag zur Abfallbeseitigung wegen fehlender Genehmigung des abfallbeseitigenden Unternehmens nichtig ist gemäß § 134 BGB, da das Unternehmen über die erforderliche Genehmigung verfügte (LG Bonn Urt. v. 25.2.2011 – Az. 10 O 162/09, Rn. 33 [juris]). 54 BGH WM 1961, 1109. 55 Ebd., (1110). 56 OLG Jena Urt. v. 16.9.2009 – Az. 7 U 21/09 (juris).
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welche die Umgehung öffentlich-rechtlicher Normen bezwecken.“57 Das mit dem UVPG verfolgte Ziel des Umweltschutzes könne nicht erreicht werden, wenn es Projektträgern freistehe, durch eine Aufteilung von Vorhaben Genehmigungsverfahren zu beeinflussen.58, 59 Wie die geringe Zahl an Beispielen zeigt, sind Entscheidungen, die die Nichtigkeit umweltschädigender Verträge wegen Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot gemäß § 134 BGB feststellen, vereinzelt geblieben. b) Nichtigkeit aufgrund Sittenwidrigkeit Die Nichtigkeit eines gegen Umweltbelange gerichteten Vertrages kann sich jedoch nicht nur aus § 134 BGB, sondern auch aus § 138 Abs. 1 BGB ergeben. So urteilte das OLG Oldenburg in einem Fall, dass ein Vertrag zur Umsetzung eines umweltschädigenden Bauvorhabens sittenwidrig und damit nichtig gemäß § 138 Abs. 1 BGB sei.60 In dem der Entscheidung zugrunde liegenden Fall war einem Grundstückseigentümer von der zuständigen Behörde die Errichtung eines Teiches erlaubt worden, wobei die Genehmigung den für den Teichbau erforderlichen Sandaushub gemäß §§ 17 ff. Nds. NatSchG auf eine bestimmte Bodentiefe begrenzte. Der Grundstückseigentümer und der beauftragte Gartenbauunternehmer wollten sich mit einer Abmachung, nach der der Gartenbauunternehmer als Gegenleistung für seine Dienste den geschöpften Sand erhalten sollte, über die Grenzen des erlaubten Sandaushubes hinwegsetzen. Das OLG Oldenburg erklärte den Vertrag für sittenwidrig und nichtig, weil die Vereinbarung dem Gartenbauunternehmer sonst ermöglicht hätte, sich „unter Umgehung einer erteilten naturschutzbehördlichen Genehmigung Gelegenheit zum Sandabbau im Übermaß zu verschaffen.“61 Es führte aus: „Ein Rechtsgeschäft kann gegen die guten Sitten verstoßen, wenn es nach seinem aus der Zusammenfassung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu entnehmenden Ge57
Ebd., Rn. 36 (juris). Ebd., Rn. 38 (juris). 59 Bislang ist nicht abschließend geklärt, wie mit Fällen zu verfahren ist, die sich im „Verstoßspektrum“ zwischen temporärem Versäumnis der Einholung von Genehmigungen und intendierter Umgehung von Genehmigungsvoraussetzungen ansiedeln. Dabei geht es vor allem um die rechtliche Beurteilung von Verträgen, die auf die Umsetzung von Vorhaben gerichtet sind, die nach Umweltschutzrecht genehmigungsbedürftig, aber nicht genehmigungsfähig sind. Hier ermöglicht die „Offenheit“ des § 134 BGB eine differenzierte Beurteilung. Nicht jedes Bauunternehmen, das einen Werkvertrag über eine nach umweltschutzrechtlichen Standards nicht genehmigungsfähige Anlage abschließt, sollte sich mit den Folgen der Nichtigkeit des Vertrages konfrontiert sehen. Für die Annahme einer Nichtigkeit sprechen jedoch eine offensichtlich mangelnde Genehmigungsfähigkeit oder ein kollusives Zusammenwirken der Vertragsparteien (s. Erman/Arnold, 16. Aufl. 2020, § 134 Rn. 35; ferner Reichert/Wedemeyer BauR 2013, 1 [6]). 60 OLG Oldenburg NuR 1996, 320. 61 Ebd. 58
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samtcharakter wichtige Interessen der Gemeinschaft verletzt.“62 Im Anschluss erläuterte es, dass die „natürlichen Lebensgrundlagen einschließlich derer künftiger Generationen“63 ein solches schützenswertes Interesse darstellen.
2. Interessen des Anspruchstellers und Umweltschutz gerichtet gegen Interessen des Anspruchsgegners Den Schwerpunkt gerichtlicher Entscheidungen, die sich mit „Umweltschutz und Privatrecht“ auseinandersetzen, bilden Fälle, in denen die Interessen eines Anspruchstellers mit Umweltschutzinteressen zusammentreffen und sich gegen die Interessen eines Anspruchsgegners richten. Sie sind zumeist gemeint, wenn es heißt, dass Instrumente des Privatrechts die Umwelt „mittelbar“64 oder „reflexartig“65 schützen können. Hier finden sich Ansprüche aus verschiedenen Untergebieten des Privatrechts. Eine Rolle spielen insbesondere Gewährleistungsansprüche (a)), nachbarrechtliche Ansprüche (b)) sowie deliktische Schadensersatzansprüche (c)). 66 a) Sachmängelgewährleistung Immer wieder waren Gerichte damit befasst, zu entscheiden, ob die Belastung einer Kaufsache mit Schadstoffen oder umweltschädigende Eigenschaften der Sache Sachmängel im Sinne des § 434 BGB darstellen. Das kann entweder beim Bestehen eines subjektiven Fehlers der Fall sein. Dieser ist anzunehmen, wenn 62 Ebd.
63 Ebd.
64 Höpke/Thürmann in Rengeling (Hrsg.), Handbuch zum europäischen und deutschen Umweltrecht, Bd. I, 1477 (1479); Schirmer ZVersWiss 1990, 137 (141); s. auch Kloepfer NuR 1990, 337 (340); ders., Umweltrecht, 4. Aufl. 2016, § 7 Rn. 316; Medicus NuR 1990, 145 (147); Pelloni, Privatrechtliche Haftung für Umweltschäden und Versicherung, 1993, S. 53. 65 Diederichsen, Referat zum 56. DJT, L 48, 49; Medicus JZ 1986, 778 (785); Peukert Kobe U. L. Rev. 48 (2014), 45 (56); gleichsinnig Roth NJW 1972, 921 (922, 925); Schirmer ZVersWiss 1990, 137 (141, 186); Seibt, Zivilrechtlicher Ausgleich ökologischer Schäden, 1994, S. 11; Wagner NuR 1992, 201 (202). 66 Unter die Konstellation lassen sich ebenfalls Sachverhalte fassen, in denen eine Partei aufgrund arglistiger Täuschung (§ 123 Abs. 1 Alt. 1 BGB) oder Irrtums (§ 119 BGB) über die Umweltschädlichkeit einer Ware oder Dienstleistung zur Vertragsanfechtung oder Vertragsanpassung berechtigt ist. Zu denken ist etwa an Anfechtungen in Fällen der Diesel-AbgasManipulation, in denen Autokonzerne ihre Kunden im Unwissen darüber ließen, dass sie in ihren Autos einen Mechanismus eingebaut hatten, der im Normalbetrieb eine intensivere Form der Abgasfilterung abschaltete. Mit interessanter Argumentation klagte Deutsche See gegen VW. Deutsche See sah die Täuschung nicht nur im Einbau der Software, die bessere Abgaswerte unter Prüfbedingungen ermöglichte. Sie gab zudem an, über das Ziel einer nachhaltigen Unternehmensführung von VW getäuscht worden zu sein, zu dem sich das Unternehmen laut seinem CSR-Code verpflichtet habe. In erster Instanz (LG Braunschweig, Az. 11 O 274/17) scheiterte Deutsche See mit der Argumentation. Zur rechtlichen Einordnung Asmussen NJW 2017, 118 ff.
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die Kaufsache nicht die „vereinbarte Beschaffenheit hat“ (§ 434 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 BGB) bzw. sich nicht für die vertraglich „vorausgesetzte Verwendung eignet“ (§ 434 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 BGB) oder vereinbartes begleitendes Zubehör oder Anleitungen fehlen (§ 434 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 BGB). Oder ein Sachmangel ist anzunehmen, wenn die Kaufsache einen sog. objektiven Fehler aufweist. Ein objektiver Fehler ist einer Sache gem. § 434 Abs. 3 BGB zuzuschreiben, wenn es an der Eignung der Sache für die „gewöhnliche Verwendung“ (§ 434 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 BGB) oder der üblichen Beschaffenheit (vgl. § 434 Abs. 3 S. 1 Nr. 2, S. 2 BGB) fehlt. Ferner ist ein objektiver Fehler gegeben, wenn es der Sache an einer Beschaffenheit mangelt, die mit der einer Mustersache vergleichbar ist (vgl. § 434 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 BGB), oder die Sache ohne für gewöhnlich zu erwartendes Zubehör (§ 434 Abs. 3 S. 1 Nr. 4 BGB) übergeben wird. Gilt es zu klären, ob eine Sache einen Mangel aufweist, ist also von entscheidender Bedeutung, welche Aspekte bei der Bestimmung der Beschaffenheit einer Sache Berücksichtigung finden oder außen vor bleiben. Nach der Rechtsprechung des BGH, die sich auf Vorgängerversionen des 2022 neu gefassten § 434 BGB bezieht, zählen zur Beschaffenheit einer Sache alle „physischen Eigenschaften der Kaufsache“,67 „die Beziehungen der Kaufsache zur Umwelt jedenfalls dann […], wenn sie in irgendeiner Weise mit ihren physischen Eigenschaften zusammenhängen“68 sowie „alle Beziehungen der Sache zur Umwelt, die nach der Verkehrsauffassung Einfluss auf die Wertschätzung der Sache haben.“69 Der BGH wendet die zur Beschaffenheit entwickelten Standards in ständiger Rechtsprechung auf Fälle mit umweltrechtlichem Bezug an. So entschied er, dass Grundstücke mit einem Sachmangel behaftet sind, wenn sie mit Altlasten kontaminiert und die Käufer über die Schadstoffbelastung nicht aufgeklärt worden sind.70 Des Weiteren griff der BGH die abstrakten Vorgaben zur Beschaffenheit in einer Entscheidung über das Rücktrittsrecht eines Grundstückskäufers auf, durch dessen Grundstück mit Giftstoffen belastetes Grundwasser strömte.71 Der BGH nahm einen Sachmangel mit der Begründung an, dass das Grundstück „nicht die übliche Beschaffenheit eines zu Wohnzwecken genutzten Grundstücks auf[weise].“72 Zwar erstrecke sich das Eigentum an dem Grundstück nicht auf das darunter fließende Grundwasser, aber die „den Mangel auslösende Beschaffenheit“ gründe auf der „tatsächliche[n] Beziehung des Grundstücks zu seiner Umwelt.“73 Um eine „engere“ Verknüpfung zwischen belastetem Grundwasser und den Interessen des Grundstückskäufers herzu67 So auch die Rechtslage vor der Schuldrechtsreform, BeckOK BGB/Faust, 59. Ed. 2021, § 434 Rn. 14. 68 BGH NJW 2013, 1671 (Rn. 10). 69 BGH NJW 2013, 1948 (Rn. 15); NJW 2016, 2874 (Rn. 10). 70 Noch zum alten Schuldrecht BGH NJW 1991, 2900 (2901). 71 BGH NJW 2013, 1671. 72 Ebd. (Rn. 14). 73 Ebd. (Rn. 8).
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stellen, wies der BGH unterstützend darauf hin, dass die Grundwasserkontamination dem Käufer besondere Schutzmaßnahmen gegen Hochwasser abfordern würde, die ihn bei einer den umweltrechtlichen Standards entsprechenden Wasserqualität nicht getroffen hätten.74 Auch im Zusammenhang mit Klagen, die nach Bekanntwerden der Softwaremanipulation bei Dieselfahrzeugen erhoben worden sind, müssen Gerichte über die Mangelhaftigkeit der Fahrzeuge befinden.75 In einem Hinweisbeschluss 2019 entschied der BGH, dass die Ausstattung der Fahrzeuge mit einer Software, die zu einer im Vergleich zum normalen Fahrbetrieb verminderten Abgasemission unter Prüfbedingungen führt, die Fahrzeuge aller Voraussicht nach mangelhaft macht.76 Bei derart manipulierten Fahrzeugen dürfte „der weitere (ungestörte) Betrieb des Fahrzeugs […] im öffentlichen Straßenverkehr bei Gefahrübergang nicht gewährleistet sein und das Fahrzeug sich somit nicht zur gewöhnlichen Verwendung i. S. von § 434 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 BGB [a. F.] eignen.“77 Denn ohne eine vom Kraftfahrt-Bundesamt angeordnete, verpflichtende Entfernung der Software drohe die Entziehung oder Einschränkung der Betriebserlaubnis, so dass die betroffenen Fahrzeuge nicht mehr oder nur bedingt im öffentlichen Straßenverkehr eingesetzt werden dürften.78 Zusätzliche Impulse dahingehend, das Sachmängelgewährleistungsrecht für die Förderung des Umweltschutzes einzusetzen, werden sich von einer neuen Formulierung des § 434 BGB erhofft.79 In der 2022 in Kraft getretenen Version heißt es ausdrücklich, dass die gewöhnliche „Haltbarkeit“ einer Sache zu deren üblichen Beschaffenheit gehört. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass der vorschnelle Verschleiß eines Produkts als Sachmangel qualifiziert. 74
Ebd. (Rn. 15). Des Weiteren haben die Gerichte über deliktische Schadensersatzklagen zu entscheiden, s. etwa BGHZ 225, 316; OLG Karlsruhe ZIP 2019, 863 (Hinweisbeschluss); OLG Koblenz NJW 2019, 2237; OLG Köln NZV 2019, 249.; s. hierzu noch Kap. 3. II. b) cc). 76 BGH NJW 2019, 1133 (Rn. 4 ff.). Die Einschränkung „aller Voraussicht nach“ ist dem Umstand geschuldet, dass die Aussage in einem Hinweisbeschluss getätigt wurde. 77 BGH NJW 2019, 1133 (Rn. 17). Damit folgte der BGH der Annahme, ein Sachmangel sei gegeben, die zuvor schon vertreten wurde von OLG München Beschl. vom 23.3.2017 – Az. 3 U 4316/16, Rn. 13 – allerdings auf die Beschaffenheit abstellend (juris); OLG Köln Beschl. vom 27.3.2018 – Az. 18 U 112/17 Rn. 33 ff. – ebenfalls auf die Beschaffenheit abstellend (juris); OLG Nürnberg NZV 2018, 315 (Rn. 36 ff.) – in Hinblick auf die vertraglich vorausgesetzte Verwendung; OLG Frankfurt a. M. NJW-RR 2019, 114 (Rn. 41) – wiederum auf die Beschaffenheit abstellend. Ohne eingehende Begründung stellte auch das OLG Celle einen Mangel i. S. des § 434 Abs. 1 BGB fest (OLG Celle Beschl. vom 30.6.2016 – Az. 7 W 26/16, Rn. 6). 78 BGH NJW 2019, 1133 (Rn. 20). 79 Die Neufassung geht zurück auf die Warenkauf-RL vom 20.5.2019 (RL [EU] 2019/771 [ABl. 2019 L 136/28]). Laut ErwG 32 Warenkauf-RL soll eine „längere Haltbarkeit“ Verbraucher und Verbraucherinnen zu einem nachhaltigeren Konsum bewegen. Auf den Umstand hinweisend, dass mangelnde Haltbarkeit einer Sache schon zuvor als objektiver Sachmangel qualifizierte Lorenz NJW 2021, 2065 (2066); die „Neu“-Regelung ferner kritisch bewertend Bach/Wöbbeking NJW 2020, 2672 (2675). 75
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Die Entscheidungen zu Grundwasserbelastung und Softwaremanipulation an Fahrzeugen sowie die Betonung der mangelnden Haltbarkeit, um den objektiven Fehlerbegriff des § 434 BGB zu konkretisieren, sind insofern von Bedeutung für den Umweltschutz, als aus dem Bestehen eines Sachmangels eine Nachbesserungspflicht des Verkäufers folgt. Gemäß § 439 Abs. 1 BGB kann der Käufer zwischen Mangelbeseitigung und Ersatzlieferung wählen. Der Verkäufer ist je nach Wahl des Käufers verpflichtet, die schadstoffbelastete oder umweltschädigende Kaufsache entweder in einen umweltfreundlicheren Zustand zu versetzen oder zurückzunehmen. Doch ist die umweltschützende Wirkung der Sachmängelgewährleistung begrenzt:80 Erstens kann der Verkäufer die im Regelfall ressourcenschonendere Nachbesserung bei Unmöglichkeit oder unverhältnismäßig hohen Kosten verweigern (§§ 275, 439 Abs. 4 BGB). Im Fall des Grundstücks, unter dem verunreinigtes Grundwasser fließt, ist beispielshalber fraglich, inwiefern der Verkäufer in der Lage ist, nachzubessern. Zweitens ist zu bedenken, dass Ersatzlieferungen zusätzliche Ressourcen verbrauchen und zurückgesandte mangelhafte Produkte oftmals keiner Aufbereitung oder weiteren Verwendung zugeführt werden. Letztlich kann der vom BGH angewandte Sachmangelbegriff, der Aspekte des Umweltschutzes aufgreift, je nach Umständen, insbesondere dem Verhalten der Parteien, umweltschützend wirken. Er muss es aber nicht. b) Nachbarrechtliche Ansprüche Deutlich länger als das Sachmangelgewährleistungsrecht wird das Nachbarrecht herangezogen, um Umweltschutz mit privatrechtlichen Mitteln zu erreichen. Das Nachbarrecht des BGB „bildet“, wie Kloepfer es formuliert, „einen wichtigen historischen Pfad für privatrechtliche Entfaltungstendenzen im Umweltschutz.“81 Die umweltschützende Dimension des privatrechtlichen Nachbarrechts folgt aus den §§ 906 ff. BGB. Dabei bildet den Ausgangspunkt § 903 BGB, gemäß dem der Eigentümer einer Sache mit ihr nach Belieben verfahren darf. Da aber Dritte durch die beliebige Nutzung in ihren Interessen beeinträchtigt werden können, gewährt § 1004 BGB dem Eigentümer, § 862 BGB dem Besitzer einen Unterlassungsanspruch gegen wesentliche und ortsunübliche Beeinträchtigungen. Zu der Frage, wann eine Beeinträchtigung als wesentlich oder ortsunüblich anzusehen ist, enthält wiederum § 906 BGB Aussagen. Bei § 906 BGB handelt es sich um eine Zen tralnorm des Interessenausgleichs bei Nutzungskonflikten zwischen Nachbarn
80 Vgl. Rudkowski RW 2015, 278 (285); mit optimistischerer Einschätzung Hess, Geplante Obsoleszenz. Rechtliche Zulässigkeit in der Lebensdauerplanung von technischen Gebrauchsgütern, 2018, S. 204 ff. 81 Kloepfer, Umweltrecht, 4. Aufl. 2016, § 6 Rn. 21.
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– etwa wenn der Lärm einer Kirmes die Anwohner in ihrer Abendruhe stört,82 ein Baum Blätter auf ein benachbartes Grundstück abwirft,83 oder ein Fuhrbetrieb Gerüche und Geräusche emittiert. 84 Gemäß § 906 Abs. 1 S. 1 BGB muss ein Grundstückseigentümer eine Immission dulden, wenn sie „die Benutzung seines Grundstücks nicht oder nur unwesentlich beeinträchtigt.“ Darüber hinaus hat er eine wesentliche Immission zu dulden, sofern sie ortsüblich ist und nicht durch wirtschaftlich zumutbare Maßnahmen verhindert werden kann (§ 906 Abs. 2 S. 1 BGB); jedoch kann er hierfür einen finanziellen Ausgleich verlangen (§ 906 Abs. 2 S. 2 BGB). 85 Der BGH hat in seiner Rechtsprechung die Begriffe der „Wesentlichkeit“ und „Ortsüblichkeit“ schärfer konturiert. Eine Immission sieht er als wesentlich an, wenn sie nach dem Empfinden eines „verständigen Durchschnittsmenschen“86 „unter Würdigung anderer öffentlicher und privater Belange billigerweise nicht mehr zumutbar ist.“87 Ortsüblich ist sie, wenn „eine Mehrheit von Grundstücken in der Umgebung mit einer nach Art und Maß einigermaßen gleichbleibenden Einwirkung benutzt wird.“88 Hier liegen die Nahtstellen zwischen Nachbarrecht und Umweltrecht: Wenn bei der Beurteilung der Wesentlichkeit „öffentliche Belange“ zu berücksichtigen sind, so ist auch das Gemeininteresse an Umweltschutz, das nicht individuell zugeordnet werden kann, in die Erwägungen einzustellen.89 Diese Verbindung zwischen privatem Nachbarrecht und Umweltrecht kann auf eine lange Geschichte zurückblicken. Wie Ogorek nachzeichnete, bedienten sich Grundstückseigentümer im 19. Jahrhundert der actio negatoria als Vorläufer des Unterlassungsanspruchs aus § 1004 BGB, um gegen die Emissionen industriell genutzter, benachbarter Grundstücke vorzugehen.90 Zu Zeiten, in denen es noch keinen öffentlich-rechtlichen Umweltschutz gab, bot das privatrechtliche Nachbarrecht bereits Mittel und Wege, um umweltschädigendes Verhalten einzuschränken.91 Mit In-Kraft-Treten der Genehmigungsvorschriften des BauGB, BImSchG, etc. löste das präventiv planende öffentlich-rechtliche Umweltrecht das privatrechtliche Nachbarrecht in seiner Bedeutung für den Umweltschutz ab. Der Wechsel wird insbesondere daran deutlich, dass sich Zi82
BGHZ 111, 63 (72). BGHZ 157, 33 (41). 84 BGH NUR 2006, 266. 85 Der nachbarrechtliche Ausgleichsanspruch steht auch beeinträchtigten berechtigten Besitzern zu, BGHZ 147, 45 (49 f.); 198, 327 (330). 86 BGHZ 120, 239 (255). 87 Ebd. (Hervorhebung nicht im Original), s. auch BGHZ 121, 248 (255); 148, 261 (264). 88 BGHZ 111, 63 (72); ferner BGHZ 30, 273 (279); 120, 239 (260). 89 S. nur Brückner FS Krüger, 59 (64); MüKoBGB/ders., 8. Aufl. 2020, § 9 06 Rn. 78. 90 Ogorek in Coing/Wilhelm (Hrsg.), Wissenschaft und Kodifikation des Privatrechts im 19. Jahrhundert, Bd. I V, 40 ff.; ebenso Gerlach, Privatrecht und Umweltschutz im System des Umweltrechts, 1989, S. 24; Hager NJW 1986, 1961 (1962). 91 S. Trute in Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen, 167 (183 f.). 83
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vilgerichte bei der Beurteilung, ob eine Immission wesentlich i. S. des § 906 Abs. 1 BGB ist, an den öffentlich-rechtlichen Grenzwerten zu orientieren haben. Dabei komme „einem Überschreiten der Werte Indizwirkung für das Vorliegen einer wesentlichen Beeinträchtigung zu[] und ein Einhalten oder Unterschreiten der Grenz- oder Richtwerte [indiziere] die Unwesentlichkeit der Beeinträchtigung.“92 Somit hat das Nachbarrecht nunmehr die Funktion, das öffentlich-rechtliche Umweltrecht zu unterstützen.93 Einige ausgewählte höchstrichterliche und obergerichtliche Entscheidungen illustrieren, dass das Nachbarrecht umweltschützende Wirkung entfalten kann: Der BGH entschied, dass der Nachbar einer Windkraftanlage einen Anspruch darauf hat, dass die Windräder in der Nachtzeit stillstehen, wenn bei ihrem Betrieb die nächtlichen Grenzwerte der TA-Lärm überschritten werden.94 Auch wenn der Aspekt in der Entscheidungsbegründung nicht erwähnt wurde, profitieren von der verordneten nächtlichen Ruhe neben dem Nachbarn die in dem Gebiet heimischen Tiere. Nach Ansicht des BGH stellt es außerdem eine wesentliche Beeinträchtigung i. S. des § 906 Abs. 1 S. 1 BGB dar, wenn auf das Grundstück einer Biobäuerin Herbizide einwirken, die auf ein benachbartes Feld gespritzt werden.95 Somit wird – ebenfalls ohne dass dieser Umstand in der Begründung auftaucht – über den Unterlassungsanspruch der Bäuerin das Habitat der Tiere, die im und auf ihrem Acker leben, mitgeschützt. Ferner urteilte das KG Berlin, dass ein Grundstückseigentümer seinen Kamingebrauch auf ein für die Nachbarn erträgliches Maß zu begrenzen habe und nicht täglich Rußpartikel in die Luft emittieren dürfe.96 Die gerichtlich angeordnete Beschränkung der Partikelemission liegt nicht nur im Interesse der klagenden Nachbarn, sondern verbessert die Luftqualität in dem Gebiet allgemein. In anderen Fällen hat der BGH Umweltschutzbelange in seine Erwägungen zur Duldungspflicht gemäß § 906 Abs. 1 BGB eingestellt, im Ergebnis aber andere Interessen für gewichtiger erachtet. So müssen Nachbarn unter Umständen eine Lärmbelastung durch eine Jugendfreizeitstätte, die die geltenden Grenzwerte überschreitet, „im Interesse der Allgemeinheit an einer kinderund jugendfreundlichen Umgebung“97 dulden.98 Ebenso entschied der BGH, 92 BGH NJW 2004, 1317 (1318) mit Verweis auf BGHZ 148, 261 (264 f.). Anders aber, wenn die Grenzwerte nicht dem Individualschutz dienen, s. BGHZ 122, 76 (82); 161, 323 (334). 93 So bzgl. des Zivilrechts allg. Kloepfer NuR 1990, 337. 94 BGH NUR 2005, 350. 95 BGHZ 90, 255 (260 f.); ferner OLG Rostock NJW 2006, 3650 (3652). 96 KG Berlin NZM 2013, 742. 97 BGHZ 121, 248 (255). 98 Ebd. (253 ff.); wobei zu beachten ist, dass die Entscheidung vor der Einführung des § 2 2 Abs. 1a BImSchG (BGBl. I [2011], S. 1474) erging, welcher Geräuscheinwirkungen, die von Kindertageseinrichtungen oder ähnlichen Örtlichkeiten ausgehen, im Regelfall als unschädliche Umwelteinwirkungen klassifiziert (s. hierzu Landmann/Rohmer/Heilshorn/Sparwasser, UmwR, 2019, § 22 BImSchG Rn. 58 f.).
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dass Nachbarn Lärmbelästigungen eines jährlichen Rockfestivals zu dulden hätten, selbst wenn die von ihm ausgehenden Geräusche die öffentlich-rechtlichen Richtwerte übersteigen würden.99 Und gemäß dem OLG Stuttgart kann ein Grundstückseigentümer von seinem Nachbarn nicht verlangen, dass er in einem Freilandversuch mit gentechnisch veränderten Rüben den Übertritt von verändertem Erbmaterial auf sein Grundstück unterlässt.100 Wenn überhaupt werde der Boden durch einen Übertritt nur unwesentlich beeinträchtigt (vgl. § 906 Abs. 1 S. 1 BGB).101 Die Beispiele zeigen, dass das Nachbarrecht mitunter das Gemeininteresse an Umweltschutz, welches nicht einem individuellen Nachbarn zuzurechnen ist, schützt. Sie zeigen aber auch, dass das differenzierte System der §§ 903, 906 und 1004 BGB mit ihren Nutzungs-, Duldungs-, Entschädigungs- und Unterlassungspflichten den Interessen des Anspruchstellers und Umweltschutzinteressen keinen eindeutigen Vorrang gegenüber den Interessen des Anspruchsgegners sowie etwaigen entgegengesetzten Gemeininteressen einräumt. Nachbarn und Natur müssen es etwa gleichermaßen „erdulden“, wenn auf einem Festival laute Rockmusik ertönt. Schließlich steht mit dem nachbarrechtlichen Ausgleichsanspruch gemäß § 906 Abs. 2 S. 2 BGB ein Instrument zur Verfügung, bei dem eine finanzielle Kompensation des Nachbarn das Abstellen der umweltschädigenden Emission ersetzt. In Fällen, in denen der Ausgleichsanspruch gemäß § 906 Abs. 2 S. 2 BGB zur Anwendung kommt, werden Umweltschutz interessen dann auch allenfalls mittelbar geschützt. Lediglich die Erwägung, die Kosten der Emission zu verringern, mag den störenden Nachbarn veranlassen, sie in Zukunft zu unterlassen. c) Haftungsrecht Interessen des Anspruchstellers und das Gemeininteresse an Umweltschutz können sich auch im Haftungsrecht gegen die Interessen des Anspruchsgegners vereinen. Bewertet man das umweltschützende Potenzial des Haftungsrechts, so ist es im Hinblick auf gewisse Aspekte größer und im Hinblick auf andere geringer als das des Nachbarrechts. Einerseits ist der Anwendungsbereich des Haftungsrechts weiter als der des Nachbarrechts. Er erfasst einen größeren Kreis von möglichen Anspruchsinhabern als der örtlich eng definierte Adressatenkreis des Nachbarrechts. Zudem ist der Schutz nicht auf Eigentums- bzw. Besitzbeeinträchtigungen begrenzt, sondern erstreckt sich auf weitere Rechts99
BGH NJW 2003, 3699 (3701). OLG Stuttgart NUR 2000, 357. 101 Zur Begründung führte das OLG Stuttgart aus, dass es weder einen „wissenschaftlich verifizierte[n] Anhalt für negative Auswirkungen auf die Bodenfruchtbarkeit“ gebe, noch eine stabile Integration der gentechnisch veränderten DNA in Bodenbakterien in mehr als nur vereinzelten Fällen zu befürchten sei (ebd., [358]). 100
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güter wie Leben, körperliche Integrität und Gesundheit.102 Andererseits ist das Haftungsrecht lediglich darauf ausgerichtet, Kompensation für bereits eingetretene Schäden zu gewähren, während im Nachbarrecht vorbeugende Abwehr- und Unterlassungsansprüche (§§ 1004, 862 BGB) dominieren.103 Haftungsrechtlich können zukünftige Umweltschäden nur mittelbar verhindert werden, nämlich wenn das Wissen um etwaige Schadensersatzforderungen potenzielle Schädiger zu einem verantwortungsbewussteren Umgang mit der Umwelt anhält.104 Mit dem gestiegenen Umweltbewusstsein hat sich das Haftungsrecht in den vergangenen Jahrzehnten fortentwickelt.105 Denn von seinem ursprünglichen Ansatz her ist das Deliktsrecht des BGB nur bedingt geeignet, Kompensation für Umweltschäden zu gewähren. Als zentrales Hemmnis erwies sich die Beweislast. Damit ein Gericht einer Klägerin Schadensersatz gemäß § 823 Abs. 1 BGB zuspricht, ist diese im Normalfall in vollem Umfang beweisbelastet. Doch gestaltet sich in Fällen der Umwelthaftung der Nachweis insbesondere von Kausalität und Verschulden schwer.106 Hinzu kommt, dass bei Umweltschäden vermehrt Situationen anzutreffen sind, in denen eine Mehrheit an Schädigern die individuelle Schadenszurechnung erschwert,107 und die Streuung eines Schadens über eine Vielzahl an Geschädigten diese an der Rechtsdurchsetzung hindert.108 102 Das Rechtsgut Freiheit i. S. des § 823 Abs. 1 BGB dürfte im Umweltdeliktsrecht eine wenn überhaupt nur untergeordnete Rolle spielen. Nicht geschützt ist das Interesse an einer sauberen Umwelt als Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, hierzu die Überlegungen von Forkel, Emissionsschutz und Persönlichkeitsrecht, 1968, S. 26 ff.; Roth NJW 1972, 921 (922 f.); ablehnend u. a. Marburger, Gutachten zum 56. DJT, C 120; in der Folge Gmehling, Die Beweislastverteilung bei Schäden aus Industrieimmissionen, 1988, S. 194 f. Ebenfalls nicht geschützt sind Umweltgüter als sonstige Rechte i. S. des § 823 Abs. 1 BGB, s. Vorschlag von Köndgen UPR 1983, 345 (349 ff.); a. A. Diederichsen, Referat zum 56. DJT, L 48 (73 ff.); Gmehling, Die Beweislastverteilung bei Schäden aus Industrieimmissionen, 1998, S. 197 ff.; Kloepfer NuR 1990, 337 (346); Marburger, Gutachten zum 56. DJT, C 120 f.; Medicus JZ 1986, 778 (779 f.); Seibt, Zivilrechtlicher Ausgleich ökologischer Schäden, 1994, S. 50; Selmer, Privates Umwelthaftungsrecht und öffentliches Gefahrenabwehrrecht, 1991, S. 18. 103 Für die Zwecke dieser Untersuchung kann dahinstehen, wie die Anwendungsbereiche von §§ 1004, 862 BGB und deliktischen Schadensersatzansprüchen stimmig gegeneinander abgegrenzt werden können. Es wird verwiesen auf die Ausführungen bei Armbrüster NJW 2003, 3087 (3088 f.); Staudinger/Thole, 2019, § 1004 Rn. 349 ff. 104 Kloepfer, Umweltrecht, 4. Aufl. 2016, § 7 Rn. 113, 115. 105 Anlässlich des 56. DJT gab es Überlegungen zu einer über den jetzigen status quo hinausgehenden umweltschützenden Fortentwicklung des Deliktsrechts, s. Hager NJW 1986, 1961 (1966 ff.) sowie die krit. Besprechung der Vorschläge bei Diederichsen, Referat zum 56. DJT, L 72 ff. Mit Visionen für das US-Recht Kysar Yale Law School FS Paper 3849 (2011), 1 ff. 106 Diederichsen, Referat zum 56. DJT, L 48 (79); Kloepfer NuR 1990, 337 (341); Medicus JZ 1986, 778 (784); vgl. Hager NJW 1986, 1961 (1967). 107 S. etwa Endres, Eigentumsfreiheitsklage contra Naturschutz, 1997, S. 36; Medicus JZ 1986, 778 (781 f.); Schirmer ZVersWiss 1990, 137 (152); Wagner NuR 1992, 201 (203). 108 Zu dieser Schadenskategorie Meller-Hannich, Gutachten zum 72. DJT, A 24 ff.;
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Angefangen in den 1970er Jahren änderte der BGH die Darlegungs- und Beweislast auf dem Gebiet ab.109 Er hielt die Untergerichte an, „unter Anwendung des § 287 ZPO den Beweisschwierigkeiten des [B]eeinträchtigten […] Rechnung zu tragen.“110 Im Kupolofen-Urteil entschied der BGH, dass bei Schädigungen durch Emissionen die Darlegungs- und Beweislast im Hinblick auf die Tatbestandsmerkmale Zurechenbarkeit und Verschulden des § 823 Abs. 1 BGB abweichend von der gesetzlichen Ausgangsregelung verteilt sei.111 Es sei „Sache der Beklagten […], darzutun und zu beweisen, daß die von ihrem Grundstück ausgehenden Emissionen sich im Rahmen einer ortsüblichen Benutzung ihres Grundstücks gehalten haben und daß sie die ihr wirtschaftlich zumutbaren Vorkehrungen getroffen hat, um eine Schädigung […] zu verhindern.“112 Diese Praxis wurde in dem 1991 in Kraft getretenen UmweltHG aufgenommen.113 Gemäß dem UmweltHG wird vermutet, dass der Betrieb gefahrgeneigter, näher definierter Anlagen für Schäden verantwortlich ist (§ 6 UmweltHG). Die Vermutung soll allerdings dann nicht greifen, wenn die Anlagen bestimmungsgemäß betrieben werden (§ 6 Abs. 2 UmweltHG) oder „wenn ein anderer Umstand nach den Gegebenheiten des Einzelfalles geeignet ist, den Schaden zu verursachen“ (§ 7 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 UmweltHG). Darüber hinaus bestimmt das UmweltHG in seinem Anwendungsbereich die Gefährdungshaftung114 zum geltenden Prinzip (§ 1 UmweltHG). Schließlich gestattet § 16 Abs. 1 UmweltHG dem Schädiger bei Schäden, die Natur und Landschaft beeinträchtigen (ökologischen Schäden), den Wechsel von einer Naturalrestitution zu einem Wertersatz erst unter erhöhten Voraussetzungen.115
Strünck, Gibt es ein Recht auf Gemeinwohl? Öffentliche Interessen im Blickwinkel von Rechts- und Politikwissenschaft, 2014, S. 14. 109 S. v. Bar, Gutachten zum 62. DJT, A 33. 110 BGHZ 70, 102 (108); zuvor schon BGHZ 66, 70 (77). 111 BGHZ 92, 143 (147); hins. Beweiserleichterung bei Kausalitätsnachweis bestätigt in BGH NJW 1997, 2748. 112 BGHZ 92, 143 (147). Der BGH stützte seine Modifikation auf zwei Argumente: Erstens sei der Gedanke des § 9 06 BGB heranzuziehen, gemäß dem den Emittenten die Darlegungsund Beweislast treffe, dass seine Grundstücksnutzung ortsüblich sei und die Beeinträchtigung der umliegenden Grundstücke nicht durch wirtschaftlich zumutbare Maßnahmen verhindert werden könne (147 f.). Zweitens treffe bei der Umwelthaftung wie bei der mit Beweiserleichterungen arbeitenden Produzentenhaftung zu, dass dem „Geschädigten die Einsicht in die Verhältnisse […] entzogen“ sei (150 f.). 113 S. Kloepfer, Umweltrecht, 4. Aufl. 2016, § 7 Rn. 144. 114 Weiterführend Staudinger/Kohler, 2017, § 1 UmweltHG Rn. 36 ff. 115 Im genauen Wortlaut: „Stellt die Beschädigung einer Sache auch eine Beeinträchtigung der Natur oder der Landschaft dar, so ist, soweit der Geschädigte den Zustand herstellt, der bestehen würde, wenn die Beeinträchtigung nicht eingetreten wäre, § 251 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs mit der Maßgabe anzuwenden, daß Aufwendungen für die Wiederherstellung des vorherigen Zustandes nicht allein deshalb unverhältnismäßig sind, weil sie den Wert der Sache übersteigen.“ – § 16 Abs. 1 UmweltHG.
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Kapitel 3: Umweltschutz
Im Entwurf zum UmweltHG wurde die Erwartung formuliert, dass das Gesetz „Umweltschutz und die Rechtsstellung der Geschädigten nachhaltig verbesser[n]“116 solle. Diese Erwartung hat das UmweltHG nicht einlösen können: Es ist nur wenig Rechtsprechung mit Bezügen zum UmweltHG ergangen und wenn, dann betraf sie eher Nebenschauplätze. Gerichte befassten sich vereinzelt damit, ob bestimmte Anlagen unter den Anlagenbegriff des UmweltHG subsumiert werden können,117 und unter welchen Umständen sie auf die Kausalitätsvermutung des § 6 UmweltHG sowie deren Widerlegung eingehen müssen.118 Die Schadensberechnung bei ökologischen Schäden i. S. des § 16 UmweltHG beschäftigte die Gerichte dagegen kaum. Während das OLG Köln die Auffassung vertrat, dass die in § 16 UmweltHG zum Ausdruck kommende Stärkung des Anspruchs auf Naturalrestitution bei ökologischen Schäden auf andere Bereiche des Umwelthaftungsrechts zu übertragen sei,119 ließ der BGH die Analogiefähigkeit des § 16 UmweltHG in zwei Entscheidungen dahinstehen.120 Neben dem UmweltHG existieren weitere umweltrechtliche Spezialgesetze, die eine Haftung bei Beeinträchtigungen mit Umweltbezug begründen. Zu ihnen zählen etwa § 89 WHG (ehemals § 22 WHG) sowie §§ 32 ff. GenTG,121 die wie das UmweltHG eine Gefährdungshaftung festlegen. Bis auf § 89 WHG (ehemals § 22 WHG) befasste sich die Rechtsprechung selten mit umwelthaftungsrechtlichen Spezialgesetzen, die neben dem UmweltHG Anwendung finden.122 Dies lässt sich teilweise mit dem begrenzten Anwendungsbereich der Gesetze erklären. Es lässt aber auch darauf schließen, dass sich das umweltschützende Potenzial der Gesetze nicht so sehr in der schadensregulierenden Rechtsanwendung zeigt, sondern in ihrer präventiv verhaltenssteuernden Wirkung. Im Umwelthaftungsrecht deutet sich aber möglicherweise ein Wandel an. Eine stärkere Berücksichtigung von Umweltschutzinteressen ist in der Rechtsprechung zur Haftung für Folgen des Klimawandels einerseits und zum Scha116
BT-Drs. 11/7104, S. 1. OLG Zweibrücken Urt. v. 17.12.2003 – Az. 1 U 137/00, Rn. 19 ff. (juris); OLG Naumburg Urt. v. 12.9.2000 – Az. 13 U 44/00, Rn. 59 (juris). 118 So entschied der BGH, dass auf die Regel, gemäß der von einer Ursächlichkeit des Anlagebetriebs für einen entstandenen Schaden zu schließen sei, sowie die hiervon bestehenden Ausnahmen nicht abgestellt werden dürfe, wenn dem Geschädigten bereits auf anderem Wege der Kausalitätsbeweis gelungen sei – BGH NJW 1997, 2748 (2750). Des Weiteren sei die Ursachenvermutung der §§ 6 , 7 UmweltHG auf den Ausgleichsanspruch nach § 24 Abs. 2 BBodSchG analog anzuwenden – BGHZ 158, 354 (370 f.); BGH Urt. v. 29.9.2016 – Az. I ZR 11/15 Rn. 42 (juris). Zur Ursachenvermutung ferner OLG Düsseldorf Urt. v. 10.12.1993 – Az. 22 U 172/92 (juris); NJW 1998, 3720; NJW-RR 2002, 26; Urt. v. 29.10.2010 – Az. I-22 U 70/10, Rn. 67 f. (juris); Urt. v. 11.12.2013 – Az. I-18 U 95/11, 18U 95/11, Rn. 177 ff. (juris); OLG Karlsruhe Urt. v. 19.12.2014 – Az. 8 U 83/12, Rn. 30 (juris). 119 OLG Köln Urt. v. 5.5.2009 – Az. 23 U 9/08, Rn. 13 (juris). 120 BGH NJW 2006, 1424 (Rn. 12); NZM 2010, 442 (Rn. 2 2). 121 Kloepfer listet zusätzlich §§ 25 ff. AtG und § 29 KSpG auf (Kloepfer, Umweltrecht, 4. Aufl. 2016, § 6 Rn. 237 ff.). 122 Zu § 89 WHG (§ 2 2 WHG) hingegen s. nur BGHZ 103, 129; 142, 227; 172, 287. 117
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densersatz für sittenwidrige vorsätzliche Schädigung (§ 826 BGB) andererseits wahrnehmbar. In einem viel beobachteten123 Beschluss veranlasste das OLG Hamm, Beweis darüber zu erheben, inwiefern eine kausale Verbindung zwischen den CO²-Emisionen eines deutschen Stromerzeugers und dem Anstieg eines peruanischen Gletschersees besteht.124 Geklagt hatte ein Anwohner, der befürchtet, sein Grundstück könne überflutet werden, und eine Beteiligung des Stromkonzerns an den Kosten seiner Absicherung fordert.125 Bereits der Beweisbeschluss zeigt, dass das OLG Hamm sich offen zeigt, im Klimahaftungsrecht die Standards zu modifizieren, nach denen eine Schädigung einer Verletzungshandlung objektiv zugerechnet werden kann.126 Ähnliche Umorientierungen zeigen sich in der Rechtsprechung des BGH und der Obergerichte anlässlich der rechtlichen Aufarbeitung des Diesel-Skandals.127 Der VI. Zivilsenat bewertete die Täuschungen über die tatsächlich anfallenden Abgasemissionen als sittenwidrig i. S. des § 826 BGB. Dabei folgte er einer Argumentation, die schon auf obergerichtlicher Ebene vom OLG Karlsruhe128 und dem OLG Koblenz129 geäußert worden war. Der BGH führte aus, dass mit dem Einbau von Abschalteinrichtungen „eine erhöhte Belastung der Umwelt mit Stickoxiden“130 einhergehe und der Hersteller der manipulierten Fahrzeuge „mit einer Gesinnung“ gehandelt habe, „die sich […] im Hinblick auf die […] geltenden Rechtsvorschriften, insbesondere zum Schutz der Bevölkerung und der Umwelt, gleichgültig zeigt.“131 Eine bewusste Missachtung des Gemeininteresses an Umweltschutz diente mithin als Argument, um die Verwerflichkeit der Täuschung zu begründen. Das OLG Koblenz verknüpfte zusätzlich seine Erwägungen zum Gemeininteresse an Umweltschutz mit solchen zum Individualinteresse an Umweltschutz. Käufer manipulierter Dieselfahrzeuge könnten bei ihren Kaufentscheidungen von Umweltschutzerwägungen geleitet sein. Stelle sich im Nachhinein dagegen heraus, dass ihre Fahrzeuge besonders umweltschädlich seien, so seien auch ihre jeweiligen Individualinteressen, „möglichst umweltschonende Produkte“ zu kaufen, beeinträchtigt.132 Das OLG Koblenz etablierte somit eine Verbindung zwischen dem Gemeininteresse und dem Individualinteresse an Umweltschutz. 123 Hohlbein VersR 2019, 845 (852 f.); Keller/Kapoor BB 2019, 706 ff.; Kling KJ 51 (2018), 213 ff.; Stäsche EnWZ 2019, 248 (255). 124 OLG Hamm ZUR 2018, 118 f. 125 Zum Hintergrund Kling KJ 2018, 213 ff. 126 Vgl. Hohlbein VersR 2019, 845 (853). 127 BGHZ 225, 316. 128 OLG Karlsruhe ZIP 2019, 863. 129 OLG Koblenz NJW 2019, 2237. 130 BGHZ 225, 316 (322). 131 BGHZ 225, 316 (325); zuvor ähnlich OLG Karlsruhe ZIP 2019, 863 (867) (im Rahmen eines Hinweisbeschlusses) und OLG Koblenz NJW 2019, 2237 (Rn. 41). 132 OLG Koblenz NJW 2019, 2237 (Rn. 41).
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Kapitel 3: Umweltschutz
3. Interessen des Anspruchstellers gegen Interessen des Anspruchsgegners und Umweltschutz Eine Reihe nachbarrechtlicher Entscheidungen traf auf eine andere Struktur der Interessenlage: Hier standen die Interessen des Anspruchstellers den Interessen des Anspruchsgegners sowie dem Gemeininteresse an Umweltschutz gegenüber. Im Froschlärm-Urteil aus dem Jahr 1992 setzte sich der BGH damit auseinander, ob ein Nachbar von seinem angrenzenden Grundstückseigentümer die Trockenlegung eines von ihm errichteten Teiches, in dem sich Frösche angesiedelt hatten, verlangen konnte bzw. ob ihm ein nachbarlicher Ausgleichsanspruch gemäß § 906 Abs. 2 S. 2 BGB zustehe.133 Das Quaken der Frösche führte zu einer erheblichen Lärmbelästigung des Anspruchstellers; gleichzeitig standen die Tiere unter Naturschutz, so dass ihr Biotop nicht ohne Weiteres angetastet werden durfte. Der privatrechtliche Abwehranspruch des Nachbarn traf also auf das Individualinteresse des angrenzenden Grundstückseigentümers und das Gemeininteresse an Umweltschutz. Der BGH suchte den Ausgleich, indem er entschied, dass „eine Verurteilung“ des Grundstückseigentümers „zur Lärmabwehr unter dem Vorbehalt einer behördlichen Ausnahmegenehmigung“ in Betracht komme.134 Ob eine solche Ausnahmegenehmigung zu erhalten sei, sei von dem Zivilgericht, an das der Fall zurückverwiesen wurde, zu prüfen.135 Für den Fall, dass eine naturschutzrechtliche Ausnahmegenehmigung nicht erteilt werden könne, stünde dem Nachbarn allerdings auch kein Ausgleichsanspruch gemäß § 906 Abs. 2 S. 2 BGB (direkt oder analog) zu. Zwar sei der Eigentümer wie in anderen von § 906 Abs. 2 S. 2 BGB geregelten Fällen zur Duldung der Emission verpflichtet; jedoch könne der Grundstückseigentümer, auf dessen Grundstück sich der Teich befand, im Unterschied zu den sonst von § 906 Abs. 2 S. 2 BGB erfassten Fällen „die Einwirkung nicht unterlassen“, weil auch er an die naturschutzrechtlichen Vorschriften gebunden sei.136 In Hinweisen an das letztlich den Fall entscheidende Instanzgericht verdeutlichte der BGH zudem, welcher Maßstab bei der Beurteilung der Wesentlichkeit einer Emission i. S. des § 906 Abs. 1 BGB anzulegen sei. Es müsse auf das Empfinden eines „verständigen Durchschnittsmenschen“137 abgestellt werden. Das bedeute, dass „das veränderte Umweltbewußtsein und der im Naturschutzgesetz verankerte Artenschutz bei Fröschen nicht unberücksichtigt bleiben“ könnten.138
133
BGHZ 120, 239. Ebd., (240) (amtl. Leitsatz lit. f., inhaltlich ausgeführt 245 ff.). 135 Zur prozessualen Ausgestaltung der Konstruktion Uerpmann NuR 1994, 386 (387 f.). 136 BGHZ 120, 239 (252). 137 Ebd., (255); näher Klaus Vieweg/Röthel NJW 1999, 969. 138 Ebd., (255). 134
II. Typisierung
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Aus dem Froschlärm-Urteil lassen sich folgende Schlüsse ziehen: Erstens gewährt das Privatrecht keine Abwehr gegen Störungen, die umweltrechtlichen Schutz genießen.139 Zweitens ist bei solchen Störungen ein Ausgleichsanspruch verwehrt. Drittens führt die Berührung von Umweltschutzinteressen dazu, dass die Duldungspflichten gemäß § 906 Abs. 1 BGB umfassender ausfallen können.140 Später ist der BGH allerdings mitunter von seinem Standpunkt abgerückt, dass einem Nachbarn für Störungen, die er aus naturschutzrechtlichen Gründen zu dulden hat, auch keine Ausgleichsansprüche gemäß § 906 Abs. 2 BGB (analog) zustehen. Die Rechtsprechung des BGH ist in diesem Punkt als schwankend zu charakterisieren. Die Abweichungen sind Indiz dafür, dass der BGH bislang noch keine einheitliche Auffassung dazu entwickelt hat, unter welchen Umständen dem störenden Eigentümer und unter welchen Umständen dem beeinträchtigten Nachbarn die mit dem Umweltschutz verbundenen Kosten aufzuerlegen sind. So entschied der BGH 2003, dass ein Eigentümer es zwar zu dulden hat, wenn Äste eines bestandsgeschützten Baumes vom Nachbargrundstück auf sein Grundstück ragten, ein nachbarrechtlicher Ausgleichsanspruch bei einer wesentlichen Beeinträchtigung aber durchaus in Betracht kommt.141 Ein Jahr später urteilte der BGH in einem ähnlich gelagerten Fall: „Hat der Grundstückseigentümer eine Gefahrenlage geschaffen, an deren Beseitigung er durch Rechtsvorschriften (hier: Naturschutz) gehindert ist, kann er, wenn sich die Gefahr in einem Schaden des Nachbarn verwirklicht, diesem zum Ausgleich entsprechend § 906 Abs. 2 S. 2 BGB verpflichtet sein.“142 In einem weiteren Fall, in dem Laub und Tropfwasser eines unter Bestandsschutz stehenden Baumes auf ein Nachbargrundstück fielen, sprach sich der BGH ebenfalls für einen Ausgleichsanspruch des zur Duldung der Beeinträchtigung verpflichteten Nachbarn gemäß § 906 Abs. 2 S. 2 BGB aus. Die Grundstücks eigentümer, auf deren Grundstück sich die störenden Bäume befanden, hätten bislang „pflichtwidrig das ungehinderte Wachstum der Bäume hingenommen.“143 Versagte man nun den Nachbarn einen Ausgleichsanspruch, „wäre das ein Fall des unzulässigen Betreibens von Naturschutz auf [deren] Kosten.“144
139
Zuletzt bestätigt in BGH Urt. v. 19.7.2019 – Az. V ZR 175/17 (juris). Endres, Eigentumsfreiheitsklage contra Naturschutz, 1997, S. 129 f. 141 BGHZ 157, 33 (37, 43). 142 BGHZ 160, 232 (amtl. Leitsatz, inhaltlich ausgeführt in 236 ff.). Der BGH grenzte den Fall von dem des Froschlärm-Urteils ab, indem er darauf abstellte, dass in ersterem die Rodung als ursprüngliche Störung einen Zweck „außerhalb […] des Naturschutzes“ verfolgt habe, während in letzterem die Anlage des Teiches als ursprüngliche Störung eine naturschutzfördernde „Nutzungsentscheidung“ des Nachbarn gewesen sei (BGHZ 160, 232 [239]; hierzu krit. Röthel JZ 2005, 578 [580]). 143 BGH NZM 2005, 318 (319). 144 Ebd. 140 Vgl.
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Kapitel 3: Umweltschutz
Im Gegensatz hierzu führte der BGH 2017 in einem Urteil zur Laubrente aus: „Ein nachbarrechtlicher Ausgleichsanspruch analog § 906 Abs. 2 S. 2 BGB ist ausgeschlossen, falls das Naturschutzrecht dem Störer verbietet, die Einwirkung auf das Grundstück des Gestörten zu unterlassen oder abzustellen. Hätte der Störer gleichwohl an den Gestörten einen Ausgleich zu leisten, müsste er eine Entschädigung für die Folgen einer gesetzlichen Regelung bezahlen, die der Gesetzgeber nicht im Interesse des Störers, sondern im Allgemeininteresse für notwendig hält. Hierfür gibt es keine Grundlage.“145
Wie die unterschiedlichen Ausführungen des BGH zum nachbarrechtlichen Ausgleichsanspruch zeigen, hat sich zur letztlichen Kostentragungspflicht des Naturschutzes unter Privaten noch keine einheitliche Linie herausgebildet.146
4. Gleichlauf von Individualinteressen und dem Gemeininteresse an Umweltschutz Das Privatrecht kann auch einvernehmliches Mittel zur Förderung des Umweltschutzes sein. Auch dafür kennt die Praxis Beispiele: Private können nachhaltige Verträge schließen. Parteien können sich über den Kauf biologisch angebauter Lebensmittel oder Textilien einigen, Verbraucher ihre Kaufentscheidungen von dem Verzicht auf Verpackungsmüll abhängig machen und Unternehmen sich von ihren Konkurrenten am Markt abheben, indem sie darauf verweisen, dass bei der Erzeugung ihrer Produkte nur Strom aus erneuerbaren Energien verwendet wurde. In diesen Fällen kann das Privatrecht unterstützend wirken. Dann beeinflusst es mittels seiner Informationsfunktion die Entscheidungsfindung von Verbrauchern von Waren und Dienstleistungen. Zu denken ist etwa an die Verpflichtung zur Erstellung von CSR-Berichten,147 die Interessierte in die Lage versetzen sollen, sich ein Bild darüber zu machen, inwiefern Unternehmen nachhaltig wirtschaften,148 oder an die Berücksichtigung von Gütesiegeln (z. B. deutsches Bio-Siegel, Blauer Engel, Grüner Knopf) bei der Auslegung von Vertragsinhalten (§§ 133, 157 BGB). Daneben sind Instrumente getreten, die Vorgaben an das Handeln Privater mit dem Ziel stellen, dass diese gemeinsam Umweltbelange fördern. Beispiel hierfür ist der Förderungsmechanismus des EEG. Das Gesetz verfolgt den 145
BGH NJW 2018, 1010 (1013). Nach dem Urteil BGH NJW 2020, 607 (610) ist allerdings gesichert, dass ein nachbarrechtlicher Ausgleichsanspruch gemäß § 906 Abs. 2 S. 2 BGB analog nur dann in Betracht kommt, wenn der Eigentümer als Störer i. S. des § 1004 Abs. 1 BGB für die Beeinträchtigung des Nachbargrundstücks verantwortlich ist. Fehlt es bereits an der Störereigenschaft, scheidet auch eine Ausgleichspflicht aus. 147 S. Kap. 3. I. 3. 148 In ähnliche Richtung gehen auch die Bestrebungen der EU für die Errichtung eines Rahmens zur Erleichterung nachhaltiger Investitionen, vgl. Kap. 3 Fn. 16 f. 146
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Zweck, „im Interesse des Klima- und Umweltschutzes eine nachhaltige Entwicklung der Energieversorgung zu ermöglichen“ (§ 1 Abs. 1 EEG 2021). Dazu sieht das EEG eine Kombination aus Kontrahierungszwang und Preisregelungen vor. Gemäß § 11 Abs. 1 EEG 2021 müssen Übertragungsnetzbetreiber Strom von den Erzeugern erneuerbarer Energien abnehmen. Daneben treten einerseits Regelungen zur Vergütung des eingespeisten Stromes in Form von Marktprämien, Einspeisevergütungen und Mieterstromzuschlägen (§§ 19 ff. EEG 2021), andererseits Regelungen zur EEG-Umlage (§§ 60 ff. EEG 2021). Die EEG-Umlage sieht vor, dass sich Übertragungsnetzbetreiber von Elektrizitätsversorgungsunternehmen die Mehrkosten erstatten lassen können, die ihnen durch den „erzwungenen“ Ankauf von Strom aus erneuerbarer Energieherstellung entstanden sind.149 Letztlich finanzieren die EEG-Umlage die Endverbraucher, da sich ihre Stromkosten um den von den Elektrizitätsversorgungsunternehmen an die Übertragungsnetzbetreiber zu zahlenden Betrag erhöhen.150 Kontrahierungszwang und Preisregelungen sind keine dem Privatrecht völlig fremden Instrumente. Nipperdey definierte bereits 1920 „Kontrahierungszwang ist die auf Grund einer Norm der Rechtsordnung einem Rechtssubjekt ohne seine Willensbildung im Interesse eines Begünstigten auferlegte Verpflichtung, mit diesem einen Vertrag bestimmten oder von unparteiischer Seite zu bestimmenden Inhalts abzuschließen“151 und führte Beispiele des Kontrahierungszwangs auf.152 Ebenso wird die Preisbindung in Hinblick auf andere Produkte, wie verschreibungspflichtige Medikamente (§ 78 AMG), Tabakwaren (§§ 26, 28 TabStG) oder Bücher und Zeitschriften (§ 5 BuchPrG),153 zur Marktregulierung eingesetzt. Die Vorgaben des EEG besitzen insofern eine neue Qualität, als sie eine Kombination von Stromabnahmeverpflichtung und Preisfestsetzung vorsehen.154 Ungeachtet ihrer eigentlichen vertraglichen Gestaltungsvorstellungen sind die Parteien unter Einfluss des EEG gesetzlich ver-
149 Darstellung des Umlagemechanismus (auch bzgl. der Vorgängervorschriften) bsph. bei Däuper/Lachmann EnWZ 2018, 3 f.; Gawel DVBl. 2013, 409 (410); Riedel/Weiss EnWZ 2013, 402 (405); Salje RdE 2005, 60 f. 150 Ausnahmen zur Zahlungspflicht der EEG-Umlage statuieren § 60a und §§ 61a ff. EEG 2021. 151 Nipperdey, Kontrahierungszwang und diktierter Vertrag, 1920, S. 7.; u. a. aufgegriffen von Staudinger/Bork, 2020, Vor. §§ 145 f. Rn. 15; Franz Bydlinski, Zu den dogmatischen Fragen des Kontrahierungszwanges, AcP 180 (1980), 1, 3 f.; ähnlich Zöllner FS Franz Bydlinski, 517 (518); etymologische Nachzeichnung bei Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang, 1999, S. 110 ff. 152 Nipperdey, Kontrahierungszwang und diktierter Vertrag, 1920, S. 37 ff. Für aktuellere Sammlungen s. Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang, 1999, S. 299 ff.; Staudinger/Bork, 2020, Vor. §§ 145 f. Rn. 17 ff.; Franz Bydlinski AcP 180 (1980), 1 (9 Fn. 14); Kilian AcP 180 (1980), 47 (53 f.). 153 Die Aufzählung ist übernommen von Gawel DVBl. 2013, 409 (414). 154 Vgl. Salje RdE 2005, 60 (64).
