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German Pages 160 [162] Year 2023
Im vorliegenden Buch bringt sie prominente Geistes- und Sozialwissenschaftler:innen in den Dialog mit
Geisteswissenschaftler:innen sitzen im Elfenbeinturm und denken über Probleme nach, die im »wirklichen Leben« irrelevant sind? Wirtschaftsbosse müssen schnelle Entscheidungen treffen, ohne lange zu fackeln? Oder können beide Seiten im Dialog voneinander lernen? In diesem Band diskutieren hochkarätige Wissenschaftler:innen und Praktiker:innen aus der Wirtschaft, wie wir die aktuellen gesellschaftspolitischen und ökonomischen Herausforderungen gemeinsam meistern können. Es diskutieren Markus Gabriel und Alexander Doll, Richard David Precht und Joe Kaeser, Armin Nassehi und Steffen Kampeter sowie Ute Frevert und Julia Jäkel.
Entscheider:innen aus der Wirtschaft.
Umschlagabbildungen von oben links nach unten rechts: Markus Gabriel: © picture alliance / Geisler-Fotopress | Christoph Hardt; Alexander Doll: © privat; Richard David Precht: © picture alliance / ZB | Thomas Schulze; Joe Kaeser: © picture alliance / SZ Photo | Friedrich Bungert; Armin Nassehi: © picture alliance / SvenSimon | Malte Ossowski/ SVEN SIMON; Steffen Kampeter: © BDA | Michael Hübner; Ute Frevert: © picture alliance / Ulrich Baumgarten | Ulrich Baumgarten; Julia Jäkel: © privat Umschlaggestaltung: Andreas Heilmann, Hamburg
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ISBN 978-3-8062-4581-3
€ 20,00 [D] € 20,60 [A]
Geld und Geist
Speakerin und Sachbuchautorin. Die ehemalige stellvertretende Chefredakteurin der Philosophie-Zeitschrift ›Hohe Luft‹ konzipierte und hostete den wbg Sachbuch-Podcast »Was sagen Sie dazu?« bis Ende 2022.
Alexander Doll
Richard David Precht
Joe Kaeser
Nur der Dialog bringt uns weiter
Rebekka Reinhard (Hrsg.)
Foto: Sung-Hee-Seewald
Rebekka Reinhard ist Philosophin,
Markus Gabriel
Rebekka Reinhard (Hrsg.)
Geld und Geist
Armin Nassehi
Steffen Kampeter
Ute Frevert
Julia Jäkel
Klimawandel, Corona-Pandemie, Angriffskrieg auf die Ukraine … kaum haben wir uns an eine »neue Normalität« gewöhnt, wird diese durch unvorhergesehene Entwicklungen schon wieder infrage gestellt. Lösungen für die vielfältigen, miteinander verflochtenen Probleme unserer Zeit lassen sich nur im offenen Dialog finden, der unterschiedliche Sicht- und Herangehensweisen miteinander in Bezug setzt. In diesem Buch diskutieren Geisteswissenschafler:innen und Praktiker:innen aus der Wirtschaft über Freiheit und globalen Wettbewerb, Digitalisierung, die Relevanz von Geisteswissenschaften, die Rolle von Kultur und Bildung sowie darüber, welche Werte Wirtschaft und Gesellschaft heute brauchen.
Gespräche
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Geld und Geist
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Geld und Geist Gespräche mit Markus Gabriel und Alexander Doll, Richard David Precht und Joe Kaeser, Armin Nassehi und Steffen Kampeter sowie Ute Frevert und Julia Jäkel Herausgegeben von Rebekka Reinhard
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbg Theiss ist ein Imprint der wbg. © 2023 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Satz: Anja Harms, Oberursel Umschlagabbildungen: von oben links nach unten rechts: Markus Gabriel: © picture alliance / Geisler-Fotopress | Christoph Hardt/Geisler-Fotopress; Alexander Doll: © privat; Richard David Precht: © picture alliance / ZB | Thomas Schulze; Joe Kaeser: © picture alliance / SZ Photo | Friedrich Bungert; Armin Nassehi: © picture alliance / SvenSimon | Malte Ossowski/SVEN SIMON; Steffen Kampeter: © BDA | Michael Hübner; Ute Frevert: © picture alliance / Ulrich Baumgarten | Ulrich Baumgarten; Julia Jäkel: © privat Umschlaggestaltung: Andreas Heilmann, Hamburg Porträts im Buch (sofern von den Umschlagabb. abweichend): S. 6/155: © Sung-Hee-Seewald, S. 12/144: © privat, S. 48/147: © privat, S. 49/148: © Siemens; S. 80/149: © Hans-Günther Kaufmann, S. 114/152: © Andreas Reeg, S. 115/153: © privat Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-4581-3 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): ISBN 978-3-8062-4626-1 eBook (epub): ISBN 978-3-8062-4627-8
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Einleitung: Dialoge im Wandel der Zeit Corona, die digitale Wissensgesellschaft und die Bildung der Zukunft Markus Gabriel im Dialog mit Alexander Doll
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Demokratie, Sozialstaat und unternehmerische Verantwortung Richard David Precht im Dialog mit Joe Kaeser
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Zeitenwenden, Eliten und Problemlösungskompetenz Armin Nassehi im Dialog mit Steffen Kampeter
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Sprache, Emotionen und Medien im Wandel Ute Frevert im Dialog mit Julia Jäkel
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Lebensläufe
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Literatur
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DIALOGE IM WANDEL DER ZEIT Das Jahr 2020 war ein besonderes Jahr – es ging als dasjenige in die Geschichte ein, in dem ein neuartiges Virus die Welt erfasste. Am 20. März jenes Jahres verhängten Bayern und das Saarland erstmals Ausgangsbeschränkungen, um die Pandemie – bald als SARS-CoV-2 oder schlicht „Corona“ bezeichnet – einzudämmen. Während Nachrichten und Talkshows zunehmend monothematisch um das Virus kreisten, während man noch zu antizipieren suchte, welche politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen Ausweitung und Wiederkehr der „Lockdowns“ wohl haben würden, beauftragte mich die Wissenschaftliche Buchgesellschaft mit der Konzeption und Moderation eines neuen Podcasts. Es sollte darum gehen, Wert und Relevanz der Geisteswissenschaften in einer – nicht erst seit der Coronakrise – zersplitterten, in unterschiedliche Expertisen und „Zielgruppen“ zerfallenen Öffentlichkeit herauszustellen und lebendig zu machen. Rasch fanden sich renommierte Autorinnen und Autoren aus unterschiedlichen geisteswissenschaftlichen und benachbarten Disziplinen, die über ihre Bücher sprechen wie auch zu öffentlichen Themen und Diskussionen darüber Stellung beziehen wollten. Im Mai 2020 – noch ganz unter dem Eindruck grundrechtlich teils bedenklicher Freiheitsbeschränkungen – ging die erste Folge von „Was sagen Sie
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dazu?“ mit Sabine Leutheusser-Schnarrenberger auf YouTube und Spotify online. 2021 entstand dann die Idee der Special-Folgen: ein interdisziplinärer Dialog zwischen Geisteswissenschaften und Wirtschaft, „Geld und Geist“. Auch und gerade angesichts zunehmend hitziger, medial verstärkter Auseinandersetzungen zwischen gegnerischen Ideologien im Kontext von Corona und über die Zukunft der liberalen Demokratie war das Ziel, mit dem „wbg Dialog“ ein neues Format für interdisziplinäres Wissen zu schaffen – um öffentlichen Debatten mehr begriffliche Klarheit zu verleihen und zu einem Mehr an aufgeklärter Vielstimmigkeit beizutragen. Aktuelle politische und wirtschaftliche Ereignisse bildeten den Kontext eines fundierten Austauschs zwischen hochrangigen Entscheiderinnen und Entscheidern aus der Wirtschaft und Größen geisteswissenschaftlicher Provenienz. Dieses Buch versammelt eine Auswahl dieser Dialoge, die im Zeitraum zwischen Mai 2021 und August 2022 stattfanden. Alle wurden digital per Video und Audio aufgezeichnet; kein einziges der jeweiligen Dialog-Paare befand sich zum Zeitpunkt des Gesprächs im selben Raum. Für das neue wbg-Format „trafen“ sämtliche Protagonisten zum ersten Mal aufeinander – mit der Offenheit und neugierigen Bereitschaft, im konzentrierten, sachorientierten Gespräch voneinander zu lernen und miteinander weiterzudenken: der Philosoph Markus Gabriel und das ehemalige Vorstandsmitglied Deutsche Bahn AG und jetziger Aufsichtsratsvorsitzender von Lincoln International Deutschland, Investor und Berater Alexander Doll; der Philosoph Richard David Precht und der Ex-Siemens-Chef und jetzige Aufsichtsratsvorsitzende von Siemens Energy Joe Kaeser; der Sozio-
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loge Armin Nassehi und der Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände Steffen Kampeter; die Historikerin Ute Frevert und die Aufsichtsrätin und ehemalige Gruner+Jahr-Chefin Julia Jäkel. Standen im ersten Dialog noch Corona und seine Folgen für die liberale westliche Demokratie und die hypervernetzte globale Wirtschaft im Zentrum, wurden die weiteren Gespräche nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine aufgezeichnet. Gerade noch hatte man es mit der „Neuen Normalität“ der Post-Corona-Welt zu tun gehabt. Seit dem 24. Februar 2022 brauchte man anscheinend wieder einen radikal neuen Frame oder zumindest einen passenderen Deutungsrahmen für den Beginn einer Epoche, in der eine fundamentale globale Neuordnung der Systeme von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ansteht: die „Zeitenwende“. Pandemie, Rezession, Klimawandel, Krieg in Europa, die Krise westlicher Demokratien und die neue Macht Chinas stellen uns vor komplexe Fragen, die hochdifferenzierte Antworten erfordern – und sogleich neue Fragen mit sich führen. Müssen wir uns daran gewöhnen, „das Unerwartete zu erwarten“, um selbst unerwartet, also flexibel und vernünftig, reagieren zu können? Welche Werte brauchen Wirtschaft und Gesellschaft angesichts der vielfältigen, gegenläufigen Herausforderungen unserer Zeit? Was heißt „Bildung“ heute? Welche Rolle spielen Digitalisierung und Automatisierung für die Arbeitswelt der Zukunft? In welcher Welt wollen wir leben? Diese und ähnliche Herausforderungen zu analysieren und zu diskutieren, war die Aufgabe meiner Dialogpartnerinnen und -partner. Das Erbe der Geisteswissenschaften reicht in die Antike zurück – ebenso wie ihre Autorität und die Kompetenz, zum tieferen Ver-
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stehen der conditio humana, der menschlichen Zivilisation und einer Kultur der Aufklärung im kantischen Sinne beizutragen. In jüngster Zeit schien das interaktive, Plattform-getriebene Internet „2.0“ mittels Sozialer Medien und Blogs diese Autorität und Kompetenz verwässert zu haben. In der digitalen Welt besteht Kompetenz anscheinend zunehmend in TV-tauglicher „Expertise“ – begleitet von einem dualistischen Denken, das sich auf die Kontrastierung von schwarz und weiß, gut und schlecht, wahr und fake beschränkt. Ihren Wert, ihre Relevanz und Bedeutung können Geisteswissenschaften jetzt und in Zukunft wohl nur behalten, wenn sie mit ihren je eigenen Begriffen, Methoden und Fragestellungen immer wieder neu beweisen, worin ihr wahrer, ihr zeitloser Wert besteht: uns zu helfen, uns in dieser Welt zu orientieren und uns zu inspirieren, selbst zu denken, Wissen zu teilen, weiterzudenken. Und: Wenn sie zu diesem Zwecke mutig und spontan in unerwartete Dialoge mit ganz anderen, „praktischen“ Disziplinen treten. Eine dieser Disziplinen ist die Wirtschaft. Die Geisteswissenschaften brauchen den Dialog mit der Wirtschaft, um ihren Platz in einer kompetitiven kapitalistischen Ordnung, die mit „Rankings“ und „Ratings“, „Exzellenz-Clustern“ und von Automobilkonzernen finanzierten Stipendien längst alle Bereiche wissenschaftlicher Forschung erreicht hat, kritisch zu reflektieren und zu legitimieren. Der „Geist“ braucht den partnerschaftlichen Dialog mit dem „Geld“ aber auch, um an vorderster Front unideologische, unbelastete Lernräume zwischen Theorie und Praxis mitgestalten zu können, Freiräume, in denen die Imperative der nun schal anmutenden Maximierungs- und „Fortschritts“-Logik einer (ernsthaften) Einsicht in die Grenzen des Wachstums weichen.
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DIALOGE IM WANDEL DER ZEIT
Wirtschaft und Unternehmertum wiederum brauchen den Dialog mit Geisteswissenschaften, um sich ihrer Aufgabe und Verantwortung in einer Welt wachsender Ungleichheit zu vergewissern. Unternehmensführung im 3. Jahrtausend besteht in sehr viel mehr als nur darin, überzeugende Bilanzen und Dividenden vorweisen zu können. Bei dem, was seit einigen Jahren unter dem Schlagwort „Purpose“ hochgehalten wird – eine so innovative wie humanitär und ökologisch engagierte Entfaltung ökonomischer Macht – steht viel auf dem Spiel. Wenn das „Geld“ die Ausbreitung einer als kreativ und human ästhetisierten Als-ob-Ethik verhindern will – einer Ethik, die Profite auf dem Rücken einer neuen Arbeiterklasse macht (Stichwort „gig economy“) – braucht sie den Stachel des „Geists“, der sie daran erinnert, dass ethische und ökonomische Werte nicht immer kompatibel sind. Dass es jedoch nicht unmöglich ist, beide in eine vernünftige Balance zu bringen, die allen dient. Die epochalen Herausforderungen unserer Zeit können wir nicht mit Konfrontation, sondern nur mit Kooperation meistern, nur mit Dialog, nicht mit dogmatischen Gegensätzen. Deshalb lautet der Titel dieses Bands „Geld und Geist“ – und nicht „Geld gegen Geist“. Deshalb steht am Ende des jeweiligen Gesprächs oft die Frage: „Was möchten Sie einander jetzt fragen?“ Ich danke der wbg, dass sie mir dieses engagierte Dialog-Projekt anvertraut hat, und wünsche Ihnen, den Leserinnen und Lesern, eine anregende Lektüre. Rebekka Reinhard, München im November 2022
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CORONA, DIE DIGITALE WISSENSGESELLSCHAFT UND DIE BILDUNG DER ZUKUNFT
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MARKUS GABRIEL UND ALEXANDER DOLL
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Der Dialog zwischen Markus Gabriel und Alexander Doll fin-
det abends statt, zwischen zwei verschiedenen Kontinenten. Gabriel befindet sich zum Zeitpunkt des Gesprächs in Deutschland, Doll in den USA. Beide haben – wie die Protagonisten der übrigen Dialoge – einige Leitfragen und die jeweiligen biografischen Informationen zu ihrem Gesprächspartner erhalten; wie die restlichen in diesem Band versammelten Protagonistinnen und Protagonisten begegnen sie sich hier per Videoschalte zum ersten Mal. Markus Gabriel, einst jüngster Philosophieprofessor Deutschlands und als „Wunderkind der Philosophie“ gerühmt, ist längst eine bekannte Größe nicht nur in seinem Fach, mit Gastprofessuren von Paris bis New York City, sondern auch als multimedial versierter Intellektueller. Der Vertreter des „Neuen Realismus“ und Anhänger analytischer Klarheit ist natürlicher Gegner des Schwurbelns – ob
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metaphysischer oder konstruktivistischer Spielart. Dies wird auch im Gespräch mit Alexander Doll deutlich. Gabriel analysiert und definiert, begeistert und mit großem Tempo. Als einstigem Studenten der Philosophie, der eine internationale Karriere im Banking machte und unter anderem Finanzchef bei der Deutschen Bahn war, ist Alexander Doll dieser Elan nicht fremd. Während Gabriel aus dem Stegreif referiert, hat Doll sich strukturiert auf den interdisziplinären Dialog vorbereitet. Zwischendurch blickt er konzentriert auf seine Notizen, um in der knapp 50-minütigen Diskussion über die aktuellen Ereignisse seine Standpunkte präzise auf den Punkt zu bringen und zugleich in einem Gesamtbild zu verorten. Zum Zeitpunkt des Gesprächs im Mai 2020 kreist der öffentliche Diskurs nahezu ausschließlich um Corona und ist entsprechend stark von der naturwissenschaftlichen Expertise der Virologen und Epide-
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miologen geprägt. Man streitet um Sinn und Unsinn von Ausgangsbeschränkungen, Schulschließungen, Masken- und Impfplicht. Gabriel schlägt gleich zu Beginn einen großen Bogen vom Ungenügen naturwissenschaftlicher Argumente bei der Beantwortung normativer Fragen bis zu den praktischen ökonomischen Folgen der Grundrechtseinschränkungen in der deutschen liberalen Demokratie. Doll nimmt dies zum Anlass, um „einen Schritt“ auf die begriffliche Ebene „zurückzugehen“ und über die Bedeutung der „digitalen Wissensgesellschaft“ bzw. die von den Medien „vereinnahmte“ Rationalität der Wissenschaft zu reflektieren. Im Laufe des Gesprächs vollzieht sich immer wieder ein Seitenwechsel: Gabriel, der Theoretiker, streicht den Wert der Praxis heraus, Doll, der Praktiker, den der Theorie. Oder ist es gar kein Seitenwechsel, sondern Ausweis einer modernen professionellen Haltung? Was die Hochschulbildung betrifft, macht sich Gabriel stark für das, was er „transdisziplinäre Forschungsbe-
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reiche“ nennt: die Kooperation von Philosophie, Mathematik, Informatik, Medizin und anderen praktischen Disziplinen, die „keine ausschließliche Elfenbeinturm-Angelegenheit bleibt, sondern der grundlegende Gedanke ist, dass die Kooperation über die Rahmenbedingungen der Universität hinausgehen muss“. Konsequenterweise bietet er auch Ethik-Beratung für Unternehmen an, die sich ethisch nachhaltiges Wirtschaften zum Ziel setzen. Alexander Doll, dem selbst eine ethische und zukunftsorientierte Unternehmensführung am Herzen liegt, sieht ein neues Bewusstsein auf der Ebene der Unternehmen, die durch politische Vorgaben wie Nachhaltigkeit, Diversität und Diversifikation teils verstärkt werden. Ein Bewusstsein, in dem die Auseinandersetzung von Entscheiderinnen und Entscheidern im Bereich der Wirtschaft mit Persönlichkeiten aus der Philosophie eine zentrale Rolle spielen kann – und muss: „Da glaube ich, wird viel passieren, sehr viel passieren.“
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» « Rebekka Reinhard: Markus Gabriel, Alexander Doll, wir leben
nun seit gut anderthalb Jahren mit der Pandemie. Der öffentliche Diskurs hat sich stark verändert, und damit vielleicht auch ein Stück weit die digitale Wissensgesellschaft insgesamt. Im Zuge der monothematischen Berichterstattung über Corona haben wir erfahren, wie sehr sich in den Chor der Expertenstimmen eine neue, sehr kräftige Stimme mischte: die der Naturwissenschaften. Welche Bedeutung und Relevanz haben Ihrer Meinung nach die Geisteswissenschaften angesichts der neuen Dominanz der Naturwissenschaften? Anders gefragt: Wie sehen Sie das aktuelle Verhältnis von Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften im öffentlichen Diskurs und den digitalen Wissens-Räumen insgesamt? Markus Gabriel: Also, ich sehe die neue naturwissenschaftliche Do-
minanz äußerst kritisch und als nicht berechtigt an. Ich glaube, man kann eine ganze Reihe von Defiziten, Pathologien, Verzer-
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rungen in der Öffentlichkeit diagnostizieren, die damit zu tun haben, dass wir neben einigen Pandemiewellen verschiedene „Wellen“ eines problematischen Verhältnisses von Wissenschaft(en) und Politik erlebt haben. Das ging los mit einem tatsächlich begrüßenswerten Rationalitätsschub im letzten Jahr, als man den Eindruck hatte, es gälte jetzt eben mal im Tandem der Wissenschaften gewisse Tatsachen, Fragen zu klären. Die Politik, so sah es aus, habe sich möglichst an diese Faktenlage zu halten, um dann demokratisch einen gelungenen Weg zu finden. Was faktisch passierte, war: Deutschland hatte Glück, das Wetter war gut, dadurch konnte man während der ersten Welle einen für alle noch akzeptablen Lockdown machen, der nicht die gleichen harten Auswüchse hatte, wie etwa in Italien und Spanien. Man kam glimpflich durchs Frühjahr und glaubte, das habe etwas mit Rationalität zu tun. Leider entsprach gerade dies nicht den Fakten, sondern, wie zu Recht Christian Drosten sehr früh gesagt hat, hatten wir einfach nur Glück. Dann kam der Herbst, und spätestens im Herbst traf die gescheiterte Verwaltung einer Gesundheitskrise auf die echte Tatsachenlage: dass nämlich kein rein naturwissenschaftlich dominierter Diskurs jemals prinzipiell politische Maßnahmen begründen kann, denn eine virologische oder epidemiologische Faktenlage impliziert politisch gar nichts. Ob und unter welchen Bedingungen Sie eine Bevölkerung durchseuchen, ob und unter welchen Bedingungen Sie eine Impfpflicht erlassen, sind höchst relevante ethische, politische, soziale, ökonomische, kurzum: normative Fragen. Die lassen sich aber naturwissenschaftlich gar nicht beantworten. Es wäre ein Kategorienfehler zu glauben, dass die Politik sich an na-
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turwissenschaftlichen Tatsachen orientieren kann. Dieser Kategorienfehler herrscht jetzt seit Oktober vor und hat dazu geführt, dass Deutschland im europäischen und im globalen Vergleich aktuell sicher zu den Schlusslichtern der Pandemiebekämpfung gehört. Und zwar nicht nur wegen viel zu vieler Toter. Sondern natürlich auch deshalb, weil wir es zu keinem Zeitpunkt geschafft haben, ein rationales, transparentes und insofern akzeptables Verhältnis zwischen den Maßnahmen der Pandemiebekämpfung und der Aufrechterhaltung des Wertekatalogs der liberalen Demokratie herzustellen. Es ist zwar bei uns fraglos alles völlig mit weitgehend demokratischen Mitteln über die Bühne gegangen (die vielen Ministerpräsidentenkonferenzen waren etwas fragwürdig), daran habe ich keine Zweifel, aber die Illusion, man müsse nur der Wissenschaft folgen, ist nicht demokratisch legitim und im Übrigen schlichtweg eine Illusion. Kurzum, Deutschland hat sich auch – die ersten Klagen kommen jetzt – Menschenrechtsverletzungen zu Schulden kommen lassen im Umgang mit der zweiten Welle, die nicht nur unter dem Aspekt der Kollateralschäden, sondern auch wegen aus meiner Sicht völlig inakzeptabler Grundrechtseinschränkungen über acht Monate hinweg zu Buche schlagen. Ich denke konkret an die Schulschließungen in der zweiten Welle, die keineswegs alternativlos und schon gar nicht wissenschaftlich begründet waren. Die Schulen waren in der Schweiz, Schweden, Frankreich usw. geöffnet bzw. sozusagen geöffneter (Einschränkungen gab es überall, aber keine so scharfen wie in Deutschland). Diese aus meiner Sicht eindeutig zu weit gehenden Grundrechtseinschränkungen haben natürlich auch ökonomische Aspekte; es ist gerade das Ergebnis
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einer meines Erachtens philosophisch in keinem Sinne vertretbaren Wissenschaftstheorie, die das Wissenschaft-Politik-Verhältnis ein Jahr lang gesteuert hat. Da sind massive Defizite aufgetreten, die auch Folgekosten haben. Aber natürlich ist die Pandemie noch nicht vorbei. Wir sind mittendrin in der Entwicklung, wir schauen hier nicht zurück, sondern greifen weiterhin, auch durch dieses Gespräch, ein in ein Geschehen, das noch nicht beendet ist. Alexander Doll: Ich möchte einmal einen Schritt zurückgehen –
und zwar zu der Frage, was eigentlich die Regeln oder was der Sinn von Wissenschaften ist, egal ob es sich um Natur-, Geistesoder Wirtschaftswissenschaften handelt; sie alle sollen ja gewissen Regeln folgen, nämlich denen der Objektivität und Rationalität. Ich glaube, das ist die große Herausforderung der Welt und der Zeit, in der wir leben. Corona ist eine Krise – wie viele andere Krisen zuvor. Sicherlich eine Krise, die uns deutlich mehr, deutlich heftiger getroffen hat, als wir dachten, aber Krisen bieten ja auch Chancen, und sie sind wie ein Brennglas. Was meine ich damit? Die Welt ist unendlich, zumindest ist das die „Philosophie“, der ich anhänge. Insofern sind auch das Wissen und der Wissensfortschritt unendlich. So kommen wir zum Thema der „digitalen“ Wissensgesellschaft. „Digitale“ Wissensgesellschaft heißt ja im Unterschied zur „einfachen“ Wissensgesellschaft, dass wir mit digitalen Mitteln mehr Wissen über verschiedene Kanäle verfügbar machen können. Wissenschaften sollten immer angehalten sein, objektiv und rational Tatsachen, Zustände, Systeme, Objekte zu erforschen. Da kann es natürlich sein, dass das, was heute richtig war, morgen in ganz anderem Licht erscheint. Herr
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Gabriel, Sie haben Christian Drosten angesprochen; das war nun, glaube ich, sehr offensichtlich, wie der Wissensfortschritt gleichsam „stündlich“ auch bei Herrn Drosten wuchs. Und dann kommt die andere Sphäre mit ins Spiel, nämlich die der Politik. Politik nutzt ja auch Elemente einer digitalen Wissensgesellschaft, nämlich gewisse Medien. Dadurch, dass Politik sehr durch und in Bildern lebt – auch in der Übertreibung derselben –, hatten wir hier eine Situation, deren Elemente eigentlich kaum vereinbar sind. Nämlich die Rationalität der Wissenschaft, die über Bilder „vereinnahmt“ wird von der Politik und Experten verschiedenster Wissenschaften, nicht nur der Epidemiologie, sondern auch etwa der Sozialwissenschaften, der Psychologie etc. Ich gehe noch einen Punkt weiter: Wir haben in der CoronaKrise gesehen, dass die digitale Wissenschaftsgesellschaft so nicht funktioniert. Weil das, worauf es ihr eigentlich ankommt oder ankommen sollte, nämlich fachübergreifend Zusammenhänge darzustellen, hier massiv an seine Grenzen gestoßen ist. Und in dieser Situation, in der sich jeder rauspickt, was ihm gerade gefällt, und das über entsprechende digitale Medien auch so kommuniziert, hat das zu Ergebnissen geführt, die weder zielführend noch überhaupt richtig waren. MG: Ich kann das alles nur unterschreiben. Deshalb spinne ich
Herrn Dolls Gedankenfaden gerne weiter. Ein wichtiger Faktor, der auch Gegenstand einer wissenschaftlichen Analyse ist, die Herr Doll selbst skizziert hat, ist die mediale Abbildung. Die digitale Vermittlung hat durch den Umstand, dass wir uns seit etwa 14 Monaten häufiger vor Bildschirmen befinden als zuvor üblich,
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natürlich zugenommen. Dass wir in einer solchen Gesundheitskrise überhaupt vielfach auf Videokonferenzen umstellen konnten – das wäre vor 40 Jahren nicht denkbar gewesen, das ist ein großer Vorteil des technologischen Fortschritts. Das hat aber umgekehrt Dynamiken, die in der Eigenlogik digitaler Wissensvermittlung und sozialer Netzwerke liegen, noch einmal verstärkt. Die beteiligten Teilsysteme – Wissenschaft, Wissenschaftskommunikation, Politik – sind in diesem Raum, der seine eigene Struktur hat, auf eine Weise aufeinandergetroffen, dass sehr viele Schieflagen entstanden sind. Genau das verhindert, glaube ich, was wir 2020 eigentlich gewollt und begrüßt hätten. Nämlich, dass die Objektivität der Wissenschaften (im Plural!) der Schlüssel wäre zu Lösungsstrategien der Krise. Und deshalb, glaube ich, haben wir die Krise weitgehend nicht wissenschaftlich gelöst, nicht im relevanten Sinne von „wissenschaftlich“ jedenfalls. Der wissenschaftlichste Teil der Lösung besteht darin, dass Impfstoffe entwickelt wurden. Das ist im Wesentlichen auch das einzig Erfreuliche. Ansonsten sind etliche neue ideologische Problemlagen entstanden, auch durch teils unzulässige Vereinfachung der Sachlage wie auch der Wissenschaften selbst. Ein Beispiel sind bestimmte Behauptungen über exponentielles Wachstum oder die Behauptung, die Menschen wüssten nicht, was das ist. Dabei war keine der Kurven, die wir gesehen haben, eine reine Exponentialfunktion. Gott sei Dank im Übrigen. Es gab da so viele, teils höchst problematische Vereinfachungen, die durch die bildgebenden Verfahren der digitalen Netzsysteme verstärkt wurden, dass dies wiederum ein Gegenstand weiterer Forschung wäre, wie diese Schieflagen jetzt zu bewerten sind.
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AD: Das ist, glaube ich, das Spannendste überhaupt. Wir stellen
fest, dass Krisen dadurch gekennzeichnet sind, dass man Entscheidungen treffen muss. Entscheidungen sind immer in kurzen Momenten zu treffen, auf Basis von Erfahrungen, von Fakten und vielleicht auch von Intuition. Nun besteht das Grundproblem, darin, dass wir erwarten, Wissenschaft könne Antworten geben, aus denen man sofort Lösungen ableiten kann. Ich glaube, das war seit jeher ein Problem: dass Menschen einfache Antworten auf ganz komplexe Themen haben wollen. Ich bin, wage ich zu behaupten, an dieser Stelle fast mehr der Philosoph, während Sie, Herr Gabriel, hier fast mehr der Praktiker sind. Eines der letzten Universalgenies war Goethe. Universalgenies wie ihn gab es im 17./18. Jahrhundert, und das ist vorbei. Ich glaube, das Problem heute besteht einfach darin, dass wir nicht in der Lage sind, unser geballtes Wissen in der digitalen Wissensgesellschaft zu verbinden. Das ist ein riesiges Problem unserer Zeit. Aufgrund dieser Unfähigkeit, fast schon Unmöglichkeit, Wissen zu verbinden, fällt es uns so schwer, mit all diesen komplexen Themen, mit allen „Werten“, die da im Umlauf sind, zu den „richtigen“ Entscheidungen für die Gesellschaft zu kommen, in der wir leben. Jede Gesellschaft trifft auf Basis rationaler Erkenntnisse andere Entscheidungen, das klang bei Ihnen ja auch schon durch, Herr Gabriel. Die Entscheidungen, die wir treffen, mögen andere sein und sind wahrscheinlich andere, als die, die etwa ein deutlich mehr zentralistisch geführter Staat treffen würde. Wir stehen vor zwei großen Fragen, erstens: Was haben wir alles zu wissen, wie können wir das interdisziplinär zusammen-
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führen? Und zweitens: Welche Systeme und Wertvorstellungen stehen dahinter, die dann zu bestimmten Entscheidungen führen? Wir reden heute fast ein bisschen zu viel über Entscheidungen, die durch Gesellschaftssysteme, Wertvorstellungen und so weiter geprägt sind. Das scheint mir wirklich ein Riesenproblem unserer Zeit zu sein: jene digitalen Medien, die sich immer nur einzelne Elemente einer Diskussion herauspicken und damit durchaus eine – wie ich finde, zu massive – Beeinflussung von Entscheidungen nach sich ziehen. RR: Was sind denn Werte? Welche Werte brauchen wir heute? In
der Wirtschaft, in der Gesellschaft insgesamt? MG: Der Begriff des Wertes hat ganz viele Dimensionen, und diese
Dimensionen hängen enger zusammen, als man vermuten würde. Es gibt da eine – vielleicht so nicht ganz zutreffende – Geschichte, die im 19. Jahrhundert von prominenten Figuren in der Philosophie wie Marx und Nietzsche in die Welt gesetzt wurde. Die sagten, Wert ist eigentlich immer ein ökonomischer Begriff, und Wert heißt, cum grano salis, so viel wie die Präferenz eines Akteurs. Wenn ich sagte: „Ich will das!“, wäre dies also mein Wert. Das hätte dann gar nichts mit Moral zu tun. Das war ein bestimmter Diskurs im 19. Jahrhundert, und daraus ist eine gewisse Moralkritik entstanden. Ich glaube, dass das eine ganz abwegige Diskussion war. Insbesondere, wenn wir mit Adam Smith zur Gründungsgeste der Wirtschaftswissenschaften zurückgehen. Smith war ja vor allen Dingen Moralphilosoph, Ökonomie war für ihn in ein Wertegeschehen
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eingebettet, das den Menschen als empathisches Lebewesen in den Blick nimmt. Wenn ich die Frage nach den Werten selbst beantworten wollte, würde ich sagen: „Werte, in der philosophischen, spezifischen, ethischen Dimension, beschreiben moralische Tatsachen darüber, was wir als Menschen tun beziehungsweise unterlassen sollen.“ Also, ich definiere einmal ein bisschen: Ethik ist die Disziplin, die sich die Frage stellt, welche moralischen Tatsachen bestehen. Eine moralische Tatsache drücken wir in der Regel aus durch einen Sollen-Satz, der sagt, was wir tun bzw. unterlassen sollen, aber nicht jeder Sollen-Satz ist ein ethischer. Das ist nun eine alte Einsicht. Du sollst deine Pommes mit Ketchup garnieren, wenn es dir schmeckt – das ist kein moralisches Problem. Du sollst das Kind retten, das da in diesem Pool schwimmt, sofern du dein Leben nicht damit riskierst – das ist ein moralischer Satz. Ich glaube, dass die moralischen Sätze Sätze sind, die den universalen Anspruch erheben, dass Menschen als Menschen etwas Bestimmtes tun sollen. Und Werte sind die Rahmenbedingungen zur Erkenntnis moralischer Tatsachen. Wir haben die moralischen Tatsachen deshalb nicht alle schon erkannt, weil dazu transdisziplinäre Forschung bezüglich komplexer Systeme nötig wäre. Was die moralisch richtige, also ethisch vertretbare Lösungsstrategie etwa der Corona-Krise wäre, weiß niemand, weil wir das gar nicht angemessen erforscht haben. Da kann man raten, aber man bräuchte immer noch transdisziplinäre Mega-Teams, die nicht nur verschiedene Wissenschaftsdisziplinen, sondern eben auch die sogenannte Praxis mit einschließen müssten. Und in diesen Gesprächsformaten müsste das Ziel sein, herauszufinden, was die
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Werte sind. Stattdessen haben wir es mit einer Wertbeeinflussung zu tun, also einer Beeinflussung auch nach dem Modell in der politischen Kommunikation, des „Nudgings“. Kanzlerin Angela Merkel hat ja auch zu einem bestimmten Zeitpunkt gesagt, man würde auch die „Verhaltenswissenschaften“ befragen – so hieß das damals in der Leopoldina-Diskussion, und gemeint waren damit letztlich die Behaviorial Economics und ein wenig natürlich auch die Psychologie. Die Frage war schließlich: „Wie kriegen wir die Menschen dazu, zu Hause zu bleiben?“, und nicht: „Ist es überhaupt richtig, alle zu Hause einzusperren?“ Ich glaube, dass eine Wissenschafts- und politische Kommunikation, die versucht, die Menschen dazu zu bewegen, zu Hause zu bleiben, egal wie sinnvoll das epidemiologisch sein mag, nicht vereinbar ist mit dem Wertekanon Freiheit, Gleichheit, Solidarität; nicht vereinbar also mit dem liberalen modernen demokratischen Rechtsstaat. Ich glaube, dass die Idee des demokratischen Rechtsstaates im 18. und 19. Jahrhundert, sofern sie philosophisch war, immer daran gebunden war, dass dieser Rechtsstaat Rahmenbedingungen zur Entdeckung bisher unbekannter moralischer Tatsachen zur Verfügung stellt. Das ist das Gegenteil eines Moralisierens. Es geht nicht darum zu sagen, irgendwer wisse schon, was die Antworten sind auf die normativen Fragen. Dann kann der demokratische Rechtsstaat ein Vehikel zur gemeinsamen Erforschung der moralischen Tatsachen sein. Das ist der Rahmen, mit dem ich operiere. AD: Ich gehe jetzt wieder ein bisschen mehr auf die Praxisseite.
Ich teile das, ihre Definition und historische Ableitung von Werten.
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Ich glaube, die spannende Frage ist: Gibt es so etwas wie universelle Werte? Da kaue ich dran: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Vielleicht gibt es diese Werte für Demokratien, das mag abhängig von der jeweiligen Gesellschaftsform sein. Und da kommt ein spannender Punkt mit rein: Werte können sich durchaus verändern, gerade in Krisen. Ich glaube, in der Corona-Krise haben wir gesehen, dass das Thema der Sicherheit, der Risiko-Ausschaltung, der Lebenserhaltung zu einem Wert an sich wurde. Sicherheit bzw. Lebensverlängerung, koste es was es wolle, wurden großgeschrieben. Das ist spannend. Das treibt mich um, weil hier natürlich die Frage dahintersteckt: Wie verändern sich Werte? Werden Werte immer auch so gelebt und angewandt, wie sie definiert sind? Wie sieht das Wertekorsett einer Gesellschaft aus? Die Krise hat gezeigt, dass wir tatsächlich massive Werteverschiebungen erleben. Die Frage ist, ob die Grundwerte oder Fundamente unserer Gesellschaft, von denen wir dachten, dass wir sie haben, überhaupt so noch existent sind. Darüber mache ich mir schon ziemliche Gedanken. Ich beobachte zumindest eine drastische Werteverschiebung in entwickelten Gesellschaften, hin zu den Themen Sicherheit und Gesundheit; weniger Fokus liegt auf dem Wert und dem Thema Toleranz, das muss man ganz deutlich sagen. MG: Ich würde noch einen Unterschied machen wollen, um den
Gedanken der universalen Werte zu schärfen, für den, glaube ich, rein philosophische Argumente sprechen – woraus aber noch nicht folgt, welche konkreten Werturteile damit verbunden sind.
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Ich glaube, man kann mittels philosophischer Argumentation zeigen, dass es universale Werte gibt. Aber aus der Argumentation folgt nicht, dass ich Ihnen sagen kann, was Sie in einer konkreten Situation tun sollen. Deswegen würde ich noch mal unterscheiden zwischen Wertevorstellungen einerseits – die haben sich verschoben, ich nehme das genauso wahr wie Sie, Herr Doll – und der Frage, ob die Werteverschiebung noch mit den universalen Werten vereinbar ist. Hier ist aus meiner Sicht in der Tat eine Schieflage eingetreten zwischen denjenigen Werten, die etwa in der Form von Grundrechten eigentlich als unantastbar und ewig im Grundgesetz verankert sind, also mit einer gewissen moralischen oder ethischen Begründung einerseits, und dem, was faktisch jetzt geschehen ist in diesem Jahr, andererseits. Das Ergebnis ist genau das, was Sie, Herr Doll, beschrieben haben: das schiere Überleben als Zweck an sich unter Hintanstellung eines rational vertretbaren RisikoKalküls, sowohl für eine Gesellschaft als auch für Individuen; das zunehmende Hochschrauben der Sicherheit, die Abnahme von Toleranz. Darin besteht die zumindest temporäre Verschiebung. In anderen Ländern sieht das teilweise etwas anders aus. Ich war gerade in Barcelona, wo, was mich sehr überraschte, den ganzen Winter über eine völlig andere Risikoeinschätzung vorherrschte, und auch eine sehr viel dynamischere Vielfalt an Pandemiemaßnahmen, die insgesamt viel mehr Freiheitsräume ermöglichen als in Deutschland. In Spanien war den ganzen Winter über so gut wie nichts geschlossen im Vergleich zu den Schließungen in Deutschland. Und zwar gerade deshalb, weil die erste Welle in Spanien eine viel stärkere Wucht hatte. Dort kennt jeder jeman-
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den, der an Corona gestorben ist oder einen schlimmen COVID19-Verlauf hatte. Das ist interessant. Man hat dort die Wirklichkeit dieser Gefahr auf eine ganz andere Weise erlebt und dann über den Winter eine völlig andere, rationalere Risikoeinschätzung implementiert. Bei aller Vorsicht sind Restaurants geöffnet, Theater und Museen schließen nicht, sondern regulieren den Eintritt mit Maskenpflicht. Das zeigt: Nicht in allen Fällen gibt es solche Verschiebungen in den Wertvorstellungen. Ich glaube aber, dass es eine bestimmte Normativität gibt, also Maßstäbe, anhand derer wir uns fragen können, ob die Werteverschiebung, die wir in Deutschland erlebt haben, eine gute ist oder nicht. Da würde ich eindeutig sagen, die Werteverschiebung ist nicht nur eine, die klarerweise faktisch stattfindet, sondern eine, die in dieser extremen Form so nicht sein soll. Weil sie meines Erachtens nicht vereinbar ist mit dem Startschuss der Moderne. Sie ist eine antimoderne Entwicklung, weil sie zu wenig liberal ist. RR: Wir reden seit einiger Zeit sehr gerne von der „Neuen Nor-
malität“: The New Normal. Da fragt sich schon, wie „nachhaltig“, um einen anderen Begriff ins Spiel zu bringen, ist diese neue Normalität? Ist sie nur temporär, und gehen wir dann wieder zurück zur „Alten Normalität“? Ich möchte an dieser Stelle noch mal fragen: Welche Werte sollten wir haben oder brauchen – für eine funktionierende Wirtschaft in einer demokratischen Gesellschaft? AD: Ich habe durch die Krise erkannt, dass das Thema Toleranz
und Offenheit für mich vor dem Wert der Sicherheit kommt. Das
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ist natürlich eine individuelle Wertbestimmung. Und das ist auch ein Problem unserer Zeit, dass wir unsere individuellen Werte in den Vordergrund schieben, die nicht immer unbedingt etwas mit den Werten einer Gemeinschaft zu tun haben müssen. Insofern möchte ich schon ein bisschen anzweifeln, ob das, was wir jetzt als „jüngere“ Vertreter unserer Gesellschaft hier diskutieren und feststellen, ob das wirklich die Gesellschaft, in der wir leben, abbildet. Machen wir uns nichts vor: Das Durchschnittsalter hierzulande liegt bei mittlerweile über 50 Jahren. Wir wissen, was die durchschnittliche Lebenserwartung ist. Und daran orientieren sich natürlich viele Entscheidungen und Aktionen in Krisen, in der Corona-Krise, in vielen anderen täglichen Situationen. Ich glaube, es ist niemals ganz einfach, die Balance zwischen bestimmten Werten zu halten, wenn man es nicht mit einer kohärenten Gesellschaft zu tun hat, von der Demografie, von der Bildung her. Da wirklich für alle die gleichen, von allen geteilten Werte zu finden, ist schwierig. Da kommen wir in die nächste Diskussion, nämlich die über Minderheitenrechte, die auch auf bestimmten Werten beruhen – auch hier ist eine Einigung sehr schwierig. Gibt es überhaupt noch Universalrechte in einer Gesellschaft, die es auch als einen Grundwert ansieht, sämtliche Minderheitenrechte durchzusetzen? Ich kann da keine Prognose abgeben. Wir leben in einem System, das etwas aus dem Ruder gelaufen ist. Systeme neigen dazu, sich nach einiger Zeit wieder einzupendeln – das ist jetzt Naturwissenschaft, Wirtschaftswissenschaft. Die Frage ist, auf welchem Niveau, in welcher Art und Weise? Wir haben jetzt Wahlen in Deutschland. Ich finde es gut, dass wir nun einmal keinen Wahl-
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kampf haben, der relativ sang- und klanglos über die Bühne geht, sondern einen, in dem verschiedene Positionen klar erkennbar sind. Das sehe ich hier in Deutschland nach langer Zeit wieder das erste Mal. Das finde ich gut, aber wo sich das System ausnivellieren wird, und was das für die Beurteilung von Werten bedeutet, weiß ich nicht. Werte werden immer nur so weit als Werte akzeptiert, wie sie durchsetzbar und erzwingbar sind. Ich spiele damit auf unsere Judikative und Exekutive an, wo natürlich (alles) immer mit einem gewissen Zeitverzug erfolgt. Was ist gängige Rechtsprechung? Da unterscheiden sich die Systeme. Als Optimist könnte man sagen: Die Grundwerte, wie wir sie beschrieben haben, werden sich wieder einpendeln. Pessimisten, die ja angeblich in Wahrheit Realisten sein sollen, könnten sagen: Nein, das wird alles ganz anders, wir werden eine nachhaltige Werteverschiebung haben, weil wir eben nicht allein auf dieser Welt sind. Das sind zwei mögliche Szenarien. Was ich mir wünsche, ist eine andere Frage, aber wo es hingeht, weiß ich nicht. MG: Wenn wir das jetzt nationalstaatlich ein bisschen auflösen, ist
es in der Tat so, dass wir in einer besonderen Lage sind. Wir sehen ein bundesrepublikanisches Muster: 16 Jahre CDU-Kanzler, kurze Revolution dazwischen, dann 16 Jahre CDU-Kanzler/in. Das heißt, wir sind in Deutschland eine gewisse Stabilitätsvermutung gewöhnt. Die ist nun kollabiert. Und wir wissen eigentlich nicht so recht, wie wir damit umgehen sollen und was es bedeutet, dass die Demokratie jetzt politisch ist. Ich meine, was die Tatsache bedeutet, dass die Demokratie nicht nur ein gewisser Prozentsatz
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ist, aus dem gewisse Dinge folgen, sondern dass tatsächlich das ganze System in Bewegung ist und eine Richtungsentscheidung für die Post-Merkel-Ära ansteht. Das ist das Nervositätsspezifische auch dieser Republik. Gleichzeitig denke ich, dass wir auch innerhalb Europas Verschiebungen erleben könnten. Ich glaube, manche Staaten sind durch die Dynamik etwa der Cancel Culture und des zunehmenden Einflusses der sozialen Netzwerke auf das öffentliche Leben längst hindurchgelaufen. Italien oder Spanien sind, was das angeht, in unserer Zukunft. Die Erfahrung der drastischen Auswirkungen von Twitter haben unsere amerikanischen Freunde gerade hinter sich, wir sind da erst am Anfang. Wir befinden uns in einer Lage, die gar nicht unähnlich derjenigen ist, in der die USA 2016 waren. Deswegen sagt einer meiner New Yorker Freunde gerne: „The virus is Germany’s Trump.“ Was Trump als öffentliche Figur war, das ist bei uns das Virus: Es polarisiert und gefährdet damit die Diskussionskultur, weil Twitter dazu verleitet zu glauben, man könne einfach der Wissenschaft folgen oder durch das Verlinken von Studien politische Statements abgeben. Die Frage ist natürlich: Wie wird sich das bei uns einpendeln? Wann lernen wir, unter welchen Bedingungen lernt Deutschland, die Defizite festzustellen und damit umzugehen? Im Moment habe ich fast den Eindruck, dass die Bundesrepublik unter Umständen in der Pandemiefrage das letzte Land in Europa sein wird, das den Freiheitswert in ein akzeptableres Verhältnis zu anderen Werten setzt. Alle werden vor uns das Ende der Pandemie feiern – davon ist auszugehen. Die Frage ist nur: Wie nachhaltig wird dieses sehr
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starke Sicherheitsdenken, das wir in Deutschland erlebt haben, uns noch prägen? Eine Vorhersage wage ich da auch nicht. Das kann man nicht absehen. AD: Wir haben hier bisher die Wirtschaft noch wenig beleuchtet.
Die spielt aber natürlich eine große Rolle in dieser Diskussion. Wir in Deutschland befinden uns immer noch auf einer Insel der Glückseligen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ging es nur bergauf. Das hat in diesem Land ein Diskutieren auf hohem Niveau, ich möchte provokant formulieren, ein Philosophieren auf hohem Niveau, ermöglicht. Wir leben in einer Wohlstandsgesellschaft, die fast schon voraussetzt: Es wird immer auch so weitergehen. Insofern ist es natürlich auch einfach, Krisen zu bewältigen, momentan mit sehr viel Geld, das auf der Wirtschaftskraft dieses Landes, der Unternehmen beruht; der Unternehmen, die ihren Wohlstand allerdings nicht mehr in diesem Land schaffen, sondern außerhalb Deutschlands und wahrscheinlich zunehmend auch außerhalb Europas. Was heißt das? Das heißt eigentlich nichts anderes, als dass wir unsere Segnungen in Krisen-Zeiten – das betrifft auch die Zeit, wie wir bisher Corona bewältigt haben – allein dadurch erreicht haben, dass wir massiv umverteilt haben. Genauer: Wir haben Geld nach links, nach rechts, nach oben, nach unten geschüttet, ohne eine fundierte Analyse angestellt zu haben: Wo wird dieses Geld wirklich gebraucht, und was bedeutet das für die Zukunft? Ich komme hier zum Thema Bildung, was ich für das Wichtigste überhaupt halte. Da sind massivste Fehler gemacht worden.