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pflichtet, den Ausbau erneuerbarer Energien und mithin den Umweltschutz zu fördern.155 Gegen das Modell des EEG wurden grundsätzliche Bedenken erhoben: Die Verfassungskonformität der Stromabnahmeverpflichtung wurde in Zweifel gezogen.156 Zusätzlich wurde die Frage aufgeworfen, ob die EEG-Umlage nicht sosehr eine privatrechtliche Preisregelung als vielmehr eine öffentlich-rechtliche Sonderabgabe sei.157 Und Busche interpretierte den Kontrahierungszwang des EEG dahingehend, dass es sich bei ihm um eine „gemeinwohlorientierte[] Inpflichtnahme einzelner Privatrechtssubjekte“158 handle, welche die Betreiber von Anlagen erneuerbarer Energien „lediglich als ‚Reflex‘ des im Gemeinwohlinteresse verankerten Lenkungsziels“159 Umweltschutz begünstige. Dabei werde der „Normbegünstigte[]“ zum „Funktionär[] der Rechtsordnung“160 gemacht.161 Der BGH hat sich diesen Einwänden nicht angeschlossen. So führt er im Hinblick auf den Kontrahierungszwang aus: „Die grundsätzlich bestehende Freiheit, Waren und Leistungen nach eigener kaufmännischer Entscheidung nachzufragen, […] ist insoweit durch die Entscheidung des Gesetzgebers im Interesse des sparsamen Umgangs mit den endlichen Energiequellen eingeschränkt.“162 Und weiter: „Gegen die […] Abnahme- und Vergütungspflicht […] 155 Somit zeichnen sich die Rechtsbeziehungen zwischen den Privaten unter dem EEG durch einen Gleichlauf der – unter Umständen gesetzlich forcierten – Individualinteressen an Umweltschutz und dem Gemeininteresse an Umweltschutz aus. Nimmt man hingegen in den Fokus, dass nach dem Kontrahierungszwang der Betreiber von Anlagen zur Gewinnung erneuerbarer Energien einen Anspruch gegen den Netzbetreiber auf Abnahme seines Stromes hat, könnte man die Konstellation auch der Fallgruppe zuschlagen, in der die Interessen des Anspruchstellers sich mit den Umweltinteressen gegen die des Anspruchsgegners vereinen (s. Kap. 3. II. 1. b)). Gegen letztere und für die hier favorisierte Typisierung spricht jedoch, dass der Förderungsmechanismus des EEG noch umfassender als der bloße Kontrahierungszwang die Vertrags- und Leistungskette von Strom aus erneuerbaren Energien ausgestaltet. 156 S. hierzu Erk, Die künftige Vereinbarkeit des EEG mit Verfassungs- und Europarecht, 2008, S. 79 ff. 157 S. Graf Kerssenbrock EnWZ 2014, 467 (469 f.); Manssen DÖV 2012, 499 ff.; a. A. Dalibor EnWZ 2013, 417 (420); Gawel DVBl. 2013, 409 (411); Riedel/Weiss EnWZ 2013, 402 (406 ff.) beurteilen die Verfassungsmäßigkeit differenzierend danach, ob ein Formmissbrauch vorliegt. 158 Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang, 1999, S. 600. 159 Ebd., S. 576, der die Aussage generell zu spezialgesetzlichen Kontrahierungszwängen tätigt. 160 Ebd. 161 Meines Erachtens ist es überzeichnet, einem Anlagebetreiber unter dem EEG die Rolle eines „bloß reflexhaften Funktionärs“ zuzuschreiben (s. auch Zöllner FS Franz Bydlinski, 517 [521 f.]). Die Charakterisierung lässt außer Acht, dass der Anlagebetreiber durch sein Handeln die Beziehung zum Stromabnehmer maßgeblich gestaltet. Auch vernachlässigt sie die Position des Stromabnehmers, dessen Aktivitäten das EEG mehr als die des begünstigten Anlagebetreibers steuert. 162 BGHZ 119, 335 (342) zu § 35 GWB i. V. mit § 26 Abs. 2 GWB a. F., bestätigt in BGHZ 133, 177 (179); 134, 1 (16 ff.).
III. Weitergehende Beobachtungen
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bestehen keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken.“163 In Hinblick auf die EEG-Umlage führt der BGH aus, dass „das EEG […] ausschließlich Leistungs-, Abnahme- und Zahlungspflichten zwischen Rechtssubjekten des Privatrechts“164 bestimme, so dass es sich um keine Sonderabgabe handle. In den Entscheidungsgründen steht ferner: „Ein ‚Umschlagen‘ einer zulässigen Preisregelung in eine unzulässige Sonderabgabe liegt auch bei einer erheblichen Durchnormierung der privatrechtlichen Beziehungen nicht vor. Denn dem Gesetzgeber steht ein weiter Gestaltungsspielraum bei der Indienstnahme Privater für öffentliche Aufgaben zu.“165 Zu einem Gleichlauf von Individualinteressen und dem Gemeininteresse an Umweltschutz im Privatrecht kann es also auf sehr unterschiedliche Art und Weise kommen: Entweder, beide Parteien einer Rechtsbeziehung stimmen überein, umweltschützend tätig werden zu wollen, und bedienen sich zur Umsetzung ihres Vorhabens privatrechtlicher Mittel. Oder das Privatrecht wirkt regulativ auf die Rechtsbeziehung zwischen Privaten ein und macht beiden an einem Austauschverhältnis beteiligten Parteien Handlungsvorgaben.
III. Weitergehende Beobachtungen Der vorangehende Abschnitt zeichnete die Rechtsprechung zur Berücksichtigung von Umweltbelangen im Privatrecht nach. Er ordnete die Entscheidungen entlang der Konstellationen, in denen sich Individualinteressen und das Gemeininteresse an Umweltschutz begegnen. An der Typisierung lässt sich zunächst ablesen, dass es Entscheidungen zu allen denkbaren Anordnungen gibt, in denen Individualinteressen und Umweltbelange aufeinandertreffen können. Welche weiteren Erkenntnisse lassen sich aus der erarbeiteten Systematisierung ziehen? Dem soll im Folgenden nachgegangen werden.
1. Individualgeschützte Umwelt und Umwelt mit Gemeingutcharakter Zunächst lässt die Typisierung den Schluss zu, dass sowohl in der Rechtsprechung als auch in den sie begleitenden Debatten oft nicht hinreichend klar wird, welche bzw. wessen Belange genau geschützt werden, wenn auf „die Umwelt“ Bezug genommen wird. Denn Umweltbelange sind nicht gleich Umweltbelange. Hierbei geht es nicht um die in der Einleitung zu diesem Kapitel angesprochene Frage, wie Umwelt zu definieren ist, d. h. ob soziale und kulturelle As163 BGHZ 155, 141 (148) zu den Vorgängervorschriften § 2 StrEG 1998 und § 3 Abs. 1 EEG 2000. 164 BGHZ 201, 355 (359). 165 Ebd., (362) (im Original enthaltene Nachweise nicht mitzitiert).
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pekte in den Umweltbegriff aufgenommen werden sollen oder nicht.166 Es geht vielmehr darum, dass selbst dann, wenn man mit dem engen, auf ökologische Aspekte beschränkten Umweltbegriff arbeitet, für die rechtliche Betrachtung eine weitere Unterscheidung eingezogen werden muss. Es gilt genauer zu bestimmen, welche Teile der Umwelt einzelnen Personen rechtlich zugeordnet werden können und welche nicht. Soweit ein Umweltschutzinteresse einer einzelnen Person zugeordnet werden kann, wird es über ihr subjektives Recht mitgeschützt,167 während hingegen Umweltschutzinteressen, die keiner konkreten Person zugeordnet sind, nicht über subjektive Rechte mitgeschützt und folglich als neben den Individualinteressen stehende Gemeininteressen168 zu berücksichtigen sind. Für eine überzeugende Abgrenzung zwischen individualgeschützter Umwelt und Umwelt mit Gemeingutcharakter kann auf die Diskussion um die Definition des ökologischen Schadens zurückgegriffen werden. So führt etwa Seibt aus, dass „ökologische Schäden Beeinträchtigungen solcher Umweltgüter und ökologischer Funktionen [sind], die nicht einzelnen, sondern bislang niemandem rechtlich zugeordnet sind.“169 Ein ökologischer Schaden lässt sich demnach ermitteln, indem man alle Schadensposten eines umweltschädigenden Ereignisses ermittelt und hiervon die „individualrechtlich geschützte[n] Interessen an der Umwelt“ abzieht.170 Legt man diesen Maßstab an, so erfasst das Gemeininteresse an Umweltschutz alle Aspekte der belebten und unbelebten Natur, die keiner Rechtsperson individualrechtlich geschützt zugeordnet sind.171 Analysiert man die umweltprivatrechtliche Rechtsprechung, finden sich Beispiele für die Berücksichtigung der „individualrechtlich geschützte[n] Interessen an der Umwelt“172 genauso wie für die Berücksichtigung des Gemeininteresses an Umweltschutz. a) Individualgeschützte Umwelt Individualrechtlich geschützte Umweltbelange werden etwa dann berücksichtigt, wenn unter Bestandsschutz stehende Bäume von Nachbarn geduldet werden müssen.173 Die Bäume selbst stehen im Eigentum des Grundstückseigentü166
S. hierzu Kap. 3. I. 1. Bremer, Die Haftung beim Gefahrguttransport, 1992, S. 54 f. 168 Vgl. Christian Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, 2001, S. 8 0; Pelloni, Privatrechtliche Haftung für Umweltschäden und Versicherung, 1993, S. 53. Umweltbelange als „Güter im Gemeingebrauch“ bezeichnend Marburger, Gutachten zum 56. DJT, C 120; v. Bar, Gutachten zum 62. DJT, A 52. 169 Seibt, Zivilrechtlicher Ausgleich ökologischer Schäden, 1994, S. 9; ebenso Staudinger/ Kohler, 2017, Einl. zum UmweltHR Rn. 8. 170 Ebd., S. 10. 171 S. bereits Einl. I. 172 Seibt, Zivilrechtlicher Ausgleich ökologischer Schäden, 1994, S. 10. 173 BGHZ 157, 33; BGH NJW 2018, 1010. 167 Vgl.
III. Weitergehende Beobachtungen
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mers (§§ 903, 93, 94 Abs. 1 S. 2 BGB). Sein individuelles Interesse ist genauso wie das Gemeininteresse an Umweltschutz darauf gerichtet, die Bäume zu erhalten. In der Folge schützt das subjektive Recht des Grundstückseigentümers – gerichtet auf den Erhalt des Baumes – die Umwelt mit. Ähnlich verhält es sich in dem Froschlärm-Fall,174 in dem der Nachbar vom angrenzenden Grundstückseigentümer unter anderem die Trockenlegung des Teiches, in dem sich die Frösche angesiedelt hatten, begehrte. Sofern es um den Teich ging, war dieser als Eigentum des Grundstückseigentümers geschützt. Weil der Teich den dort lebenden Fröschen als Biotop diente, gestaltete das Interesse an seinem Erhalt unter Umweltschutzgesichtspunkten die Eigentumsposition des Grundstückseigentümers aus. In Abgrenzung hierzu waren die Frösche als wildlebende Tiere (vgl. § 960 BGB) nicht im Eigentum des Grundstückseigentümers. Das Interesse an ihrem Erhalt trat vielmehr als eigenständiger Gemeingutbelang neben die Interessen des Grundstückseigentümers, wie zugleich näher erläutert wird. Ferner fand das Individualinteresse daran, im Hinblick auf das eigene umweltbewusste Handeln nicht getäuscht zu werden, in einer Entscheidung rund um den Diesel-Skandal Berücksichtigung.175 Das so benannte Individualinteresse ist nicht deckungsgleich mit dem Gemeininteresse an Umweltschutz, weil es auf das zusätzliche, subjektive Element der Täuschung abstellt. Doch kommt es auch hier – ähnlich wie in den gerade erwähnten Fällen, die sich mit bestandsgeschützten Bäumen beschäftigen – zu einem gleichlaufenden Schutz der Umwelt als Gemeingut. b) Als Gemeingut geschützte Umwelt In der Typisierung finden sich einige Beispiele, in denen die Umwelt als Gemeingut mitgeschützt wurde: Hinter der Nichtigkeit des Kaufvertrags eines Ozelotmantels steht die Durchsetzung des Artenschutzes.176 Wird ein Auto als mangelhaft bewertet, weil es aufgrund einer Abschaltsoftware mehr Abgase emittiert als im Prüfmodus, gründet dies auch auf der Überlegung, die Luft von zusätzlichen Belastungen reinzuhalten.177 Ist ein Betreiber von Windkraftanlagen gemäß § 1004 BGB angehalten, die Räder nachts stillstehen zu lassen, wird das Gemeingut Umwelt insofern geschützt, als wild lebende Tiere von den Ruhezeiten profitieren.178 In der Pflicht, Frösche im nachbarlichen Teich zu tolerieren, realisiert sich wiederum der Artenschutz.179 Schließlich trägt die Scha174
BGHZ 120, 239; oben Kap. 3. II. 2. b). OLG Koblenz NJW 2019, 2237 (Rn. 41). 176 OLG Celle Urt. v. 7.10.1994 – Az. 4 U 134/93 (juris). 177 BGH NJW 2019, 1133. 178 BGH NUR 2005, 350. 179 BGHZ 160, 232. 175
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densersatzregelung des § 16 UmweltHG dazu bei, Renaturierung zu fördern.180 Solche Fälle werden mitunter damit umschrieben, dass hier Umweltinteressen „indirekt“181 oder „reflexiv“182 geschützt werden. Meines Erachtens ermöglichen diese Beschreibungen aber keine konzeptionelle Verdeutlichung. Spricht man von indirektem bzw. mittelbarem Schutz, erfasst man nicht, dass das Gemeininteresse an Umweltschutz unmittelbar auf den Interessenausgleich zwischen Privaten wirkt. Reflexiv ist der Schutz ebenfalls nicht, weil in den erwähnten Fällen Umweltschutz keine unwillkürliche Reaktion, sondern im Gegenteil eine beabsichtigte Folge der Entscheidungen ist. Akkurater lässt sich die Situation wie folgt beschreiben: In Fällen, in denen das Gemeingut Umwelt berührt ist, setzten sich die Umweltinteressen wie ein zusätzlicher Faktor – gewissermaßen als ein „Plus x“ – auf das zwischen zwei Personen bestehende Privatrechtsverhältnis.
2. Legislative und judikative Verarbeitung Des Weiteren lässt die Durchsicht der Fälle erkennen, dass mal der Gesetzgeber, mal die Rechtsprechung die argumentativen Fundamente für die Berücksichtigung von Umweltschutzinteressen im Privatrecht legt.183 In diesem Kontext ist freilich zuzugestehen, dass eine strikte Trennung nach Einflusssphären des Gesetzgebers einerseits und der Rechtsprechung andererseits nicht möglich ist. Ein solches Unterfangen ist schon deshalb zum Scheitern verurteilt, weil richterliches Entscheiden die Konkretisierung unbestimmter Gesetzesbegriffe beinhaltet.184 So gesehen ist die Berücksichtigung von Umweltschutzinteressen seitens der Gerichte stets auf den Gesetzgeber zurückzuführen. Trotz dieser Unschärfe, die der Abhängigkeit richterlichen Entscheidens vom gesetzten Recht geschuldet ist, hat eine Differenzierung nach Akteuren einen Mehrwert: Sie zeigt,
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Vgl. BT-Drs. 11/7104, S. 21. Höpke/Thürmann in Rengeling (Hrsg.), Handbuch zum europäischen und deutschen Umweltrecht, Bd. I, 1477 (1479); Schirmer ZVersWiss 1990, 137 (141); s. auch Kloepfer, NuR 1990, 337 (340); ders., Umweltrecht, 4. Aufl. 2016, § 7 Rn. 316; Medicus NuR 1990, 145 (147); Pelloni, Privatrechtliche Haftung für Umweltschäden und Versicherung, 1993, S. 53. 182 Diederichsen, Referat zum 56. DJT, L 48 (49); Medicus JZ 1986, 778 (785); gleichsinnig Roth NJW 1972, 921, 922 (925); Schirmer ZVersWiss 1990, 137 (141, 186); Seibt, Zivilrechtlicher Ausgleich ökologischer Schäden, 1994, S. 11; Wagner NuR 1992, 201 (202). 183 Bewusst wird darauf verzichtet, hier die Rolle von Verbänden und ihren Klagemöglichkeiten im Lauterkeitsrecht zu untersuchen. Für eine Analyse wird verwiesen auf Halfmeier, Popularklagen im Privatrecht, 2006, S. 76 ff.; Klocke, Rechtsschutz in kollektiven Strukturen, 2016, S. 18 ff.; Meller-Hannich, Gutachten zum 72. DJT, A 55 ff. (77 ff.); Poelzig, Normdurchsetzung durch Privatrecht, 2012, S. 76 ff. 184 Vgl. Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 56; Klaus Röhl/Hans Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 3. Aufl. 2008, § 36 II, die an den Gedanken des Stufenbaus der Rechtsordnung anknüpfen (s. Kelsen, Reine Rechtslehre, 1934, S. 9 0 f.). 181
III. Weitergehende Beobachtungen
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dass Gesetzgeber und Rechtsprechung in unterschiedlichem Maße an der Berücksichtigung von Umweltschutzinteressen im Privatrecht beteiligt sind.185 Betrachtet man das Umweltprivatrecht von diesem Blickwinkel her genauer, so zeigt sich, dass der Gesetzgeber das Gros der Begründungslast in Fällen der Kategorien „Individualinteressen vereint gegen Umweltschutzinteressen“186 , „Interessen des Anspruchstellers und Umweltschutz gegen Interessen des Anspruchsgegners – Haftungsrecht“187 und „Gleichlauf von Individualinteressen und dem Gemeininteresse an Umweltschutz“188 übernimmt. In der Kategorie „Individualinteressen vereint gegen Umweltinteressen“ zeigt sich diese Aufgabenverteilung besonders deutlich. Hier sind insbesondere Fälle anzutreffen, in denen ein Verstoß gegen gesetzliche Verbote zu einer Nichtigkeit von Verträgen führt (§ 134 BGB).189 Damit ist vorgezeichnet, dass Umweltschutzinteressen dann berücksichtigt werden müssen, wenn die entscheidungserheblichen gesetzlichen Verbote den Umweltschutz bezwecken und es sich bei ihnen um Verbotsgesetze i. S. des § 134 BGB handelt. Mithin ist von Bedeutung, ob einfache Gesetze, die als Verbotsgesetze in Betracht kommen, Umweltschutzzwecke verfolgen. Dies lässt sich etwa an Entscheidungen ablesen, die in ihren Begründungen auf das Ziel des Artenschutzes im Sinne des BNatSchG190 oder den im UVPG zum Ausdruck kommenden Zweck des Naturschutzes191 abstellen. Selbst der Fall, in dem ein Gericht einen Vertrag zwischen einem Gartenbauunternehmer und einem Grundstückseigentümer über Sandabbau für sittenwidrig (§ 138 BGB) erachtete,192 lässt sich gradlinig auf den Verstoß gegen ein Gesetz zurückführen. Der Sittenverstoß lag darin, dass sich die Vertragsparteien über die Genehmigungsvorgaben der §§ 17 ff. Nds. NatSchG hinwegsetzten, als sie einen tieferen als genehmigten Sandabbau vereinbarten.193 Im Umwelthaftungsrecht kommt inzwischen ebenfalls dem Gesetzgeber die leitende Rolle bei der Berücksichtigung des Umweltschutzes zu. Die Spezialge185 Zum arbeitsteiligen Zusammenwirken von Rechtsprechung und Gesetzgebung Bumke (Hrsg.), Richterrecht zwischen Gesetzesrecht und Rechtsgestaltung, 2012; Fleischer/Wedemann AcP 209 (2009), 597 (611 ff.); Thomas Raiser ZRP 1985, 111 (115 ff.); Karsten Schmidt JZ 2009, 10 (11 f.). 186 Kap. 3. II. 1. 187 Kap. 3. II. 2. c). 188 Kap. 3. II. 4. 189 S. Kap. 3. II. 1. a). 190 OLG Celle Urt. v. 7.10.1994 – Az. 4 U 134/93 (juris) zum damals geltenden § 34a Nds. NatSchG i. V. mit § 20f Abs. 2 Nr. 2 BNatSchG. 191 OLG Jena Urt. v. 16.9.2009 – Az. 7 U 21/09 (juris). 192 OLG Oldenburg NuR 1996, 320. 193 Damit stellte das OLG Oldenburg maßgeblich darauf ab, dass das Verhalten darauf gerichtet war, eine gesetzliche Regelung zu umgehen. Die Sittenwidrigkeit wird also mit dem Umgehungszweck des Rechtsgeschäfts begründet (s. hierzu Benecke, Gesetzesumgehung im Zivilrecht, 2004, S. 23 f., 43 ff.). Vorzugswürdiger, weil die Nähe zum Gesetzesverstoß abbildend, ist es aber im Hinblick auf die Nichtigkeit auf § 134 BGB anstatt auf § 138 Abs. 1 BGB abzustellen (s. auch MüKoBGB/Armbrüster, 9. Aufl. 2021, § 138 Rn. 80).
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setze des UmweltHG sowie § 89 WHG und §§ 32 ff. GenTG geben vor, dass bei der Berührung von Umweltbelangen von den im Regelfall im Deliktsrecht bestehenden Anforderungen zu Kausalitätsnachweis, Verschulden, etc. abgewichen wird. Folglich knüpft die Berücksichtigung von Umweltbelangen seitens der Gerichte an konkrete Vorgaben des gesetzten Rechts an. Dem war nicht immer so. Ehemals fiel es stärker den Gerichten zu, die Besonderheiten der Haftung für Umweltschäden in ihren Entscheidungen zu würdigen. Der BGH senkte etwa die Anforderungen an Geschädigte hinsichtlich des Kausalitätsnachweises bei Umweltschäden für Schadensersatzansprüche gemäß § 823 Abs. 1 BGB,194 Jahre bevor der Gesetzgeber die Entwicklung in den §§ 1, 6 f. UmweltHG aufnahm. Bei den Bestimmungen des Umwelthaftungsrechts handelt es sich mithin zu einem Großteil um kodifiziertes Richterrecht;195 d. h. der Gesetzgeber konnte auf den Vorarbeiten der Gerichte beim Umgang mit Umwelthaftungsfällen aufbauen. Schließlich ist der Gesetzgeber der maßgebliche umweltschützende Akteur, wenn er Regelungen darüber trifft, wie Privatrechtsbeziehungen ausgestaltet sein sollen, um Umweltbelange zu fördern.196 Hierfür sind der Kontrahierungszwang des EEG (§ 11 Abs. 1 EEG 2021) sowie die ebenfalls im EEG angeordnete Umlage (§§ 60 ff. EEG 2021) prägnante Beispiele. Aus eigener Initiative einen allgemeinen Kontrahierungszwang zum Schutze der Umwelt aus § 826 BGB herzuleiten oder eine Zahlungspflicht für eine Energieumlage einzuführen, steht der Rechtsprechung auch nicht zu. Denn die Instrumente greifen stark in die grundrechtlich geschützte Privatautonomie (Art. 2 Abs. 1 GG) ein, indem sie die „Freiheit, Waren nach eigener kaufmännischer Entscheidung nachzufragen“197 sowie den Preis nach eigenen Vorstellungen zu bestimmen, beschränken. Vielmehr gebietet es der Vorbehalt des Gesetzes, welcher auch im Privatrecht zur Anwendung kommt,198 dass es dem parlamentarischen Gesetzgeber vorbehalten ist, über solch intensive Eingriffe zu entscheiden. Dass der BGH auch selbst den Gesetzgeber als den Akteur ansieht, der im Bereich des Energieprivatrechts die Entwicklungslinien vorgibt, zeigt sich in seinem Urteil zur Verfassungsmäßigkeit der EEG-Umlage.199 Dort wendet der BGH sich gegen die 194
S. Kap. 3. II. 2. c); Nachzeichnung bei Diederichsen, Referat zum 56. DJT, L 83 ff. Der Begriff des Richterrechts wird hier nicht wertend oder in Abgrenzung zu richterlicher Rechtsfortbildung (a. A. Jestaedt in Bumke [Hrsg.], Richterrecht zwischen Gesetzesrecht und Rechtsgestaltung, 49 ff.) verstanden. S. grds. zum Richterrecht Bumke (Hrsg.), Richterrecht zwischen Gesetzesrecht und Rechtsgestaltung, 2012; Payandeh, Judikative Rechtserzeugung, 2017, S. 25 ff. 196 S. Kap. 3. II. 4. 197 BGHZ 119, 335 (342). 198 Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999, S. 88 ff.; Hermes VVDStRL 61 (2002), 119 (136 ff.); Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 66 ff., 119; a. A. Neuner JZ 2016, 435 (436 f.). 199 BGHZ 201, 355. 195
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Auffassung, eine privatrechtliche Preisregelung könne „bei erheblicher Durchnormierung“ in eine öffentlich-rechtliche „Sonderabgabe“ umschlagen und führt ein institutionelles Argument an. Er erwähnt den „weite[n] Gestaltungsspielraum bei der Indienstnahme Privater für öffentliche Aufgaben“200 , der dem Gesetzgeber zusteht, und zieht bewusst keine Unterscheidung zwischen privatrechtlicher und öffentlich-rechtlicher Indienstnahme ein. Die Durchsicht der Fälle lässt schließlich auch Aussagen über die Abwesenheit bestimmter Akteure zu: Es fällt auf, dass europäische Institutionen das in Deutschland geltende Umweltprivatrecht in der Vergangenheit kaum gestaltet haben. Bei der privatrechtlichen Verarbeitung von Umweltschutzinteressen setzen bislang die mitgliedstaatlichen Akteure die richtungsweisenden Akzente. Von den besprochenen privatrechtlichen Regelungen ist nur der Beschaffenheitsbegriff des § 434 BGB, der die Umweltbeziehungen einer Sache umfasst, europarechtlich geprägt.201 Zudem existiert keine EU-weite Gesetzgebung zum Umweltprivatrecht. Ideen, das Umweltprivatrecht einer Harmonisierung zuzuführen, haben sich nicht durchgesetzt. Der Entwurf einer Richtlinie zur Abfallhaftung wurde zurückgezogen 202 und die als „Umwelthaftungs“-RL bezeichnete RL 2004/35/EG, welche mit dem UmweltSchG ins deutsche Recht umgesetzt worden ist, gestaltet lediglich den ordnungsrechtlichen Rahmen bei Umweltschäden aus.203 Mangels einschlägigem europäischem Privatrecht fehlen auch die entsprechenden Entscheidungen des EuGH zu seiner korrekten Auslegung. Doch hat der Einfluss der EU auf dem Gebiet des Umweltprivatrechts in den letzten Jahren zugenommen. Zum einen wirkt das Europarecht auf indirektem Weg auf das in Deutschland geltende Umweltprivatrecht, indem es die materiellen und prozeduralen Vorschriften des öffentlichen Umweltrechts mitgestaltet, welche dem Umweltprivatrecht häufig als Bezugspunkt dienen. Zum anderen 200
Ebd., (362). Er diente in der Vergangenheit der Umsetzung von Art. 2 Abs. 2 lit. c und d, Abs. 4 RL 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.5.1999 zu bestimmten Aspekten des Verbrauchsgüterkaufs und der Garantien für Verbrauchsgüter, ABl. 1999 L 171, 12 (BeckOK BGB/Faust, 59. Ed. 2021, § 434 Rn. 54) und nunmehr der Umsetzung von Art. 6 und 7 Warenkauf-RL vom 20.5.2019 (RL [EU] 2019/771 [ABl. 2019 L 136/28]). 202 Vorschlag der Kommission für eine RL des Rates über die zivilrechtliche Haftung für die durch Abfälle verursachten Schäden (COM [89] 282 final vom 1.9.1989) sowie der geänderte Vorschlag mit gleichem Arbeitstitel (COM [91] 219 final vom 28.6.1991). 203 S. Diederichsen/Jerxsen UPR 2007, 17; Schink EurUP 2005, 67. – Die Haftungsregelungen des WHG und des GentG sind ebenfalls weitestgehend frei von europarechtlichen Einflüssen. In Hinblick auf die Haftung bei der Verwendung von Gentechnik trägt Art. 33 der Freisetzungs-RL (RL 2001/18/EG) den Mitgliedstaaten lediglich auf, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen bereitzuhalten, s. auch Christian Calliess in Christian Calliess/ Härtel/Veit (Hrsg.), Neue Haftungsrisiken in der Landwirtschaft: Gentechnik, Lebensmittel- und Futterrecht, Umweltschadensrecht, 1 (5). Im Hinblick auf die Haftung bei Gewässerverunreinigungen stellt § 9 0 Abs. 4 WHG klar, dass die RL 2004/35/EG keinen Einfluss auf die zivilrechtliche Haftung gemäß § 89 WHG nimmt. 201
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nimmt sich die EU im Kapitalmarktrecht der Erstellung einer Architektur für sustainable finance an 204 und ist im Gesellschaftsrecht bei der Ausarbeitung von CSR-Verpflichtungen aktiv.205
3. Methoden Des Weiteren lässt eine Auswertung der beschriebenen Regelungen Beobachtungen zur Art und Weise zu, in der Umweltschutzinteressen im Privatrecht Berücksichtigung finden. Eine Methodenvielfalt ist erkennbar: Umweltschutz wird zum Gesetzeszweck erhoben (a)), rechtsgeschäftlichem Handeln werden Außenschranken gezogen (b)) und unbestimmte Rechtsbegriffe dienen als Eingangstore für Umweltschutzinteressen (c)). a) Umweltschutz als Gesetzeszweck Ein erster Ansatz zur Berücksichtigung von Umweltschutzinteressen ist die Nennung von Umweltschutz als Gesetzeszweck. Der Gesetzgeber kann privatrechtliche Gesetze erlassen, die auf eine Berücksichtigung von Umweltbelangen ausgerichtet sind. Ganz explizit erwähnt § 1 EEG 2021 die Förderung erneuerbarer Energien als den Zweck des Gesetzes. In der Konsequenz sind die Vorschriften zu Kontrahierungszwang und EEG-Umlage im Lichte von § 1 EEG 2021 auszulegen. An den Haftungsregelungen des UmweltHG, des § 89 WHG und der §§ 32 ff. GentG ist ebenfalls ablesbar, dass die in Standardfällen zur Anwendung kommenden Haftungsregelungen modifiziert werden, um den Besonderheiten von Umweltschäden oder des Einsatzes von Gentechnik Rechnung zu tragen. Und auch dem Wortlaut des § 906 Abs. 1 S. 2 und 3 BGB lässt sich entnehmen, dass Umweltbelange Eingang in nachbarrechtliche Entscheidungen finden sollen. Hier wird zwar der Umweltschutz nicht direkt gesetzlich erwähnt. Doch ergibt sich die Berücksichtigung des Umweltschutzes aus der Verweisung auf das öffentliche Recht. § 906 Abs. 1 S. 2 und 3 BGB konkretisieren, unter welchen Umständen Immissionen zu dulden sind. Wenn es in § 906 Abs. 1 S. 2 BGB heißt, dass „eine unwesentliche Beeinträchtigung […] in der Regel vor[liegt], wenn die in Gesetzen oder Rechtsverordnungen festgelegten Grenz- oder Richtwerte […] nicht überschritten werden“, nimmt das Gesetz auf öffentlich-rechtliche Emissionsstandards, insbesondere das BImSchG, Bezug. § 906 Abs. 1 S. 3 BGB erweitert diese Regelung um die Grenz- und Richtwerte der TA-Luft und TA-Lärm. Folglich treffen § 906 Abs. 1 S. 2 und 3 BGB eine 204
S. Kap. 3 Fn. 16 f. RL 2014/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22.10.2014 zur Änderung der RL 2013/34/EU im Hinblick auf die Angabe nichtfinanzieller und die Diversität betreffender Informationen durch bestimmte große Unternehmen und Gruppen, ABl. 2014 L 330/1. Ebenfalls europarechtlich geprägt ist das auf der RL 85/374/EWG basierende ProdHG, das bei umweltrelevanten Schäden ebenfalls Anspruchsgrundlagen bereithalten kann. 205
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Aussage darüber, inwiefern die umweltschützenden Regelungen des öffentlichen Rechts für die Beurteilung von nachbarrechtlichen Streitigkeiten auf dem Gebiet des Privatrechts maßgeblich sind. b) Festlegung vertraglicher Außenschranken Des Weiteren finden Umweltschutzinteressen im Privatrecht Berücksichtigung, indem sie zur Begründung von „vertraglichen Außenschranken“206 herangezogen werden. Die heißt nun nicht, dass Umweltschutzinteressen zwingend Eingang in jede Beurteilung privater Rechtsbeziehungen finden müssen. Wenn eine Person einen Flug nach Australien bucht oder in Plastik verpackte Bananen einkauft, ist ihr Verhalten zwar umweltschädigend, doch folgt daraus nicht die Unwirksamkeit der geschlossenen Rechtsgeschäfte. Sobald sich allerdings Missachtung oder Umgehung umweltschützender Gesetze aufdrängen, ziehen Gerichte eine Vertragsnichtigkeit gemäß §§ 134, 138 BGB in Erwägung und untersuchen die zwischen Vertragspartnern getroffenen Vereinbarungen auf eine Verletzung gesetzlicher Verbote oder eine Sittenwidrigkeit. Im Hinblick auf eine Nichtigkeit wegen des Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot kommt es entscheidend darauf an, ob es ein umweltschützendes Gesetz gibt, an das die Blankettnorm des § 134 BGB207 anknüpfen kann.208 Das Ausmaß der in Rede stehenden Umweltbeeinträchtigung ist nur insofern von Bedeutung, als es darum geht, den Gesetzesverstoß festzustellen. Dies lässt sich auch am Urteil des OLG Oldenburg zur Sittenwidrigkeit einer Verabredung zum übermäßigen Sandabbau ablesen. Hier entschied das Gericht, dass ein Vertrag, der einer der beteiligten Parteien ein übermäßiges Recht zum Sandabbau einräumte, gegen die guten Sitten verstieß (§ 138 Abs. 1 BGB). Zwar gründete das Gericht seine Entscheidung darauf, dass der Sandabbau über Gebühr in „die natürlichen Lebensgrundlagen“ eingreife.209 Es konkretisierte seine Aussage aber dahingehend, dass der Vorwurf in der Missachtung der naturschutzrechtlichen Vorgaben liege.210 Von der anderen Seite zieht der Kontrahierungszwang des EEG der Selbstbestimmung der Vertragsparteien eine Außenschranke. Wie die Bestimmung der Vertragsnichtigkeit ist die Anordnung eines Kontrahierungszwangs ein privatrechtliches Instrument, das nur in besonders gelagerten Fällen zur Anwendung kommt. Dabei zeigt eine Durchsicht der Fälle, dass die Aufgabe, vertragliche Außenschranken festzulegen, nicht ausschließlich dem Gesetzgeber zufällt. Die 206
Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang, 1999, S. 581. Medicus JZ 1986, 778 (779). Weitergehend zu Begriff und Funktion von Blankettnormen Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 34. 208 Vgl. Kloepfer, Umweltrecht, 4. Aufl. 2016, § 7 Rn. 526. 209 OLG Oldenburg NuR 1996, 320. 210 Ebd. 207 S.
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Rechtsprechung ist ebenso an dem Prozess beteiligt. So hat der Gesetzgeber etwa in § 11 Abs. 1 EEG 2021 den Kontrahierungszwang bzgl. Stroms aus erneuerbaren Energien einer Regelung zugeführt, während die Gerichte § 134 BGB konkretisieren. c) Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe Schließlich kommt bei der Berücksichtigung von Umweltschutzinteressen im Privatrecht der Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe211 große Bedeutung zu. Der Ansatz zeigt sich etwa bei der Bestimmung, ob eine Emission einen Nachbarn „wesentlich“ beeinträchtigt (§ 906 Abs. 1 BGB). Laut BGH ist eine Emission dann wesentlich, wenn sie nach Empfinden eines „verständigen Durchschnittsmenschen“212 „unter Würdigung anderer öffentlicher und privater Belange billigerweise nicht mehr zumutbar ist.“213 Damit legt der BGH die Grundlage für eine wertende Beurteilung,214 die es ermöglicht, Interessen mit in den Blick zu nehmen, die über die Interessen der beteiligten Nachbarn hinausgehen. Mittels der Wendung „öffentliche Belange“ kann das Gemeininteresse an Umweltschutz in die Beurteilung eingeführt werden und so Einfluss auf die Entscheidung nehmen.215 d) Verweis auf Art. 20a GG? Bemerkenswert ist, dass in der Privatrechtsprechung mit Umweltbezug Art. 20a GG, der den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen zum Staatsziel erhebt, nur selten Erwähnung findet. Zudem bauen Entscheidungsgründe nicht auf Art. 20a GG als bedeutendem Baustein für ihre Argumentation auf. Zwar stellte der BGH im Hinblick auf den Kontrahierungszwang von Elektrizitätsversorgungsunternehmen, wie er in einer Vorgängerregelung des jetzigen EEG zum Ausdruck kam, darauf ab, dass das Gesetz der Umsetzung der Staatszielbestimmung gemäß Art. 20a GG diene.216 Darüber hinaus fand Art. 20a GG in Fällen Erwähnung, in denen sich die Parteien in ihrem Vortrag auf den Artikel berufen hatten: Doch führte der BGH in einer Entscheidung aus, dass er sich 211 Grundlegend s. nur Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, 2005, S. 144 ff.; Engisch, Die Idee der Konkretisierung in Recht und Rechtswissenschaft unserer Zeit, 2. Aufl. 1968; Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004. 212 BGHZ 120, 239 (255). 213 Ebd.; s. auch BGHZ 121, 248 (255); 148, 261 (264); s. hierzu Kap. 3. II. 2. b). 214 Klaus Vieweg/Röthel NJW 1999, 969 (970). 215 Der BGH formulierte seinen Maßstab zur Beurteilung der Wesentlichkeit aus der Perspektive des „verständigen Durchschnittsmenschen“ erstmals im Froschlärm-Urteil (BGHZ 120, 239). Dieses wurde in der Literatur teils krit. rezipiert (Baur Festgabe 50 Jahre BGH, Bd. I, 848 [852]; Staudinger/Roth, 2020, § 9 06 Rn. 178; Marburger FS Ritter, 901 [914 f. Fn. 52]; Würdinger NJW 2009, 732 [733]). 216 BGHZ 155, 141 (149).
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nicht veranlasst sehe, wegen der Einführung von Art. 20a GG von einer von ihm verwendeten Bemessungsmethode zur Bestimmung der Wertminderung von Grundstücken bei Baumschäden abzurücken.217 Das OLG Frankfurt am Main merkte in einem Beschluss an, dass die „Umsetzung des in Art. 20a GG angelegten bzw. vorgegebenen Handlungsauftrages an den Gesetzgeber […] weithin der (verfassungs-)gerichtlichen Nachprüfbarkeit entzogen“ sei.218 Und als ein Beklagter mit Verweis auf Art. 20a GG begehrte, einen Baum auf einer von ihm angemieteten Loggia zu behalten, sprach ihm das mit der Rechtssache befasste LG München ein schützenswertes Interesse ab, „unabhängig von der Frage, ob sich der Beklagte überhaupt auf Art. 20a GG […] im Wege mittelbarer Drittwirkung berufen kann.“219 Die hier präsentierten, vereinzelt gebliebenen Verweise auf Art. 20a GG zeigen, dass Zivilgerichte der Staatszielbestimmung keine bedeutende Rolle zumessen, wenn sie das Gemeininteresse an Umweltschutz in ihre Erwägungen einfließen lassen.
4. Praktische Bedeutsamkeit Eine Auswertung der Fälle lässt nur bedingt Schlüsse darauf zu, inwieweit das Umweltprivatrecht tatsächlich ökologische Impulse setzt. Einerseits wirken die in der Typisierung erwähnten gerichtlichen Entscheidungen nur in geringem Umfang umweltschützend. Andererseits zeichnen sich in der Rechtsprechung Tendenzen hin zu einer bedeutenderen Berücksichtigung von Umweltbelangen ab und dürfte schon die Existenz des Umweltprivatrechts umweltschonendes Verhalten fördern. In seinem Referat zum DJT 1986 beschrieb Diederichsen die umweltprivatrechtliche Rechtsprechung wie folgt: „In letzter Zeit haben die zivilrechtlichen Umweltschutzprozesse zwar wieder zugenommen; sie betreffen im Grunde aber nur Quisquilien […] Die großen umweltrechtlichen Auseinandersetzungen gehen inzwischen am Zivilrecht vorbei.“220 Auf den ersten Blick scheint die damals getroffene Einschätzung nicht an Aktualität eingebüßt zu haben. Die in diesem Kapitel vorgestellten Entscheidungen über den Verkauf eines Pelzmantels,221 übersteigerten Sandabbau 222 oder Lackbeschädigungen an Fahrzeugen 223 zeugen nicht von einer erhöhten praktischen Bedeutsamkeit für den Umweltschutz. 217
BGH NJW 2006, 1424 f. OLG Frankfurt a. M. MDR 2021, 1223 (1224). 219 LG München NZM 2017, 365 (366). 220 Diederichsen, Referat zum 56. DJT, L 48 (96 f.) (Fußnoten des Originals nicht mitzitiert). S. auch Kloepfer NuR1990, 337 (342); Schirmer ZVersWiss 1990, 137 (187). 221 OLG Celle, Urteil vom 7.10.1994, Az. 4 U 134/93. 222 OLG Oldenburg NuR 1996, 320. 223 BGHZ 92, 143 (147). 218
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Kapitel 3: Umweltschutz
Doch sollte die Bedeutung des Umweltprivatrechts allgemein nicht unterschätzt werden: Zum einen besteht mit dem EEG ein in Teilen privatrechtliches Gesetz, das den Strommarkt prägt und den Ausbau erneuerbarer Energien befördert.224 Zum anderen zeigen sich in der Rechtsprechung zum Mängelgewährleistungsrecht Tendenzen hin zu einer stärkeren Berücksichtigung von Umweltbelangen. Umweltinformierte Entscheidungen in den Prozessen rund um den Diesel-Skandal sowie in Fällen von eingebautem Verschleiß haben das Potenzial, Umweltschutz mit Hilfe privatrechtlicher Mittel zu fördern.225 Der Beweisbeschluss des OLG Hamm im noch andauernden Klimahaftungsprozess des Peruaners Lliuya gegen den deutschen Stromkonzern RWE226 zeigt, dass zumindest ein oberlandesgerichtlicher Senat erwägt, Private in die anteilige Haftung für Klimaschäden zu nehmen. Außerdem ist über die entschiedenen Zivilprozesse – und den vor dem OLG Hamm anhängigen – hinaus die Steuerungsfunktion des Umweltprivatrechts in den Blick zu nehmen. Genaue ökonomische Analysen des Umweltprivatrechts, beispielshalber zu der verhaltenssteuernden Wirkung der Gefährdungshaftung des UmweltHG, stehen aus.227 Grundsätzlich geht die ökonomische Analyse des Rechts aber davon aus, dass die Gefährdungshaftung den Betreiber einer risikoreichen Unternehmung dazu anhält, selbst „die soziale Nützlichkeit der fraglichen Aktivität fortlaufend [zu] überprüf[en].“228 Wie Korch es auf den Punkt bringt: „[Der Betreiber] wird, um nicht ineffizient hohe Schadenskosten tragen zu müssen, so lange in die Schadensvermeidung investieren, bis der eingesparte Betrag durch den zusätzlich vermiedenen Schaden (Grenznutzen) geringer ist als die Kosten der nächsten eingesetzten Einheit Vermeidungsaufwand (Grenzkosten).“229 Nach dieser Logik reduziert schon die Anordnung einer Gefährdungshaftung, etwa in § 1 UmweltHG, das umweltschädigende Verhalten Privater.230 Zu zivilgerichtlichen Prozessen, in denen Gerichte ex post über Schadensersatzansprüche urteilen, kommt es dann nicht mehr. Eine abschließende Bewertung, in welchem Ausmaß privatrechtlichen Gesetzen oder der Rechtsprechung in Zivilsachen umweltschützende Wirkung zukommt, kann mithin nicht getroffen werden. 224 S. zum Ausbau unter dem EEG Arbeitsgruppe Erneuerbare Energien-Statistik, Erneuerbare Energien in Deutschland. Daten zur Entwicklung im Jahr 2017, 2018, S. 7 ff. 225 S. hierzu schon Kap. 3. I. 3. 226 OLG Hamm ZUR 2018, 119. 227 S. aber Adams ZZP 1986, 129 ff.; Lehmann in Schulz (Hrsg.), Ökologie und Recht, 81 ff. 228 Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 6. Aufl. 2020, S. 255 f.; gleichsinnig zum Umwelthaftungsrecht Lehmann in Schulz (Hrsg.), Ökologie und Recht, 81 (83 ff.); Taupitz FS Hagen, 469 (471 f.); krit. Medicus NuR 1990, 145 (147 f.); Schirmer ZVersWiss 1990, 137 (186). 229 Korch, Haftung und Verhalten, 2015, S. 21; ähnlich Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 6. Aufl. 2020, S. 256. 230 Vgl. Wagner NuR 1992, 201 (205); gleichsinnig zu nachbarrechtlichen Ausgleichsansprüchen Basedow FS Immenga, 3 (9).
III. Weitergehende Beobachtungen
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5. Bezug zur Leiterzählung des Privatrechts Eindeutigere Schlüsse lassen sich über das Verhältnis der Bereiche des Privatrechts, die darauf ausgelegt sind, das Gemeininteresse an Umweltschutz zu fördern, und der Leiterzählung ziehen. Einerseits speist sich die Kritik am Umweltprivatrecht aus dem freiheitlich-individualistischen Privatrechtsverständnis der Leiterzählung. Andererseits zeigt die Existenz des Umweltprivatrechts an, dass die Leiterzählung ein unzutreffendes Bild zeichnet, wenn sie die umweltschützende Wirkung des Privatrechts nicht oder nur ausgrenzend erwähnt. Dem Umweltprivatrecht begegnet ganz grundsätzliche Kritik. So werden der privatrechtlichen Berücksichtigung von Umweltbelangen etwa „Vereinnahmungstendenz[en]“231 attestiert. Man sieht die Gefahr, dass der Einzelne als „Funktionär“232 für die Verwirklichung von Umweltschutzinteressen, als „Tatwerkzeug[] staatlicher Umweltpolitik“233, eingesetzt werde. Wenn Umweltschutzinteressen in privatrechtlichen Entscheidungen Berücksichtigung fänden, schränke dies die privatautonome Gestaltung der Rechtsbeziehungen zwischen Privaten ein.234 Außerdem wird kritisiert, dass das Privatrecht für Umweltschutzzwecke instrumentalisiert werde. Es werde benutzt, um „Schwächen des öffentlichen Umweltrechts auszugleichen.“235 Hieran sei bedenklich, dass das Privatrecht mit seiner Fokussierung auf den Interessenausgleich zwischen Privaten nicht darauf ausgerichtet sei, Umweltbelange in die Entscheidungsfindung miteinzubeziehen.236 Wie Diederichsen bemerkt: „Das Zivilrecht [ist] mit seinen Kategorien von ‚Anspruch‘ und ‚Leistung‘ (vgl. §§ 194, 241 BGB) und der prozessualen Durchsetzung im Zwei-Parteien-Prozeß in der Bewältigung der Mehrdimensionalität von Umweltschäden überfordert.“237 Und Kloepfer formuliert drastischer: „Das Zivilrecht […] wird vom Staat zunehmend für gemeinnützige Zwecke instrumentalisiert. Das Zivilrecht dient dann in Wahrheit bestenfalls nur noch sekundär privaten Interessen, sondern wird vielmehr bestimmend zum Lenkungsmittel staatlicher Politik.“238 In dieser Kritik scheinen Argumentationsmuster der Leiterzählung hervor: Das Umweltprivatrecht wird als Gebiet ausgemacht, in dem es zu übermäßig 231
Diederichsen, Referat zum 56. DJT, L 48 (95). Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang, 1999, S. 576 mit Bezug auf die Rolle des Normbegünstigten eines spezialgesetzlichen Kontrahierungszwanges, der auch im Gemeininteresse des Umweltschutzes angeordnet werden kann. 233 Kloepfer NuR 1990, 337 (339). 234 S. nur v. Bar, Gutachten zum 62. DJT, A 54. 235 Kloepfer NuR 1990, 337 (339); s. ferner Diederichsen, Referat zum 56. DJT, L 48 (63); Marburger FS Ritter, 901 (908 ff.). 236 Diederichsen, Referat zum 56. DJT, L 48 (50, 88); Kloepfer NuR 1990, 337 (340); Taupitz FS Hagen, 469 (476 ff.); ähnlich zur EEG-Umlage Kube/Palm/Seiler NJW 2003, 927 (929). 237 Diederichsen, Referat zum 56. DJT, L 48 (88). 238 Kloepfer in Rengeling (Hrsg.), Handbuch zum europäischen und deutschen Umweltrecht, Bd. I, 102 (122). 232
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Kapitel 3: Umweltschutz
belastenden Eingriffen in die Privatautonomie kommt. Die Berücksichtigung von Umweltschutzinteressen im Privatrecht wird als systemfremd wahrgenommen. Bestrebungen, eine solche Berücksichtigung weiter zu fördern, werden als Herausforderungen an, wenn nicht gar Gefährdungen des Eigenständigkeitsanspruchs des Privatrechts angesehen. Die Kritik lässt sich jedoch entkräften. Zwar ist zuzugestehen, dass das Privatrecht die Möglichkeiten des Einzelnen, von seiner Privatautonomie Gebrauch zu machen, bisweilen einschränkt, wenn sein Verhalten nicht im Einklang mit Umweltbelangen steht. Auch knüpft das Privatrecht mitunter an umweltschädigendes Verhalten Konsequenzen, indem es etwa dem Schädiger den Rechtsschutz versagt (vgl. § 817 S. 2 BGB). Dabei ist allerdings zu bedenken: Erstens sind auch der Privatautonomie unter der verfassungsmäßigen Ordnung des GG Grenzen gesetzt. Das GG gestattet die Indienstnahme Privater zu Gemeinwohlzwecken, solange diese verhältnismäßig ist und im Einklang mit den weiteren Verfassungsvorgaben 239 erfolgt.240 Zweitens hat die Typisierung gezeigt, dass Umweltbelange und Individualinteressen in allen denklogischen Konstellationen aufeinandertreffen können. Wenn die Privatautonomie mal der einen, mal der anderen, mal beider Seiten einer privatrechtlichen Rechtsbeziehung aus Umweltschutzgesichtspunkten eingeschränkt wird, spricht dies gegen eine einseitige Instrumentalisierung Privater.241 Drittens wird die Einschätzung, dass die Beachtung von Umweltschutzinteressen das Zivilrecht überfordere,242 durch die näher beschriebene Gesetzgebung und Rechtsprechung widerlegt. Die privatrechtliche Rechtsprechung verarbeitet Umweltinteressen umstandslos in ihren Entscheidungen. Dabei bedient sie sich verschiedener Instrumentarien – etwa § 134 BGB, § 138 Abs. 1 BGB, § 906 BGB oder des UmweltHG –, um Umweltschutzinteressen bei der Beurteilung von Rechtsbeziehungen zwischen Privaten einfließen zu lassen. Letztlich wirkt die Kritik wie ein Reflex der Leiterzählung auf Bereiche des Privatrechts, die sich nicht ohne Weiteres in das freiheitlich-individualistische Privatrechtsverständnis einfügen lassen. Das Umweltprivatrecht kann nicht – oder nur mit beträchtlichem Begründungsaufwand 243 – überzeugend mit Ver239 Bspw. Wahrung der Kompetenzvorschriften (Art. 70 ff. GG) und des Gesetzesvorbehalts (Art. 20 Abs. 3 GG). 240 S. v. Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, 1999, S. 110 ff.; Bethge VVDStRL 57 (1998), 7 (10 f.). 241 So fordert der BGH etwa bei der Beurteilung der Wesentlichkeit i. S. des § 9 06 BGB eine Abwägung „gegenläufiger Belange in beiden Richtungen“ (Klaus Vieweg/Röthel NJW 1999, 969 [971, Hervorhebung im Original]). Hier ist schon in der Rechtsprechung angelegt, dass das Gemeininteresse an Umweltschutz sowohl die Position des Anspruchstellers als auch die des Anspruchsgegners stärken kann. 242 Vgl. Diederichsen, Referat zum 56. DJT, L 48 (50, 70). 243 Dabei könnte allerdings argumentiert werden, dass der Erhalt der natürlichen Ressourcen notwendig ist, damit auch in Zukunft Privatautonomie verwirklicht werden kann.
III. Weitergehende Beobachtungen
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weis auf die Privatautonomie oder den Interessenausgleich zwischen Privaten allein erklärt werden. Spiegelbildlich sagt die Existenz umweltprivatrechtlicher Gesetzgebung und Rechtsprechung auch etwas über die Leiterzählung aus: Die Entscheidungen zeigen auf, dass dem Gemeininteresse an Umweltschutz in privatrechtlichen Interessenabwägungen ein Platz eingeräumt wird. Damit sind sie ein Beleg dafür, dass die Leiterzählung eine unzutreffende Beschreibung des geltenden Privatrechts tradiert.
Kapitel 4
Infrastruktur Das vorangegangene Kapitel untersuchte, wie das Gemeininteresse an Umweltschutz im Privatrecht berücksichtigt wird. Dabei konnte die Analyse auf eine Vielzahl von Arbeiten aufbauen, die unter dem Titel „Umweltprivatrecht“ firmieren. Das folgende Kapitel widmet sich der Frage, inwiefern das Gemein interesse an der Förderung von Infrastruktur im Privatrecht berücksichtigt wird. Im Gegensatz zu „Umweltprivatrecht“ handelt es sich bei „Infrastrukturprivatrecht“ nicht um eine Bezeichnung, die bei ihrer Erwähnung gängige Assoziationen weckt. Unter diesen Sammelbegriff lassen sich aber eine Reihe von Rechtsmaterien und Instituten fassen, die sich durch ihre Berührungspunkte mit Infrastruktureinrichtungen und Infrastrukturdienstleistungen auszeichnen. Zu denken ist an Enteignungen zu Gunsten von Infrastrukturprojekten, an Duldungspflichten von Störungen, die von Infrastrukturanbietern ausgehen, oder an regulatorisch überformte Verträge über den Anschluss an Energieversorgungsnetze und die Energiegrundversorgung. Der Umstand, dass der Begriff des Infrastrukturprivatrechts nicht eindeutig besetzt ist, hat Konsequenzen für den folgenden Gang der Untersuchung. Zunächst gilt es, den hier verwendeten Begriff der Infrastruktur zu verdeutlichen und seine grundsätzliche Relevanz für das Bestehen von Rechtsbeziehungen unter Privaten aufzuzeigen (I.). Danach geht das Kapitel auf die unterschiedlichen Konstellationen ein, in denen Individualinteressen und Erwägungen über die Förderung von Infrastruktur aufeinandertreffen können (II.). Es schließen sich weitergehende Beobachtungen dazu an, auf welche Art und Weise das Gemeininteresse an der Förderung von Infrastruktur in Rechtsbeziehungen zwischen Privaten Berücksichtigung findet, welche praktische Bedeutung dem In frastrukturprivatrecht zukommt und wie sich das Infrastrukturprivatrecht zur Leiterzählung verhält (III.).
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Kapitel 4: Infrastruktur
I. Infrastruktur und Privatrecht: Eine Verortung 1. Begriffliche Klärungen Was ist gemeint, wenn wir von Infrastruktur sprechen? Eine abschließende Antwort auf diese Frage hat sich bislang noch nicht herausbilden können.1 Dies wird erklärlich, wenn man sich die kurze Etymologie des Begriffes2 vor Augen führt. Bis Anfang der 1970er Jahre war das Wort in Deutschland kaum gebräuchlich.3 Als „Infrastruktur“ in den aktiven Wortschatz aufgenommen wurde, bezog sich der Begriff nicht nur auf Einrichtungen, wie Eisenbahnschienen, Hochspannungsleitungen oder Abwasserkanäle, die man heute gemeinhin als Infrastruktur bezeichnen würde, sondern auch auf militärische Verbünde.4 Bis in die jetzige Zeit schwingen die Gedanken von Vernetzung und System mit, wobei unklar bleibt, welche Netze und Systeme als Infrastrukturen qualifizieren.5 Eine enge Definition möchte Infrastruktur als die „sächliche Grundlage“6 von Netzwirtschaften verstanden wissen, wobei für die Begriffsbestimmung der Netzwirtschaften auf ihre ökonomische Definition als „raumübergreifende, komplex verzweigte Transport- und Logistiksysteme für Güter, Personen oder Information“7 zurückgegriffen wird. 8 Nach einer umfassenderen Leseart zählen außerdem bestimmte punktuelle Einrichtungen, die der Versorgung der Allgemeinheit dienen – wie Schulen oder Krankenhäuser – zur Infrastruktur.9 1 Dörr VVDStRL 73 (2014), 323 (325); Frey in Albers u. a. (Hrsg.), Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft, Bd. IV, 200 (201); ferner Hermes, Staatliche Infrastrukturverantwortung, 1998, S. 168 ff. 2 „Vergleichsweise junger Begriff“ – Wißmann VVDStRL 73 (2014), 370 (372). 3 Ebd., 373. Dies lässt sich auch an der Verlaufskurve ablesen, die abbildet, mit welcher Frequenz „Infrastruktur“ in Zeitungsartikeln Erwähnung fand; s. DWDS-Wortverlaufskurve für „Infrastruktur“, in: DWDS – Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache, hrsg. v. d. Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, https://www.dwds.de/wb/Infra struktur (letzter Abruf: 8.2.2022). 4 S. Frey in Albers u. a. (Hrsg.), Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft, Bd. I V, 200 (201); van Laak Arch. Begriffsgesch. 1999, 280 (281 ff.); ders., Alles im Fluss, 2. Aufl. 2018, S. 15. Die militärische Verwendung lässt sich darauf zurückführen, dass die NATO 1951 ein „Infrastructure Committee“ (1994 umbenannt in „Security Investment Programme“) eta blierte, dessen Aufgabe es ist, von den Bündnispartnern gemeinsam nützbare Einrichtungen zu finanzieren (NATO Infrastructure Committee, 50 Years of Infrastructure, https://www. nato.int/structur/intrastruc/50-years.pdf, letzter Abruf: 8.2.2022). 5 Hierzu van Laak, Alles im Fluss, 2. Aufl. 2018, S. 16, der an anderer Stelle von Infrastruktur als „Plastikwort[]“ spricht (ders., Infra-Strukturgeschichte, Geschichte und Gesellschaft 27 [2001], 367). 6 Dörr VVDStRL 73 (2014), 323 (327). 7 Von Weizsäcker WuW 1997, 572. 8 Kühling in Säcker/Schmidt-Preuß (Hrsg.), Grundsatzfragen des Regulierungsrechts, 2015, 44 (61 f.). 9 So Dörr VVDStRL 73 (2014), 323 (327, 331); Wißmann VVDStRL 73 (2014), 370 (375).
I. Infrastruktur und Privatrecht: Eine Verortung
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Noch weiter gehen Ansätze, die Infrastruktur als Chiffre für Systeme jedweder Art benutzen10 und auch das Rechtssystem als Infrastruktur bezeichnen.11 Für die Zwecke dieser Untersuchung ist es nicht erforderlich, eine trennscharfe Abgrenzung zwischen Materien zu treffen, die Teil der Infrastruktur sind, und solchen, die außen vor bleiben.12 Es wäre auch nicht zielführend, da Infrastrukturen selbst auch nicht starr sind. Um jedoch den potenziell einschlägigen Stoff einzugrenzen, folgt die Untersuchung dem engen, netzwirtschaftlich geprägten Begriffsverständnis. Nur in einem Einzelfall – bei einem Drogenausgabezentrum – wird eine „‚stationäre‘ Einrichtung[]“13 mit in den Blick genommen, weil eine Entscheidung über nachbarliche Pflichten zur Duldung der Einrichtung14 weitergehende Erkenntnisse über das Infrastrukturprivatrecht zulässt.
2. Förderung von Infrastruktur als Gemeininteresse Infrastrukturen beeinflussen die individuelle Lebensführung genauso wie gesamtgesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen.15 Sie sind die „Lebensadern unserer Gesellschaft.“16 Sie ermöglichen die schnelle und weite Verbreitung von Informationen, leiten Energie in die letzten Verästelungen des Versorgungsnetzes und sorgen dafür, dass Güter bewegt werden. Auf individueller Ebene erschließen Infrastrukturen dem Einzelnen ein großes Feld an Informationen und potenziellen Vertragspartnern. Auf gesellschaftlicher Ebene tragen Infrastrukturen maßgeblich zu der in Art. 72 Abs. 2 GG genannten „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ bei, indem sie etwa eine flächendeckende Versorgung mit Strom und Wasser gewährleisten. Wie die Initiativen von EU und Bund zum Breitbandausbau belegen, wird der Versorgungssicherung von 10 S. hierzu „Infrastruktur als ein operationaler Begriff“ – van Laak Arch. Begriffsgesch. 1999, 280 (285). 11 So etwa Grundmann/Möslein ZfPW 2015, 435 (insbes. 438): „Privatrecht [als] eine notwendige, unverzichtbare Infrastruktur […], auf deren Grundlage Privatautonomie erst sinnvoll ausgeübt werden kann“; übernommen von Martinek ZVertriebsR 2018, 139; ferner Hatje/ Schwarze EuR 2019, 153 (173); Maute/Mackenrodt (Hrsg.), Recht als Infrastruktur für Innovation, 2018. 12 Offenes Begriffsverständnis auch in BVerfGE 38, 258 (270 f.). 13 Formulierung bei Wißmann VVDStRL 73 (2014), 370 (375). 14 S. Kap. 4. II. 2. b) bb). 15 S. hins. der Energieversorgung Boesche, Die zivilrechtsdogmatische Struktur des Anspruchs auf Zugang zu Energieversorgungsnetzen, 2002, S. 79; Schiller, Staatliche Gewährleistungsverantwortung und die Sicherstellung von Anschluss und Versorgung im Bereich der Energiewirtschaft, 2012, S. 39 ff. – Damit soll freilich kein Gesellschaftsverständnis zum Ausdruck gebracht werden, gemäß dem sich „zivilisierte“ Gesellschaften durch ihren Bestand an Straßen, Schienen- und Rohrsystemen auszeichnen. Zu den Gefahren einer Überlegenheitsdeutung van Laak, Alles im Fluss, 2. Aufl. 2018, S. 83 f. 16 So der Untertitel des Buches von van Laak, Alles im Fluss, 2. Aufl. 2018, der wiederum Bezug nimmt auf eine unveröffentlichte Formulierung von Anton Zischka („Lebensadern der Gemeinschaft“, S. 109).