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Und das ist darauf zurückzuführen, dass unser Verschuldungspotenzial als Staat, unsere Wirtschaftskraft, so enorm sind, dass wir meinen – diese provokante These möchte ich in den Raum stellen –, uns mit Geld alles leisten zu können, einfach indem wir Geld ausschütten und nichts dafür tun. Und ich möchte da das Reizwort Integrationsarbeit nennen. Das kann man für viele Bereiche fortsetzen. Wir denken, dass wir mit dem Geld, das umverteilt wird, die Probleme schon lösen werden. Das halte ich für grundsätzlich falsch. Das ist ein Ausfluss der Wohlstandsgesellschaft, und ich glaube, wir müssen hier zur Wertschätzung und Unterstützung individueller Leistung zurückkommen. Geldausgeben ist das falsche Argument Ich glaube, wir brauchen mehr Eigenleistung in diesem Land. Auch da sind uns viele andere Länder weit voraus, Herr Gabriel, weit vor uns. Wir hinken in der Entwicklung mit Themen, die später kommen werden, etwas hinterher; aber es werden Themen und Probleme sein, die wahrscheinlich mit umso größerer Wucht auf uns einstürmen. MG: Das ist, glaube ich, eine sehr gute Diagnose, die ich auch so
teile, aus dieser Perspektive der sozioökonomischen Gesamttransaktion. Der Diskurs um das Thema der Cancel Culture herum ist da paradigmatisch. Er zeugt aus meiner Sicht von einem WohlstandsMaoismus. Das heißt, wir haben es mit Phänomenen zu tun, die so eine Art Karikatur der Kulturrevolution darstellen, nur haben wir den Stahl schon. Es ist also nicht der originale Maoismus, der eine Ideologie der Industrialisierung Chinas war, sondern eine ganz merkwürdige Wohlstandsvariante: Der Wohlstand richtet
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sich gegen sich selbst im Wunsch nach Verzicht, Degrowth usw. Ich plädiere daher auch seit einem Jahr für den Begriff der Eigenverantwortung. Und zwar nicht, weil ich damit ein politisches Programm einer bestimmten Partei verbinde, sondern aus dem Grund, den Sie soeben genannt haben. Eigenverantwortung des Individuums ist mit sozialer Freiheit, etwa mit der sozialen Marktwirtschaft, vereinbar, die natürlich ökologischer werden muss. Doch löst man die Klimakrise nicht alleine durch Verzicht, weil eine Pauperisierung das Problem nicht lösen wird. Wenn wir uns keine Solarpanels und Wärmepumpen leisten können, haben wir ein ganz anderes Problem. Diese Art von Eigenleistungsarbeit, die kenne ich auch aus meiner Erfahrung mit globalen Kontexten. Ich bin tatsächlich immer wieder überrascht, dass wir – Stichwort Bildung – ein Jahr lang hören, wir bräuchten die Wissenschaften, und in diesem Jahr dann die Universitäten schließen. Das ist ja ein krasser politischer Widerspruch. Da weiß man gar nicht, wie man das noch kommentieren soll. AD: Und wir kommen da natürlich zu einem Punkt, Herr Gabriel,
der auch die Rolle des Staates tangiert. Was ist eigentlich in diesem Kontext die Rolle des Staates? Für welches Rahmenwerk, welche Voraussetzungen soll er stehen und diese auch schaffen? Was man feststellt – resultierend jetzt aus dem Blick durch meine wirtschaftliche Brille – ist, dass nach jeder Krise und nach jedem Krieg (der „Ölkrise“, der Russlandkrise, der Finanzkrise und nun der Corona-Krise), dass in jedem einzelnen Fall der Staat mehr und mehr regulierend in das Wirtschaftsgeschehen eingreift. Jetzt
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kann man sagen, gewisse Wirtschaftszweige wie das Finanzwesen hatten das dringend nötig. Andere, die als Infrastruktur bezeichnet werden, sicherlich in gewissem Umfang auch. Da kommt nun allerdings etwas Staatsdirigismus durch die Hintertür hinein. Der Staat als besserer Unternehmer, so das Reizwort. Aber Fakt ist einfach, dass die Regulierung nach Krisen wächst und damit eben auch die Rolle des eigenverantwortlichen Individuums minimiert. Das ist eine Diskussion, die wir führen müssen. Da gibt es bekanntlich verschiedene Ausprägungen. Wir neigen dazu, dem Staat eine größere Rolle zuzuordnen, die er aber nur so lange erfüllen kann, wie die Wirtschaft boomt. Wenn diese Steuereinnahmen wegfallen, dann hat sich das mit der Umverteilung. Sicherlich könnten wir uns nun auch bei Niedrigzinsen etwas länger bewegen, aber das wird irgendwann natürlich zu Ende sein. Die Rolle des Staates ist eine sehr wichtige, glaube ich. In Deutschland nehme ich aktuell eher Rufe nach mehr Staat als nach weniger wahr. MG: Welche Position nimmt der Staat im Gefüge dessen ein, was
wir „die Gesellschaft“ nennen? Ich würde sagen, jetzt in der Pandemie hat die Bedeutung dieses Staats eindeutig zu sehr zugenommen, aus den von Ihnen genannten Gründen. Das ist natürlich kein nachhaltiges Konzept, da stimme ich Ihnen zu, schon deshalb, weil der Staat nur diese Rolle haben kann, solange man, d. h. wir alle, ihn durch Steuermittel finanziert. Zu Beginn der Pandemie sah man abends die Tagesschau und wunderte sich über die Milliardenausgaben zur Rettung der Wirtschaft – woher kommt das Geld, und wo geht es genau hin? Und
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jetzt wird über die Milliarden, die für irgendetwas ausgegeben werden, ohne in vielen Fällen irgendeine akzeptable, transparente, rationale Begründung dafür zu liefern, überhaupt nicht mehr geredet. Das kann man sich nur eine bestimmte Zeit lang leisten. Deswegen bräuchte man jetzt eine Wirtschaftsdiskussion. Und auch diese Wirtschaftsdiskussion darf keine sein, in der es nur darum geht: Wie regulieren wir jetzt die Unternehmen so, dass sie die Produkte produzieren, die wir unbedingt brauchen, um die Klimaziele zu erreichen? Sondern umgekehrt müssen wir die Unternehmen so aufbauen, dass sie die Klimaziele erfüllen und Profit erwirtschaften. Der Staat wird die Klimaziele nicht erfüllen, weil der Staat nicht weiß, welche Art von Mobilität technologisch die nachhaltige ist. Das lässt sich staatlich nicht entdecken. Der Bundestag kann das nicht erforschen. RR: Was lehrt uns denn diese Zeit, in der wir jetzt leben? Was lehrt
uns das Neue Normal seit Frühjahr 2020 über die Bedeutung von Bildung? Markus Gabriel, Sie haben vorhin transdisziplinäre Megateams erwähnt. Vielleicht könnten das auch idealerweise Teams zwischen Theorie und Praxis sein. Welche Art von Bildung brauchen wir? Welche Rolle spielen die Geisteswissenschaften? MG: Wir haben in Bonn an der Universität im Rahmen der Ex-
zellenz-Strategie das Konzept transdisziplinärer Forschungsbereiche entwickelt. Damit war die Universität Bonn erfreulicherweise die erfolgreichste im Exzellenz-Wettbewerb, mit sechs Exzellenzclustern. Warum? Wir haben an der Universität sechs transdisziplinäre For-
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schungsfelder mit herausragenden Ökonomen, Mathematikern (zwei davon haben die renommierte Fields-Medaille erhalten) und anderen Experten. Ja, wir haben in meinem Forschungsumfeld solche transdisziplinären Teams; da ist es völlig selbstverständlich, dass die Geisteswissenschaften mit im Gespräch sind. Natürlich rede ich mit Mathematikern und Ökonomen, Medizinern, Ethikern, Virologen und Juristen. Das Ganze wird selbstverständlich von Rektorat, Fakultäten und Strukturen gesteuert. Die Idee ist – deswegen nennen wir das transdisziplinär –, dass das keine ausschließliche Elfenbeinturm-Angelegenheit bleibt, sondern der grundlegende Gedanke ist, dass die Kooperation über die Rahmenbedingungen der Universität hinausgehen muss. Das ist meines Erachtens das Modell der Zukunft, trans- und nicht interdisziplinär. Das, was wir zum Beispiel in unserem jetzigen Gespräch machen, wäre also auch transdisziplinär. Auch betreiben wir etwa eine Ethik der KI-Zertifizierungsstelle mit Unternehmenspartnern, Wirtschaftsministerium und Universität. Da sind Informatik, Fraunhofer-Gesellschaft, Ethiker, politische Philosophen und Praktiker in der Forschung beteiligt. Und in dieser Kooperationsplattform wollen wir das Gleiche tun. Wir haben jetzt auch eine kleine AG über soziale Auswirkungen von COVID-19 eingerichtet. Mit der Beteiligung von Virologie, Epidemiologie, Soziologie, Jura und anderen, um die Probleme der Pandemiebewältigung wirklich wissenschaftlich, mit offenem Erkenntnisinteresse und ohne aktivistische Agenda zu erforschen. Und das wäre meines Erachtens das Modell, das man insgesamt in dieser Gesellschaft braucht. Also eine Kooperation von Wirtschaft, von Praxis und von Wissenschaft, weil beide Seiten ja das Gleiche wollen:
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möglichst viel Wohlstand für möglichst viele Menschen unter den Rahmenbedingungen einer sozialstaatlich ausgebauten modernen liberalen Demokratie. Wenn wir Teil sind desselben nationalstaatlichen Systems der Bundesrepublik, dann wollen wir die Art von Wohlstand und Wohlstandsvermehrung, die wir hatten, dauerhaft fortsetzen. Was sollen wir denn sonst wollen? Wohlstandsvermehrung geht natürlich nicht, wenn wir uns in einem Konflikt befinden oder einer dauerhaft verzerrten Wahrnehmung erliegen. Irgend so was wie die „böse Wirtschaft“ und die „weltfremde Wissenschaft“. Solche Stereotype müssen wir sprengen. Ich finde Herrn Dolls Kombination von Expertisen geradezu paradigmatisch, also die Kombination von Philosophie und Naturwissenschaften, die dann in der Praxis relevant wird. Wir müssen die Bildung umstellen. Die fachidiotische Ausbildung, Bachelor mit einem Fach, das geht natürlich nicht. Das entspricht auch nicht dem grundlegenden Bildungsideal der Moderne, glaube ich. AD: Ich habe es ja vorhin schon betont: Bildung, auch Ausbildung,
ist für mich einer der wichtigsten Punkte. Vielleicht erklärt das, was Sie eben gesagt haben, dass wir heute so wenig kontrovers sind. Dass wir doch so ein bisschen Überschneidung haben, in dem, wie wir die Welt sehen. Hierzu ein paar Anmerkungen. Wir sind ja in Deutschland und Europa gestartet mit dem Ideal der universellen Bildung. Ich glaube, es ist heute nicht mehr so leicht, diesen tradierten Ansatz zu realisieren mit dem, was wir tun. Zunehmende Komplexität, vermehrte Digitalisierung, wie kriegt man das alles noch zusam-
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men? Deswegen finde ich gut, was Sie da auf die Beine stellen. Aber es wird immer ein Wettlauf gegen die Zeit sein, gegen all die verschiedenen Disziplinen, die sich noch entwickeln werden – aber das ist ja auch das Spannende, diese Zusammenhänge und Verbindung knüpfen zu können. Ich würde noch vor der Hochschulbildung bei der Ausbildung im Schulsystem anfangen wollen, wo ich klare Defizite sehe, die wahrscheinlich während Corona für alle sichtbar geworden sind. Was für eine geringe Bedeutung die Bildung der Kinder und Jugendlichen, also der nachwachsenden Gesellschaft, in einer alternden Gesellschaft hat! Die Corona-Krise ist sehr stark auch zu Lasten der jungen Generation gegangen. Wenn ich mir die Diskussion darüber ansehe, frage ich mich: Was ist nun wirklich an Mitteln in den Bereich Digitalisierung der Schulen geflossen? Wenn meine Zahlen korrekt sind, waren das fünf Milliarden, die den Schulen versprochen wurden. Abgerufen worden ist eine gute Milliarde oder zwei, weil man über die Mittel nicht Bescheid wusste oder nicht konnte oder wollte. Im Vergleich dazu: Allein für die Lufthansa hat der Bund neun Milliarden an Hilfen bereitgestellt, 3,8 Milliarden sind von der Lufthansa genutzt worden. Mein Argument ist nicht, dass es falsch war, die Lufthansa zu unterstützen, sondern dass das, was den Wohlstand unserer Gesellschaft zukünftig ausmacht, nur mit fünf Milliarden unterstützt worden ist, von denen nur ein Teil abgerufen wurde. Das ist ein krasses Missverhältnis. Ich bin ein großer Befürworter von interdisziplinären Ansätzen. Ich glaube aber, wir sind abhängig von einer vernünftigen Unterstützung. Wir haben ja hier in Europa, in Deutschland in hohem
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Maße von einem staatsfinanzierten Bildungssystem gelebt. Das bröckelt. Und das private Bildungssystem ist eher weniger interdisziplinär aufgestellt. Wenn ich auch an meine Zunft denke: Viele private Wirtschaftshochschulen sind eben allein auf Wirtschaft ausgerichtet. Da gibt es keinen theoretischen Austausch mehr mit den Kollegen oder Studenten von der philosophischen oder der psychologischen Fakultät. Wobei dieser so detailliert wohl auch nicht mehr an der öffentlichen Uni stattfindet – was auch wiederum Ihre Aktivitäten erklärt, Herr Gabriel. Aber ich glaube, wir müssen aufpassen, dass wir Grundlagenforschung auch wirklich noch als Grundlagenforschung verstehen. Da sehe ich Geisteswissenschaften, Naturwissenschaften – eigentlich in jeder Wissenschaft muss es Grundlagenforschung geben. Die scheint mir jedoch massiv in den Hintergrund zu treten, aufgrund der Förderungen, die die öffentlichen Universitäten und auch die privaten bekommen. Also das vielleicht noch als Ergänzung auch zu ihren Punkten. MG: Die Summen, die man bräuchte, um die deutschsprachigen
Geisteswissenschaften wirklich international, insbesondere im Vergleich mit den USA, wettbewerbsfähig zu machen, überschreiten dasjenige, was im Moment an Mitteln realistisch vorliegt. Wenn Sie die reine Philosophie (jegliches Gebiet der Philosophie, Philosophie des Geistes, Metaphysik oder Philosophie der Mathematik zum Beispiel) in die Wettbewerbsklasse setzen wollten, die für diese Fächer erforderlich wäre, um wirklich international absolute Spitzenklasse zu sein, dann können sie mit den 200.000 Euro oder höchstens mal der einen Million, die Sie bei der DFG bekommen,
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natürlich gar nichts ausrichten. Wir reden in Deutschland im Schnitt über Institutsgrößen von vier Professuren. Im Vergleich dazu verfügt etwa die Peking-Universität über mehr als hundert Professuren für Philosophie oder die Sorbonne über vierzig. Das heißt, wie gut die individuellen Akademiker auch sein mögen, wir bräuchten mehr Lehr- und Forschungspersonal bei gleichzeitig weniger Studierenden. Sie haben völlig recht, das sind alles auch ganz entscheidende Wirtschaftsfragen, einen solchen Sektor zu finanzieren. Und in Deutschland gibt es noch Geld. Es müssten von Personen in der Wirtschaft, von Personen, die wissen, welche Wohlstandsgrundlagen es gibt, weil sie an den Töpfen sitzen, die Zahlen verstehen und auch die Risiken, neue Bildungsprojekte ausgehen. Ich glaube nicht, dass die Probleme der maroden Schulgebäude, die uns allen bekannt sind, staatlich gelöst werden können, weil da der Wille fehlt. Also, wer einfach iPads ohne Software verteilt, hat überhaupt gar nichts digitalisiert, sondern eben ein paar iPads, die in spätestens zwei Jahren nicht mehr brauchbar sind, an irgendwen verteilt. Das ist ja überhaupt gar keine sinnvolle Maßnahme. Sinnvoller wäre die Modernisierung von Schulgebäuden, was digitale Elemente miteinschließt, aber erst einmal die Klassenräume betrifft. RR: Ich frage mich, inwieweit uns überhaupt der Bildungsbegriff
in der heutigen Zeit noch dienlich ist. Es scheint ein Begriff zu sein, der teils wie ein Marketing-Gag auftritt – ähnlich der sogenannten Resilienz, die derzeit mit allen möglichen Inhalten gefüllt wird … „Bildung“ muss ja neuerdings mit solchen Begriffen im öffentlichen Diskurs konkurrieren. Das finde ich persönlich wahn-
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sinnig spannend und auch sehr schrecklich. Eine allerletzte Frage an Sie beide: Haben Sie jeweils, jetzt aus diesem Dialog heraus, eine Frage, die Sie dem anderen stellen möchten? AD: Ich habe eine! Meine Frage an Sie als Philosoph wäre: Für
mich ging es in der Philosophie immer darum, Antworten auf die großen Fragen der Zeit zu finden und diese auch interdisziplinär anzugehen: Was bewegt die Welt? Wo geht es hin? Womit ich hadere, ist, dass wir in einer Welt von zunehmender Komplexität über so viel Wissen verfügen und es mit so vielen Zusammenhängen zu tun haben, die wir gar nicht überblicken. Müssen wir da nicht Philosophie und das Thema Erkenntnis ganz neu definieren? Wie denken Sie darüber? MG: Ich unterschreibe das alles genau so, wie Sie es formuliert
haben. Deshalb habe ich in den letzten zehn Jahren Philosophie unter dem Stichwort des „Neuen Realismus“ betrieben. Das heißt, alles, was ich seit zehn Jahren publiziere, publiziere ich als Erkenntnistheoretiker mit der Absicht, dass es neu ist und innovativ; dass es eine Philosophie für das 21. Jahrhundert darstellt. „Wir brauchen Komplexität“ ist auf jeden Fall das richtige Stichwort. Sie begannen Ihre Ausführungen mit dem Satz, dass Sie glauben, die Welt sei unendlich. Das glaube ich bewiesen zu haben, wenn ich auch nicht von Welt, sondern von Wirklichkeit rede. Wie auch immer wir dafür argumentieren, glaube ich, Wirklichkeit ist mehr als alles, was wir je von ihr erfassen. Und deswegen ist der Begriff des Fortschritts immer noch in den Begriff der Erkenntnis einge-
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baut. Das bedeutet aber, dass wir eine Philosophie für unsere Zeit brauchen. Also eine Philosophie, die wirklich ihre Zeit in Gedanken fasst, wie Hegel das von uns gefordert hat. Und jeder, der einen geringeren Anspruch an das stellt, was die Philosophie soll, unterbietet ihren Begriff. Dabei sind wir als Philosophen genauso fallibel wie jede andere Wissenschaft. Den Anspruch zu erheben, das Neue zu denken, heißt ja nicht, dass es immer gelingt. Aber wer den Anspruch darauf nicht einmal hat, der scheitert, weil er eben nicht einmal den richtigen Anspruch hat. Das würde ich in aller Klarheit so sagen. Das ist auch der Grund, warum unsere anglophonen Kollegen und Kolleginnen auch in der Philosophie immer noch teilweise die Nase vorn haben, obwohl wir das langsam aufholen können. Jetzt stelle ich Ihnen auch eine Frage: Glauben Sie, dass es möglich wäre – und das wäre meine Hoffnung –, dass man die Philosophie als diejenige Wissenschaft, die Komplexität nicht reduzieren, sondern ertragen will, dass man diese in Unternehmen einführen wird? Ich träume davon, dass es mit der Selbstverständlichkeit, mit der ein Unternehmen Steuerberater beschäftigt, eine ernst zu nehmende Ethikabteilung geben wird. Glauben Sie, dass das völlig illusorisch ist, oder ist das ein tragfähiges Konzept? AD: Auch hier sind wir wieder einig. Es gibt da ja auch den Begriff
der Unternehmensphilosophie. Da geht es um die Frage: Was ist die Vision, Strategie? Wie drückt sich das in Führungskultur aus – in ethischen Grundsätzen? Wir haben nach der Finanzkrise viel über Compliance gesprochen und auch vieles umgesetzt. Im Prinzip ist ein Unternehmen immer auch ein Abbild unserer Gesell-
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schaft. Insofern glaube ich auch da an interdisziplinäre oder gesellschaftsübergreifende Herangehensweisen. Natürlich besteht da noch ein bisschen das Problem, dass in dieser Gesellschaft der Staat mehr auf Ausgleich bedacht ist, während Unternehmen – zumindest historisch betrachtet – das Ziel hatten, Geld zu verdienen. Das hat zu diversen negativen Folgen geführt. Ich glaube aber, dass eine Zeit im Anbrechen ist, in der ganz neue Themen wichtig werden. Etwa ESG (umfassende Nachhaltigkeitskonzepte in den Bereichen Umwelt-Environmental, Soziales-Social und verantwortungsvolle Unternehmensführung-Governance). Das ist schon drin in den Unternehmen, allerdings noch nicht auf eine Weise, dass das System im Gleichgewicht wäre. Da gibt es momentan noch eher komplette Disruptionen (ich mag das Wort nicht), die diese Gleichgewichte neu einstellen. Sehen Sie philanthropische Finanzierungsmodelle an, die werden aktuell ganz groß diskutiert. Daneben gibt es viele weitere Themen, die über die Politik und auch über philosophische Debatten in Unternehmen hineingetragen werden müssten. Ich glaube ohnehin, dass Unternehmensführung heute viel mehr ist, als eine vernünftige Bilanz und Dividende zu zahlen. Da geht es um viel mehr. Da sind Unternehmen auch Ausdruck ihrer Zeit und der Gesellschaftsordnung, in der wir leben. Da glaube ich, wird viel passieren, sehr viel passieren. RR: Ich danke Ihnen, Markus Gabriel und Alexander Doll, für
dieses Gespräch.
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DEMOKRATIE, SOZIALSTAAT UND UNTERNEHMERISCHE VERANTWORTUNG
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RICHARD DAVID PRECHT UND JOE KAESER
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„Das können wir gern machen“, so Richard David Precht, als
ihn die Anfrage für einen Dialog mit Joe Kaeser erreichte. Auch der Ex-Siemens-Chef und heutige Aufsichtsratsvorsitzende der beiden DAX-Unternehmen Siemens Energy und Daimler Truck stand sofort zur Verfügung, um digital via Zoom mit dem bekanntesten public philosopher Deutschlands über einige der größten Herausforderungen unserer Zeit zu diskutieren. Jenseits gemeinsamer Interessen an ökonomischen und ethischen Themen könnte Prechts und Kaesers berufliches Wirken verschiedener nicht sein – der eine im Fach der öffentlichkeitswirksamen Wissensvermittlung tätig, der andere als Topmanager eines Weltmarktführers sowie (unter anderem) als Kuratoriumsmitglied des World Economic Forum und Beirat der Münchner Sicherheitskonferenz. Das Gespräch steht unter dem unmittelbaren Eindruck des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, der zwei Wochen zuvor begon-
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nen hat. Die Dialogpartner versuchen – sachlich, aber auch sichtlich bewegt von den schrecklichen Ereignissen – eine historische Einordung: Hat man es mit einem „Rückfall in ein altes Zeitalter“ (Precht) zu tun, oder handelt es sich um ein Novum insofern, als man künftig eine russisch-chinesische Allianz gegen westliche Demokratien befürchten muss? Kaeser sieht einen großen Unterschied zwischen den beiden Regimen: Während Russland seine Macht mit militärischen Mitteln des 20. Jahrhunderts re-etablieren und die europäische Landkarte neu zeichnen wolle, strebe ein selbstbewusstes und in den vergangenen Jahrzehnten zu einer geoökonomischen und geopolitischen Größe erstarktes China die globale Ausweitung des systemeigenen Totalitarismus an. Wenn es tatsächlich so kommt, was wird dann aus unserer Freiheit, unserer pluralistischen Arbeitswelt, unserem Sozialstaat? Im Laufe des Gesprächs wird deutlich, welch großen Respekt Kaeser für Prechts
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rhetorische Fähigkeiten hat. Er hört ruhig und konzentriert zu, widerspricht aber auch sofort, wo es ihm zu theoretisch (zu idealistisch?) wird. Wie der Philosoph ist auch Kaeser Verfechter einer Grundversorgung, die ein Dasein in Würde für alle ermögliche; anders als Precht ist er aber kein Anhänger eines bedingungslosen Grundeinkommens, da darin ein wichtiges Anreizsystem fehle. Dass persönliche und unternehmerische Verantwortung, Produktivität und Innovationsfähigkeit nicht beeinträchtigt werden sollten, leuchtet wohl nicht nur aus Perspektive eines Topmanagers ein, sondern auch aus Sicht von Bürgern, die ihren mühsam erarbeiteten Lebensstandard halten wollen. „Für Deutschland beginnt eine Epoche im Gegenwind“, konstatiert Frank-Walter Steinmeier Ende Oktober 2022. Inflation, Firmeninsolvenzen und mögliche Verteilungskämpfe sind die (Medien-)Schlag-
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worte des Herbsts. Die Bedeutung der Integration von Interessenslagen ist ein halbes Jahr zuvor auch für Precht und Kaeser ein Thema: Manager und Geisteswissenschaftler, schnelles Handeln und geduldige Reflexion müssten „empathisch“ (Kaeser) zusammenwirken. „Sinn“, „Ethos“ und „Verantwortung“ sind tradierte philosophische Begriffe, die längst im unternehmerischen Kontext fest verankert sind. Dass nicht nur die Politik, sondern auch Wirtschaftsunternehmen ihren Einfluss auf ‚vernünftige‘ Weise geltend machen, um den Preis für die finanziellen und ökologischen Kosten des Fortschritts-Paradigmas für künftige Generationen möglichst gering zu halten, ist zweifellos begrüßenswert. Wie und ob Unternehmen auch Politik machen können und sollten, dort, wo deren Institutionen versagen, ist eine ganz andere Frage.
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» « Rebekka Reinhard: Richard David Precht, Joe Kaeser: Gerade
noch hatten wir es mit der „Neuen Normalität“ der Post-CoronaWelt zu tun. Seit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine brauchen wir aber anscheinend einen ganz neuen Frame, einen ganz neuen Deutungsrahmen für eine Epoche, in der eine fundamentale Neuordnung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ansteht. Was heißt das aus Ihrer Sicht? Richard David Precht: Ich fremdle mit den Superlativen. Ich fand
schon den Begriff „Neue Normalität“ nicht besonders gut. Und ich glaube auch nicht, dass ein neues Zeitalter ausgebrochen ist. Vielmehr droht der Rückfall in ein altes Zeitalter. Putins Angriffskrieg auf die Ukraine ist ein Rückschritt um viele Jahrzehnte im Hinblick auf die Sicherheits- und Entspannungspolitik und die Annäherung Russlands an Europa. Meine ganze Hoffnung richtet
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sich darauf, dass das keine langfristigen Folgen hat. Dass sich also mit dem Ende von Putins Herrschaft, ob das jetzt im Zusammenhang mit dem Krieg steht oder nach dessen Ende passiert, das Verhältnis zu Russland wieder normalisiert. Wir dürfen nicht vergessen: Wir befinden uns nicht mehr in einer Zeit wie in den 1950er- oder 60er-Jahren, als wir uns eine solche Aufrüstungsspirale leisten konnten. Wir leben heute in einer Zeit, in der die Menschheit gemeinsam versuchen muss zu verhindern, dass dieser Planet für unsere Enkelgeneration unbewohnbar wird. Und der übelste Querschläger, den wir uns da leisten können, wäre eine Spirale der Aufrüstung. Deswegen hoffe ich sehr, dass wir nach dem Abtritt Putins, von dem wir uns ja alle wünschen, dass er so schnell wie möglich passiert, nach dem Desaster in der Ukraine zur Normalität einer Entspannungspolitik zurückkehren können. Meine Hoffnung ist, dass wir das sogar in den nächsten zehn Jahren schaffen und dass die Krise, die wir jetzt erleben, nicht dazu führt, dass die Lage weiter eskaliert. Joe Kaeser: Der Hoffnung kann ich mich nur anschließen. Die
Frage ist dennoch: Was bedeutet das für die moderne Gesellschaft? Was, wenn der russische Angriffskrieg uns zurückwirft in die Zeiten des Kalten Krieges und der Sowjetunion – oder in eine noch viel frühere Zeit der Imperien? Wir dürfen nicht vergessen: Die Allermeisten haben den Kalten Krieg nicht mehr erlebt, vom Zweiten Weltkrieg ganz zu schweigen. Sie können in einer militärischen Auseinandersetzung keinen Sinn entdecken, auch weil sich in den vergangenen Jahrzehnten das Gefühl entwickelt hatte, dass die Zivilisation weiter ist, als dass
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Menschen Konflikte mit Waffengewalt lösen oder Territorien von Nachbarländern annektieren. Eine der Lehren aus dem verheerenden Zweiten Weltkrieg und dann auch aus dem Kalten Krieg war, dass man besser miteinander redet und nicht aufeinander schießt. Darauf basiert auch der europäische Gedanke: nie wieder Krieg. Heute sehen wir keine zwei Flugstunden von uns entfernt, dass das nicht mehr gilt. Ich denke schon, dass eine militärische Auseinandersetzung in Europa für die meisten in unserer Gesellschaft eine abrupte, einschneidende Erfahrung ist. Die Frage wird sein: Wie gehen wir damit um? Selbst wenn wir die aus meiner und Ihrer Sicht berechtigte Hoffnung haben, uns in zehn Jahren wieder vorwärtszuentwickeln und uns dann wieder den wirklich wichtigen Fragen unserer Zeit widmen zu können, nämlich den Themen Klima und friedliche Wohlstandsverteilung auf der Welt, müssen wir uns fragen: Haben wir bis dahin Zeit? Und: Was passiert bis dahin? Möglicherweise sehen wir etwas Neues insofern, als dass wir eine stärkere Polarisierung bekommen von totalitären Machtphilosophien einerseits und demokratisch verfassten Gesellschaftssystemen andererseits. Es ist nicht auszuschließen, dass autoritäre Staaten wie Russland und China eine Allianz bilden gegen den demokratischen Westen. Das könnte ein Endgame, also ein Endspiel wie beim Schach, um die vorherrschende Systemordnung der Welt werden. So etwas kann man heute nicht ausschließen, es gibt durchaus einige Anzeichen, die darauf hindeuten. Und der Ukrainekonflikt könnte diese Entwicklung beschleunigen. Dem steht die Hoffnung entgegen, dass wir das Decoupling, also das Auseinanderdriften der Welt in zwei komplett voneinander abgekoppelte
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Systeme mit eigenen Standards, Regeln, ethischen Vorstellungen und Wirtschaftsformen, verhindern können. Aber Politik ist eben auch von Interessenslagen geleitet. Und da, glaube ich, ist es naheliegend, dass die Interessenslagen von Russland andere sind als die Chinas oder die der Vereinigten Staaten und Europas. Zudem möchte ich zu bedenken geben, dass die Demokratie als Gesellschaftsform weltweit in der Minderheit ist und ihre Verbreitung in den vergangenen Jahren zahlenmäßig eher abgenommen hat. Wenn man nur sogenannte vollständige Demokratien betrachtet, also diejenigen, die die Maxime „Alle Macht geht vom Volke aus“ vollständig umsetzen, dann sind das weniger als zehn Prozent der Weltbevölkerung. Grundsätzlich geht der Trend aktuell in Richtung autoritärer, antidemokratischer Herrschaftsformen. Es ist daher ratsam, darüber nachzudenken: Was passiert, wenn sich das so weiterentwickelt? RDP: Vieles von dem, was Sie sagen, unterschreibe ich, aber eine
ganz wesentliche Ansicht teile ich nicht: Ich glaube nicht, dass es tatsächlich um eine Systemkonkurrenz geht. Ich halte das für eine schiefe Erzählung. Zunächst einmal ist es natürlich eine bedauerliche Tatsache, dass, ich glaube, nur sechs Prozent aller Staaten der Welt tatsächlich gut funktionierende liberale Demokratien sind. Auch die Ukraine gehört nicht dazu, sondern ist davon weit entfernt. Es gibt wirklich sehr wenige wahrhaft demokratische Länder. Das ist eine sehr bedauerliche Entwicklung, weil wir uns natürlich wünschen würden, es gäbe viel mehr davon. Die häufigste Staatsform sind Oligarchien. Die allermeisten Staaten werden von einflussreichen
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Wirtschaftskreisen oder Militärkreisen regiert, meist auch einer Allianz von beiden. Russland ist ein solches Land und keine echte Demokratie. Es handelt sich um eine Papp-Demokratie; in Wirklichkeit ist es eine Diktatur. China gibt sich nicht einmal den Anstrich, eine Demokratie zu sein. Allerdings sehe ich deshalb keine System-Konfrontation mit dem Westen. Erstens macht der die Ukraine unterstützende Westen überall in der Welt mit Autokratien ziemlich problemlos Geschäfte. Und zweitens sehe ich nicht, dass Russland und China auf einer Mission unterwegs wären, nun der ganzen Welt auf Teufel komm raus eine undemokratische Form zu geben oder sie in Diktaturen zu verwandeln. Das war vielleicht so, als die Kommunisten an ihre moralische und wirtschaftliche Überlegenheit glaubten. Aber das ist lange vorbei; und Russland und China sind heute kapitalistische Länder. Stattdessen geht es hier um handfeste Wirtschaftsinteressen, und es geht um Länder, die einen unterschiedlichen Entwicklungsstand haben. Russland war in seiner Geschichte bekanntlich noch nie eine funktionierende Demokratie. Und wir Deutschen wissen sehr genau, wie kompliziert es ist, aus einem totalitären Land eine Demokratie zu machen; in der Weimarer Republik sind wir hieran gescheitert. In Russland sieht das noch übler aus. Es war über lange Zeit ein Land mit einem hohen Anteil analphabetischer Bevölkerung, das einst von Zaren regiert, später von Stalin und anschließend von den Sowjetherrschern unterdrückt wurde: Aus einem derart totalitären Staat so etwas wie einen Mittelstand aufzubauen und eine funktionierende Demokratie zu etablieren, die Korruption zu bekämpfen, Institutionen zu schaffen, die tatsäch-
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lich funktionieren: Das ist ein Umwandlungsprozess über Jahrzehnte. Ich denke, dass Putin womöglich anfangs etwas in diese Richtung versucht hat, aber zumindest der zweite Teil seiner Herrschaft ist ins genaue Gegenteil umgeschlagen. Ich glaube aber nicht, dass es Russland jetzt darum geht, die Welt zu missionieren und überall den Menschen die Demokratie auszutreiben, sondern es geht um eine handfeste militärische und wirtschaftliche Konfrontation. Rein theoretisch wäre es auch nach wie vor möglich, dass man in einen ernsten Konflikt mit Ländern gerät, die sich selbst als liberale Demokratien begreifen. Etwa, wenn es um Ressourcen geht, um Einflusssphären und so weiter. Die Spannungen zwischen China und den USA würden wohl auch dann bestehen, wenn China eine Demokratie wäre. Ich habe also den Eindruck, dass wir die alte Erzählung, die entstand, als es um Systemkonkurrenz ging, als Kommunismus und Kapitalismus einander gegenüberstanden, jetzt der neuen Situation aufgestülpt haben. Helmut Schmidt hat einmal über Russland gesagt: „Das ist ein Obervolta mit Raketen.“ Da ist viel dran. Die Wirtschaftskraft von Russland ist so groß wie die von Italien. Die Russen befinden sich nicht auf System-Mission über die ganze Welt. Das ist wirklich nicht der Grund für den aktuellen Konflikt. Sondern der Grund ist eine gescheiterte europäische Friedensordnung unter Miteinbeziehung Russlands. Der Grund ist auch ein Putin, der in den letzten Jahren mit zunehmendem Trotz und Hass reagiert hat und sich nun mit Gewalt holt, was er sich mit seiner Wirtschaftskraft und seiner Politik nicht holen kann. Und der des-
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halb diesen verbrecherischen Angriffskrieg gestartet hat. Es geht Russland schlichtweg um die Sicherung der kleinen noch verbliebenen Machtsphäre. JK: Das ist doch kein Widerspruch. Wenn Sie Ihre Analyse nur auf
Russland beziehen, dann bin ich dabei. Aber ich spreche ja auch von einer möglichen Allianz Russland und China. Vielleicht ist sogar eine Wiederauferstehung der „BRICS“, ergänzt um Länder wie Saudi-Arabien und Indonesien, vorstellbar. Ich denke, dass die Ausgangslagen von Russland und China ähnlich sind, da sie eine demokratische Ordnung nicht bevorzugen. Und wirtschaftliche Interessen setzt man ja im Rahmen einer staatlichen Ordnung um. In Russland wird man nicht davon ausgehen, eine führende Wirtschaftsmacht der Welt zu werden und in fünf oder zehn Jahren Amerika abzulösen. Aber wenn Sie über China reden, dann ist das etwas anderes. Das chinesische System – und ich sage „System“, denn es geht nicht mehr um die Ideen-Diskussion Kapitalismus versus Kommunismus – hat die Voraussetzung dafür. Ich spreche von den systemischen Komponenten, in denen Interessenslagen und Machtansprüche umgesetzt werden. Und ich denke schon, dass China nicht nur den Anspruch anmeldet, sondern auch schon die Richtung eingeschlagen hat, in spätestens zehn Jahren die Vereinigten Staaten als die globale Wirtschaftsmacht Nummer eins zu überholen. Die russische Regierung hingegen hat ein Interesse daran, die Demokratie nicht zu nahe an sich herankommen zu lassen und sich als globale Militärmacht zu re-etablieren. Glasnost in den 1980er-Jahren war der Ausgangspunkt von vielem, was wir heute sehen.
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Diese Idee einer transparenten, offenen Gesellschaft ist später aus verschiedenen Gründen gescheitert. Vor allem weil Glasnost zwar mehr Freiheiten brachte, den wirtschaftlichen Niedergang aber nicht aufhalten konnte – mit enormen ökonomischen und psychischen Folgen für Millionen von Menschen, die auf einmal vor dem Nichts standen. Und auch weil der Westen sich in dieser kritischen Phase nicht gerade hervorgetan hat zu helfen. Ich bin kein Militär-Stratege. Aber viele sagen, beim Einmarsch in die Ukraine sei es dem Kreml nicht um den strategischen Zugang zum Schwarzen Meer bei Städten wie Odessa gegangen oder darum, die Regionen Luhansk und Donezk in der Ostukraine endgültig zu erobern und anzuschließen, sondern darum, die Demokratie zurückzudrängen. China und Russland haben also in ihrem Kampf gegen demokratische Bestrebungen ein ähnliches Ziel. Sie haben aber andere geopolitische und geoökonomische Ansprüche und Möglichkeiten, auch weil ihre Ausgangsbedingungen andere sind. RDP: Also, ich würde die Gewichtung anders setzen. Ich will nicht
sagen, dass Ihre Erklärung nicht plausibel ist. Aber ich glaube, man muss es aus der russischen Erfahrung heraus betrachten, aus Sicht der Russen, die drei Mal vom Westen überrannt worden sind. Es ist ziemlich eindeutig: Wenn die Ukraine NATO-Mitglied wäre, wäre die russische Westgrenze konventionell nicht mehr zu verteidigen. JK: Um diese Debatte geht es aber nicht. Die NATO ist erklärter-
maßen ein Verteidigungsbündnis. Und wenn die NATO vielfach schriftlich, mündlich, öffentlich und in vertraulichen Gesprächen
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immer wieder klargestellt hat, dass es kein Interesse daran gibt, die Ukraine in die NATO aufzunehmen, dann ist es schwer vorstellbar, warum der russische Präsident immer wieder diese potenzielle NATO-Bedrohung ins Spiel bringt. Dieses vorgeschobene Bedrohungsszenario kann keiner nachvollziehen und ist im Hinblick auf die Ukraine auch aktuell nicht zutreffend. RDP: Leider ist das sehr wohl vorstellbar. 1997, in der NATO-
Russland-Grundakte, stellte die NATO fest, „man hat nicht die Absicht“, das war die Formulierung, „man hat nicht die Absicht“, noch mehr Länder in die NATO aufzunehmen. Man hat nicht die Absicht, NATO-Militärbastionen in Osteuropa aufzustellen. Aber man hat es getan. Ich verurteile den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine zutiefst. Ich finde ihn unmoralisch. Er ist ein Völkerrechtsbruch. Er ist barbarisch. Er gehört nicht mehr in unsere Zeit. Aber die Logik, die sich hinter dem Ganzen verbirgt, ist, glaube ich, eine Logik des Militärs. Und nur in zweiter Linie eine Angst vor freiheitlichen Gesellschaften. Man darf auch nicht vergessen, dass die Ukraine nicht so eine freiheitliche Gesellschaft ist, wie wir uns das vorstellen. In ihrer Konzeption ist die Ukraine ein korrupter Oligarchenstaat – genau das, was Russland auch ist. Da ist der Unterschied nicht erheblich. Ich glaube tatsächlich, dass die Hauptangst, die Russland hat, militärischer Natur ist. Ob berechtigt oder nicht berechtigt, ist eine andere Frage, die sich aus zwei Perspektiven stellt: Wir als NATO-Mitglieder sehen uns natürlich nicht als gefährlich an. Aber dass die Russen uns aus ihrer traumatischen Geschichte heraus als gefährlich ansehen, ist eben ihre Sichtweise.
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RR: Ich würde gerne auf eine andere Ebene zu sprechen kom-
men. Neben dem Krieg in Europa und seinen Folgen, u. a. den Kosten für eine erneute Aufrüstung, gibt es mindestens zwei weitere große Herausforderungen, vor denen wir stehen: die KlimaKrise und die weltweite soziale Ungleichheit. Was bedeutet das für den Wert der Freiheit? „Freiheit für alle“, Herr Precht, so lautet der Titel des dritten Teils Ihrer Trilogie des digitalen Wandels. Welche Ihrer Thesen halten Sie angesichts der aktuellen Lage für besonders wichtig? RDP: Der Tenor meines Buchs ist zu zeigen, wie man unter den
veränderten wirtschaftlichen Bedingungen der Digitalisierung ein möglichst erfülltes und freiheitliches Leben für so viele Menschen wie möglich schaffen kann. Ich habe mich dabei auf die westlichen Länder konzentriert. Alles, was ich sage, gilt für Deutschland, vieles auch für Westeuropa und in etwas eingeschränkterer Form auch für die Vereinigten Staaten. Und hier geht es mir darum, einen weiteren Schritt der Freiheitsentwicklung möglich zu machen. Wir leben heute in einer Gesellschaft, in der die Erwerbsarbeit für viele Menschen nicht mehr auf die gleiche Art und Weise im Mittelpunkt ihres Lebens steht, wie das in früheren Generationen der Fall war. Außerdem ist Arbeit für viele Menschen, wenn auch nicht für alle, in unseren Ländern komfortabler geworden, wenn man vergleicht, wie die Menschen vor 100 oder 200 Jahren in der Landwirtschaft oder der Industrie gelitten haben. Auch geht es in meinem Buch darum, im Zeitalter der Digitalisierung notwendige Anpassungen vorzunehmen, den Arbeitsbegriff zu überdenken und, was mir
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sehr wichtig war, den Sozialstaat zu verändern. Denn der Sozialstaat ist immer noch auf ein klassisches Verständnis von Erwerbsarbeit, in erster Linie auf die Besteuerung von Arbeit ausgerichtet. Das, glaube ich, wird sich im 21. Jahrhundert so nicht fortsetzen lassen. Ein wichtiger emanzipatorischer Anspruch besteht eben darin, die sehr enge Verkettung von Menschenwürde, von Sozialleistungen, von Arbeit anders zu denken, indem man sie nicht mehr so eng zieht, sondern indem man sich Alternativen überlegt. Ich habe dabei auf einen großen Ideenfundus zurückgegriffen. Was mich besonders überzeugt hat, sind die liberalen Vorstellungen eines Grundeinkommens wie etwa Ralf Dahrendorf sie entwickelt hat. Dahrendorfs Ideen halte ich heute für sehr hilfreich. JK: Ich kann den vorgeschlagenen Maßnahmen aus Ihrem Buch
einiges abgewinnen. Speziell wenn es darum geht, dass sich die Würde des Menschen auch auf ein würdevolles Leben im Alter bezieht. Menschen, die viele, viele Jahre gearbeitet haben, sollten einen Lebensabend in Würde haben. Diese ist in unserem Grundgesetz geregelt und der Staat trägt Verantwortung dafür, dass das möglich ist. Was die jüngere Generation angeht, halte ich eine Grundversorgung für denkbar. Aber sie sollte aus meiner Sicht nicht bedingungslos sein. Ich glaube, dass die Verantwortung für Arbeitsfähigkeit, Employability würde man im Neuhochdeutschen sagen, auch eine Verantwortung des Individuums beinhaltet. Erst wenn die jeweilige Person nach allen angebotenen und in Anspruch genommenen Bildungs- und Weiterbildungsmaßnahmen nicht in der Lage sein sollte, für sich zu sorgen, sollte der Staat
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Mitverantwortung übernehmen und diese Menschen nicht alleinlassen. Genau in dieser Reihenfolge. Bei einer bedingungslosen Förderung wäre das nicht gegeben. Die Idee eines Grundeinkommens ist wünschenswert und mir persönlich auch eingängig und sympathisch. Sie klingt fair. Das große Dilemma daran ist vor allem, dass wir nicht in einer geschlossenen Volkswirtschaft leben, die sich selbst trägt. Wie eine Insel im Ozean, die nicht in ein globales Wirtschaftssystem eingebunden ist: ohne externe Einflüsse auf das Bruttosozialprodukt. Das ist nicht so. Deutschland ist eine offene Volkswirtschaft, die in hohem Maße exportorientiert ist und im globalen Wettbewerb steht. Und diese Exportstärke ist Grundvoraussetzung dafür, dass wir die nötigen Einnahmen für den Staat generieren. Mit anderen Worten: Deutschland wäre nicht in der Lage, den Lebensstandard, den wir heute haben, auch in der sozialen Umverteilung, zu finanzieren, hätten wir nicht den Export. Deshalb müssen wir dafür sorgen, die globale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu erhalten, indem wir unsere Anpassungsfähigkeit an sich ständig verändernde Rahmenbedingungen erhöhen und unsere Innovationskraft kontinuierlich stärken. Nur so können wir die Grundanforderungen an eine moderne Gesellschaft – Sicherheit, Menschenwürde, Wohlstand, Sinnhaftigkeit – gewährleisten. RR: Was ist für Sie angesichts der volatilen Gesamtlage unserer
Zeit und Gesellschaft die Aufgabe von Philosophen/Philosophinnen respektive Unternehmern/Unternehmerinnen? RDP: Ich denke, die Aufgabe von Philosophen ist heute – viel mehr
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als in den letzten Jahrzehnten –, als Scouts in der Gesellschaft zu arbeiten. Es ist gut, dass wir viele gediegene Fachphilosophen an den Universitäten haben, die Experten für spezielle Probleme sind, z. B. Fragen der Sprachlogik, oder die die Philosophiegeschichte sehr gut kennen und interpretieren und ausdeuten. Das ist alles wichtig. Aber es wird zunehmend wichtig, Menschen zu Scouts auszubilden. Das war Kants Vorstellung vom Philosophen als Supervisor. Philosophen als Menschen, die in alle verschiedenen Bereiche reinriechen und versuchen, unterschiedliche Gedanken zusammenzuführen, also Philosophen als Generalisten, was sie ursprünglich ja gewesen sind. Als sich durch Platon und Aristoteles unsere Vorstellung von Philosophie formte, waren Philosophen Gesellschafts-Scouts, die sich wirklich in alle erdenklichen Fragen eingemischt haben. In wirtschaftliche Fragen, in politische Fragen, Herrschaftsfragen, psychologische Fragen, auch in die Fragen von Rollenverteilung oder Arbeit. Nun ist die akademische Philosophie in den letzten Jahrzehnten für den öffentlichen Diskurs relativ bedeutungslos geworden. Das liegt an ihrer wissenschaftlichen Spezialisierung. Die ist nicht verkehrt, aber so wurde eben die generalistische Seite dieser Disziplin sehr vernachlässigt. Wenn sie heute als Philosoph Generalist sind, müssen sie sich wütende Angriffe von den Spezialisten an den Universitäten gefallen lassen. Generalisten werden dort leider nicht ausgebildet. Ich glaube aber, dass wir in dieser Gesellschaft, die vor sehr großen Veränderungen und äußerst komplexen Problemen steht, immer mehr Generalisten brauchen. Das wird in Zukunft immer wichtiger werden. Das Generalistentum ist in anderen Län-
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dern sehr viel ausgeprägter als in Deutschland. Bei uns entwickelt sich das erst jetzt allmählich. Seit etwa zehn Jahren tut sich hier etwas. Ich hoffe, dass sich diese Tendenz noch weiter verstärkt. JK: Das möchte ich gerne bestätigen. Wozu gibt es Philosophen?
Für mich als philosophischen Laien bedeutet Philosophie ein schrankenloses Denken in einem ganzheitlichen Zusammenhang. Das beginnt mit Kants berühmtem aufklärerischem Appell, der Kritik der reinen Vernunft, in dem es darum geht, dass die Menschen ihres eigenen Verstandes mächtig sind und sich dessen auch bedienen. Da sind wir dann auch nicht mehr weit vom Thema einer sinnstiftenden Gesellschaft entfernt, in der die Zukunft der Arbeit ein wesentlicher Aspekt ist. Wie wird Arbeit künftig aussehen, nicht nur als bildungs- und sinngeleitete Arbeit, sondern im Kontext einer konkreten Transformation in Richtung virtueller Welt? Also mit Blick auf die vierte Industrielle Revolution, die noch viel tiefgreifender und umfassender ist als die Industriellen Revolutionen vor ihr? In Zukunft wird es so sein, dass Künstliche Intelligenz in weiten Teilen technische Aufgaben übernimmt, die heute von Ingenieurinnen und Ingenieuren gemacht werden. Das betrifft Design, Simulation, Konstruktion und Ähnliches in fast allen wirtschaftlichen Feldern. Im Gegensatz zu den ersten drei Industriellen Revolutionen ist die vierte nicht mehr tangibel, weil es sich um eine Verschmelzung des Virtuellen mit dem physischen Raum handelt. Man wird in vielen Fällen nicht mehr im Detail nachvollziehen können, was in der Simulation im „digitalen Zwilling“ – also in der digitalen Reproduktion eines Objekts aus der realen
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Welt – passiert ist. Viele Menschen haben deshalb Vorbehalte, weil das ihre Vorstellungskraft übersteigt. Sie haben Angst, auch wenn viele es nicht zugeben mögen. Dieses Gefühl der Unsicherheit, das die vierte Industrielle Revolution auslöst, führt zu Zukunftsängsten und damit zu Verhaltensweisen, die darauf abzielen, das Hier und Heute um jeden Preis festzuhalten – oder zumindest die Illusion davon aufrechtzuerhalten. Dieses Beharrungsvermögen kann in einer Gesellschaft für Abgrenzung, auch im Sozialen, sorgen und schlimmstenfalls zu sozialer Spaltung und Extremismus führen. Besser wäre es, wenn wir unsere Gesellschaft anpassungsfähig machen und besser vorbereiten auf eine „neue Normalität“, in der Veränderungen die Regel und nicht die Ausnahme sind. So wie wir das während der COVID-Pandemie erlebt haben und nun auch mit dem Überfall auf die Ukraine, wenn sich Dinge über Nacht sehr schnell ändern. Olaf Scholz hat das treffend als „Zeitenwende“ bezeichnet. Die vierte Industrielle Revolution verändert unser aller Leben umfassend, nicht zuletzt auch die Arbeitswelt. Und es muss uns gelingen, dass diese Veränderungen unsere Gesellschaft nicht auseinanderreißen. Daher werden Empathie und die Integration von Interessenslagen immer wichtiger. Hier kommen auch die Geisteswissenschaften ins Spiel. Es wird auch darauf ankommen, dass die Geisteswissenschaften, dass Philosophie und Pädagogik in Unternehmen bei dieser „empathischen Integration“, wie ich es nenne, eine Rolle spielen. Ich sage heute voraus, dass der Anteil von Menschen mit geisteswissenschaftlicher Ausbildung im Management in Unternehmen massiv zunehmen wird. Dass wir heute Software-Ingenieurinnen und -Ingenieure brauchen (die wir
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nicht haben), liegt eigentlich daran, dass die Welt von morgen vor allem erst einmal programmiert werden muss. „Machine Learning“ wird zu großen Teilen die Zukunft bestimmen. Doch irgendjemand muss da sein, der Interessen und Werte in der Arbeitswelt formuliert und festlegt. Das wird die große Zeit der Philosophinnen und Philosophen und auch der Pädagoginnen und Pädagogen sein, dessen bin ich mir sicher. Wozu gibt es Unternehmer? Unternehmer gibt es hoffentlich dafür, dass sie etwas unternehmen. Dass sie die Welt verbessern. Dass sie auch dabei gut verdienen. Dass sie Menschen ausbilden, ihnen einen Arbeitsplatz geben und nachhaltig qualifizierte und zukunftsfähige Arbeitsplätze schaffen. Denn ein Arbeitsplatz ist ein Wert an sich: als gesellschaftliche Größe, und nicht nur als wirtschaftliche Quelle für den Lebensunterhalt. Unternehmen heißt letztlich, über Innovationen die besten Leute zu gewinnen und Geschäftsideen umzusetzen – immer auch verbunden mit dem Risiko für das eigene Vermögen und die eigene Reputation. Wer etwas unternimmt, geht auch das Risiko ein zu scheitern. Wenn Sie das auf Großunternehmen projizieren, geht es neben all diesen Merkmalen, die ich eben beschrieben habe, auch und vor allem darum, Zwänge so zu moderieren und zu managen, dass bestmögliche Entscheidungen getroffen werden. Es gibt genügend Beispiele, wie man bei diesem Austarieren aus der Kurve getragen werden kann. Denken Sie nur an das Thema Menschenrechte – da beschränkt sich die Verantwortung nicht nur auf das eigene Unternehmen, sondern reicht in die Lieferketten hinein. Oder denken Sie an das Thema Klima, an die Diskussion um fossile versus erneuerbare Energien, an den Zielkonflikt zwi-
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schen Beschäftigung und Klimaschutz, der sich über einen längeren Zeitstrahl lösen lässt, aber nicht ohne Weiteres zur selben Zeit aufgelöst werden kann. Denken Sie an das Thema Sozialstaat versus Marktwirtschaft. Das sind die großen Fragen unserer Zeit. Und Unternehmerinnen und Unternehmer sind heute mehr denn je diejenigen, die sich immer wieder fragen müssen: Ist das, was ich unternehme, von gesellschaftlichem Wert? Akzeptiert die Gesellschaft das, was ich tue, als relevant? Die These des Wirtschaftswissenschaftlers Milton Friedman aus den 1970er-Jahren „The business of business is business“, dass also die Aufgabe von Unternehmen nichts anderes sei, als den Gewinn für deren Eigentümer zu maximieren, ist längst überholt, wenn sie überhaupt jemals gültig war. Heute sollte es heißen: „The business of business is to serve society.“ Unternehmen sollten der Gesellschaft dienen. Die Aufgabe von Unternehmen heute ist es, Wert für die Gesellschaft zu erbringen. Denn die Gesellschaft ist mittlerweile der vierte Stakeholder eines Unternehmens – neben den Eigentümern, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und den Kunden. Sie ist eine kapitale Größe. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass schon teilweise heute – aber ganz sicher bald – die Gesellschaft diejenige Größe sein wird, die die Lizenz zum Geschäftemachen vergibt. Das geschieht über die Akzeptanz unternehmerischen Handelns durch die Bevölkerung. Ich bin der Auffassung: Unternehmen, die keinen Wert für eine Gesellschaft haben, sollten am besten nicht existieren. RDP: Mir gefällt Ihre Beschreibung des unternehmerischen Ethos.
Das, was Sie beschreiben, gilt ja zu einem sehr erheblichen Teil
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den Unternehmen in der seit zehn, fünfzehn Jahren sogenannten Realwirtschaft. Daneben gibt es die Finanzwirtschaft, deren Bilanzvolumen sehr viel größer als das der Realwirtschaft ist, unvorstellbar viel größer sogar. Und da haben wir das Problem, dass dieses Wertegeleitete, von dem Sie gesprochen haben, das Teilder-Gesellschaft-Sein und die gesellschaftliche Akzeptanz, dass das Faktoren sind, die dort eine sehr viel geringere Rolle spielen, wenn sie überhaupt eine Rolle spielen. Ein nicht unbeträchtlicher Teil besteht in Zockerei, gerade wenn man schaut, wo die ganz großen Summen erwirtschaftet werden. Müsste Ihnen aus Ihrer Perspektive eines unternehmerischen Ethos das nicht ein unglaublicher Dorn im Auge sein? Und: Was würden Sie dagegen tun? JK: Das widerspricht fraglos dem unternehmerischen Ethos. Ein-
fach deshalb, weil überall dort, wo dem Finanzgeschäft kein Realgeschäft zugrunde liegt, alles eine spekulative Komponente hat. Und diese spekulative Komponente hat eine sich selbst verstärkende Kraft. Wir alle kennen die betrügerischen Ponzi-Schemata oder Schneeball-Systeme, die von der eigenen Dynamik am Leben gehalten werden und immer größer werden. Bis sie zum Stillstand kommen und der Schaden sichtbar wird. Das hat man 2008 teilweise bei der sogenannten Subprime-Krise gesehen. Ich bin der Meinung: Wer keinen Dienst an der Gesellschaft erbringt, weil er oder sie nur dafür sorgt, dass Reiche reicher werden (zum Beispiel spekulationsorientierte Hedgefonds), dem sollte der Staat entgegentreten. Er sollte dann ihm oder ihr sagen: „Wenn dein Geschäftszweck ist, die fünf oder zehn Prozent reichsten Menschen der Welt noch reicher zu machen, indem du ihnen Zu-
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gang zu hochlukrativen und spekulativen Finanzinstrumenten gibst, und nicht Hunderttausende von Arbeitsplätzen zu sichern oder neue zu schaffen, wie es etwa Siemens, BASF, Volkswagen oder die Realwirtschaft im Allgemeinen tun, dann muss der Dienst an der Gesellschaft eben durch einen höheren steuerlichen Beitrag für solche Finanzgeschäfte erbracht werden.“ Diese Mittel könnten dann eingesetzt werden für die Allgemeinheit: bei Bildung, Chancengleichheit und -durchlässigkeit. Ich habe kein Problem damit, wenn die 20 hellsten Köpfe, die klügsten Finanzgenies, die die Universitäten verlassen, in großen Hedgefonds Millionen und Milliarden verdienen und diese Summen horten. Aber für solche spekulativen Geschäfte sollte der Steuersatz dann eben nicht nur 30 Prozent betragen, da diesen Geschäften keine realen wirtschaftlichen Größen zugrunde liegen und sie auch durch die Realwirtschaft nicht abgesichert sind. Insoweit müssten spekulative Gewinne deutlich höher besteuert werden. Dann liegt der gesellschaftliche Wert eben darin, dass sie durch eine steuerliche Umverteilung vergleichsweise mehr zum Gemeinwohl beitragen als das bei Unternehmen der Fall wäre. Diese leisten ihren bedeutenden gesellschaftlichen Wert über die Schaffung von Arbeitsplätzen, Beiträge zur Sozialversicherung und das Zahlen von Steuern. RDP: Ich sehe ein großes Problem darin, dass die unglaublich er-
folgreiche Finanzindustrie in Relation zur Realwirtschaft viel zu wenig belastet wird. Es handelt sich hier um ein Schema aus dem 19. Jahrhundert, einer Zeit als es die moderne Finanzindustrie noch gar nicht gab.
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JK: Ich glaube, der Gesetzgeber ist einfach nicht mitgekommen
mit der Geschwindigkeit, der Kreativität und der Intelligenz der globalen, extraterritorialen Natur der spekulativen Hochfinanz. RDP: Ja, das sehe ich genauso. Nun sind die Probleme ja seit langer
Zeit bekannt, nicht erst seit der Finanzmarkt-Krise. Und es ist ausgesprochen wenig passiert im Verhältnis dazu, was man hier hätte tun können. Im Grunde müsste man der Gesellschaft viel Geld zur Verfügung stellen, das jetzt nur in die Hände relativ weniger wandert. Das ist eine bedeutende gesellschaftliche Aufgabe, die allerdings nur halbherzig oder gar nicht angegangen wird. Nach dem Ende der Finanzmarkt-Krise gab es ja mehrere europäische Staaten, die zum Beispiel Finanztransaktionssteuern einführen wollten. Aber als genug Gras über die Finanzmarkt-Krise gewachsen war, ist man wieder zurückgerudert. Heute ist noch entfernt die Rede von einer Börsensteuer. Eine Börsensteuer würde den Aktienhandel besteuern und sonst nichts. Das heißt also, die hochspekulativen Geschäfte würden nicht besteuert, aber der kleine Mann, der mit Aktien vorsorgt, würde besteuert. Für diese Politik stehen zum Beispiel Olaf Scholz und auch Emmanuel Macron. Da läuft vieles in die falsche Richtung. Ich frage mich: Könnten Unternehmer wie Sie und Ihre in Unternehmen aktiven Kollegen nicht einen deutlich größeren Druck ausüben? Ich meine, Sie sind nun wirklich mächtig in diesem Lande, auf Sie wird gehört, wenn Sie sagen, dass die Finanzwirtschaft stärker besteuert und die Realwirtschaft stärker entlastet werden soll.
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JK: Ich muss zugeben, bei diesem Thema habe ich mir als noch
aktiver Vorstandsvorsitzender von Siemens (2013 bis 2021) schon ein paarmal die Zähne ausgebissen. Ich habe verschiedene Finanzminister erlebt. Schon damals bei Herrn Steinbrück, als ich noch Finanzvorstand war, sagte ich: „Wir müssen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stärker am Unternehmensgewinn beteiligen.“ Hier geht es um soziale Gerechtigkeit und um Teilhabe. Beteiligung am Unternehmenserfolg ist für mich eine wichtige Größe, und ich habe mich sehr dafür ausgesprochen, dass wir Aktien an Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ausgeben. Die Siemens-Unternehmen haben heute mit die größten und erfolgreichsten Mitarbeiter-Aktienprogramme. Die Aktien sollten dann, wenn sie für die Altersversorgung langfristig genutzt werden, zumindest steuerbegünstigt sein, weil die Gewinne letztlich für die Versorgung im Alter realisiert werden. Und dafür, so meine Forderung, sollten zumindest erheblich höhere Freibeträge eingeräumt werden, als das damals der Fall war, obwohl sich hier schon etwas getan hat. Ich hörte jedoch immer wieder: „Ja, aber woher soll denn die Gegenfinanzierung kommen?“ Ganz einfach: Die Gegenfinanzierung kommt daher, dass spekulative Transaktionen höher besteuert werden. So hätte man die Gegenfinanzierung für ein solches sozial gerechtes und sogar finanzpolitisch tragfähiges Modell der Beteiligung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an Realvermögen geschaffen. Die Antwort war: „Na ja, aber dann wandert die Liquidität aus spekulativen Finanztransaktionen aus Deutschland nach England oder nach Frankreich ab, und das ist natürlich problematisch.“ Das mag sein. Aber man wird nie allen alles recht
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machen können. Man muss Prioritäten setzen. Und ich denke, die Breite der Gesellschaft hat in diesem Fall Priorität. Und wenn etwas Liquidität von uns nach Paris an die Börse geht, wird dies unsere Gesellschaft kaum spüren. Aber sie wird es sehr wohl spüren, wenn sie ein würdevolles Leben im Alter selbst mitfinanzieren kann, ohne dass die steuerliche und sozialversicherungstechnische Belastung der Erwerbstätigen in der Realwirtschaft ins Unermessliche steigt. RDP: Ich glaube, das Thema wird immer noch unterschätzt, ob-
wohl es ja bekannt ist. Unsere herkömmliche Art und Weise, wie wir über die gesetzliche Rentenversicherung das Alter absichern und in Zukunft absichern wollen, wird nicht mehr funktionieren. In diesem Punkt sind sich ja alle einig. Und trotzdem wird es gesellschaftlich nicht skandalisiert. Als 1957 in Deutschland das Umlagesystem der gesetzlichen Rente geschaffen wurde, legten die Urheber dieser Idee, der Soziologe Gerhard Mackenroth und der Wirtschaftstheoretiker Wilfrid Schreiber, großen Wert darauf, dass die Rente nicht zusätzlich mit Steuergeld bezuschusst werden dürfe. Heute sieht es so aus: Der Betrag der Bezuschussung hat längst die 100 Milliarden im Jahr überschritten. Das ist mehr als ein Viertel des Bundeshaushalts. Der Betrag wird immer weiter steigen, und zwar aus zehn verschiedenen Gründen. Der bekannteste ist die Demografie. Schon sehr bald werden drei Arbeitende einen Rentner finanzieren, und irgendwann wird ein Arbeitender einen Rentner finanzieren. Das ist nicht tragbar. Das ist für den Arbeitenden nicht tragbar, das ist für das Unternehmen nicht tragbar.