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Kapitel 4: Infrastruktur
politischer Seite große Bedeutung beigemessen.17 Ziel der Projekte ist, möglichst viele Haushalte an das Breitbandsystem anzuschließen, wobei ein Schwerpunkt darauf liegt, ländliche Räume zu erschließen. Im Standortwettbewerb mit städtischen Ballungszentren sollen sie ihren Bewohnern eine genauso schnelle Internetversorgung wie in den Metropolregionen bieten können. Die Ausführungen zur Bedeutung von Infrastrukturen für unsere individuelle wie kollektive Lebensführung deuten an, weshalb es sich bei der Förderung von Infrastruktur um ein Gemeininteresse handelt. Es geht nicht ausschließlich darum, einem jeden Einzelnen Zugang zu Infrastrukturen und Infrastrukturdienstleistungen zu ermöglichen. Das Interesse an der Errichtung und dem Erhalt von Infrastrukturen erschöpft sich nicht in ihrem individuellen Nutzen. Infrastrukturen schaffen bzw. erhalten die Voraussetzungen für wirtschaftliche Produktivität und gesellschaftlichen Austausch. Beides lässt sich weder einer einzelnen Person noch einem Kreis abgrenzbarer Personen zuordnen. Dies rechtfertigt es, das Interesse an der Förderung von Infrastruktur den Gemeininteressen zuzuordnen.18 So wird es auch im Verfassungsrecht gesehen: Die Verfassung verpflichtet den Staat aus dem Sozialstaatsprinzip19 und eines aus den Grundrechten abgeleiteten „Grundrechtsvoraussetzungsschutzes“20 ein Mindestmaß an Infrastruktur zu gewährleisten, damit ein jeder in die Lage versetzt wird, eine „menschenwürdige Existenz“21 führen zu können.22
II. Typisierung Auf Ebene des einfachen Gesetzesrechts ist auch das Privatrecht mit dem Gemeininteresse an der Förderung von Infrastruktur befasst. Privatrechtliche 17 Auf EU-Ebene Mitteilung der Kommission, Die digitale Agenda für Europa – digitale Impulse für das Wachstum in Europa, COM(2012) 784 final; Kostensenkungs-RL – RL 2014/61/EU (Abl. 2014 L 155). Auf nationaler Ebene Umsetzung der Kostensenkungs-RL durch das DigiNetzG, BGBl. I (2016), S. 2473 ff. Weiterführend Kühling/Bulowski, Zugangsrechte nach dem DigiNetzG, NundR 2017, S. 19 ff.; Reents, Ausbau und Finanzierung einer flächendeckenden Breitbandversorgung in Deutschland, 2016. 18 „Sicherheit der Energieversorgung als […] Gemeinschaftsinteresse“ – BVerfGE 30, 292 (32); „Stromversorgung […] ist eine Gemeinwohlaufgabe“ – BVerfGE 91, 186 (206); ähnlich Britz in Fehling/Ruffert (Hrsg.), Regulierungsrecht, § 9 Rn. 27. 19 Vgl. Fehling in Leible/Lippert/Walter (Hrsg.), Die Sicherung der Energieversorgung auf globalisierten Märkten, 115 (120) und passim. 20 Grundlegend Isensee in Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I X, § 190 Rn. 91 ff. 21 So die Formulierung des BVerfG zum Sozialleistungsrecht – BVerfGE 132, 134 (Rn. 71); 137, 34 (Rn. 78); vgl. auch BVerfGE 125, 175 (225). 22 Dörr VVDStRL 73 (2014), 323 (338 f.); Fehling AöR 121 (1996), 59 (81 f.); Kämmerer, Privatisierung, 2001, S. 429 und 451; Osterloh VVDStRL 54 (1995), 204 (208); generell im Hinblick auf die Privatisierung von Aufgaben der Daseinsvorsorge Bauer VVDStRL 54 (1995), 243 (268 f.).
II. Typisierung
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Entscheidungen zu boykottähnlichen Konstellationen, zum bürgerlich-rechtlichen Aufopferungsanspruch, zur Haftpflicht bei infrastrukturellen Schäden sowie im privatrechtlichen Teilbereich des Regulierungsrechts gehen auf das Gemeininteresse an der Förderung von Infrastruktur ein. Diese Entscheidungen werden im Folgenden einer Typisierung zugeführt. Wie im vorangegangenen Kapitel zur Berücksichtigung des Gemeininteresses an Umweltschutz ist die Typisierung der Entscheidungen mit Bezug zum Gemeininteresse an der Förderung von Infrastruktur danach gegliedert, in welchen Konstellationen Individualinteressen und das Gemeininteresse an der Förderung von Infrastruktur im Privatrecht aufeinandertreffen. Bei der Sichtung von Gesetzgebung und Rechtsprechung finden sich wiederum Entscheidungen, in denen sich die Individualinteressen unterschiedlicher Personen gegen das Gemeininteresse richten (1.) oder das Gemeininteresse die Position einer Partei beim Interessenausgleich stärkt (2.). Schließlich begegnen Entscheidungen, in denen das Gemeininteresse an der Förderung von Infrastruktur innerhalb einer Rechtsbeziehung zwischen Privaten sowohl auf Seiten der einen als auch auf Seiten der anderen Partei berücksichtigt wird (3.).
1. Gleichgerichtete Individualinteressen gegen das Gemeininteresse an der Förderung von Infrastruktur Anders als im Zusammenhang mit dem Gemeininteresse an Umweltschutz sind keine privatrechtlichen Entscheidungen zugänglich, die vertragliche Absprachen gerichtet auf eine Infrastrukturschwächung thematisieren. Zwar finden sich wettbewerbsrechtliche Entscheidungen, die das Marktverhalten von Infrastrukturbetreibern und Infrastrukturdienstleistern rechtlich bewerten.23 Doch handelt es sich hierbei um Vereinbarungen, die darauf gerichtet sind, Konkurrenten den Zugang zu den betroffenen Märkten zu erschweren. Mithin ging es den Parteien nicht darum, den Erhalt und Aufbau von Infrastrukturen oder das Angebot von Infrastrukturdienstleistungen per se zu verhindern, sondern den Wettbewerb mit anderen Anbietern. Weitet man jedoch den Blick und betrachtet Dreieckskonstellationen, die dem Boykott ähneln, 24 findet man einschlägige Rechtsprechung. 1984 entschied der 23 Bspw. BGHZ 199, 289 (Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung von Gemeinden bei Konzessionsvergabe); OLG Stuttgart NZBau 2017, 435 (Stromkonzessionsvergabe, ebenfalls mit öffentlicher Beteiligung); OLG Jena WRP 2018, 743 (Rechtswidrigkeit einer gemeinsamen Werbung von Energielieferant und Energienetzbetreiber eines vertikal inte grierten Energieversorgungsunternehmens). 24 Bei Boykotten begegnen sich mindestens drei Akteure, nämlich Initiator, Adressat und Boykottierter. Der Initiator ruft einen Adressaten dazu auf, keine Geschäfte mit dem Dritten zu tätigen (s. nur Fikentscher, Wettbewerb und gewerblicher Rechtsschutz, 1958, S. 249; Staudinger/Hager, 2017, § 823 D 35 f.). Ein Boykott kann als Beispiel einer „Vereinigung von Individualinteressen gegen Gemeininteressen“ typisiert werden, wenn der Initiator mit dem Auf-
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Kapitel 4: Infrastruktur
BGH einen Fall, in dem die Bundesbahn begehrte, dass einer Bürgerinitiative untersagt werde, zum Widerstand gegen den Neubau des Streckenabschnitts zwischen Mannheim und Stuttgart aufzurufen.25 In der für Boykotte typischen Interessenanordnung vereinten sich das gegen das Infrastrukturprojekt gerichtete Interesse der Bürgerinitiative und die Interessen der von ihr angesprochenen, dem Projekt kritisch gegenüber eingestellten Bürger gegen die Interessen der Bundesbahn. Bei der Beurteilung, ob die Bundesbahn einen Unterlassungsanspruch (§§ 823 Abs. 1, 1004 BGB) gegen die Bürgerinitiative habe, erörterte der erkennende Senat, ob der Aufruf zum Widerstand ein rechtswidriger Eingriff in das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb i. S. des § 823 Abs. 1 BGB der Bundesbahn sei.26 Der BGH gab dem Berufungsgericht auf den Weg, dass eine bewusste Fehlinformation, die Bürger zum juristischen Tätigwerden gegen Infrastrukturvorhaben veranlassen soll, eine rechtswidrige Verletzung des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb bedeute.27 Die Lage sei jedoch anders zu beurteilen, wenn sich die Informantin – hier die Bürgerinitiative – redlich darum bemühe, die ihr zugänglichen Informationen richtig wiederzugeben.28 Auch wenn sich der BGH hier auf die Seite der Bundesbahn stellte, zeigt die Entscheidung, dass das Mobilisieren gegen Infrastrukturprojekte grundsätzlich keine unerlaubte Handlung darstellt. Eine andere Bewertung dürfte sich auch verbieten, wenn man bedenkt, dass große Infrastrukturvorhaben Umwelt und Lebensbedingungen der betroffenen Anwohner stark beeinträchtigen können und Informationen über die mit den Vorhaben verbundenen Risiken der öffentlichen Meinungsbildung dienen.29 An der Entscheidung ist außerdem ablesbar, dass sich der BGH dem Sachverhalt mit großem Gespür für die Komplexität von infrastrukturellen Planungsverfahren näherte. Eine rechtswidrige Verletzung des Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebs möchte er nicht in jedem Fall von Fehlinformation annehmen, sondern erst dann, wenn es an einem ernsthaften Bemühen um die korrekte Wiedergabe der Informationen mangelt.30 Damit schenkt er dem Umstand Beachtung, dass es für die Kritiker von Infrastrukturprojekten oftmals schwierig ist, die komplexen planungsrechtlichen Informationen umfassend auszuwerten. Der Beispielsfall belegt zwar, dass die Rechtsprechung durchaus über Konstellationen urteilt, in denen sich Individualinteressen Privater gegen das Gemeininteresse an der Förderung ruf das Anliegen verfolgt, die Förderung eines Gemeininteresses zu behindern, und er hierbei bei einem Adressaten Gehör findet. 25 BGHZ 90, 113. 26 Ebd., (121 ff.). 27 Ebd., (124). 28 Ebd., (125 f.). 29 St. Rspr. BVerfGE 25, 256 (264); 62, 230 (247); BVerfG NJW 1992, 1153 (1154). 30 BGHZ 90, 113 (125 f.); Staudinger/Hager, 2017, § 823 D 41.
II. Typisierung
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von Infrastruktur richten. Letztlich sind solche Entscheidungen aber vereinzelt geblieben.
2. Individualinteressen einer Partei vereint mit Infrastrukturinteressen Deutlicher zeigt sich der Einfluss des Gemeininteresses an der Förderung von Infrastruktur in Entscheidungen, in denen das Gemeininteresse die Position einer der an einem Rechtsverhältnis beteiligten Parteien stärkt. Das Gemein interesse an der Förderung von Infrastruktur wird berücksichtigt in Ent scheidungen über die Rechtmäßigkeit von Enteignungen zugunsten privater Infrastrukturanbieter (a)), in der Rechtsprechung zum bürgerlich-rechtlichen Aufopferungsanspruch (b)) sowie bei der Regelung der Haftpflicht für Infrastrukturprojekte (c)). a) Enteignungen zugunsten privater Infrastrukturprojekte Es mag zunächst verwundern, weshalb Enteignungen, die dem öffentlichen Recht zugeordnet werden, hier Erwähnung finden. Doch handelt es sich von der Wirkung her betrachtet bei Enteignungen zugunsten Privater um einen Interessenausgleich zwischen Privaten. Auf der einen Seite steht der Enteignete als der von der Enteignung Betroffene; auf der anderen Seite der Empfänger des enteigneten Gegenstandes als der von ihr Begünstigte. Der enteignende Staat steht zwischen Betroffenem und Begünstigtem, gibt das Verfahren vor und trifft die Entscheidung über die Enteignung. Somit kann der Staat nicht nur Gemeinwohlbelange als eigene Interessen in die Abwägung einfließen lassen, sondern auch Grundrechtsschutz durch Verfahren 31 verwirklichen und auf den Ausgleich der widerstreitenden Privatinteressen gestaltend einwirken. Man kann eine Enteignung zugunsten Privater also als Dreieckskonstellation zwischen zwei Privaten und Staat begreifen, bei der der Staat als Mediator den Ausgleich der widerstreitenden Privatinteressen sucht.32 Die verwaltungsrechtliche
31 Wegweisend BVerfGE 24, 367 (401); danach etwa BVerfGE 39, 276 (294); 46, 325 (334); 49, 220 (225); 53, 30 (65). Zu dieser Grundrechtsfunktion s. nur Denninger in Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, § 193 Rn. 5 ff; Goerlich, Grundrechte als Verfahrensgarantien, 1981, S. 139 ff.; Schmidt-Assmann AöR 142 (2017), 325 (338 ff.). 32 Ein weiteres Argument dafür, Enteignungen zugunsten Privater hier anzusprechen, ist, dass das von Enteignungen betroffene Rechtsgut Eigentum in seiner Gestalt besser erfasst wird, wenn man seine bürgerlich-rechtlichen und seine öffentlich-rechtlichen Komponenten zusammendenkt. So betont das BVerfG „die Gleichrangigkeit von öffentlichem Recht und Privatrecht bei der Bestimmung von Inhalt und Umfang des Eigentums“ (Auer, Der privatrechtliche Diskurs der Moderne, 2014, S. 141 mit Verweis auf BVerfGE 58, 300 [336]). Es schiene mir eine unnötige Verkürzung, wenn man bei der Behandlung der Frage, ob und wie Infrastrukturinteressen Einfluss auf den Interessenausgleich zwischen Privaten nehmen, auf
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Einkleidung des Enteignungsverfahrens sollte daher nicht den Blick dafür verstellen, dass sich hier der Sache nach die Interessen Privater gegenüberstehen. Dabei hat sich eine Beurteilung der Rechtmäßigkeit bzw. Rechtswidrigkeit von Enteignungen zugunsten Privater, die zugleich dem Zweck der Förderung von Infrastruktur dienen sollen, an den vom BVerfG aufgestellten Leitlinien zu orientieren. So hat das BVerfG darüber entschieden, ob ein Gesetz verfassungsgemäß ist, das eine „Enteignung für Zwecke der öffentlichen Energieversorgung auch zugunsten privatrechtlich organisierter Energieversorgungsunternehmen zuläßt.“33 In dem der Vorlage zugrunde liegenden Verfahren wehrte sich der Eigentümer eines Ackergrundstücks gegen eine vorzeitige Besitzeinweisung. Diese sollte ein privates Energieversorgungsunternehmen berechtigen, auf dem Grundstück des Eigentümers einen Hochspannungsmast zu errichten. Das BVerfG betonte, dass „der Zugriff auf das Eigentum […] nur dann zulässig [ist], wenn er einem besonderen, im öffentlichen Nutzen liegenden Zweck dient.“34 In der entscheidenden Passage führte es aus: „Inwieweit eine Enteignung zugunsten eines privatrechtlich organisierten Unternehmens zulässig ist, bedarf keiner abschließenden Prüfung. Jedenfalls ist sie es dann, wenn einem solchen Unternehmen durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes die Erfüllung einer dem Gemeinwohl dienenden Aufgabe zugewiesen und zudem sichergestellt ist, daß es zum Nutzen der Allgemeinheit geführt wird. Zwar wird auch in diesem Falle das Zwangsinstrument der Enteignung zugunsten eines Privaten eingesetzt. Entscheidend ist aber, daß das zu einem bestimmten, im öffentlichen Nutzen liegenden Zweck geschieht.“35
Hieraus folgerte das BVerfG, dass die nach dem Gesetz begünstigten Energieversorgungsunternehmen „eine öffentliche Aufgabe von größter Bedeutung“ wahrnehmen, die Teil „der Daseinsvorsorge“ ist und derer „der Bürger zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz unumgänglich bedarf.“36 Im Weiteren sah das BVerfG das Enteignungsgesetz zugunsten privater Energieversorger als verfassungskonform an. Diese Rechtsprechung bestätigte das BVerfG in weiteren Urteilen.37 eine Untersuchung von Enteignungen zugunsten Privater deshalb verzichtete, weil sie verwaltungsverfahrensrechtlich eingekleidet sind. 33 BVerfGE 66, 248 (2. LS). 34 Ebd., (257) mit Verweis auf BVerfGE 24, 367 (403 ff.); 38, 175 (180). 35 BVerfGE 66, 248 (257). 36 Ebd. mit Verweis auf BVerfGE 38, 258 (270 f.); 45, 63 (78 f.). 37 BVerfGE 74, 264 (Rn. 53 f.). Im konkreten Fall, der sich mit der Verfassungsmäßigkeit einer Flurbereinigung zum Zweck der Errichtung einer Kfz-Prüfstrecke beschäftigte, verneinte das BVerfG einen unmittelbaren Gemeinwohlbezug des Streckenbetreibers (Rn. 54). Weiter BVerfGE 134, 242 (Rn. 178 ff.): Hier vertrat das BVerfG die Auffassung, dass private Bergbauunternehmen bei der Versorgung des Marktes mit Rohstoffen in einem der Daseinsvorsorge ähnlichen Bereich agieren (Rn. 207). Letztlich befand das Gericht die Enteignungsregelungen des BBergG zugunsten privater Bergbauunternehmen für verfassungsgemäß.
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Die Leitlinien des BVerfG befolgte der BGH in einer Entscheidung über die Rechtmäßigkeit einer Enteignung zum Zwecke der Energieversorgung aus dem Jahr 2015.38 Der BGH hatte zu entscheiden, ob eine Enteignung zugunsten der Errichtung eines Windparks rechtmäßig war.39 Die Besonderheit des Falles war, dass die Genehmigung des Windparks selbst bislang noch nicht in Bestandskraft erwachsen war. Der BGH ging auf den Regelungszweck des § 45 Abs. 1 Nr. 2 EnWG ein, wonach Enteignungen zulässig sind, „soweit sie zur Durchführung eines […] Vorhabens zum Zwecke der Energieversorgung erforderlich“ sind und der damit das Gemeinwohlerfordernis des Art. 14 Abs. 3 GG für Enteignungen im Dienste der Energieversorgung legaldefiniert.40 Der BGH verwies auf die Rechtsprechung des BVerfG zu Enteignungen zugunsten Privater und bekräftigte, dass es sich bei der „Sicherung der Energieversorgung [… um eine] öffentliche Aufgabe von größter Bedeutung“ handle.41 Im konkreten Fall jedoch sah der BGH das Gemeinwohlerfordernis als nicht erfüllt an.42 Selbst wenn die Enteignung auf eine Förderung der Energieversorgung ziele, sei immer noch zu prüfen, ob sie auch wirklich dem Gemeinwohl diene. Das sei zu verneinen, wenn, wie hier, noch nicht abschließend entschieden sei über die Genehmigung des Windparks, für den die Enteignung vorgenommen werden sollte. Zumindest hätte unter diesen Umständen der Enteignungsbeschluss einer umfassenden Prüfung der Genehmigungsfähigkeit des Windparks durch die Enteignungsbehörde bedurft.43 Die Entscheidungen des BVerfG und des BGH lassen erkennen, dass es die Position eines von einer Enteignung begünstigten Privaten stärkt, wenn die Enteignung dazu dient, die Infrastruktur zu fördern. Beide Gerichte ziehen eine Verbindung zwischen Aufgaben der Daseinsvorsorge, zu denen Errichtung und Erhalt von Infrastrukturen zählen, und ihrer Erfüllung durch Private. Übernimmt ein Privater, dem die Enteignung zu Gute kommen soll, Aufgaben der Daseinsvorsorge, so wird dies im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung einer Enteignung zu Lasten des Enteigneten berücksichtigt. Dies gilt insbesondere für private Energieversorger. Für sie ist schon in § 45 Abs. 1 EnWG angelegt, dass eine Enteignung zu ihren Gunsten grundsätzlich dem verfassungsrechtlichen Gemeinwohlerfordernis aus Art. 14 Abs. 3 GG entspricht.
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BGHZ 204, 274. Konkret ging es um eine auf § 45 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 EnWG i. V. mit § 2 Abs. 1 Nr. 1, § 3 Abs. 1 Nr. 3, 4, § 7 Abs. 1 ThürEG gestützte Enteignung. – Während § 45 Abs. 1 EnWG regelt, unter welchen Voraussetzungen Enteignungen zum Zwecke der Energieversorgung zulässig sind, finden die Enteignungen selbst ihre rechtliche Grundlage in den Landesenteignungsgesetzen, vgl. Danner/Theobald, Energierecht, § 45 EnWG Rn. 10. 40 „Legaldefinition“ – Danner/Theobald, Energierecht, § 45 EnWG Rn. 9. 41 BGHZ 204, 274 (Rn. 25). 42 Ebd., (Rn. 26 ff.). 43 Ebd., (Rn. 31). 39
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b) Der bürgerlich-rechtliche Aufopferungsanspruch und Infrastrukturprojekte Fördert das Verhalten eines Privaten die Infrastrukturversorgung, wirkt sich dies positiv auf seine Position in Entscheidungen über die Gewähr bürgerlich-rechtlicher Aufopferungsansprüche aus. aa) Entwicklung des bürgerlich-rechtlichen Aufopferungsanspruchs Die Figur des bürgerlich-rechtlichen Aufopferungsanspruchs findet sich in inhaltlicher Nähe zur Enteignung.44 Gerichte stellen auf die Figur typischerweise in Konstellationen ab, in denen einem Eigentümer ein aus seinem Eigentum rührender Abwehranspruch gegen Störungen gemäß § 1004 BGB versagt bleibt, weil er den Eingriff im Allgemeininteresse zu dulden hat.45 Als Ausgleich gewährt der bürgerlich-rechtliche Aufopferungsanspruch dem duldungspflichtigen Eigentümer finanzielle Kompensation für sein Sonderopfer.46 Ähnlich wie bei der Enteignung muss der Eigentümer in Fällen, in denen der bürgerlichrechtliche Aufopferungsanspruch zur Anwendung kommt, einen Eingriff in seine Rechtsposition dulden und erhält im Gegenzug eine Entschädigung. Hierzu findet sich bereits in der Rechtsprechung des RG reichhaltiges Anschauungsmaterial. Das RG entschied unter anderem, dass Grundstückseigentümer Einwirkungen auf ihre Grundstücke, die von Lokomotivschuppen,47 Eisenbahntunneln48 oder Autobahnen49 ausgingen, gegen Entschädigung zu dulden hätten. Nach den nachbarrechtlichen Grundsätzen hätte in allen genannten Fällen an sich eine Pflicht zur Duldung abgelehnt werden müssen, weil es sich bei den Störungen um wesentliche sowie ortsunübliche Beeinträchtigungen handelte (vgl. § 906 Abs. 1 und 2 BGB).50 Indes wertete das Gemeininteresse am Bestand der Anlagen die Position der Störer auf. 44 Hierzu generell Bensching, Nachbarrechtliche Ausgleichsansprüche – zulässige Rechtsfortbildung oder Rechtsprechung contra legem?, 2002, S. 27 ff. und 138 ff.; Hubmann JZ 1968, 66 f.; Konzen, Aufopferung im Zivilrecht, 1969, S. 31 ff.; Schack JuS 1963, 263 (264 ff.); ders. BB 1965, 341 ff.; Tondorf, Der Aufopferungsanspruch im Zivilrecht, 1965, insbes. S. 28 ff. 45 BGHZ 48, 98 (101); 60, 119 (122 f.); 110, 17 (23). Begrifflich zu unterscheiden vom „allgemeinen“ bürgerlich-rechtlichen Aufopferungsanspruch sind die in speziellen Gesetzen geregelten Fälle der bürgerlich-rechtlichen Aufopferungshaftung. Ausgleichspflichtige Duldungsbestimmungen finden sich etwa beim Notstand (§ 9 04 S. 2 BGB) oder beim Notwegerecht (§ 917 Abs. 2 S. 1 BGB). S. hierzu Roth in Roth/Lemke/Krohn (Hrsg.), Der bürgerlich-rechtliche Aufopferungsanspruch als Problem der Systemgerechtigkeit im Schadensersatzrecht, 1 ff. 46 Vgl. BGHZ 48, 98 (101); 60, 119 (123); 110, 17 (23); BGH NJW 1970, 856 (857). 47 RGZ 70, 150 (152). 48 RGZ 73, 270 (271 f.). 49 RGZ 159, 129 (135 f.). 50 S. Bensching, Nachbarrechtliche Ausgleichsansprüche – zulässige Rechtsfortbildung oder Rechtsprechung contra legem?, 2002, S. 28; Konzen, Aufopferung im Zivilrecht, 1969, S. 42.
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Die aufgeführten Beispiele eint der Umstand, dass der Störer immer ein „schlichthoheitlicher“ Betrieb, d. h. eine Person des öffentlichen Rechts, war. Doch weitete das RG seine Rechtsprechung zum bürgerlich-rechtlichen Aufopferungsanspruch auf Eingriffe sogenannter „lebenswichtiger Betriebe“ aus. Darunter fasste es privatrechtlich organisierte „Betriebe, die für das allgemeine Wohl unentbehrlich oder doch von besonderer Bedeutung sind.“51 Eigentümer mussten Einwirkungen, die von lebenswichtigen Betrieben ausgingen, gegen eine angemessene Entschädigung hinnehmen. Etwas anderes galt erst für verschuldete Eigentumsverletzungen, die Schadensersatzansprüche gemäß §§ 823 ff. BGB ausgelöst hätten.52 Der BGH setzte die Rechtsprechungslinie des RG fort und definierte dabei den Anwendungsbereich des Anspruchs näher. Er betonte, dass ein Rekurs auf den bürgerlich-rechtlichen Aufopferungsanspruch da auszuscheiden habe, wo öffentlich-rechtliche Entschädigungsansprüche bestünden oder es gesetzliche Sonderregelungen gebe, die den Interessenausgleich zwischen Eigentümer und Störer regelten.53 Unter anderem führte der BGH aus, dass „unmittelbare Eingriffe von hoher Hand“ öffentlich-rechtliche Ansprüche aus §§ 74, 75 EinlALR oder aus dem Gewohnheitsrecht begründeten,54 und dass ein bürgerlich-rechtlicher Aufopferungsanspruch lediglich „vorbehaltlich“ spezialgesetzlicher „Sonderregelung[en]“55 bestünde. Folglich ist der bürgerlich-rechtliche Aufopferungsanspruch von den Gerichten nur in Erwägung zu ziehen, wenn keine gesetzlichen Grundlagen wie etwa im BBergG, EnwG oder EEG existieren, die regeln, ob Entschädigung für die Einwirkungen besonders störender Betriebe zu leisten ist. Begrifflich verabschiedete sich der BGH dabei vom „lebenswichtigen Betrieb“56, 57 und verwendet stattdessen die alternative Bezeichnung „gemeinwichtige[r]“58 Betrieb. In der Sache stellt der BGH jedoch weiterhin auf die Wertungen ab, die hinter der Figur des lebenswichtigen Betriebes stehen, und nimmt erweiterte Duldungspflichten des Eigentümers „im Allgemeininteresse“ an.59 51
Grundlegend RGZ 159, 129 (135); bestätigt in RGZ 162, 349 (359). diese Unterscheidung als Begründung maßgeblich abstellend BGHZ 16, 366 (369 ff.). 53 So die Analyse von Bensching, Nachbarrechtliche Ausgleichsansprüche – zulässige Rechtsfortbildung oder Rechtsprechung contra legem?, 2002, S. 29. 54 BGHZ 16, 366 (374); gleichsinnig BGHZ 9, 83 (88); 72, 289 (293); 91, 20 (23). 55 BGHZ 110, 17. 56 So noch die Bezeichnung in RGZ 159, 129 (135); 162, 349 (359). 57 Kühn, Umweltschutz durch Privatrecht, 2006, S. 67. 58 BGHZ 144, 200 (205); zuvor schon bzgl. einer schlichthoheitlich betriebenen Kläranlage BGH NJW 1980, 770; BGHZ 91, 20 (23); s. auch Roth in Roth/Lemke/Krohn (Hrsg.), Der bürgerlich-rechtliche Aufopferungsanspruch als Problem der Systemgerechtigkeit im Schadensersatzrecht, 1 (15). 59 Kühn, Umweltschutz durch Privatrecht, 2006, S. 67; ferner Schapp, Das Verhältnis von privatem und öffentlichem Nachbarrecht, 1978, S. 100. 52 Auf
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bb) Der bürgerlich-rechtliche Aufopferungsanspruch bei Infrastrukturprojekten Der bürgerlich-rechtliche Aufopferungsanspruch kommt häufig in Fällen zur Anwendung, in denen Private über die Entstehung oder den Erhalt von Infrastruktureinrichtungen streiten: Die Klägerin begehrt, durch das Infrastrukturprojekt nicht gestört zu werden oder hilfsweise finanzielle Kompensation zu erhalten. Der Beklagte möchte das Infrastrukturprojekt nach seinen Vorstellungen und möglichst günstig umsetzen. Auf diesen Interessenausgleich zwischen Privaten setzt sich als zusätzlicher Faktor, als „Plus x“,60 das Gemeininteresse an der Förderung von Infrastruktur und stärkt die Position des Beklagten. Die folgenden Entscheidungen des BGH verdeutlichen die Wirkweise: In einem Fall aus dem Jahr 1973 begehrte ein Grundstückseigentümer Ausgleich dafür, dass über sein Grundstück die Hochspannungsleitung eines Energieversorgungsunternehmens verlief. Die Leitung war seinerzeit mit Einverständnis des früheren Eigentümers verlegt, eine Eintragung der Belastung des Grundstücks im Grundbuch jedoch versäumt worden. Der III. Zivilsenat des BGH entschied, dass der jetzige Eigentümer zur Duldung der Leitung verpflichtet sei und ihm im Gegenzug ein Ausgleich nach dem bürgerlich-rechtlichen Aufopferungsanspruch zustehe.61 Die Duldungspflicht begründete der Senat damit, dass „die Starkstromleitung […] der allgemeinen Energieversorgung und damit einer im Allgemeininteresse liegenden öffentlichen Aufgabe“62 diene. Wenig später suchte der V. Zivilsenat die Abgrenzung zu der vom III. Zivilsenat eingeschlagenen Linie. Er entschied, dass ein Eigentümer eines Grundstücks einen Anspruch auf Beseitigung einer Niederspannungsleitung hatte, die mit Zustimmung seines Rechtsvorgängers verlegt worden war.63 Er verwies – ganz im Sinne einer Einschränkung des Anwendungsbereichs des bürgerlich-rechtlichen Aufopferungsanspruchs – auf die damals geltenden Regelungen des AVB, BauGB und EnWG zu Nutzungsrechten von Energieversorgungsunternehmen und Enteignungsmöglichkeiten, um zu begründen, dass im konkreten Fall eine Duldungspflicht des Eigentümers rechtlich nicht angelegt war. 64 Damit erwies sich als der entscheidende Unterschied, dass es für Niederspannungsleitungen im Gegensatz zu Hochspannungsleitungen spezielle Gesetze gab, die den Nutzungskonflikt zwischen Energieversorgungsunternehmen und Grundstückseigentümern regelten. 65 60
S. zur Parallelkonstellation des Gemeininteresses an Umweltschutz Kap. 2. III. 1. b). BGHZ 60, 119 (122 f.). 62 Ebd., (122). 63 Ebd., (39 ff.). 64 Ebd., (41). 65 Für vergleichbare Fälle der Untertunnelung oder Überspannung eines Grundstücks mit Telekommunikationslinien ist der Nutzungskonflikt zwischen Infrastrukturanbieter und Grundstückseigentümer ebenfalls gesetzlich geregelt: § 76 TKG statuiert wechselseitige Duldungs- und Ausgleichspflichten, die sich an den hier beschriebenen, richterrechtlich entwi61
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Auch bei Nutzungskonflikten, die durch die Lagerung von Erdgasreserven entstanden waren, erwähnte der BGH die Möglichkeit eines Entschädigungsanspruchs für duldungspflichtige Eigentumseinschränkungen. Dem Eigentümer eines Ziegelwerks war Tonabbau auf seinem Grundstück ab einer bestimmten Tiefe versagt worden, weil noch tiefere Schichten des Bodens von einem Energieversorgungsunternehmen als Gastiefspeicher genutzt wurden. Daraufhin begehrte der Grundstückseigentümer vom Energieversorgungsunternehmen Entschädigung für die Inanspruchnahme seines Grundstücks. Der BGH betonte, dass der Betrieb des Gastiefspeichers „im Allgemeininteresse“66 stehe und vom Eigentümer „aus besonderen Gründen eines höheren Interesses“67 zu dulden sei. Das mit der Entscheidung betraute Instanzgericht solle daher prüfen, ob ein bürgerlich-rechtlicher Aufopferungsanspruch zu gewähren sei. 68 Außerdem entschied der BGH über Duldungspflichten und Ausgleichsansprüche eines Grundstückseigentümers gegenüber einem angrenzenden Drogenhilfezentrum. 69 Bei einem Drogenhilfezentrum handelt es sich zwar nicht um eine Infrastruktureinrichtung im engeren, netzbezogenen Sinn. Doch kann es dem Bereich der Infrastruktur im weiteren Sinn zugeschlagen werden, da es eine stationäre Einrichtung der Gesundheitsfürsorge ist.70 Der BGH führte aus: „[E]in Abwehranspruch, der die Einstellung eines Betriebs oder einer Anlage zur Folge hätte, [kann] ausgeschlossen sein, wenn die störenden Einwirkungen der Erfüllung von Aufgaben dienen, die im Allgemeininteresse liegen und von öffentlich-rechtlichen Trägern oder, wie hier, von unmittelbar dem öffentlichen Interesse verpflichteten gemeinwichtigen Einrichtungen ausgehen.“71
Das gelte umso mehr, wenn „das Allgemeininteresse gesetzlichen Ausdruck“72 erhalten habe. Da die Unterstützung Drogenabhängiger durch Hilfseinrichtungen Niederschlag im BtMG gefunden habe, sei der Grundstückseigentümer zur Duldung des angrenzenden Drogenhilfezentrums verpflichtet.73 Allerdings habe der Grundstückseigentümer einen Anspruch auf finanziellen Ausgleich gegenüber dem Betreiber der Einrichtung auf Grundlage des nachbarrechtlickelten Vorgaben „orientieren“ (ähnlich Beck’scher TKG-Kommentar/Schütz, 4. Aufl. 2013, § 76 Rn. 15, der eine Ausrichtung an § 9 06 Abs. 1 S. 1 BGB annimmt). 66 BGHZ 110, 17 (21). 67 Ebd., (23). 68 Ebd., (23 ff.). 69 BGHZ 144, 200. 70 Vgl. die unterschiedlichen Definitionen von Infrastruktur in Kap. 4. I. 1. 71 BGHZ 144, 200 (205) mit Verweis u. a. auf die Urteile BGHZ 29, 314 (317); 48, 98 (104); 60, 119 (122); BGH NJW 1980, 770; BGHZ 91, 20 (23). 72 BGHZ 144, 200 (206). 73 Ebd., (206 f.). Das OLG Köln übernahm die Argumentation und verneinte das Recht zur fristlosen Kündigung von Vermietern gegenüber einem Mieter, der in seinen Räumen eine Methadonausgabe betrieb und bei Vertragsschluss nicht darauf hingewiesen hatte (OLG Köln NJW 2011, 314 [315]).
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chen Ausgleichsanspruchs.74 Damit folgte der BGH derselben Argumentation, die auch bei Ausgleichsansprüchen für Sonderopfer zugunsten netzwirtschaftlicher Infrastrukturen angewandt wird: Zunächst benannte er die Aufgabe, die im Allgemeininteresse ausgeführt wird. Danach würdigte er den Umstand, dass diese Aufgabe von Privaten übernommen wird. Er schloss mit der Wertung, dass hieraus gesteigerte Duldungspflichten des Eigentümers erwachsen, die durch finanzielle Kompensationen auszugleichen sind. c) Haftung für Infrastrukturprojekte Darüber hinaus führt die Berührung des Gemeininteresses an der Förderung von Infrastruktur zu Modifikationen bei der Haftung für Infrastrukturprojekte. Grundsätzlich haften Infrastrukturbetreiber für Schäden, die ihre Einrichtungen verursachen, schon unter geringeren Voraussetzungen als denen des allgemeinen Deliktsrechts. Allerdings existieren auch Gesetze, die ihre Haftung nach den Spezialgesetzen stärker begrenzen als dies im Anwendungsbereich des allgemeinen Deliktsrechts der Fall ist. Um die Modifikationen der allgemeinen Haftungsgrundsätze bei der Berührung des Gemeininteresses an der Förderung von Infrastruktur zu veranschaulichen, sollen exemplarisch Sonderhaftungsregeln in Hinblick auf die Energieversorgung vorgestellt werden. Eine erste Abweichung von den allgemeinen Haftungsstandards findet sich in § 18 NAV/NDAV.75 Danach greift eine widerlegliche Vermutung zugunsten des Anspruchstellers, dass ein Netzbetreiber für Schäden verantwortlich ist, die durch eine unregelmäßige Stromzufuhr oder Stromausfälle entstehen. Genauer wird bei Vermögensschäden Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit (vgl. § 18 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 NAV/NDAV) und bei Sachbeschädigungen Vorsatz oder (einfache) Fahrlässigkeit widerleglich vermutet (vgl. § 18 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 NAV/NDAV). Die so ausgeweitete Haftung für Schäden aufgrund von unregelmäßiger Stromzufuhr oder Stromausfällen wird allerdings ein Stück weit wieder begrenzt. So legt § 18 NAV/NDAV zu Gunsten der Netzbetreiber fest, dass bei Vermögensschäden eine Haftung für einfache Fahrlässigkeit ausgeschlossen ist (§ 18 Abs. 1 S. 2 NAV/NDAV), Haftungshöchstgrenzen die Haftung größenmäßig beschränken (§ 18 Abs. 2 NAV/NDAV) und eine Schadensersatzpflicht für Schäden unter 30 € entfällt, die ein Netzbetreiber weder vorsätzlich noch grob fahrlässig verursacht hat (§ 18 Abs. 6 NAV/NDAV). Des Weiteren modifiziert das HaftPflG die Haftungsvoraussetzungen des allgemeinen Deliktsrechts in Fällen, in denen eine Person bei dem Betrieb einer Infrastrukturanlage an Leben, Körper, Gesundheit oder Eigentum verletzt wird. § 2 HaftPflG senkt die Voraussetzungen für die Gewähr eines Schadensersatzanspruchs zu Gunsten von Geschädigten. Denn § 2 HaftPflG statuiert 74
BGHZ 144, 200 (208 f.). Bartsch/vom Wege EnWZ 2014, 152 (153 f.).
75 S.
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eine Gefährdungshaftung für Schäden, die sich zurückführen lassen auf „die Wirkungen von Elektrizität, Gasen, Dämpfen oder Flüssigkeiten, die von einer Stromleitungs- oder Rohrleitungsanlage oder einer Anlage zur Abgabe der bezeichneten Energien oder Stoffe ausgehen.“76 Damit erfasst § 2 HaftPflG etwa Fälle der Körper- und Gesundheitsverletzung durch Stromschlag 77 oder Sachbeschädigung aufgrund des Austritts von Flüssigkeiten aus Rohrleitungen.78 Die so ausgeweitete Haftung der Inhaber der Infrastrukturanlagen wird allerdings abgemildert durch Ausschlusstatbestände (§ 2 Abs. 1 S. 2 HS. 2, Abs. 3 HaftPflG) und Haftungsbegrenzungen (§§ 9 f. HaftPflG), die den Anlagebetreibern die Versicherbarkeit ihrer Geschäftstätigkeit ermöglichen sollen.79 Darüber hinaus findet das ProdHaftG mit seiner Anordnung einer Gefährdungshaftung Anwendung auf das Rechtsverhältnis zwischen Stromnetzbetreiber und Stromabnehmer. Jedenfalls für das Verhältnis zwischen einem Stromnetzbetreiber und einem Haushaltskunden hat der BGH für die Anwendbarkeit des ProdHaftG entschieden. Der BGH urteilte, dass Strom ein Produkt i. S. des § 2 Abs. 1 ProdHaftG sei und ein Stromnetzbetreiber die Voraussetzungen zur Begründung der Herstellereigenschaft gemäß § 4 Abs. 1 ProdHaftG erfülle, wenn er Strom von einer Spannung auf eine andere transformiere.80 Ähnlich dem HaftPflG enthält das ProdHaftG aber auch Vorschriften, die eine Haftung der Betreiber von Infrastrukturanlagen ausschließen (§ 1 Abs. 2, 3 ProdHaftG) bzw. der Höhe nach begrenzen (§§ 10, 11 ProdHaftG).81 Die Absenkung der Voraussetzungen, die an eine Haftung der Infrastrukturbetreiber gestellt werden, wird vor den Schwierigkeiten erklärlich, ein von § 823 Abs. 1 BGB gefordertes Verschulden der Infrastrukturbetreiber zu beweisen.82 Angesichts der Komplexität und begrenzten Einsehbarkeit der Abläufe innerhalb eines Infrastrukturnetzes ist es einem Geschädigten häufig nicht möglich, Vorsatz oder Fahrlässigkeit des Infrastrukturbetreibers mit der für eine Anspruchsgewähr nötigen Sicherheit nachzuweisen. 83 Hinzu kommt, dass sich der Fahrlässigkeitsmaßstab des § 823 Abs. 1 BGB zugunsten der Schädiger 76 Des Weiteren sieht § 1 HaftPflG eine Gefährdungshaftung für Schäden, begrenzt auf die in § 2 HaftPflG genannten Rechtsgüter, vor, die „bei dem Betrieb einer Schienenbahn oder einer Schwebebahn“ entstehen. 77 BGH NJW 1995, 2631 (2632). 78 Vgl. BGHZ 88, 85 (88); 109, 8 (12); 158, 263 (265). 79 Zu Höchstgrenzen bei der Gefährdungshaftung allg. BT-Drs. 14/7752, S. 17. 80 BGHZ 200, 242 (insbes. zur Herstellereigenschaft 249). 81 Der derzeitige Haftungshöchstbetrag für Personenschäden, die durch Produkte mit demselben Fehler hervorgerufen worden sind, liegt allerdings bei 85 Mio. €, so dass eine echte Begrenzung oftmals nicht gegeben sein dürfte. 82 Filthaut/Piontek/Kayser, Haftpflichtgesetz, 10. Aufl. 2019, § 2 Rn. 1; s. auch amtl. Begr. zum Gesetz zur Änderung des RHaftPflG vom 15.08.1943, DJ 1943, 430. 83 Grundlegend BGHZ 51, 91 (102 ff.); 67, 359 (362); s. hierzu Foerste in Graf v. Westphalen (Hrsg.), Produkthaftungshandbuch, Bd. I, § 30 Rn. 42 ff.; Katzenmeier, Arzthaftung, 2002, S. 482 f.
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und zu Lasten der Geschädigten verschoben hat. Während früher fahrlässig handelte, wer Gefahren nicht vermied, ist inzwischen „der sachgerechte Umgang mit der Gefahr als sorgfältig anzusehen.“84 Möchte man Infrastrukturbetreiber für ihr gefahrgeneigtes Handeln unter diesen gewandelten Umständen dennoch haften lassen, dann ist dieses Ziel mittels Haftungsnormen mit geringeren Verschuldensvoraussetzungen oder der Anordnung einer strikten Haftung erreichbar.85 Wird die Modifikation der Haftung für Infrastrukturprojekte behandelt, ist schließlich auf §§ 17e f. EnWG einzugehen. §§ 17e f. EnWG regeln die Haftung von Netzbetreibern für die verzögerte oder mangelhafte Anbindung von Off shore-Windenergieparks an das Stromnetz. Laut des Gesetzentwurfes ist ihr „Ziel […], den notwendigen Ausbau der Offshore-Windenergie und die Errichtung der erforderlichen Anbindungen an das Onshore-Netz zu beschleunigen.“86 Hier soll nur auf Grundstrukturen des komplexen Regelungsregimes hingewiesen werden: Grundsätzlich haben die Offshore-Windparkbetreiber einen verschuldensunabhängigen Anspruch gegen die Netzbetreiber auf Ersatz der Schäden, die ihnen durch eine verspätete Fertigstellung der Stromleitungen entstehen (§ 17e Abs. 1 S. 1 EnWG). Dieser ist auf 90 % der erzielbaren Vergütung begrenzt und steigt bei einer vorsätzlichen Verzögerung auf 100 % an (vgl. § 17e Abs. 1 S. 4). Die potenziell beträchtlichen Schadensersatzsummen können Übertragungsnetzbetreiber mittels eines Belastungsausgleichs an die Gesamtheit der Übertragungsnetzbetreiber weitergeben (§ 17f Abs. 1 EnWG). Lediglich bei verschuldeter Verzögerung oder Störung sind die Übertragungsnetzbetreiber verpflichtet, einen – je nach Verschuldensgrad gestaffelten – Eigenanteil beizusteuern (vgl. § 17f Abs. 2 EnWG). Auch hier werden also die Haftungsgrundsätze des allgemeinen Deliktsrechts erheblich modifiziert; ein Umstand, auf den noch zurückzukommen ist.87
3. Verträge zwischen Privaten und das Gemeininteresse an der Förderung von Infrastruktur Des Weiteren überformt das Gemeininteresse an der Förderung von Infrastruktur Verträge zwischen Privaten. Es beeinflusst die Inhalte regulierter Verträge über die Bereitstellung von Infrastrukturnetzen und die Erbringung von Infra84 Deutsch NJW 1992, 73 (74) sowie bereits ders., Fahrlässigkeit und erforderliche Sorgfalt, 1963, S. 117 ff.; s. auch Engisch, Untersuchungen über Vorsatz und Fahrlässigkeit im Strafrecht, 2. Neudruck 1995 (Erstaufl. 1930), S. 291 f. 85 Dieser Aspekt wird unter dem Stichwort „besondere Gefahr“ des Betriebs von Infrastrukturanlagen diskutiert, vgl. BGHZ 109, 8 (13); 114, 380 (381); 164, 324 (327); BGH NJWRR 2010, 1467; Dierkes, Die privatrechtliche Haftung kraft Gesetzes für Schäden durch Rohrleitungsanlagen, 2014, S. 133 f.; Staudinger/Kohler, 2017, § 2 HaftPflG Rn. 18. 86 BT-Drs. 17/10754, S. 26. 87 S. Kap. 4. III. 4.
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strukturdienstleistungen in den Bereichen der Energie-, Telekommunikationsoder Wasserversorgung, der Eisenbahn sowie des öffentlichen Personennahverkehrs.88 Wie die Aufzählung der verschiedenen Regulierungsbereiche erkennen lässt, in denen das Gemeininteresse Beachtung findet, gibt es für diese Kategorie reichlich Anschauungsmaterial und ist eine starke Verarbeitung des Gemeininteresses an der Förderung von Infrastruktur anzutreffen. Im Folgenden soll der Fokus darauf liegen, die Besonderheiten privatrechtlicher Regulierung aufzuzeigen (a)) und im Anschluss am Beispiel des Energierechts zu schildern, wie das Gemeininteresse an der Förderung von Infrastruktur in den Vertragsbeziehungen zwischen Privaten wirkt (b)). a) Besonderheiten des Regulierungsrechts Das Regulierungsrecht wird als besondere Materie wahrgenommen und erst seit einiger Zeit als eigenständiges Rechtsgebiet thematisiert. 89 In den vom Regulierungsrecht erfassten Bereichen, wie zum Beispiel Energie oder Telekommunikation, war es bis in die 1990er Jahre hinein primär Aufgabe des Staates, die jeweiligen Dienste im Rahmen der Daseinsvorsorge zu erbringen.90 Mit voranschreitender Privatisierung entstand die Notwendigkeit, einen neuen rechtlichen Rahmen für die Bereitstellung dieser Dienste durch Private zu gestalten.91 Beschreibungen des Regulierungsrechts als „Privatisierungsfolgenrecht“92 88 In diesem Zusammenhang mag man vielleicht auch an public private partnerships (PPPs) denken. Nach gängiger Definition handelt es sich bei PPPs um Kooperationsverhältnisse zwischen staatlichen Akteuren und Privaten (vgl. etwa Bultmann FS Battis, 369 ff.; Schulte/Kloos/ Apel in Schulte/Kloss [Hrsg.], Handbuch Öffentliches Wirtschaftsrecht, § 1 Rn. 106; ferner Lämmerzahl, Die Beteiligung Privater an der Erledigung öffentlicher Aufgaben, 2007, S. 63 ff.; Ziekow/Windhoffer NZBau 2005, 665; mit engerer Definition Alfen/Fischer in Weber/Schäfer/Hausmann (Hrsg.), Public Private Partnership, 2006, 1 [3]). PPPs werden häufig aktiviert, um Infrastrukturprojekte zu verwirklichen. Sie sollen hier allerdings nicht näher untersucht werden, weil es sich eben nicht um eine Rechtsbeziehung zwischen Privaten handelt, die durch Infrastrukturinteressen beeinflusst wird. Somit treffen PPPs nicht die Voraussetzungen, die sie zum Gegenstand dieser Untersuchung qualifizieren würden. 89 In seinem Beitrag zur 56. Staatsrechtslehrertagung im Jahr 1997 befand Di Fabio, dass „Regulierung […] seine Aussagekraft und Tauglichkeit im Recht erst noch erweisen“ müsse (Di Fabio VVDStRL 56 [1997], 235, [237 Fn. 2]); ebenfalls krit. Durner VVDStRL 70 (2011), 398, (402 f.). Mit Hinweis auf anschließende Veröffentlichungen im Bereich des Regulierungsrechts als Beleg für die Validität des Begriffs Ruffert in Säcker/Schmidt-Preuß (Hrsg.), Grundsatzfragen des Regulierungsrechts, 11. 90 Weitreichende Schritte bei der Privatisierung der Energiewirtschaft waren das Gesetz zur Neuregelung des EnWG vom 29.4.1998 (BGBl. I, S. 730) zur Umsetzung der RL 96/92/ EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19.12.1996 betreffend gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt (ABl. 1997 L 27/20); bei der Telekommunikation das TKG vom 25.7.1996 (BGBl I, 1120). 91 S. etwa Bachmann, Private Ordnung, 2006, S. 49. 92 Brüning in Schulte/Kloss (Hrsg.), Handbuch Öffentliches Wirtschaftsrecht, § 5 Rn. 83 ff.; Kämmerer, Privatisierung, 2001, S. 423; Ruffert AöR 124 (1999), 237 (246); Säcker AöR 130 (2005), 180 (188); Schoch NVwZ 2008, 241 (243).
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oder „Re-Regulierung privatisierter Aufgaben“93 suchen diesen Umstand zu erfassen. Damit geht einher, dass sich das Regulierungsrecht einer eindeutigen Einordnung in öffentliches Recht oder Privatrecht entzieht.94 Grob gesprochen finden sich im Regulierungsrecht einerseits Bestimmungen, gemäß denen staatliche Einrichtungen die Infrastrukturversorgung kontrollieren und mit Hilfe derer der Staat seiner verbliebenen Gewährleistungsverantwortung95 nachkommt, und andererseits Bestimmungen, die Vorgaben darüber enthalten, wie die Rechtsbeziehungen zwischen Infrastrukturbetreibern und Infrastrukturnutzern sowie zwischen Infrastrukturnutzern untereinander ausgestaltet sein sollen. Wenn auch Uneinigkeit darüber bestehen mag, ob letztere Vorschriften nun öffentlich-rechtlichen oder privatrechtlichen Charakter haben,96 werden im Schrifttum die vertraglichen und außervertraglichen Schuldverhältnisse zwischen Infrastrukturbetreibern und Infrastrukturnutzern bzw. Infrastrukturnutzern untereinander überwiegend als Rechtsbeziehungen zwischen Privaten qualifiziert.97 Zudem wird dem Regulierungsrecht eine Struktur zugeschrieben, die sich nach unterschiedlichen Richtungen hin entwickelt.98 Einerseits verfolgt das Regulierungsrecht das Ziel, Wettbewerb in den privatisierten Bereichen zu fördern. Das ist deshalb nötig, weil sich ansonsten auch bei privatisierten Infrastrukturnetzen natürliche Monopole99 bilden könnten. Andererseits kommt 93 (Regulierung der Deregulierung) – Basedow ZHR 170 (2006), 178 (196); vgl. ferner Schoch NVwZ 2008, 241 (243); von „(Re-)Regulierung in anderen privatisierten und liberalisierten Sektoren“ sprechend Hermes ZHR 166 (2002), 433 (438). 94 Vgl. nur Alexander in Säcker/Schmidt-Preuß (Hrsg.), Grundsatzfragen des Regulierungsrechts, 119 (120, 122); Basedow ZHR 170 (2006), 178 (184); speziell zum Energierecht Lecheler NVwZ 1995, 8. 95 Vgl. Säcker AöR 130 (2005), 180 (187); Hoffmann-Riem DÖV 1997, 433 (441 f.); Schoch NVwZ 2008, 241 (244). 96 Den Regelungen einen teils öffentlich-rechtlichen Charakter zuschreibend Säcker AöR 130 (2005), 180 (220); Mohr, Sicherung der Vertragsfreiheit durch Wettbewerbs- und Regulierungsrecht, 2015, S. 31 f.; ders. in Säcker/Schmidt-Preuß (Hrsg.), Grundsatzfragen des Regulierungsrechts, 94 (114 f.). Zur Intradisziplinarität des Regulierungsrechts allg. Ruffert in Säcker/Schmidt-Preuß (Hrsg.), Grundsatzfragen des Regulierungsrechts, 11 (15 f.). 97 Vgl. schon die gutachterliche Stellungnahme in BGHZ 9, 390 (396) sowie BGH NJW 1957, 1106; Basedow ZHR 170 (2006), 178 (198); Mohr, Sicherung der Vertragsfreiheit durch Wettbewerbs- und Regulierungsrecht, 2015, S. 603; Unberath/Fricke NJW 2007, 3601; s. ferner Peters, Rechtsschutz Dritter im Rahmen des EnWG, 2008, S. 190 ff. 98 „Bipolare Struktur“ – Mohr, Sicherung der Vertragsfreiheit durch Wettbewerbs- und Regulierungsrecht, 2015, S. 5, 521; s. auch ders. in Säcker/Schmidt-Preuß (Hrsg.), Grundsatzfragen des Regulierungsrechts, 94 (115) sowie Masing, Gutachten zum 66. DJT, D 44; Säcker AöR 130 (2005), 180 (188). 99 Das besondere an einem natürlichen Monopol ist, dass es sich unter normalen Wettbewerbsbedingungen formt. Bei Infrastrukturen ist es Anbietern, die über ein großes Versorgungsnetz verfügen, möglich, ihre Infrastrukturdienstleistungen kostengünstiger zu erbringen als potenzielle Konkurrenten. Wenn sich die hohen Investitionskosten für die Errichtung eines Infrastrukturnetzes auf immer mehr Kunden umlegen lassen, so sinken die Kosten pro
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ihm die Aufgabe zu, die sichere Versorgung der Bevölkerung mit Infrastrukturdiensten zu gewährleisten.100 Das Ziel der Versorgungssicherheit ist wiederum darauf ausgerichtet, einerseits das individuelle, anderseits das kollektive Inter esse an Versorgungssicherheit zu bedienen. Auf einer individuellen Ebene soll gesichert sein, dass Haushaltskunden Zugang zu Strom, Energie, Wasser, etc. zu bezahlbaren Preisen haben. Auf einer kollektiven Ebene geht es darum, die Versorgung mit Infrastrukturdienstleistungen generell zum gesamtwirtschaftlichen und -gesellschaftlichen Nutzen zu gewähren.101 Das Verhältnis der beiden Ebenen zueinander lässt sich am ehesten dahingehend beschreiben, dass die kollektive Ebene auf der individuellen Ebene aufsetzt. Aus dem Interesse an einer Vielzahl an individuellen Versorgungssicherheiten entsteht ein „Mehr“ als die Summe der einzelnen Teile, nämlich das Interesse an kollektiver Versorgungsgewähr. Da das Interesse an kollektiver Versorgungsgewähr keiner einzelnen Person oder einem begrenzten Personenkreis zugerechnet werden kann, handelt es sich bei ihm um ein Gemeininteresse. Und weil es auf die Versorgung mit Infrastrukturdienstleistungen gerichtet ist, lässt es sich als Unterfall dem Gemeininteresse an der Förderung von Infrastruktur zuordnen. b) Energierecht und kollektive Versorgungsgewähr Das Energierecht ist eine Referenzmaterie, anhand derer aufgezeigt werden kann, wie das Interesse an kollektiver Versorgungsgewähr bei der Beurteilung von Verträgen zwischen Infrastrukturbetreibern und Infrastrukturnutzern bzw. der Infrastrukturnutzer untereinander Berücksichtigung findet. Kontrahierungszwänge sind ein Mittel, mithilfe dessen das Gemeininteresse gefördert wird (aa)). Daneben treten Regelungen, die Infrastrukturanbietern einseitige Preiserhöhungen ermöglichen (bb)), sowie Pflichten von Anschlussnehmern, sich an den Kosten der Infrastrukturerrichtung zu beteiligen (cc)).
Transaktion. Unter diesen Bedingungen ist es für Anbieter, die auf den Markt möchten, nicht rentabel, eigene Infrastrukturen aufzubauen. Die Marktmacht des „Erstanbieters“ verfestigt sich, s. Basedow FS Immenga, 3 (9 f.); ders. ZHR 170 (2006), 178 (179); Säcker AöR 130 (2005), 180 (185); Windisch in Windisch (Hrsg.), Privatisierung natürlicher Monopole im Bereich von Bahn, Post und Telekommunikation, 1 (41 ff.). 100 S. etwa Mohr in Säcker/Schmidt-Preuß (Hrsg.), Grundsatzfragen des Regulierungsrechts, 94 (98); vgl. auch Durner VVDStRL 70 (2011), 398 (431); ferner zur Doppelfunktion Britz in Fehling/Ruffert (Hrsg.), Regulierungsrecht, § 9 Rn. 6; Säcker AöR 130 (2005), 180 (220). 101 Britz in Fehling/Ruffert (Hrsg.), Regulierungsrecht, § 9 Rn. 27; Fehling in Leible/Lippert/Walter (Hrsg.), Die Sicherung der Energieversorgung auf globalisierten Märkten, 115 (122 ff.); Mohr, Sicherung der Vertragsfreiheit durch Wettbewerbs- und Regulierungsrecht, 2015, S. 53 f.; eine noch weiter greifende Auffassung von Versorgungssicherheit vertritt Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang, 1999, S. 413.
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aa) Kontrahierungszwänge im Energierecht Kontrahierungszwänge nach dem EnWG gründen unter anderem darauf, dass sie der Förderung des Gemeininteresses an kollektiver Versorgungsgewähr dienen. Gemäß § 1 Abs. 1 EnWG ist „Zweck des Gesetzes […] eine möglichst sichere, preisgünstige, verbraucherfreundliche, effiziente und umweltverträgliche leitungsgebundene Versorgung der Allgemeinheit mit Elektrizität und Gas.“ Daneben formuliert § 1 Abs. 2 EnWG das spezielle Regulierungsziel „der Sicherung eines langfristig angelegten leistungsfähigen und zuverlässigen Betriebs von Energieversorgungsnetzen.“ Zweck und Ziel der Gewährleistung einer kollektiven Versorgungssicherheit finden sich in einzelnen Bestimmungen des EnWG wieder. Besonders deutlich tritt dieser Aspekt in den Regelungen der §§ 18, 20 und 36 EnWG zu Tage. Sie statuieren verschiedene Kontrahierungszwänge im Hinblick auf die Energieversorgung der Allgemeinheit. § 18 EnwG besagt, dass Netzbetreiber „jedermann“102 an ihr Versorgungsnetz anschließen müssen. Diese Pflicht besteht nur nicht, wenn es sich bei dem Betreiber nicht um einen Betreiber eines Netzes „der allgemeinen Versorgung von Letztverbrauchern“103 handelt oder ihm der Anschluss wirtschaftlich nicht zumutbar ist (vgl. § 18 Abs. 1 S. 2 EnWG). § 20 EnWG ergänzt die Regelung um die Pflicht der Netzbetreiber, „jedermann […] diskriminierungsfrei Netzzugang zu gewähren.“ Liegen die Voraussetzungen eines Netzzugangs vor, verpflichtet § 36 EnWG die Energieversorgungsunternehmen zur Energiegrundversorgung von Haushaltskunden, sofern es den Energieversorgungsunternehmen wirtschaftlich zumutbar ist.104 Über den Kontrahierungszwang bzgl. des Netzzugangs hinaus besteht also ein weiterer Kontrahierungszwang bzgl. der Energieversorgung für private Haushalte und Kleinunternehmer.105 Vor der Liberalisierung des deutschen Energiemarktes wurden ähnlich lautende Kontrahierungszwänge damit begründet, dass die verpflichteten Energieversorgungsunternehmen aufgrund ihrer Monopolstellung angehalten seien, Zugang zu ihren Netzen und der durch sie geleiteten Energie zu gewähren.106 Nach Wegfall der gesetzlich garantierten Monopolstellung von Energieversor-
102 Zur Konkretisierung dieses Tatbestandmerkmals s. Schiller, Staatliche Gewährleistungsverantwortung und die Sicherstellung von Anschluss und Versorgung im Bereich der Energiewirtschaft, 2012, S. 201 f. 103 § 18 Abs. 1 S. 1 EnWG. 104 Vgl. OLG Brandenburg Urt. v. 31.3.2009 – Az. Kart U 11/08, Rn. 14 (juris); Danner/ Theobald/Hartmann/Wagner, Energierecht, § 18 EnwG Rn. 27 ff. 105 Zur genauen Definition von Haushaltskunden s. § 3 Nr. 2 2 EnWG basierend auf Art. 2 Nr. 10 EltRL 2003/2009 und Art. 2 Nr. 25 GasRL 2003/2009. 106 Danner/Theobald/Heinlein/Weitenberg, Energierecht, § 36 EnWG Rn. 8; Vykydal JA 1996, 81 (86); Schneider/Theobald/de Wyl, Recht der Energiewirtschaft, 5. Aufl. 2021, § 15 Rn. 4; generell Wißmann VVDStRL 73 (2014), 370 (403).
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gungsunternehmen finden die Regelungen ihre Rechtfertigung nunmehr in der Sicherstellung der individuellen sowie kollektiven Versorgungsgewähr.107 Soweit ersichtlich ist bislang noch keine Rechtsprechung zu den in §§ 18, 20 und 36 EnWG geregelten Kontrahierungszwängen ergangen, die explizit auf den Zusammenhang zwischen Anschluss-, Zugangs- oder Grundversorgungspflicht und dem Regulierungsziel der kollektiven Versorgungssicherheit abstellt. Eine naheliegende Erklärung dürfte sein, dass aufgrund des eindeutigen Wortlauts der Gesetze teleologische Ausführungen zu den mit den Kontrahierungszwängen verfolgten Zielen nicht nötig waren, um die Entscheidungen zu begründen. Für die Zwecke dieser Untersuchung sind aber Ausführungen des BVerfG und des BGH zur AVBWasserV,108 AVBElTV109 sowie zur Fernwärmeversorgung110 erhellend. Das BVerfG sah in den Regelungen der AVBWasserV das legitime Ziel verfolgt, einen „Ausgleich zwischen dem Allgemeininteresse an einer möglichst sicheren, kostengünstigen und zu weitgehend gleichen Bedingungen erfolgenden Wasserversorgung einerseits und den Individualinteressen der Verbraucher andererseits“111 zu erreichen. Und der BGH führte aus, dass aufgrund der „Leitungsgebundenheit“ und „erwartete[n] Versorgungssicherheit“ Versorgungsverträge langfristig angelegt sein müssten.112 bb) Einseitige Preisänderungsrechte im Energierecht Außerdem äußerte sich der BGH zum Verhältnis zwischen der Regulierung von Energielieferungsverträgen und dem Interesse an der Gewähr einer kollektiven Versorgungssicherheit im Zusammenhang mit Preisänderungsrechten von Energieversorgungsunternehmen. Einen Sonderkundenvertrag, d. h. einen Vertrag, den ein Gasversorgungsunternehmen individuell mit einem Kunden vereinbart hatte,113 legte der BGH dahingehend ergänzend aus, dass der Kunde die Nichtigkeit der einseitigen Preiserhöhung des Versorgers nicht geltend machen könne, „wenn er sie nicht innerhalb eines Zeitraums von drei Jahren nach Zugang der jeweiligen Jahresabrechnung […] beanstandet“ habe.114 Bei einem auf 107 Gleichsinnig Danner/Theobald/Heinlein/Weitenberg, Energierecht, § 36 EnWG Rn. 8; Alexander EnWZ 2015, 490 (491 f.). 108 BVerfG JZ 1982, 288 (289). 109 BGH ZIP 1983, 1079 (1080). 110 BGH WM 1984, 820 (822); BGHZ 100, 1 (9 f.). 111 BVerfG JZ 1982, 288 (289). 112 BGHZ 100, 1 (9 f.) mit Verweis auf BT-Drs. 7/3919, S. 45. 113 Die Verträge zwischen Energieversorgungsunternehmen und ihren Kunden teilen sich auf in Sonderkundenverträge, die die Parteien individuell zwischeneinander vereinbaren, und Grundversorgungsverträge, bei denen die Energieabnehmer besonderen Schutz bspw. gemäß § 36 Abs. 1 EnWG, StromGVV und GasGVV genießen, s. nur Büdenbender NJW 2013, 3601 f.; Unberath/Fricke NJW 2007, 3601 f. 114 BGHZ 192, 372 (Rn. 21); Bestätigung in BGHZ 205, 43 (Rn. 25); BGH NJW 2013, 991 (Rn. 23); NJW 2014, 3639 (Rn. 16 f.); NJW 2015, 1167 (Rn. 29). – Einseitige Preiserhöhungen können vor allem deshalb nichtig sein, weil sie auf der Grundlage von AGBs vorgenommen
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lange Zeit angelegten Dauerschuldverhältnis, wie es ein Gasversorgungsvertrag ist, müsse der Versorger Bezugssteigerungskosten auf seine Kunden umlegen dürfen. Die ergänzende Regelung müsse allerdings das Ergebnis eines „angemessene[n] Interessenausgleich[s]“115 sein. In diesem Interessenausgleich berücksichtigte der BGH auch den Aspekt der kollektiven Versorgungssicherheit. Es müsse gewährleistet sein, dass Gasversorger genügend Umsatz generieren können, um auch in Zukunft über „die nötigen Finanzmittel“116 für die Sicherung der Gasversorgung zu verfügen. Der BGH bezog in seine Abwägung also das Gemeininteresse an der (zukünftigen) kollektiven Versorgungsgewähr mit ein, welches sich vom Interesse des von der Preiserhöhung betroffenen Kunden an individueller Versorgungsgewähr unterscheidet. Genauso entschied der BGH hinsichtlich einseitiger Preiserhöhungen durch Gasversorger in Grundversorgungsverträgen, d. h. in Verträgen mit Kunden, die den Versorgungsschutz gemäß § 36 EnWG genießen.117 Nachdem der EuGH entschieden hatte, dass die Regelungen zu Änderungen der allgemeinen Tarife in Grundversorgungsverträgen (§ 4 Abs. 1 und Abs. 2 AVBGasV bzw. § 5 Abs. 2 GasGVV a. F.) nicht im Einklang mit Unionsrecht standen,118 legte der BGH auch diese Verträge ergänzend aus. Danach ist es Gasversorgern erlaubt, die Tarife für Grundversorgungskunden einseitig zu erhöhen, um Bezugskostensteigerungen an sie weiterzugeben.119 Der BGH führte im Rahmen seiner Interessenabwägung mit Hinweis auf seine Entscheidung zur ergänzenden Vertragsauslegung bei Sonderkundenverträgen aus: „Dass das Energieversorgungsunternehmen die Möglichkeit hat, Kostensteigerungen weiterzugeben, dient daneben auch dem Zweck der Versorgungssicherheit. Denn diese werden, die nicht dem Transparenzgebot der RL 93/13/EWG entsprechen. Die Fristenlösung des BGH hat zur problematischen Konsequenz, dass nicht „gerügte“ (vgl. Fervers/Gsell NJW 2019, 2569 [2573]) Preiserhöhungen trotz Verstoßes gegen das Transparenzgebot Wirkung entfalten können. Schon deshalb ist es angezeigt, dass deutsche Gerichte die Vereinbarkeit der Fristenlösung mit EU-Recht im Rahmen eines Vorlageverfahrens durch den EuGH klären lassen (so auch Fervers/Gsell NJW 2019, 2569 ff.; die Fristenlösung ebenfalls als europarechtswidrig einstufend Markert EnWZ 2016, 195 ff.; Uffmann NJW 2012, 2225 [2227 f.]; ebenfalls krit. Kühne NJW 2015, 2546 [2547 f.]; zur gleichgelagerten Frage bei Grundversorgungsverträgen Uffmann NJW 2016, 1696 [1699]). 115 BGHZ 192, 372 (Rn. 27). 116 Ebd., Rn. 29 mit Verweis auf Britz/Hellermann/Hermes, EnWG, 2. Aufl. 2010, § 1 Rn. 26 und Salje, Energiewirtschaftsgesetz, 2006, § 1 Rn. 27. In der Literatur gleichsinnig Schiller, Staatliche Gewährleistungsverantwortung und die Sicherstellung von Anschluss und Versorgung im Bereich der Energiewirtschaft, 2012, S. 273. 117 S. BGHZ 207, 209; zu der Untergliederung der Versorgungsverträge s. Kap. 4 Fn. 113. 118 EuGH NJW 2015, 849 ff. – In der Rechtssache urteilte der EuGH, dass nationale Regelungen, die Strom- und Gaslieferanten einseitige Tarifänderungen ermöglichen aber nicht gewährleisten, „dass die Verbraucher rechtzeitig vor Inkrafttreten dieser Änderung über deren Anlass, Voraussetzungen und Umfang informiert werden“ Art. 3 Abs. 5 i. V. mit Anh. A RL 2003/54/EG und Art. 3 Abs. 3 i. V. mit Anh. A RL 2003/55/EG nicht entsprechen. 119 BGHZ 207, 209 (Rn. 66 ff.).
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betrifft nicht nur die technische Sicherheit der Energieversorgung und die Sicherstellung einer für die Versorgung der Abnehmer stets ausreichenden Energiemenge. Sie hat vielmehr insoweit auch einen ökonomischen Aspekt, als die nötigen Finanzmittel für die Unterhaltung von Reservekapazitäten, für Wartungsarbeiten, Reparaturen, Erneuerungs- und Ersatzinvestitionen bereit stehen müssen.“120
Um seine Argumentation zusätzlich zu untermauern, wies der BGH im Anschluss darauf hin, dass das Ziel der kollektiven Versorgungssicherheit nicht nur im deutschen Energierecht zu verorten sei, sondern die europäischen Regeln zur Energieversorgung dem Ziel ebenfalls eine besondere Bedeutung beimessen würden.121 cc) Baukostenzuschüsse im Energierecht Auch in anderen Zusammenhängen argumentierte der BGH mit dem Gemeininteresse an kollektiver Versorgungsgewähr. Als weiteres Beispiel sei ein Urteil des BGH zu Baukostenzuschüssen, die Infrastrukturbetreiber von Infrastrukturnutzern verlangen können, erläutert.122 § 11 Abs. 1, 2 NAV/NDAV gewährt Netzbetreibern ein einseitiges Leistungsbestimmungsrecht. Danach können sie von Personen, die Anschluss an das Energieversorgungsnetz begehren, eine Beteiligung an den Erschließungskosten fordern. Gerichte können die Bemessung des Baukostenzuschusses dann am Billigkeitsmaßstab des § 315 Abs. 3 BGB überprüfen. Bei der Beurteilung, ob eine bestimmte Kostenumlage den rechtlichen Billigkeitsstandards entsprach, führte der BGH aus, dass „es den Versorgungsunternehmen durch die Lenkungswirkung der Baukostenzuschüsse ermöglicht werden [soll], für alle Versorgungskunden eine kostengünstige Energieversorgung zu gewährleisten.“123 In den Urteilsgründen heißt es weiter: „Die Möglichkeit, Baukostenzuschüsse in signifikanter Höhe zu erheben, dient dazu, Anschlussnehmer anzuhalten, Netzanschlüsse nur entsprechend dem tatsächlichen Leistungsbedarf zu beantragen. Das zeigt, dass Versorgungsunternehmen bei der Festsetzung der Baukostenzuschüsse nicht allein die Interessen des jeweiligen Anschlussnehmers zu beachten haben.“124 Wenn nun bei der rechtlichen Beurteilung der Billigkeit des Baukostenzuschusses „nicht allein“ die Interessen des anspruchsberechtigten Infrastrukturbetreibers und des anspruchsverpflichteten Infrastrukturnutzers zu berücksichtigen sind, bedeutet es, dass 120 Ebd., (Rn. 78, Hervorhebung nicht im Original); im Anschluss s. etwa BGH MDR 2015, 1350; NJW-RR 2016, 1190 (Rn. 4 4); NJW 2016, 3589 (Rn. 40); NJW-RR 2017, 557 (558); NJW-RR 2017, 432 (434). 121 S. etwa BGHZ 207, 209 (Rn. 79) mit Verweis auf EuGH, Rs. C-92/11 – RWE Vertrieb, ECLI:EU:C:2013:180, Rn. 46; verb. Rs. C-359/11 und C-400/11 – Schulz und Egbringhoff, ECLI:EU:C:2014:2317, Rn. 44 und GA Wahl, Schlussanträge v. 8.5.2014, C-359/11 und C-400/11 – Schulz und Egbringhoff, ECLI:EU:C:2014:319, Rn. 55. 122 Bestätigung des berufungsgerichtlichen Urteils in BGH EnWZ 2013, 227 (228 f.). 123 Ebd., (229) mit Verweis auf BR-Drs. 367/06, S. 45. 124 Ebd., im Urteil enthaltene Nachweise nicht mitzitiert.
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auch bei der Beurteilung der Billigkeit andere Interessen – wie das an einer kollektiven Versorgungsgewähr – zusätzlich in Erwägung gezogen werden. dd) Zwischenergebnis Wie die angeführten Beispiele zeigen, reichen die privatrechtlichen Instrumente des Energieversorgungsrechts von Kontrahierungszwängen, welche die Infrastrukturanbieter in die Pflicht nehmen, über Regelungen, die ihnen einseitige Preisgestaltungen ermöglichen, bis hin zu Pflichten der Anschlussnehmer, sich an den Kosten der Infrastrukturerrichtung zu beteiligen. Die exemplarisch vorgestellten Gesetze und gerichtlichen Entscheidungen verdeutlichen, dass das Gemeininteresse an einer kollektiven Versorgungsgewähr über verschiedene Wege die privatrechtlichen Verträge zwischen Energienetzbetreibern, Energieversorgern und Energieabnehmern prägt. Im privatrechtlichen Energierecht als Teilgebiet des Regulierungsrechts wird das Gemeininteresse an einer kollek tiven Versorgungsgewähr mithin mit großer Selbstverständlichkeit berücksichtigt.
III. Weitergehende Beobachtungen Die oben vorgenommene Typisierung ist das Ergebnis eines Bemühens, die verschiedenen Konstellationen, in denen das Gemeininteresse an der Förderung von Infrastruktur im Privatrecht Berücksichtigung findet, zu ordnen. Der nächste Abschnitt baut auf der Typisierung auf und leitet aus ihr weitere Erkenntnisse ab. Diese beziehen sich auf die Gewichtung des Gemeininteresses an der Förderung von Infrastruktur gegenüber gleichläufigen Individualinteressen (1.), die Betonung legislativer Entscheidungen bei der judikativen Berücksichtigung des Gemeininteresses (2.a)), den Einfluss des Unionrechts (2.b)), die bei der Verarbeitung angewandten Methoden (3.), die praktische Bedeutsamkeit des Infrastrukturprivatrechts (4.) sowie das Verhältnis des Infrastrukturprivatrechts zur privatrechtlichen Leiterzählung (5.).
1. Gewichtung Zunächst ist zu beobachten, dass das Gemeininteresse an der Förderung von Infrastruktur die Position privater Infrastrukturbetreiber grundsätzlich stärkt. Allerdings gibt es keinen umfassenden Gleichlauf zwischen dem Gemeininteresse an der Förderung von Infrastruktur und den Individualinteressen der Infrastrukturbetreiber. Wird bei der Bewertung einer privatrechtlichen Beziehung, an der eine Infrastrukturbetreiberin beteiligt ist, das Gemeininteresse an der Förderung von In-
III. Weitergehende Beobachtungen
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frastruktur mit in den Blick genommen, wirkt sich dies meist positiv auf die Position der Infrastrukturbetreiberin aus. Der Umstand, dass die Infrastrukturbetreiberin ein Transport- oder Logistiksystem oder – wie im Falle des Drogenhilfezentrums – eine stationäre Einrichtung unterhält, die auch der Allgemeinheit zu Gute kommt, wertet ihre Position auf. Das zeigt sich etwa in den Enteignungsfällen.125 Bei der Entscheidung für eine Enteignung zu Gunsten Privater wird positiv berücksichtigt, wenn dieser Private eine „dem Gemeinwohl dienende[] Aufgabe“126 erledigt. Gleiches gilt für die Fälle des bürgerlich-rechtlichen Aufopferungsanspruchs,127 in denen ein Infrastrukturbetreiber deshalb die Störung fremden Eigentums fortsetzen darf, weil seine Aufgabe ein „Allgemeininteresse“128 verfolgt. In ähnlicher Weise stärken die Regelungen zu einseitigen Preisänderungsrechten in Energieversorgungsverträgen die Position der Energieversorgungsunternehmen.129 Jedoch kann nicht von einem einseitigen Gleichlauf von Individualinteressen der Infrastrukturbetreiber bzw. -anbieter und dem Gemeininteresse an der Förderung von Infrastruktur gesprochen werden. Ein Gleichlauf der Individualinteressen und des Gemeininteresses an der Förderung von Infrastruktur kann bestehen,130 muss aber nicht. In den besonders eingriffsintensiven Fällen der Enteignung und der Pflichten eines Eigentümers zur Duldung von Störungen, die über die in §§ 904, 906, 912, 917 BGB gesetzlich bestimmten Duldungspflichten hinausgehen, profitieren Infrastrukturbetreiber vom Gemeininteresse an der Gewähr von Infrastruktur. Bei den ebenfalls eingriffsintensiven Anordnungen von Kontrahierungszwängen zum Zwecke der allgemeinen Energieversorgung (vgl. §§ 19, 20, 36 EnWG) wirkt sich das Gemeininteresse hingegen zu Lasten der Netzbetreiber und Netzanbieter aus. Schließlich führen auch Modifikationen der allgemeinen Haftungsstandards im Bereich der Infrastrukturgewähr mitunter zu einer Verschlechterung der Position der In frastrukturbetreiber.131
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Kap. 4. II. 2. a). BVerfGE 66, 248 (257). 127 Kap. 4. II. 2. b). 128 BGHZ 60, 119 (122); 110, 17 (21); 144, 200 (205). 129 Kap. 4. II. 3. b) bb). 130 Aus anderer Perspektive betrachtet kann das individuelle Interesse eines Infrastrukturbetreibers an der Förderung von Infrastruktur als Produkt des Gemeininteresses verstanden werden: Private Infrastrukturbetreiber haben auch deshalb ein Interesse an der Gewähr von Infrastruktur, weil allg. ein Interesse an der Errichtung der Infrastrukturen und der über sie gemittelten Infrastrukturleistungen besteht. Die Infrastrukturbetreiber bedienen also die allgemeine Nachfrage nach Infrastruktur und Infrastrukturleistungen. Dabei transformieren sie das Gemeininteresse in ihr eigenes Geschäftsmodell und machen es sich zu eigen. 131 Zu Lasten der Infrastrukturbetreiber und Infrastrukturdienstleister wirken sich aus § 2 HaftPflG und § 1 ProdHaftG, s. Kap. 4. II. 2. c). 126
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2. Legislative und judikative Verarbeitung Betrachtet man näher, welche Rolle der Legislative und welche Rolle der Judikative bei der Verarbeitung des Gemeininteresses an der Förderung von Infrastruktur im Privatrecht zukommt, sind zwei Beobachtungen nennenswert: Erstens heben Gerichte im Rahmen der Verarbeitung die Bedeutung gesetzgeberischer Entscheidungen hervor (a.)). Zweitens ist der Einfluss des unionsrechtlichen Gesetzgebers im Infrastrukturprivatrecht inzwischen deutlich wahrnehmbar (b)). a) Betonung legislativer Entscheidungen Der Gesetzgeber nimmt bei der Berücksichtigung des Gemeininteresses an der Förderung von Infrastruktur im Privatrecht eine zentrale Rolle ein. Damit ist nicht die detaillierte Normierung des Regulierungsrechts angesprochen, die bei der Untersuchung der Methoden thematisiert wird, mit Hilfe derer das Gemein interesse Berücksichtigung findet.132 Hier geht es um die Betonung gesetzgeberischer Wertungen, Aktivitäten oder Unterlassungen seitens der Gerichte. Dies lässt sich etwa am Übergang von der Verschuldens- zur Gefährdungshaftung in Fällen mit Infrastrukturbezug ablesen. Die nun in § 2 HaftPflG enthaltene Gefährdungshaftung geht zurück auf § 1a RHaftPflG133 aus dem Jahr 1943.134 Zuvor musste eine Geschädigte das Verschulden einer Infrastrukturbetreiberin beweisen, damit Gerichte ihr Ersatz für Schäden zusprachen, die durch den Betrieb von Infrastrukturanlagen verursacht worden waren. Das RG betonte in einem Fall, den es 1906 zu entscheiden hatte, das damals geltende Verschuldenserfordernis bei Anlageschäden.135 Ein Kläger begehrte Ersatz für Schäden, die er durch eine Gasexplosion erlitten hatte. Die Explosion war zurückzuführen auf eine brüchige Rohrleitung der verklagten städtischen Gasanstalt; allerdings konnte dieser kein Verschulden zur Last gelegt werden. Das RG verneinte ein Verschulden der Beklagten und in der Folge eine Ersatzpflicht. Es führte aus: „Die Versorgung einer Stadt mit Gas dagegen kann bei ordnungsgemäßen Betriebe, also in Ermangelung eines Verschuldens nur beim Eintritte von Zufällen […] einen Schaden anrichten. Für solche Zufälle den Unternehmer haftbar zu machen, gewähren aber die bestehenden Rechte keinen Inhalt.“136
Die Entscheidung verdeutlicht, dass sich das RG bereits 1906 über die Gefahren, die mit dem Betrieb von Infrastrukturen einhergehen, bewusst war und eine Verschuldenshaftung im Infrastrukturbereich als unbefriedigend ansah. 132
Kap. 4. III. 3. a). Gesetz vom 15.8.1943 (RGBl. I S. 489). 134 Filthaut/Piontek/Kayser, Haftpflichtgesetz, 10. Aufl. 2019, § 2 Rn. 1. 135 RGZ 63, 374. 136 Ebd., (380). 133
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Ohne eine vom Gesetzgeber ausgehende Veränderung der Haftungsvoraussetzungen sah sich das Gericht aber nicht in der Position, eine Gefährdungshaftung – etwa mit Hinweis auf höhere Rechtsprinzipien – zu konstruieren.137 Die herausgehobene Bedeutung des Gesetzgebers bei der Berücksichtigung des Gemeininteresses an der Förderung von Infrastruktur belegen auch die Enteignungsfälle zugunsten Privater.138 Schon Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG legt einen enteignungsrechtlichen Gesetzesvorbehalt fest, laut dem Enteignungen nur durch oder aufgrund eines Gesetzes erfolgen dürfen. In Hinblick auf Enteignungen zugunsten Privater hat das BVerfG die Vorgaben des Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG dahingehend konkretisiert, dass „der Gesetzgeber unzweideutig zu regeln [hat], ob und für welche Vorhaben eine solche Enteignung statthaft sein soll.“139 Außerdem stellen Gerichte, wenn sie eine Enteignung zugunsten Privater für rechtmäßig erklären, maßgeblich auf die gesetzgeberische Bewertung der Aktivität dieser Privaten ab. So bejahte das BVerfG die Verfassungskonformität eines Gesetzes, das Enteignungen zugunsten privater Energieversorgungsunternehmen erlaubte, mit dem Argument, dass den „Unternehmen durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes die Erfüllung einer dem Gemeinwohl dienenden Aufgabe zugewiesen“140 sei. Im Ergebnis bedeutet es, dass Enteignungen zugunsten privater Infrastrukturbetreiber umso eher als rechtmäßig angesehen werden, je deutlicher das mit den Unternehmen verbundene Ziel der Förderung von Infrastruktur Anerkennung durch Parlamentsgesetze gefunden hat. Auch in Entscheidungen des BGH zum bürgerlich-rechtlichen Aufopferungsanspruch wird die Rolle des Gesetzgebers betont. Dieser Befund mag zunächst verwundern, gibt es doch keine gesetzliche Bestimmung, die den bürgerlich-rechtlichen Aufopferungsanspruch regelt, und verlangt der Anspruch Eigentümern Duldungspflichten ab, die über die in § 906 BGB festgelegten hinausgehen. Aber gerade weil der bürgerlich-rechtliche Aufopferungsanspruch Produkt richterlicher Rechtsfortbildung ist, bemüht sich der BGH besonders, bestehende Verbindungen zwischen dem Anspruch und Parlamentsgesetzen hervorzuheben.141 Das zeigt sich zum einen daran, dass der BGH einen bürger137 Anknüpfungspunkte hierfür hätte zum Beispiel das Urteil des OLG Karlsruhe geliefert, gegen das sich die Revision in RGZ 63, 374 wendete (s. RGZ 63, 374 [375]); vgl. auch Deutsch NJW 1992, 73 (74). Allerdings steht dies im Einklang mit der gefestigten Rechtsprechung, welche die Etablierung einer Gefährdungshaftung im Wege der Analogiebildung generell ablehnt (RGZ 99, 96 [98]; BGHZ 54, 332 [336 f.]; 55, 229 [234]; 63, 234 [237]). 138 S. Kap. 4. II. 2. a). 139 BVerfGE 134, 242 (Rn. 180); zuvor schon BVerfGE 74, 264 (285). 140 BVerfGE 66, 248 (257, Hervorhebung nicht im Original); bestätigt in BVerfGE 74, 264 (Rn. 53); ähnlich BVerfGE 134, 242 (Rn. 181). 141 Damit begegnet der BGH zugleich der Kritik einer nur losen Rückbindung des bürgerlich-rechtlichen Aufopferungsanspruchs an Parlamentsgesetze; s. für die Kritik Enders, Die zivilrechtliche Verantwortlichkeit für Altlasten und Abfälle, 1999, S. 236; Engler, Der öffentlich-rechtliche Immissionsabwehranspruch, 1995, S. 174 f.; Jarass VVDStRL 50 (1991), 238 (252 Fn. 86); Kleinlein, Das System des Nachbarrechts, 1986, S. 229; Martens FS Schack, 85
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lich-rechtlichen Aufopferungsanspruch verneint, wenn spezielle Gesetze den Nutzungskonflikt zwischen störendem Infrastrukturbetreiber und gestörtem Eigentümer regeln.142 Zum anderen wird es deutlich, wenn der BGH in seiner Drogenhilfezentrum-Entscheidung anspricht, dass das vom privaten Drogenhilfezentrum verfolgte Allgemeininteresse der Unterstützung Abhängiger „gesetzlichen Ausdruck“143 gefunden habe. Daran lasse sich, wenn auch keine „spezialgesetzliche[] Regelung“144 zu einer Duldungspflicht des benachbarten Eigentümers, zumindest eine generelle Befürwortung des Gesetzgebers von Drogenhilfeeinrichtungen ablesen. Die vom BGH gewählte Argumentation gründet letztlich auf dem Prinzip, die Einheit der Rechtsordnung145 zu wahren. Es ist schwer miteinander in Einklang zu bringen, wenn die Rechtsordnung auf der einen Seite anordnet, dass Anlaufeinrichtungen für Abhängige geschaffen werden sollen, und auf der anderen Seite Nachbarn solcher Einrichtungen mit dem Verweis auf ihre Eigentümerposition und -befugnisse gemäß § 1004 BGB die Schließung solcher Einrichtungen verlangen könnten. Bei diesem Spannungsverhältnis zwischen gesetzgeberischem Anliegen der Errichtung solcher Zentren und dem Anliegen der Nachbarn solcher Zentren an ihrer Schließung mittelt der bürgerlich-rechtliche Aufopferungsanspruch einen Ausweg.146 b) Unionsrechtliche Vorgaben Des Weiteren hat der unionsrechtliche Gesetzgeber inzwischen spürbaren Einfluss im Infrastrukturprivatrecht, insbesondere im privatrechtlichen Energierecht. So setzen die Vorschriften des EnWG die europäischen Richtlinien für einen gemeinsamen Elektrizitäts- und Erdgasbinnenmarkt147 um. In den Richt(90); Olzen Jura 1991, 281 (288 f.); Papier NJW 1974, 1797 (1800); Nachzeichnung der Kritik bei Bensching, Nachbarrechtliche Ausgleichsansprüche – zulässige Rechtsfortbildung oder Rechtsprechung contra legem?, 2002, S. 129 ff., insbes. S. 132 f. 142 Vgl. BGHZ 66, 37 (41). 143 BGHZ 144, 200 (206). 144 Ebd. 145 Zur Konkretisierung des Begriffs s. etwa Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, 1935, S. 41 ff.; Hanebeck Der Staat 41 (2002), 429 ff.; Jarass VVDStRL 50 (1991), 238 (260); Schuppert/Bumke, Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, 2000, S. 72 f.; seine Verwendung als Argumentationsfigur betonend Felix, Einheit der Rechtsordnung. Zur verfassungsrechtlichen Relevanz einer juristischen Argumentationsfigur, 1998, S. 5 ff.; in der Sache auch Baldus, Die Einheit der Rechtsordnung. Bedeutungen einer juristischen Formel in Rechtstheorie, Zivil- und Staatsrechtswissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts, 1995. 146 Eine auffällige Anknüpfung an gesetzgeberische Wertungen lässt sich allerdings bei dem Urteil zu einer Informationskampagne einer Bürgerinitiative, die sich gegen ein Infrastrukturprojekt wendete, nicht erkennen (vgl. BGHZ 90, 113). Dieser Umstand widerlegt jedoch nicht den Trend, der sich bei einer Lektüre der Entscheidungen zur Berücksichtigung des Gemeininteresses an der Förderung von Infrastruktur im Privatrecht abzeichnet. 147 RL 2009/72/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.7.2009 über gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Aufhebung der RL 2003/54/EG (ABl. 2009 L 211/55) und RL 2009/73/EG des Europäischen Parlaments und des
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linientexten finden sich zahlreiche Verweise auf das von der EU verfolgte Ziel der Versorgungssicherheit. Besonders deutlich wird dies etwa in den Bestimmungen zur Beobachtung der Versorgungssicherheit innerhalb der Mitgliedstaaten (Art. 4 RL 2009/72/EG und Art. 5 RL 2009/73/EG) sowie in der Verpflichtung der Mitgliedstaaten, sich untereinander solidarisch zu verhalten, um Versorgungssicherheit zu gewährleisten (Art. 6 Abs. 1 RL 2009/73/EG). Außerdem misst die EU der Versorgungssicherheit einen hohen Stellenwert innerhalb ihrer Energiepolitik bei, wie sich daran ablesen lässt, dass die Kommission die Versorgungssicherheit als eine der fünf Dimensionen der Energieunion benennt.148 Wenn der BGH nun in seiner Rechtsprechung zu einseitigen Preisänderungsrechten von Energieversorgungsunternehmen darauf verweist, dass diese im Dienste der von der EU besonders betonten Versorgungssicherheit stünden,149 geschieht dies auch, um zu untermauern, dass seine Entscheidung in Einklang mit EU-Recht steht. Dennoch ist bemerkenswert, dass deutsche Gerichte unabhängig von europäischen Vorgaben auf das Gemeininteresse an kollektiver Versorgungssicherheit abgestellt haben.150 Die Bezugnahme auf das Ziel der Versorgungssicherheit im Europarecht dürfte somit eher als Bemühen um eine richtlinienkonforme Auslegung der Vorgaben des EnWG zu lesen sein, mit denen der BGH seine Rechtsprechung in das energierechtliche Mehrebenensystem einfügt, denn als wegweisender Faktor bei der Entscheidungsfindung.
3. Methoden Unterschiedliche Methoden werden angewandt, um das Gemeininteresse an der Förderung von Infrastruktur in privatrechtliche Entscheidungen einfließen zu lassen: Der Gesetzgeber benennt die Förderung von Infrastruktur, genauer gesagt den Teilaspekt der kollektiven Versorgungssicherheit, als Gesetzeszweck und Regulierungsziel (a)) und legt Kontrahierungszwänge fest, um Versorgungssicherheit zu gewährleisten (b)). Die Gerichte wiederum bedienen sich der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe (c)) und der ergänzenden Vertragsauslegung, um das Gemeininteresse an der Förderung von Infrastruktur in ihre Erwägungen einzustellen (d)).
Rates vom 13.7.2009 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der RL 2003/55/EG (ABl. 2009 L 211/94) sowie zuvor ihre von den Aufhebungen betroffenen Vorgängervorschriften. 148 Paket zur Energieunion, Mitteilung der Kommission, 25.2.2015, COM(2015) 80 final, S. 4. 149 BGHZ 207, 209 (Rn. 79). 150 Bspw. BGHZ 100, 1 (10). Mit ähnlichen Gedanken zur teilweise überschätzten Einwirkung europäischer Einflüsse auf die Vertragsfreiheit Wagner in Horst Dreier (Hrsg.), Rechtswissenschaft als Beruf, 67 (107).
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a) Gesetzeszweck und Regulierungsziel Bisweilen ist die Berücksichtigung des Gemeininteresses an der Förderung von Infrastruktur schon im Gesetz angelegt. Es stellt eine Besonderheit des Regulierungsrechts dar, dass hier die Förderung des Gemeininteresses in Gesetzeszweck und Regulierungsziel genannt wird. § 1 Abs. 1 EnWG erwähnt die „Versorgung der Allgemeinheit mit Elektrizität und Gas“ als Gesetzeszweck des EnWG und § 1 Abs. 2 EnWG listet die Infrastruktursicherung als eines der Regulierungsziele des EnWG.151 In seiner jetzigen Fassung sind die Vorgaben zu Gesetzeszweck und Regulierungsziel des § 1 EnWG auf europäische Richtlinien zurückzuführen.152 Nicht zufällig erinnern sie an Erwägungsgründe, die die EU für gewöhnlich ihren Richtlinien oder Verordnungen voranstellt. Doch auch schon frühere Fassungen des EnWG, die nicht unter europäischem Einfluss entworfen worden waren, benannten das kollektive Interesse an Versorgungssicherheit. Im EnWG vom 13.12.1935 findet sich ein Vorspruch,153 der als Ziele des Gesetzes nennt „im Interesse des Gemeinwohls die Energiearten wirtschaftlich einzusetzen“ und „die Energieversorgung so sicher und billig wie möglich zu gestalten.“154 Der Vorspruch des EnWG aus dem Jahr 1935 ist aufgrund seiner Entstehung in der NS-Zeit, in der das gesamte Recht am Volkswohl ausgerichtet werden sollte,155 mit kritischer Distanz zu betrachten. Doch unabhängig von seiner Genese lässt sich bezüglich der angewandten Regelungstechnik, Zwecke und Ziele des EnWG explizit im Gesetzestext zu nennen, abstrakt feststellen, dass ein solches Vorgehen diese Zwecke und Ziele sichtbarer macht. Dies trägt dazu bei, dass die nachfolgenden Vorschriften des EnWG leichter, d. h. ohne größeren Begründungsaufwand, im Lichte des Gemeininteresses an kollektiver Versorgungssicherheit ausgelegt werden können.156 Ausführungen dazu, wie das Gemeininteresse die privatrechtliche Beziehung zwischen Energienetzbetreiber 151 S. Kap. 4. II. 3. b); vgl. hierzu Britz in Fehling/Ruffert (Hrsg.), Regulierungsrecht, § 9 Rn. 7. 152 Das EnWG in seiner Fassung von 1998 nennt in § 1 als „Zweck des Gesetzes […] eine möglichst sichere, preisgünstige und umweltverträgliche leitungsgebundene Versorgung mit Elektrizität und Gas im Interesse der Allgemeinheit“ (BGBl. I, S. 730) und dient der Umsetzung der RL 96/92/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19.12.1996 betreffend gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt (ABl. 1997 L 27/20). Schrittweise ist der Gesetzeszweck ausdifferenziert und § 1 EnWG um die Regulierungsziele des § 1 Abs. 2 EnWG ergänzt worden, s. Kment, 2. Aufl. 2019, EnWG, § 1 Rn. 1. 153 S. hierzu Höger, Die Bedeutung von Zweckbestimmungen in der Gesetzgebung der Bundesrepublik Deutschland, 1976, S. 50 ff. 154 RGBl. 1935 I 1451. Zur Entwicklung des Gesetzeszieles und seiner Interpretation nach 1945 Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang, 1999, S. 409 ff.; Evers in Börner u. a. (Hrsg.), Das Energiewirtschaftsgesetz im Wandel von fünf Jahrzehnten, 1987, S. 15, 27 ff. 155 S. Einl. I V. 156 Zur Funktion als Interpretationshilfe Höger, Die Bedeutung von Zweckbestimmungen in der Gesetzgebung der Bundesrepublik Deutschland, 1976, S. 59, 67.
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und Energienetzbenutzer oder zwischen Energienetzbenutzern untereinander formen darf, sind zwar immer noch erforderlich. Doch finden sie einen Halt im Gesetzestext selbst. b) Festlegung vertraglicher Außenschranken In Gesetzestexten ist eine weitere Methode angelegt, um das Infrastrukturin teresse bei der Ausgestaltung privatrechtlicher Rechtsbeziehungen zu berücksichtigen: die Festlegung von Kontrahierungszwängen als „vertraglichen Außenschranken.“157 Von den in der Typisierung angesprochenen Kontrahierungszwängen sieht § 18 EnWG eine Anschlusspflicht, § 20 EnWG eine Netzzugangspflicht und § 36 EnWG eine Grundversorgungspflicht vor. Energienetzbetreiber sind verpflichtet, Rechtsbeziehungen mit Energienetznutzern einzugehen (§§ 18, 20 EnWG) und Energieversorgungsunternehmen müssen unter Umständen in Rechtsbeziehungen zu Endkunden treten. Vor dem Hintergrund, dass die im EnWG angelegten Kontrahierungszwänge die Rechtsbeziehungen zwischen Energienetzbetreiber, Energienetznutzern und Endkunden stark formen, werden sie als mit die „wichtigsten Regulierungsinstrument[e] des neuen Energierechts“158 angesehen. c) Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe Das Gemeininteresse an der Förderung von Infrastruktur findet zudem Eingang in privatrechtliche Entscheidungen, wenn es zur Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe herangezogen wird. Diese Art der Verarbeitung wendet die Rechtsprechung etwa bei der Überprüfung von Baukostenzuschüssen, die an Infrastrukturbetreiber zu erstatten sind, an.159 Hier legen Gerichte den Begriff des „billigen Ermessens“ im Sinne des § 315 Abs. 3 BGB aus und nehmen dabei in den Blick, dass die Instandhaltung oder Schaffung von Infrastrukturen auch im gesamtgesellschaftlichen und -wirtschaftlichen Interesse erfolgt. Um die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe handelt es sich auch, wenn bei Enteignungsfällen darüber entschieden wird, ob die Eingriffe in das Eigentum „erforderlich“ (§ 45 Abs. 1 EnWG) sind oder zum „Wohl der Allgemeinheit“ (Art. 14 Abs. 3 S. 1 GG) geschehen. Die analysierte Rechtsprechung lässt jedoch keine Rückschlüsse darauf zu, wann Gerichte sich entscheiden, das Gemeininteresse an der Förderung von Infrastruktur mittels der Eingangstore der unbestimmten Rechtsbegriffe in ihre Bewertungen aufzunehmen.
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Busche, Privatautonomie und Kontrahierungszwang, 1999, S. 580 f. Hermes ZHR 166 (2002), 433 (442). 159 S. BGH EnWZ 2013, 227. 158
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d) Ergänzende Vertragsauslegung Bemerkenswert ist, dass Gerichte auch im Rahmen der ergänzenden Vertragsauslegung auf das Gemeininteresse an der Förderung von Infrastruktur Bezug nehmen. Wie dargestellt entschied der BGH etwa im Bereich der Gasversorgung, Versorgungsverträge seien dahingehend auszulegen, dass einseitige Preiserhöhungen gälten, sofern Kunden diese nicht innerhalb einer bestimmten Frist beanstandet hätten.160 Nach der Argumentation des BGH sei es ein Anliegen der Gasversorger, über genügend finanzielle Mittel zu verfügen, um die kollektive Versorgungssicherheit zu gewährleisten.161 Gaskunden wiederum müssten davon ausgehen, dass die Versorger die Preise so bemessen, dass sie in die zukünftige Versorgung investieren können. Der BGH stellte somit nicht direkt auf das Gemeininteresse als einen Aspekt ab, der beim Interessenausgleich zu berücksichtigen sei. Er knüpfte „lediglich“ mittelbar an das Gemeininteresse an, indem er die Verbindung zwischen dem Interesse an Versorgungssicherheit und dem Geschäftsmodell der Anbieter zog. Der Unterschied zwischen einem Verweis auf das Gemeininteresse im Rahmen der Gesetzesauslegung162 und einem Verweis auf das Gemeininteresse im Rahmen der ergänzenden Vertragsauslegung mag klein erscheinen, handelt es sich doch beide Male um Auslegungen und die Einführung von hintergründigen Wertungen in privatrechtliche Einzelfallentscheidungen. Tatsächlich ist der Unterschied zwischen Gesetzesauslegung und Vertragsauslegung bedeutend: Der Gesetzgeber ist dem Gemeinwohl verpflichtet und muss Gemeininteressen in seinen Entscheidungen berücksichtigen.163 Die mit der Gesetzgebung verfolgten Zwecke greifen Gerichte auf, wenn sie unbestimmte Rechtsbegriffe auslegen.164 Abweichend hiervon existieren keine verfassungsrechtlichen Vorgaben, die Private direkt verpflichten, Gemeininteressen in ihre Entscheidungsfindung einzubeziehen. Wenn der BGH Privaten gemeinnützige Motive „unter stellt“, so führt er das Gemeininteresse an der kollektiven Versorgungssicherheit nicht erst bei der rechtlichen Bewertung privaten Handelns ein, sondern schon auf vorgelagerter Ebene bei der Bestimmung des Verhaltens Privater. e) Zwischenergebnis Es kann gute Gründe geben, das Gemeininteresse an der Förderung von Infrastruktur in die rechtliche Bewertung privater Rechtsbeziehungen einzubezie160 BGHZ 192, 372 (Rn. 21 ff.). Zu der Frage, inwiefern diese methodische Konstruktion im Einklang mit EU-Recht steht, s. Kap. 4 Fn. 114. 161 BGHZ 192, 372 (28 f.). 162 S. Kap. 4. III. 3. c). 163 S. Einl. I. 164 Das gilt unabhängig davon, ob eine objektiv-teleologische oder eine subjektiv-teleo logische Auslegung zur Anwendung kommt; hierzu grundsätzlich Wischmeyer, Zwecke im Recht des Verfassungsstaats, 2015, S. 364 ff.
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hen. Hier sei an den gesamtgesellschaftlichen Nutzen von Infrastrukturen,165 die Absicherung der Planung von Infrastrukturprojekten166 und die Wahrung der Einheit der Rechtsordnung167 erinnert. Für die gerichtliche Arbeit fehlen jedoch mitunter ausdrückliche gesetzliche Anknüpfungspunkte, wie sie etwa die Nennung von Gesetzeszwecken und Regulierungszielen168 oder die Positivierung von Kontrahierungszwängen169 zur Verfügung stellen. Unter diesen Umständen greifen Gerichte auf die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe170 und die ergänzende Vertragsauslegung171 zurück.
4. Praktische Bedeutsamkeit Wertet man die in der Typisierung dargestellten Fälle im Hinblick auf die praktische Bedeutsamkeit des Infrastrukturprivatrechts aus, lassen sich keine ein seitigen Aussagen treffen. Das sich abzeichnende Bild verlangt vielmehr nach Differenzierungen. Einerseits ist die Zahl der Fälle, in denen Gerichte über Enteignungen zu Gunsten Privater zu entscheiden hatten oder in denen der bürgerlich-rechtliche Aufopferungsanspruch zur Anwendung kam, überschaubar. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit172 sowie die vorrangige Anwendung von Spezialgesetzen173 stellen sicher, dass Enteignungen nur stattfinden oder erhöhte Duldungspflichten angenommen werden, wenn alternative Mittel versagen. Der bürgerlich-rechtliche Aufopferungsanspruch wird erst gewährt, wenn der Aspekt der Einheit der Rechtsordnung174 oder die offensichtliche Berührung des Gemeininteresses an der Förderung von Infrastruktur die Gerichte dazu bewegt, ihre rechtliche Bewertung der Rechtsbeziehungen unter Privaten zu modifizieren. Andererseits ist die Rechtsprechung zu Energieversorgungsverträgen, die Bezug nimmt auf das Gemeininteresse an einer kollektiven Versorgungssicherheit, von großer praktischer Bedeutsamkeit. Diese Bedeutsamkeit gründet schon in dem Umstand, dass es sich bei der Energieversorgung um ein Massengeschäft handelt. Nur ein kleiner Teil der Unternehmen oder Haushalte kommt ohne Energieversorgung durch Externe aus.
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Kap. 4. II. 2. Kap. 4. II. 2. a) und 3. b) cc). 167 Kap. 4. II. 2. a). 168 Kap. 4. III. 3. a). 169 Kap. 4. III. 3. b). 170 Kap. 4. III. 3. c). 171 Kap. 4. III. 3. d). 172 Für Enteignungen s. die analysierten Entscheidungen BVerfGE 66, 248 (257 f.); 134, 242 (Rn. 182 ff.); vgl. BGHZ 204, 274 (Rn. 24). 173 S. hinsichtlich des bürgerlich-rechtlichen Aufopferungsanspruchs etwa BGHZ 66, 37 (41); vgl. BGHZ 110, 17 (23). 174 S. Kap. 4 Fn. 145. 166
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Weiterführende Erkenntnisse über die praktische Bedeutsamkeit der haftungsrechtlichen Besonderheiten des Infrastrukturprivatrechts kann eine ökonomische Analyse der Regelungen liefern. Für §§ 17e f. EnWG haben Wagner und Bsaisou eine solche ökonomische Analyse angestellt.175 Sie sind zu dem Ergebnis gekommen, dass die Gesetze, die es den Netzbetreibern ermöglichen, die Kosten für einen verzögerten oder gestörten Netzanschluss von Offshore-Windparks an die Gesamtbetreiber weiterzureichen oder umfassend zu versichern, keine Anreize für einen schnellen Netzausbau setzten.176 Soweit ersichtlich, stehen jedoch weitere Untersuchungen der Haftung für Infrastrukturprojekte anhand der ökonomischen Analyse des Rechts aus. Es ist aber anzunehmen, dass die Modifikation der Haftung für Infrastrukturprojekte von einer Verschuldens- hin zu einer Gefährdungshaftung (vgl. § 18 NAV/NDAV und § 2 HaftPflG) nicht infrastrukturfördernd wirkt. Die rechtsökonomischen Grundsätze besagen, dass eine Gefährdungshaftung sinnhaft zum Einsatz kommt, wenn ein bestimmtes Verhalten unterbunden und nicht bloß ein höherer Sorgfaltsmaßstab angelegt werden soll.177 Die Anordnung einer Gefährdungshaftung für Infrastrukturen müsste demnach der Gewährleistung von Infrastruktur nicht zuträglich, sondern im Gegenteil abträglich sein. So scheinen derlei Effizienzerwägungen bei der Verabschiedung von § 18 NAV/NDAV und § 2 HaftPflG auch keine Rolle gespielt zu haben. Vielmehr scheint das Ziel im Vordergrund gestanden zu haben, Geschädigten die Schadensersatzdurchsetzung zu vereinfachen.178
5. Bezug zur Leiterzählung des Privatrechts Den Gesetzen und der Rechtsprechung, die in der Typisierung als Beispiele für die Berücksichtigung des Gemeininteresses an der Förderung von Infrastruktur vorgestellt wurden, wird gemeinhin eine große Distanz zu den Regelungen des allgemeinen Privatrechts bescheinigt. Dies erklärt sich auch vor dem Hintergrund, dass sich die Berücksichtigung des Gemeininteresses an der Förderung von Infrastruktur nicht in das Narrativ der privatrechtlichen Leiterzählung einfügt. Die Unstimmigkeiten zwischen der Leiterzählung einerseits und der Gesetzgebung und Rechtsprechung mit Bezügen zum Gemeininteresse an der Förderung von Infrastruktur andererseits lassen sich an der Bewertung des Infrastrukturprivatrechts in der Literatur ablesen. Teils wird Kritik an der Indienstnahme Privater zu Gunsten des Gemeininteresses an der Förderung von Infrastruktur geäußert. Deutlich ablesbar ist diese Kritik in der Rezeption der 175
Wagner/Bsaisou JZ 2014, 1031 ff. Ebd., (1037 ff.). 177 S. Cooter JEP 5 (1991), 11 (12, 23); Landes/Posner Ga. L. Rev 15 (1980/81), 851 (875 f.). 178 Bzgl. § 18 NAV s. BR-Drs. 367/06, S. 5 4; bzgl. § 2 HaftpflG DJ 1943, 430. 176
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gesteigerten Duldungspflichten für gemeinwichtige Betriebe und des bürgerlich-rechtlichen Aufopferungsanspruchs. Hier begegnet die Einschätzung, dass ein Ausgleich zwischen Individualinteressen und dem Gemeininteresse an der Förderung von Infrastruktur nicht dergestalt hergestellt werden dürfe, dass Private einseitig belastet werden.179 Das gelte umso mehr, als es sowohl Duldungspflicht als auch Ausgleichsanspruch an einer gesetzlichen Grundlage fehle.180 Etwas weniger kritisch wird die Indienstnahme Privater mittels Enteignungen zu Gunsten der Verwirklichung von Infrastrukturprojekten gesehen.181 Grund hierfür dürfte sein, dass das enteignende Verwaltungsverfahren einen Rahmen bietet, in dem Eingriffe in individuelle Rechtspositionen im Interesse des Gemeinwohls geläufig sind. Seltener wird die Indienstnahme Privater zum Zwecke der kollektiven Versorgungssicherheit problematisiert.182 Das dürfte an dem bereits angesprochenen Gleichlauf von Gemeininteresse, dem individuellen Interesse der Energienetzbetreiber an einem funktionstüchtigen, weitverzweigten Netz, und dem individuellen Interesse der Energieversorgungsunternehmen, langfristig einen möglichst breiten Kundenkreis mit Energie zu beliefern, liegen. Häufiger als die Kritik an einer Indienstnahme Privater begegnet im Zusammenhang mit dem Infrastrukturprivatrecht die Einschätzung, dass es sich bei den in der Typisierung dargestellten Inhalten nicht um Bestandteile des „gemeinen“ Privatrechts handle: Der Ausnahmecharakter des bürgerlich-rechtlichen Aufopferungsanspruchs wird betont.183 Oder das Energierecht wird dem Sonderprivatrecht zugeschlagen, das eigenen, vom allgemeinen Privatrecht verschiedenartigen Prinzipien folgt.184 Auch wird es stark über seine Zugehörigkeit zum Regulierungsrecht definiert, welches seinerseits darüber charakteri-
179 Ringshandl, Der bürgerlich-rechtliche Aufopferungsanspruch, 2009, S. 142; bzgl. der Entschädigungspflicht Schimmel/Buhlmann EWiR 2000, 1107 (1108). 180 Enders, Die zivilrechtliche Verantwortlichkeit für Altlasten und Abfälle, 1999, S. 236; Engler, Der öffentlich-rechtliche Immissionsabwehranspruch, 1995, S. 174 f.; Olzen Jura 1991, 281 (288 f.); Jarass, Verwaltungsrecht als Vorgabe für Zivil- und Strafrecht, VVDStRL 50 (1991), 238 (252 Fn. 86); Kleinlein, Das System des Nachbarrechts, 1987, S. 229; Martens FS Schack, 85 (90); Papier NJW 1974, 1797 (1800). 181 S. aber Britz/Hellermann/Hermes, EnWG, 3. Aufl. 2015, § 45 Rn. 14 ff.; krit. bzgl. der Entschädigung Holznagel DÖV 2010, 847 (851 f.); ferner Wichert NVwZ 2009, 876 (878 f.). 182 Jedoch krit. Peters, Rechtsschutz Dritter im Rahmen des EnWG, 2008, S. 197. 183 Ringshandl, Der bürgerlich-rechtliche Aufopferungsanspruch, 2009, S. 142; MüKo BGB/Säcker, 6. Aufl. 2013, § 9 06 Rn. 158. 184 S. nur MüKoBGB/Busche, 9. Aufl. 2021, Vor § 145 Rn. 34. – In diesem Zusammenhang erwähnenswert ist, dass der BGH für das Energierecht die Einschätzung, dass es sich bei ihm nicht im „klassischen Sinne“ um Privatrecht handle, übernimmt. Der BGH führt aus: „Die Energieversorgung der Bevölkerung zählt zwar an sich zur Daseinsvorsorge und ist damit öffentlichrechtlicher Natur […] Sie wird aber nach der historisch gewachsenen Konzeption des Energiewirtschaftsrechts als privatwirtschaftliche Tätigkeit angesehen und ist als solche privatrechtlich geregelt“ (BGHZ 89, 226 [230]).
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Kapitel 4: Infrastruktur
siert wird, dass es sich einer starren Zuordnung in öffentliches Recht oder Privatrecht entziehe.185 Wie bei der Kritik des Umweltprivatrechts scheinen in der Bewertung des Infrastrukturprivatrechts Argumentationsmuster der Leiterzählung hervor: Das Infrastrukturprivatrecht wird als Gebiet ausgemacht, in dem es nach der Ansicht mancher zu einer übermäßigen Indienstnahme Privater kommt. Die Berücksichtigung des Gemeininteresses an der Förderung von Infrastruktur im Privatrecht wird als systemfremd wahrgenommen. Allerdings führen diese Einschätzungen nicht zu einer so starken Kritik der privatrechtlichen Gesetzgebung und Rechtsprechung mit Infrastrukturbezug, wie es beim Umweltprivatrecht der Fall ist. Eher fördert das freiheitlich-individualistische Privatrechtsverständnis, das der Leiterzählung zu Grunde liegt, die Wahrnehmung des Infrastrukturprivatrechts als Gebiet, welches an den äußeren Rändern des Privatrechts zu verorten ist. Hierbei zeigt sich das Wirken diskursiver Standardisierung.186 In der Rezeption der Gesetzgebung und Rechtsprechung, die Bezüge zum Gemeininteresse an der Förderung von Infrastruktur aufweisen, werden die Besonderheiten der Regelungen herausgestellt. Dies ist insofern korrekt, als beispielshalber die Haftung für Infrastrukturprojekte von den Grundsätzen einer deliktischen Haftung nach dem BGB abweicht und die einseitigen Preisänderungsrechte in Energielieferungsverträgen nicht dem vertraglichen „Normalfall“ entsprechen. Die Betonung der Besonderheiten verdeckt aber, dass die Berücksichtigung des Gemeininteresses an der Förderung von Infrastruktur breit im Privatrecht angelegt ist, wie die Beispielsfälle des Vertrags-, Nachbar- und Haftungsrechts belegen. Zudem lässt sie in den Hintergrund treten, dass das Gemeininteresse an der Förderung von Infrastruktur über gängige privatrechtliche Instrumente Eingang in die Regelungen der Rechtsbeziehungen zwischen Privaten findet.
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S. hierzu Kap. 4. II. 3. a). S. Kap. 2. II. 1. b) cc).
Kapitel 5
Nichtdiskriminierung Nachdem sich die letzten beiden Kapitel mit der Berücksichtigung der Gemein interessen an Umweltschutz und der Förderung von Infrastruktur beschäftigten, soll nun die Einbeziehung des Gemeininteresses an Nichtdiskriminierung genauer in den Blick genommen werden. Waren die bislang behandelten Ge meininteressen in Ausmaß und Gestalt noch hinreichend eingrenzbar, so fällt eine Konturierung des Gemeininteresses an Nichtdiskriminierung schwerer. Im Kern geht es darum, dass das Nichtdiskriminierungsrecht nicht nur einzelne Betroffene vor rechtswidriger Behandlung schützen soll, sondern zusätzlich das Anliegen verfolgt, ein Gesellschaftsideal zu verwirklichen. Mit ihm ist der Anspruch verbunden, das Zusammenleben in einer offenen und toleranten Gesellschaft zu fördern. Wie sich dieser gesamtgesellschaftliche, transformative Aspekt im privatrechtlichen Nichtdiskriminierungsrecht bemerkbar macht, ist Gegenstand der folgenden Darstellung. Im Aufbau folgt das Kapitel der Gliederung der vorangegangenen Abschnitte: Zuerst wird das Interesse an Nichtdiskriminierung im Privatrecht verortet und der Gemeingut-Aspekt des Nichtdiskriminierungsrechts näher umschrieben (I.). Daran schließt eine Typisierung der zum zivilrechtlichen Nichtdiskriminierungsrecht ergangenen Gesetzgebung und Rechtsprechung an (II.). Auf der Typisierung aufbauend beleuchtet das Kapitel schließlich, welche Schlussfolgerungen sich aus der Typisierung für die Berücksichtigung des Gemeinin teresses an Nichtdiskriminierung im Privatrecht ziehen lassen (III.).
I. Nichtdiskriminierung im Privatrecht: Eine Verortung 1. Definition und Legitimation Um sich nicht in der weiten, facettenreichen und bereits langdauernden Debatte zum Nichtdiskriminierungsrecht zu verlieren, ist es für die Zwecke der Untersuchung angezeigt, den Untersuchungsgegenstand näher zu umreißen. Dabei wird sich die Untersuchung auf die Punkte beschränken, die im Hinblick auf die Frage nach der Berücksichtigung von Gemeininteressen bedeutsam sind. Mit der angezeigten Verkürzung geht einher, dass die bestehenden nichtdiskri-
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Kapitel 5: Nichtdiskriminierung
minierungsrechtlichen Diskurse hier nicht in umfassender Breite wiedergegeben werden können.1 Grundsätzlich bezeichnet Nichtdiskriminierung die Überwindung von Diskriminierung. Diskriminierung wiederum ist die „Verweigerung der Gleichbehandlung wegen der tatsächlichen oder vermeintlichen Zugehörigkeit zu einer kategorial bestimmten Gruppe.“2 Wird eine Person diskriminiert, so wird ihr eine andere, d. h. schlechtere Behandlung zu Teil, weil sie Merkmale aufweist, die sie vom gesellschaftlich konstruierten Normalfall unterscheiden. Ihr stehen nicht dieselben Berufsmöglichkeiten offen, weil sie weiblich ist oder ein körperliches Handicap hat; sie wird bei der Wohnungssuche benachteiligt, weil sie über einen Migrationshintergrund verfügt; oder sie wird an der Diskothekentür aufgrund ihrer Hautfarbe abgewiesen. Für einige der einer Person zugeschriebenen Merkmale, wie etwa Geschlecht, „Rasse“ oder Religionszugehörigkeit, besteht eine lange Historie der Diskriminierung. Sie werden im Englischen treffend als suspect classifications,3 im Deutschen etwas unpassender als verpönte Merkmale4 umschrieben. Stellt eine unterschiedliche Behandlung unmittelbar auf eine suspect classification als Differenzierungskriterium ab, so handelt es sich um einen Fall direkter Diskriminierung.5 Darüber hinaus sind mittelbare Diskriminierungen anzutreffen, in denen scheinbar neutrale Vorschriften Personen einer bestimmten Gruppe gegenüber Angehörigen anderer Gruppen in besonderer Weise benachteiligen. 6 Schließlich wächst das öffentliche Bewusstsein dafür, dass Diskriminierung auch tief im gesellschaftlichen System verwurzelt sein und unter1 Für einen aktuellen Überblick über die Materie sei verwiesen auf Belavusau/Henrard (Hrsg.), EU Anti-Discrimination Law Beyond Gender, 2019; Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht, 2021; Mörsdorf, Ungleichbehandlung als Norm, 2018. 2 Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht, 2021, S. 4. Gleichsinnig Sacksofsky in Opfermann (Hrsg.), Unrechtserfahrungen, 31. 3 USSC, Korematsu v. US, 323 U.S. 214, 216; weiterführend zur Entwicklung der mit den suspect classifcations verbundenen unterschiedlichen Prüfungsintensitäten im US-amerikanischen Verfassungsrecht Barnes/Chemerinsky Conn. L. Rev. (43) 2011, 1059 (1077 ff.) und kritischer Yoshino Harv. L. Rev. (124) 2011, 747 (755 ff.). 4 S. etwa BAG NZA 2019, 991 (Rn. 65); NZA 2017, 939 (Rn. 34); NZA 2016, 820 (Rn. 38); Maunz/Dürig/Langenfeld, GG, 2019, Art. 3 Abs. 3 Rn. 34. 5 S. Art. 2 Abs. 2 lit. a RL 2000/43/EG; Art. 2 Abs. 2 lit. a RL 2000/78/EG; Art. 2 lit. b RL 2004/113/EG; Art. 2 Abs. 1 lit. a RL 2006/54/EG; Art. 3 lit. a RL 2010/41/EU. 6 Die Definition wurde vom EuGH erstmals bzgl. der Staatsangehörigkeit in EuGH, Rs. 152/73 – Sotgiu, Slg. 1974, 153 (164) gebraucht und ist inzwischen in den Gleichbehandlungs-RL (Art. 2 Abs. 2 lit. b RL 2000/43/EG; Art. 2 Abs. 2 lit. b RL 2000/78/EG; Art. 2 lit. b RL 2004/113/EG; Art. 2 Abs. 1 lit. b RL 2006/54/EG; Art. 3 lit. a RL 2010/41/EU) kodifiziert. Umfassende Nachzeichnung der Entwicklung bei Bieback, Die mittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechts, 1997, S. 20 ff.; Sacksofsky, Mittelbare Diskriminierung und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, 2010, S. 2 ff. (https://www.antidiskriminierungsstelle.de/ SharedDocs/downloads/DE/publikationen/Expertisen/expertise_mittelbare_diskriminie rung.pdf;jsessionid=CAD565A7D9CDD60CD8DA9782E9026F04.intranet242?__blob=pu blicationFile&v=2, letzter Abruf: 8.2.2022).
I. Nichtdiskriminierung im Privatrecht: Eine Verortung
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gründig wirken kann. Systemische Diskriminierung zeichnet sich dadurch aus, dass die Benachteiligung bestimmter Gruppen in den Gebräuchen und Gepflogenheiten einer Gesellschaft institutionalisiert ist.7 Nicht nur die Erscheinungsformen von Diskriminierung, sondern auch die Gründe für ihr Auftreten sind vielfältiger Natur. Es kann am blanken Rassismus eines Vermieters liegen, wenn er sich weigert, eine Wohnung an eine Person anderer Nationalität zu vermieten. Oder eine Gastwirtin lebt ihre Homophobie aus, indem sie sich weigert, homosexuelle Kellner anzustellen. 8 Diskriminierungen können, müssen ihren Ursprung aber nicht in den Vorurteilen des Diskriminierenden haben.9 Nicht jede Diskriminierung lässt sich auf Ressentiments zurückführen und nicht jeder Diskriminierung ist mit dem Hinweis auf ihre Irrationalität zu begegnen. Es kann rationale Gründe dafür geben, Menschen zu diskriminieren.10 Für einen Dienstleister ist es mit zusätzlichen Kosten verbunden, wenn er einen barrierefreien Zugang zu seinen Einrichtungen ermöglichen möchte, die sich eventuell durch das zusätzlich zu erwartende Geschäft nicht amortisieren lassen. Ein Arbeitgeber, der Eltern einstellt, muss damit rechnen, dass diese seltener als ihre kinderlosen Kollegen zur Arbeit kommen.11 Es kann sich für Arbeitgeber also rechnen, auf Personal mit Kindern zu verzichten und verstärkt auf andere Arbeitskräfte zu setzen. Und um auf das Beispiel der Gastwirtin zurückzukommen, die sich weigert, Homosexuelle anzustellen: Vielleicht liegt ihre Weigerung nicht an ihrer persönlichen Einstellung, sondern an ihrer Befürchtung, dass ihr Kundenstamm homophob reagiert und ihre Gastwirtschaft in Zukunft meidet. Auch sie handelt dann rational. An den Befund, dass es irrationale wie rationale Diskriminierungen gibt, schließt sich die Frage an, ob und unter welchen Umständen Ungleichbehandlungen als rechtlich zulässig anzusehen sind und wann die Rechtsordnung sie missbilligt. Diese Frage wird im Nichtdiskriminierungsrecht verhandelt. Die darauf gefundenen Antworten orientieren sich wiederum an den Legitimationsgründen des Rechtsgebiets. Die stärkste Legitimation des Nichtdiskrimi-
7 S. Sheppard, Inclusive Equality, 2010, S. 6; ähnlich zum institutionellen Rassismus Barskanmaz, Recht und Rassismus, 2019, S. 61 ff. 8 Beispiel übernommen von Somek, Neoliberale Gerechtigkeit. Die Problematik des Antidiskriminierungsrechts, abgedr. in Grundmann/Micklitz/Renner (Hrsg.), Privatrechts theor ie, Bd. II, 1122 (1130 f.). 9 Weiterführend zur „Vorurteils-Diskriminierung“ Wagner in Blaurock/Hager (Hrsg.), Obligationenrecht im 21. Jahrhundert, 13 (56 ff.). 10 Deutlich herausgearbeitet bei Britz VVDStRL 64 (2005), 355 (377); Somek, Rationalität und Diskriminierung, 2001, S. 17; ders., Neoliberale Gerechtigkeit. Die Problematik des Antidiskriminierungsrechts, abgedr. in Grundmann/Micklitz/Renner (Hrsg.), Privatrechts theor ie, Bd. II, 1122 (1131 f.); ebenso Renner in Grundmann/Micklitz/Renner (Hrsg.), Privatrechtstheorie, Bd. II, 1087 (1094). 11 Eltern steht grundsätzlich ein Anspruch auf Krankengeld für maximal zehn Tage im Jahr zu, um sich um ihre Kinder bei Erkrankung zu kümmern (§ 45 Abs. 1 SGB V).