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Das bedeutet gigantisch steigende Lohnnebenkosten und Sozialabgaben. Und das alles, um einen toten Gaul ins Ziel zu reiten, der so nicht mehr funktioniert. Wenn ich das sage, bekomme ich Applaus von allen Seiten. Das sieht die Unternehmerschaft natürlich auch so, und auch konservative Ökonomen sehen das genauso wie ich. Die Lösung, die dann immer vorgeschlagen wird, ist, dass man das Geld an den Börsen einsetzen, also mit der Rente zocken soll. Das gilt allgemein immer als die beste Idee. Man hofft, dass man dann die Rente derart vermehren kann, dass man sie tatsächlich später auszahlen kann. Nun wissen wir aus der Geschichte, was für große Schwankungen und Risiken die Börse enthält. Eine kapitalgedeckte Rente hat es in Deutschland ja in der Bismarck-Zeit gegeben. Es gab dann Generationen von Rentnern, die fast keine Rente bekommen haben – aufgrund der beiden Weltkriege, aufgrund der Inflation. Und in der unsicheren politischen Weltlage, in der wir uns heute befinden, wo bereits, wenn ein ökonomischer Zwerg wie Russland ausfällt, die Börsenkurse sinken, die Ölpreise steigen und die Inflation weiter angeheizt wird, da möchte man sich nicht ausrechnen, was alles für Turbulenzen entstehen können. Deswegen glaube ich, es kann nicht die Lösung sein, das alte System beizubehalten und einfach ein bisschen mehr mit der Rente zu zocken. Wir brauchen eine grundlegende Neuorientierung. Das ist einer der Gründe für ein bedingungsloses Grundeinkommen. Sie haben ja vorhin gesagt, warum sie das bedingungslose Grundeinkommen aus psychologischen Gründen nicht für richtig halten. Könnten wir uns zumindest auf eine bedingungslose Grundrente in Höhe von 1.300 oder 1.400 Euro einigen?
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JK: Auf eine Grundrente und eine würdevolle Zeit im Alter kön-
nen wir uns sofort einigen. Da bin ich ganz bei Ihnen. Das ist auch eine Frage des Artikels 1 des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Und das betrifft meines Erachtens nicht zuletzt die Würde der Menschen, die 40 Jahre gearbeitet haben und für die es dann nicht einmal mehr zu einem einfachen Leben reicht. Für ein bedingungsloses Grundeinkommen im Arbeitsleben können Sie mich hingegen gar nicht begeistern. Eine aufgeklärte Gesellschaft muss auch Eigenverantwortung übernehmen. Der Staat muss dafür die Rahmenbedingungen schaffen, dass dies fair und transparent möglich ist. Das Individuum muss dann aber schon selbst durch die Tür gehen. Das gilt auch für den Aufbau von Altersversorgung. Es gibt wenige Felder, in denen die Zukunft so leicht vorhersagbar ist, wie in der Demografie. Wer heute 63 ist, ist eben morgen 64. Und dass die Lebenserwartung höher geworden ist, wissen wir auch. Deshalb ist es unverständlich, dass hier nicht mit Hochdruck nach tragfähigen und nachhaltigen Lösungen gesucht wird, die allen Generationen gerecht werden. Wer Volksvertreter oder Volksvertreterin sein will, muss das ganze Volk vertreten. Auch auf die Gefahr hin, dass er oder sie vielleicht temporär die Mehrheit verliert. RR: Was heißt denn all das, was Sie diskutiert haben, für das Thema
„Freiheit“? Was ist für Sie, pointiert gesagt, Freiheit für alle? RDP: „Freiheit für alle“ bedeutet für mich, dass man die Grund-
sätze des Liberalismus von den jetzt noch damit verbundenen Privilegien befreit. Wenn ich etwa an New-Work-Konferenzen
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teilnehme, dann ist völlig akzeptiert, dass für das obere Drittel der Gesellschaft Arbeit einen „Purpose“ haben muss, dass man wunderbare Arbeitsbedingungen hat, dass man seine Work-Life-Balance und so weiter schaffen soll. Das gilt aber bislang nicht für Pfleger:innen, und das gilt auch nicht für jemanden, der die Klos putzt oder nachts in einer Groß-Bäckerei Brot bäckt. Freiheit für alle würde bedeuten, dass wir die Grundsätze des Liberalismus – die möglichst freie Entfaltung des Individuums, die so weit reichen darf, bis die Freiheit anderer maßgeblich beeinträchtigt ist –, dass wir die für alle in der Gesellschaft verwirklichen. Ich glaube, dass wir das ohne ein bedingungsloses Grundeinkommen am Ende nicht werden verwirklichen können. Aber darüber müsste man jetzt einige weitere Stunden diskutieren. RR: Herr Kaeser? JK: „Freiheit für alle“ bedeutet für mich, dass wir für unser Land
das bestmögliche Verhältnis von Sozialstaat, Marktwirtschaft und Ökologie finden. Dass wir also eine Sozial-Ökologische Marktwirtschaft aufbauen, die unser Land die nächsten 20 Jahre trägt. Mit der Sozialen Marktwirtschaft ist uns das in den vergangenen Jahrzehnten gut gelungen. Nun müssen wir, darauf aufbauend, das Thema Ökologie integrieren. Das kam in der Vergangenheit zu kurz, ist aber das Zukunftsthema schlechthin. Wir sind unseren Kindern und Enkeln schuldig, ihnen einen Planeten zu übergeben, der lebenswert ist. In diesem Freiheitsbegriff können wir alle uns in unseren Grundbedürfnissen einer zivilisierten Menschheit wiederfinden.
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RICHARD DAVID PRECHT UND JOE KAESER
RR: Joe Kaeser, Richard David Precht, ich danke Ihnen, dass Sie
sich in diesen Zeiten die Zeit genommen haben für dieses spannende Gespräch.
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ZEITENWENDEN, ELITEN UND PROBLEMLÖSUNGSKOMPETENZ
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ARMIN NASSEHI UND STEFFEN KAMPETER
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Überpünktlich erscheint Steffen Kampeter, der Hauptge-
schäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, auf dem Bildschirm und positioniert sich an seinem Stehpult. Der Dialog mit Armin Nassehi ist ihm eine willkommene Abwechslung zwischen den zahlreichen Pflichtterminen des Tages. Leicht verspätet, direkt von einer Lehrveranstaltung kommend, schaltet sich der aus den Medien bekannte Soziologe und Systemtheoretiker aus seinem Büro in der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität in den gemeinsamen virtuellen Reflexionsraum ein. Ende Mai 2022, zum Zeitpunkt des Gesprächs, prägt der Krieg in der Ukraine die öffentlichen Diskurse ähnlich stark wie wenige Monate zuvor die Pandemie. Kurz zuvor – am 9. desselben Monats, dem Jahrestag des Siegs Russlands über Nazideutschland – rechtfertigte Wladimir Putin (unterstützt von einer aufwendigen Militärparade auf
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dem Roten Platz) seinen Angriffskrieg unter Bezugnahme auf ein archaisches Weltbild russischer Größe. „Zeitenwende“: Das Wort des deutschen Bundeskanzlers erfreut sich medialer Beliebtheit – doch warum fiel es so spät? Es scheint, als hätte die Politik die Zeichen der Zeit erst jetzt erkannt. Im Unterschied zu den Wirtschaftsunternehmen, für die längst als akzeptierte Tatsache gilt, dass die Globalisierung nicht nur radikale wirtschaftliche, sondern auch soziale, außenpolitische, Werte-bezogene Veränderungen mit sich bringt. Wenn sich an der politischen „Veränderungsgeschwindigkeit“ (Kampeter) etwas ändern soll, müssten zeitgemäße Formen der Bildung eine entscheidende Rolle spielen. „Wofür und mit welchen Zielen bilden wir eigentlich junge Leute in einer Gesellschaft aus, die ganz andere Herausforderungen hat, als das vorher der Fall war?“, möchte Nassehi wissen. Er bezieht sich damit auch auf die Frage der Funktion
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von Eliten – der Entscheidungsträger im Bereich Bildung. Nassehi und Kampeter sind sich einig, dass neue Formen von Bildung, Ausbildung und Lehre dazu befähigen müssten, Kontexte zur Komplexität der multiplen Krisen unserer Zeit zu schaffen; gerade auch angesichts des gebrochenen sozialen Aufstiegsversprechens. Dies aber wäre nur mittels der gesammelten, je unterschiedlichen Problemlösungskompetenz unterschiedlicher Akteure aus Wissenschaft und Unternehmenspraxis zu bewerkstelligen. Die „Perspektiven-Differenz“ (Nassehi) divergierender gesellschaftlicher Systeme, Interessen und Erfolgsbedingungen, die eine gemeinsame Sicht auf die Dinge verhindern, müsste endlich verabschiedet werden. In hochvolatiler politischer, ökonomischer und sozialer Umgebung wäre es dringend nötig, sich von alten Lösungsmodellen zu freizumachen und die Wertschöpfungsprozesse der digitalen Wirtschaft voranzutreiben. Doch das saturierte Deutschland mit seiner Regel-
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hörigkeit, Reformresistenz und institutionellen Trägheit scheint sich lieber an der Rhetorik von immer neuen Zeitenwenden festzuhalten, als angemessene Veränderungen herbeizuführen. Statt integrierender Konflikte, die gemeinschaftlich unternommene disruptive Taten bewirken könnten, dominiert der Konsens als höchstes (recht realitätsfernes) diskursives Ideal. Vielleicht liegt es am „neue[n] Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (Jürgen Habermas), dass hierzulande immer noch mehr geredet als getan wird. Vielleicht liegt es an den Sozialen Medien und den vielen konträr aneinander vorbeilaufenden Meinungsblasen. Was am Ende auch dieses Dialogs sicher scheint: Wenn wir zukunftsfähig, denkfähig, lebensfähig, gemeinschaftsfähig werden wollen, müssen wir neue Begegnungsorte von Theorie und Praxis, akademisch gebildeter Elite und außerakademischer Lebenskompetenz schaffen.
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» « Rebekka Reinhard: Armin Nassehi, Steffen Kampeter, vor nicht
allzu langer Zeit wurden wir mit einem neuen Begriff im öffentlichen Diskurs vertraut gemacht, dem Begriff der „Neuen Normalität“. Nun kursiert ein ganz anderer: der der „Zeitenwende“. Wie interpretieren Sie diesen Begriff ? Wozu ist er gut? Wem dient er, und wem nicht? Armin Nassehi: Ich denke, das Interessante aus historischer Per-
spektive ist, dass es wahrscheinlich noch nie eine Zeitenwende mit vorheriger Ankündigung gegeben hat. Die Zeitgenossen sind meist nicht diejenigen, die Zeitenwenden als Zeitenwenden wahrnehmen. Insofern ist das, was wir jetzt hören, dass also eine Zeitenwende bevorsteht, ein politischer Satz, der im politischen Kontext etwas Bestimmtes bedeuten soll. Man kann im Politischen natürlich eine Disruption hervorrufen und sagen, „Passt auf Leute, jetzt passiert etwas sehr Wichtiges,
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weshalb wir das eine ‚Zeitenwende‘ nennen.“ Doch in der Situation, in der dieser Satz vom Bundeskanzler ausgesprochen wurde, hatte bereits eine Disruption stattgefunden, nämlich ein Angriffskrieg in Europa. Und das wird womöglich historisch als eine Zeitenwende angesehen werden. Jener Satz hat als politischer Signalsatz eine performative Bedeutung, aber möglicherweise auch eine diagnostische. Welche Bedeutung genau ihm zukommen wird, das werden wir erst später wissen. Steffen Kampeter: Ich bin in der politischen Analyse sehr nah bei
Herrn Nassehi. Ich glaube, der Begriff Zeitenwende wurde gewählt, um den Wählerinnen und Wählern zu erklären, dass jetzt etwas ganz Neues, etwas grundlegend Verschiedenes vom Bisherigen, etwas Unangekündigtes in der Politik passiert. Beispielsweise diskutiert man nun über Waffenlieferungen. Das ist in der Historie der Bundesrepublik Deutschland exzeptionell, galt vor einigen Monaten noch als unmöglich. Aus Perspektive der Wirtschaft muss ich ganz ehrlich sagen: Ich bin etwas überrascht, dass die Politik jetzt von Zeitenwende spricht, weil Unternehmen schon seit vielen Jahren merken, dass sich im Kontext der Globalisierung Dinge sehr radikal, sehr grundlegend ändern. Fragen Sie mal jemanden, der in der Finanzwirtschaft arbeitet, ob er das, was nach der Finanzkrise 2008/2009 kam, etwa nicht als Zeitenwende interpretiert, oder einen Innenstadt-Händler, ob er die Herausforderung durch den digitalen Handel nicht gleichfalls als Zeitenwende interpretiert. Das sind Zeitenwenden, die zur konsequenten Reaktion von wirtschaftlichen Verantwortungsträ-
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gern führen, es sei denn, man wäre bereit, aus dem Markt auszuscheiden und sein Unternehmen zu schließen. Für die Wirtschaft beschreibt der Begriff „Zeitenwende“ somit eigentlich die Normalität der vergangenen 10 bis 15 Jahre, denn im wirtschaftlichen Kontext haben sich die Zeiten bereits sehr geändert oder gewendet. „Herzlich willkommen!“ also an die Politik, dass sie jetzt auch offen bekennt, dass die Dinge sich verändern. RR: Ist „Zeitenwende“ aus ökonomischer Sicht ein überflüssiger
Begriff ? SK: Überflüssig würde ich nicht sagen. Wie Herr Nassehi richtig
bemerkte, geht es hier ja auch um die Beschreibung eines Sachverhaltes. Was mich eben wundert, ist, dass die Politik jetzt erst merkt, dass sich in der Welt vieles radikal verändert. Das betrifft ja eben nicht nur außenpolitische Kontexte, sondern es sind neben wirtschaftlichen auch soziale Kontexte und Wertegerüste, die ins Wanken geraten. Für mich ist das eher eine Art Entschuldigung für einen Politikwechsel. Die Rede von der Zeitenwende dient dazu, diesen Wechsel zu erklären und einzugestehen, dass man sich mit einer anderen als der politischen Realität und mit deren Veränderungsgeschwindigkeit offenkundig noch nicht richtig auseinandergesetzt hatte. Ich freue mich, dass die Politik sich jetzt auch nicht nur mit der eigenen, sondern hoffentlich auch mit den anderen Zeitenwenden, die es in diesem Kontext gibt, auseinandersetzt, was möglicherweise auch zu ähnlich veränderten Politikempfehlungen oder Maßnahmen führt.
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RR: Herr Kampeter, welche Relevanz hat geisteswissenschaftliche
Bildung vor diesem Hintergrund? Kann sie Menschen aus der Wirtschaft helfen, die Begriffe, die in der Öffentlichkeit kursieren, besser zu verstehen? Kann diese Bildung helfen, auch die Komplexität der Gesellschaft, in der wir heute leben, zu verstehen? SK: Jede Form von Bildung, die es erleichtert, Dinge in ihren Kon-
text einzuordnen, ist hilfreich. Jede Form von Bildung, die es ermöglicht, Komplexität zu reduzieren, ist dringend notwendig. Deswegen verfolgen auch Arbeitgeberverbände nicht nur wirtschaftliche Interessen. Wir sind die Spitzenorganisationen der deutschen Wirtschaft, auch für den Bildungsbereich. Das gilt besonders für den Berufsbildungsbereich. Es geht darum, dass man einzuordnen lernt, was sich im Wirtschaftlichen, im Handwerklichen, aber auch im Intellektuellen verändert, und zu welchen Schlussfolgerungen man dann kommen kann. RR: Herr Nassehi? AN: Ich kann eigentlich an alles anschließen, was Herr Kampeter
gerade gesagt hat. Mir gefällt es sehr, dass Sie gerade einen Bildungsbegriff verwendet haben, der über das Geisteswissenschaftliche hinausgeht. Ich bin seit Jahrzehnten Hochschullehrer. Ich stelle mir schon die Frage, durchaus auch in meinem eigenen Arbeitsbereich: Wofür und mit welchen Zielen bilden wir eigentlich junge Leute in einer Gesellschaft aus, die ganz andere Herausforderungen hat, als das vorher der Fall war? Ob ich so weit gehen würde, überall von Zeitenwenden zu
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reden, weiß ich nicht. Was wir schon erleben, das ist eine Trägheit der Systeme in allen Bereichen. Dazu gehört auch das Bildungssystem. In unseren Grundstrukturen sind wir noch sehr 19.-Jahrhundert-lastig, zum Beispiel mit der Versäulung unserer Fächer, mit der Frage, wie wir eigentlich Theorie und Praxis aufeinander beziehen. Dieser ganze Podcast ist ja ein bisschen so aufgebaut: Theorie und Praxis. Das, was wir Theorie nennen, ist durchaus auch eine Praxis-Form, und das, was wir Praxis nennen, enthält mehr Reflexion, als man von außen manchmal denken mag. Wie gehen wir eigentlich mit diesen Unterscheidungen um? Was sind die Fähigkeiten, die man in einer komplexen Gesellschaft braucht, in einer Gesellschaft, in der Routinen sehr stark infrage gestellt werden? Was machen wir mit einem Wissen, dessen Halbwertszeit sehr schnell schrumpft, das aber trotzdem oft in stabilen Traditionen steht? Was müssen Eliten eigentlich können? Wir reden in Deutschland nicht gerne über Eliten, aber die Hochschulen, an denen ich arbeite, bilden eben die Leute aus, die einmal die Entscheidungen werden treffen müssen. Was müssen die eigentlich können? Das ist eine Frage, bei der ich die Differenz zwischen Bildungsbereich und Industrie oder Bildungsbereich und öffentlichem Dienst oder Bildungsbereich und gesellschaftlichen Diskursen gar nicht so stark ziehen würde. Es gibt ja Routinen, die für die klassische Industriegesellschaft mal sehr, sehr, sehr produktiv waren, nämlich durch Versäulung die Bereiche voneinander zu trennen. Was wir verlernt haben, das ist, miteinander sprachfähig zu werden. Ich glaube, wenn es Zeitenwenden geben sollte, dann geht es tatsächlich darum, Arbeitsbereiche unterschiedlicher Herkunft, unter-
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schiedlicher Provenienz so aufeinander zu beziehen, dass etwas Neues entsteht. Wenn Sie erlauben, beschreibe ich dies an einem historischen Beispiel, dem Erfolgsmodell des westlichen Industriestaates. Das, was man soziale Marktwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg nennt, ist ja nicht von selbst entstanden, sondern das war eine Zeitenwende, im Hinblick darauf, einen volatilen Kapitalismus mit konsistenten Lebensformen zu verbinden und zu versöhnen. Das war ja etwas, was man tatsächlich erst mal erreichen können musste: soziale, ökonomische, politische Fragen aufeinander zu beziehen. Wenn wir jetzt eine Zeitenwende haben, dann stellen sich diese Fragen mit neuen Produktionsbedingungen, mit einer Digitalisierung der Wirtschaft, mit anderen Formen von Transnationalem und Globalem neu. Ich glaube, dass die Sprachfähigkeit von Vertreterinnen und Vertretern unterschiedlicher Bereiche der Gesellschaft vielleicht der Schlüssel ist, um so manches neu herstellen zu können. SK: Ich würde gerne weiterentwickeln, was Herr Nassehi hier dar-
legt. Ich glaube, dass man die Zeitenwende und ihre kontextuelle Einordnung nicht statisch interpretieren kann, sondern als einen dynamischen Prozess begreifen muss. Wenn ich das Bild von der sozialen Marktwirtschaft aufgreife: Natürlich stellt uns die Dekarbonisierung, die Demografie oder die Digitalisierung vor völlig andere Herausforderungen. Das sind ganz andere, zur dynamischen Fortentwicklung einladende Veränderungen, als beispielsweise eine Währung einzuführen oder ein Wettbewerbsgesetz zu machen, wie es die Gründungsmütter und Gründungsväter der sozialen Marktwirtschaft getan haben.
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Heute stehen wir vor völlig anderen Herausforderungen. Ich glaube, dass ökonomische und sozialwissenschaftliche Bildung hilft, diese Herausforderungen in einen Kontext einzuordnen, aus dem ich als Repräsentant einer Wirtschaftsorganisation einen Veränderungs-, einen Fortentwicklungs-, einen Reform-Auftrag ableiten und mich gegen diejenigen wenden würde, die meinen: „Jetzt haben wir eine Zeitenwende, jetzt tun wir mal was, und dann ist wieder zehn Jahre Ruhe.“ Ich glaube, wir müssen in unserer Gesellschaft um Verständnis dafür werben, dass diese Veränderungsprozesse sehr viel kontinuierlicher und andauernder sind. Botschaften wie „ Veränderung ist eine Daueraufgabe“ müssen die Menschen mitnehmen, damit wir diese Prozesse auch inklusiv gestalten können. AN: Worauf es mir sehr stark ankommt – und ich bin kein Geis-
teswissenschaftler, sondern Sozialwissenschaftler –, schließt an das an, was Sie gerade gesagt haben: Veränderungsprozesse, in denen es um etwas geht, haben immer etwas damit zu tun, dass Akteure aus unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft gemeinsame Ziele entwickeln müssen. Wenn ich daran denke, wie schwer es manchmal auch Eliten beizubringen ist, dass etwa ein politischer, ein wissenschaftlicher und ein ökonomischer Akteur jeweils ganz unterschiedliche Probleme lösen müssen, ganz unterschiedliche Erfolgsbedingungen haben, ganz unterschiedlich mit bestimmten Formen von Zumutungen umgehen können, dann ist das schon ein interessanter Bildungsprozess.
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Es geht darum, den Leuten klarzumachen, dass man der Industrie nicht von jetzt auf gleich vorschreiben kann, dass sich Dinge disruptiv schnell ändern. Wenn keine Zeit dafür ist, die Dinge zu erledigen oder Lösungen vorzuschlagen, die auf dem Markt wirklich funktionieren können, dann hat man genauso ein Problem, wie wenn man von der Politik verlangt, bestimmte Dinge jetzt erreichen zu wollen, für die man bei den nächsten Wahlen ganz sicherlich keine Unterstützung und keine Loyalität bekommt, erst recht nicht in der Öffentlichkeit. Ähnlich ist es, wenn man von der Wissenschaft verlangt, dass die Entwicklungen viel schneller gehen sollten, als man das wissenschaftlich verantworten oder umsetzen kann. Es ist eigentlich banal, was ich jetzt sage, aber allein diese Perspektiven-Differenz unterschiedlicher Zeithorizonte, unterschiedlicher Erfolgsbedingungen, unterschiedlicher Publika, vor denen wir das machen – das ist die Komplexität, mit der wir es zu tun haben, und da ist im Moment eine ganze Menge zu tun. Um es noch einmal zu wiederholen: Der historische Fall ist die soziale Marktwirtschaft gewesen. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten wir es mit ähnlichen Fragen zu tun: Wie kriegt man politische Stabilität und ökonomische Dynamik zusammen? Wie macht man daraus ein rechtliches Gerüst, in dem das System funktioniert? Wie kann man Karrieren ermöglichen, in einer Zeit, in der es starke Veränderungen gibt? Was ist die Bedingung dafür, dass man Bevölkerungen mitnimmt und loyal hält, Extremismus verhindert? Das ist heute vielleicht ein größeres Thema, als es damals der Fall gewesen ist. Das sind die Herausforderungen, die eigent-
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lich klassische Herausforderungen moderner Gesellschaften sind, die sich heute aber neu stellen. SK: Es gibt ja eine Sache, für die man im Feuilleton, in jeder Fern-
sehsendung großen Beifall kriegt: wenn man das Gewinnstreben von Unternehmen kritisiert. Ich halte das für hanebüchenen Blödsinn, weil ich mir nicht vorstellen kann, welche alternativen Zielfunktionen eine soziale Organisation wie ein Unternehmen eigentlich anpeilen soll, anstatt dass Umsatz minus Kosten einen positiven Deckungsbeitrag liefern. Das ist die klassische Unternehmensfunktion – unter den Restriktionen auch anderer Bereiche. Indem wir dafür werben, dass auch andere Bereiche dies akzeptieren, lernen wir natürlich auch, Vorbehalte, Widerstände und andere Perspektiven, beispielsweise die der Wissenschaft auf das Gewinnstreben, zu akzeptieren bzw. uns damit auseinanderzusetzen. Wenn ich für den Gewinn als eine wichtige Zielfunktion werbe, bin ich immer der Kritik von Organisationen ausgesetzt, die sagen: „Wir machen das anders, wir sind kirchlich oder sozial, aber wir machen keinen Gewinn.“ Da sage ich: „Na ja, aber nach welcher Zielfunktion arbeitet Ihr? Müsst Ihr nicht auch verhindern, dass Ihr Insolvenz anmeldet oder illiquide werdet?“ Wenn die Antwort lautet: „Dann hilft uns beispielsweise die Kirche oder der Staat“, zeigt das doch, dass die Frage nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten auch in diesen Fällen eine Rolle spielt. Sie verfügen nur über kein eigenes Kapital, sondern über öffentliches Kapital, das sie anleitet. Gegenseitiges Verständnis ist wichtig, um unterschiedliche Systeme nachzuvollziehen. Was das Gewinnstre-
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ben betrifft, glaube ich, gibt es Bildungsdefizite in Deutschland, das auch gesellschaftlich zu akzeptieren. AN: Das konzediere ich zu hundert Prozent. Man kann von keinem
Unternehmen verlangen, an diesem Mechanismus vorbeizuoperieren, wie man eben von politischen Akteuren auch nicht verlangen kann, an Loyalitätsfragen vorbeizuregieren, und wie man auch von Wissenschaft nicht verlangen kann, an Wahrheitsfragen vorbeizuforschen. Das ist ja genau der Punkt, um den es geht. Das sind keine selbst gewählten Formen, das sind strukturelle Formen, die man anerkennen muss. Herr Kampeter, Sie haben vollkommen recht, da gibt es ein Bildungsdefizit. Das meinte ich damit, dass wir mit der Versäulung sehr, sehr, sehr erfolgreich gewesen sind. Das hat auch zur Folge, dass die versäulten Eliten zum Teil das, was die anderen Säulen tun, gar nicht so richtig verstehen. Wenn man dafür wechselseitig eine bessere Form finden könnte, wäre schon viel gewonnen. SK: Ich wäre dafür, mal die Seiten zu wechseln. Ich habe nach 25
Jahren parlamentarischer Tätigkeit die Seiten gewechselt. Das gab mir eine neue Perspektive. Und ich habe in den letzten Jahren sehr viel mehr über wirtschaftliche Zusammenhänge gelernt als in den 25 Jahren zuvor. Das muss ich selbstkritisch sagen. Von daher bietet ein Perspektivwechsel auch eine Chance für einen Seitenwechsel. Allerdings ist auch das in Deutschland sehr verpönt, dass man von der Politik in die Wirtschaft oder von der Wirtschaft in die Politik oder gar von der Wissenschaft in die Politik wechselt. Ich halte das für eine defizitäre Entwicklung.