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Kapitel 5: Nichtdiskriminierung
nierungsrechts bietet der Egalitarismus.12 Seine diversen Subströmungen hält die basale Idee zusammen, dass allen Menschen das Recht auf die gleichen Chancen für ein gelingendes Leben zusteht. Ihre unterschiedliche Behandlung soll nur erlaubt sein, wenn es interpersonelle – unabhängig von der Sprechsituation überzeugende – Gründe gibt, die sie rechtfertigen.13 An der egalitären Legitimation des Nichtdiskriminierungsrechts wird seine enge Verbindung zum Gleichheitssatz14 deutlich. In seiner verfassungsrechtlichen Ausformung besagt er, dass „wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich“ zu behandeln ist.15 Das Nichtdiskriminierungsrecht ist also ein bedeutender Beitrag bei der Umsetzung des Gleichheitssatzes.16 Personen sollen vor ungerechtfertigter, unterschiedlicher Behandlung geschützt werden, wobei die unterschiedliche Behandlung immer im Sinne einer schlechteren Behandlung zu verstehen ist. Daneben treten weitere Legitimationsstränge. So wird ein „freiheitliche[r] Erklärungsansatz[]“17 vertreten,18 der hauptsächlich in zwei Argumenten gründet. Erstens sind Benachteiligungen als illegitim zu erachten, wenn sie die Privatautonomie einer Person über Gebühr beschränken. Diskriminierung mindert die Möglichkeiten der Betroffenen zur autonomen Entfaltung. Indem das Nichtdiskriminierungsrecht Benachteiligungen verbietet, fördert es die individuelle Freiheitsausübung derjenigen Personen, die ohne schützende Gesetze Opfer von Diskriminierung werden würden.19 Zweitens ist für Diskrimi12 S. hierzu Arneson, „Egalitarianism“, in Zalta (Hrsg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Sommer 2013 Ed.), https://plato.stanford.edu/archives/sum2013/entries/egalitarianism/ (letzter Abruf: 8.2.2022); Dworkin, Sovereign Virtue. Equality in Theory and Practice, 2000, S. 11 ff.; Holtug/Lippert-Rasmussen in Holtug/Lippert-Rasmussen (Hrsg.), Egalitarianism. New Essays on the Nature and Value of Equality, 1 (2, 15 ff.). 13 Cohen, Rescuing Justice and Equality, 2008, S. 42 ff. 14 Baer DZPhil 2005, 571 (578 Fn. 40); „two faces of the same coin“ – Besson HRLR 2008, 647 (653) bzw. „zwei Seiten einer Medaille“ – Grünberger, Personale Gleichheit, 2013, S. 543; ders. in Kempny/Reimer (Hrsg.), Gleichheitssatzdogmatik heute, 5 (11); Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht, 2021, S. 141 und 256; Schiek/Schiek, AGG, 2007, Einl. Rn. 42; „expressions réciproques“ – Lenaerts CDE 1991, 3 (38). 15 Zu Art. 3 Abs. 1 GG BVerfGE 122, 210 (230); 121, 317 (369); 116, 164 (180); 98, 365 (385). 16 Zu den unterschiedlichen Auffassungen zum Verhältnis von Gleichheit und Nichtdiskriminierung s. Croon-Gestefeld, Reconceptualising European Equality Law, 2017, S. 40 ff.; Grünberger, Personale Gleichheit, 2013, S. 543 ff.; wie hier Schiek in Schiek/Chege (Hrsg.), European Union Non-Discrimination Law. Comparative perspectives on multidimensional equality law, 3 (10). 17 Mörsdorf, Ungleichbehandlung als Norm, 2018, S. 6 . 18 Armbrüster NJW 2007, 1494 (1497); Bader, Arbeitsrechtlicher Antidiskriminierungsschutz als Privatrecht, 2012, S. 125 ff; Hartmann EuZA 2019, 24 (30 und 39); Staudinger-Eckpfeiler/Hartmann, 7. Aufl. 2020, Rn. B 8; Lobinger in Isensee (Hrsg.), Vertragsfreiheit und Diskriminierung, 99 (insbes. 141); ders., Entwicklung, Stand und Perspektiven des europäischen Antidiskriminierungsrechts, 2015, S. 38.; ders. AcP 216 (2016), 28 (82 ff.); Picker in Riesenhuber (Hrsg.), Privatrechtsgesellschaft, 207 (257 f.). 19 S. für diesen Begründungsstrang etwa Gardner Oxford J. Legal Stud. 1989, 1 (3 ff.); sol-
I. Nichtdiskriminierung im Privatrecht: Eine Verortung
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nierungen in privatrechtlichen Beziehungen charakteristisch, dass eine Person in das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V. mit Art. 1 Abs. 1 GG) einer anderen Person eingreift. Das privatrechtliche Nichtdiskriminierungsrecht findet seine Legitimation daher auch im Schutz der Menschenwürde20 und ist darauf angelegt, die Persönlichkeitsrechte bzw. die personale Integrität eines jeden zu schützen.21 Des Weiteren hat Mangold die demokratietheoretische Komponente des Nichtdiskriminierungsrechts verdeutlicht.22 Auf der Diskurstheorie von Habermas aufbauend zeigt sie die Bedeutung von Nichtdiskriminierungsmaßnahmen für die Partizipation im demokratischen Diskurs auf. Demnach sichert das Nichtdiskriminierungsrecht „die Voraussetzungen von öffentlicher Delibera tion in der Demokratie ab […], indem es die Möglichkeit demokratischer Begegnung von Bürger*innen auf Augenhöhe schafft.“23 Unterschiede bestehen nun in der Einschätzung, inwiefern die diversen Legitimationsstränge privatrechtliche Nichtdiskriminierungsvorschriften im Speziellen erklären können. Nach einer Leseart lässt sich das privatrechtliche Nichtdiskriminierungsrecht nur anhand des „freiheitlichen Erklärungsansatzes“24 erklären. Im Gegensatz zu egalitären oder demokratietheoretischen Erwägungen stehe die freiheitliche Legitimation im Einklang mit den Grundsätzen des Privatrechts.25 Nach einer anderen Leseart gründet das privatrechtliche Nichtdiskriminierungsrecht primär auf gleichheitsrechtlichen Erwägungen. Insbesondere Grünberger hat herausgearbeitet, dass eine egalitäre Legitimation privatrechtlichen Nichtdiskriminierungsrechts mit den Grundsätzen des Privatrechts konform geht, da der Gleichheitssatz im Privatrecht breit verankert ist.26 chen Legimitationsversuchen krit. gegenüberstehend Grünberger, Personale Gleichheit, 2013, S. 550 f. 20 Fredman, Discrimination Law, 2002, S. 17 ff.; Baer DZPhil 2005, 571 (578); Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit, 2000, S. 37 f. 21 Britz VVDStRL 64 (2005), 355 (361 Fn. 18); Lobinger AcP 216 (2016), 28 (82 f.). 22 Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht, 2021, S. 397 ff. und passim; des Weiteren Fredman Maastricht J. Eur. & Comp. L. 12 (2005), 369 (379); dies. ICON 2016, 712 (731 f.). 23 Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht, 2021, S. 397. 24 Mörsdorf, Ungleichbehandlung als Norm, 2018, S. 6 . 25 Lobinger AcP 216 (2016), 28 (85). 26 Grünberger, Personale Gleichheit, 2013. – Letztlich überzeugt diese gleichheitsrechtliche Deutung des Nichtdiskriminierungsrechts. Menschenwürde, Persönlichkeitsrechte und die Ermöglichung freier Entfaltung liefern ergänzende Erklärungen, weshalb und zu welchem Zweck Nichtdiskriminierungsrecht besteht. Aber die freiheitlichen Legitimationen gründen doch auf einer egalitären Idee: Auch bei ihnen geht es um eine vergleichende Betrachtung (s. Croon-Gestefeld, Reconceptualising European Equality Law, 2017, S. 18 ff. und Mörsdorf, Ungleichbehandlung als Norm, 2018, S. 39; mit Bezug auf das Konzept der Gleichheit Smith Otago L. Rev. 2005, 53 [62]). Diskriminierung berührt die Menschenwürde des Einzelnen, weil sie ihm in geringerem Maße als anderen zugesprochen wird. Die Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte entfaltet erst im Vergleich zur Behandlung Angehöriger der Normalgruppe ihre ganze schädigende Kraft und er hat weniger Möglichkeiten der Freiheitsausübung als Personen, die der von der Mehrheitsgesellschaft gesetzten Norm entsprechen.
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Kapitel 5: Nichtdiskriminierung
2. Nichtdiskriminierung als Gemeininteresse Die unterschiedlichen Legitimationen des Nichtdiskriminierungsrechts weisen darauf hin, dass das Rechtsgebiet darauf ausgelegt ist, nicht nur Individualinter essen, sondern auch das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung zu fördern. Es kommt ihm sowohl eine individualschützende als auch eine überindividuelle Komponente zu. Die überindividuelle Komponente zeigt sich zunächst darin, dass das Nichtdiskriminierungsrecht das Ziel verfolgt, Angehörigen bestimmter Gruppen, die auf eine lange Historie an Benachteiligung zurückblicken müssen, Schutz vor Diskriminierung zu bieten.27 Dabei ist durchaus problematisch, Betroffene einer bestimmten Kategorisierung als Homosexuelle, Moslem oder Frau zuzuordnen, damit die speziellen Schutzvorschriften des Nichtdiskriminierungsrechts zur Anwendung kommen. Denn indem man die tradierte Kategorisierung übernimmt, trägt man sie weiter und verdeckt die Diversität, die innerhalb der Gruppen besteht.28 Baer fordert deshalb wider dem von ihr als „Gruppismus“29 bezeichneten Ansatz einen postkategorialen Ansatz,30 der ohne Rekurs auf Diskriminierung wegen des Geschlechts, der Abstammung, der sogenannten „Rasse“, etc. auskommt.31 Solange tatsächlich die Verbindung zwischen der schlechteren Behandlung einer Person und ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe gezogen wird, erscheint es mir allerdings weiterhin angezeigt, diesen Umstand auch als solchen zu benennen.32 Die überindividuelle Komponente des Nichtdiskriminierungsrechts, Angehörige bestimmter Gruppen zu schützen, geht in eine gesamtgesellschaftliche Komponente über. Es sollen die Bedingungen gewährleistet sein, unter denen alle Personen die gleichen Entfaltungsmöglichkeiten haben, unabhängig davon, ob ihnen bestimmte Merkmale zugeschrieben werden oder nicht. Das Nichtdiskriminierungsrecht ist darauf angelegt, überkommene Vorurteile und damit einhergehende Ungerechtigkeiten zu überwinden und einen gesellschaftlichen Wandel zu begleiten. Mit Hilfe des Nichtdiskriminierungsrechts soll ein inklu27
S. nur Neuner JZ 2003, 57 (58); Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit, 2000, S. 39 f. S. etwa Lembke/Liebscher in Philipp u. a. (Hrsg.), Intersektionelle Benachteiligung und Diskriminierung, 261 (273 ff.); Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit, 2000, S. 46. 29 Baer in Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.), Positive Maßnahmen, 23 (25 ff.). 30 Ebd., (33); s. auch Lembke/Liebscher in Philipp u. a. (Hrsg.), Intersektionelle Benachteiligung und Diskriminierung, 261 (283 ff.); Liebscher u. a. KJ 45 (2012), 204 ff.; ferner Hartmann EuZA 2019, 24 (31); differenziert bzgl. der Verwendung der Kategorie Geschlecht Völzmann JZ 2019, 381 (386 ff.). 31 Baer in Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.), Positive Maßnahmen, 23 ff. 32 Zumal die von Baer vorgeschlagene Bezeichnung des Antidiskriminierungsrechts als „Recht […] gegen Rassismus, … Recht gegen Sexismus“ (Baer in Heinrich-Böll-Stiftung [Hrsg.], Positive Maßnahmen, 23 [35]) nicht ohne einen Verweis auf die zu vergleichenden Gruppen auskommt, wenn es zu klären gilt, wer gegenüber wem rassistisch bzw. sexistisch diskriminiert wird. Gleichsinnig Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht, 2021, S. 341. 28
I. Nichtdiskriminierung im Privatrecht: Eine Verortung
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siveres Gesellschaftsmodell verwirklicht werden. Was mit dem transformativen Charakter des Nichtdiskriminierungsrechts beschrieben wird, kann auch anders gefasst werden: Es geht um die Verwirklichung des Gemeininteresses an „größerer Inklusivität“33, an Nichtdiskriminierung.34
3. Rechtlicher Rahmen Das in Deutschland geltende Nichtdiskriminierungsrecht setzt sich aus einer Vielzahl von Regelungen des Völkerrechts, Europarechts und nationalen Rechts zusammen und gilt als Paradebeispiel einer Regelungsmaterie im Mehrebenensystem.35 Es enthält Regelungen, die an den Staat adressiert sind. Hierzu zählen auf völkerrechtlicher Ebene Art. 1 Nr. 3 UNCh, Art. 14 EMRK, auf unionsrechtlicher Ebene Art. 2 EUV, Art. 20 ff. EUGRCh sowie Art. 18 AEUV und auf nationaler Ebene die speziellen Gleichheitssätze Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 GG, der sie leitende allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG sowie Art. 33 Abs. 2 GG.36 Zumindest einige dieser Regelungen, die an den Staat adressiert sind, können aber auch Wirkung zwischen Privaten entfalten, worauf im weiteren Verlauf des Kapitels noch genauer eingegangen werden wird.37 Weitere Gesetze des Nichtdiskriminierungsrechts stellen Handlungsvorgaben für das Verhalten Privater auf. Auf europäischer Ebene verpflichtet Art. 157 Abs. 1 AEUV Arbeitgeber direkt, Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen „bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit“ gleich zu entlohnen.38 Gestützt auf die Ermächtigung in Art. 157 Abs. 3 AEUV erließ die EU Richtlinien, um geschlechterbezogener Diskriminierung am Arbeitsplatz zu begegnen. Die konsolidierte Gleichbehandlungsrichtlinie (RL 2006/54/EG) trifft weitgehende Regelungen „zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen“.39 Sie wird komplementiert von der RL 2010/41/EU zur Verwirkli33
Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht, 2021, S. 222. Bayreuther NZA 2008, 986 (990); Grünberger, Personale Gleichheit, 2013, S. 738 f.; Looschelders JZ 2012, 105 (107); Mörsdorf, Ungleichbehandlung als Norm, 2018, S. 187; Neuner in Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht, 73 (80); ders. JZ 2003, 57 (58 f.); Lüttringhaus, Grenzüberschreitender Diskriminierungsschutz. Das internationale Privatrecht der Antidiskriminierung, 2010, S. 54, 276 f.; Raasch in Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.), Positive Maßnahmen, 12 (20); Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit, 2000, S. 23; ähnlich Klose in Cottier/Estermann/Wrase (Hrsg.), 347 (354): „Kultur der Antidiskriminierung“; distanzierte Darstellung bei Lobinger AcP 216 (2016), 28 (83 f.). 35 Vgl. Lobinger AcP 216 (2016), 28 (81). 36 Hierbei handelt es sich um eine nicht abschließende Aufzählung. 37 S. Kap. 5. II. 1. b). 38 Grundlegend zur direkten Anwendbarkeit EuGH, Rs. 43/75 – Defrenne II, Slg. 1976, 455, Rn. 21/24. 39 ABl. 2006 L 204/23. Sie konsolidiert die Vorschriften der Vorgänger-RL 75/117/EWG (ABl. 1975 L 45/19), 76/207/EWG (ABl. 1976 L 39/40), 2002/73/EG (ABl. 2002 L 269/15), 34
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Kapitel 5: Nichtdiskriminierung
chung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen, die eine selbständige Erwerbstätigkeit ausüben.40 Auf Grundlage des Art. 19 AEUV hat die EU weitere Nichtdiskriminierungs-RL erlassen. Bei ihnen handelt es sich um die Antirassismus-RL (RL 2000/43/ EG),41 die Diskriminierungen aufgrund von „Rasse“ oder ethnischer Herkunft verbietet, die Rahmen-RL (RL 2000/78/EG)42 mit einem Verbot von Diskriminierungen wegen Religionszugehörigkeit, Weltanschauung, Behinderung, Alter oder sexueller Identität in Beschäftigung und Beruf sowie die Gender-RL (RL 2004/113/EG),43 die das Gleichbehandlungsgebot im Hinblick auf das Geschlecht „beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen“ regelt.44 Als Richtlinien binden die angeführten Gesetze nur die Mitgliedstaaten. Doch mit dem AGG hat der deutsche Gesetzgeber die Richtlinien ins nationale Recht umgesetzt und einen Corpus privatrechtlicher Nichtdiskriminierungsgesetze geschaffen, der sich direkt auf die Rechtsbeziehungen zwischen Privaten bezieht.
II. Typisierung In den vorangegangenen Kapiteln zur Berücksichtigung des Gemeininteresses an Umweltschutz sowie des Gemeininteresses an der Förderung von Infrastruktur wurden Gesetze und Rechtsprechung dahingehend typisiert, in welcher Konstellation die Individualinteressen und das jeweilige Gemeininteresse aufeinandertrafen. Abweichend hiervon folgt die Typisierung für das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung der im Nichtdiskriminierungsrecht gängi-
86/378/EWG (ABl. 1986 L 225/40), 96/97/EG (ABl. 1997 L 46/20), 97/80/EG (ABl. 1998 L 14/6) und 98/52/EG (ABl. 1998 L 205/66), s. Anh. I Teil A der RL 2006/54/EG. 40 ABl. 2010 L 180/1. Der vollständige Titel lautet RL 2010/41/EU vom 7.7.2010 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen, die eine selbständige Erwerbstätigkeit ausüben, und zur Aufhebung der RL 86/613/EWG des Rates. Ferner gilt in diesem Regelungszusammenhang die RL 79/7/EWG des Rates zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit (ABl. 1979 L 6/24). 41 ABl. 2000 L 180/22. 42 ABl. 2000 L 303/16. 43 ABl. 2004 L 373/37. 44 Weiterführend zu den Nichtdiskriminierungs-RL Belavusau/Henrard (Hrsg.), EU Anti-Discrimination Law Beyond Gender, 2019; Bell, Anti-discrimination law and the European Union, 2002, S. 72 ff.; Mörsdorf, Ungleichbehandlung als Norm, 2018, S. 91 ff.; Zoppel, Europäische Diskriminierungsverbote und Privatrecht. Unionsrechtliche Vorgaben und Sanktionen, 2015, S. 34. – In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass der Draft Common Frame of Reference den Grundsatz der Nicht-Diskriminierung in seinem Abschnitt zum Vertragsrecht nennt (Art. II-2:101 ff.) und die Principles of the Existing EC Contract Law ihn in Art. 3:101 ff. aufführen.
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gen Untergliederung nach reaktiven (1.) und proaktiven Vorschriften (2.).45 Während reaktives Nichtdiskriminierungsrecht Ansprüche gegen vergangenes, diskriminierendes Verhalten gewährt, sucht proaktives Nichtdiskriminierungsrecht bestehende Diskriminierung mithilfe rechtlicher Instrumente vorausplanend abzubauen. Eine trennscharfe Unterscheidung der beiden Typen mag zwar nicht immer möglich sein, weil sich einerseits reaktive Diskriminierungsverbote verhaltenssteuernd auf zukünftiges Handeln auswirken können und andererseits manche nach reaktivem Diskriminierungsrecht gewährte Kompensation proaktiv-gestaltende Züge trägt. Nichtsdestotrotz hat die Untergliederung Mehrwert, da sie die im Grundsatz unterschiedlichen Ansatzpunkte verdeutlicht.46 Bei Durchsicht der Gesetzgebung und Rechtsprechung ist erkennbar, dass sowohl im reaktiven als auch im proaktiven Nichtdiskriminierungsrecht das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung bei der Regelung der Rechtsbeziehungen zwischen Privaten berücksichtigt wird.
1. Reaktives Nichtdiskriminierungsrecht Zu einer Verarbeitung des Gemeininteresses an Nichtdiskriminierung kommt es im reaktiven Nichtdiskriminierungsrecht, das sich mit dem Ausgleich für materielle und immaterielle Schäden aufgrund erlittener Diskriminierungen beschäftigt.47 Zu dem reaktiven Nichtdiskriminierungsrecht zugehörig zählen Vorschriften des AGG, aber auch verfassungsrechtliche Vorgaben, die in den Rechtsbeziehungen zwischen Privaten Wirkung entfalten. Da eine umfassende Auswertung aller privatrechtlichen Gleichheitsvorschriften unter dem Aspekt der Berücksichtigung des Gemeininteresses an Nichtdiskriminierung hier nicht geleistet werden kann,48 legt die Typisierung einen Fokus auf die Verarbeitung des Gemeininteresses in Gesetzgebung und Rechtsprechung zum allgemeinen Zivilrechtsverkehr. Dabei wird ersichtlich, dass Gesetzgeber und Rechtsprechung das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung verarbeiten, Gerichte jedoch nur vereinzelt in ihren Entscheidungen auf das Gemeininteresse Bezug 45 Diese Unterscheidung ziehen Fredman, Discrimination Law, 2002, S. 125 f.; Mangold, Demokratische Inklusion durch Recht, 2021, S. 230 f.; Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, 2. Aufl. 1996, S. 201. 46 Entscheidungen, die die personenstandsrechtliche Gleichbehandlung von Inter- und Intrasexuellen zum Gegenstand haben, werden nicht untersucht. Die Auslassung ist dem Umstand geschuldet, dass das Personenstandsrecht primär darauf angelegt ist, den Status Privater zu regeln (Gernhuber/Coester-Waltjen, Familienrecht, 7. Aufl. 2020, § 1 Rn. 25 ff.). Erst in der Folge zeitigen sich aus der Statusbestimmung Konsequenzen für die Rechtsbeziehungen zwischen Privaten, wie etwa im Eltern-Kind-Verhältnis. Damit unterscheiden sich die Fälle mit personenstandsrechtlichem Bezug vom hier interessierenden Fall der privatrechtlichen Regelung von Interessenkonflikten zwischen Privaten. 47 S. schon Kap. 5. II. 48 Zu der Vielzahl an einschlägigen Gesetzen s. Grünberger, Personale Gleichheit, 2013, S. 315 ff.
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nehmen (1.a)). Unterschiedlich deutlich gehen das BVerfG und der EuGH in Entscheidungen, aus denen sich eine eingeschränkte horizontale Wirkung des allgemeinen Gleichheitssatzes in den Rechtsbeziehungen zwischen Privaten ablesen lässt, auf das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung ein. Unabhängig von der Kenntlichkeit ihrer Bezugnahmen fördert die Rechtsprechung der beiden Gerichte aber das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung (1.b)). a) Das Diskriminierungsverbot im allgemeinen Zivilrechtsverkehr Das In-Kraft-Treten des AGG im Jahr 2006 markiert einen Wandel im Privatrecht: Mit den §§ 19–21 AGG enthält das deutsche Privatrecht erstmals Regelungen, gemäß derer Private bei „der Begründung, Durchführung und Beendigung zivilrechtlicher Schuldverhältnisse“ ausdrücklich zu diskriminierungsfreiem Verhalten verpflichtet sind. Während § 19 AGG ein Benachteiligungsverbot statuiert, benennt § 20 AGG ausnahmsweise zulässige unterschiedliche Behandlungen. § 21 AGG regelt – allerdings nicht abschließend49 – die Rechtsfolgenseite bei Verstößen gegen das Benachteiligungsverbot. Zuvor kamen Gesetze des BGB, allen voran die Generalklauseln, zur Anwendung, um Diskriminierung zwischen Privaten zu adressieren.50 Nach der jetzigen Rechtslage ist das AGG neben dem BGB anwendbar.51 Sichtet man die Rechtsprechung, die seit In-Kraft-Treten des AGG zum Diskriminierungsverbot im allgemeinen Zivilrechtsverkehr ergangen ist, finden sich Entscheidungen, die im Rahmen einer Prüfung der §§ 19 ff. AGG und der ihnen zugrundeliegenden Richtlinien oder bei einer Prüfung an Vorgaben des BGB auf das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung eingehen. Zu dieser Gruppe gehören Entscheidungen in den Bereichen Mietrecht (cc)), Hausverbote (dd)), Recht der Energieversorgung (ee)) und Versicherungsrecht (ff)). Hingegen thematisieren Entscheidungen zum Bankenrecht (aa)) und zum Recht des Scorings (bb)) eine Berührung des Gemeininteresses an Nichtdiskriminierung nicht, obwohl sich eine Berücksichtigung angeboten hätte. aa) Bankenrecht Soweit ersichtlich gingen Zivilgerichte im Bankenrecht bislang nicht auf das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung ein, wenngleich sich eine Berücksichtigung in bestimmten Fällen angeboten hätte. Dabei ist zunächst an ein Urteil aus dem Jahr 2018 zu denken, in dem sich der BGH mit der Personenbezeichnung auf Formularvordrucken einer Sparkasse befasste.52 Eine Sparkas49 In § 21 AGG nicht geregelt ist, ob gegen das Benachteiligungsverbot verstoßende Verträge nichtig sind, s. hierzu Kap. 5. III. 3. b). 50 Zur alten Rechtslage s. etwa Bezzenberger AcP 196 (1996), 395 (insbes. 421 ff.). 51 S. insbes. § 21 Abs. 3 AGG: „Ansprüche aus unerlaubter Handlung bleiben unberührt“. 52 BGHZ 218, 96. Besprechungen etwa in der FAZ vom 13.3.2018, (https://www.faz.net/
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senkundin begehrte von ihrer Sparkasse, deren Formulare dahingehend abzuändern, dass neben der männlichen Form „Kontoinhaber“ die weibliche Form „Kontoinhaberin“ genannt werde. Der BGH wies das Klagebegehren der Kundin unter jeder von ihm in Betracht gezogenen Anspruchsgrundlage zurück. Unter anderem verneinte er einen Anspruch auf die Formularänderung aus § 21 Abs. 1 GG, weil es schon an einer „weniger günstige[n] Behandlung“53 der Sparkassenkundin im Vergleich zu männlichen Sparkassenkunden fehle. Aus der Sicht eines verständigen Dritten, auf die es ankomme, läge schon keine Benachteiligung der Kundin vor.54 Die Verwendung des generischen Maskulinums entspreche dem allgemeinen Sprachgebrauch.55 Somit schloss der BGH in seiner Entscheidung vom allgemeinen Sprachgebrauch auf das Fehlen einer Ungleichbehandlung. Mit der linguistischen Erkenntnis, dass der Gebrauch von Sprache die Wahrnehmung von Realität prägt, setzte er sich nicht intensiver auseinander.56 Vor dem Hintergrund dieser Auslassung ist dann auch erklärlich, dass der BGH auch das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung in seiner Prüfung eines Anspruchs gemäß § 19 Abs. 1 AGG nicht erwähnte. Die Überlegung, dass ein Gendern der Formularvordrucke der Gleichberechtigung von Mann und Frau förderlich sein könnte, tritt in den Entscheidungsgründen nicht zum Vorschein. Auch in der weiteren Urteilsbegründung griff der BGH nicht auf, dass das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung die Position der Klägerin in ihrem Begehren einer Änderung der Formularvordrucke stärken könne. Vielmehr verneinte der BGH einen Anspruch aus Art. 3 Abs. 1, 2 und 3 S. 1 GG, wiederum mit Hinweis auf eine fehlende Ungleichbehandlung.57 In einem Urteil aus dem Jahr 2013, in dem der BGH entschied, dass eine Bank einen Girovertrag ohne Angabe von Gründen kündigen dürfe,58 ging er ebenfalls nicht auf das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung ein, obgleich eine Auseinandersetzung mit dem Gemeininteresse nahe lag. In dem zur Verhandlung stehenden Fall stand die Vermutung im Raum, dass eine Bank ihrer Kundin, einem Verlag mit rechtsextremen Titeln,59 wegen ihrer politischen Ausaktuell/finanzen/meine-finanzen/sparen-und-geld-anlegen/in-formularen-darf-auf-weib liche-kundenansprache-verzichtet-werden-15491458.html, letzter Abruf: 8.2.2022) und der SZ vom 13.3.2018 (https://www.sueddeutsche.de/panorama/bgh-urteil-sparkasse-gender1.3903724, letzter Abruf: 8.2.2022). 53 BGHZ 218, 96 (Rn. 30). 54 Ebd., (Rn. 31 ff.). 55 Ebd., (Rn. 35 ff.). 56 Zutreffend Grünberger JZ 2018, 719 (721 ff.); gleichsinnig wenn auch weniger krit. Bachmann NJW 2018, 1648 f. 57 BGHZ 218, 96 (Rn. 47 f.). Da es sich bei einer Sparkasse um eine Anstalt des öffentlichen Rechts handelt, ist sie unmittelbar an die Grundrechte gebunden. Auf die umstrittene Frage, inwieweit Art. 3 GG Wirkung zwischen Privaten entfaltet, musste der BGH daher nicht eingehen. 58 BGH NJW 2013, 1519. 59 Diese Informationen finden sich im Urteil des BGH genauso wie in den Urteilen der
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richtung gekündigt hatte. Einen Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot des § 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG lehnte der BGH mit wenigen Worten ab, da die Weltanschauung nicht zu den in § 19 Abs. 1 AGG genannten Merkmalen zählt. Außerdem verneinte der BGH eine Treuwidrigkeit der Kündigung wegen Verstoßes gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB). Speziell in Hinblick auf die politische Ausrichtung der Klägerin nahm der BGH an, dass die Bank bei ihrer Kündigung des Girovertrages die Interessen der Klägerin ausreichend berücksichtigt habe. Er führte aus: „Eine Kündigung war auch nicht auf Grund einer mittelbaren Drittwirkung des Art. 3 Abs. 3 GG treuwidrig […] Abgesehen davon, ob die Klägerin als Kapitalgesellschaft nach Art. 19 Abs. 3 GG überhaupt spezielle Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 GG für sich in Anspruch nehmen könnte, reicht die Ausstrahlungswirkung des Art. 3 Abs. 3 GG unabhängig davon, ob ihr im Wege der mittelbaren Drittwirkung eine im Vergleich zum allgemeinen Gleichheitssatz größere Durchschlagskraft zukommt … nicht so weit, dass die Beklagte bei ihrer Entscheidung über den Fortbestand des Girovertrags nicht die politischen Auffassungen ihres Vertragspartners berücksichtigen durfte.“60
Mit seinen Ausführungen nahm der BGH Bezug auf vorangegangene Entscheidungen, in denen er Kontokündigungen für nichtig erklärte hatte, die eine Sparkasse bzw. eine Postbank gegen die rechtsextremen Parteien NPD und Die Republikaner ausgesprochen hatten. 61 Damals begründete der BGH seine Urteile damit, dass die Sparkasse als Anstalt des öffentlichen Rechts und die Postbank als privatrechtliches Unternehmen im Alleinbesitz des Staates unmittelbar an das Willkürverbot aus Art. 3 Abs. 1 GG gebunden sind und Parteien, die das BVerfG nicht für verfassungswidrig erklärt hat, nicht benachteiligen dürfen.62 An der Argumentation des BGH in seiner Entscheidung zur Kündigung des Verlagskontos ist aus nichtdiskriminierungsrechtlicher Perspektive nun zweierlei bemerkenswert: Erstens zog der BGH eine Bindung Privater an den speziellen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 3 GG im Wege der mittelbaren Drittwirkung in Erwägung.63 Zweitens stellte der BGH ausschließlich auf die Interessen von Bank und Verlag als Parteien des Rechtsstreits ab. Die politische Dimension des Vorinstanzen (LG Bremen Urt. v. 6.1.2011 – Az. 2 O 2150/09 [BeckRS 2013, 2276] und OLG Bremen WM 2012, 1239) nur andeutungsweise wieder. Für den Kontext s. SZ vom 15.1.2013, Commerzbank darf Rechtsextremen kündigen (https://www.sueddeutsche.de/geld/urteil-commerzbank-darf-rechtsextremen-kuendigen-1.1573920, letzter Abruf: 8.2.2022). 60 BGH NJW 2013, 1519 (1521, Nachweise des Originals weggelassen). In dem Abschnitt, der dem Zitat voransteht, hatte der BGH bereits ausgeführt, dass im konkreten Fall eine Geltung des Art. 3 Abs. 1 GG in der Rechtsbeziehung zwischen Bank und Kontoinhaberin ausscheide. Es fehle an einem sozialen Machtverhältnis zwischen den Parteien. Das sei aber erforderlich, wolle man über eine mittelbare Drittwirkung des Art. 3 Abs. 1 GG nachdenken (s. BGH NJW 2013, 1519 [1521]). 61 BGHZ 154, 146 und BGH NJW 2004, 1031. 62 BGHZ 154, 146 (150 f.); BGH NJW 2004, 1031. 63 S. hierzu noch Kap. 5. I. 1. b) cc).
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Falles und seine Bezüge zum Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung adressierte er jedenfalls nicht in den veröffentlichten Urteilsgründen. Weder ging er darauf ein, dass es mit Konsequenzen für die gleichberechtigte Teilhabe am demokratischen Meinungsbildungsprozess einhergeht, wenn Personen, die bestimmte politische Anschauungen vertreten, der Zugang zu Bankkonten erschwert wird. Noch setzte er sich damit auseinander, dass sich gerade ein Verlag, der mit seinen Titeln gegen eine Gesellschaft Gleichberechtigter agitiert, auf das Benachteiligungsverbot berief. Zusammenfassend lässt sich an den beiden bankenrechtlichen Urteilen ablesen, dass der BGH davon absieht, auf Art. 3 Abs. 3 GG abzustellen, um zwischen Privaten wirkende Diskriminierungsverbote zu begründen. Es ist außerdem erkennbar, dass einer Thematisierung des Nichtdiskriminierungsrechts als Mittel zur Förderung des Gemeininteresses an Nichtdiskriminierung trotz naheliegender Bezüge ausgewichen wurde. bb) Recht des Scorings In der Rechtsprechung zu Diskriminierung durch Scoring ist eine vertiefte Auseinandersetzung mit den Bezügen des Scorings zum Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung bislang ebenfalls nicht anzufinden. Beim Scoring wird die Kreditwürdigkeit einer Person bewertet, indem personenbezogene Daten mittels einer Scoreformel in einen Wahrscheinlichkeitswert ihrer Bonität umgerechnet werden. 64 In Konflikt mit nichtdiskriminierungsrechtlichen Vorgaben gerät Scoring einerseits, wenn es vom Benachteiligungsverbot erfasste Merkmale wie zugeschriebene Rasse, Geschlecht, Alter oder Behinderung in die Bewertung direkt einfließen lässt, andererseits, wenn es seinen Algorithmus mit Aspekten wie Wohnort, Regelmäßigkeit von Auslandsaufenthalten oder Anzahl an Arztbesuchen füttert. Denn dann kann es zu mittelbaren Diskriminierungen kommen. Die beim Scoring erfolgende Datenauswertung birgt mithin die Gefahr, großen Teilen der Gesellschaft aufgrund bestimmter Merkmale oder ihrer Proxies gleichberechtigte ökonomische Chancen für ein gelingendes Leben vorzuenthalten. Bisher hat der BGH noch nicht über die Vereinbarkeit von Scoring mit Diskriminierungsverboten entschieden. 65 Auf Ebene der Obergerichte wurde die Thematik jedoch bereits an das OLG München herangetragen. 66 Eine Frau hatte gegen die SCHUFA auf Unterlassen, Auskunft und Schadensersatz ge64 Bekanntestes Beispiel ist die Bonitätsauskunft der SCHUFA, doch ermöglichen big data-Analysen großen Anbietern, insbesondere Onlinehändlern, schon jetzt, eigenständig Scores zu errechnen. 65 Ebenfalls noch nicht abschließend geklärt ist die datenschutzrechtliche Behandlung von Scoring-Diensten; s. hierzu etwa Beckhusen, Der Datenumgang innerhalb des Kreditinformationssystems der SCHUFA, 2004, S. 102 ff.; Moos/Rothkegel ZD 2016, 561 (562 f., 566 ff.). 66 OLG München ZD 2014, 570.
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klagt und ihr Klagebegehren unter anderem darauf gegründet, dass ihr Geschlecht bei der Bewertung ihrer Kreditwürdigkeit berücksichtigt worden war. Ihre Berufung gegen die erstinstanzliche Klageabweisung blieb erfolglos. Einen Anspruch der Klägerin aus § 21 Abs. 1 S. 2 AGG, gemäß dem die SCHUFA die Berücksichtigung ihres Geschlechts zu unterlassen habe, lehnte das OLG München ab. Zwischen Klägerin und SCHUFA bestehe schon kein zivilrechtliches Schuldverhältnis i. S. des § 19 AGG und „[z]ur Erbringung ihres Leistungsspektrums ist die Beklagte zudem unstreitig gegenüber Männern und Frauen gleichermaßen bereit.“67 Einen gleichgerichteten Anspruch gemäß §§ 823 Abs. 1, 1004 BGB wegen Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts verneinte das OLG München ebenfalls. Eine Benachteiligung von Frauen bei der ScoreBerechnung könne nicht festgestellt werden, denn nach der Rechtsprechung des BGH68 sei die SCHUFA nicht verpflichtet, ihre „Scoreformel“ (abstrakte Methode der Scorewertberechnung) mitzuteilen. Die daraus resultierende Ungewissheit, wie das Kriterium Geschlecht den Score beeinflusst, treffe wiederum Männer und Frauen gleichermaßen. 69 In dem Urteil finden sich keine Aussagen, die auf die überindividuelle Komponente des Diskriminierungsrechts eingehen. Angesichts der Entscheidungsgründe könnte man annehmen, dass Gericht habe die potenziell diskriminierende Wirkung von Scoring-Diensten verkannt. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass es sich bewusst für eine formale Leseart der § 19 AGG und §§ 823 Abs. 1, 1004 BGB entschied, um eine tiefgehende Diskussion über die Rechtmäßigkeit von Datensammeln, Datenauswertung und die damit einhergehende Klassifikation von Personen zu vermeiden.70 cc) Mietrecht Ein ähnlicher Befund ergibt sich bei Durchsicht der bisher ergangenen Rechtsprechung zum Mietrecht unter dem AGG. Hier wird eine Berührung des Gemeininteresses an Nichtdiskriminierung lediglich als ergänzender Faktor bei 67
Ebd., (572). BGHZ 200, 38 (Rn. 27). 69 In diesem Zusammenhang ist zudem auf das Urteil des AG München vom 13.4.2016 – Az. 171 C 28560/15 (juris) hinzuweisen. Ihm lag der Sachverhalt zugrunde, dass ein Teleshoppingsender einer 84-Jährigen aufgrund ihres Alters die Möglichkeit einer Teilzahlung versagte. Das Begehren der alten Dame auf Zahlung einer angemessenen Entschädigung gemäß § 21 Abs. 2 S. 3 AGG wies das Gericht ab. Eine unterschiedliche Gewähr von Zahlungsmöglichkeiten, die abhängig vom Alter der Kunden ist, sei jedenfalls sachlich gerechtfertigt. Es bestehe das Risiko eines erhöhten Verwaltungsaufwands, wenn sich der Teleshoppingsender nach einem etwaigen Ableben der Bestellerin mit dem oder den Erben über ausstehende Raten auseinanderzusetzen habe. 70 Dies ist insofern nachvollziehbar, als ein solches Vorgehen auch mit einer intensiven datenschutzrechtlichen Beurteilung verbunden gewesen wäre und der BGH in seiner Überprüfung der Scoreformel der SCHUFA (BGHZ 200, 38) richterliche Selbstbeschränkung walten ließ. 68
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der Bestimmung einer angemessenen Entschädigung erwähnt.71 Zudem spielt das AGG bislang keine herausgehobene Rolle.72 Gerichte haben sich in der Vergangenheit anderer Gesetze, wie etwa § 242 BGB, bedient73 oder eine AGB-Kontrolle durchgeführt,74 um Diskriminierungen am Wohnungsmarkt zu begegnen. Ein auf § 831 BGB gestütztes Urteil75 verdeutlicht, dass sie dies bisweilen immer noch tun. Auf oberlandesgerichtlicher Ebene setzten sich – soweit ersichtlich – innerhalb des zeitlichen Anwendungsbereichs des AGG das OLG Köln und das OLG Düsseldorf mit Diskriminierungen bei der Wohnraumvermietung aus einander.76 Das OLG Köln sprach einem Kläger einen Entschädigungsanspruch gegen die beklagte Wohnungsverwaltung wegen Verletzung seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts zu, weil die Hausmeisterin des zur Vermietung anstehenden Objekts ihn mit den Worten abgewiesen hatte „Die Wohnung wird nicht an Neger, äh … Schwarzafrikaner und Türken“ vermietet. Den Anspruch stützte das Gericht auf § 831 BGB, so dass es nicht auf die Frage eingehen musste, inwiefern „eine Person […], die nicht Anbieter der begehrten vertraglichen Leistung und potenzieller Vertragspartner der Geschädigten ist“77, vom subjektiven Anwendungsbereich des § 19 AGG erfasst ist.78 Das OLG Düsseldorf wiederum gewährte Schadensersatz und angemessene Entschädigung in Geld in einem Fall, in dem es zu der Überzeugung gelangt war, dass der Vermieter einen Mietinteressenten aufgrund seiner ethnischen Herkunft diskriminiert hatte.79 In seiner Urteilsbegründung streifte es den Aspekt des Gemeininteresses an Nichtdiskriminierung. Es erwähnte ihn bei 71 OLG Düsseldorf FD-MietR 2018, 404380; AG Tempelhof-Kreuzberg WuM 2015, 73 (77 f.); LG Köln NJW 2016, 510 (512); LG Mönchengladbach Urt. v. 27.5.2016 – Az. 11 O 99/15, Rn. 68 (juris). 72 Dies mag erstaunen, wenn man bedenkt, mit welcher Vehemenz vor der Verabschiedung des Gesetzes darüber diskutiert wurde, unter welchen Umständen Vermieter chancengleichen Zugang zu Wohnraum ermöglichen müssen (s. etwa Picker JZ 2003, 540 [542]; ders. in Egon Lorenz [Hrsg.], Karlsruher Forum 2004: Haftung wegen Diskriminierung nach derzeitigem und zukünftigem Recht, 7 [65]). Die geringe Anzahl veröffentlichter Entscheidungen erklärt sich, wenn man die weitreichenden Ausnahmen vom Benachteiligungsverbot bei der Vermietung von Wohnraum in den Blick nimmt. So ist gemäß § 19 Abs. 3 AGG „im Hinblick auf die Schaffung und Erhaltung sozial stabiler Bewohnerstrukturen und ausgewogener Siedlungsstrukturen sowie ausgeglichener wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Verhältnisse“ eine unterschiedliche Behandlung von Mietinteressenten erlaubt und § 19 Abs. 5 AGG besagt explizit, dass in der Regel das Benachteiligungsverbot keine Anwendung finden soll, wenn der Vermieter selbst auf dem für die Vermietung gedachten Grundstück lebt oder „insgesamt nicht mehr als 50 Wohnungen vermietet“. 73 LG Bückeburg Urt. v. 6.11.2013 – Az. 1 S 38/13, Rn. 18 ff. (juris). 74 AG Nürnberg WuM 1984, 295 (296). 75 OLG Köln NJW 2010, 1676. 76 Ebd.; OLG Düsseldorf FD-MietR 2018, 404380. 77 OLG Köln NJW 2010, 1678 (Anm. der Schriftleitung). 78 Vgl. Staudinger/Serr, 2020, § 19 AGG Rn. 60 ff.; Derleder NZM 2009, 310 (311 f.). 79 OLG Düsseldorf FD-MietR 2018, 404380.
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der Bemessung der Entschädigung, für die es „die Grundsätze des Geldentschädigungsanspruchs bei Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts“ heranzog.80 Dabei stellte es auf den Präventionsgedanken81 ab, laut dem die Entschädigung so hoch bemessen sein soll, dass sie in Hinblick auf zukünftige Verstöße gegen das Benachteiligungsverbot abschreckend wirkt. Schließlich ist bei der Untersuchung mietrechtlicher Fälle mit Nichtdiskriminierungsbezug auf einige ausgewählte erstinstanzliche Urteile einzugehen: Das LG Köln hatte einen Fall zu entscheiden, in dem ein Vermieter, dessen Geschäftsmodell darin bestand, seine private Villa tageweise für Festivitäten zu vermieten, eine Vermietung an ein gleichgeschlechtliches Paar abgelehnt hatte.82 Das Gericht sprach dem Paar eine billige Entschädigung in Geld gemäß § 21 Abs. 2 S. 1, 3 AGG zu. Bei der Bemessung der Entschädigung führte das Gericht ebenfalls den Präventionsgedanken an. Die Entschädigung sei so hoch anzusetzen, dass „Verhaltenssteuerung durch Androhung zivilrechtlicher Ansprüche im Falle einer rechtswidrigen Diskriminierung bewirk[t]“83 werde. Mit gleichsinniger Argumentation gewährten das LG Mönchengladbach84 und das AG Tempelhof-Kreuzberg85 Entschädigungsansprüche. Das LG Bückeburg86 wiederum sprach dem Kläger einen Schadensersatzanspruch gegen seinen Rechtsanwalt zu, weil dieser – entgegen nichtdiskriminierungsrechtlicher Vorgaben – den Mieter des Klägers aufgefordert hatte, für einen griechischen Imbiss einen Ersatzmieter griechischer Nationalität zu finden. Das mit der Rechtssache befasste Gericht sah die Pflichtverletzung des Rechtsanwalts darin, dass er seinen Mandanten nicht über eine Rechtsprechungslinie aufgeklärt habe, die sich seit den 1970er Jahren gefestigt habe.87 Demnach verstoßen Vermieter gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB), wenn sie ihnen vorgeschlagene Nachmieter mit der bloßen Begründung ablehnen, sie wollten nicht an Ausländer bzw. bestimmte Ausländergruppen vermieten.88 80 Ebd. 81 Ebd.
82 LG Köln NJW 2010, 510. Für eine ausführliche Besprechung der in dem Fall aufgeworfenen Fragen, inwiefern der Anwendungsbereich des § 19 AGG in dieser Konstellation eröffnet ist und welche Rechtfertigungen der Ablehnung beachtlich sein könnten, s. Grünberger in Kempny/Reimer (Hrsg.), Gleichheitssatzdogmatik heute, 5 (18 ff.). Ebenfalls nur hingewiesen werden kann auf den Umstand, dass ähnliche Klagen gleichgeschlechtlicher Paare gegen Diskriminierung durch Private in ausländischen Rechtsordnungen die Obersten Gerichte erreichen. Für Großbritannien s. Bull & Bull v Hall & Preddy [2013] UKSC 73, besprochen von Weller/Grethe ZEuP 2015, 606; für die USA s. Masterpiece Cakeshop v. Colorado Civil Rights Commission, 584 U.S. _ (2018). 83 LG Köln NZM 2016, 165 (167). 84 LG Mönchengladbach Urt. v. 27.5.2016 – Az. 11 O 99/15, Rn. 68 (juris). 85 AG Tempelhof-Kreuzberg WuM 2015, 73 (77 f.). 86 LG Bückeburg Urt. v. 6.11.2013 – Az. 1 S 38/13 (juris). 87 Ebd. mit Referenz auf OLG Frankfurt a. M. MDR 2000, 1005; LG Saarbrücken WuM 1995, 313; LG Hannover WuM 1977, 223. 88 LG Bückeburg Urt. v. 6.11.2013 – Az. 1 S 38/13, Rn. 18 ff. (juris). – Ferner ist auf das
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Wie sich an den Urteilen ablesen lässt, verarbeiten Gerichte hin und wieder die Berührung des Gemeininteresses an Nichtdiskriminierung in ihren mietrechtlichen Entscheidungen. Dies geschieht nicht ausschließlich bei Beurteilungen anhand des Diskriminierungsverbots nach dem AGG, sondern auch bei Prüfungen an Vorgaben des BGB. Dabei dient die Bezugnahme auf das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung vor allem der ergänzenden Begründung der Entscheidungen. dd) Hausverbote In der Rechtsprechung zu Hausverboten wird das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung unterschiedlich stark und unterschiedlich offen verarbeitet. Obwohl eine Erwähnung sich angeboten hätte, ging der BGH in einem Urteil darüber, ob ein Hotelier dem damaligen NPD-Vorsitzenden Hausverbot erteilen durfte, 89 nicht auf die Berührungspunkte des Falles mit dem Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung ein. Der BGH urteilte, dass der Hotelier nicht unter Hinweis auf die politische Überzeugung des unerwünschten Gastes kündigen dürfe, soweit ein Vertrag zwischen dem Hotelier und dem Vorsitzenden der rechtsextremistischen Partei bereits zu Stande gekommen sei. Für die Zukunft dürfe der Hotelier ihm den Zutritt jedoch verweigern. In den Worten des BGH: „Selbst wenn der Regelung des Art. 3 Abs. 3 GG auch im Verhältnis zwischen Privaten ein besonderes Gewicht beizumessen wäre, führte dies nicht dazu, dass sich das Interesse des Klägers, nicht auf Grund seiner politischen Überzeugung durch die Erteilung eines Hausverbots benachteiligt zu werden, bei der gebotenen Abwägung gegenüber den ebenfalls grundrechtlich geschützten Interessen der Beklagten durchsetzte.“90
Wie in seiner Entscheidung zur Kündigung des Girokontos einer Kundin mit rechtsextremer Ausrichtung verneinte der BGH mit kurzer Begründung den sachlichen Anwendungsbereich des AGG.91 Auch ging er in den veröffentlichten Urteilsgründen nicht auf den Umstand ein, dass der Schutz vor Diskriminierung begehrende Kläger selbst eine politische Anschauung verfolgt, die sich ausdrücklich gegen eine Gesellschaft Gleichberechtigter richtet.92 Urteil des LG Münster NZM 2010, 95 hinzuweisen. Das LG Münster verneinte den Mangel einer verkauften Eigentumswohnung. Der Kläger sah den Mangel darin begründet, dass sich im Nachbargarten des Öfteren ein Kind mit Autismus aufhielt. Eine Hinweispflicht des Verkäufers lehnte das Gericht unter anderem mit dem Verweis darauf ab, dass eine solche Pflicht Menschen mit Behinderung benachteilige und der Personengruppe „der besondere Schutz der Gesellschaft“ wie des Rechts zukomme (ebd., 96). Obwohl das Urteil kauf- und nicht mietrechtliche Bezüge aufwies, findet es sich in inhaltlicher Nähe zu den hier behandelten Entscheidungen. Denn auch hier ging es um die rechtliche Bewertung von Diskriminierungen in Wohnverhältnissen. 89 BGH JZ 2012, 686. 90 Ebd., Rn. 27; bestätigt in BVerfG, JZ 2019, 1103. 91 BGH JZ 2012, 686 (Rn. 9). 92 Ebenfalls krit. Grünberger/Washington JZ 2019, 1104 (1107).
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Hausverboten nahe stehen Fälle, in denen der Einlass in Diskotheken oder der Zutritt zu Veranstaltungen verwehrt wird. Bei diesen ist eine Verarbeitung des Gemeininteresses in unterschiedlicher Intensität anzutreffen. Unempfänglich für die Berücksichtigung des Gemeininteresses zeigte sich der BGH in einem Fall, in dem ein Mann Entschädigung begehrte, weil ihm aufgrund seines Alters der Zugang zu einer Musikveranstaltung verwehrt worden war. Der BGH urteilte, dass die Zugangsverweigerung nicht gegen das Diskriminierungsverbot des § 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG verstoßen habe.93 Insbesondere habe es sich bei der Musikveranstaltung nicht um ein Massengeschäft i. S. des § 19 Abs. 1 Nr. 1 AGG gehandelt, welches „typischerweise ohne Ansehen der Person […] in einer Vielzahl von Fällen zustande komme.“ Der Charakter eines Geschäfts als Massengeschäft sei mit Rücksicht auf die Verkehrssitte zu ermitteln.94 Es sei nun keine Verkehrssitte feststellbar, nach der jedermann ohne Ansehung seines Alters Zutritt zu einer Musikveranstaltung wie der, die den Ausgangspunkt des Verfahrens bildete, erhalte.95 In seiner Argumentation ging der BGH nicht nur nicht auf das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung oder das transformative Potenzial des Nichtdiskriminierungsrechts ein. Mit dem Abstellen auf die Verkehrssitte zur Bewertung, ob ein Geschäft „ohne Ansehen der Person […] zustande komme“ öffnet er gar die Tür für eine Absicherung eines diskriminierenden status quo, der von den Verkehrssitten erfasst ist.96 Eine geringfügig stärkere Beachtung schenkte das OLG Stuttgart dem Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung, als es eine angemessene Entschädigung für einen Verstoß gegen das Antidiskriminierungsverbot bemaß.97 Das Gericht stellte in einem Fall des versagten Einlasses in eine Diskothek die Diskriminierung des Klägers aufgrund seines Geschlechts und seiner Hautfarbe fest;98 wohlgemerkt, ohne, dass die Hautfarbe ein im AGG erwähntes Merkmal ist. Es sprach dem Kläger einen Anspruch auf Unterlassen (§ 21 Abs. 1 S. 2 AGG) sowie auf Entschädigung (§ 21 Abs. 2 S. 3 AGG) zu.99 Bei der Bemessung der Entschädigung heißt es in den Urteilsgründen, dass das Europarecht die „abschreckende Wirkung“ von Entschädigungen für erlittene Diskriminierungen fordere.100 In Hinblick auf die Funktion der Entschädigung, zukünftiges Verhalten zu steuern, führte das Gericht aus: „Generalpräventive Erwägungen dürfen nicht dazu führen, dass die Diskriminierung zu einem ‚Geschäft‘ für den Benachteiligten wird. ‚Uferlosen‘ Entschädigungsansprüchen 93
BGH NJW 2021, 2514. BGH NJW 2021, 2514 (2515 f.). 95 BGH NJW 2021, 2514 (2516). 96 S. auch Armbrüster JZ 2021, 1013 (1015); Grünberger NJW 2021, 2517. 97 OLG Stuttgart NJW 2012, 1085; weitere veröffentlichte Urteile AG Bremen NJW-RR 2011, 675 (676); AG Oldenburg Urt. v. 23.7.2008 – Az. E2 C 2126/07 (V) (BeckRS 2008, 21531). 98 OLG Stuttgart NJW 2012, 1085 (1086). 99 OLG Stuttgart NJW 2012, 1085. 100 Ebd., (1086). 94
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nach dem AGG ist dadurch vorzubeugen, dass bei der Festsetzung der Entschädigung das Verhältnis zur Höhe von Schmerzensgeldansprüchen wegen einer Körperverletzung oder einer Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gewahrt wird.“101
Letzter Gesichtspunkt war dem OLG Stuttgart so wichtig, dass es ihn zu einem Leitsatz erklärte. Dies verdeutlicht, mit welcher Distanz sich das OLG Stuttgart einer generalpräventiven Wirkung des Nichtdiskriminierungsrechts näherte: Es erkannte an, dass es ein Zweck des AGG sei, zukünftiges Verhalten dahingehend zu steuern, dass auch das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung gefördert werde, nur um die Bedeutung der Generalprävention im nächsten Satz zu begrenzen. Dafür wies es auf ein etwaiges Missbrauchspotenzial hin. Die Ausführungen des OLG Stuttgart zum Verhältnis von Schmerzensgeldansprüchen gemäß des AGG und solchen wegen Körperverletzung oder Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts deuten darauf hin, dass es ersten Zweck als den beiden anderen untergeordnet erachtet.102 ee) Energieversorgungsrecht Anders als die deutschen Zivilgerichte nimmt der EuGH in seiner Rechtsprechung explizit auf das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung Bezug. So war der EuGH in der Rechtssache CHEZ103 angerufen, über die Europarechtskonformität der Praxis eines bulgarischen Energieversorgungsunternehmens zu entscheiden. Nach der Praxis waren in einem Stadtteil von Dupnitsa, in dem hauptsächlich Roma wohnen, die Stromzähler eines jeden Energiekunden in einer Höhe von sechs bis sieben Metern installiert. In anderen Stadteilen mit abweichender Bevölkerungszusammensetzung befanden sich die Zähler auf einer Höhe von etwa 1,70 Metern. Eine Kundin, der es nicht möglich war, ohne weiteres den Stromzähler ihres Lebensmittelgeschäfts abzulesen, sah darin eine von der Antirassismus-RL104 verbotene Benachteiligung. Das Besondere an dem Fall war, dass die Kundin selbst nicht der Ethnie der Roma angehörte; eine etwaige Benachteiligung ihrer Person jedoch im Zusammenhang mit der Tatsache stand, dass sie ihr Geschäft in einem von Roma bewohnten Stadtteil betrieb. Der EuGH urteilte, dass der „Begriff der ‚Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft‘ […] unterschiedslos anzuwenden ist, gleichviel ob die fragliche Maßnahme Personen einer bestimmten ethnischen Herkunft oder Personen anderer Herkunft betrifft, die durch diese Maßnahme
101 Ebd.
102 Dies ist problematisch, da Schmerzensgeldansprüche für geringe, fahrlässige Körperverletzungen denkbar sind, die in ihrer Höhe niedriger anzusetzen sind als solche für eklatante Diskriminierungen nach dem AGG. 103 EuGH, Rs. C-83/14 – CHEZ, ECLI:EU:C:2015:480. 104 RL 2000/43/EG (ABl. 2000 L 180/22).
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zusammen mit Ersteren weniger günstig behandelt oder in besonderer Weise benachteiligt werden.“105
Auf die Vorlagefrage hin, ob es sich bei der Praxis um eine unmittelbare Diskriminierung der Kundin, die selbst nicht der Gruppe der Roma angehörte, handelte, antwortete der EuGH, dass dies zu bejahen sei, wenn das nationale Gericht zu der Überzeugung gelange, dass die Installation der Stromzähler auf unterschiedlichen Höhen „aus Gründen eingeführt und/oder beibehalten wurde, die mit der ethnischen Herkunft des überwiegenden Teils der Bewohner des betroffenen Stadtteils zusammenhängen.“106 Bei beiden Punkten – der Definition der Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft sowie der Klassifizierung als unmittelbarer Diskriminierung – betonte der EuGH, dass eine weite Auslegung der Unionsbestimmungen geboten sei, um das mit ihnen verfolgte Ziel der Gleichbehandlung zu verwirklichen.107 Er hob hervor, dass das Diskriminierungsverbot darauf ausgelegt sei, eine gleichberechtigte Teilhabe in „demokratische[n] und tolerante[n] Gesellschaften“ zu ermöglichen.108 Angesichts der Besonderheiten der Rechtssache CHEZ ist Vorsicht angezeigt, wenn man allgemeine Schlüsse aus dem Urteil ziehen möchte. Jedoch lässt sich der Argumentation des EuGH Folgendes entnehmen: Der EuGH stellt auf das Ziel der Förderung des Gemeininteresses an Nichtdiskriminierung ab, um eine weite Interpretation der Antirassismus-RL zu stützen. ff) Versicherungsrecht Ähnlich deutlich wie in seiner Entscheidung CHEZ nahm der EuGH im Versicherungsrecht auf das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung Bezug. In der Rechtssache Test-Achats109 war er angerufen, darüber zu entscheiden, ob Art. 5 Abs. 2 RL 2004/113 mit europäischem Primärrecht vereinbar ist. Besagter Artikel eröffnete Mitgliedstaaten die Möglichkeit, bis zum 21.12.2007 geschlechtsbezogene Unterschiede bei Versicherungsprämien und -leistungen „zuzulassen, wenn die Berücksichtigung des Geschlechts bei einer auf relevanten und genauen versicherungsmathematischen und statistischen Daten beruhenden Risikobewertung ein bestimmender Faktor ist.“ Der EuGH wies darauf hin, dass die EU die Gleichstellung von Mann und Frau verfolge, wie sich an Art. 3 Abs. 3 UAbs. 2, 6 EUV, Art. 21 und 23 EuGRCh, Art. 8 und 157 Abs. 1 AEUV ablesen lasse.110 Außerdem müsse der Unionsgesetzgeber „bei der schrittweisen Ver105
EuGH, Rs. C-83/14 – CHEZ, ECLI:EU:C:2015:480, Rn. 50 und 60. Rn. 91; diesen Punkt auf Vorlage des BGH (MDR 2017, 1172 ff.) klarstellend EuGH, Rs. C-457/17 – Heiko Jonny Maniero, ECLI:EU:C:2018:912, Rn. 45 ff. 107 EuGH, Rs. C-83/14 – CHEZ, ECLI:EU:C:2015:480, Rn. 55 f. und 74. 108 Ebd., Rn. 74. 109 EuGH, Rs. C-236/09 – Test-Achats, ECLI:EU:C:2011:100. 110 Ebd., Rn. 16 ff. 106 Ebd.,
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wirklichung“111 der Gleichstellung in kohärenter Art und Weise verfahren.112 Damit sei nicht zu vereinbaren, dass Art. 5 Abs. 2 RL 2004/113 eine unbefristete Abweichung von der Gleichstellung der Geschlechter ermögliche.113 In der Entscheidung befasste sich der EuGH also nur mittelbar mit den Rechtsbeziehungen zwischen Versicherungsunternehmen und Versicherungsnehmern. Stattdessen ging es um die Gültigkeit privatrechtlichen Unionsrechts,114 konkreter die Bindung des europäischen Gesetzgebers an die Ziel bestimmungen der Europäischen Verträge bei der Normierung von privat rechtlichem Sekundärrecht. In der Sache betonte der EuGH allerdings die gesamtgesellschaftliche Bedeutung der Gleichstellung von Mann und Frau stark. Da das Gemeininteresse an der Gleichstellung als ein Teilbereich des Gemeininteresses an Nichtdiskriminierung verstanden werden kann, ließ der EuGH mithin die Förderung des Gemeininteresses an Nichtdiskriminierung merklich in seine Erwägungen einfließen. Ein Vergleich der Argumentation des EuGH in Test-Achats mit einer Urteilsbegründung des BVerwG in einem ähnlich gelagerten Fall unterstreicht, wie deutlich der EuGH auf das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung abstellte. Bereits zuvor, im Jahr 1988, ließ das BVerwG eine versicherungstechnische Risikodifferenzierung an nichtdiskriminierungsrechtlichen Erwägungen scheitern.115 Allerdings bediente sich das BVerwG einer anderen Argumentation. Damals entschied das BVerwG, dass die Einführung sog. „Balkantarife“ für die Kfz-Haftpflichtversicherung, gemäß der türkische, jugoslawische und griechische Versicherungsnehmer einen Aufpreis hätten zahlen müssen, nicht genehmigungsfähig sei.116 Die Anknüpfung an benannte Nationalitäten sei „nicht in besonderem Maße zu einer risikogerechten [Tarif-]Gestaltung […] geeignet.“117 Zwar mögen Personen der Gruppe vielleicht einen überdurchschnittlichen Schadensbedarf haben. Ein undifferenziertes Abstellen auf die Nationalität belaste aber auch eine Vielzahl von Gruppenangehörigen, die ein solch gesteigertes Schadensrisiko nicht aufweisen.118 Wie in Test-Achats hatte das BVerwG bei den Balkantarifen also über die Rechtmäßigkeit einer Tarifdifferenzierung aufgrund einer suspect classification zu entscheiden. Doch wählten die Gerichte 111
Ebd., Rn. 20. Ebd., Rn. 21. 113 Bestätigt für den Bereich der sozialen Sicherheit in EuGH, Rs. C-318/13 – X, ECLI:EU:C:2014:2133. – Der deutsche Gesetzgeber ist dem Auftrag nachgekommen, indem er eine Gleichbehandlung von Männern und Frauen bei Versicherungsverträgen verlangt, die ab dem 21.12.2012 abgeschlossen worden sind bzw. werden (vgl. § 33 Abs. 5 S. 1 AGG). 114 S. Jarass ZEuP 2017, 310 (317). 115 BVerwGE 79, 326; s. hierzu Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit, 2000, S. 210 ff.; MüKoBGB/Thüsing, 9. Aufl. 2021, § 19 AGG Rn. 56 ff. 116 BVerwGE 79, 326. 117 Ebd., (334). 118 Ebd., (334 f.). 112
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unterschiedliche Argumentationen, um die Rechtswidrigkeit der Tarife zu begründen: Während der EuGH auf Ziele und Werte der EU einging (vgl. Art. 3 Abs. 3 UAbs. 2, 6 EUV, Art. 21 und 23 EuGRCh, Art. 8 und 157 Abs. 1 AEUV),119 argumentierte das BVerwG bereichsspezifisch und stellte auf die Überinklusion bei der Tarifgruppenbildung ab. Auch die deutschen Zivilgerichte nahmen in versicherungsrechtlichen Fällen auf das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung Bezug. Dies geschah allerdings auf unterschiedliche Weise. Das OLG Hamm berücksichtigte das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung, als es Erwägungen über die Höhe der Entschädigung für einen Verstoß eines Versicherungsunternehmens gegen das AGG anstellte.120 Es befand eine Versicherungskündigung für diskriminierend, die das Versicherungsunternehmen damit begründete, dass es von der Versicherungsnehmerin nicht über Schwangerschaftskomplikationen aufgeklärt worden sei.121 Das OLG Hamm stützte seine Entscheidung auf § 20 Abs. 2 S. 1 AGG,122 der unterschiedliche Prämien und Leistungen aufgrund von Kosten, die durch Schwangerschaft und Mutterschaft entstehen, verbietet. Wenn eine unterschiedliche Prämienbemessung aufgrund von Schwangerschaftskomplikationen gegen das Gesetz verstoße, bestehe kein berechtigtes Interesse des Versicherungsunternehmens an ihrer Offenlegung und somit auch kein Kündigungsgrund.123 Bei der Beurteilung, welche Entschädigung für den Verstoß angemessen sei, ging das OLG Hamm auf die Grundsätze der Rechtsprechung zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht und die Präventionsfunktion der Entschädigung ein. In Hinblick auf die europarechtliche Vorgabe, dass die „Sanktionen ‚wirksam, verhältnismäßig und abschreckend‘ sein“124 müssen, kam es zu dem Ergebnis, dass eine Entschädigung nach dem AGG unter weniger strengen Voraussetzungen als bei Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zu gewähren sei.125 Mit gänzlich anderer Argumentation verarbeitete der BGH das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung in einer versicherungsrechtlichen Entscheidung aus dem Jahr 2017 über den Anspruch eingetragener Lebenspartner auf Witwerrente.126 Der BGH zog darin in Erwägung, dass ein Versicherungsunternehmen nach den Grundsätzen über den Wegfall der Geschäftsgrundlage (§ 313 Abs. 1 BGB) angehalten sein könnte, einen in den 1990er Jahren geschlossenen Lebensversicherungsvertrag dahingehend anzupassen, dass er dem eingetragenen Lebenspartner des Versicherungsnehmers einen Anspruch auf Witwerrente 119
EuGH, Rs. C-236/09 – Test-Achats, ECLI:EU:C:2011:100, Rn. 16 ff. OLG Hamm NJW-RR 2011, 762. 121 Ebd. 122 In der zur Zeit des Urteils geltenden Fassung § 20 Abs. 2 S. 2 AGG. 123 OLG Hamm NJW-RR 2011, 762 (763). 124 Ebd., (764). 125 Ebd. 126 BGH NJW 2017, 2191. 120
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gewähre. Die konkrete Abwägung der widerstreitenden Interessen überließ der BGH dem mit der Rechtssache betrauten Untergericht. Seine Entscheidung begründete der BGH damit, dass der Gesetzgeber mit dem LPartG 2001 ein Gesetz geschaffen habe, welches Lebenspartner zu gegenseitiger Fürsorge und Unterstützung (§ 2 S. 1 LPartG) sowie zu Unterhalt (§ 5 S. 1 LPartG) verpflichte.127 Im Hinblick auf die gesetzliche Hinterbliebenenversorgung seien Lebenspartner verheirateten Paaren inzwischen ebenfalls gleichgestellt.128 Angesichts dieser rechtlichen Neuerungen entspreche die Beschränkung der Rentenansprüche aus dem Versicherungsvertrag auf eine (gar nicht vorhandene) Ehefrau nicht dem Willen des Versicherungsnehmers, seinen Lebenspartner versichert zu wissen.129 Wie die Schilderung zeigt, stieg der BGH in seinen Urteilsgründen nicht in eine klassische, komparative Gleichheitsprüfung ein, bei der eine unterschiedliche Behandlung zweier vergleichbarer Sachverhalte untersucht wurde. Stattdessen stellte er maßgeblich auf die Willenserklärungen und Vorstellungen der Vertragsparteien und deren mit der Zeit gewandelte rechtliche Bewertung ab. Mit der Aufhängung der Prüfung an § 313 Abs. 1 BGB und dem Fokus auf „den Vorstellungen der Parteien“130 scheint der BGH seine Prüfung insbesondere auf die Individualinteressen der an dem Rechtsstreit Beteiligten ausgerichtet zu haben. Bei näherem Hinsehen wird jedoch ersichtlich, dass der Gedanke der Gleichstellung von eingetragener Lebenspartnerschaft und Ehe ausschlaggebend für die Entscheidung war.131 b) Entwicklung: Die Wirkung verfassungsrechtlicher Gleichheitssätze zwischen Privaten Bislang stellte die Typisierung der Rechtsprechung zum reaktiven Nichtdiskriminierungsrecht im Schwerpunkt Entscheidungen deutscher Zivilgerichte vor. Eine Schilderung darüber, ob und wie das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung Eingang in das Privatrecht findet, wäre aber grob unvollständig, wenn nicht eine weitere, große Entwicklung des Gleichheitsrechts in den Blick genommen werden würde: In gewissem Umfang entfalten verfassungsrechtliche Gleichheitssätze – insbesondere Art. 3 Abs. 1 und 3 GG auf nationaler sowie Art. 21 EUGRCh auf europäischer Ebene – Wirkungen in den Rechtsbeziehungen Privater. In der Folge sind Private, soweit sie in die Verpflichtung genom127
Ebd., (Rn. 20).
128 Ebd.
129 Vgl. ebd., (Rn. 21). In dem Urteil ging der BGH in der gebotenen Kürze darauf ein, dass der zeitliche Anwendungsbereich des AGG nicht eröffnet war. Die Parteien hatten den zur Verhandlung stehenden Versicherungsvertrag vor dem 22.12.2007 geschlossen (vgl. § 33 Abs. 4 S. 1 AGG), ebd., (2194 f.). 130 So etwa ebd., (2193). 131 Vgl. Becker NJW 2017, 2195.
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men werden, verfassungsrechtliche Gleichheitssätze zu achten, nicht gänzlich frei in ihrer Entscheidung, zwischen verschiedenen Personengruppen zu differenzieren. Sie sind also im Rahmen ihrer Verpflichtung angehalten, das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung im Sinne einer größeren sozialen Inklusivität zu fördern. aa) BVerfG: Der Stadionverbots-Beschluss Auf Ebene des nationalen Verfassungsrechts hat das BVerfG im Stadionverbots-Beschluss132 aus dem Jahr 2018 formuliert, dass sich „gleichheitsrechtliche Anforderungen für das Verhältnis zwischen Privaten […] aus Art. 3 Abs. 1 GG […] für spezifische Konstellationen ergeben“133 können. Im Ausgangsfall, der Anlass der Entscheidung war, hatte der MSV Duisburg ein Stadionverbot gegen einen Fan des FC Bayern verhängt, das nach den Richtlinien des DFB bundesweite Geltung hatte. Der Fan stand im Verdacht, sich an Auseinandersetzungen rivalisierender Clubanhänger beteiligt zu haben, wobei ein von der Staatsanwaltschaft gegen ihn eingeleitetes Verfahren wegen Geringfügigkeit eingestellt wurde (§ 153 Abs. 1 StPO). Nachdem der Fan in allen Instanzen erfolglos gegen das Verbot geklagt hatte, rügte er mit der Verfassungsbeschwerde „eine Verletzung seiner Grundrechte dadurch, dass er ohne tragfähige Erklärung und Begründung allein aufgrund eines bloßen Verdachts vom Stadionbesuch ausgeschlossen worden sei.“134 Das BVerfG begann seine Prüfung der Verfassungsbeschwerde mit Ausführungen zur mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte: „Art. 3 Abs. 1 [enthält] kein objektives Verfassungsprinzip, wonach die Rechtsbeziehungen zwischen Privaten von diesen prinzipiell gleichheitsgerecht zu gestalten wären […] Ein allgemeiner Grundsatz, wonach private Rechtsbeziehungen jeweils den Rechtfertigungsanforderungen des Gleichbehandlungsgebots unterlägen, folgt demgegenüber aus Art. 3 Abs. 1 GG auch im Wege der mittelbaren Drittwirkung nicht.“135
Ferner wies es einschränkend darauf hin, dass „über eventuell weitergehende Anforderungen aus speziellen Gleichheitsrechten wie Art. 3 Abs. 2 und 3 GG […] hier nicht zu entscheiden“136 war. Damit wollte das Gericht augenscheinlich den begrenzten Aussagegehalt seiner folgenden Ausführungen betonen. Denn anschließend erläuterte es, abweichend von tradierten Argumentationssträngen, dass Art. 3 Abs. 1 GG „jedoch für spezifische Konstellationen“137 Wirkung zwischen Privaten entfalten könne. Eine solche Konstellation läge bei der Ertei132
BVerfGE 148, 267. Ebd., (Rn. 41). 134 Ebd., (Rn. 19). 135 Ebd., (Rn. 40). 136 Ebd. 137 Ebd., (Rn. 41). 133
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lung eines Stadionverbots vor, weil es sich bei ihm um einen einseitigen Ausschluss von Veranstaltungen handelte, „die aufgrund eigener Entscheidung der Veranstalter einem großen Publikum ohne Ansehen der Person geöffnet werden und der für die Betroffenen in erheblichem Umfang über die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben entscheidet.“138 Es ist noch nicht absehbar,139 ob und wenn ja, in welche Richtung die offene Formulierung einer Wirkung des Gleichheitssatzes zwischen Privaten „für spezifische Konstellationen“140 konkretisiert werden wird. In einer einstweiligen Anordnung, die das BVerfG einen Monat nach dem Stadionverbots-Beschluss erließ, gab es allerdings schon zu erkennen, dass es die Wirkung des Art. 3 Abs. 1 GG im Verhältnis sozialer Netzwerke zu ihren Nutzern für nicht ausgeschlossen, wenn nicht gar naheliegend erachtet.141 bb) BGH: Das Hassredevorwurf-Urteil Das Urteil des BGH zum Hassredevorwurf ist ein weiteres Indiz dafür, dass das BVerfG die argumentative Grundlage gelegt hat, um privates Handeln unter bestimmten Umständen am grundgesetzlichen Gleichheitssatz zu messen.142 In dem der Entscheidung zugrunde liegenden Fall war der BGH angerufen, die AGB eines sozialen Netzwerks dahingehend zu überprüfen, ob der in ihnen niedergelegte Umgang mit Kommentaren, die verletzende oder verachtende Inhalte haben ohne jedoch die Schwelle der Strafbewährung zu überschreiten, in Einklang mit den Vorgaben der §§ 307 ff. BGB steht. Der BGH führte im Zuge der AGB-Überprüfung aus, dass eine umfassende „Abwägung der einander gegenüberstehenden Grundrechte und Interessen der Parteien [Anm. JCG: des Netzwerks und ihrer Nutzerin] sowie der einzubeziehenden Drittinteressen“ zu erfolgen habe.143 Es seien die Rechte der Nutzerin des sozialen Netzwerks auf Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG) und auf Schutz vor willkürlicher Ungleichbehandlung (Art. 3 Abs. 1 GG),144 die Rechte des sozialen Netzwerks auf Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) und Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG)145 sowie die Interessen „anderer Nutzer an einer von gegenseitigem Re spekt geprägten Diskussionskultur“146 einzustellen. Im Ergebnis wertete das Gericht die Nutzungsbedingungen des sozialen Netzwerks zum Umgang mit Hassrede als einen Verstoß gegen § 307 Abs. 1 S. 1 138 Ebd. 139 S.
Hellgardt JZ 2018, 901 (909). BVerfGE 148, 267 (Rn. 41). 141 BVerfG NJW 2019, 1935 (Rn. 15). 142 BGH NJW 2021, 3179. 143 Ebd., (Rn. 78). 144 Ebd., (Rn. 61 ff.). 145 Ebd., (Rn. 69 ff.). 146 Ebd., (Rn. 75). 140
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BGB. Das Netzwerk müsse Nutzern, deren Kommentare im Verdacht der Hassrede stehen, in größerem Umfang als bislang Anhörungsmöglichkeiten eröffnen, um sie nicht unangemessen zu benachteiligen.147 Mit der gewählten prozeduralen Argumentation orientierte sich der BGH stark an den Ausführungen zum Stadionverbots-Beschluss. Auf ein Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung ging er nicht direkt ein. Dahingehende Erwägungen sind aber mitangesprochen, wenn die Drittinteressen an einer respektvollen Diskussionskultur erwähnt werden. Die Interessen der Nutzer, die sich von Kommentaren verletzt fühlen oder verunsichert werden, stehen in enger Verbindung zum gesamtgesellschaftlichen Interesse an einem respektvollen Miteinander. Und die Schaffung eines inklusiven Raums, der die gesellschaftliche Teilhabe aller Personen ermöglicht, ist wiederum Ziel des Gemeininteresses an Nichtdiskriminierung. cc) EuGH: Von Defrenne zu Egenberger Weder das BVerfG noch der BGH erwähnten in den dargestellten Entscheidungen das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung. Abweichend hiervon hat der EuGH in seiner Rechtsprechung zur Wirkung des Gleichheitssatzes zwischen Privaten auf das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung abgestellt. Er benannte die Förderung des sozialen Fortschritts ausdrücklich als Argument, um die Annahme einer Wirkung des Gleichheitssatzes zwischen Privaten zu begründen.148 Bereits 1976 entschied der EuGH in Defrenne II, dass der Grundsatz der Entgeltgleichheit zwischen Mann und Frau gemäß Art. 157 Abs. 1 AEUV (ex Art. 119 EGV) private Arbeitgeber bindet.149 Hierbei hob er die besondere Bedeutung des Grundsatzes als eine der „Grundlagen der Gemeinschaft“150 hervor. Er stützte seine Einordnung einerseits auf das europäische Ziel „sozialen Fortschritt“ zu sichern,151 andererseits auf das Interesse an der Verhinderung von Wettbewerbsverzerrungen zwischen Unternehmen, die bereits nach nationalem Recht zur gleichen Entlohnung verpflichtet waren, und solchen ohne derartige nationale Vorgaben.152 147
Ebd., (Rn. 78 ff.). EuGH, Rs. 43/75 – Defrenne II, Slg. 1976, 455, Rn. 8/11; s. auch EuGH, Rs. C-54/07 – Feryn, Slg. 2008, I-5187, Rn. 23 f. – Wenn der EuGH das Interesse an einer einheitlichen und effektiven Durchsetzung des europäischen Gleichheitssatzes als weiteren Grund anführt (etwa in EuGH, Rs. 36/74 – Walrave und Koch, Slg. 1974, 1405, Rn. 16/19; Rs. C-415/93 – Bosman, Slg. 1995, I-4921, Rn. 83; verb. Rs. C-51/96 und C-191/97 – Deliège, Slg. 2000, I-2549, Rn. 47; Rs. C-176/96 – Lehtonen, Slg. 2000, I-2681, Rn. 35; Rs. C-94/07 – Raccanelli, Slg. 2008, I-5939, Rn. 4 4), spricht er allerdings nicht mehr über das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung. Vielmehr bezieht er sich dann auf das Interesse an der Schaffung eines einheitlichen europäischen Rechtsraums. 149 EuGH, Rs. 43/75 – Defrenne II, Slg. 1976, 455, Rn. 7 ff. 150 Ebd., Rn. 12. 151 Ebd., Rn. 8/11. 152 S. ebd. 148
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Außerdem urteilt der EuGH in ständiger Rechtsprechung, dass die Artikel zu Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 AEUV), Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) und Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 ff. AEUV) Privaten verbieten, unmittelbar oder mittelbar zwischen EU-Bürgern aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit zu diskriminieren.153 Zur Begründung verweist der EuGH hierbei oftmals darauf, dass eine Wirkung der grundfreiheitlichen Diskriminierungsverbote zwischen Privaten geboten sei, um eine effektive Durchsetzung des Gleichbehandlungsgebotes zu erreichen.154 Der EuGH unterscheidet mithin nicht zwischen hoheitlichen und privaten Diskriminierungen. Er schränkt die Bindung Privater auch nicht auf solche in hoheitsähnlicher Position oder mit struktureller Überlegenheit ein.155 Des Weiteren nimmt der EuGH für den allgemeinen Gleichheitssatz gemäß Art. 18 AEUV eine Bindung Privater in Konstellationen an, „in denen eine Gruppe oder Organisation […] gegenüber Einzelpersonen bestimmte Befugnisse ausüben und sie Bedingungen unterwerfen kann.“156 Ob darüber hinaus Private, die über keine erweiterten Regelsetzungsbefugnisse verfügen, an Art. 18 AEUV gebunden sind, ist bislang ungeklärt. Es ist allerdings wahrscheinlich, dass sich der EuGH zu dieser Frage nicht mehr verhalten wird. Sie dürfte sich angesichts seiner Rechtsprechung zur Wirkung des allgemeinen Gleichheitssatzes zwischen Privaten überholt haben. So tätigte der EuGH in einer Reihe arbeitsrechtlicher Entscheidungen157 Aussagen darüber, inwiefern Personen eine Verletzung ihres Rechts auf Gleichbehandlung in zivilrechtlichen Streitigkeiten gelten machen können. War nach Verkündung des ersten Urteils der Rechtsprechungslinie in der Rechtssache Mangold158 noch umstritten, wie die Auslegung des EU-Rechts durch den EuGH zu verstehen ist, lassen sich nunmehr folgende Eckpunkte benennen: Das Primärrecht der EU enthält verschiedene Diskriminierungsverbote. Diese 153 S. nur EuGH, Rs. 36/74 – Walrave und Koch, Slg. 1974, 1405, Rn. 16/19; Rs. 13/76 – Donà/Mantero, Slg. 1976, 1333, Rn. 17/18; Rs. C-415/93 – Bosman, Slg. 1995, I-4921, Rn. 82 ff.; verb. Rs. C-51/96 und C-191/97 – Deliège, Slg. 2000, I-2549, Rn. 47; Rs. C-176/96 – Lehtonen, Slg. 2000, I-2681, Rn. 35; Rs. C-281/98 – Angonese, Slg. 2000, I-4139, Rn. 33 f. Abweichend hiervon bei der Warenverkehrsfreiheit nur eine Bindung staatlicher Institutionen annehmend EuGH, Rs. 311/85 – VVR/Sociale Dienst van de Plaatselijke en Gewestelijke Overheidsdiensten, Slg. 1987, 3801, Rn. 30; Rs. 65/86 – Bayer AG und Maschinenfabrik Hennecke GmbH/ Heinz Süllhöfer, Slg. 1988, 5249, Rn. 11 f. 154 S. EuGH, Rs. 36/74 – Walrave und Koch, Slg. 1974, 1405, Rn. 16/19; Rs. C-415/93 – Bosman, Slg. 1995, I-4921, Rn. 83; verb. Rs. C-51/96 und C-191/97 – Deliège, Slg. 2000, I-2549, Rn. 47; Rs. C-176/96 – Lehtonen, Slg. 2000, I-2681, Rn. 35; Rs. C-94/07 – Raccanelli, Slg. 2008, I-5939, Rn. 4 4. 155 EuGH, Rs. C-281/98 – Angonese, Slg. 2000, I-4139, Rn. 33 f.; Rs. C-94/07 – Raccanelli, Slg. 2008, I-5939, Rn. 43 ff. 156 EuGH, Rs. C-411/98 – Ferlini, Slg. 2000, I-8081, Rn. 50. 157 EuGH, Rs. C-144/04 – Mangold, Slg. 2005, I-9981; Rs. C-555/07 – Kücükdeveci, ECLI:EU:C:2010:21; Rs. C-441/14 – Dansk Industri, ECLI:EU:C:2016:278; Rs. C-414/16 – Egenberger, ECLI:EU:C:2018:257; Rs. C-68/17 – IR v JQ, ECLI:EU:C:2018:696. 158 EuGH, Rs. C-144/04 – Mangold, Slg. 2005, I-9981.
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Kapitel 5: Nichtdiskriminierung
wurden zunächst aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten abgeleitet.159 Seit In-Kraft-Treten der Grundrechtecharta lassen sie sich an Art. 21 EUGRCh ablesen,160 der Diskriminierungen aufgrund der Kriterien Geschlecht, zugeschriebene Rasse, Hautfarbe, ethnische oder soziale Herkunft, genetische Merkmale, Sprache, Religion oder Weltanschauung, politische oder sonstige Anschauung, Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, Vermögen, Geburt, Behinderung, Alter oder sexuelle Ausrichtung verbietet. Innerhalb des Anwendungsbereichs des Unionsrechts gewähren die Diskriminierungsverbote dem Einzelnen subjektive Rechte,161 auf die er sich gegenüber staatlichen Institutionen berufen kann. Die Gerichte in den Mitgliedstaaten sind in Rechtsstreitigkeiten zwischen Privaten angehalten, den Schutz dieses Rechts auf Gleichbehandlung zu gewährleisten.162 In der Folge müssen sie nationale Gesetze unangewendet lassen, die einer Auslegung, die im Einklang mit dem europäischen Gleichheitssatz steht, nicht zugänglich sind.163 Darüber hinaus hat der EuGH in Egenberger formuliert, dass sich Art. 21 EUGRCh „in seiner Bindungswirkung grundsätzlich nicht von den Bestimmungen der Gründungsverträge [unterscheide], die verschiedene Formen der Diskriminierung auch dann verbieten, wenn sie aus Verträgen zwischen Privatpersonen resultieren.“164 Im Hinblick auf die Verarbeitung des Gemeininteresses an Nichtdiskriminierung lassen sich der Rechtsprechung des EuGH zur Wirkung des Gleichheitssatzes zwischen Privaten mithin insbesondere zwei Erkenntnisse entnehmen: Erstens stellt der EuGH die Förderung des Gemeininteresses an Nichtdiskriminierung über die Formulierung, „sozialen Fortschritt“165 sichern zu wollen, in seine Urteilsgründe ein. Zweitens sieht der EuGH Private umfangreicher als das BVerfG, das die Wirkung von Art. 3 Abs. 1 GG nur „für spezifische Konstellationen“166 annimmt, in der Verpflichtung, das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung zu fördern.
159 Ebd., Rn. 74; Rs. C-555/07 – Kücükdeveci, ECLI:EU:C:2010:21, Rn. 20; Rs. C-441/14 – Dansk Industri, ECLI:EU:C:2016:278, Rn. 22. 160 EuGH, Rs. C-555/07 – Kücükdeveci, ECLI:EU:C:2010:21, Rn. 22; Rs. C-441/14 – Dansk Industri, ECLI:EU:C:2016:278, Rn. 22; Rs. C-414/16 – Egenberger, ECLI:EU:C: 2018:257, Rn. 76; Rs. C-68/17 – IR v JQ, ECLI:EU:C:2018:696, Rn. 69. 161 EuGH, Rs. C-176/12 – Association de médiation sociale, ECLI:EU:C:2014:2, Rn. 47; Rs. C-441/14 – Dansk Industri, ECLI:EU:C:2016:278, Rn. 36; Rs. C-414/16 – Egenberger, ECLI:EU:C:2018:257, Rn. 76; Rs. C-68/17 – IR v JQ, ECLI:EU:C:2018:696, Rn. 69. 162 EuGH, Rs. C-414/16 – Egenberger, ECLI:EU:C:2018:257, Rn. 79; Rs. C-68/17 – IR v JQ, ECLI:EU:C:2018:696, Rn. 71. 163 EuGH, Rs. C-414/16 – Egenberger, ECLI:EU:C:2018:257, Rn. 79; Rs. C-68/17 – IR v JQ, ECLI:EU:C:2018:696, Rn. 70 f. 164 EuGH, Rs. C-414/16 – Egenberger, ECLI:EU:C:2018:257, Rn. 7 7. 165 EuGH, Rs. 43/75 – Defrenne II, Slg. 1976, 455, Rn. 8/11. 166 BVerfGE 148, 267 (Rn. 41).
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2. Proaktives Nichtdiskriminierungsrecht Auf direkterem Wege als das reaktive Nichtdiskriminierungsrecht setzt das proaktive Nichtdiskriminierungsrecht167 mit seinen positiven Maßnahmen an, um das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung zu fördern. Dabei bezeichnen positive Maßnahmen all jene Maßnahmen, „die darauf gerichtet sind, über das bloße Unterlassen von Diskriminierung hinaus, in der Vergangenheit schwerwiegend benachteiligte Gruppen besonders zu fördern.“168 Positive Maßnahmen können viele Formen annehmen, von der gezielten Förderung bestimmter Gruppen in Schule und Ausbildung, über die Schaffung von Betreuungsstrukturen für Kinder, bis hin zu festen Quoten im Berufsleben.169 Im Folgenden werden nur solche Regelungen positiver Maßnahmen exemplarisch eingehender beleuchtet, die in den Rechtsbeziehungen Privater untereinander direkt zum Tragen kommen. Auf Ebene des einfachen Rechts gibt es Vorgaben des AGG, die privat initiierte positive Maßnahmen erlauben. Zu diesen Vorgaben ist bereits Rechtsprechung ergangen (2.a)). Darüber hinaus findet sich im Gesellschaftsrecht eine Reihe an Vorschriften, die Private anhalten, über die Besetzung von Posten das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung zu fördern. Zu ihnen zählen die Diversitäts-Vorgaben des Deutschen Corporate Governance Kodex (DCGK) (2. b)) und die Quotenregelungen für die Besetzung von Vorständen, Aufsichtsräten und Führungsebenen von Unternehmen, die mit dem Ersten Führungspositionen-Gesetz (FüPoG I)170 und dem Zweiten Führungspositionen-Gesetz (FüPoG II)171 Eingang ins deutsche Recht gefun-
167
S. hierzu Fredman Maastricht J. Eur. & Comp. L. 12 (2005), 369 (373 ff.). So die Definition von affirmative action bei Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, 2. Aufl. 1996, S. 234 f.; weiterführend Grünberger, Personale Gleichheit, 2013, S. 707 ff.; Raasch in Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.), Positive Maßnahmen, 12 ff. – Die Verpflichtung, angemessene Vorkehrungen zu treffen, damit Menschen mit Behinderung ihre berufliche Tätigkeit ausüben können, fällt mithin nicht darunter. Vielmehr bilden die angemessenen Vorkehrungen eine eigene Kategorie. Ihr Zweck ist nicht die Förderung einer historisch benachteiligten Gruppe, sondern sie sind darauf angelegt, individuell erlebter Diskriminierung zu begegnen. Sie gründen darin, dass Menschen mit Behinderung unter Umständen auf spezielle Einrichtungen angewiesen sind, um ihrem Beruf wie Menschen ohne Behinderung nachgehen zu können (s. Burg, Positive Maßnahmen zwischen Unternehmerfreiheit und Gleichbehandlung, 2009, S. 65 ff.; ferner Kocher/Wenckenbach Soziales Recht 2013, 17 [19 ff.]; Waddington/Hendriks Int. J. Comp. L.L.I.R. 18 [2002], 403 [409 f.]). 169 Es gibt Bestrebungen einer Typisierung, s. etwa GA Tesauro, Schlussanträge vom 6.4.1995, C-450/93 – Kalanke, Slg. 1995 I-03051 Rn. 9; GA Alber, Schlussanträge vom 6.11.2001, C-476/99 – Lommers, Slg. 2002 I-02891 Rn. 60 ff.; GA Maduro, Schlussanträge vom 29.6.2004, C-319/03 – Briheche, Slg. 2004 I-08807 Rn. 30. 170 Gesetz über die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst, BGBl. I (2015), S. 6 42. 171 Gesetz zur Ergänzung und Änderung der Regelungen für die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst, BGBl. I (2015), S. 3311. 168
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Kapitel 5: Nichtdiskriminierung
den haben. Hier stehen Gerichtsentscheidungen zu ihrer Interpretation noch aus (2. c) und d)).172 a) Privat initiierte positive Maßnahmen In Urteilen, die zu privat initiierten positiven Maßnahmen ergangen sind, wird der Umstand, dass solche Maßnahmen das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung fördern sollen, als rechtfertigendes Argument der Praktiken verwandt. Den rechtlichen Rahmen dieser Entscheidungen bilden § 5 AGG und § 20 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AGG. § 5 AGG normiert eine Rechtfertigung für Ungleichbehandlungen, gemäß der positive Maßnahmen zulässig sein können, wenn mit ihrer Hilfe „bestehende Nachteile wegen eines in § 1 [AGG] genannten Grundes verhindert oder ausgeglichen werden sollen“ und richtet sich an staatliche wie private Akteure.173 Sind Maßnahmen zur Privilegierung einer traditionell benachteiligten Gruppe verhältnismäßig, so können sie die individuelle Schlechterstellung einer Person rechtfertigen. Daneben ist in § 20 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AGG eine spezielle Rechtfertigung positiver Maßnahmen im allgemeinen Zivilrechtsverkehr festgelegt. Zivilgerichte hatten bereits über die Rechtmäßigkeit von positiven Maßnahmen, die Private selbst zu ihrem Geschäftsmodell erhoben hatten, zu entscheiden.174 Es galt zu klären, inwiefern höhere Ticketpreise bei Bus und Bahn für „normale“ Passagiere im Vergleich zu den Ticketpreisen, die von Senioren oder jungen Studierenden verlangten wurden, erste Gruppe aufgrund ihres Alters diskriminierten. Die Bevorzugung besonders alter oder besonders junger Kunden hielten die Gerichte für gerechtfertigt. In ihren Urteilsgründen stellten sie darauf ab, dass der Gesetzgeber gerade solche finanziellen (Mehr-)Belastungen „normaler“ Kunden, die Kehrseite gewährter Vergünstigungen sind, vom Benachteiligungsverbot ausnehmen habe wollen.175 Die Ungleichbehandlung sei 172 Für eine vertiefte Darstellung der Quotenthematik im Arbeitsrecht wird verwiesen auf Croon-Gestefeld, Reconceptualising European Equality Law, 2017, S. 167 ff.; Peters, Women, Quotas and Constitutions: A Comparative Study of Affirmative Action for Women in American, German, European Community and International Law, 1999; Pfarr, Quoten und Grundgesetz. Notwendigkeit und Verfassungsmäßigkeit von Frauenförderung, 1988, S. 201 ff. 173 Däubler/Hjort/Schubert/Wolmerath/Vera Braun, ArbR, 4. Aufl. 2017, § 5 AGG, Rn. 2. – Mit § 5 AGG setzte der deutsche Gesetzgeber Vorgaben der Antirassismus-RL (Art. 5 RL 2000/43/EG [ABl. 2000 L 180/22]), der Rahmen-RL (Art. 7 Abs. 1 RL 2000/78/EG [ABl. 2000 L 303/16]) und der ersten Gleichbehandlungs-RL aus dem Jahr 1976 (Art. 2 Abs. 4 RL 76/207/EWG [ABl. 1976 L 39/40]) in nationales Recht um. Während das Sekundärrecht lediglich Bestimmungen enthält, die den Mitgliedstaaten positive Maßnahmen erlauben, findet sich eine solche Beschränkung auf staatliches Handeln im Gesetzestext nicht. 174 AG Berlin-Schöneberg Urt. v. 12.1.2012 – Az. 10 C 80/11 (BeckRS 2012, 3124); AG Düsseldorf Urt. v. 11.5.2010 – Az. 58 C 1687/10 (BeckRS 2010, 13622); AG Mannheim NJW 2008, 3442. 175 AG Berlin-Schöneberg Urt. v. 12.1.2012 – Az. 10 C 80/11 (BeckRS 2012, 3124); AG
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gerechtfertigt, weil sie weniger leistungsfähigen Gruppen zu Gute komme und „sozial erwünscht“ sei.176 b) Die Diversitäts-Vorgaben des DCGK Das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung findet auch bei der Anwendung gesellschaftsrechtlicher Vorschriften Berücksichtigung. Seit etwas mehr als einem Jahrzehnt gibt es rechtliche Instrumente, um eine vielfältigere Zusammensetzung der Führungsetagen in deutschen Unternehmen zu fördern. So erwähnt der DCGK an drei Stellen Diversität.177 Gemäß Empfehlung A. 1. soll der Vorstand „bei der Besetzung von Führungsfunktionen im Unternehmen auf Diversität achten.“ Empfehlung B. 1. regt an, bei der Zusammensetzung des Vorstands auf Diversität zu achten. Ähnlich formuliert Empfehlung C. 1. S. 2, dass bei der Zusammensetzung des Aufsichtsrats auf Diversität zu achten ist. Neben den Empfehlungen gelten Grundsätze, gemäß denen die Gremien Zielgrößen für den Frauenanteil im Vorstand und in den beiden Führungsebenen unterhalb des Vorstands festsetzen.178 Bei den Vorschriften des DCGK handelt es sich um privat gesetztes soft law,179 das nicht über die positiven Regelungen des Gesellschaftsrechts hinausgeht. Insofern könnte man die Empfehlungen dann auch mehr als Anregungen an die Unternehmen verstehen, die Thematik bei der Entscheidungsfindung eingehender zu berücksichtigen. Doch ist die Wirkung, die von den Diversitäts-Empfehlungen ausgeht, bei näherem Hinsehen härter. An die Empfehlungen ist eine „comply or explain“-Vorgabe geknüpft, gemäß der Abweichungen von den Empfehlungen offenzulegen und zu begründen sind (§ 161 Abs. 1 S. 1 AktG). Somit macht die Vorgabe die Empfehlungen justiziabel.180 Soweit ersichtlich, sind bislang keine Urteile ergangen, in denen sich Gerichte explizit zur Einhaltung bzw. Nicht-Einhaltung der Diversitäts-Empfehlungen des DCGK verhielten. Gemäß der Rechtsprechung des BGH kann ein Verstoß gegen die „comply or explain“-Vorgabe allerdings zur Anfechtbarkeit der EntMannheim NJW 2008, 3442 (3443) je mit Hinweis auf BT-Drs. 16/1780, S. 4 4; AG Düsseldorf Urt. v. 11.5.2010 – Az. 58 C 1687/10 (BeckRS 2010, 13622). 176 Außerdem wurde auf das ökonomische Argument verwiesen, dass durch die Gewährung von Preisnachlässen gezielt Kunden angelockt werden sollten (AG Berlin-Schöneberg Urt. v. 12.1.2012 – Az. 10 C 80/11 [BeckRS 2012, 3124]; AG Düsseldorf Urt. v. 11.5.2010 – Az. 58 C 1687/10 [BeckRS 2010, 13622]; AG Mannheim NJW 2008, 3442 [3443]). 177 Eine genauere Umschreibung von Diversität ist dem DCGK nicht zu entnehmen. Es scheint, als habe die Regierungskommission, die den DCGK verabschiedet hat, die genauere Begriffsbestimmung der Praxis überlassen wollen. Gemeint ist wohl eine „größere Internationalität und angemessene Vertretung von Frauen“ (Sünner CCZ 2009, 185 [186]). S. auch Hecker BB 2009, 1654 (1657); Kocher BB 2010, 264 (265); Kocher/Löhner CCZ 2010, 183. 178 Grundsätze 3 und 9 S. 2. 179 OLG München AG 2009, 294; zur Rechtsnatur des DCGK als soft law s. Seibt AG 2002, 249 (250 f.); Ulmer ZHR 166, 150 (158 ff.). 180 S. nur Kocher BB 2010, 264 (265).
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lastungsbeschlüsse für Vorstand und Aufsichtsrat (§ 120 AktG) führen.181 Schon um das Risiko der Anfechtbarkeit zu minimieren, stehen Unternehmen also unter erheblichem Druck, die Diversitäts-Empfehlungen zu befolgen bzw. eine Abkehr von ihnen hinreichend zu rechtfertigen.182 c) Starre Quoten und Zielgrößenvorgaben für die Besetzung von Führungsebenen Trotz einer messbaren Erhöhung der Vielfalt in den Führungsebenen der vom DCGK adressierten Unternehmen183 seit Einführung der Diversitäts-Empfehlungen kam der Gesetzgeber zu dem Entschluss, tätig zu werden, um eine größere Vertretung von Frauen in den Führungsebenen deutscher Unternehmen zu erreichen. In der Zwischenzeit hat er mit dem FüPoG I und dem FüPoG II zwei Gesetze erlassen, die deutsche Unternehmen zu einer geschlechtergerechteren Besetzung ihrer Führungsetagen verpflichten. Sie führen starre Frauenquoten ein. Seit 2015 setzt § 96 Abs. 2 AktG Quoten von mindestens 30 % Frauen und mindestens 30 % Männern bei der Besetzung von Aufsichtsräten für börsennotierte Gesellschaften, auf die das MitbestG, das MontanMitbestG oder das MitbestEG Anwendung finden. Damit umfasst der persönliche Anwendungsbereich der Vorschrift nach Einschätzung des Gesetzgebers derzeit etwa 108 Unternehmen.184 Die Quotenfestsetzung wird begleitet von Regelungen zu ihrer Implementierung und den Rechtsfolgen bei Nichtbefolgung.185 So legt § 96 Abs. 2 S. 3 AktG fest, dass beim Widerspruch der Anteilseigner- oder der Ar181
BGHZ 180, 9 (Rn. 19); 182, 272 (Rn. 16); BGH AG 2013, 643. Angesichts der Tatsache, dass die Vorgaben zur „Achtung“ von Diversität vage gehalten sind, dürfte es Unternehmen leichtfallen, sich an die Empfehlungen zu halten. 183 Bericht der Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex an die Bundesregierung, 2010, S. 33. 184 Begr. RegE, BR-Drs. 636/14, S. 48; Stüber, Gender Diversity, 2017, S. 9. 185 § 96 Abs. 2 AktG: „Bei börsennotierten Gesellschaften, für die das Mitbestimmungsgesetz, das Montan-Mitbestimmungsgesetz oder das Mitbestimmungsergänzungsgesetz gilt, setzt sich der Aufsichtsrat zu mindestens 30 Prozent aus Frauen und zu mindestens 30 Prozent aus Männern zusammen. Der Mindestanteil ist vom Aufsichtsrat insgesamt zu erfüllen. Widerspricht die Seite der Anteilseigner- oder Arbeitnehmervertreter auf Grund eines mit Mehrheit gefassten Beschlusses vor der Wahl der Gesamterfüllung gegenüber dem Aufsichtsratsvorsitzenden, so ist der Mindestanteil für diese Wahl von der Seite der Anteilseigner und der Seite der Arbeitnehmer getrennt zu erfüllen. Es ist in allen Fällen auf volle Personenzahlen mathematisch auf- beziehungsweise abzurunden. Verringert sich bei Gesamterfüllung der höhere Frauenanteil einer Seite nachträglich und widerspricht sie nun der Gesamterfüllung, so wird dadurch die Besetzung auf der anderen Seite nicht unwirksam. Eine Wahl der Mitglieder des Aufsichtsrats durch die Hauptversammlung und eine Entsendung in den Aufsichtsrat unter Verstoß gegen das Mindestanteilsgebot ist nichtig. Ist eine Wahl aus anderen Gründen für nichtig erklärt, so verstoßen zwischenzeitlich erfolgte Wahlen insoweit nicht gegen das Mindestanteilsgebot. Auf die Wahl der Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer sind die in Satz 1 genannten Gesetze zur Mitbestimmung anzuwenden.“ 182
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beitnehmerseite des Aufsichtsrats gegen eine gemeinsame Erfüllung der 30 %Quote vor der Wahl „der Mindestanteil für diese Wahl von der Seite der Anteilseigner und der Seite der Arbeitnehmer getrennt zu erfüllen“ ist. Und § 96 Abs. 2 S. 6 AktG regelt, dass die Wahl oder Entsendung eines Aufsichtsratsmitglieds, das unter Verstoß gegen die Quotenregelung gewählt worden ist, nichtig ist. Die Quote gemäß § 96 AktG kann gleich aus mehreren Gründen als starr bezeichnet werden: Erstens gibt der Gesetzgeber vor, zu welchem Mindestanteil Frauen und Männer in Aufsichtsräten repräsentiert sein müssen. Zweitens wird ein Verstoß gegen die Quotenregelung sanktioniert, weil im Regelfall der Aufsichtsratsstuhl solange unbesetzt bleibt, bis er in Konformität mit § 96 AktG besetzt wird.186 Drittens sieht § 96 AktG auch keine Härtefallregelung vor, aufgrund derer in Ausnahmefällen einem männlichen Bewerber um einen Aufsichtsratsposten aus besonderen Gründen, die in der Person dieses Bewerbers gründen, der Vorrang einzuräumen wäre. Bislang stehen gerichtliche Entscheidungen, die die Besetzung von Aufsichtsräten einer Überprüfung an den Vorgaben des § 96 Abs. 2 AktG unterziehen, aus. Ab August 2022 greift zudem eine neu in § 76 AktG eingefügte Regelung. Gemäß § 76 Abs. 3a S. 1 AktG ist der Vorstand börsennotierter Gesellschaften mit mehr als drei Vorstandsmitgliedern, auf die das MitbestG, das MontanMitbestG oder das MitbestEG Anwendung finden, mit mindestens einer Frau und mindestens einem Mann als Mitglied zu besetzen. Der Quote wohnt insofern ein flexibles Element inne, als der rechtlich geforderte Anteil an Frauen im Vorstand prozentual variieren kann. Je größer der Vorstand, desto geringer wirkt sich die geforderte „Mindestbesetzung“ mit einer Frau auf die Zusammensetzung des Vorstands aus.187 Die Quote ist dennoch als starre Quote einzuordnen, weil die Bestellung eines Vorstandsmitglieds unter Verletzung ihrer Vorgabe als nichtig anzusehen ist (§ 76 Abs. 3a S. 2 AktG). Komplementiert werden die Quoten zur Besetzung von Vorständen und Aufsichtsräten durch Zielgrößenvorgaben, die sich börsennotierte oder mitbestimmungspflichtige Unternehmen zu geben haben. Sie sind von einem größeren Kreis von Gesellschaften zu erfüllen, in ihrer Eingriffsintensität aber geringer als die starren Quoten. So muss der Vorstand solcher Unternehmen angeben, welcher Mindestanteil an Frauen in den beiden Führungsebenen unterhalb des Vorstands angestrebt wird (§ 76 Abs. 4 S. 1 AktG). Gleichsinnige Regelungen enthalten § 111 Abs. 5 S. 1 AktG für den Frauenanteil in Aufsichtsrat und Vorstand börsennotierter oder mitbestimmungspflichtiger Unternehmen sowie § 52 Abs. 2 S. 1 GmbHG für den Frauenanteil im Aufsichtsrat von GmbHs, für die nach dem DrittelBG ein Aufsichtsrat zu bestellen ist. Es ist den so verpflichteten Gesellschaften unbenommen, die Zielgröße bei 0 % festzusetzen. Aller186 187
Weiterführend BeckOGK AktG/Spindler, § 96 Rn. 57. Neuhoff BB 2020, 1784 (1788).
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dings schließt sich hieran eine Pflicht zum Verfassen einer Begründung an,188 die auch in die Erklärung zur Unternehmensführung (§ 289f Abs. 2 Nr. 4 HGB) aufzunehmen ist. Damit sind die im DCGK angesprochenen Empfehlungen von Zielgrößen für den Frauenanteil in der Unternehmensführung in verbindliches Recht gewandelt. Außerdem sind die Zielgrößenvorgaben des DCGK dahingehend modifiziert, dass die Zielgröße eines Frauenanteils von 30 % nicht mehr unterschritten werden darf, wenn sie einmal erreicht worden ist (vgl. § 76 Abs. 4 S. 5, § 111 Abs. 5 S. 5 AktG und § 52 Abs. 2 S. 6 GmbHG). Schließlich sind die Vorgaben einer stärkeren Justiziabilität zugeführt worden. Sollte den Erklärungs- und Veröffentlichungsvorschriften bzgl. der Zielgrößenvorgaben nicht entsprochen werden, kann dies den Tatbestand einer bußgeldbewährten Ordnungswidrigkeit erfüllen (§ 334 Abs. 1 Nr. 3 und 3a HGB).189
III. Weitergehende Beobachtungen Die Typisierung von Gesetzgebung und Rechtsprechung zur Berücksichtigung des Gemeininteresses an Nichtdiskriminierung im Privatrecht lässt es zu, weitergehende Beobachtungen anzustellen. Hierbei kann wiederum nach Beobachtungen unterschieden werden, die angestellt werden im Hinblick auf das Verhältnis von Individualinteresse und Gemeininteresse (1.), die Anteile legislativer und judikativer Verarbeitung (2.), die angewandten Methoden (3.), die praktische Relevanz einer Berücksichtigung des Gemeininteresses (4.) und die Bezüge seiner Berücksichtigung zur Leiterzählung (5.).
1. Individuelles Interesse und Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung Zunächst ist ersichtlich, dass der europäische und der deutsche Gesetzgeber bei der Verabschiedung privatrechtlicher Nichtdiskriminierungsgesetze das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung erwähnen,190 während die Zivilgerichte bei der Anwendung dieser Gesetze deutlich zurückhaltender das Gemeininteresse benennen. Die Zurückhaltung kann als Ausdruck eines Bemühens der Ge188
§ 76 Abs. 4 S. 3 und 4, § 111 Abs. 5 S. 3 und 4 AktG und § 52 Abs. 2 S. 4 und 5 GmbHG. der Gesetzesbegründung des FüPoG II sollen durch die Aufnahme eines Verstoßes gegen die Berichtspflicht in den Ordnungswidrigkeiten-Katalog des HGB „bestehende[] Sanktionslücken“ geschlossen werden, BT-DRs. 19/26689, S. 50. Nicht abschließend geklärt ist damit aber, ob in diesen Fällen nicht noch weitere Sanktionen greifen könnten, wie etwa eine Anfechtbarkeit des Entlastungsbeschlusses für Vorstand und Aufsichtsrat, s. hierzu Drygala NZG 2015, 1129 (1133 ff.). 190 Auf europäischer Ebene etwa ErwG12 RL 2000/43/EG (ABl. 2000 L 180/22); s. auch „Förderung der Vielfalt im Bereich der Beschäftigung“ – ErwG 25 RL 2000/78/EG (ABl. 2000 L 303/16); auf nationaler Ebene etwa BT-Drs. 18/3784, S. 1 f. 189 Ausweislich
III. Weitergehende Beobachtungen
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richte gewertet werden, auch Entscheidungen mit naheliegenden Bezügen zum Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung soweit wie möglich mittels einer individualrechtlichen Argumentation zu lösen. Sie zeigt sich in den Gründen des Urteils vom BGH zum generischen Maskulinum191 sowie den Gründen des Urteils vom OLG München zum Scoring.192 In ersterem wird nicht auf den Umstand eingegangen, dass sich Frauen bei kontinuierlicher männlicher Anrede weniger angesprochen fühlen.193 Und in zweitem findet keine Auseinandersetzung mit der diskriminierenden Dimension von Scoring, die weit über den Einzelfall hinausgeht,194 statt. Zudem lässt sich ablesen, dass deutsche Zivilgerichte das individuelle Interesse an Nichtdiskriminierung gegenüber dem Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung selten trennscharf abgrenzen. Das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung wird nur in wenigen Fällen explizit oder implizit angeführt. Das ist etwa dann der Fall, wenn auf die Präventionswirkung von Verpflichtungen zur Entschädigungszahlung bei Verstößen gegen das Benachteiligungsverbot gemäß § 19 Abs. 1 AGG eingegangen wird195 oder die Rechtfertigung der Begünstigung traditionell benachteiligter Gruppen (vgl. § 20 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AGG) in den Blick kommt.196 Darin liegt ein auffälliger Unterschied zur Rechtsprechung des EuGH, in der das Ziel der Union, einen Raum gleichberechtigter Teilhabe der unterschiedlichsten Personengruppen zu schaffen, deutlich erwähnt wird.197 Dennoch durchdringt das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung das gesamte privatrechtliche Nichtdiskriminierungsrecht. Es tut dies nur auf indirekte, untergründige Art und Weise. Im Ergebnis fördern Gesetze, die Individuen vor Diskriminierung schützen, und ihre Anwendung immer auch mittelbar das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung. Wird dem Interesse einer Person, nicht aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit benachteiligt zu werden, der Vorrang vor widerstreitenden Interessen anderer Privater eingeräumt, so ist zugleich dem Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung zur Berücksichtigung verholfen. Indem die Einzelne rechtlichen Schutz erfährt, wird das mit der Ge-
191
BGHZ 218, 96. OLG München ZD 2014, 570. 193 Grünberger JZ 2018, 719 (722 f.); vgl. Bachmann NJW 2018, 1648 (1652). 194 S. Kap. 5. II. 1. a) bb). 195 OLG Düsseldorf, FD-MietR 2018, 404380; OLG Stuttgart NJW 2012, 1085 (1086); LG Köln NZM 2016, 165 (167); LG Mönchengladbach Urt. v. 27.5.2016 – Az. 11 O 99/15 Rn. 68 (juris); AG Tempelhof-Kreuzberg, WuM 2015, 73 (77 f.). 196 AG Berlin-Schöneberg Urt. v. 12.1.2012 – Az. 10 C 80/11 (BeckRS 2012, 3124); AG Düsseldorf Urt. v. 11.5.2010 – Az. 58 C 1687/10 (BeckRS 2010, 13622); AG Mannheim NJW 2008, 3442. 197 EuGH, Rs. 43/75 – Defrenne II, Slg. 1976, 455, Rn. 8/11; Rs. C-83/14, CHEZ, ECLI: EU:C:2015:480, Rn. 74. 192
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Kapitel 5: Nichtdiskriminierung
währ des Rechtsschutzes verfolgte Ziel genereller, vom Einzelfall losgelöster größerer sozialer Inklusivität gefördert. Die indirekte Thematisierung des Gemeininteresses an Nichtdiskriminierung wirkt sich auf den rechtlichen Diskurs über Nichtdiskriminierung in seiner Gesamtheit aus. So werden etwa in der Debatte über Quoten bei der Besetzung von Aufsichtsräten mitunter immer noch keine Schlüsse aus dem Umstand gezogen, dass die Quoten im Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung erlassen worden sind. Stattdessen ist eine ausschließlich individualistische Sichtweise anzutreffen, die einen direkten, formalistischen Vergleich zwischen zwei Bewerbern um eine Stelle anstellt.198 Aus dieser Perspektive ist die Bevorzugung einer gleich oder weniger qualifizierten Frau schwer zu rechtfertigen.199 Sie diskriminiert den männlichen Bewerber.200 In der Folge wird die Europarechtskonformität oder Verfassungsmäßigkeit der Quotenregelung in Frage gestellt.201 Bei einer den individuellen Vergleich komplementierenden, überindividuellen Betrachtung ist es hingegen um einiges leichter möglich, die Quote als konform mit EU-Recht und GG anzusehen. Denn dann kann das mit der Quote verfolgte Ziel größerer sozialer Inklusivität leichter in den Blick genommen werden.
2. Legislative und judikative Verarbeitung Untersucht man die Typisierung in Hinblick darauf, welchen Anteil der Gesetzgeber und welchen Anteil die Gerichte an der Verarbeitung des Gemeininteresses an Nichtdiskriminierung haben, fällt zweierlei auf: Erstens kommt dem europäischen und dem nationalen Gesetzgeber entscheidende Bedeutung bei der Verarbeitung zu. Das belegen einerseits die mit dem AGG in nationales Recht umgesetzten Antidiskriminierungs-RL, die sich teils in ihren Erwägungsgründen auf die Förderung des Gemeininteresses an Nichtdiskriminierung beziehen;202 andererseits die Regelungen zur Frauenförderung, die seit dem In-Kraft-Treten des Gesetzes zur gleichberechtigten Teilhabe von Frauen 198 Drygala NZG 2015, 1129 (1130); Habersack/Kersten BB 2014, 2819 (2824); Hohenstatt/ Willemsen/Naber ZIP 2014, 2220 (2222). 199 S. Fredman, Discrimination Law, 2002, S. 126 ff.; Grünberger NZA-Beilage 2012, 139 (141). 200 So Justice Rhenquist’s dissenting opinion in United Steelworkers of America v. Weber, 443 U.S. 193 (241), 1979; ebenfalls deutlich Thüsing ZESAR 2014, 364 (371). 201 Angesichts des starken Eingriffs in die Unternehmens- und Berufsfreiheit, den die starre Quote darstellt, wird dann auch ihre Konformität mit dem Europarecht sowie dem GG in Zweifel gezogen (zur Europarechtskonformität Weller u. a. ZGR 2015, 361 [384 ff.]; sich für eine Verfassungskonformität aussprechend Papier/Heidenbach ZGR 2011, 305 ff.; kritischer Habersack/Kersten BB 2014, 2819 [2822 ff.]; Hohenstatt/Willemsen/Naber ZIP 2014, 2220 [2222]). Bislang waren jedoch weder EuGH noch BVerfG mit der Anwendbarkeit bzw. Wirksamkeit des § 96 Abs. 2 AktG befasst. 202 ErwG 12 RL 2000/43/EG (ABl. 2000 L 180/22); s. auch „Förderung der Vielfalt im Bereich der Beschäftigung“ – ErwG 25 RL 2000/78/EG (ABl. 2000 L 303/16).
III. Weitergehende Beobachtungen
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und Männern an Führungspositionen in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst gelten. Die zentrale Rolle des Gesetzgebers bei der Förderung des Gemeininteresses an Nichtdiskriminierung in den Rechtsbeziehungen zwischen Privaten zeigt sich aber auch anderer Stelle: Gerichte stellen auf den vom Gesetzgeber mit einem Gesetz verfolgten Zweck der Förderung sozialer Inklusivität ab, um den Aspekt gemittelt über den Willen des Gesetzgebers bei der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen. So heißt es dann etwa, dass „nach den europarechtlichen Vorgaben“203 der Präventionsgedanke bei der Bemessung von Entschädigungen zu berücksichtigen ist;204 der Gesetzgeber die Privilegierung von für gewöhnlich benachteiligten Gruppen intendiert hat;205 oder der Gesetzgeber das Prinzip der Folgerichtigkeit 206 einhalten muss, wenn er Gesetze zur Gleichstellung von Mann und Frau erlässt.207 Zweitens zeigt die Typisierung, dass die judikative Verarbeitung stärker auf der verfassungsrechtlichen Ebene von EuGH 208 und BVerfG angesiedelt ist als bei den Zivilgerichten. Die Bedeutung der beiden Verfassungsgerichte für die Berücksichtigung des Gemeininteresses an Nichtdiskriminierung lässt sich an folgenden Urteilen besonders deutlich ablesen: In Defrenne II etablierte der EuGH, dass der Grundsatz der Entgeltgleichheit zwischen Mann und Frau in Beziehungen zwischen Privaten zur Anwendung kommt.209 In Egenberger urteilte er, dass Private grundsätzlich an den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 21 EUGRCh gebunden sind.210 Und im Stadionverbots-Beschluss überprüfte das BVerfG erstmals privates Handeln an Art. 3 Abs. 1 GG.211 In all diesen Fällen haben die Verfassungsgerichte auch eine Verpflichtung an Private herangetragen, das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung bei ihrem Handeln zu berücksichtigen.
3. Methoden Gesetzgeber und Rechtsprechung bedienen sich Methoden, die ähnlich schon bei der Berücksichtigung der Gemeininteressen an Umweltschutz und der Förderung von Infrastruktur begegnet sind, um das Gemeininteresse an Nichtdis203
OLG Stuttgart NJW 2012, 1085 (1086). Hamm NJW-RR 2011, 762 (764); OLG Stuttgart NJW 2012, 1085 (1086); AG Tempelhof-Kreuzberg WuM 2015, 73 (77 f.). 205 AG Berlin-Schöneberg Urt. v. 12.1.2012 – Az. 10 C 80/11 (BeckRS 2012, 3124); AG Mannheim NJW 2008, 3442 (3443). 206 Hierzu aus jüngerer Zeit Bumke Der Staat 49 (2010), 77 (85 ff.); Dann Der Staat 49 (2010), 630 (632 f.); Kischel AöR 124 (1999), 174 (179, 193 ff.); Payandeh AöR 136 (2011), 578 ff. 207 EuGH, Rs. C-236/09 – Test-Achats, ECLI:EU:C:2011:100, Rn. 21. 208 Classen JZ 2019, 1057 (1059). 209 EuGH, Rs. 43/75 – Defrenne II, Slg. 1976, 455, Rn. 21/24. 210 EuGH, Rs. C-414/16 – Egenberger, ECLI:EU:C:2018:257, Rn. 7 7. 211 BVerfGE 148, 267. 204 OLG
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Kapitel 5: Nichtdiskriminierung
kriminierung in privatrechtliche Entscheidungen einfließen zu lassen: Der Gesetzgeber hat spezielle nichtdiskriminierungsrechtliche Regelungen erlassen (a)), rechtsgeschäftliches Handeln wird an nichtdiskriminierungsrechtlichen Außenschranken gemessen (b)) und Gerichte verarbeiten mitunter das Gemein interesse bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe (c)). Zudem gehen Gesetzgeber und EuGH auf gleichheitsrechtliche Vorgaben des EU-Primärrechts ein, um das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung zu berücksichtigen, während BVerfG und die Zivilgerichte auf entsprechende Ausführungen als tragende Begründungen ihrer Entscheidungen verzichten (d)). a) Spezielle nichtdiskriminierungsrechtliche Gesetzgebung Eine erste Methode, um das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung im Privatrecht zu verarbeiten, ist der Erlass nichtdiskriminierungsrechtlicher Spezialgesetze entsprechenden Inhalts. Mit dem AGG existiert erstmals ein Gesetz, das Nichtdiskriminierungsvorgaben im allgemeinen Zivilrechtsverkehr festlegt. Als weitere bedeutende gesetzliche Änderungen sind die Neufassungen von § 76 Abs. 3a AktG und § 96 Abs. 2 AktG zu nennen, die eine starre Quotenregelung bei der Besetzung von Vorstands- und Aufsichtsratsposten gesetzlich bestimmen. Die gesetzlichen Änderungen führen dazu, dass über den Schutz Einzelner vor Diskriminierung und die Förderung Einzelner, um bestehende Strukturen unterschiedlicher Behandlung aufzubrechen, auch das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung gefördert wird. Für das AGG trifft zu, dass schon vor seiner Verabschiedung Gesetze des BGB einen Teil seines Anwendungsbereichs abdeckten und vor bestimmten Benachteiligungen schützten.212 Die ausdrücklichen Regelungen im AGG stärken jedoch die Legitimation gerichtlicher Entscheidungen, die auf Grundlage des AGG getroffen werden. Entscheidungen über Benachteiligungsverbote im allgemeinen Zivilrechtsverkehr auf Grundlage von § 138 BGB, die sich eventuell angesichts der größeren gesellschaftlichen Sensibilität für Rassismus und Sexismus mit der Zeit richterrechtlich etabliert hätten, wären dem Vorwurf einer unzureichenden demokratischen Rückbindung ausgesetzt. Die stärkere Legitimation des AGG, die auf dem Umstand basiert, dass seinen Regelungen eine ausdrückliche gesetzgeberische Entscheidung zugrunde liegt, erstreckt sich auch auf die mit dem AGG verbundene Berücksichtigung des Gemeininteresses an Nichtdiskriminierung. b) Festlegung von Außenschranken für rechtsgeschäftliches Handeln Die Typisierung lässt weiterhin erkennen, dass Außenschranken für rechtsgeschäftliches Handeln festgelegt werden, um Diskriminierungen zu verhindern 212
Looschelders JZ 2012, 105 (108).