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RR: Nicht nur Gewinne sind wichtig in unserer liberalen Demokra-
tie, sondern auch Werte wie Solidarität, Gemeinschaft, Zusammenhalt. Seit einiger Zeit beobachten wir verschärfte Spaltungstendenzen, es ist die Rede von sozialen Verteilungskämpfen, nicht nur infolge von Corona, sondern auch als Konsequenz des Angriffskriegs auf die Ukraine. Wie kann es dann dieser „überforderten Gesellschaft“ gelingen, um Armin Nassehi zu zitieren, angesichts dieser großen Herausforderungen Demokratie nicht nur zu sichern, sondern sie lebendig bleiben zu lassen? Wie kann es der Gesellschaft gelingen, auf bestmögliche Art und Weise Problemlösungskompetenzen zu entfalten? AN: Ich meine, die Überforderung besteht darin, dass man sich ei-
gentlich niemals ausruhen kann auf den vorhandenen Lösungen. Wir leben in einer wahnsinnig volatilen Gesellschaft. Die Spaltung der Gesellschaft ist in Deutschland nicht so groß, wie es in der veröffentlichten Meinung üblicherweise transportiert wird. Das gilt teilweise auch für soziale Ungleichheitsfragen. Der Erfolg unseres Gesellschaftmodells oder unseres Institutionenmodelles der letzten Jahrzehnte bestand doch darin, dass es einen Rahmen dafür bot, einerseits leistungsfähig zu sein und andererseits das Soziale mitdenken zu können, sozialen Aufstieg zu ermöglichen und Ähnliches. Das hing stark zusammen mit Produktionsformen, die dafür geradezu gemacht sind. Die klassische Industriegesellschaft hatte ja das große Glück, dass man Wertschöpfungsketten und individuelle Lebensverläufe durch institutionelle Absicherung gleichsam parallelisieren konnte. Ob das in neuen Ökonomien in der gleichen Form
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gelingt, das ist die Frage. Ich sage wohlgemerkt, in der gleichen Form. Vielleicht muss man an diesen Formen etwas ändern. Vielleicht wird sich die Beteiligung der Einzelnen an Wertschöpfungsketten ändern. Vielleicht wird Arbeit überhaupt sich in vielerlei Hinsicht verändern. Vielleicht wird es ein großes Problem im Hinblick auf die Anzahl der Personen geben, die wir für die Wertschöpfungsketten brauchen und so weiter … Das sind alles bekannte Probleme. Dafür muss es neue institutionelle Arrangements geben. Aber was die Demokratie angeht, würde ich eher sagen, dass das damit viel weniger zu tun hat, als man denkt. Der Erfolg der westlichen Demokratien hängt ja vor allem damit zusammen, dass wir eingeführte Konflikte haben. Es war ein großer Glücksfall, dass es Mitte-Rechts- und Mitte-Links-Parteien gegeben hat, die komplementär zueinander funktionierten, und dass die Bandbreite möglicher Lösungen nicht so groß war, als dass es bei jeder Detailfrage ums Ganze gegangen wäre. Das ist ja eigentlich das, was man eine Gesellschaft nennt, die nicht gespalten ist. Wenn das der Fall ist, dann haben wir ein Problem mit der Demokratie. Wir können das in verschiedenen Ländern beobachten, in den Vereinigten Staaten etwa geht es inzwischen bei jeder Detailfrage ums Ganze. Das ist anlässlich der Wahlen in Frankreich vor Kurzem auch so gewesen. In Deutschland ist das anders. Hier sind die großen politischen Spieler miteinander kompatibel. Was fehlt, das sind neue Konflikte. Der Soziologe sucht eigentlich immer nach integrierenden Konflikten, über die man sich produktiv streiten kann. Ich glaube, das ist die große Herausforderung fürs Politische, die uns bevorsteht. Ob das noch Mitte-Links-, Mitte-
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Rechts-Unterscheidungen sind oder vielleicht andere Unterscheidungen? Nicht ob Staatstätigkeit oder mehr oder weniger Staatstätigkeit, sondern: Welche Staatstätigkeit wollen wir eigentlich? Der Klimawandel oder auch die Digitalisierung, das sind vielleicht neue Fragen, an denen sich diese Demokratiefrage entscheiden wird. Viel weniger wird sich das an den großen Wertedebatten entscheiden. Wertedebatten entstehen immer dann, wenn die Werte nicht funktionieren. Das kennen wir aus der Kindererziehung. Kinder konfrontieren wir mit Werten nur dann, wenn irgendwas schiefgelaufen ist, ansonsten brauchen wir das gar nicht so sehr. Der Wert der Demokratie besteht darin, produktiv zu unterschiedlichen Konzepten streiten zu können. Dafür dürfen diese aber nicht zu weit auseinanderliegen. SK: Ich möchte Herrn Nassehi bestärken in seiner Analyse, dass
die veröffentlichte Meinung über den sozialen Zustand unserer Gesellschaft und der reale soziale Zustand möglicherweise nicht ganz zueinander passen. Ich erlebe beispielsweise im Kontext der ukrainischen Flüchtlinge eine Welle von Solidarität, die sowohl von Beschäftigten wie auch von Firmen ausgeht und von sozialen Organisationen – eine Solidarität, wie wir sie lange nicht erlebt haben, wenn Sie das einmal mit der vormaligen Flüchtlingswelle vergleichen. Das heißt, die Gesellschaft ist angesichts einer äußeren Herausforderung solidarisch zusammengerückt und hat sich auch solidarisch gegenüber denjenigen gezeigt, die vorübergehend oder dauerhaft in unser Land kommen. Das ist ein sehr ungewöhnlicher und mög-
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licherweise unerwarteter Befund, und den sollten wir nicht geringschätzen. Wenn wir auf die soziale Situation kommen: Was die Einkommens- und Vermögensverteilung bzw. Umverteilung angeht, glaube ich, ist Deutschland nicht Ungleichheits-Weltmeister, sondern liegt in einem soliden Mittelfeld. Das heißt für die eine Seite, wir tun zu wenig, für die andere Seite, wir tun zu viel, aber wenn Sie sich auch die Einkommensverteilung ansehen, ist Deutschland kein unsoziales Land. Die Konflikte, die wir haben, laufen sehr viel gemäßigter ab als anderswo. Wir erleben keine Straßenkämpfe von konkurrierenden Gewerkschaften. Wir haben keine Gelbwesten etc. Also, den Befund, dass es um aggressive Verteilungskämpfe geht, kann ich nicht nachvollziehen. Allerdings müssten wir uns einmal fragen: Wie lösen wir eigentlich die erkennbaren zukünftigen Konflikte? Haben wir noch die nötigen Institutionen? Ist unser Föderalismus leistungsfähig? Man gewinnt ja teilweise den Eindruck, dass Veränderungsprozesse gerade in Ländern, von denen man es nicht erwartet hatte, sehr viel schneller vorangehen. Herr Nassehi kam vorhin auf die Innovationsfähigkeit des Bildungssystems zu sprechen. Wir haben hier im Haus der Wirtschaft in Berlin ukrainische Mitarbeiter eines Auslandsbüros des Kammerwesens. Die haben mir berichtet, dass ihre Kinder derzeit von ukrainischen Schulen digital unterrichtet werden. Wenn Sie sich dagegen vergegenwärtigen, wie die Lage in deutschen Schulen zu Beginn der Pandemie war, dann ist das ein Unterschied von Industriezeitalter zu Mittelalter. Wobei unter Mittelalter nun eben nicht die Ukraine zu verstehen ist. Wenn ich dann mit den Ver-
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antwortlichen spreche, sagen die gerne: „Es gibt ja den Föderalismus, da ist alles sehr, sehr schwierig.“ Vielleicht fehlt hier der Anspruch der Problemlösungskompetenz. Ich habe das Gefühl, dass das deutsche Institutionen-Gefüge zu langsam ist im Vergleich zu der Geschwindigkeit, in der sich die Welt und die Gesellschaft verändern, was wir in unserem Gespräch ja bereits als wohl permanente Herausforderung identifiziert haben. Ich glaube nicht, dass die Demokratie an sich gefährdet oder auch nur herausgefordert ist. Ich glaube, dass unsere Institutionen in ihrer Problemlösungskompetenz, in ihrer Geschwindigkeit herausgefordert sind. Meine Mitglieder, angefangen beim kleinen Handels- oder Handwerksbetrieb bis hin zum DAXUnternehmen, macht es wahnsinnig, wie kompliziert und langsam dieses Land geworden ist. Das konnten wir uns in einer Phase des relativen Wohlstandes leisten. Nach der Finanzkrise haben wir ja immer nur ein Größer, Schneller, Weiter erlebt. Die Defizite, die jetzt in der Verbundkrise zwischen Corona und Angriffskrieg der Russen sichtbar werden, die brechenden Lieferketten und verstopften Häfen in China haben deutlich gemacht, dass das Regelund Institutionen-System offensichtlich nur für den Regelbetrieb, aber nicht für die Krise und die Herausforderung des strukturellen Wandels geeignet ist. Das macht mir sehr viel mehr Sorgen als möglicherweise andere Herausforderungen, die ich in den Medien sehr viel intensiver erörtert sehe. AN: Wir kommen zu ähnlichen Diagnosen. Das ist schon sehr in-
teressant.
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SK: Sollten wir uns hier vielleicht mehr beschimpfen? AN: In der Pandemie konnte man beobachten, dass wir in
Deutschland, was kollektive Herausforderungen angeht, womöglich besonders ungeeignet sind. Lassen Sie uns einen Blick auf unsere Verfassungsgeschichte werfen. Das deutsche Grundgesetz ist ja in den späten 1940er-Jahren entstanden und sehr stark darauf angelegt, dass es so etwas wie eine Zentralperspektive im Hinblick auf Reaktionen auf Krisen nicht geben soll. Deutschland hat ein sehr starkes Mehrebenen-System. Selbst der Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin kann interessanterweise so gut wie gar nicht durchregieren im Vergleich zu anderen europäischen Ländern, von den USA ganz zu schweigen. Aber das ist ja nur ein institutionelles Symptom. Ich glaube, wir haben auch so ein bisschen ein Sieger-Syndrom. Wir haben uns sehr daran gewöhnt, dass die Dinge ganz gut funktionieren. Und das tun sie zum Teil eben nicht. Der Bildungsbereich, der krankt in der Tat daran, dass so etwas wie eine bundespolitische Perspektive auf Bildung so gut wie unmöglich ist. Das ist das eine, das andere sind die kollektiven Herausforderungen, vor denen wir stehen. Wenn man an den Klimawandel denkt, dann ist das ja kein abstraktes Problem, sondern eines, das sehr stark in ein laufendes System hineinregieren muss. Ich glaube, dass wir über diese Fragen viel zu abstrakt diskutieren. Da müssten viel konkretere Dinge passieren, die wiederum – und ich wiederhole meine LieblingsDiagnose – viel stärker unter Beteiligung unterschiedlicher Akteure stattfinden müssten.
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Wie setzt man eigentlich Klimaziele unternehmerisch um? Ich glaube, dass sich die Dinge erst dann lösen lassen, wenn es möglich ist, neue Geschäftsmodelle mit neuen Produkten und Dienstleistungen zu realisieren. Viele reden davon, dass man von Vorneherein ein Weniger oder einen Verzicht braucht oder bestimmte Dinge nicht tun muss. Die spannende Frage ist: Wie kann man auf dieser Basis ökonomisch erfolgreich sein? Auf der politischen Seite bedeutet das: Wie kann man eigentlich mit einer angemessenen ökologischen Agenda wählbar sein? Das politische Äquivalent zur Gewinnorientierung, auf die Sie, Herr Kampeter, richtigerweise hingewiesen haben, ist die Wählbarkeitsorientierung. Die Frage ist auch: Gibt es eigentlich in den Sozialwissenschaften Ansätze, die das nicht nur als Forderung formulieren, sondern die dabei helfen können, wie Akteure unterschiedlicher Provenienz in der Lage sind, daraus Konzepte zu machen? Das ist die entscheidende Infrastruktur, die wir brauchen. Wir haben uns daran gewöhnt, dass bei uns eigentlich alles immer gut funktioniert. Das tut es im Moment ja auch noch, aber ich glaube, dass diese Herausforderung wirklich eine neue Mentalität, ein neues Mindset braucht, wie wir mit diesen Perspektiven-Differenzen umgehen, wie also mit Zielkonflikten zwischen politischen und ökonomischen, rechtlichen und wissenschaftlichen Erfolgsbedingungen umzugehen ist. Wir sind sehr konsensorientiert, statt Formen für komplexe Situationen zu erfinden, in denen unterschiedliche Logiken eben nicht konsentiert werden können. Zusätzlich stellen sich operative Fragen: Wenn die Digitalisie-
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rung der öffentlichen Verwaltung in Deutschland daran krankt, dass wir bisweilen keine kompatiblen Systeme herstellen, weil nicht klar ist, wer die Akteure sind, die das eigentlich durchsetzen, dann haben wir ein Problem. Das könnte man sich in manchen anderen Organisationsformen so nicht erlauben. Und leider Gottes kann man mit Konzepten, diese komplizierten Formen umzubauen, politisch nicht wirklich Punkte erzielen. Dabei hat die Pandemie ja genügend Anschauungsmaterial dafür geliefert, dass es sehr nötig ist, zum Beispiel an diesem Feld zu arbeiten. SK: Ich glaube, die Politik hat auch versucht, diese Konflikte über
Verschuldung in die Zukunft zu verlagern. Normal wäre gewesen, wenn man sich entscheidet, mehr fürs Militär auszugeben, die Prioritäten und Posterioritäten zu definieren. Stattdessen haben wir eine Verfassungsänderung definiert und die Prioritäten und Posterioritäten auf den Zeithorizont verlagert, wenn die Rückzahlung der 100 Milliarden möglicherweise ansteht. Wenn die Zinsen steigen, dann wird die Politik auch wieder ehrlicher, denn dann wird wahrscheinlich diese Verlagerung der Priorisierung in die Zukunft nicht mehr funktionieren, weil uns dann die Zinszahlungen schon zu mehr Ehrlichkeit erziehen. Das mag zynisch klingen, aber die Phase, in der gefühlt Geld nichts kostet, führt eben zur Verlagerung von Problemen in die Zukunft und zur Nicht-Entscheidung über strukturelle Veränderungen. So etwas ist aus Sicht eines Unternehmens, das beispielsweise in Familienbesitz ist, keine Option, denn da denkt man immer an die nächste Generation und überlegt, in welchem Zustand das Unternehmen sein muss, damit die Kinder oder die Enkelkinder es erfolgreich wei-
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terführen können. Die Politik tickt da anders. Das ist auch eine funktionelle Lücke im politischen System derzeit. Da hat leider auch die von mir mit konzipierte Schuldenbremse nicht geholfen. RR: Ich habe oft den Eindruck, es werden keine Entscheidungen
getroffen, weil zu viele Worte verloren werden, zu viel diskutiert wird und keine klaren Ziele von sehr unterschiedlichen Akteuren innerhalb bestimmter – Herr Nassehi, wie Sie gesagt haben – integrierender Konflikte definiert werden. Wenn weiterhin nichts geschieht oder aber wenn tatsächlich etwas geschieht, was die Entscheidung zur Veränderung betrifft: Wie wird die Zukunft der sozialen Gerechtigkeit in Deutschland und Europa Ihrer Einschätzung nach aussehen? SK: Ich glaube, wir müssen uns zunächst über den Begriff der so-
zialen Gerechtigkeit etwas mehr Klarheit verschaffen. Wenn wir den Sozialstaat weiter allein so identifizieren, dass er ein umverteilender, ein alimentierender Sozialstaat ist, glaube ich, werden die Menschen nie zufrieden sein. Zum einen werden die einen nicht das zahlen, was dieser rein alimentierende und umverteilende Sozialstaat kostet, und zum anderen werden diejenigen, die Empfänger von Transferleistungen sind, auch sagen: „Na ja, das könnte aber noch etwas mehr sein.“ Ich glaube, wir müssen den Ertüchtigungsaspekt des Sozialstaats stärker in den Vordergrund stellen und Menschen befähigen. Das läuft ja gerade in die entgegengesetzte Richtung. Es gibt zwar Vorschläge zu mehr Transferleistungen, auch unter KlimaGesichtspunkten. Aber Menschen zu befähigen, sich selbst und
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ihr Einkommen zu organisieren und ihr Leben voranzutreiben, das ist doch eigentlich der sozialpolitische Anspruch. Und da, glaube ich, ist Bildung die eigentliche soziale Frage. Teilhabe durch Bildung, Aufstieg durch Bildung – dieses Versprechen, glaube ich, wird nur noch teilweise realisiert. Im wirtschaftlichen Bereich gibt es sehr kritische Anmerkungen zum Bildungsföderalismus. Vielleicht ist das Zentralere und Einheitlichere im Bildungsbereich die bessere Option. Darüber muss man streiten. Aber im Kern glaube ich, wenn wir das Soziale darauf reduzieren, dass es 4,7 Prozent mehr zum Ausgleich in dem einen Bereich gibt und soundso viel Kompensation im anderen, werden wir niemals so etwas haben wie Zufriedenheit. Wenn wir die Menschen stärker befähigen – wenn wir sie alimentieren, da wo es notwendig ist, aber auch in die Pflicht nehmen, wo es erforderlich ist – dann, glaube ich, wird es einfacher. In die Pflicht nehmen geht nur, wenn wir unser Bildungssystem so reorganisieren, dass wir einerseits die Grundfähigkeiten stärker vermitteln. Unsere Handwerker sagen, die Jugendlichen können nicht mehr richtig lesen, sie können nicht mehr richtig rechnen, sie können nicht mehr richtig schreiben. Es mangelt also auch an den Basis-Fähigkeiten. Andererseits müssen wir auch versuchen, in den MINT-Berufen beispielsweise die Ingenieure von morgen, den Bill Gates von morgen, auszubilden, um sozialen Aufstieg in der gesamten Breite wieder zu ermöglichen. Ich glaube, wenn wir die Debatte etwas weglenken vom Umverteilen, dann glaube ich, erhalten wir eine soziale Perspektive, die nachhaltiger ist als das, was derzeit existiert.
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AN: Also, ganz ohne Umverteilung geht es meines Erachtens
nicht. Ich würde Ihnen aber zustimmen, dass, sagen wir mal, der Sozialstaat, wie wir ihn aktuell haben, womöglich auch deshalb teilweise ineffektiv ist, weil er noch an einem Problem ansetzt, das anders formuliert war, als es sich jetzt darstellt. Das Wohlfahrtssystem, wie wir es kennen, ist eigentlich dafür gedacht, Ausnahmesituationen zu behandeln. Ausnahmesituationen im Hinblick darauf, dass die Menschen sich grundsätzlich durch eigene Arbeit reproduzieren können. Es tritt ein, wenn es da zu Ausnahmen kommt. Und wenn das nicht gelungen ist, dann kommt es natürlich zu einer Überforderung des Sozialstaats. Ich würde Ihnen vollkommen darin zustimmen, dass Bildung das Vehikel ist, über das sozialer Aufstieg möglich werden kann. Auch dazu gibt es eine Geschichte in der Bundesrepublik. Das soziale Aufstiegsjahrzehnt der 1970er-Jahre ist ja durchaus ein sehr erfolgreiches gewesen. SK: Ja, was etwa die Ausweitung der Mittel für Universitäten und
Gesamthochschulen betrifft … AN: Genau. Das war ja keineswegs nur ein Schub für die Volks-
wirtschaft, sondern auch ein Schub für Gruppen in der Gesellschaft, die diese Teilhabe vorher nicht hatten und die nun tatsächlich in der Lage waren, daraus etwas zu machen. Und das sage ich jetzt als jemand, der geistes- und sozialwissenschaftlich ausgebildet ist. Der Ausbau der Fachhochschulen hat vor allem im Bereich des Technischen und des Betriebswirtschaftlichen stattgefunden. Es sind nicht nur die Volluniversitäten gewesen, die da eine besondere Rolle gespielt haben, sondern der Ausbau
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im Fachhochschulbereich und in ähnlichen Institutionen, der es ermöglicht hat, dass aus manchen Familien die ersten Akademiker hervorgegangen sind. In der Forschung ist das ein Indikator dafür, wie sozialer Aufstieg funktioniert. Diesen sozialen Aufstieg durch Bildung, den gibt es im Moment individuell durchaus, aber wir sehen ihn viel zu wenig als strategisches Instrument zur Bewältigung neuer gesellschaftlicher Herausforderungen. Sie erwähnten das Handwerk. Das Handwerk hat ja interessanterweise in verschiedensten Branchen mit großen Personalproblemen zu kämpfen. Da ist die spannende Frage, ob das Bildungssystem daraufhin nicht auch, anders als das klassische dreigliedrige, eine viel stärkere interne Form von funktionaler Differenzierung hinkriegen muss, damit es unterschiedliche Wege in Karrieren, unterschiedliche Wege in erfolgreiche Berufsverläufe geben kann. Ob das nun zentral besser zu leisten ist oder föderal, darüber kann man sich in der Tat streiten. Ich muss gestehen, ich weiß es nicht genau. Ich merke nur, dass manche zentrale Perspektive für Konzeptbildung manchmal gar nicht so schlecht wäre, schon aus politisch-operativen Gründen. Solange eine bundesweite Bildungspolitik kaum möglich ist, werden sich Reformbemühungen der unterschiedlichen Bundesländer zum Teil neutralisieren, weil die Dinge ja am Ende kompatibel miteinander bleiben müssen. Aber darüber müsste man entsprechend streiten. Ich komme auf ein Thema vom Anfang zurück: Die Frage ist, was für eine Art von Bildung wir brauchen. Wie sollten die Leute ausgebildet werden für die neuen Technologien, die eine immer größere Rolle spielen werden?
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RR: Was ist Ihre Antwort, Herr Nassehi? AN: Meine Antwort ist – und das ist etwas, das wir im Bildungs-
bereich durchaus sehen –, dass man Dinge zusammenbringen muss, die bisweilen nicht zusammen gemacht werden. Also wenn ich mir angucke, in welchen Ingenieur-Studiengängen den Leuten auch etwas darüber beigebracht wird, für welche Gesellschaft sie ihre Ingenieurs-Leistungen erbringen, oder die Frage zu stellen (das ist in der Forschung ganz interessant zu sehen), ob die beste Maschine, die man als Maschinenbau-Student lernt, wirklich auch die beste für einen bestimmten Markt ist. Kann man so etwas eigentlich in Bildungsprozesse mit einbauen? Wichtig scheint mir auch, die Kulturbedeutung von digitalen Lösungen zu lernen. Ich glaube, dass bis heute die meisten nicht wissen, was digitale Wirtschaft eigentlich bedeutet und wie Wertschöpfung durch digitale Lösungen funktioniert. Es heißt ja nicht, dass das, was vorher per Fax verschickt wurde, jetzt per E-Mail verschickt wird, sondern es heißt, dass die Wertschöpfung selbst über Mustererkennung und Ähnliches passiert. Wenn man dies stärker in Bildungsprozesse mit einbaut, dann wäre Bildung selbst ein Entwicklungspfad, der ökonomisch, gesellschaftlich und auch im Hinblick auf sozialstaatliche Fragen eine ganz entscheidende Rolle spielen würde. Der Sozialstaat kann nur verteilen, was ökonomisch tatsächlich erwirtschaftet worden ist. Das hört sich an, wie ein Sonntags-Satz, aber der stimmt schlicht und ergreifend. SK: Gott sei Dank stimmt der. Manche würden schon verteilen,
bevor es überhaupt erwirtschaftet ist.
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AN: Eben. Das ist genau das Problem. Das kann man so lange ma-
chen, wie die vorhandenen Systeme Probleme lösen, die in dieser Form wahrscheinlich so gar nicht mehr existieren bzw. sich heute anders darstellen. Ich glaube, dass wir dafür Foren brauchen, in denen Leute aus unterschiedlichen Bereichen dazu beitragen können zu zeigen, dass wir wechselseitig voneinander abhängig sind. Ich glaube, Wissenschaft, Politik, Ökonomie, Bildungsbereich – wir alle sind stark voneinander abhängig. Ich fände es spannend zu sehen, wo eigentlich die Orte sind, an denen man diese gegenseitigen Abhängigkeiten konzeptionell austarieren kann. Das waren einmal die politischen Parteien, doch vielleicht sind sie das heute nicht mehr. Das waren auch vielleicht mal Stiftungen und Akademien, aber vielleicht muss man jetzt auch neue Orte erfinden, an denen so etwas möglich ist. Vielleicht sind es Podcasts, mal schauen! SK: Ich würde gerne noch auf einen anderen Bereich zu sprechen
kommen. Wenn Sie, Frau Reinhard, Herrn Nassehi und mich fragen: „Können wir eine Solaranlage aufs Dach bringen, um die Energiewende voranzutreiben?“, dann werden wir wortreich sagen, was wir alles nicht können. Und damit setze ich einen Fokus. Wir haben bei der Frage, welche Bildung wir für die Zukunft brauchen, ein Missverhältnis zwischen akademischer und nicht-akademischer Bildung. Und wir müssen, glaube ich, mehr akzeptieren, in welcher Bandbreite Bildung für die Lösung der Herausforderungen der Zukunft wertvoll ist. Die Energiewende oder die CO2-Neutralität der deutschen Wirtschaft werden wir nicht realisieren können, wenn wir nicht auch über handwerklich gebildete Menschen verfügen, die das, was sie
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tun, in den entsprechenden Kontext stellen können, die aber gleichzeitig auch die Dinger aufs Dach schrauben. Und Sie werden die soziale Frage des Wohnens nicht nur mit Architekten lösen können, sondern Sie brauchen dazu auch Menschen, die auf den Baustellen klimaeffiziente Nullenergie-Häuser auch im Mehrgeschoss-Wohnungsbau gestalten können. Und Sie brauchen auch eine gesellschaftliche Debatte darüber, dass wir beide Formen von Bildung – und dies im Übrigen auch geschlechterneutral, also klischeearme Berufswahl, mehr Frauen in MINT-Berufe – brauchen, um die gesellschaftlichen Aufstiegsmöglichkeiten, die gesellschaftlich nachhaltig erforderlichen Dinge voranzutreiben. Das gehört genauso dazu. Dies war jetzt der betont praxisorientierte Teil meines Beitrags. AN: Interessanterweise ist ja der Begriff, den wir dafür haben, ein
negativer: das „Nicht-Akademische“. Heute schimpfen alle über das dreigliedrige Schulsystem, das natürlich in der klassischen Form so nicht mehr funktioniert, aber in einer Zeit, in der eine entsprechende Wertigkeit auch der handwerklichen Tätigkeit in der Gesellschaft vorhanden war, hat es ja durchaus funktioniert. Die interessante Frage, auch politisch, wäre, wie man diese Wertigkeit wiederherstellen kann. Ganz abgesehen davon, dass vieles Handwerkliche inzwischen die Schwelle zwischen akademischer Reflexion oder theoretischem Lernen und praktischen Tätigkeiten längst überschritten hat. Auch das ist ein Bildungsthema. Meine These wäre tatsächlich nicht, dass jeder Zweite Soziologe oder Ähnliches werden soll. Ich würde sogar
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selbstkritisch sagen, dass wir Soziologen bisweilen Diskurse pflegen, die weit, weit weg von solchen Fragen sind, wie wir sie heute diskutiert haben. Das ist schade. RR: Aus meiner Sicht wäre auch eine Frage, wie wir in dieser Ge-
sellschaft künftig Privilegien, Macht und Erfolg bzw. wie wir Rechte und Pflichten neu definieren und verteilen wollen. Aber das wäre wohl ein Thema für ein weiteres Gespräch. Haben Sie denn am Ende dieses Gesprächs, Armin Nassehi, Steffen Kampeter, noch eine Frage an den jeweils anderen? AN: Ich würde gern meine Frage von vorhin wiederholen: Wo sind
die ganz konkreten Orte, wo z. B. ein sozialwissenschaftlicher Forscher und ein Vertreter der Arbeitgeberverbände oder bestimmter Arbeitgeber zusammenkommen und nicht nur gelehrt und freundlich miteinander diskutieren, sondern wo solche Gespräche Konsequenzen haben? Ich glaube schon, dass es ein großer Gewinn wäre, wenn Leute, die normalerweise nicht miteinander ins Gespräch kommen, dialogisch eingebunden würden in Lösungen, die wir jetzt brauchen. Meine Frage wäre also: Was könnte aus Ihrer Perspektive dieser Ort sein? SK: Und ich würde Herrn Nassehi, die Suche nach dem Ort auf-
greifend, gern fragen, was er hätte werden wollen, wenn er nicht Soziologe geworden wäre. Das ist ja auch die Frage danach, warum wir eigentlich an den Orten sind, an denen wir jetzt gerade sind – und wo wir gleichzeitig merken, dass andere Orte notwen-
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dig sind, um die Problemlösungskompetenz, die wir hier nicht im Dissens, sondern im Konsens beschrieben haben, auch zu steigern. Also: Wären wir anderswo noch besser?
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SPRACHE, EMOTIONEN UND MEDIEN IM WANDEL
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UTE FREVERT UND JULIA JÄKEL
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Wenn eine der renommiertesten Historikerinnen und eine
der einflussreichsten Top-Managerinnen und Aufsichtsrätinnen des Landes erstmals aufeinandertreffen, um über die großen Themen der Zeit zu diskutieren, könnte eine Verständigung schwierig werden – zu groß die Differenzen zwischen den jeweiligen Fächern, zu unterschiedlich die Perspektiven auf Mensch und Welt, könnte man vermuten. Doch wie Markus Gabriel, Richard David Precht und Armin Nassehi wirkt Ute Frevert auch außerakademisch, als öffentliche Intellektuelle, die mit ihren Sachbüchern und Beiträgen in zahlreichen Leitmedien das Zeitgeschehen kommentiert. Julia Jäkel wiederum ist nicht nur mächtige Medienfrau, sondern auch studierte Historikerin. Beim Dialog zwischen den beiden, der Ende August 2022 stattfindet, ist eine große Offenheit und eine authentische Wertschätzung der Positionen der jeweils anderen spürbar. Der Herbst naht, das Unbeschwertheit signalisierende schöne warme Wetter scheint von zahlreichen Ängsten verdunkelt: der Furcht vor
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einer neuen Covid-Welle, einem russischen Gaslieferstopp, einem entbehrungsreichen Winter und harten sozialen Kämpfen. Wieder sind es die (Sozialen) Medien, die bestimmte Stimmungen in der Bevölkerung einfangen und wie unter einem Brennglas vergrößern. Wären da nicht Experten aus den Geisteswissenschaften gefragt, die dazu beitragen, solche faktisch vorhandenen und vermeintlichen politisch aufgeheizten Stimmungslagen zu entschärfen und zu versachlichen? Die orientierende Begriffe ins (Medien-)Spiel bringen und Ursprung und Funktion politischer Narrative erklären? Aus Freverts Sicht zweifelsohne. Speziell Historiker mit ihrem „komplexen, multifaktoriellen Denken“ könnten Unternehmenslenker dazu inspirieren, gegenläufige, widersprüchliche Entwicklungen in ein Gesamtbild, eine Gesamtanalyse zu integrieren. Nach Jäkel wäre dies gerade dort wichtig, wo es darum geht, langfristig bedeutsame strategische Entscheidungen zu treffen. Paradigmatisch in dieser Hinsicht sind die Diskussionen um die starke wirtschaftliche Abhängigkeit Deutsch-
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lands von China, zu dessen Alleinherrscher Staatsoberhaupt Xi Jinping sich im Oktober 2022 erklärte. Wirtschaft, Gesellschaft und Politik sind längst nicht mehr voneinander zu trennen – alles ist jetzt politisch. Den autoritären Entwicklungen in China und Russland steht die westliche Demokratiemüdigkeit gegenüber. Kompromissbereitschaft, sachlicher Streit und verständigungsorientiertes Einanderzuhören sind rar. „Was ist jetzt gerade eine emotionale Reaktion auf die Dinge? Und worum geht es wirklich?“ Jäkel appelliert an die klassischen Medien, ihren Auftrag ernst zu nehmen, eine klare Sprache zu finden und Aufklärung im Sinne Kants zu betreiben – statt wie die Sozialen Medien historisch, politisch und kulturell irrelevante Episoden aufzubauschen, um so nur noch mehr Emotionalisierung und Polarisierung zu bewirken (und Quote zu machen). Die Digitalisierung hat den Wandel der Medien dramatisch beschleunigt. Seit Facebook-Gründer Mark Zuckerberg 2021 sein Unterneh-
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men in „Meta“ umbenannte, ist die neueste Medieninnovation in aller Munde: das kommende Metaversum. Ein virtueller Raum, in dem mutmaßlich nicht nur Videospiele und Online-Kommunikation konvergieren, sondern in dem wir auch arbeiten und Freizeit verbringen werden. Utopien sind seit Langem Gegenstand von Literatur- und Geschichtswissenschaften. Doch was, wenn eine imaginierte Zukunft Wirklichkeit wird? Wenn die Utopie ins Dystopische umschlägt? Als Wissenschaftlerin kann man die Dinge sachlich einordnen – als Mensch verliert man schnell die Distanz. „Sicher, kein einzelner Mensch kann sich seine Welt selbst gestalten“, so Ute Frevert. „Aber als Gesellschaft können und müssen wir das tun, auch und gerade in einer Welt der Medien.“ Auch so gesehen wäre es wünschenswert, dass die Reden über immer neue Normalitäten und Zeitenwenden einer neuen Nachdenklichkeit wichen.
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wir in unseren Breiten lange Zeit unter einer Art Glasglocke, sicher, wohlbehütet vor den Zeitläuften, den Stürmen der Geschichte. Das hat sich nun radikal geändert. Die Herausforderungen in Politik, Gesellschaft, Umwelt sind zahlreich. Und zahlreich sind die politischen Debatten darüber. Was glauben Sie, was können speziell die Geisteswissenschaften zu den öffentlichen Diskussionen beitragen? Ute Frevert: Zunächst einmal können wir feststellen, dass Geistes-
wissenschaftler:innen im öffentlichen Diskurs sehr präsent sind. Sie schreiben in den Printmedien, diskutieren in Talk-Shows und Podcasts. Da sind die Philosoph:innen, die zentrale Begriffe auseinandernehmen, die uns in den aktuellen Krisen stark beschäftigen – wie Gerechtigkeit, Identität oder Glück. Sie deklinieren diese Begriffe durch und versuchen, ihre Bedeutung zu schärfen.
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Da sind die Literaturwissenschaftler:innen, die das Verteidigungsministerium beraten, um Krisen möglichst frühzeitig diagnostizieren zu können. Und da sind die Historiker:innen. Die sind vor allem dort unterwegs, wo es darum geht, bestimmte geschichtspolitische Erzählungen und Legitimationen, die von Politikern wie etwa Wladimir Putin sehr gerne bemüht und in die Welt hinausposaunt werden, zu dekonstruieren und zu kritisieren. Historiker:innen überprüfen solche Narrative auf ihre politische Funktion, weisen auf ihre Unrichtigkeiten hin und teilen das der Öffentlichkeit mit. Julia Jäkel: Ich möchte hier noch einen Aspekt aus der Perspektive
der Wirtschaft ergänzen. Wir erinnern uns ja alle noch an den Bill-Clinton-Wahlkampf, als es hieß: „It’s the economy, stupid!“ Es war die Ökonomie, die über allem stand. Eigentlich hatte man bis vor Kurzem den Eindruck, dass nichts bedeutender ist als das Verstehen von wirtschaftlichen Gegebenheiten und Zusammenhängen. Aber wir merken ja heute auch, in welch komplexer Welt wir leben, in welchen Interdependenzen. Wir sehen, wie sich das individuelle Leben von Menschen verändert – etwa aufgrund neuer großer geostrategischer Themen, Migration und so weiter. Man erkennt die Beschränkung, ich möchte einmal sagen: Einschränkung, von Wirtschaftslenkern in ihrer Fähigkeit, sich konzentrieren zu können, und man versteht die Hoffnung oder den Glauben, dass man sich nur auf das unmittelbare Erzielen von guten Zahlen konzentrieren könne. Ich glaube, das ist und war immer zu kurz gesprungen, nur fällt
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es uns aktuell besonders auf. Das zumindest ist etwas Gutes in diesen komplizierten und bewegten Zeiten. UF: Darf ich Ihnen hier gleich einmal eine Frage stellen, Frau
Jäkel? Haben Sie den Eindruck, dass es in Ihrem Berufsfeld heute ein starkes Bedürfnis von Wirtschaftslenkerinnen und -lenkern gibt, sich durch Philosoph:innen, Literaturwissenschaftler:innen, Historiker:innen ein breiteres Denkfeld anbieten zu lassen? Ist man neugierig? JJ: Es gibt wahrscheinlich zwei Arten von Unternehmenslenkern.
Da sind die einen, die sagen: „Da verheddere ich mich nur in den unterschiedlichen Interessen meiner Stakeholder, es ist zu kompliziert, ich mache nur das, was ich kann. Oder: „Ich gerate nur auf Glatteis, wenn ich mich öffentlich äußere, mich zu stark exponiere.“ Diese ziehen sich zurück. Und es gibt die anderen, die, glaube ich, wirklich über den Tellerrand sehen, belesen sind, sich für Bereiche außerhalb des eigenen Wirkungskreises interessieren und wissen, dass Wirtschaft nur in Interaktion mit Gesellschaft funktioniert. Wirtschaft ist ja nie etwas Losgelöstes im Unternehmen, sondern ist in Wahrheit ein Interagieren. Und im Idealfall ist Wirtschaft ein konstruktiver Teil der Gesellschaft, der ihr viel Gutes bringt. Ich glaube, da gibt es schon eine ganze Menge von Leuten, die sich zunehmend für geisteswissenschaftliche Fragestellungen und Diskurse interessieren. Mir erscheint aber der Gedanke etwas zu romantisch, dass viele Wirtschaftslenker sich in einer Art Salon bewegen und sich permanent befeuern lassen von Inhalten aus der Welt der Philo-
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sophie, der Geisteswissenschaften. Doch einige wenige gibt es schon. Und ich will mal einen Schritt weitergehen: Ich glaube, dass heute Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter großer Unternehmen von ihren Firmenlenkern auch erwarten, dass sie eine Position in unserer Gesellschaft beziehen – dazu gibt es zahlreiche Studien, etwa von Edelman. Das muss nicht überall lautstark geschehen. Aber gerade junge Leute in Unternehmen suchen Orientierung. Sie orientieren sich auch an ihren Chefinnen und Chefs und wünschen sich, dass das komplexe, tiefgründige Persönlichkeiten sind. Davon bin ich fest überzeugt. UF: Aber liegt darin nicht auch eine Gefahr? Wenn ich mir vor-
stelle, ich arbeite als Praktikantin oder aufstrebende Managerin in einem großen Unternehmen, und dann habe ich es mit Führungspersönlichkeiten zu tun, die sich, wie Sie gesagt haben, möglichst nicht tagespolitisch engagieren, aber bei großen gesellschaftlichen Fragen doch klare Kante zeigen sollen. Wenn mir die Führung eine bestimmte Richtung vorgibt, habe ich dann die Möglichkeit, als kleines Rädchen im Betrieb meine Stimme zu erheben, eine möglicherweise andere Stimme? Oder muss ich dann wie im 19. Jahrhundert nach der Pfeife der Oberen tanzen? Habe ich damit noch den Denkraum, den ich gerne haben möchte? JJ: Um Gottes Willen, das meine ich gar nicht! Es geht mir nicht
um Unternehmenslenker, die das politische Denken vorgeben. Das ist nicht die Idee. Aber dass sich diese Entscheider ehrlich mit den komplexen Themen unserer Welt befassen – wie Nachhaltigkeit,
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Diversität, Bevölkerungsentwicklung, Auseinanderdriften von Arm und Reich – dass sie mir das Gefühl geben, dass sie ein Sensorium für diese Themen haben, finde ich wichtig. Aber natürlich ist es essenziell, dass Unternehmenslenker eben nicht vorgeben, in welche Richtung jetzt zu denken ist. Was ich sagen will, ist: Man darf es sich in diesen Zeiten nicht zu leicht machen und sich komplett zurückziehen, mit der Begründung, „Oh, es ist alles so kompliziert, und ich will keinen überrumpeln oder eine Meinung vorgeben.“ RR: Was den aktuell ja durchaus wünschenswerten verstärkten
Austausch zwischen Wirtschaft und Geisteswissenschaften betrifft: Haben wir es hier nicht mit zwei unterschiedlichen Zeitlichkeiten zu tun: auf der einen Seite das geduldige geisteswissenschaftliche Reflektieren, auf der anderen das ganz schnelle Entscheiden und Entscheiden-Müssen? Wenn Sie mir zustimmen, wie, glauben Sie, könnten diese beiden Zeitlichkeiten dann in der Praxis „kompatibel“ gemacht werden? JJ: Aus der Unternehmens- oder Wirtschaftsperspektive betrach-
tet, muss man viel im Hier und Jetzt entscheiden, das ist richtig. Manche Dinge sind absolut akut, da gilt es, spontane Entscheidungen zu treffen, aber viele Entscheidungen sind auch langfristig bedeutsam, sind strategisch und grundlegend und können das Unternehmen in schwieriges Fahrwasser bringen, wenn man sie auf falsche Weise trifft. Nehmen wir zum Beispiel die Diskussionen um Adidas in China: Es geht um die großen Probleme im chinesischen Markt, um die Einschränkung – freundlich formuliert –
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der Menschenrechte der Uiguren. In China selbst kommt es nicht gut an, wenn sich ein Unternehmen plötzlich politisch äußert. Gleichzeitig erwarten westliche Mitarbeiter und westliche Kunden von dem Unternehmen, klare Kante und Farbe zu bekennen. Das ist interkulturell kompliziert. Es ist wichtig, sich frühzeitig mit solch komplexen Sachverhalten zu beschäftigen und sich darüber Gedanken zu machen, was in einer globalisierten Welt alles auf einen zukommen kann. Und wie ich dann aus diesem Dilemma wieder herauskomme. UF: Auch die anderen beiden Themen, die Sie vorhin genannt
haben, Frau Jäkel, Nachhaltigkeit und Diversität, sind ja nicht neu. Über Diversität diskutiert man bereits seit 40, 50 Jahren – seit es die Neue Frauenbewegung gibt. Die ist irgendwann auch den Unternehmen auf die Füße gefallen. Viele haben sich frauenpolitisch neu aufgestellt und agieren heute anders als noch in den 1970erJahren. Von den „Grenzen des Wachstums“ redet man auch bereits seit einem halben Jahrhundert. Bestimmte Themen sind Dauerbrenner, und um die damit verbundenen Probleme zu lösen, braucht man nicht nur ökonomischen und technischen, sondern auch sozial- und geisteswissenschaftlichen Sachverstand. Wie wichtig der ist, haben wir nicht zuletzt bei der Pandemie-Bekämpfung der letzten Jahre gesehen. Und ich habe den Eindruck, dass die Politik – über die Wirtschaft kann ich wenig sagen – sich durchaus für historische Zusammenhänge und Lernprozesse interessiert, diesseits und jenseits kurz getakteter Entscheidungsnotwendigkeiten. Die Politik fragt sich durchaus: Wie sind wir eigentlich dahin gekommen, wo wir jetzt sind?
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JJ: Auch ich habe Geschichte studiert, aber mich natürlich lange
nicht so intensiv mit dem Fach beschäftigt wie Frau Frevert. Was mich geprägt hat, war meine Zeit im anglo-amerikanischen Kontext, insbesondere in Amerika. Ich hatte in Harvard einen Professor, der einen Kurs gegeben hat, der hieß „Uses of History for Decision Makers“. Da fallen, glaube ich, deutsche Geisteswissenschaftler direkt ins Koma vor Schreck, bei so einer anwendungsorientierten Form der Geschichtswissenschaft. Mich hat das insofern geprägt, als ich sah, dass sich mit dieser Form des Denkens für mich viele Welten abseits der klassischen Academia öffneten, Welten jenseits von Wissenschaft und Lehre. Denn diese Form des historischen Denkens hilft zu erkennen: Gibt es Strukturen in der Geschichte, die schon mal da waren? Gab es ein bestimmtes Problem schon einmal? Und beim Nachdenken darüber merke ich: Ja, vielleicht gab es etwas Ähnliches auch früher schon einmal. Dann können wir daraus lernen und müssen nicht wieder in die gleiche Falle tappen. Und, eigentlich noch wichtiger: Das historische Denken hilft mir, zu verstehen, was vielleicht ganz anders ist, was die heutige Lage von der Vergangenheit unterscheidet. Ich fand diesen für mich ungewöhnlich pragmatischen Zugang erfrischend. Mein erstes „How-to“-Buch, das ich mir in meinem Leben gekauft habe, war übrigens ein Buch mit dem Titel „Geisteswissenschaftler in der Wirtschaft“. Das fand ich schlau. Und ich finde es heute weiterhin wahnsinnig wichtig. Gerade in Zeiten, in denen die Künstliche Intelligenz, die Automatisierung, die Technologie insgesamt so bedeutend werden, kommt es umso mehr darauf an, dass Menschen in Unternehmen kreativer, in
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größeren Zusammenhängen und aus sehr verschiedenen Perspektiven denken können, das bedeutet, dass sie aus unterschiedlichen Disziplinen kommen. In Zukunft werden wir mehr von genau diesen Menschen brauchen. UF: In Yale, wo ich zwischen 2003 und 2007 deutsche Geschichte
unterrichtet habe, gab es auch so einen Kurs, über „Grand Strategy“ und internationale Beziehungen. „Aus der Geschichte lernen“ wurde da ganz konkret an bestimmten historischen Krisenplots durchgespielt – die Studierenden liebten das. Hierzulande tut man sich mit dieser angewandten Methode immer etwas schwer. Was wir unseren Studierenden aber auch beibringen, ist, in komplexen Szenarien zu denken. Gerade eine solche komplexe, problemorientierte Herangehensweise wird offenbar auch in Wirtschaftskreisen geschätzt. Ich erinnere mich an meine Zeit an der Universität Konstanz, als ein großes Chemieunternehmen an mich herantrat mit der Frage: „Können Sie uns gute Studierende kurz vor dem Abschluss empfehlen, damit wir sie für Trainee-Programme rekrutieren?“ Sie waren besonders an Historikerinnen und Historikern interessiert, weil sie ihnen zutrauten, eine große Zahl von Faktoren zusammenzudenken. Dieses komplexe, multifaktorielle Denken wird in anderen Wissenschaften oft vernachlässigt. Ich sage damit nichts gegen Philosophen … Aber offenbar hatten global agierende Unternehmen gute Erfahrungen mit Absolvent:innen der Geschichtswissenschaft gemacht. RR: Eindeutig: Wir brauchen nicht nur die Philosophie – wir brau-
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chen auch die Geschichte und die Geschichtswissenschaften, um uns selbst und unsere Gesellschaft zu verstehen, aber ich denke, auch um unsere Demokratie zu verstehen. Denn wie gut verstehen wir heute unsere westlichen Demokratien wirklich? Wie sehr „leben“ wir sie heute tatsächlich noch? Es ist viel die Rede von einer Demokratiemüdigkeit. Daneben erleben wir Bedrohungen durch die neuen autoritären Entwicklungen weltweit, Stichwort China. Frau Frevert, welche Rolle spielen bei diesen Entwicklungen aus ihrer Sicht Gefühle, Emotionen und Stimmungen? UF: Da fange ich doch gleich mal mit der Demokratiemüdigkeit
an. Dafür gibt es klare Anzeichen. Die Wahlbeteiligung geht zurück, das Meckern über „die“ Politik und „die“ Politiker wird lauter, am Stammtisch wie in den Sozialen Medien. Je mehr sich die Gesellschaft polarisiert, desto größer wird die Enttäuschung über politische Ergebnisse und Entscheidungen, die die eigenen Bedürfnisse nicht repräsentieren. Wie könnten sie auch? Demokratische Politik ist immer Kompromisspolitik, und Kompromisse stellen kaum jemanden zufrieden. Im Westen des Landes hat man sich in über 70 Jahren an diese Kompromissstruktur gewöhnt, im Osten ist man nach 30 Jahren noch weit davon entfernt. Hier breitet sich eine Stimmung radikaler Unzufriedenheit aus – aber nicht von allein. Radikale Parteien von rechts und zuweilen auch von links liefern die Stichworte einer politischen Rhetorik, die vorgibt, die wahre Volksmeinung zu repräsentieren. Und diese Rhetorik bestärkt Menschen darin, sich als Opfer zu fühlen. Die Gedemütigten schlagen zurück: mit dieser Denk- und Fühlfigur lässt sich
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Stimmung und Politik gegen „das System“ machen. Das erinnert dann doch stark an manche Phasen der Weimarer Republik. Aber es gibt in unserer Republik auch andere Gestimmtheiten und Gefühle. Denken wir einmal an die Tage nach dem 24. Februar 2022, als Hunderttausende auf die Straße gingen, um gegen den Überfall Russlands auf die Ukraine zu demonstrieren. Diesen Menschen war sonnenklar, was sie an der liberalen Demokratie haben und warum sie (und die Ukrainer:innen) nicht unter der russischen Autokratie leben wollen. Mittlerweile hat sich diese Stimmung allerdings schon wieder etwas verflüchtigt. Bei vielen Menschen hat sich Angst breitgemacht; dieses Gefühl wird jetzt von denjenigen geschürt, die wegen steigender Energiepreise zu Montagsdemonstrationen und Gelbwestenprotesten aufrufen. Der Historiker und Politikwissenschaftler Bernd Greiner nennt sie, mit einem treffenden Begriff, „Angstunternehmer“. Sie nutzen Ängste, die in der Bevölkerung vorhanden sind – die Angst vor Inflation, vor einem sinkenden Lebensstandard, vor Krieg –, stacheln sie an und präsentieren sich dann als Retter in der Not. Meist warten sie dabei mit ganz einfachen Lösungen auf à la „Machen wir doch endlich Nord Stream 2 auf“, „Beenden wir die Sanktionen gegen Russland“, „Was schert uns die Ukraine?“ Der Appell an Gefühle ist generell ein probates Mittel, um sich als politisch Handelnder oder Aktivist an die Spitze einer Bewegung zu setzen und diese Bewegung zu steuern. Gefühle sind vielfältig einsetzbar, und sie sind nicht per se schlecht oder gut. Sie sind eine Ressource, die wir alle handhaben, die wir aber möglichst selbstkritisch reflektieren sollten, damit wir sorgsam damit umgehen können. Und wir sollten denen gegenüber misstrauisch
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sein, die uns bestimmte Gefühle unter die Haut schieben wollen. Dazu gehört auch das Gefühl der Demokratiemüdigkeit. Denken wir lieber darüber nach, welche Gefühle wichtig und produktiv sind, wenn es darum geht, Demokratiefähigkeit neu einzuüben. RR: Nehmen wir zum Beispiel das Gemeinschaftsgefühl. Welche
demokratieförderlichen Aspekte sehen sie darin? UF: Die Geborgenheit in einer Gemeinschaft hat etwas Wohliges,
sie verleiht Sicherheit und Schutz. Wir fühlen uns super in unseren Echokammern und Bubbles und suchen uns Freunde, mit denen wir Meinungen, Präferenzen und Interessen teilen. Aber zu einer Demokratie gehört auch, anständig und zivilisiert mit Menschen umzugehen, die eine andere Meinung haben, die anders sind. Es geht darum, unterschiedliche Positionen auszuhalten und die eigenen so zu formulieren, dass sie dem Gegenüber als plausibel erscheinen können, selbst wenn er oder sie möglicherweise gute Argumente hat, sie nicht zu teilen. Mit diesen Argumenten müssen wir konstruktiv umgehen. Wir müssen einander zuhören. Man muss selbst artikulationsfähig sein, ohne den anderen in eine Ecke zu drängen, aus der er nicht wieder herauskommt. Für die emotionale Temperatur einer Demokratie ist es essenziell, das klassische Freund-Feind-Denken ad acta zu legen. Dabei spielen die Medien eine wichtige Rolle. RR: Ja, Frau Jäkel, was sind überhaupt „die Medien“, und welche
Aufgabe kommt ihnen in diesem Kontext zu? JJ: Über die Medien im Allgemeinen kann ich gar nicht sprechen.
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Ich kann nur über solche sprechen, die ihren Auftrag ernst nehmen, indem sie versuchen, profund zu recherchieren und den Dingen auf den Grund zu gehen. Ich will es mal ganz groß sagen – im Sinne der kantischen Aufklärung die Vernunft walten zu lassen und zu differenzieren: Was ist jetzt gerade eine emotionale Reaktion auf die Dinge? Und worum geht es wirklich? Da sind, glaube ich, Medien von größter Bedeutung. Durch die Sozialen Medien erhalten diejenigen, die am lautesten schreien und am aufgeregtesten sind, die größte Aufmerksamkeit. Diese Dinge bewegen sich nun gerade an den politischen Rändern und nehmen heute einen derart großen Raum ein, dass sie plötzlich auch Thema in den klassischen Medien werden. Und da müssen Medien besonders sorgfältig zusehen, dass es ihnen gelingt, weiterhin einer demokratischen Mitte ein Forum oder eine Plattform zu geben, mit der sie sich weiter identifizieren können, und dafür zu sorgen, dass Menschen Dinge besser verstehen – und nicht nur eine Meinung auf die andere trifft und man sich anschreit. Es ist eine ganz bedeutende Aufgabe von Medien, hier Aufklärung zu betreiben. Wenn wir auf die letzten Monate zurückblicken, was hatten wir für Debatten? Wie viel Aufregung gab es? Etwa Armin Laschets Lachen im Wahlkampf, die Plagiats-Arie um Annalena Baerbock oder jetzt gerade die Aufregung um ein Video der tanzenden finnischen Ministerpräsidentin. Und dem Bundeskanzler Olaf Scholz wird vorgeworfen, im Flieger keine Maske aufzuhaben. Wobei man dem Mann alles Mögliche vorwerfen kann, aber sicher nicht mangelnde Eigendisziplin. Aber solche und andere Dinge dominieren plötzlich die Öffentlichkeit. Wir neigen dazu, diesen
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Themen einen zu großen Raum zu geben. Und da müssen wir – ich sage „wir“ als eine Person, die nach wie vor viel beruflich mit Medien zu tun hat – uns regelmäßig zwicken: Schreiben wir über die richtigen Dinge? Schreiben wir über die großen Dinge? Über die strukturell bedeutsamen Dinge? Das erfordert Nachdenken und häufig auch Kenntnis der Geschichte. Ich habe das jetzt gerade wieder erlebt, bei einer Debatte um Henri Nannen, den Gründer des „Stern“. Meine Güte! Es ging um die wieder neu aufgewärmte Frage: War er ein Nazi? Hat er sich schuldig gemacht im Dritten Reich? Es wurde eine Zeit lang so debattiert, als sei das ein völlig neues Thema, noch nie dagewesen. Es gibt dazu aber ein ausführlich recherchiertes Buch, die ausführliche und kritische Biografie von Hermann Schreiber. Vor allem aber gibt es intensive Auseinandersetzungen von Nannen selbst in dieser Sache. Allerdings finde ich es auch richtig, dass wir Themen wieder neu einordnen und einschätzen. Denn jede neue Generation muss in der Lage sein, sich über eine historische Figur ihre Meinung zu bilden. Dabei wäre etwas weniger Aufregung und eine profundere historische Kenntnis der Faktenlage wichtig. Last, but not least: Wir leben in aufgeregten Zeiten, und diese Stimmungslage wird missbraucht. Das muss uns klar sein. Ich dachte neulich einmal wieder an die Fracking-Debatte. Man debattiert ja: Sollen wir wieder ins Fracking einsteigen, ja oder nein? Ich finde, darüber muss man trefflich streiten. Es gibt gute Argumente dafür und dagegen. Aber uns muss auch klar sein: Es gibt inzwischen staatliche Akteure, russische Propagandisten, die genau solche Themen wie Fracking ventilieren und in diesem Kontext Ängste befördern, weil es schlicht und ergreifend ein stra-
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tegisches Interesse des russischen Staates ist. In diesem Fall besteht es darin, weiter die Abhängigkeit von Gas zu befördern. Uns muss klar sein, dass es hier Interessen gibt, genauso bei der G5-Debatte. In England haben einige Menschen die G5-Masten abgesäbelt, weil auf Social Media die Vorstellung kursierte, dass G5 für Covid verantwortlich sei. Das klingt gruselig, aber auch solche Meldungen werden durch Akteure befördert, die ein Interesse daran haben, dass sich unsere gesellschaftlichen Debatten weiter polarisieren. Damit das klar ist: Das sind alles wichtige Debatten. Wir müssen eben nur aufmerksam sehen, dass hier durch den Einfluss der Sozialen Medien überall noch Pfeffer darauf gestreut werden wird. Umso wichtiger ist die Rolle der klassischen Medien wie auch der Wissenschaft, sich hier Gehör zu verschaffen und für Ruhe und Zeit zum Nachdenken zu sorgen. UF: Ich war neulich sehr beeindruckt von einem Gespräch, das ein
Historiker und ein Politikwissenschaftler in der ZEIT geführt haben. Beide hatten unterschiedliche Positionen, was den Umgang mit dem Krieg in der Ukraine betrifft. Nachdem sie ihre Meinungen ausgetauscht hatten und auf die Position des jeweils anderen eingegangen waren, bedankten sie sich am Schluss beieinander für den Ton der Debatte. Der war eben nicht aufgeregt, nicht polemisch, hat den anderen nicht abgekanzelt. Stattdessen haben sich die beiden Kontrahenten als Gesprächspartner ernst genommen und mit Respekt behandelt. Das ist in unseren erregten Zeiten tatsächlich selten – aber ein gutes Vorbild für einen demokratischen Diskurs.