III. Weitergehende Beobachtungen
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oder den rechtlichen Schutz zu versagen. In der Folge fördern diese Außenschranken auch das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung. Für einen Verstoß gegen die Quote bei der Besetzung von Aufsichtsräten ordnet § 96 Abs. 2 S. 7 AktG selbst die Nichtigkeit von Wahl und Entsendung an; entsprechendes gilt für die Besetzung des Vorstands gemäß § 76 Abs. 3a S. 2 AktG. Hingegen enthält das AGG keine Regelungen über die Nichtigkeit diskriminierender Rechtsgeschäfte. Nach der gesetzlichen Konzeption ziehen Verstöße gegen Diskriminierungsverbote, wie sie etwa in § 19 AGG niedergelegt sind, aber im Regelfall eine Nichtigkeit von Verträgen gemäß § 134 BGB nach sich.213 Im Anwendungsbereich des AGG ist, soweit ersichtlich, bislang keine Entscheidung ergangen, in der eine Vertragsklausel aufgrund ihres diskriminierenden Inhalts für nichtig (§ 134 BGB bzw. § 138 BGB) befunden wurde. Dass keine Entscheidungen veröffentlicht sind, die gegen das AGG verstoßende Verträge für nichtig befinden, ist erklärlich: Diskriminierung, die auf zwei wechselseitigen, übereinstimmenden Willenserklärungen beruht, ist die Ausnahme. Diesen Formen rechtsgeschäftlichen Verhaltens entspricht Diskriminierung in den seltensten Fällen. So findet Diskriminierung unter Privaten nicht so sehr innerhalb bestehender Verträge, als vielmehr im Vorfeld vertraglicher Beziehungen statt. Verträge werden gar nicht erst geschlossen, weil eine Seite die andere als potenzielle Vertragspartnerin ablehnt. Somit existieren selten Abmachungen, die Gerichte wegen diskriminierender Wirkung für nichtig erklären könnten. Es wäre jedoch unzutreffend, vom Fehlen veröffentlichter Entscheidungen zu nichtigen Verträgen aufgrund von Verstößen gegen das AGG darauf zu schließen, dass keine Rechtsprechung zur Nichtigkeit diskriminierender Rechtsgeschäfte bestünde. Bei einseitigen Rechtsgeschäften, die in der Typisierung aufgeführt sind, kamen Gerichte einer Nichtigkeitserklärung nahe. Für die Kündigung des Bankkontos eines rechtsextremen Verlages wurde eine Treuwidrigkeit ihrer Erklärung (§ 242 BGB) angedacht und im Ergebnis verneint.214 Bei der Kündigung eines Versicherungsvertrages, bei dessen Abschluss die Versicherungsnehmerin nicht über eine Schwangerschaftskomplikation aufgeklärt hatte, musste das entscheidende Gericht zu einer etwaigen Nichtigkeit der Kündigung keine Stellung mehr nehmen. Während des Rechtsstreits hatte sich das Versicherungsunternehmen mit der Versicherungsnehmerin auf den Fortbestand des Vertrages geeinigt.215 Ansonsten hätte das Gericht die Kündigung jedoch aller Voraussicht nach wegen des eindeutigen Verstoßes gegen § 20 Abs. 2 S. 1 AGG für nichtig erklärt. 213 Staudinger/Serr, 2020, § 19 AGG Rn. 6; MüKoBGB/Thüsing, 9. Aufl. 2021, § 21 AGG Rn. 77; differenziert Erman/Armbrüster, BGB, 16. Aufl. 2020, § 21 AGG Rn. 28 f. 214 BGH NJW 2013, 1519 (Rn. 20 ff.). 215 OLG Hamm NJW-RR 2011, 762.
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Kapitel 5: Nichtdiskriminierung
Neben der Anordnung der Nichtigkeit ist der Kontrahierungszwang ein Mittel, welches der Vertragsfreiheit Schranken setzt. Um die Bedeutung von nichtdiskriminierungsrechtlichen Kontrahierungszwängen zu erfassen, lohnt es, an die gängige Unterscheidung von Einschränkungen der Vertragsabschlussfreiheit und der Vertragsinhaltsfreiheit anzuknüpfen. Die Untersuchung hat keine Belege dafür geliefert, dass Gerichte bei einem Verstoß gegen Diskriminierungsverbote die diskriminierende Partei als verpflichtet angesehen hätten, mit der diskriminierten Partei einen Vertrag zu schließen. Die in der Literatur umstrittene Frage, inwiefern § 21 Abs. 2 S. 1 AGG, der einen Schadensersatzanspruch bei Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot aus § 19 AGG statuiert, einen Kontrahierungszwang anordnet, ist mithin von den Gerichten bislang nicht adressiert worden.216 Doch das Urteil des BGH zum Hausverbot, das ein Hotelier dem damaligen NPD-Vorsitzenden gegenüber ausgesprochen hatte,217 weist darauf hin, dass ein Kontrahierungszwang nur in Ausnahmefällen in Erwägung gezogen werden dürfte. Hier hatte der BGH entschieden, dass der Hotelbetreiber für die Zukunft Vertragsbeziehungen mit dem NPD-Vorsitzenden ablehnen kann; eine Verpflichtung zu zukünftigen Vertragsschlüssen mithin abgelehnt. Auch wenn der Sachverhalt nicht in den sachlichen Anwendungsbereich des AGG fällt, ist die Zurückhaltung des BGH bei der Etablierung eines Kontrahierungszwangs merklich. Hingegen liefert die Typisierung konkrete Anhaltspunkte dafür, dass das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung die Vertragsinhaltsfreiheit begrenzt, sobald Parteien in vertragliche Beziehungen zueinander eingetreten sind. Die Berücksichtigung des überindividuellen Moments der Nichtdiskriminierung zeigt sich in der Rechtsprechung zur Vertragsinhaltsfreiheit im Versicherungsrecht. Wie die in dem Bereich ergangenen Urteile belegen, dürfen Versicherungsunternehmen nicht ohne sachlichen Grund zwischen einzelnen Kundengruppen differenzieren.218 Vielmehr noch, selbst differenzierende Prämien und Leistungen, die sich auf einen sachlichen Grund stützen ließen – man denke an höhere Kosten der Schwangerschaftsversorgung oder die unterschiedliche Lebenserwartung von Männern und Frauen –, sind Versicherungsunternehmen versagt.219 Es geht also nicht nur darum, individuelle Diskriminierung bei der 216 Für einen Kontrahierungszwang sprechen sich u. a. aus Thüsing/v. Hoff NJW 2007, 21 ff.; Heese NJW 2012, 572 (575 f.); Wagner/Potsch JZ 2006, 1085 (1098); sowie mit kritischer Würdigung Bruns JZ 2007, 385 (388 f.); dagegen Armbrüster KritV 2005, 41 (48); ders. NJW 2007, 1494 ff.; Lüttringhaus, Grenzüberschreitender Diskriminierungsschutz. Das internationale Privatrecht der Antidiskriminierung, 2010, S. 32; Picker in Egon Lorenz (Hrsg.), Karlsruher Forum 2004: Haftung wegen Diskriminierung nach derzeitigem und zukünftigem Recht, 7 (64); vermittelnd („Kontrahierungszwang […] nur im Ausnahmefall“) Busche in Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht, 159 (165 f.). 217 BGH JZ 2012, 686. 218 BVerwGE 79, 326; vgl. EuGH, Rs. C-236/09 – Test-Achats, ECLI:EU:C:2011:100. 219 §§ 19 Abs. 1 Nr. 2 , 20 Abs. 2 S. 1, 33 Abs. 5 AGG.
III. Weitergehende Beobachtungen
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Ausgestaltung von Verträgen zu unterbinden, sondern auch darum, im Gemein interesse an Nichtdiskriminierung benachteiligenden Praktiken zu begegnen. c) Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe Gerichte bedienen sich der Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe, um das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung in ihre Bewertung der Rechtsbeziehungen zwischen Privaten einfließen zu lassen. Für die Berücksichtigung des Gemeininteresses knüpfen sie gelegentlich an Formulierungen wie „Treu und Glauben“ (§ 242 BGB) oder „schwerwiegende Veränderung der Umstände“ (vgl. § 313 Abs. 1 BGB) in Generalklauseln an. Wiederkehrend beziehen sie sich bei der Auslegung des Begriffs der „angemessene[n] Entschädigung“ (§ 21 Abs. 2 S. 3 AGG) auf das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung. Auf Treu und Glauben stellte etwa ein Gericht ab, als es bei der Nachmietersuche Beschränkungen des gesuchten Personenkreises auf bestimmte Nationalitäten für unzulässig erachtete.220 Und der BGH verwies bei der Entscheidung, ob die Verbliebenenrente eines Versicherungsvertrags dem überlebenden eingetragenen Lebenspartner des Versicherungsnehmers zu Gute kommen solle, auf die geänderten rechtlichen Umstände.221 Die Störung der Geschäftsgrundlage gemäß § 313 Abs. 1 BGB war der Ansatzpunkt für den Senat, um die rechtliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Beziehungen durch das LPartG in seine Erwägungen einzubeziehen. Die geringe Zahl an Beispielen in der Typisierung zeigt aber, dass die Generalklauseln der § 242 BGB und § 313 Abs. 1 BGB nur vereinzelt bemüht werden. Häufiger kam das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung bei der Festsetzung einer angemessenen Entschädigung als Wiedergutmachung für erlittene Benachteiligungen zur Sprache. Gerichte stellten auf die Berührung des Gemeininteresses an Nichtdiskriminierung ab, um zu ermitteln, ob eine Sanktion für diskriminierendes Verhalten „wirksam, verhältnismäßig und abschreckend“ ist.222 Zudem verwiesen sie auf die Präventionsfunktion, die von der Verurteilung zur Zahlung einer hohen Entschädigung ausgeht.223 Auch wenn im Rahmen der Festsetzung angemessener Entschädigungen das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung verarbeitet wird, ist letztlich festzustellen, dass Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe recht selten die Eingangstore für das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung sind. Stattdessen wirkt das Interesse auf die Privatrechtsbeziehungen über Gesetze ein, die 220
LG Bückeburg Urt. v. 6.11.2013 – Az. 1 S 38/13, Rn. 18 ff. (juris). BGH NJW 2012, 2191 (2193). 222 OLG Hamm NJW-RR 2011, 762 (764); s. auch OLG Stuttgart NJW 2012, 1085 (1086); AG Tempelhof-Kreuzberg WuM 2015, 73 (77 f.) 223 OLG Hamm NJW-RR 2011, 762 (764); OLG Düsseldorf, FD-MietR 2018, 404380; LG Köln NZM 2016, 165 (167); LG Mönchengladbach Urt. v. 27.5.2016 – Az. 11 O 99/15, Rn. 68 und 70 (juris); AG Tempelhof-Kreuzberg, WuM 2015, 73 (77 f.). 221
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Kapitel 5: Nichtdiskriminierung
einen weitaus geringeren Grad an Abstraktion aufweisen. Mit dem AGG oder den gesellschaftsrechtlichen Quotenregelungen gibt es Gesetze, die auf Tatbestands- wie auf Rechtsfolgenseite224 teils sehr konkret benennen, wann Verhalten gegen das Nichtdiskriminierungsrecht verstößt und welche Konsequenzen ein Verstoß zeitigt. Der Befund, dass die Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe eine auffallend geringe Rolle bei der Berücksichtigung des Gemeininteresses an Nichtdiskriminierung im Privatrecht spielt, bestätigt eine Feststellung, die im Hinblick auf die legislative Verarbeitung des Gemeininteresses225 getroffen worden ist. Dort zeigte sich die besondere Bedeutung des Gesetzgebers bei der Berücksichtigung des Gemeininteresses an Nichtdiskriminierung. Übereinstimmend hiermit nimmt das Gemeininteresse auf die Rechtsbeziehungen zwischen Privaten primär über gesetztes, (relativ) klar umschriebenes Recht Einfluss. d) Verweis auf Verfassungsrecht Der europäische und der deutsche Gesetzgeber verweisen dann auch in ihren Gesetzesbegründungen auf den verfassungsrechtlichen Rahmen, der sie ermächtigt, nichtdiskriminierungsrechtliche Vorschriften zu erlassen. Die Erwägungen der Nichtdiskriminierungs-RL der 2000er Jahre erwähnen die primärrechtlichen Nichtdiskriminierungsbestimmungen 226 und der Gesetzesentwurf zum FüPoG I bezieht sich auf den besonderen „Schutz- und Förderauftrag“ des Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG.227 Gerichte wiederum nehmen auf nichtdiskriminierungsrechtliche Unionsziele bzw. grundgesetzliche Gleichbehandlungsgebote unterschiedlich deutlich Bezug. Der EuGH erwähnt in den in der Typisierung dargestellten Entscheidungen wiederholt das unionsrechtliche Ziel größerer sozialer Inklusivität. Er führt das Ziel einer gleichberechtigten Teilhabe in demokratischen und toleranten Gesellschaften 228 an oder betont die Bedeutung des Ziels einer „Gleichstellung von Männern und Frauen“229 als eine der „Grundlagen“230 der Union. Hierüber begründet er eine weite Auslegung des europarechtlichen Nichtdiskriminierungsrechts. Dabei macht er keinen Unterschied danach, ob er Sekun224 Bsph. auf Tatbestandsseite §§ 19 Abs. 1 Nr. 2 , 20 Abs. 2 S. 1 AGG, auf Rechtsfolgenseite § 96 Abs. 2 S. 6 AktG. 225 S. Kap. 5. III. 2. 226 S. etwa ErwG 2, 5 und 8 RL 2006/54/EG (ABl. 2006 L 204/23); ErwG 14 RL 2000/43/ EG (ABl. 2000 L 180/22); ErwG 3 und 6 RL 2000/78/EG (ABl. 2000 L 303/16); ErwG 4 und 5 RL 2004/113/EG (ABl. 2004 L 373/37). 227 BT-DRs. 18/3784, S. 47, 75, 85. Den Schutz- und Förderauftrag nennt der Gesetzesentwurf allerdings wörtlich nur im Zusammenhang mit den Regelungen zur gleichberechtigten Teilhabe von Frauen und Männern im öffentlichen Dienst. 228 EuGH, Rs. C-83/14 – CHEZ, ECLI:EU:C:2015:480, Rn. 74. 229 EuGH, Rs. C-236/09 – Test-Achats, ECLI:EU:C:2011:100, Rn. 19. 230 EuGH, Rs. 43/75 – Defrenne II, Slg. 1976, 455, Rn. 12.
III. Weitergehende Beobachtungen
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därrecht, Recht der Mitgliedstaaten oder private Praktiken überprüft. Deutsche Gerichte sind bei der Bemühung eines Verfassungsauftrags, das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung innerhalb der Rechtsbeziehungen zwischen Privaten zu fördern, zurückhaltender. Im Stadionverbots-Beschluss verwies das BVerfG darauf, dass über „weitergehende Anforderungen aus speziellen Gleichheitsrechten wie Art. 3 Abs. 2 und 3 GG […] hier nicht zu entscheiden“231 sei. Damit ließ es explizit offen, ob es in Zukunft den Gleichstellungsauftrag des Art. 3 Abs. 2 GG bei der verfassungsrechtlichen Überprüfung des Handelns Privater – gemittelt über Gerichtsentscheidungen, die Ansatzpunkt etwaiger Verfassungsbeschwerden bilden – einbeziehen wird. In den Entscheidungsgründen der ordentlichen Gerichte wird, soweit ersichtlich, Art. 3 Abs. 2 GG nicht erwähnt. Somit stellen die ordentlichen Gerichte bislang nicht maßgeblich auf Normen mit Verfassungsrang ab, um das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung in ihre Entscheidungen einfließen zu lassen.
4. Praktische Bedeutsamkeit Möchte man bewerten, inwieweit die nichtdiskriminierungsrechtliche Gesetzgebung und Rechtsprechung tatsächlich das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung fördern, so lassen sich die mit Hilfe der Typisierung gewonnenen Einsichten nicht zu einem abschließenden Bild zusammensetzen. Das AGG mit seinem Benachteiligungsverbot im allgemeinen Zivilrechtsverkehr (§ 19 AGG) stellt erstmals explizit weite Bereiche der rechtlichen Aktivität Privater unter einen nichtdiskriminierungsrechtlichen Rechtfertigungsvorbehalt. Auch die versicherungsrechtlichen Bestimmungen der Nichtdiskriminierungs-RL in Zusammenspiel mit dem Urteil des EuGH in der Rechtssache Test-Achats haben bereits zu einem Wandel in der Versicherungspraxis geführt, da nunmehr geschlechtsspezifische Tarife der Vergangenheit angehören. Schließlich dürften die an Gesellschaften gerichteten Regelungen die Zusammensetzung von Aufsichtsräten sowie die personelle Aufstellung der beiden Ebenen unterhalb des Vorstands in den nächsten Jahren spürbar verändern.232 Insoweit ist das Nichtdiskriminierungsrecht in seiner jetzigen Ausprägung, welche die überindividuelle Facette von Nichtdiskriminierungsmaßnahmen in ihr Selbstverständnis aufnimmt, von erheblicher praktischer Bedeutung. In Kontrast hierzu steht allerdings der Befund, dass – lässt man das Arbeitsrecht außen vor – wenige Gerichtsentscheidungen mit Bezug zum AGG ergangen sind.233 Doch ist von einer geringen Relevanz für die Arbeit der Gerichte 231
BVerfGE 148, 267 (Rn. 40). Die Auswirkungen der Vorstandsquote dürften geringerer Natur sein, da hier nur Änderungen bei 29 Unternehmen zu erwarten sind, s. Redenius-Hövermann ZIP 2021, 1365 (1380); Steiner NZG 2021, 276 (283); „etwa 25“ – Seibt DB 2021, 438 (442). 233 Franke NJ 2010, 233 (239); Klose in Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.), Positive Maßnah232
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Kapitel 5: Nichtdiskriminierung
nicht auf eine geringe gesellschaftliche Relevanz zu schließen. Die geringe Zahl an Verfahren ist eher mit der „seltene[n] Mobilisierung des AGG“234 zu erklären. Betroffene wissen häufig nicht um ihre Rechte oder scheuen Rechtsverfahren, weil sie den damit verbundenen Stress meiden möchten oder ihre Erfolgsaussichten gering einschätzen.235 Damit fällt die Antwort auf die Frage nach der praktischen Bedeutsamkeit des privatrechtlichen Nichtdiskriminierungsrechts mit Bezügen zum Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung nicht einheitlich aus. Einerseits haben etwa AGG oder Quotenregelungen im Gesellschaftsrecht spürbare Veränderungen angestoßen, andererseits dürfte es Privaten weiterhin oftmals möglich sein, Personen im allgemeinen Zivilrechtsverkehr zu diskriminieren, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen.
5. Bezug zur Leiterzählung des Privatrechts Betrachtet man die Bezüge zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung, die das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung verarbeiten, und der Leiterzählung des Privatrechts, zeigen sich Verbindungen, die schon in den vergleichbaren Zusammenhängen zwischen der Berücksichtigung des Gemeininteresses an Umweltschutz bzw. der Förderung von Infrastruktur und der Leiterzählung begegnet sind: Erstens speist sich die Kritik an besagter Gesetzgebung und Rechtsprechung aus dem Privatrechtsverständnis, das die Leiterzählung tradiert. Zweitens ist der Umstand, dass privatrechtliches Nichtdiskriminierungsrecht der Förderung des Gemeininteresses an Nichtdiskriminierung eine Bedeutung zumisst, ein weiterer Beleg dafür, dass die Leiterzählung ein unvollständiges Bild des Privatrechts vermittelt. Das privatrechtliche Nichtdiskriminierungsrecht stößt auf anhaltende Kritik. Besonders deutlich fand diese Kritik Ausdruck in den Wortmeldungen, die die Verabschiedung des AGG begleitet haben.236 Hier begegnete einem wiederholt die Einschätzung, dass das Nichtdiskriminierungsrecht eingesetzt werde, um mit rechtlichen Mitteln der Gesellschaft bestimmte Moralvorstellungen zu men, 40; ebenfalls von einer geringen praktischen Bedeutung ausgehend Schmidt-Kessel in Leible/Schlachter (Hrsg.), Diskriminierungsschutz durch Privatrecht, 53 (71). Mit gleicher Einschätzung sogar für das Arbeitsrecht Thüsing ZESAR 2014, 364 (365). 234 Klose in Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.), Positive Maßnahmen, 40 (41). 235 Zu Gründen für die ausbleibende Mobilisierung Klose in Cottier/Estermann/Wrase (Hrsg.), Wie wirkt Recht?, 347 (355 ff.). 236 Scharfe Kritik bei Adomeit NJW 2002, 1622 f.; ders. NJW 2006, 2169 ff.; Johann Braun JuS 2002, 424 f.; Lobinger in Isensee (Hrsg.), Vertragsfreiheit und Diskriminierung, 99 ff.; Picker in Egon Lorenz (Hrsg.), Karlsruher Forum 2004: Haftung wegen Diskriminierung, 7 ff.; Repgen in Isensee (Hrsg.), Vertragsfreiheit und Diskriminierung, 11 ff.; Säcker ZRP 2002, 286 ff.; das Gesetzesvorhaben hingegen grundsätzlich unterstützend Baer ZRP 2002, 290 ff.; Neuner JZ 2003, 57 (66).
III. Weitergehende Beobachtungen
247
vermitteln.237 Säcker formulierte seinen Einwand gegen das AGG besonders deutlich, als er das AGG als Gesetzgebung einer „Tugendrepublik der neuen Jakobiner“238 bezeichnete. Wenn eine Moralisierung des Privatrechts mittels des AGG bemängelt wird, richtet sich die Kritik insbesondere gegen eine Berücksichtigung des Gemeininteresses an Nichtdiskriminierung in den Rechtsbeziehungen zwischen Privaten. Dahinter steht der Gedanke, dass das Privatrecht nicht dafür benutzt werden dürfe, Einzelne zu einem Verhalten zu verpflichten, welches das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung fördert. Der Kritik am AGG wurde insofern Rechnung getragen, als man seinen sachlichen Anwendungsbereich im Wege einer „adaptive[n] Reduktion“239 kleiner fasste als im ursprünglichen Gesetzesentwurf vorgesehen.240 Als Folge gibt es mit dem Benachteiligungsverbot gemäß §§ 19 ff. AGG nun ein spezifisches Nichtdiskriminierungsrecht im allgemeinen Zivilrechtsverkehr, welches neben § 138 BGB, § 242 BGB und §§ 823 ff. BGB zur Anwendung kommt.241 Doch auch nach der Verabschiedung des AGG währt die Kritik an einer Förderung des Gemeininteresses an Nichtdiskriminierung mittels seiner Hilfe fort. Aus dieser Kritik speist sich der „freiheitliche[] Erklärungsansatz[]“242 des AGG, 243 dem zufolge das AGG nur vor solchen Diskriminierungen schützen soll, die als Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zu werten sind. Damit gewährt der freiheitliche Erklärungsansatz dem Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung, das sich nicht ohne Weiteres in eine Verletzung der persönlichen Integrität übersetzen lässt, auch nur begrenzt Raum für eine Berücksichtigung. Und nicht nur das AGG sieht sich Kritik ausgesetzt: Eine skeptische Haltung gegenüber dem privatrechtlichen Diskriminierungsrecht begegnet ferner in der anhaltenden Kontroverse um die Verfassungskonformität der Geschlechter-
237 Säcker ZRP 2002, 286 ff.; ähnlich Isensee in Isensee (Hrsg.), Vertragsfreiheit und Diskriminierung, 239 (244); Picker JZ 2003, 540 (541); ders. in Riesenhuber (Hrsg.), Privatrechtsgesellschaft, 207 (260). 238 Säcker ZRP 2002, 286. 239 Grünberger in Kempny/Reimer (Hrsg.), Gleichheitssatzdogmatik heute, 5 (27) mit Verweis auf den noch weiter gefassten Begriff der „adaptiven Reduktion“ bei Somek, Rationalität und Diskriminierung, 2001, S. 6 , 27 ff. 240 Singer FS Adomeit, 703 (705). Den „beschränkte[n] Anwendungsbereich“ betonend Riesenhuber ZfPW 2018, 352 (366). 241 S. Lüttringhaus, Grenzüberschreitender Diskriminierungsschutz. Das internationale Privatrecht der Antidiskriminierung, 2010, S. 77. 242 Mörsdorf, Ungleichbehandlung als Norm, 2018, S. 6 . 243 Armbrüster NJW 2007, 1494 (1497); Bader, Arbeitsrechtlicher Antidiskriminierungsschutz als Privatrecht, 2012, S. 125 ff; Hartmann EuZA 2019, 24 (30 und 39); Staudinger-Eckpfeiler/Hartmann, 7. Aufl. 2020, Rn. B 8; Lobinger in Isensee (Hrsg.), Vertragsfreiheit und Diskriminierung, 99 (insbes. 141); ders., Entwicklung, Stand und Perspektiven des europäischen Antidiskriminierungsrechts, 2015, S. 38.; ders. AcP 216 (2016), 28 (82 ff.); Picker in Riesenhuber (Hrsg.), Privatrechtsgesellschaft, 207 (257 f.).
248
Kapitel 5: Nichtdiskriminierung
quote in Aufsichtsräten 244 oder den Besprechungen des Test-Achats-Urteils des EuGH.245 Bei den kritischen Sichten auf privatrechtliches Nichtdiskriminierungsrecht scheinen für die Leiterzählung charakteristische Motive durch: Das Rechtsgebiet sei ein „Fremdkörper“246 im Privatrecht. Der europäische Gesetzgeber dränge dem deutsche Recht Inhalte auf, die nicht in seine Grundkonzeption passten.247 Der Einzelne werde instrumentalisiert, um politische Vorstellungen zu realisieren.248 Das Privatrecht werde instrumentalisiert, um Gemeininteressen zu fördern.249 Darauf sei das Privatrecht nicht angelegt.250 Diese Bewertungen des privatrechtlichen Nichtdiskriminierungsrechts sind zu einem nicht unbedeutenden Teil als Reflexe der Leiterzählung erklärbar. Hier wird eine grundlegende Verschiebung im Privatrechtsgefüge251 wahrgenommen. Denn privatrechtliche Regelungen, die Einzelne in die Verantwortung nehmen, das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung in ihre Entscheidungen miteinzubeziehen, lassen sich nicht ohne Weiteres in ein freiheitlich-individualistisches Privatrechtsverständnis einbauen. Die Debatte um die vorzugswürdige Leseart des AGG – ob es eher freiheitsrechtlich oder gleichheitsrechtlich ausgelegt werden soll – ist einer der Orte, an denen die Leiterzählung am stärksten in Zweifel gezogen wird. Die um die Interpretation des AGG angestoßene Diskussion hat eine Dynamik erreicht, die sich nicht auf das Gebiet des Nichtdiskriminierungsrechts beschränkt. Vielmehr ist sie im allgemeinen Privatrechtsdiskurs
244 S. Kap. 5 Fn. 201. Ferner krit: „Rein sozialpolitisch begründete Maßnahme“ – Drygala NZG 2015, 1129 (1133); Seibt ZIP 2015, 1193 (1194). 245 S. etwa Looschelders JZ 2012, 105 (109). 246 Jestaedt VVDStRL 64 (2004), 298 (350); Lobinger AcP 216 (2016), 28 (86); Picker JZ 2003, 540 (544); ders. in Egon Lorenz (Hrsg.), Karlsruher Forum 2004: Haftung wegen Diskriminierung nach derzeitigem und zukünftigem Recht, 7 (57); im Hinblick auf Frauenquoten Habersack, Gutachten zum 69. DJT, E 36 sowie Windbichler NJW 2012, 2625 (2627); ferner Adomeit NJW 2006, 2169 (2171); mit gleicher Formulierung, sich die Ansicht aber nicht zu eigen machend, Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit, 2000, S. 289. 247 S. Lobinger in Isensee (Hrsg.), Vertragsfreiheit und Diskriminierung, 99 (122 ff.). 248 Staudinger-Eckpfeiler/Hartmann, 6. Aufl. 2020, Rn. B 8; Lobinger AcP 216 (2016), 28 (88); ders. in Isensee (Hrsg.), Vertragsfreiheit und Diskriminierung, 99 (156 ff.); Picker in Egon Lorenz (Hrsg.), Karlsruher Forum 2004: Haftung wegen Diskriminierung nach derzeitigem und zukünftigem Recht, 7 (75 ff.); Thüsing ZESAR 2014, 364 (371); vgl. noch zum Entwurf der RL 2004/113/EG Riesenhuber/Franck JZ 2004, 529 (538); wertungsfrei Britz VVDStRL 64 (2005), 355 (380). 249 Staudinger-Eckpfeiler/Hartmann, 6. Aufl. 2020, Rn. B 8; Lobinger AcP 216 (2016) 28 (88); ders. in Isensee (Hrsg.), Vertragsfreiheit und Diskriminierung, 99 (151 ff.); ferner, wenn auch weniger krit. Looschelders JZ 2012, 105 (107); Hohenstatt/Seibt/Kraack, Geschlechterund Frauenquoten in der Privatwirtschaft, Rn. 65. 250 Säcker ZRP 2002, 286 (289); s. auch Lobinger in Isensee (Hrsg.), Vertragsfreiheit und Diskriminierung, 99 (152 und 176). 251 S. Britz VVDStRL 64 (2005), 355 ff.; Bumke AöR 144 (2019), 1 (73).
III. Weitergehende Beobachtungen
249
angekommen und stellt das freiheitlich-individualistische Privatrechtsverständnis generell in Frage.252 Verlässt man die Ebene des rechtswissenschaftlichen Diskurses und schaut auf die nichtdiskriminierungsrechtliche Gesetzgebung und Rechtsprechung, zeigt sich eine weitere Verbindung zwischen Nichtdiskriminierungsrecht und Leiterzählung: Die Tatsache, dass Gesetze und gerichtliche Entscheidung der Berührung des Gemeininteresses an Nichtdiskriminierung Bedeutung zumessen, ist ein weiterer Beleg dafür, dass die Leiterzählung ein unvollständiges Bild des Privatrechts zeichnet. Im Hinblick auf reaktive Benachteiligungsverbote und proaktive Förderungsmaßnahmen bedarf es Ergänzungen, soll eine realistischere Erklärung des Privatrechts vermittelt werden.
252 Ablesbar an den Querverbindungen in der Diskussion um die Auslegung des privatrechtlichen Nichtdiskriminierungsrechts (für die freiheitliche Sicht Lobinger AcP 216 [2016], 28 84 ff.]; für die gleichheitsrechtliche Sicht Grünberger, Personale Gleichheit, 2013, S. 536) und um die privatrechtsdogmatische Methode (einerseits Lobinger AcP 216 [2016], 28 [insbes. 54 ff.]; Riesenhuber AcP 219 [2019], 892 [905 ff.]; andererseits Grünberger AcP 218 [2018], 213 [243 ff.]; ders. AcP 219 [2019], 924 [937 ff.]).
Kapitel 6
Umweltschutz, Infrastruktur, Nichtdiskriminierung: Übergreifende Beobachtungen Die vorangegangenen Kapitel haben gezeigt, wo und wie die jeweiligen Gemein interessen an Umweltschutz, der Förderung von Infrastruktur und Nichtdiskriminierung im geltenden Privatrecht Berücksichtigung finden, sowie die Bezüge ihrer Berücksichtigung zur privatrechtlichen Leiterzählung dargestellt. Daran schließt sich die Frage an, ob aus der vorgenommenen Sichtung der Gesetzgebung und Rechtsprechung zu den besagten Gemeininteressen übergreifende Erkenntnisse gewonnen werden können. Lassen sich Gemeinsamkeiten in ihrer rechtlichen Behandlung ausfindig machen? Oder überwiegen die Unterschiede, so dass sich die Entscheidungen stärker an den Spezifika der konkreten Regelungsmaterie als an dem Umstand orientieren, dass Gemeininteressen betroffen sind? Wie im Folgenden näher ausgeführt wird, lassen sich trotz aller Unterschiede im Detail allgemeine Aussagen über die Berücksichtigung von Gemeininteressen im Privatrecht ableiten.
I. Individualinteresse und Gemeininteresse Der Gesetzgeber nennt die Förderung von Gemeininteressen als Zweck privatrechtlicher Gesetze. Eine Fülle von privatrechtlichen Gesetzen nimmt explizit auf Gemeininteressen Bezug. Als Beispiele dienen § 1 EEG für das Gemeinin teresse an Umweltschutz oder § 1 Abs. 1 und 2 EnWG für das Gemeininteresse an der Förderung von Infrastruktur. Über einzelne Artikel oder Paragraphen hinaus finden Gemeininteressen in den Erwägungsgründen unionsrechtlicher Richtlinien Erwähnung.1 Zudem ist auf nationaler Ebene in den Gesetzesmaterialien die Förderung bestimmter Gemeininteressen als Ziel niedergelegt.2 Außerdem sind in der privatrechtlichen Rechtsprechung Erwägungen wahrnehmbar, die einen Bezug zur Förderung von Gemeininteressen aufweisen. In der Sache lassen Gerichte des Öfteren Gemeininteressen in ihre Erwägungen 1 Für das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung ErwG 12 RL 2000/43/EG (ABl. 2000 L 180/22); s. auch „Förderung der Vielfalt im Bereich der Beschäftigung“ – ErwG 25 RL 2000/78/EG (ABl. 2000 L 303/16). 2 Für das Gemeininteresse an Umweltschutz BT-Drs. 11/7104, S. 1; für das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung BT-Drs. 18/3784, S. 1 f.
252
Kapitel 6: Umweltschutz, Infrastruktur, Nichtdiskriminierung
einfließen. Selten jedoch benennen sie bei der Regelung der Rechtsbeziehungen Privater die berührten Gemeininteressen ausdrücklich oder grenzen sie zu inhaltsähnlichen Individualinteressen ab.3 Zivilgerichte urteilten über verschiedene Konstellationen, in denen sich Individualinteressen und Gemeininteressen begegnen können. Entscheidungen ergingen, in denen die Individualinteressen der Privaten konträr zu einem Gemeininteresse standen4 oder in denen das Individualinteresse einer Partei inhaltliche Überschneidungen mit einem berührten Gemeininteresse aufwies.5 Die Entscheidungsgründe zeigten Ansätze einer Differenzierung zwischen Individual- und Gemeininteressen. Man führte etwa eine „Belastung der Umwelt“6 an, um den Befund einer vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung zu untermauern; rekurrierte auf die Figur des „gemeinwichtigen“7 Betriebs, d. h. eines Betriebs, der im Interesse der Allgemeinheit agiert, um gesteigerte Duldungspflichten zu begründen und stellte Präventionserwägungen bei der Bemessung angemessener Entschädigung für diskriminierendes Verhalten an. 8 Allerdings unterschieden die Gerichte nur vereinzelt deutlich zwischen Individualinteressen und Gemeininteressen vergleichbaren Inhalts.
II. Legislative und judikative Verarbeitung Der Gesetzgeber trägt den Hauptanteil der Verarbeitung von Gemeininteressen im Privatrecht, wie die Verabschiedung privatrechtlicher Vorschriften, die zugleich Gemeininteressen fördern sollen,9 belegt. Eine Analyse der gesichteten Rechtsprechung kann mithin Bedenken entkräften, gemäß derer sich Gerichte durch den Einbezug von Gemeininteressen in ihre Entscheidungsfindung weitgehend über gesetzgeberische Wertungen hinwegsetzen. Die herausgehobene Stellung, die dem Gesetzgeber bei der Verarbeitung von Gemeininteressen zukommt, lässt sich aber nicht nur an den von ihm erlassenen privatrechtlichen Gesetzen mit Gemeininteressenbezug ablesen, sondern auch an der Art und Weise, wie Gerichte Anschluss an Gesetze und die sie vorbereitenden Gesetzesmaterialien suchen. Gerichte schenken den Erwägungsgründen und Gesetzesmaterialien Beachtung, wenn sie im Rahmen der Auslegung den hinter einem Gesetz stehenden Willen des Gesetzgebers ermitteln.10 Stellen sie 3
S. insbes. Kap. 3. III. 1. und 5. III. 1. S. Kap. 3. II. 1. und 4. II. 1. 5 S. Kap. 3. II. 2 und 3; 4. II. 2. und 5. II. 1. 6 BGHZ 225, 316 (Rn. 16); ähnlich OLG Karlsruhe ZIP 2019, 863 (867); OLG Koblenz NJW 2019, 2237 (2240). 7 BGHZ 144, 200 (205). 8 OLG Stuttgart NJW 2012, 1085 (1086). 9 S. hierzu Kap. 3. III. 2, 4. III. 2., 5. III. 2. und 6. I. 10 Vgl. Frieling, Gesetzesmaterialien und Wille des Gesetzgebers, 2017, S. 23 ff. 4
III. Methode
253
auf den Gedanken der Einheit der Rechtsordnung ab, so geschieht dies ebenfalls mit Referenz auf das Handeln des Gesetzgebers. Der BGH erachtete es beispielshalber als widersprüchlich, die Trockenlegung eines Teichs zu veranlassen, der unter Naturschutz stand.11 Die Pflicht zur Duldung eines angrenzenden Drogenhilfezentrums begründete der BGH mit Hinweis darauf, dass die Unterstützung Abhängiger „gesetzlichen Ausdruck“12 gefunden habe. Die beiden Beispielsfälle zeigen, dass hinter Argumentationen, die letztlich auf den Erhalt der Einheit der Rechtsordnung13 zielen, immer auch die Achtung einer Wertung steht, die der Gesetzgeber in einem anderen Rechtsgebiet getroffen hat. Dagegen spielen Europäische Institutionen oder das BVerfG keine herausgehobene Rolle bei der Berücksichtigung von Gemeininteressen im Privatrecht. Dies heißt nun nicht, dass sie auf das Privatrecht mit Bezügen zu Gemeininteressen keinerlei Einfluss nehmen. Vielmehr machen sich die Prozesse, die als Europäisierung und Konstitutionalisierung des Privatrechts beschrieben werden, auch bei der Behandlung von Gemeininteressen bemerkbar. Doch während das privatrechtliche Nichtdiskriminierungsrecht durch unionsrechtliche und verfassungsrechtliche Impulse geprägt ist,14 gründet die Berücksichtigung von Umweltschutz- oder Infrastrukturinteressen bislang in weitaus geringerem Maße auf Entscheidungen der EU und des BVerfG.15
III. Methode Auch methodisch zeigen sich bei der Berücksichtigung der Gemeininteressen an Umweltschutz, der Förderung von Infrastruktur und Nichtdiskriminierung Parallelen.
1. Spezielle Gesetzgebung mit Bezug zu Gemeininteressen In Gesetzen, die materiell dem Privatrecht zugerechnet werden, wird die Förderung von Gemeininteressen teils deutlich benannt. Dieser Befund deckt sich mit der vorangehenden Beobachtung der herausgehobenen Bedeutung des Gesetzgebers bei der Berücksichtigung von Gemeininteressen im Privatrecht. Ausdrücklich erwähnt wird die „Versorgung mit Elektrizität und Gas“ als Gesetzeszweck (§ 1 Abs. 1 EnWG) und die Infrastruktursicherung als Regulierungs11 BGHZ 120, 239 (242 ff.), wobei der BGH den Fall an das Instanzgericht mit der Vorgabe zurückwies, zu prüfen, inwiefern öffentlich-rechtlich dem Eigentümer eine Ausnahmegenehmigung zur Trockenlegung des Teichs gewährt werden könne. 12 BGHZ 144, 200 (206). 13 S. Kap. 4 Fn. 145. 14 Kap. 5. II. 1. b). 15 Für das Gemeininteresse an Umweltschutz s. Kap. 3. III. 2.; für das Gemeininteresse an Infrastrukturgewähr s. Kap. 4. III. 2.
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Kapitel 6: Umweltschutz, Infrastruktur, Nichtdiskriminierung
ziel (§ 1 Abs. 2 EnWG) des EnWG. In § 5 AGG, der positive Maßnahmen für zulässig erklärt, kommt der Bezug zum Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung deutlich zum Ausdruck. Daneben treten Gesetze, in denen Gemeininteressen zwar keine ausdrückliche Erwähnung finden, die aber vom Gedanken der Förderung eines Gemeininteresses durchzogen sind. Die Regelungen des UmweltHG sind etwa davon geprägt, die Voraussetzungen des allgemeinen Deliktsrechts für die Gewähr von Schadensersatzansprüchen bei Umwelteinwirkungen abzusenken. Vor allem in Nebengesetzen zum BGB wird mehr oder minder explizit auf Gemeininteressen Bezug genommen. Im BGB kommen – jedenfalls, was die genauer analysierten Gemeininteressen betrifft – lediglich § 906 Abs. 1 S. 2 und 3 BGB einer Benennung nahe, wenn sie im Hinblick auf die Duldungspflicht von Immissionen auf die immissionsschutzrechtlichen Vorgaben des öffentlichen Rechts verweisen. Und auch hier sind die Bezüge eher undeutlich gehalten.
2. Festlegung von Außenschranken für rechtsgeschäftliches Handeln Unterschiede zwischen den behandelten Gemeininteressen zeigen sich in der Bedeutung, die der Festlegung rechtsgeschäftlicher Außenschranken bei ihrer Berücksichtigung zukommt. In der Vergangenheit haben Gerichte Verträge wegen Verstoßes gegen umweltschützende Vorschriften für nichtig gemäß § 134 BGB bzw. § 138 BGB erklärt.16 In Entscheidungen mit Bezug zum Nichtdiskriminierungsrecht wurde zwar in einigen wenigen Fällen die Nichtigkeit von Verträgen17 sowie die Verbots- oder Treuwidrigkeit von Kündigungen aufgrund Verstoßes gegen nichtdiskriminierungsrechtliche Vorschriften erörtert.18 Soweit ersichtlich wurde aber bislang keine Rechtsprechung dazu veröffentlicht, ob eine Beeinträchtigung des Gemeininteresses an der Förderung von Infrastruktur die Nichtigkeitsfolge des § 134 BGB nach sich ziehen kann.19 Neben der Nichtigerklärung bieten Kontrahierungszwänge die Möglichkeit, Gemeininteressen zu schützen bzw. zu fördern. Kontrahierungszwänge, mittels derer der Ausbau erneuerbarer Energien vorangetrieben werden soll, 20 fördern das Gemeininteresse an Umweltschutz. Und im Energieversorgungsrecht werden Kontrahierungszwänge angeordnet, um mit ihrer Hilfe die individuelle wie kollektive Versorgungssicherheit mit Energieträgern zu sichern.21 16 OLG Celle Urt. v. 7.10.1994 – Az. 4 U 134/93 (juris); OLG Oldenburg NuR 1996, 320; s. Kap. 3. II. 1. 17 Bsph. AG Nürnberg WuM 1984, 295 (296). 18 S. etwa BGH NJW 2013, 1519 (Rn. 20 ff.). 19 Kap. 4. II. 1. 20 Kap. 3. II. 4. 21 Kap. 4. II. 3. b).
III. Methode
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Eine abschließende Klärung der Frage, ob und unter welchen Umständen ein Vertragsschluss als Naturalrestitution für diskriminierendes Verhalten gewährt werden soll, steht allerdings noch aus.22 Mit der Anordnung der Nichtigkeit von Rechtsgeschäften sowie dem Kontrahierungszwang hält das Privatrecht also Instrumente bereit, um rechtsgeschäftlichem Verhalten zu begegnen, welches die Verwirklichung von Gemeininteressen behindert.23
3. Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe Gerichte lassen Gemeininteressen bei der Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe in ihre Entscheidungsfindung einfließen. „Die Abwägung als das zentrale Verfahren konkretisierender Regelbildung im Privatrecht“24 ermöglicht es Gerichten, Gemeininteressen in Verhältnis zu gleichgerichteten oder konkurrierenden Individualinteressen zu setzen. Sie nutzen die „wertungsausfüllungsbedürftigen“25 Generalklauseln, um den Schutz bzw. die Förderung von Gemeininteressen in die Abwägung einzustellen. Hinsichtlich des Interesses an Umweltschutz stellten Gerichte etwa auf § 826 BGB ab26 und für das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung griffen sie vereinzelt auf § 242 BGB zurück.27 Seitdem für letzteres Gemeininteresse mit dem AGG ein spe zielles Gesetz mit konkreten Tatbestands- und Rechtsfolgenanordnungen besteht, dürfte hier noch seltener mit Verweis auf die Generalklauseln argumentiert werden.28 Auch bei einem geringeren Maß an begrifflicher Vagheit, als es die Generalklauseln aufweisen, berücksichtigen Gerichte Gemeininteressen bei der Gesetzeskonkretisierung: Bei der Beurteilung, ob eine Immission zu einer wesentlichen Beeinträchtigung im Sinne des § 906 Abs. 1 BGB führt, stellen Gerichte 22
Kap. 5. III. 3. a). Inwieweit diese Instrumente zur Anwendung kommen sollen, hängt davon ab, ob ihre Anordnung verhältnismäßig und sinnhaft ist. Dabei handelt es sich um zwei voneinander zu unterscheidende Fragen, wie ein Blick auf das Nichtdiskriminierungsrecht zeigt: Es kann verhältnismäßig sein, einer Person die Pflicht aufzuerlegen, einen Vertrag mit einer Person zu schließen, die sie ursprünglich wegen diskriminatorischer Motive als Vertragspartnerin abgelehnt hat. Doch ist es bei Rechtsbeziehungen, bei denen Diskriminierende und Diskriminierte in einen engen persönlichen Austausch miteinander treten würden, mitunter wenig sinnhaft, die Privaten aneinander zu binden (hingegen für ein Wahlrecht des Diskriminierten plädierend Looschelders JZ 2012, 105 [111]). Dies gilt es bei einem Ausgleich der Interessen der Beteiligten und des Gemeininteresses an Nichtdiskriminierung zu berücksichtigen. 24 Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 148. 25 Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, 2005, S. 127; Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Aufl. 1983, S. 29, 82; Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 33. 26 BGHZ 225, 316 (Rn. 16); OLG Karlsruhe ZIP 2019, 863 (864 ff.); OLG Koblenz NJW 2019, 2237 (Rn. 35 ff.). 27 S. etwa LG Bückeburg Urt. v. 6.11.2013 – Az. 1 S 38/13, Rn. 18 ff. (juris). 28 S. hierzu Kap. 5. III. 3. b). 23
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Kapitel 6: Umweltschutz, Infrastruktur, Nichtdiskriminierung
unter anderem auf „öffentliche[] […] Belange“29 ab, um Umweltschutzerwägungen anzustellen. Bei der Entscheidung, ob Enteignungen für die Realisierung von Infrastrukturprojekten vorgenommen werden sollen, ist die „Erforderlichkeit“ (vgl. § 45 Abs. 1 EnWG) durch eine Abwägung der betroffenen Individualund Gemeininteressen zu konkretisieren. Und bei der Bemessung einer „angemessene[n] Entschädigung“ für eine erlittene Benachteiligung (§ 21 Abs. 2 S. 3 AGG) wird das mit der Entschädigung (mit-)verfolgte Ziel der Förderung des Gemeininteresses an Nichtdiskriminierung in den Blick genommen.30
4. Mediatisierte Verarbeitung Wenn Zivilgerichte Gemeininteressen in ihren Entscheidungen berücksichtigen, verläuft die Argumentation in erster Linie in privatrechtlichen Bahnen. Ein verfassungsrechtlicher Einschlag bei der Berücksichtigung von Gemeininteressen im Privatrecht ist nur selten erkennbar. Er lässt sich an der Rechtsprechung des EuGH, des BVerfG und des BGH zu Nichtdiskriminierungsgeboten unter Privaten ablesen.31 Doch hat die Sichtung der Rechtsprechung der Zivilgerichte gezeigt, dass diese nur ausnahmsweise Verfassungsartikel nennen, die Bezüge zu den hier untersuchten Gemeininteressen aufweisen.32 Denkbare Anknüpfungspunkte – Art. 3 Abs. 3 UAbs. 1 EUV und Art. 20a GG im Hinblick auf den Umweltschutz, das Sozialstaatsprinzip des Art. 20 GG für das Gemeininteresse an der Förderung von Infrastruktur sowie die verfassungsrechtlichen Nichtdiskriminierungsvorgaben des Art. 3 Abs. 3 UAbs. 2 EUV und des Art. 3 GG – werden selten genutzt. Zivilgerichte sind allerdings auch nicht darauf angewiesen, auf Verfassungsartikel mit Bezügen zu Gemeininteressen – wie die Ziele der Union oder grundgesetzliche Staatszielbestimmungen – abzustellen. Die verfassungsrechtlichen Wertungen durchziehen das Privatrecht und werden mittels privatrechtlicher Gesetzgebung einer mediatisierten 33 Verarbeitung zugeführt. Für die Zivilgerichte besteht im Regelfall kein Bedarf, auf Verfassungsnormen zu verweisen, weil einfaches Privatrecht sie entweder zu einer Berücksichtigung von Gemeininteressen in ihren Entscheidungen verpflichtet oder ihnen hierzu die Möglichkeiten gibt. Wenn § 16 Abs. 1 UmweltHG festlegt, dass bei Sachschäden, die zugleich die Natur beeinträchtigen, Aufwendungen für die Wiederherstellung des vorherigen Zustandes nicht allein deshalb unverhältnismäßig sind, „weil sie den Wert der Sache übersteigen“, sind Richterinnen bei der Anwendung von 29
BGHZ 120, 239 (255). S. nur OLG Stuttgart NJW 2012, 1085 (1086). 31 Kap. 5. II. 1. b). 32 Kap. 3. III. 3. d) und 5. II. 1. b) aa). 33 Dürig FS Nawiasky, 157 (183); grds. Schuppert/Bumke, Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, 2000, S. 9 ff. 30
IV. Praktische Bedeutsamkeit
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§ 16 Abs. 1 UmweltHG angehalten, diesem Umstand Rechnung zu tragen. Und wenn unbestimmte Rechtsbegriffe wie die „Wesentlichkeit“ im Sinne des § 906 Abs. 1 BGB oder die „Angemessenheit“ einer Entschädigung im Sinne des § 21 Abs. 2 S. 3 AGG eine Konkretisierung erfordern, können Richterinnen im Rahmen ihrer „Konkretisierungskompetenz“34 das Gemeininteresse an Umweltschutz bzw. Nichtdiskriminierung einfließen lassen.
IV. Praktische Bedeutsamkeit Die Sichtung von Gesetzgebung und Rechtsprechung hat gezeigt, dass Privatrecht mit starken Bezügen zum Gemeininteresse an Umweltschutz, der Förderung von Infrastruktur und Nichtdiskriminierung existiert. Die Bezüge beschränken sich nicht darauf, das Gemeinwohl35 abstrakt zu sichern, indem das Privatrecht einen rechtssichernden Rahmen zur Regelung des Interessenausgleichs zwischen Privaten zur Verfügung stellt. Vielmehr werden konkrete Gemeininteressen verarbeitet. Innerhalb des Privatrechts als gesamtem Rechtsgebiet sind die Bezüge aber vergleichsweise selten anzutreffen. Darauf lässt insbesondere die geringe Zahl privatrechtlicher Entscheidungen schließen, in denen Gerichte mehr oder minder deutlich Gemeininteressen in ihre Erwägungen einstellen. Soweit sich weitergehende Aussagen zur praktischen Bedeutsamkeit der Gesetzgebung und Rechtsprechung mit Bezügen zu Gemeininteressen treffen lassen, differiert ihre tatsächliche Schutz- und Förderungswirkung, abhängig von dem betroffenen Gemeininteresse und der konkreten Regelung, stark. In begrenztem Umfang dürften umweltschützende Effekte von der Nichtigkeitsanordnung bei Verstößen gegen Natur- oder Artenschutzvorschriften sowie den umweltprivatrechtlichen Sonderregelungen im Deliktsrecht oder dem Nachbarrecht ausgehen.36 Größere umweltschützende Wirkung hat die Festsetzung der EEG-Umlage.37 Das Gemeininteresse an der Förderung von Infrastruktur prägt das privatrechtliche Energierecht stark 38 und das Energierecht entfaltet wiederum aufgrund der Masse an Versorgungsverträgen eine Breitenwirkung. Entscheidungen zu Enteignungen, um Infrastrukturprojekte realisieren zu können, oder zum bürgerlich-rechtlichen Aufopferungsanspruch sind hingegen seltener anzutreffen und erlangen schon wegen ihrer geringen Zahl nur begrenzt praktische Bedeutsamkeit.39 Im Nichtdiskriminierungsrecht 34
Riesenhuber AcP 219 (2019), 892 (914). Zum Verständnis von Gemeininteressen als Konkretisierungen des Gemeinwohls s. bereits Einl. 1. 36 Kap. 3. II. 1–3. 37 Kap. 3. II. 4. 38 Kap. 4. II. 3. 39 Kap. 4. II. 2. a), b). 35
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Kapitel 6: Umweltschutz, Infrastruktur, Nichtdiskriminierung
gibt es einerseits Entscheidungen von großer Tragweite,40 andererseits befassten sich entgegen früherer Annahmen seit Einführung des AGG wenige Entscheidungen mit dem Diskriminierungsverbot im allgemeinen Zivilrechtsverkehr.41 Doch können hieraus nur bedingt Schlüsse über die praktische Relevanz der Berücksichtigung von Gemeininteressen im Privatrecht gezogen werden. Denn es bleibt ungeklärt, inwieweit die Rechtslage steuernd auf das zukünftige Verhalten Privater Einfluss nimmt. Es wären rechtsökonomische Studien erforderlich, um beurteilen zu können, ob und in welchem Maße Gemeininteressen mittels des Privatrechts gefördert werden. Bislang liegen diese nur vereinzelt vor.42
V. Bezug zur Leiterzählung des Privatrechts In allen drei Referenzbereichen zeigen sich Bezüge zur Leiterzählung. Zum einen speist sich die Kritik an privatrechtlicher Gesetzgebung und Rechtsprechung mit Gemeininteressenbezug aus der Leiterzählung. Gegen die Verarbeitung der Gemeininteressen an Umweltschutz, an der Förderung von Infrastruktur und an Nichtdiskriminierung wird eingewandt, dass der Einzelne zu ihrer Förderung instrumentalisiert werde.43 Dieser Einwand begegnet vor allem im Hinblick auf die Gemeininteressen an Umweltschutz und an Nichtdiskriminierung, seltener im Hinblick auf das Gemeininteresse an der Förderung von Infrastruktur. Diese Kritik gründet auf einem freiheitlich-individualistischen Privatrechtsverständnis, wonach das Privatrecht als ein Rechtsgebiet verstanden wird, das sich zuvorderst am Prinzip der Privatautonomie ausrichtet. Daneben tritt die Kritik, dass das Privatrecht selbst zur Förderung der Gemeininteressen an Umweltschutz, an der Förderung von Infrastruktur und an Nichtdiskriminierung instrumentalisiert werde.44 Anstatt sich hierfür des Privatrechts zu bedienen, sollte zu diesem Zweck das öffentliche Recht genutzt werden oder keine Verhaltenssteuerung mit den Mitteln des Rechts erfolgen. Auch hier wird der Einfluss der Leiterzählung auf die Kritik offenbar: Es sind Formulierungen des privatrechtlichen Eigenständigkeitsanspruchs. Sind Gesetze und Recht40 EuGH, Rs. C-236/09 – Test-Achats, ECLI:EU:C:2011:100; Rs. C-414/16 – Egenberger, ECLI:EU:C:2018:257; Rs. C-68/17 – IR v JQ, ECLI:EU:C:2018:696. 41 Kap. 5. III. 4. a). 42 S. allerdings für das Umweltprivatrecht Lehmann in Schulz (Hrsg.), Ökologie und Recht, 81 ff.; Wagner/Bsaisou JZ 2014, 1031 ff. 43 S. für das Gemeininteresse an Umweltschutz Kap. 3. III. 5.; für das Gemeininteresse an der Förderung von Infrastruktur Kap. 4. III. 5.; für das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung Kap. 5. III. 5. 44 S. für das Gemeininteresse an Umweltschutz Kap. 3. III. 5.; für das Gemeininteresse an der Förderung von Infrastruktur Kap. 4. III. 5.; für das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung Kap. 5. III. 5.
V. Bezug zur Leiterzählung des Privatrechts
259
sprechung mit Gemeininteressenbezug so als Abweichungen vom privatrechtlichen Standard gekennzeichnet, ist eine Argumentation erschwert, gemäß der sie als wesentlicher Bestandteil des Privatrechts anzusehen sind. Zum anderen zeigen Gesetzgebung und Rechtsprechung mit Gemeininteressenbezug eine Leerstelle in der Leiterzählung auf: Das Umweltprivatrecht sowie das privatrechtliche Nichtdiskriminierungsrecht haben sich in der jüngeren Zeit stark weiterentwickelt. Ähnlich verhält es sich mit dem Infrastrukturprivatrecht, das im Zuge der fortschreitenden Privatisierung ehemals staatlicher Bereiche der Infrastrukturversorgung über die letzten 20 bis 30 Jahre einen Bedeutungszuwachs verzeichnet. Diese Ausschnitte des Privatrechts nimmt die Leiterzählung nur unzureichend auf. Sie sind ein Beleg dafür, dass die privatrechtliche Leiterzählung, in der Gemeininteressen weitestgehend absent sind, den Wesensgehalt des Privatrechts nicht sachgerecht zu erfassen vermag.
Kapitel 7
Folgerungen für die Leiterzählung des Privatrechts Der erste Teil der Arbeit (Kap. 1 und 2) beschäftigte sich mit der tradierten Erzählung, gemäß der Gemeininteressen dem Privatrecht fremd sind, und erkundete die Gründe für die Standhaftigkeit, mit welcher sich diese Beschreibung hält. Der zweite Teil der Arbeit (Kap. 3 –6) zeigte, dass und auf welche Weise Gesetzgeber und Rechtsprechung Gemeininteressen im Privatrecht berücksichtigen. Aus der dogmatischen Untersuchung des zweiten Teils lassen sich nun Folgerungen für die Leiterzählung im Privatrecht ableiten: Ein Privatrechtsverständnis, das die Einbeziehung von Gemeininteressen integriert, zeichnet ein realistischeres Bild vom Privatrecht als es die Leiterzählung vermag (I.). Die Untersuchung privatrechtlicher Gesetzgebung und Rechtsprechung mit Bezug zu Gemeininteressen gibt Anlass, Überzeichnungen in der Darstellung des Rechts zu hinterfragen (II.). Dennoch sollte das Ziel nicht sein, die alte Leiterzählung durch eine neue zu ersetzen. Gewinnbringender ist ein reflektierter Umgang mit dem eigenen Privatrechtsverständnis (III).
I. Realistische Beschreibung Was die Berücksichtigung von Gemeininteressen betrifft, weist die privatrechtliche Leiterzählung eine Leerstelle auf. Die Leiterzählung trägt ein freiheitlichindivi dualistisches Privatrechtsverständnis fort. Bei ihrer Weitererzählung werden Gemeininteressen, wenn überhaupt, nur am Rande erwähnt. Dieser Entwurf eines Privatrechtsverständnisses deckt sich nicht mit den Erkenntnissen, die sich aus einer Durchsicht privatrechtlicher Gesetzgebung und Rechtsprechung mit Gemeininteressenbezug ziehen lassen. Zu diesen Erkenntnissen zählt, dass sich schon kurz nach Inkrafttreten des BGB Rechtsprechung findet, die Gemeininteressen im Privatrecht verwirklicht.1 Mithin kann die Berücksichtigung von Gemeininteressen im Privatrecht unter dem BGB auf eine lange Geschichte zurückblicken. Außerdem lässt sich an der Gesetzgebung und Rechtsprechung ablesen, dass sich die Berücksichtigung der Gemeininteressen 1 Bereits das RG nahm höhere Duldungspflichten für Störungen gemeinwichtiger Betriebe an (RGZ 159, 129 [135]; 162, 349 [359], allerdings von „lebenswichtigen Betrieben“ sprechend), s. hierzu Kap. 4. II. 2. b) aa).
262
Kapitel 7: Folgerungen für die Leiterzählung des Privatrechts
nicht auf Randbereiche beschränkt. Sie ist sowohl bei der Anwendung von Spezialgesetzen 2 als auch von Vorschriften des BGB3 anzutreffen. Sie ist mithin breit verankert. Hinzu kommt, dass Gemeininteressen besonders in Bereichen Berücksichtigung finden, deren Bedeutung für das Privatrecht zukünftig wohl noch zunehmen wird. Diese Entwicklung ist bereits angestoßen. So ist es Ziel aktueller rechtspolitischer Bestrebungen, das Privatrecht zu nutzen, um Umweltschutz zu fördern.4 Privatisierungen im Infrastrukturbereich haben dazu geführt, dass die Förderung von Infrastruktur nicht mehr so sehr im Staat-Bürger-Verhältnis verwirklicht wird, sondern in den Rechtsbeziehungen zwischen Privaten.5 Angesichts der Vorhaben, Verkehr nachhaltiger zu gestalten6 und die Infrastruktur für eine digitalisierte Gesellschaft bereitzustellen,7 dürfte auch in Zukunft Bedarf bestehen, das Gemeininteresse an der Förderung von Infrastruktur in den Rechtsbeziehungen Privater zu verarbeiten.8 Und um Diskriminierungen zu begegnen, wird seit den von den Nichtdiskriminierungs-RL angestoßenen Rechtsänderungen verstärkt auf die Regulierung der Beziehungen zwischen Privaten abgestellt.9 Die Leiterzählung mit ihrer freiheitlich-individualistischen Ausrichtung bildet weder die bestehende Verankerung der Gemeininteressen im Privatrecht noch die wahrnehmbaren Entwicklungen hin zu einem Mehr an Berücksichtigung der Gemeininteressen ab. Dies ist vor dem Hintergrund der Fokussierung der Leiterzählung auf die Privatautonomie erklärbar. Es wird noch verständlicher, wenn man sich den von der Leiterzählung tradierten Eigenständigkeitsanspruch des Privatrechts vor Augen führt. Denn die Berücksichtigung von Gemeininteressen im Privatrecht stellt beide Punkte – Fokussierung auf die Privatautonomie und Betonung des Eigenständigkeitsanspruchs – besonders in Frage: Die Privatautonomie wird zugunsten von Gemeininteressen eingeschränkt. Und die Berücksichtigung von Gemeininteressen, die schon aufgrund ihrer Ableitung aus dem Gemeinwohl starke Verbindungen zum öffentlichen Recht aufweisen,10 zieht den Eigenständigkeitsanspruch des Privatrechts in 2
Bsph. UmweltHG, EEG, EnWG, AGG. Bsph. §§ 134, 138, 313, 826, 906 BGB. 4 S. etwa Art. 7 Abs. 1 lit. d Warenkauf-RL vom 20.5.2019 (RL [EU] 2019/771 [Abl. 2019 L 136/28]) oder der Vorstoß Hamburgs auf der Justizministerkonferenz am 7.11.2019 „Nachhaltigkeit im Zivilrecht – vorzeitigen Verschleiß reduzieren und Langlebigkeit von Produkten fördern“, der allerdings keine Mehrheit fand. 5 S. Kap. 4. II. 3. a). 6 S. hierzu Hendzlik u. a., Kein Grund zur Lücke. So erreicht Deutschland seine Klimaschutzziele im Verkehrssektor für das Jahr 2030, 2019 (https://www.umweltbundesamt.de/ sites/default/files/medien/1410/publikationen/19-12-03_uba_pos_kein_grund_zur_lucke_ bf_0.pdf, letzter Abruf: 8.2.2022). 7 S. Nachweise in Kap. 4 Fn. 17. 8 Vgl. Podszun in Möslein (Hrsg.), Regelsetzung im Privatrecht, 255 (257). 9 S. Kap. 5. I. 3. 10 S. Einl. 1. 3
II. Überzeichnungen überdenken
263
Zweifel. Um diesen Infragestellungen zu begegnen, greift die Leiterzählung auf diskursive Stilmittel zurück: Sie unterstreicht die Bedeutung der Privatautonomie, um den Einfluss der Gemeininteressen im Privatrecht zu beschränken. Ferner betont sie, dass es sich bei der Berücksichtigung von Gemeininteressen um Ausnahmeerscheinungen handelt, die vom privatrechtlichen Standard abweichen. Statt eines Denkens in Ausschließlichkeitsansprüchen11 und Regel-Ausnahme-Verhältnissen12 ist es vorzugswürdig, die Berücksichtigung von Gemein interessen als wesentlichen Bestandteil des Privatrechts zu begreifen. Ein Verständnis des Privatrechts, das Gemeininteressen mit in seine Beschreibung aufnimmt, zeichnet ein realistischeres und zugleich komplexeres Bild der Verhältnisse als die Leiterzählung.
II. Überzeichnungen überdenken Mit einer Darstellung der Berücksichtigung von Gemeininteressen im Privatrecht, die realistischer ist als die der Leiterzählung, ist das Anliegen verbunden, Überzeichnungen in den Beschreibungen des Privatrechts zu überdenken. In der Rechtswissenschaft begegnen einem – wie in anderen Wissenschaften auch – „Wirklichkeitserzählungen.“13 Wie zu Beginn der Untersuchung erläutert, stellt die Erzähltheorie die Methoden und Begrifflichkeiten bereit, mit Hilfe derer die narrativen Elemente von Wirklichkeitserzählungen aufgezeigt werden können.14 Dabei hat die erzähltheoretische Analyse rechtswissenschaftlicher Wirklichkeitserzählungen sichtbar gemacht, dass in dem Bemühen, das bestehende Recht, seine Entwicklung und Wirkungen verständlich zu präsentieren, mit Übertreibungen gearbeitet wird,15 um dem eigenen Privatrechtsverständnis stärker Ausdruck zu verleihen. Überzeichnungen sind etwa in der Kritik an privatrechtlicher Gesetzgebung und Rechtsprechung mit Gemeininteressenbezug wahrnehmbar. Deutlich ablesbar sind sie an Einschätzungen, die im Umweltprivatrecht „Vereinnahmungstendenz[en]“16 beobachten oder das privatrechtliche Nichtdiskriminierungsrecht als „Fremdkörper“17 bewerten. Sie zeigen sich aber auch in Texten, die 11
Hierzu Kap. 2. II. 1. b) bb). Hierzu Kap. 2. II. 1. b) cc). 13 Klein/Martínez (Hrsg.), Wirklichkeitserzählungen, 2009. 14 S. Kap. 1. II. 15 Hierzu Kap. 2. II. b). 16 Diederichsen, Referat zum 56. DJT, L 48, 95. 17 Lobinger AcP 216 (2016), 28 (86); Picker JZ 2003, 540 (544); ders. in Egon Lorenz (Hrsg.), Karlsruher Forum 2004: Haftung wegen Diskriminierung nach derzeitigem und zukünftigem Recht, 7 (57); Jestaedt VVDStRL 64 (2004), 298 (350); im Hinblick auf Frauenquoten Habersack, Gutachten zum 69. DJT, E 36 sowie Windbichler NJW 2012, 2625 (2627); ferner 12
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Kapitel 7: Folgerungen für die Leiterzählung des Privatrechts
von den Grundannahmen getragen sind, dass sich das Privatrecht an der möglichst umfassenden Verwirklichung von Privatautonomie auszurichten habe und der Eigenständigkeitsanspruch des Privatrechts zu verteidigen sei.18 Denn in einer einseitigen Hervorhebung der Privatautonomie nimmt die Kritik an einer Instrumentalisierung Privater bei der Berücksichtigung von Gemeinin teressen im Privatrecht ihren Ausgang. Und in der Kritik an einer Instrumentalisierung des Privatrechts begegnet der Eigenständigkeitsanspruch des Privatrechts. Die Durchsicht des Privatrechts mit Gemeininteressenbezügen hat nun die Erkenntnis zu Tage gefördert, dass privatrechtliche Gesetzgebung und Rechtsprechung es verstehen, ohne größere Brüche mit Gemeininteressen umzugehen. Auf verschiedene Art und Weise finden Gemeininteressen mediatisiert über Gesetze Berücksichtigung im Privatrecht. Somit betreiben Richterinnen auch keine unzulässige gesetzesübersteigende richterliche Rechtsfortbildung, wenn sie Gemeininteressen in ihre Erwägungen mitaufnehmen, sondern bedienen sich hierfür der Methoden richterlicher Entscheidung, wie etwa der Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe.19 Die Rechtsanwendung zieht die Selbstverständlichkeit bei der Verarbeitung von Gemeininteressen mithin daraus, dass ihr für diese Aufgabe eine Reihe anerkannter Kompetenzen zur Verfügung stehen. Vor dem Hintergrund dieses selbstverständlichen Umgangs mit der Berücksichtigung von Gemeininteressen in der Rechtsanwendung können die gegen eine Berücksichtigung vorgebrachten Einwände, die ihren gedanklichen Ursprung im freiheitlich-individualistischen Privatrechtsverständnis der Leiterzählung haben, nicht überzeugen. Zudem rücken überzeichnete Kritiken die Erkenntnis in den Hintergrund, dass es der Rechtsanwendung methodisch überzeugend gelingt, Gemeininteressen in die Regelung der Rechtsbeziehungen zwischen Privaten einzubeziehen. Anstatt also nachdrücklich diese Verarbeitungen zu kritisieren, sollte die in der Rechtsanwendung beobachtbare Gelassenheit von der Rechtswissenschaft übernommen werden. Aber auch Texte, die sich das tradierte freiheitlich-individualistische Privatrechtsverständnis nicht zu eigen machen, arbeiten mit Überzeichnungen. So heißt es etwa zur Regulierungsfunktion des Privatrechts, dass „die Rechtsdogmatik in ihrer vorherrschenden Ausprägung keine Mittel bereithält, das Privatrecht folgenorientiert, d. h. regulatorisch zu untersuchen.“20 Bedenkt man, dass die teleologische Auslegung fester Bestandteil von Gesetzesinterpretation ist, ist die Aussage in dieser Schärfe nicht zutreffend.21 Des Weiteren begegnen Adomeit NJW 2006, 2169 (2171); mit gleicher Formulierung, sich die Ansicht aber nicht zu eigen machend Schiek, Differenzierte Gerechtigkeit, 2000, S. 289. 18 Hier kann, trotz der in den Abhandlungen anzutreffenden Differenzierungen, auf die in Kap. 1. V. behandelten Texte verwiesen werden. 19 Grds. Hillgruber JZ 1996, 118 (121 ff.); Riesenhuber AcP 219 (2019), 892 (913 ff.); Röthel, Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 124 ff. 20 Hellgardt, Regulierung und Privatrecht, 2016, S. 389. 21 Ähnlich Riesenhuber AcP 219 (2019), 892 (911).
III. Keine Zeit für neue Leiterzählungen
265
Überzeichnungen, wo das Bild eines freiheitlich-individualistischen Privatrechts als „Kontrastfolie“22 für eigene Erklärungsansätze verwendet wird. Die hier anzutreffenden Schilderungen konzentrieren sich mitunter darauf, die liberale Grundausrichtung des BGB in seiner Ursprungsversion zu beschreiben, und gehen nur am Rande auf damals ebenfalls bestehende Privatrechtsgesetze mit sozialer Ausrichtung ein.23 Schließlich ist die Überzeichnung ein prägendes Stilmittel in Wieackers Beschreibung der Entwicklungen des Privatrechts, wenn es etwa heißt „die formale Freiheitsethik [… habe sich] in eine materiale Ethik sozialer Verantwortung zurückverwandelt.“24 Alternative Beschreibungen sollten sich daher nicht so sehr als Antipoden zur Leiterzählung präsentieren, sondern als Ergänzungen, die zu einem besseren Verständnis des Privatrechts beitragen. Mir ist bewusst, dass der Vorwurf einer Überzeichnung gerade einer Arbeit gemacht werden kann, die sich mit der Leiterzählung des Privatrechts auseinandersetzt. Auch die hier entworfene Beschreibung des heutigen Privatrechts kommt nicht umhin, aus der Fülle an Material das auszuwählen, was besonders repräsentativ erscheint, um es einer verständlichen Anschauung zuzuführen. Meines Erachtens kann dem Vorwurf einer Überzeichnung am besten begegnet werden, indem man sich der diskursiven Praktiken, zu denen der Gebrauch von Verkürzungen, die Formulierung von Ausschließlichkeitsansprüchen und die Arbeit mit Regel-Ausnahme-Verhältnissen gehören, bewusst wird und einen selbstreflektierten Umgang mit den diskursiven Praktiken in der eigenen Darstellung des Rechts entwickelt.
III. Keine Zeit für neue Leiterzählungen Letztlich zielt die hier unternommene Untersuchung nicht darauf ab, die tradierte privatrechtliche Leiterzählung durch eine neue Leiterzählung zu ersetzen, in der die Berücksichtigung von Gemeininteressen stärker als bisher zum Ausdruck kommt. Vielmehr dient die Einsicht, dass sich die existierende Verarbeitung von Gemeininteressen im Privatrecht nur unzureichend in der privatrechtlichen Leiterzählung wiederfindet, als Ansatzpunkt, um das Wirken der Leiterzählung selbst zu hinterfragen.
22
Kähler RW 2018, 1 (8); s. hierzu bereits Kap. 2. II. 1. b) cc). dieser „gewohnte[n] Geschichte“ Rückert JZ 2003, 749 (750); ebenfalls HKK/ders., 2003, Vor § 1 Rn. 93 ff. – Auch überzeichnend, wenn er einen „Kampf darum, wie die Grundidee der bürgerlichen Rechtsordnung […] zu verstehen ist,“ ausmacht Menke, Kritik der Rechte, 2015, S. 298, 301. 24 Wieacker in Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, 9 (24); diese Überzeichnung aufgreifend Auer, Der privatrechtliche Diskurs der Moderne, 2014, S. 1. 23 Zu
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Kapitel 7: Folgerungen für die Leiterzählung des Privatrechts
Das Privatrecht sieht sich mit Herausforderungen konfrontiert, die es bereits jetzt verändern und in Zukunft weiter umgestalten werden. Die Globalisierung führt dazu, dass sich die vom Privatrecht geregelten Rechtsbeziehungen immer stärker in Räume jenseits nationaler Rechtssysteme verlagern und private Rechtssetzung weiter an Bedeutung gewinnen wird.25 Die Digitalisierung ist dabei, das Wirtschaftsleben grundlegend zu verändern und neue Möglichkeiten für die Organisation von Entscheidungsfindungsprozessen und Transaktionen zu schaffen.26 Bislang hat sich keine Leiterzählung dazu etabliert, wie diese Entwicklungen das Privatrecht beeinflussen. Grund hierfür ist, dass „Umwelt“Erk lärungen, die eine gewisse Allgemeingültigkeit für sich beanspruchen, in der Postmoderne27 seltener geäußert werden und auch in der kollektiven Wahrnehmung nicht so verfangen. Wer Wertepluralismus und die Relativität von Wissensbeständen für sich akzeptiert, ist für Leiterzählungen weniger empfänglich. Oder wie Lyotard es formuliert: „Die Sehnsucht nach der verlorenen Erzählung ist für den Großteil der Menschen selbst verloren.“28 Dieser Befund trifft auch auf das Privatrecht und seine Narrative zu. Die Zeit für eine neue Leiterzählung scheint vorbei.29 Dieser Bewertung mag mit einem Verweis auf Auers Monographie „Der privatrechtliche Diskurs der Moderne“30 entgegengetreten werden, die als Entwurf einer aktuellen Leiterzählung des Privatrechts gelesen werden könnte. Jedoch entzieht sich Auers Untersuchung schon deshalb einer Beschreibung als Leiterzählung, als sie selbst für ihre Arbeit postmoderne Prämissen fruchtbar
25 Die Entwicklung thematisieren u. a. die Sammelbände von Bumke/Röthel (Hrsg.), Privates Recht, 2012; Gralf-Peter Calliess (Hrsg.), Transnationales Recht, 2014 sowie Jansen/ Michaels (Hrsg.), Beyond the State. Rethinking Private Law, 2008. 26 Hier kann die andauernde Diskussion nur in Umrissen angedeutet werden. Ein Teil der Privatrechtswissenschaft ist der Annahme, dass die Digitalisierung vom Privatrecht fordert, alte Gewissheiten aufzugeben und das Privatrecht in Ansätzen neu zu denken, s. etwa Grünberger AcP 218 (2018), 213 (239) und passim; Micklitz FS Schwintowski, 427 (436); Teubner AcP 218 (2018), 155 (159) und passim. Ein anderer Teil scheint davon auszugehen, dass die bestehenden privatrechtlichen Instrumentarien mit geringen Anpassungen die Digitalisierung konzeptionell erfassen und bewältigen können, s. etwa Budzikiewicz AcP 218 (2018), 558 ff.; Faust, Gutachten A zum 71. DJT, insbes. A 88; Specht JZ 2017, 763 ff. 27 Hierbei ist Postmoderne im Sinne von Lyotard zu verstehen, der als charakteristische Wesenszüge der Postmoderne den Bruch mit tradierten Metaerzählungen und Mannigfaltigkeit von Sprachspielen nennt (s. Lyotard, Das postmoderne Wissen, 5. Aufl. 2005, S. 14, 36). Zu den unterschiedlichen Schattierungen des Begriffs der Postmoderne s. nur Eco, Nachschrift zum Namen der Rose, 5. Aufl. 1984, S. 76 ff.; Gumbrecht, Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte, 2006, S. 81 ff.; Stephan Meier in Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. V II, Sp. 1141 ff. 28 Lyotard, Das postmoderne Wissen, 5. Aufl. 2005, S. 122. 29 Ladeur, Postmoderne Rechtstheorie, 1995, S. 8 0. 30 Auer, Der privatrechtliche Diskurs der Moderne, 2014.
III. Keine Zeit für neue Leiterzählungen
267
macht.31 Auer sieht das Privatrecht durch zwei Modernen geprägt. Während sich in der ersten Moderne die Konzepte des Individuums, des subjektiven Rechts und der Trennung von öffentlichem Recht und Privatrecht herausgebildet hätten,32 habe die zweite Moderne diese in Zweifel gezogen, ohne „die praktische Wirkmacht der ursprünglichen Ideen der ersten Moderne“33 entkräften zu können.34 Für den privatrechtlichen Diskurs der Moderne sei der „Fortbestand des Autonomieprinzips bei gleichzeitigem Fortschreiten seiner Durchbrechung“35 bezeichnend. Auer geht es also nicht um eine Fortschreibung der Leiterzählung oder um die Ersetzung der alten durch eine neue, sondern um eine Diskursbeschreibung.36 Wenn am Schluss der Befund steht, dass nicht der Zeitpunkt für die Fortoder Neuschreibung der Leiterzählung ist, wieso sollte man dem Konzept einer Leiterzählung dann überhaupt Beachtung schenken? Die Antwort lautet: Um einen methodisch reflektierten Umgang mit der Leiterzählung zu entwickeln. Auch wenn die Privatrechtswissenschaft derzeit keine „Sehnsucht“37 nach neuen „Wirklichkeitserzählungen“38 verspürt, wirkt die bestehende Leiterzählung immer noch. Sie prägt die unterschiedlichen Privatrechtsverständnisse, die wissenschaftlichen Arbeiten zu Grunde liegen. Sei es, dass Privatrechtswissenschaftlerinnen Annahmen der Leiterzählung verinnerlicht haben und für die eigene Forschung als gegeben ansehen; sei es, dass sie ihre Forschung als Antipode zur Leiterzählung verstehen. Wer sich des Wirkens der Leiterzählung bewusst ist, kann die Debatten darüber, was das Privatrecht ausmacht, besser verstehen und Kritik an der Berücksichtigung von Gemeininteressen im Privatrecht oder seiner regulierenden Funktion leichter einordnen. Zudem bietet ein methodisch reflektierter Umgang mit der Leiterzählung die Möglichkeit, über das eigene Privatrechtsverständnis nachzudenken. Die Auseinandersetzung mit 31 Ebd., wobei sie selbst betont, ein „Strukturmodell privatrechtlicher Grundbegriffe“ mit ihrer Arbeit liefern zu wollen (s. Auer, in Grünberger/Jansen [Hrsg.] Privatrechtstheorie heute, 98 [99]). Entwicklung dahingehend schon in Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, 2005, wenn sie die Grundwidersprüche zwischen „Individualismus und Kollektivismus“ (S. 10 ff.), „Rechtssicherheit oder Einzelfallgerechtigkeit“ (S. 46 ff.) sowie „Richterbindung oder richterliche Freiheit“ (S. 6 4 ff.) als für das Privatrecht prägend darstellt. 32 Auer, Der privatrechtliche Diskurs der Moderne, 2014, S. 13 ff. 33 So treffend Grünberger/Jansen in Grünberger/Jansen (Hrsg.), Privatrechtstheorie heute, 1 (6). 34 Auer, Der privatrechtliche Diskurs der Moderne, S. 46 ff. 35 Ebd., S. 167. 36 In seiner Ausrichtung, den privatrechtlichen Diskurs zu beschreiben, ähnelt der hier verfolgte Ansatz dem von Auer gewählten. Er unterscheidet sich aber darin, dass sich die vorliegende Untersuchung dem privatrechtlichen Diskurs unter anderem mit den Mitteln der Erzähltheorie sowie der Wissenschaftssoziologie nähert, während Auer ihre Erkenntnisse im Schwerpunkt aus einer rechtsphilosophischen Perspektive zieht. 37 Lyotard, Das postmoderne Wissen, 5. Aufl. 2005, S. 122. 38 Klein/Martínez (Hrsg.), Wirklichkeitserzählungen, 2009.
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Kapitel 7: Folgerungen für die Leiterzählung des Privatrechts
der Leiterzählung bietet eine Grundlage, sich der unvollständig theoretisierten Vorannahmen 39 des eigenen Privatrechtsverständnisses bewusst zu werden, ohne es dabei aufgeben zu müssen.
39 Unter unvollständig theoretisierten Vorannahmen sind Einstellungen zu verstehen, deren Grundlagen und Ursprünge die einzelne Person nicht konkreter ergründet. Konzeptionelle Anleihen auf genereller Ebene sind einerseits die incompletely theorized agreements bei Sunstein Harv. L. Rev. 108 (1995) 1733 ff. und andererseits der hermeneutische Begriff des Vorverständnisses (Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1970, S. 115; Gadamer, Hermeneutik I. Wahrheit und Methode, Bd. I, 6. Aufl. 1990, S. 270 ff.).
Zusammenfassung 1. Welche Rolle die Berücksichtigung von Gemeininteressen im Privatrecht spielt, ist eine zentrale und wiederkehrende Frage des Privatrechts, die sich in der Diskussion des Verhältnisses von Privatrecht zu öffentlichem Recht stellt. Der Frage kommt Bedeutung zu im Kontext privatrechtswissenschaftlicher Forschung, die den eigenen Untersuchungsgegenstand näher ergründet und zugleich über das eigene Arbeiten reflektiert.1 2. Gemeininteressen sind konkretere Formulierungen des Gemeinwohls. In Abgrenzung zu Individualinteressen handelt es sich bei Gemeininteressen um solche Interessen, die nicht einzelnen Personen individuell zugerechnet werden können.2 3. Die Berücksichtigung von Gemeininteressen im Privatrecht weist Berührungspunkte zu anderen Großthemen der Privatrechtswissenschaft auf. Bezüge zur Wertungsjurisprudenz bestehen, weil sowohl die legislative Wertung, Gemeininteressen zu fördern, als auch ein gleichgerichtetes, merkliches gesellschaftliches Interesse in gerichtliche Entscheidungen einfließen können.3 Bezüge zur Materialisierung des Privatrechts bestehen, weil Materialisierung eine Entwicklung beschreibt, die die verstärkte Berücksichtigung von Gemeininteressen umfasst.4 Zum Steuerungspotenzial des Privatrechts besteht ebenfalls eine thematische Nähe, weil das Privatrecht auf menschliches Verhalten zu Gunsten von Gemeininteressen Einfluss nehmen kann.5 4. Die Berücksichtigung von Gemeininteressen im geltenden Privatrecht ist von etwaigen historischen Vorläufern abzugrenzen. Nationalsozialistische und sozialistische Rechtsverständnisse waren darauf ausgelegt, das Privatrecht zur Förderung eines Volkswohls oder Volksinteresses einzusetzen. Heute hingegen finden Gemeininteressen im Privatrecht im rechtlichen Rahmen des GG und des EU-Verfassungsrechts Berücksichtigung. 6 5. Einsichten über die Bedeutung von Gemeininteressen für das vorherrschende Privatrechtsverständnis lassen sich mittels einer Selbstbeschreibung 1 Einl. 2
Einl. I. Einl. II. 1. 4 Einl. II. 2. 5 Einl. II. 3. 6 Einl. III. 3
270
Zusammenfassung
der Privatrechtswissenschaft gewinnen. Eine Selbstbeschreibung der Privatrechtswissenschaft birgt die Gefahr eines nur begrenzt einlösbaren Objektivitätsanspruchs. Sie ist dennoch von Mehrwert, da sie dabei hilft, explizite und verdeckte Annahmen über das Privatrecht innerhalb der Disziplin offen zu benennen.7 6. Für die Selbstbeschreibung kann der Begriff der Leiterzählung fruchtbar gemacht werden, der „die in einer kulturellen Gemeinschaft zu einer gegebenen Zeit dominante Erzählweise des Vergangenen“8 beschreibt.9 7. Die Privatrechtswissenschaft verfügt über ihre eigene Leiterzählung der Grundlagen und Entwicklung des deutschen Privatrechts.10 Sie ist in ihrer Ausrichtung freiheitlich-individualistisch und speist sich insbesondere aus drei Erzählsträngen: Erstens beruhe das BGB als wichtigste deutsche, privatrechtliche Kodifizierung auf den Konzepten des liberalen Individualismus, der Privatautonomie und der Vorstellung, dass sich die Sphären des Privatrechts und des öffentlichen Rechts trennscharf abgrenzen ließen.11 Zweitens habe sich das Privatrecht mit der Zeit von seiner freiheitlichen Ausrichtung hin zu einem Modell der „materiale[n] Ethik“12 gewandelt. Für die Beschreibung dieser Entwicklungsphase ist die Darstellung Wieackers so prägend, dass sie mit der Leit erzählung gleichgesetzt werden kann.13 Drittens habe der Einfluss des Verfassungsrechts und des Europarechts auf das Privatrecht kontinuierlich zugenommen. Diese Entwicklung unterminiere den Eigenständigkeitsanspruch und die Eigenrationalität des Privatrechts.14 8. Rechtshistorische Untersuchungen haben die freiheitlich-individualistische Leiterzählung widerlegt.15 Arbeiten haben verdeutlicht, dass es schon bei Verabschiedung des BGB privatrechtliche Gesetze mit sozialer Ausrichtung gab.16 Bei kritischer Überprüfung erweist sich Wieackers Darstellung der Privatrechtsentwicklung als zu einseitig und „glatt“17.18 Schließlich zeigt eine Untersuchung privatrechtswissenschaftlicher Werke und zivilgerichtlicher Rechtsprechung aus der Anfangszeit des GG auf, dass privatrechtliche Veröffentlichungen und Entscheidungen das Verhältnis von Verfassung und Privat7
Kap. 1. I. Meistererzählung Jarausch/Sabrow in Jarausch/Sabrow (Hrsg.), Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945, 9 (17). 9 Kap. 1. II. 10 Kap. 1. III. 11 Kap. 1. III. 1. 12 Wieacker in Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, 9 (24). 13 Kap. 1. III. 2. 14 Kap. 1. III. 3. 15 Kap. 1. IV. 16 Kap. 1. IV. 1. 17 Rückert in Klippel (Hrsg.), Naturrecht im 19. Jahrhundert, 135 (138). 18 Kap. 1. IV. 2. 8 Zur
Zusammenfassung
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recht mitgestalteten. Von einer einseitigen Überformung des Privatrechts durch das Verfassungsrecht kann daher ebenfalls nicht gesprochen werden.19 9. Sucht man nach Stimmen, denen eine Nähe zur freiheitlich-individualistischen Leiterzählung zugesprochen wird, begegnen einem insbesondere die Namen Diederichsen,20 Zöllner,21 Reuter22 und Picker.23 In der Tat ist ihren Arbeiten Kritik an einer Verwässerung privatrechtlicher Methodik, einer übermäßigen Einschränkung der Privatautonomie und einer fortschreitenden Moralisierung des Privatrechts zu entnehmen.24 Doch ist ihre Kritik nicht mit der Leiterzählung gleichzusetzen. Differenzierter als die Leiterzählung lassen die Wortmeldungen Raum für einen mit dem Privatrecht verfolgten Ordnungsauftrag oder gezielte Eingriffe in die Privatautonomie.25 10. Stattdessen sind in der Privatrechtswissenschaft Stimmen anzutreffen, die sich bewusst vom freiheitlich-individualistischen Privatrechtsverständnis lossagen.26 Sie betonen die politische Funktion des Privatrechts,27 führen die verfassungsrechtlichen Einflüsse auf das Privatrecht einer dogmatischen Verarbeitung zu,28 nehmen die europarechtlichen Vorgaben als selbstverständliche Bestandteile des in Deutschland geltenden Privatrechts in ihre Forschung auf29 oder nähern sich dem Privatrecht aus interdisziplinärer Perspektive.30 Den Stimmen ist gemein, dass sie im Gegensatz zur freiheitlich-individualistischen Leiterzählung der Berücksichtigung von Gemeininteressen im Privatrecht aufgeschlossen gegenüberstehen. Diese Ansicht ist als inzwischen herrschend anzusehen.31 11. Obwohl die Leiterzählung widerlegt ist und einflussreiche Stimmen Privatrechtsverständnisse pflegen, die vom tradierten freiheitlich-individualistischen Privatrechtsverständnis abweichen, prägt die Leiterzählung weiterhin die in der Privatrechtswissenschaft anzutreffenden Auffassungen über den eigenen Forschungsgegenstand und das disziplinäre Selbstverständnis.32 12. Genuin juristische Gründe tragen zur Erklärung der Langlebigkeit der Leiterzählung bei.33 Zum einen müssen Beschreibungen des Privatrechts die von der Leiterzählung herausgestellten Aspekte einer Verankerung des Privat19
Kap. 1. IV. 3. Darstellung seiner Ansichten bei Kap. 1. V. 1. a). 21 Darstellung seiner Ansichten bei Kap. 1. V. 1. b). 22 Darstellung seiner Ansichten bei Kap. 1. V. 1. c). 23 Darstellung seiner Ansichten bei Kap. 1. V. 1. d). 24 Kap. 1. V. 2. 25 Kap. 1. V. 3. 26 Kap. 1. VI. 27 Kap. 1. VI. 1. 28 Kap. 1. VI. 2. 29 Kap. 1. VI. 3. 30 Kap. 1. VI. 4. b). 31 Kap. 1 am Anfang. 32 Kap. 2 am Anfang. 33 Kap. 2. I. 20
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rechts im liberalen Individualismus, der Bedeutung der Privatautonomie und der Abgrenzung des Privatrechts zum öffentlichen Recht aufnehmen, um ein (möglichst) realistisches Bild des Rechtsgebiets zu zeichnen.34 Zum anderen versteht es das freiheitlich-individualistische Privatrechtsverständnis Strömungen, die von außen an das Privatrecht herangetragen werden, weitgehend aufzunehmen.35 Eine dem Privatrecht zugeschriebene starke Prinzipienorientierung kann die Langlebigkeit der Leiterzählung hingegen nicht erklären, da neue Prinzipien die im Privatrecht bereits etablierten Prinzipien ergänzen können.36 Nur bedingt überzeugen vermag zudem die Erklärung, dass sich das freiheitlich-individualistische Privatrechtsverständnis besser als alternative Privatrechtsverständnisse mit der Privatrechtsdogmatik vereinbaren lasse. Denn die Privatrechtsdogmatik kann methodologisch so weiterentwickelt werden, dass sie die Elemente stimmig abzubilden vermag, die in einem freiheitlich-individualistischen Privatrechtsverständnis eine marginale Rolle spielen.37 13. Bei der Erklärung der Langlebigkeit der Leiterzählung spielen zugleich außerrechtliche Argumente eine Rolle. Hier kann unterschieden werden nach Erklärungen, die sich auf den Diskurs über das Privatrechtsverständnis als solches beziehen, Erklärungen, die an den Eigenarten der juristischen Ausbildung ansetzen, und Erklärungen, die auf Merkmale des privatrechtswissenschaftlichen Feldes und Habitus abstellen.38 14. Als diskursinterne Mechanismen, die die andauernde Überlieferung der Leiterzählung begünstigen, sind eine Verkürzung von Referenzaussagen,39 eine Vermengung von Wichtigkeits- mit Ausschließlichkeitsansprüchen40 und eine Standardisierung des freiheitlich-individualistischen Privatrechtsverständnisses41 auszumachen. 15. Die Ausrichtung der juristischen Ausbildung, Studierende zuvorderst zur Falllösung zu befähigen, trägt dazu bei, dass der juristische Nachwuchs die Leiterzählung vielfach unbesehen übernimmt. Zeit und Raum für eine rechtstheoretische Auseinandersetzung mit alternativen Privatrechtsverständnissen sind unter den gegebenen Studienbedingungen begrenzt.42 16. Begründungen der Langlebigkeit der Leiterzählung, die an Charakteristika des privatrechtswissenschaftlichen Feldes ansetzen, sind unterschiedlich überzeugend. Weder die institutionellen Rahmenbedingungen der Privatrechtswissenschaft noch ihre Finanzierung begünstigen den Fortbestand der Leiter34 35
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Kap. 2. I. 1. Kap. 2. I. 2. Kap. 2. I. 3. Kap. 2. I. 4. Kap. 2. II. Kap. 2. II. 1. b) aa). Kap. 2. II. 1. b) bb). Kap. 2. II. 1. b) cc). Kap. 2. II. 2. a).
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zählung.43 Jedoch tragen ein Mangel an Perspektivenvielfalt,44 die große Beachtung, die Veröffentlichungen bereits etablierter Wissenschaftler zuteilwird (sog. Matthäus-Effekt),45 und eine wahrnehmbare Bildung von Schulen, innerhalb derer Denktraditionen fortgetragen werden,46 zur Langlebigkeit der Leiterzählung bei. 17. Schließlich begünstigt der in der Privatrechtswissenschaft oftmals anzutreffende Habitus, rechtliche Forschung primär als systematisierende Wissenschaft zu begreifen47 und dabei der kulturellen Komponente des Rechts wenig Beachtung zu schenken,48 die Langlebigkeit der Leiterzählung. 18. Die Leiterzählung mit dem ihr zugrunde liegenden freiheitlich-individualistischen Privatrechtsverständnis hat Schwierigkeiten, Gemeininteressen einen klar definierten Raum innerhalb des Privatrechts zuzuweisen. Doch finden Gemeininteressen im Privatrecht vielerorts Berücksichtigung.49 19. Beispielsweise bestehen an Umweltschutz nicht nur vielfältige Individualinteressen, sondern auch ein Gemeininteresse.50 Dieses Gemeininteresse wird im Privatrecht einer Verarbeitung zugeführt.51 Welche Rolle das Privatrecht beim Umweltschutz einnimmt bzw. einnehmen kann, ist Gegenstand einer wiedererstarkten Debatte.52 20. Die privatrechtliche Gesetzgebung und Rechtsprechung mit Bezügen zum Gemeininteresse an Umweltschutz kann einer weitergehenden Typisierung zugeführt werden: Bei gleichgerichtetem, umweltschädigendem Handeln, das sich auf vertragliche Vereinbarungen stützt, bewirkt die Rechtsprechung Umweltschutz, indem sie die Verträge für nichtig erklärt (§§ 134, 138 BGB).53 In Entscheidungen zum Gewährleistungsrecht,54 zu nachbarrechtlichen Ausgleichsansprüchen 55 und zu deliktischen Schadensersatzansprüchen 56 stehen mitunter Interessen des Anspruchstellers und das Gemeininteresse an Umweltschutz den Interessen des Anspruchsgegners gegenüber. Im Nachbarrecht sind Entscheidungen ergangen, in denen das Gemeininteresse an Umweltschutz die Position des Anspruchsgegners, d. h. des Störers, stärkte, so dass der Anspruchsteller, d. h. der beeinträchtigte Nachbar, die umweltfreundliche Störung zu 43
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Kap. 2. II. 2. b) bb) (1). Kap. 2. II. 2. b) bb) (2) (a). Kap. 2. II. 2. b) bb) (2) (b). Kap. 2. II. 2. b) bb) (2) (c). Kap. 2. II. 2. b) bb) (3) (a). Kap. 2. II. 2. b) bb) (3) (b). Kap. 3 –6. Kap. 3. I. 3. Kap. 3. Kap. 3. I. 3. Kap. 3. II. 1. Kap. 3. II. 2. a). Kap. 3. II. 2. b). Kap. 3. II. 2. c).
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dulden hatte.57 Die EEG-Umlage ist zudem ein privatrechtliches Instrument, das Handlungsvorgaben an beide Parteien einer Privatrechtsbeziehung zu Gunsten des Gemeininteresses an Umweltschutz richtet.58 21. Aufgrund der Typisierung lassen sich weitergehende Beobachtungen zur Berücksichtigung des Gemeininteresses an Umweltschutz anstellen:59 In der Rechtsprechung wird oftmals nicht deutlich zwischen dem Individualinteresse an Umweltschutz und dem Gemeininteresse an Umweltschutz unterschieden. 60 Der Hauptteil der Verarbeitung des Gemeininteresses an Umweltschutz fällt dem Gesetzgeber und nicht der Rechtsprechung zu. 61 So wird etwa der Umweltschutz zum Gesetzeszweck erhoben62 oder aufgrund von Umweltschutzerwägungen ein Kontrahierungszwang angeordnet.63 Stellen Zivilgerichte das Gemeininteresse an Umweltschutz in ihre Erwägungen ein, geschieht dies insbesondere mittels der Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe. 64 Auf die Staatszielbestimmung des Art. 20a GG greifen sie in ihren Entscheidungsgründen nicht zurück. 65 Folgerungen, inwieweit das Umweltprivatrecht tatsächlich ökologische Impulse setzt, lässt die Typisierung nur bedingt zu. Die Typisierung verdeutlicht aber, dass die Berücksichtigung des Gemeininteresses an Umweltschutz an vielen Stellen des Privatrechts ansetzen kann.66 Im Hinblick auf die Bezüge des Umweltprivatrechts zur Leiterzählung ist einerseits festzustellen, dass sich die Kritik am Umweltprivatrecht aus dem freiheitlich-individualistischen Privatrechtsverständnis der Leiterzählung speist, anderseits, dass die Leiterzählung die bestehenden Bezüge zwischen Privatrecht und Umweltschutz nicht in ihr Narrativ aufgenommen hat. 67 22. An der Förderung von Infrastruktur bestehen ebenfalls nicht nur Individualinteressen, sondern auch ein Gemeininteresse.68 Die Gebiete des Privatrechts, in denen das Gemeininteresse an der Förderung von Infrastruktur einer Verarbeitung zugeführt wird, lassen sich als Infrastrukturprivatrecht bezeichnen. 69 23. Die privatrechtliche Gesetzgebung und Rechtsprechung mit Bezügen zum Gemeininteresse an der Förderung von Infrastruktur kann einer weitergehenden Typisierung zugeführt werden: In Situationen, die einem Boykott äh57
Kap. 3. II. 3. Kap. 3. II. 4. 59 Kap. 3. III. 60 Kap. 3. III. 1. 61 Kap. 3. III. 2. 62 Kap. 3. III. 3. a). 63 Kap. 3. III. 3. b). 64 Kap. 3. III. 3. c). 65 Kap. 3. III. 3. d). 66 Kap. 3. III. 4. 67 Kap. 3. III. 5. 68 Kap. 4. I. 2. 69 Kap. 4, am Anfang. 58
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neln, vereinen sich die Interessen verschiedener Gegner von Infrastrukturprojekten gegen die Interessen der Vorhabenträger sowie gegen das Gemeininteresse an der Förderung von Infrastruktur.70 Die Berührung des Gemeininteresses an der Förderung von Infrastruktur stärkt die Position einer der an einem Privatrechtsverhältnis Beteiligten, wenn es um die Beurteilung der Rechtmäßigkeit von Enteignungen zugunsten privater Infrastrukturanbieter geht71 oder um die Gewähr bürgerlich-rechtlicher Aufopferungsansprüche.72 Außerdem berücksichtigen Regelungen zur Haftung für Infrastrukturprojekte teils zu Gunsten des Schädigers, teils zu Gunsten des Geschädigten den Umstand, dass das Gemeininteresse an der Förderung von Infrastruktur berührt ist.73 Die Rechtsbeziehungen zwischen Infrastrukturanbietern und Infrastrukturnutzern und der Infrastrukturnutzer untereinander erfahren aufgrund der Verbindungen ihrer Rechtsbeziehungen zum Gemeininteresse an der Förderung von Infrastruktur weitreichende Modifizierungen.74 Dabei handelt es sich um die Anordnung von Kontrahierungszwängen,75 die Gewähr einseitiger Preisänderungsrechte für Energieversorger 76 oder die Verpflichtung von Personen, die Anschluss an das Energieversorgungsnetz begehren, zur Zahlung von Baukostenzuschüssen.77 24. Aufgrund der Typisierung lassen sich weitergehende Beobachtungen zur Berücksichtigung des Gemeininteresses an der Förderung von Infrastruktur anstellen:78 Auch wenn kein umfassender Gleichlauf zwischen dem Gemeininteresse an der Förderung von Infrastruktur und den Individualinteressen von Infrastrukturbetreibern besteht, stärkt die Berührung des Gemeininteresses grundsätzlich die Position der Infrastrukturbetreiber.79 Der Hauptteil der Verarbeitung des Gemeininteresses an der Förderung von Infrastruktur fällt dem Gesetzgeber zu.80 Europarechtliche Einflüsse auf das Infrastrukturprivatrecht sind deutlich wahrnehmbar.81 Um das Gemeininteresse an der Förderung von Infrastruktur zu verarbeiten, benennt der Gesetzgeber es als Gesetzeszweck und Regulierungsziel82 und legt Kontrahierungszwänge fest, 83 um beispielshalber eine sichere Energieversorgung zu gewährleisten. Die Gerichte 70 71
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Kap. 4. II. 1. Kap. 4. II. 2. a). Kap. 4. II. 2. b). Kap. 4. II. 2. c). Kap. 4. II. 3. Kap. 4. II. 3. b) aa). Kap. 4. II. 3. b) bb). Kap. 4. II. 3. b) cc). Kap. 4. III. Kap. 4. III. 1. Kap. 4. III. 2. Kap. 4. II. 2. b). Kap. 4. III. 3. a). Kap. 4. III. 3. b).
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nutzen die Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe84 und die ergänzende Vertragsauslegung,85 um das Gemeininteresse an der Förderung von Infrastruktur in ihre Erwägungen einzustellen. Bezüge des Infrastrukturprivatrechts zur Leiterzählung bestehen einerseits, da sich die Kritik am Infrastrukturprivatrecht aus dem freiheitlich-individualistischen Privatrechtsverständnis der Leiterzählung speist, anderseits, da die Leiterzählung die Betonung eines „Sondercharakters“ des Infrastrukturprivatrechts fördert.86 Stichhaltige Aussagen über die praktische Bedeutsamkeit des Infrastrukturprivatrechts für die Förderung des Gemeininteresses lassen sich auf Grundlage der Typisierung jedoch nicht treffen. 87 25. Neben den Interessen Einzelner, nicht diskriminiert zu werden, besteht ein Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung. Es ist darauf gerichtet, eine größere gesellschaftliche Inklusivität zu erreichen. 88 26. Beispiele für Gesetzgebung und Rechtsprechung mit Bezügen zum Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung sind im reaktiven89 wie im proaktiven90 Nichtdiskriminierungsrecht sichtbar. Im reaktiven Diskriminierungsrecht wird das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung über die Benachteiligungsverbote im allgemeinen Zivilrechtsverkehr berücksichtigt.91 Gerichtsentscheidungen aus den Bereichen des Mietrechts,92 der Hausverbote,93 des Rechts der Energieversorgung94 und des Versicherungsrechts95 gehen auf das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung ein. Hingegen ist keine Thematisierung einer Berührung des Gemeininteresses an Nichtdiskriminierung in Entscheidungen zum Bankenrecht96 oder zum Recht des Scorings97 ersichtlich, obwohl sich eine Berücksichtigung angeboten hätte. Das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung findet außerdem mittels der Verpflichtung Privater, verfassungsrechtliche Gleichheitssätze zu einem bestimmten Grad zu achten, Eingang in die Rechtsbeziehungen Privater.98 Im proaktiven Nichtdiskriminierungsrecht fördern Regelungen zu privat initiierten positiven Maßnahmen,99 Diversitäts-Vorgaben des 84 85
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Kap. 4. III. 3. c). Kap. 4. III. 3. d). Kap. 4. III. 5. Kap. 4. III. 4. Kap. 5. I. 2. Kap. 5. II. 1. Kap. 5. II. 2. Kap. 5. II. 1. a). Kap. 5. II. 1. a) cc). Kap. 5. II. 1. a) dd). Kap. 5. II. 1. a) ee). Kap. 5. II. 1. a) ff). Kap. 5. II. 1. a) aa). Kap. 5. II. 1. a) bb). Kap. 5. II. 1. b). Kap. 5. II. 2. a).
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DCGK,100 die starre Quote bei der Besetzung von Vorstands- und Aufsichtsratsposten sowie Zielgrößenvorgaben bei der Besetzung von Posten innerhalb von Unternehmen101 das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung. 27. Aufgrund der Typisierung lassen sich weitergehende Beobachtungen zur Berücksichtigung des Gemeininteresses an Nichtdiskriminierung anstellen:102 Während der EuGH merklich zwischen dem Individualinteresse an Nichtdiskriminierung und dem Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung unterscheidet, grenzen deutsche Zivilgerichte selten zwischen den Interessen ab.103 Bei der Verarbeitung des Gemeininteresses an Nichtdiskriminierung im Zivilrecht kommen dem europäischen und dem nationalen Gesetzgeber entscheidende Bedeutung zu,104 weil sie privatrechtliche Nichtdiskriminierungsvorschriften erlassen haben.105 Zivilgerichte verarbeiten das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung vor allem, indem sie diese Vorschriften anwenden. Die Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe spielt dabei keine herausgehobene Rolle.106 Auch stellen die Zivilgerichte hierfür nicht maßgeblich auf Nichtdiskriminierungsvorschriften mit Verfassungsrang ab.107 Die Entwicklungen im privatrechtlichen Nichtdiskriminierungsrecht zeugen von einer gesteigerten praktischen Bedeutsamkeit des Rechtsgebiets, worüber auch das Gemeininteresse an Nichtdiskriminierung eine stärkere Berücksichtigung erfährt. Dennoch ist es Privaten weiterhin oftmals möglich, Personen im allgemeinen Zivilrechtsverkehr zu diskriminieren, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen.108 Im Hinblick auf die Bezüge des Nichtdiskriminierungsrechts zur Leiterzählung ist einerseits festzustellen, dass sich die Kritik an einer Berücksichtigung des Ge meininteresses an Nichtdiskriminierung aus dem freiheitlich-individualistischen Privatrechtsverständnis der Leiterzählung speist, anderseits, dass sich in der Leiterzählung das bestehende reaktive wie proaktive Nichtdiskriminierungsrecht nicht wiederfindet.109 28. Trotz Unterschieden im Detail bei der Berücksichtigung der Gemeinin teressen an Umweltschutz, der Förderung von Infrastruktur und Nichtdiskriminierung können übergreifende Erkenntnisse gewonnen werden: Der privatrechtliche Gesetzgeber nennt die Förderung von Gemeininteressen als Zweck privatrechtlicher Gesetze, während Zivilgerichte die mitunter von einem Interessenausgleich berührten Gemeininteressen selten ausdrücklich erwähnen oder 100 101
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Kap. 5. II. 2. b). Kap. 5. II. 2. c). Kap. 5. III. Kap. 5. III. 1. Kap. 5. III. 2. Kap. 5. III. 3. a). Kap. 5. III. 3. c). Kap. 5. III. 3. d). Kap. 5. III. 4. Kap. 5. III. 5.
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zu ähnlichen Individualinteressen abgrenzen.110 Der Gesetzgeber trägt den Hauptanteil der Verarbeitung von Gemeininteressen.111 Abhängig vom betroffenen Gemeininteresse wird unterschiedlich stark die Methode angewandt, rechtsgeschäftlichem Handeln Außenschranken – Anordnung der Nichtigkeit und Kontrahierungszwang – zu ziehen, um das jeweils betroffene Gemeininteresse zu fördern.112 Die Rechtsprechung bedient sich insbesondere der Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe, um Gemeininteressen in ihre Entscheidungen einfließen zu lassen, wobei dieser Befund nur bedingt auf die Verarbeitung des Gemeininteresses an Nichtdiskriminierung zutrifft.113 Die judikative Verarbeitung von Gemeininteressen kommt weitestgehend ohne Verweis auf Verfassungsartikel aus, die Bezüge zu Gemeininteressen aufweisen. Stattdessen finden die verfassungsrechtlichen Vorgaben grundsätzlich mediatisiert über das einfache Recht Berücksichtigung.114 Ferner hat die Untersuchung von Gesetzgebung und Rechtsprechung gezeigt, dass Privatrecht mit starken Bezügen zu den näher behandelten Gemeininteressen existiert. Hieraus lassen sich aber nur bedingt Schlüsse ziehen, inwieweit es Gemeininteressen tatsächlich fördert.115 Die Berücksichtigung von Gemeininteressen weist Bezüge zur Leiterzählung auf. Zum einen speist sich die Kritik an privatrechtlicher Gesetzgebung und Rechtsprechung mit Gemeininteressenbezug aus der Leiterzählung. Zum anderen zeigen Gesetzgebung und Rechtsprechung mit Gemeininteressenbezug auf, dass die Leiterzählung die Berücksichtigung von Gemeininteressen im Privatrecht nicht sachgerecht abbildet.116 29. Ein Verständnis des Privatrechts, das Gemeininteressen mit in seine Beschreibung aufnimmt, zeichnet ein realistischeres und zugleich komplexeres Bild der Verhältnisse als die Leiterzählung.117 30. In der Darstellung des Rechts sollte auf Überzeichnungen als Stilmittel verzichtet werden oder zumindest ein reflektierter Umgang mit diskursiven Praktiken entwickelt werden.118 31. Die tradierte Leiterzählung des Privatrechts soll nicht ergänzt oder durch eine neue ersetzt werden. Vielmehr bietet die Auseinandersetzung mit der Leit erzählung eine Grundlage, sich der unvollständig theoretisierten Vorannahmen des eigenen Privatrechtsverständnisses bewusst zu werden.119
110 111
112 113 114
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Kap. 6. I. Kap. 6. II. und III. 1. Kap. 6. III. 2. Kap. 6. III. 3. Kap. 6. III. 4. Kap. 6. IV. Kap. 6. V. Kap. 7. I. Kap. 7. II. Kap. 7. III.
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Sachverzeichnis Absorptionskraft 74, 76, 78 Allgemeines Persönlichkeitsrecht 12, 45 f., 142, 207, 216–218, 221, 224, 247 Äquivalenz, materielle 10 Archäologie 88 f., 91 Auffangordnung, wechselseitige 1, 76 Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe 35, 158, 160, 195, 197–199, 240, 243 f., 255, 257, 264, 274, 276, 277 f. Ausschließlichkeitsanspruch 93, 98, 122, 263, 265, 272 Außenschranken, vertragliche 158, 159, 197, 240 f., 254, 278 Autopoesis 82 Baukostenzuschuss 189, 197, 275 Begriffsjurisprudenz 8 Biodiversität 6 Bonner Republik 42 Boykott 171 f., 274 Bürgerlich-rechtlicher Aufopferungs anspruch 171, 173, 176–179, 191, 193 f., 199, 201, 257, 275 Bürgertum 29, 34 Bürgschaftsentscheidung 49, 76, 77 Corporate Social Responsibility 129, 148, 158 Daseinsvorsorge 50, 52, 94, 170, 174 f., 183, 201 DDR 16 Demokratietheorie 24, 207 Denkkollektiv 24 Denkmodell 100 Deonotologie 82, 83 Différance 91 Digitalisierung 119, 262, 266 Diskriminierung
–, mittelbare 204, 229 –, unmittelbare 222, 229 Diskursanalyse 18, 88 f., 91, 93, 95, 102 Diversitäts-Empfehlung 231, 233 f., 276 Dogmatik 18, 26, 36 f., 47, 71, 83–87, 100 f., 116–118, 120–122, 264, 272 Dogmatik-Zentrierung 99, 117 Dogmatische Verarbeitung 74 Drittmittel 108–110 Drittwirkung der Grundrechte 36, 44, 62, 64, 78 f., 161, 214, 226 EEG-Umlage 128, 149–151, 156, 158, 163, 257, 274 Effet utile 36, 66 Effizienz 82, 200 Ehevertrag 12 Eigenständigkeit des Privatrechts 35 f., 38, 43, 53, 56, 59, 68–70, 78 f., 83, 115, 119, 122 f. Eigenständigkeitsanspruch des Privatrechts 72, 164, 258, 262, 264, 270 Enteignung 167, 173–176, 178, 191, 193, 197, 199, 201, 256 f., 275 Erzähltheorie 25–27, 263, 267 Ethik, materiale 11, 33, 35, 40, 50, 96, 265, 270 Ethisierung 49, 53 Feld 19, 87, 98, 101–104, 107, 123, 272 Formelle Äquivalenz 10 Frauenförderung 238 Freiheitsethik, formale 11, 29, 50 f., 265 Freirechtsschule 8 Fremdheits-These 21 Froschlärm-Urteil 146 f., 153, 160 Gemeininteresse 3, 5–7, 9 f., 12, 14, 16–19, 21–23, 27, 31, 40, 51, 53, 55 f., 58, 61, 71,
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Sachverzeichnis
73, 86, 123, 125, 130, 139, 141, 145 f., 148, 150–155, 160 f., 163–165, 167, 169–173, 176–178, 180, 182 f., 185–203, 208–213, 215–217, 219–226, 228, 230–233, 236–249, 251–259, 261– 265, 267, 269, 271, 273–278 Gemeinwichtiger Betrieb 177, 179, 201, 252, 261 Gemeinwohl 1, 3– 6, 14, 15 f., 32, 39, 82, 93 f., 107, 130, 150, 164, 170, 173–175, 191, 193, 196, 198, 201, 257, 262, 269 Genealogie 89 Generalklausel 43 f., 52 f., 96, 212, 243, 255 Grundrechtswirkung in Privatrechts beziehungen 42, 46, 61, 77, 79 Habitus 19, 87, 102 f., 115, 119 f., 123, 272 f. Handelsvertreterentscheidung 76 Herrschende Lehre 58 f. Herrschende Meinung 21, 23, 58, 69, 97, 101 Homo oeconomicus 13 Indienstnahme Privater 151, 157, 164, 200 –202 Individualinteresse 3, 5, 6, 9, 14, 60, 125, 130 f., 145 f., 148, 150–153, 155, 164, 167, 171–173, 187, 190 f., 201, 208, 210, 225, 236, 251 f., 255, 269, 273–275, 277 f. Individualismus 29, 46, 71, 74, 267, 270, 272 Infrastruktur 19, 22, 123, 167–178, 179–185, 189, 190–203, 210, 239, 246, 251, 253 f., 256–259, 262, 274–277 Interdisziplinarität 118, 121 Interessenjurisprudenz 8, 76 Ius commune 32, 36 Juristische Ausbildung 87, 98 f., 101, 114, 123, 272 Kommentar, juristischer 118 Konkretisierung 5, 66, 81, 154, 160, 186, 243 f., 255, 257, 264, 274, 277 f. Konstitutionalisierung 37, 59, 61–66, 71 f., 78, 119, 253
Kontrahierungszwang 149, 150, 156, 158–160, 163, 185–187, 190 f., 195, 197, 199, 242, 254 f., 274 f., 278 Kupolofen-Fall 143 Law-as-literature-Bewegung 27 Leiterzählung 18, 21 f., 25, 28 f., 31–41, 46–48, 50, 54–56, 58 f., 61 f., 66, 69, 71–74, 76–78, 80–83, 86–88, 91–93, 95, 97 f., 100–102, 104–115, 119, 121–123, 163–165, 167, 190, 200, 202, 236, 246, 248 f., 251, 258 f., 261–267, 270–274, 276– 278 Letztentscheidungskompetenz 46 Lüth-Urteil 35, 42–46 Mängelgewährleistung 130, 135, 137 f. Marktmissbrauch 60 Marktversagen 17 Materialisierung 7, 10– 12, 17, 22, 34, 50 f., 269 Matthäus-Effekt 110, 112–114, 123, 273 Meistererzählung 25, 27 f., 270 Methode 2 f., 13, 17–19, 24 f., 47, 53, 66, 68, 81 f., 84 f., 88 f., 102 f., 107, 111, 116, 121, 158, 161, 190, 192, 195, 197, 216, 236, 239 f., 249, 253, 263 f., 278 Methodenlehre 9, 47, 66, 68, 83, 115 Methodenvielfalt 3, 68, 106, 110 Methodik 24, 53, 66, 271 Moralisierung 38, 52–54, 71, 247, 271 Mythos 22, 27, 38 Nachbarrecht 135, 138–142, 146–148, 158 f., 162, 176, 170, 257, 273 Nachhaltigkeit 9, 126 f., 129 f., 135, 137, 144, 148 f., 262 Narrativ 25–29, 38, 76, 91, 112, 200, 263, 266, 274 Nationalsozialismus 15 f., 34, 41, 46, 269 Neue Verwaltungsrechtswissenschaft 24 Nichtdiskriminierung 19, 203 f., 206, 208–213, 215–226, 228, 230–233, 236–249, 251, 253–258, 262, 276, 277 f. Nichtdiskriminierungsrecht 9, 22, 52, 54, 68, 107 f., 205– 211, 214 f., 218, 220 f., 223, 225, 231, 237, 240, 242, 244–249, 253– 255, 257, 259, 263, 276 f.
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–, postkategoriales 208 –, proaktives 211, 231, 249, 276 f. –, reaktives 211, 225, 231, 249, 276 f. Nudging 13 Öffentliches Recht 1, 2, 9, 12, 15, 17, 24, 29, 31–33, 36, 38, 44, 54, 57, 63, 70 f., 74–76, 81, 99 f., 115, 118 f., 123, 127, 132, 157–159, 163, 173, 176, 184, 202, 213 f., 254, 256, 258, 262, 267, 269, 270, 272 Ökologischer Schaden 6, 143 f., 152, 154 Ökonomische Analyse des Rechts 13, 25, 70 f., 100, 162, 200 Pandektistik 32 Partizipation 207 Paternalismus 13 f., 36, 67 Performanz 89 Performativität 88–91, 94 Perspektivenvielfalt 110, 123, 273 Pfadabhängigkeit 24 Pluralismus 4, 266 Postmoderne 266 Poststrukturalismus 88 Präventionserwägung 51, 252 Präventionsfunktion 14, 70, 95, 224, 243 Prinzipienorientierung 66, 74, 80–83, 122, 272 Privatautonomie 22, 29–32, 38, 46–49, 51, 53, 55– 58, 62, 70 f., 74–79, 83, 92–94, 112, 156, 163–165, 169, 206, 258, 262–264, 270–272 Privatisierungsfolgenrecht 183 Privatrechtsgesellschaft 48, 96 Privatrechtsverständnis 7, 11, 21 f., 30, 33, 38, 40, 46, 51, 53, 55 f., 58–61, 65 f., 68 f., 72– 74, 78– 84, 86 f., 92–97, 100 f., 104, 106, 108, 110, 114 f., 119, 121–123, 163 f., 202, 246, 248 f., 258, 261, 263 f., 267–269, 271–274, 276–278 Privatrechtswissenschaft 2 f., 7, 10, 12, 18 f., 21–25, 34, 36, 39, 44, 46, 59, 61–63, 66, 68, 70–73, 78, 84, 87, 96, 101–105, 107–111, 113–121, 123, 128 f., 266 f., 269–273 Proprium 2
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Quote 231 f., 234 f., 238, 240 f., 244, 246, 277 Recht als Kulturprodukt 115, 119, 121 f. Recht als Wissenschaft 24–26, 59, 70, 74, 85, 99 f., 102, 105, 108 f., 115–119, 123, 249, 263, 267, 273 Rechtsdogmatik, s. Dogmatik Rechtspositivismus 80 Regel-Ausnahme-Verhältnis 76, 94, 263, 265 Regulierungsfunktion 14, 80 f., 84, 96, 264 Regulierungsrecht 14, 24, 171, 183 f., 190, 192, 196, 201 Reputationshierarchie 107 Rule of recognition 80 Sanktion 51, 157, 224, 235 f., 243 Schlüsselbegriff 94 Schulenbildung 114 Schwächerenschutz 11, 39, 40, 50 f., 55 f., 72, 76 f., 93 f., 107 f. Schwerpunktbereich 99 Scoring 212, 215 f., 237, 276 Selbstbestimmung 11, 30 f., 49–51, 53, 56, 75, 77, 92 f., 159 Selbstbindung 31, 53, 58 Selbstreflektion 2 Selbstregelung 49 Selbstvergewisserung 3 Sonderprivatrecht 37, 107, 201 Soziale Inklusivität 9, 17, 22, 123, 209, 226, 238 f., 244, 276 Sozialkapital 105, 108 Sozialmodell 33 f., 38, 40 f., 96 Sozialstaatsprinzip 63, 81, 170, 256 Sprechakt 90 Staatslogik 4 Staatsziel 63, 127, 160 f., 256, 274 Standardisierung 94 f., 97 f., 122, 202, 272 Steuerungspotenzial 12, 17, 97, 269 Suspect classification 204, 223 Sustainable finance 158 Testierfreiheit 65, 75 Transnationalisierung 119
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Überinklusion 224 Übermaßverbot 79 Überzeugungskraft 40, 46, 74, 86, 108 Umweltschutz 5–, 9, 17, 19, 22, 123, 125–131, 133– 135, 137– 142, 144–165, 167, 171, 178, 203, 210, 239, 246, 251, 253– 258, 262, 273 f., 277 Untermaßverbot 62, 79 Utilitarismus 2, 36, 83
Versorgungssicherheit 185–190, 195 f., 198, 199, 201, 254 Vertragsauslegung, ergänzende 187 f., 195, 198 f., 276 Vertragsfreiheit 10 f., 49, 65, 75, 242 Vertragsgerechtigkeit 10, 11, 48 Vertragskontrolle 53, 56 Volonté de tous 6 Volonté générale 6
Verbotsgesetz 131 f., 155 Verbraucher 14, 36 f., 54, 57, 66–68, 107 f., 137, 148 f., 186–188 Verhaltenssteuerung 12 f., 71, 73, 93, 107, 144, 162, 211, 218, 258 Verkürzung 92 f., 98, 114, 122, 173, 203, 265, 272 Veröffentlichrechtlichung 52 Versicherung 40, 70, 129, 181, 200, 212, 222–225, 241–243, 245, 276
Wertungsjurisprudenz 7–9, 17, 22, 76, 269 Wirklichkeitserzählung 26, 263, 267 Wirtschaftsrecht 60 f. Zielgrößenvorgabe 234–236, 277 Zivilrechtslehrervereinigung 2 f., 47, 104– 107, 110