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Zugleich widerspricht ein solcher zivilisierter Umgang mit gegensätzlichen Meinungen einer Medien-Logik, die gerne die diskursiven Pitbulls gegeneinander antreten lässt. Medien leben ja nicht zuletzt davon, dass Streit herrscht, dass sich zwei zanken und dabei Äußerungen fallen, die verletzend und kränkend sind und die man dann skandalisieren kann. Es geht darum, die richtige Balance hinzubekommen, also weder zu signalisieren „Wir lieben uns doch alle“, noch das Freund-Feind-Schema zu bedienen („Ich mach dich fertig“). Das ist eine Kunst, die nicht alle Medien beherrschen oder beherrschen wollen. RR: Eine kleine Nachfrage an dieser Stelle an Sie beide: Ist das alles
nicht auch eine Sache der Sprache? Handelt es sich nicht auch um eine große sprachliche Herausforderung, Menschen auch im Sinne der Aufklärung – die Sie, Frau Jäkel, vorhin genannt haben – nicht nur mit Worten und Themen zu berühren, die alle angehen, sondern sie gleichsam auch didaktisch ein wenig anzustupsen? Ist das nicht eine riesige Herausforderung, eine allen gemeinsame Sprache zu finden? Wenn ich an die junge Generation Z denke, die Generation der Digital Natives, die in einer Welt nicht mehr nur der Bilder, sondern vor allem der Bewegtbilder, der Videos aufwächst – und damit mit der Über-Emotionalisierung von Sachthemen: Wie können wir vor diesem Hintergrund eine gemeinsame Sprache finden? Oder wer könnte diese Sprache schaffen? JJ: Das ist jetzt eine ganz große Frage. Ich finde es gut, Frau Rein-
hard, dass Sie das Thema Sprache aufwerfen, denn ich glaube, viele unterschätzen die Kraft und die Bedeutung der Sprache. Sprache
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ist wichtig, um Menschen zum Nachdenken und Tun zu bewegen. Gerade im Bereich der Wirtschaft sehe ich aber, dass sich viele hinter einer sehr komplexen, verklausulierten Sprache verstecken, einem „Fachsprech“, wenn sie bestimmte Sachverhalte beschreiben, weil sie sich nicht trauen, die Dinge klar auszusprechen. Ich glaube, dass die Leute das nicht wollen. Menschen wollen Klarheit. Klare Worte. Verständnisvolles Reden. Das sehen wir gerade bei Wirtschaftsminister Robert Habeck: Wenn man gut mit Sprache umgeht, wenn man auch Ängste anspricht und sich in die Menschen hineinversetzt und trotzdem die nötige Souveränität hat und in der Lage ist, aufzuzeigen, wo man hinwill, dann hilft das einfach enorm weiter. Das war nun ein kleiner Exkurs. Ich übergebe an Frau Frevert! UF: Die denkt gerade noch nach … Eine gemeinsame Sprache
kann man nicht verordnen, dazu ist unsere Gesellschaft zu plural und divers. Worte, Begriffe bedeuten Unterschiedliches. Jede soziale Gruppe hat ihren eigenen Sprech-Code (manchmal auch einen eigenen Fühl-Code), der außerhalb der Gruppe unverständlich ist. Da hilft nur, sich immer wieder um Übersetzungen der eigenen Sprechformen zu bemühen – und auch bereit dazu zu sein. Wer in die Öffentlichkeit hineinwirken will, wer über seine eigene Bubble hinaus Resonanz haben möchte, muss eine möglichst klare, jargonfreie, aber auch nuancierte Sprache sprechen. Er oder sie muss wissen, was Begriffe bedeuten und welche man besser vermeidet, weil sie historisch oder politisch oder kulturell „kontaminiert“ sind. Ich bin jedes Mal sehr unangenehm berührt, wenn ich das mittlerweile wieder häufig benutzte Wort „ausmerzen“ in der
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öffentlichen Debatte höre oder in sozialwissenschaftlichen Fachpublikationen lese. Man kann den Standpunkt vertreten, der Begriff gehe auf die biologische Forschung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zurück. Aber es ist eben auch ein Begriff, der in der politischen Sprache extrem besetzt ist durch die rassistische Ausmerz-Rhetorik und Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus. Deshalb sollten wir ihn heute nicht mehr verwenden, auch wenn es sich nur darum handelt, „Fehler auszumerzen“. JJ: Darf ich etwas ergänzen? Im Kontext des Anschlags auf Sal-
man Rushdie haben viele Medien – darunter die Tagesschau und der Deutschlandfunk – den Begriff der „Fatwa“ unübersetzt übernommen. Im Deutschen ist eine Fatwa im Kern ein Aufruf zum Mord. Da wird bei der Verwendung des arabischen Wortes verborgen, worum es wirklich geht. Ich hätte mir hier mehr Deutlichkeit gewünscht. Das ist ein weiteres Beispiel für einen Bereich, wo wir sehr sensibel sein müssen. RR: Ich möchte hier noch einen ganz anderen Begriff ins Spiel
bringen, einen Begriff, der seit einiger Zeit große Karriere macht: das „Metaversum“. Was ist „Metaversum“ für Sie? Ist es eine Realität, eine Utopie, eine Dystopie, ein Marketing-Gag? JJ: Ehrlich gesagt, würde ich die Frage gern in zwei Jahren noch
einmal neu beantworten. Was ich zum jetzigen Zeitpunkt sagen kann, ist: Wir müssen das enorm ernst nehmen, wenn so große Unternehmen wie Facebook – oder Meta, wie sich der Konzern jetzt nennt – wirklich alles auf diese Karte setzen. Dies auch man-
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gels Alternativen, weil die Idee „Ich kopiere meine Wettbewerber und mache mich dadurch regelmäßig besser“ nicht mehr funktioniert. Das sieht man aktuell bei Facebook beziehungsweise bei Instagram (das wie Facebook zu Meta gehört), das von TikTok in die Zange genommen wird und sich Instagram daher immer mehr angleicht. Irgendwann sind die großen Konzerne an einer Grenze angekommen, da brauchen sie eine neue Geschichte. Aber ob’s klappt oder nicht, wird sich zeigen. Insofern: Ich befürchte, man muss es ernst nehmen, aber für mich persönlich ist die suggerierte Attraktivität des Metaversums in ganz weiter Ferne. RR: Frau Frevert, erlauben Sie mir an dieser Stelle eine etwas skur-
rile Frage: Könnte das Metaversum als eine noch nicht darstellbare Zukunft je Gegenstand der Geschichtswissenschaften sein? UF: Ja, denn die Geschichtswissenschaft beschäftigt sich auch mit
imaginierten Zukünften. Utopische Romane gibt es seit dem 16. Jahrhundert. Die sind nicht nur ein Thema für Literaturwissenschaftler:innen, sondern auch für Historiker:innen, die aus ihnen viel über die Vorstellungen, Hoffnungen, Wünsche und Ängste früherer Gesellschaften erfahren. Wie Menschen sich ihre Zukunft vorstellen, sagt einiges darüber aus, wie sie ihre Gegenwart erleben. Was das „Metaversum“ genau ist oder sein soll, kann ich mir persönlich noch nicht recht vorstellen. Für meine Kinder und Enkelkinder aber wird das sicherlich ein Thema sein. Die zentrale Frage lautet: Wird das Metaversum ihr Leben nur begleiten? Oder wird es dieses Leben sehr stark prägen? Die Frage wird sich
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erst im Nachhinein beantworten lassen, wie bei allen Medieninnovationen, von der Keilschrift über den Buchdruck bis zum Internet. In jedem einzelnen Fall gab es Fürsprecher und Warner. Das Metaversum wird neue Freiheiten ermöglichen, aber auch negative Effekte haben. Man sollte versuchen, den Prozess von Anfang an mitzugestalten, ihn nicht nur Mark Zuckerberg zu überlassen, der sich so etwas ausdenkt und über uns als willige Nutzer:innen stülpt. Dann wären wir nichts anderes als die Ratten in Hans Neuenfels’ Bayreuther Lohengrin-Inszenierung von 2010. Wo bliebe da das aufklärerische Konzept menschlicher Autonomie? Sicher, kein einzelner Mensch kann sich seine Welt selbst gestalten. Aber als Gesellschaft können und müssen wir das tun, auch und gerade in einer Welt der Medien. RR: Gibt es – gegen Ende dieses Dialogs – etwas, was Sie einander
fragen möchten, Frau Jäkel, Frau Frevert? JJ: Ich habe vor allem eine Bitte an Sie als Wissenschaftlerin, Frau
Frevert. Wenn ich Sie jetzt in diesem Gespräch erlebe, wünsche ich mir wirklich, dass Wissenschaft in Deutschland im öffentlichen Raum noch präsenter ist. Ich wünsche mir noch mehr Lust von Wissenschaft, die Dinge ein bisschen einfacher, kürzer darzustellen, sodass wir alle noch mehr verstehen. Ich empfinde die deutsche Wissenschaft manchmal als sehr in sich, in die eigene Community zurückgezogen. Das habe ich während meiner Zeit im angloamerikanischen Raum ein bisschen anders erlebt. Ich wünsche mir mehr Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wie
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Sie, Frau Frevert; Sie sind ja auch jenseits der akademischen Welt sehr aktiv. Ich will einfach mehr davon. Ich finde das so wertvoll. Und ich finde es auch wichtig, Menschen Lust zu machen, sich wieder intensiv mit Geschichte, Philosophie, Soziologie, Psychologie zu beschäftigen, und gerade auch mit Geschichte. Das würde ich mir wünschen. UF: Das Geschichtsstudium sieht ja heute ganz anders aus als zu
meiner oder Ihrer Zeit als Studentin. Ich habe in der Schule noch gelernt, dass große Männer Geschichte machen. Heute bekommen Studierende einen bunten Strauß geschichtswissenschaftlicher Ansätze, Perspektiven und Interpretationen in die Hand gedrückt. Das macht das Studium nicht unbedingt einfacher, aber vielfältiger. Es fordert zum Selbstdenken heraus. Wer sich in öffentliche Debatten hineinbegibt, bekommt Aufmerksamkeit und Prominenz. Aber er oder sie läuft auch Gefahr, bewusst missverstanden zu werden. Wenn man in und zu den Medien spricht, muss man sich kurz fassen, prägnante Aussagen treffen; das beliebte „Sowohl als auch“ gerät da oft ins Hintertreffen. Damit wächst die Gefahr, irgendwo anzuecken. Diese Gefahr ist in den derzeitigen, aktivistisch aufgeheizten Identitätskonflikten ziemlich groß und schreckt manche ab, sich darin einzumischen. Sie schreckt vor allem Frauen ab. Geschichte ist heute zwar nicht mehr nur eine reine Männer-Wissenschaft wie in den 70er-Jahren. Trotzdem melden sich in der Öffentlichkeit vor allem männliche Kollegen zu Wort, denen mediale Shitstorms offenbar weniger ausmachen. Hier sind die Medien gefordert. Sie sollten nicht immer die gleichen altbekannten Männer als Kommentatoren und
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Interpreten anfragen, sondern auch mal auf jüngere und weibliche Kollegen zugehen. JJ: Ich möchte noch einmal kurz auf einen anderen Punkt zurück-
kommen. Frau Frevert, Sie sagten, dass es gerade für Wissenschaftler schwierig sei, manchmal etwas knapper und dadurch vielleicht ein bisschen ungenauer zu formulieren, weil sich dann irgendeine Community darüber aufrege. Etwas Analoges sehe ich auch in den Medien. Ich habe am Wochenende einen interessanten Text von Carolin Emcke gelesen, die den vorhin schon erwähnten Salman Rushdie zitiert. Sie schreibt: „Wenn wir kein Vertrauen in unsere Freiheit haben, dann sind wir nicht frei.“ Wir alle, Sie als Wissenschaftlerin, die sich äußert, wie ich aus dem Bereich der Medienschaffenden, haben große Freiheiten in Deutschland. Wir können sagen, was wir denken. Was uns aber manchmal beschränkt, ist eine Angst vor Erregung, vor Shitstorms, vor zu viel Aufregung; eine Angst, die ich auch von mir selbst kenne. Das ist die viel größere Schere, die wir im Moment im Kopf haben. Ich möchte deshalb uns alle ermuntern, den Freiraum, den wir haben, zu nutzen und das Vertrauen in unsere Freiheit einund auszuüben. Das finde ich wichtig. In diesem Sinne wünsche ich mir, dass es auch die Wissenschaft öfter wagt, frei und offen ihre Stimme zu erheben, auch wenn sie vielleicht dabei einmal übers Ziel hinausschießt. Dann muss sie sich wieder korrigieren. Lieber frei reden und auch mal übers Ziel hinausschießen, als sich ins Schneckenhaus zurückziehen. Das gilt für Wissenschaft, und das gilt für Journalismus genauso. Deshalb müssen wir darauf aufmerksam machen, dass es sich bei öffentlichen Auseinanderset-
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zungen eben häufig um Strömungen handelt, die es sich sehr leicht machen, die einfach oberflächlich und sehr schnell mit ihrem Urteil sind, ohne profunde Kenntnisse der Dinge zu besitzen. Ich glaube, Medien und Wissenschaft müssen daran arbeiten, mehr Ruhe und Gelassenheit und Nachdenken in den öffentlichen Diskurs hineinzubringen. RR: Das ist ein schönes Schlusswort. Ich danke Ihnen, Frau Frevert,
Frau Jäkel, für diesen konzentrierten, engagierten Dialog.
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ANHANG
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LEBENSLÄUFE
Markus Gabriel (*1980) stu-
dierte in Bonn, Heidelberg, Lissabon und New York und wurde mit nur 29 Jahren zum jüngsten Philosophieprofessor Deutschlands berufen. Seit 2009 hat er den Lehrstuhl für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn inne, wo er zudem Direktor des Internationalen Zentrums für Philosophie ist. Zuletzt wurde er zum Academic Director von The New Institute in Hamburg ernannt. Zusätzlich ist er als Direktor des interdisziplinären Center for Science and Thought, als regelmäßiger Gastprofessor an der Sorbonne (Paris 1) sowie an der New School for Social Research für Philosophy and the New Humanities in New York City und mit zahlreichen weiteren Gastprofessuren in Brasilien, Dänemark, Frankreich, Italien, Japan, Portugal und den USA einer der gefragtesten Philosophen der heutigen Zeit. Gabriels Anliegen ist es, Philosophie für alle verständlich zu
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machen und die Welt neu zu denken. Seine Crashkurse und Ausführungen regen zum Nach- und Umdenken an und sind zugleich realitätsnah; komplexe Sachverhalte erklärt er anschaulich und verständlich. Darüber hinaus eröffnet Gabriel Einblicke und Verständnis für die Wirtschaftswelt. Er bietet zukunftsorientierte Ethik-Beratung für Unternehmen an, die diese befähigen, ethisch zu argumentieren und ethische Prinzipien für nachhaltige Unternehmensstrategien anzuwenden. Sein Ziel sind „ethics in and by design“: die Anwendung von Ethik als Kooperation und somit die Ablösung des Modells, Unternehmensentscheidungen post hoc zu rechtfertigen. Der SPIEGEL-Bestseller-Autor kann zu Recht als einer der weltweit bekanntesten Vertreter eines Neuen Realismus in der Philosophie bezeichnet werden.
Alexander Doll (*1970) ist ein
deutscher Manager, Investor, Aufsichtsrat und Berater, der eng an der Schnittstelle zwischen Wirtschaft und Politik arbeitet. Er studierte zunächst Biologie und Philosophie in Berlin, bevor er sein Studium der Betriebswirtschaftslehre in Frankfurt am Main aufnahm und dieses
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ANHANG
anschließend zwei Jahre an der Goizueta Business School der Emory University in Atlanta, Georgia, fortführte und 1998 mit einem MBA abschloss. Doll arbeitete anschließend für verschiedene Banken wie Lazard und UBS in New York, London und Frankfurt. 2012 wurde er zum CEO von Barclays Deutschland ernannt. Seit 2017 Vorstandsmitglied der Deutschen Bahn, war der Manager zunächst zuständig für Güterverkehr und Logistik, bevor er auch das Finanzressort von Richard Lutz übernahm. Aufgrund strategischer Differenzen über die weitere Entwicklung der Bahn verließ er das Unternehmen und begann ab 2020 eine neue berufliche Orientierung. Heute agiert Doll als Investor bei Start-ups mit einem Fokus auf Technologie, berät Unternehmen, Familien und Private Equity, agiert als multipler Aufsichts- und Beirat für Unternehmen, Politik und Verbände. Dazu kommen Mitgliedschaften in verschiedenen Organisationen wie den Baden-Badener Unternehmergesprächen, dem Deutschen Aktieninstitut e. V., dem Stiftungsrat der Frankfurt School of Finance and Management und dem Kuratorium der Stiftung Deutsche Sporthilfe. Durch seine vielfältige Ausbildungs- und Berufserfahrung legt Doll Wert auf eine ethische und zukunftsorientierte Unternehmensführung unter Berücksichtigung entsprechender Lebenszyklen in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik.
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LEBENSLÄUFE
Richard David Precht (*1964)
ist Deutschlands mit Abstand bekanntester zeitgenössischer öffentlicher Denker. Er studierte Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte in Köln und promovierte dort 1994. Er ist Honorarprofessor in Lüneburg und Berlin. Als public philosopher prägt er seit fünfzehn Jahren die Debatten in Deutschland. Seine Philosophiesendung Precht ist seit zehn Jahren das einzige Format zum Thema Philosophie im Hauptprogramm des öffentlich-rechtlichen Fernsehens in Deutschland. Er verfasste 20 Bücher, davon 16 zu philosophischen Themen, mit einer Gesamtauflage von mehreren Millionen und Übersetzungen in über 40 Sprachen. Seine Debattenbeiträge zu Themen wie Digitalisierung, Migration, Gendern, Bildung, der Zukunft der Arbeit oder zur Tierethik werden im deutschsprachigen Raum breit und kontrovers diskutiert. Seit 2021 macht er mit dem Moderator Markus Lanz zudem den erfolgreichsten anspruchsvollen Wort-Podcast in deutscher Sprache.
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Joe Kaeser (*1957) ist Auf-
sichtsratsvorsitzender
von
Siemens Energy und Daimler Truck. Von 2013 bis 2021 war er Vorstandschef von Siemens. Er hat die Rolle des „politischen CEO“ in Deutschland maßgeblich geprägt, weil er sich bis heute engagiert und pointiert in den öffentlichen Diskurs einschaltet. So positioniert er sich gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus und setzt sich für Toleranz und Fairness und eine offene Gesellschaft ein. Kaeser fordert den Aufbau einer „sozial-ökologischen Marktwirtschaft“ als Weiterentwicklung der sozialen Marktwirtschaft. Er ist Mitglied des Aufsichtsrats der Linde plc, im Board of Trustees des World Economic Forum und Vorsitzender des Advisory Council der Münchner Sicherheitskonferenz. Kaeser war mehr als 40 Jahre beim Weltkonzern Siemens tätig. Nach seinem Studium der Betriebswirtschaft (FH) in Regensburg begann er 1980 im Bereich Bauelemente. Nach verschiedenen Stationen, darunter in Asien und Amerika, wurde Kaeser 2004 Strategiechef, 2006 zog er als CFO in den Siemens-Vorstand ein. 2013 übernahm er den Vorstandsvorsitz, den er bis 2021 innehatte. In dieser Zeit brachte er Siemens zurück in die Erfolgsspur und führte die
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größte Transformation in der 175-jährigen Firmengeschichte durch. Um die Anpassungsfähigkeit der einzelnen Geschäfte zu erhöhen, sie stärker zu fokussieren und Wert für alle Stakeholder zu schaffen, teilte er den Mischkonzern in drei eigenständige Unternehmen: Siemens Healthineers AG, Siemens AG und Siemens Energy AG. Sie alle sind im DAX 40 notiert. Kaeser ist der Überzeugung, dass Unternehmen zum Wohl der Gesellschaft beitragen müssen, daraus zögen sie ihre Existenzberechtigung. Sein Mantra: „The business of business is to serve society.“ Kaeser, der in Arnbruck im Bayerischen Wald geboren wurde und noch heute regelmäßig Zeit in seiner Heimat verbringt, beschreibt sich auf Social Media so: „Großvater, Aufsichtsratsvorsitzender, Berater, Weltbürger. Leidenschaftlich bei der Transformation von Unternehmen, damit diese der Gesellschaft dienen. Anhänger eines inklusiven Kapitalismus“.
Armin Nassehi (*1960), So-
ziologieprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Herausgeber des Kursbuch, ist einer der wichtigsten public intellectuals Deutschlands. Als Sohn iranisch-schwäbischer El-
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tern wuchs Nassehi sowohl in Deutschland als auch im Iran auf und studierte in Hagen und Münster Erziehungswissenschaften, Philosophie und Soziologie, wo er 1992 promoviert wurde und zwei Jahre später habilitierte. 1998 wechselte er nach München an den Lehrstuhl I für Soziologie. Nassehi erhielt Preise wie den IDIZEM-Dialogpreis 2012, den Preis für Herausragende Leistungen auf dem Gebiet der öffentlichen Wirksamkeit der Soziologie 2018 und den Schader-Preis 2021. Er sitzt im Expertenrat „Corona“ der nordrhein-westfälischen Landesregierung, ist seit 2020 Beirat des Ethikverbandes der Deutschen Wirtschaft und seit 2021 stellvertretender Vorsitzende des Bayerischen Ethikrates. 2020 wurde er außerdem als Mitglied in die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina in der Sektion Kulturwissenschaften aufgenommen. Der Soziologe ist Autor zahlreicher Bücher, u. a. Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft und Das große Nein. Eigendynamik und Tragik des gesellschaftlichen Protests. In der kursbuch.edition wurde vor Kurzem die aktualisierte Neuausgabe von Die letzte Stunde der Wahrheit. Kritik der komplexitätsvergessenen Vernunft veröffentlicht. Neben dem Kursbuch ist Nassehi Herausgeber der soziologischen Fachzeitschrift Soziale Welt und schreibt u.a. für Die ZEIT, die Süddeutsche Zeitung oder die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Zudem war er auf BR-alpha in 13 Folgen zum Thema „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“ zu sehen und veranstaltete 2013 die 1. Münchner Theoriegespräche.
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LEBENSLÄUFE
Steffen Kampeter (*1963) ist
ein deutscher Politiker und war von 1990 bis 2016 Mitglied des Deutschen Bundestages, von 2009 bis 2015 parlamentarischer Staatssekretär im Bundesfinanzministerium beim Bundesminister der Finanzen. Nach seinem Eintritt in die CDU 1981 und seinem Studium der Volkswirtschaftslehre in Münster folgten Anfang der 1990er-Jahre die ersten politischen Ämter, zunächst in Ostwestfalen-Lippe, bald auf Landesebene. Es folgten ab 1999 das Amt des Obmannes der CDU/CSU-Fraktion im Haushaltsausschuss und von 2005 bis 2009 das Amt als Haushaltspolitischer Sprecher der CDU/CSUFraktion. Von 2012 bis 2016 übernahm Kampeter den Bezirksvorsitz der CDU Ostwestfalen-Lippe und den stellvertretenden Landesvorsitz der CDU. Seit Juli 2016 ist er Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Kampeter ist Befürworter einer wachstumsorientierten Haushalts- und Finanzpolitik und Gegner einer Lösung der Schuldenkrise durch weitere Schulden – v. a. im Hinblick auf die zukünftigen Generationen. Vor und während seiner Zeit als Politiker war Kampeter wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Verkehrswissenschaft der Universität Münster, Angestellter bei der Preussag AG sowie Mitglied im Aufsichtsrat der Deutschen Bahn
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AG und der Deutschen Bahn Mobility Logistics AG. Er wurde darüber hinaus 2010 in den Stiftungsrat der Kulturstiftung und in das Kuratorium der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU) des Bundes gewählt, war stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der Initiative Musik gGmbH sowie Beiratsvorsitzender der Kulturakademie Tarabya. Kampeter war Mitglied im Kuratorium der Bibliotheca Hertziana-Max-Planck-Institut für Kunstgeschichte in Rom. Er ist Schatzmeister des Deutschen Freundeskreises Yad Vashem e. V. und seit 2018 Mitglied des ZDF-Fernsehrats.
Ute Frevert (*1954) ist seit
2008 Direktorin am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, wo sie den Forschungsbereich „Geschichte der Gefühle“ leitet. Die Historikerin lehrte zuvor in Yale und hatte Lehrstühle in Bielefeld, Konstanz sowie an der Freien Universität Berlin inne. Dazu kamen Gastprofessuren in Jerusalem, New Hampshire, Wien und Paris. Ihre Publikationen zur Sozial, Kultur- und Politikgeschichte, zur Emotionsgeschichte und zur Geschlechtergeschichte wurden in zahlreichen Sprachen veröffentlicht. 2020 erhielt sie dafür den Sigmund-Freud-Preis für wis-
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senschaftliche Prosa. Auf Deutsch erschienen zuletzt Gefühle in der Geschichte, Mächtige Gefühle. Von A wie Angst bis Z wie Zuneigung. Deutsche Geschichte seit 1900 und Die Politik der Demütigung. Schauplätze von Macht und Ohnmacht. Ute Frevert ist Mitglied im Präsidium der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina und im Rat der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften sowie Mitglied der Academia Europaea und Corresponding Fellow der British Academy. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft zeichnete sie 1998 mit dem renommierten Leibniz-Preis aus, die finnische Universität Tampere verlieh ihr 2018 die Ehrendoktorwürde. 2016 wurde sie mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland Erster Klasse geehrt, da sie „in herausgehobener Weise und im europäischen und internationalen Kontext“ über ihre wissenschaftliche Tätigkeit hinaus wirkt. 2020 folgte der Ernst-Hellmut-Vits-Preis.
Julia Jäkel (*1971) war von
2013 bis 2021 CEO des Verlags Gruner + Jahr, eines der führenden
Verlagshäuser
Europas, und ist heute als Aufsichtsrätin und Beirätin aktiv. Sie ist Mitglied im Aufsichtsrat der Holtzbrinck Publishing Group, Non
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Executive Director der Adevinta ASA, Mitglied im European Supervisory Board Google Cloud, Aufsichtsrätin der Hamburger Elbphilharmonie, der Deutschen Presse-Agentur, des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf und Mitglied des Kuratoriums der DFL-Stiftung (Bundesliga). Nach dem Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre in Heidelberg, Harvard und Cambridge begann sie ihre berufliche Laufbahn 1997 im Bertelsmann Entrepreneurs Program, das sie ein Jahr später zu Gruner + Jahr führte. Nach mehreren Stationen u. a. im Gründungsteam der Financial Times Deutschland wurde Jäkel 2012 in den Vorstand des Verlagshauses Gruner + Jahr berufen, 2013 wurde sie dessen CEO. Unter ihrer Führung wurde Gruner + Jahr umgebaut und grundlegend transformiert, insbesondere durch den Ausbau digitaler Angebote, die im Jahr 2020 die Hälfte des Umsatzes erbrachten. Jäkel war seit 2013 Mitglied im Group Management Committee von Bertelsmann und seit ihrer Gründung Vorsitzende der Bertelsmann Content Alliance, die die Inhaltegeschäfte des Konzerns in Deutschland koordiniert. Für ihr unternehmerisches und publizistisches Engagement wurde sie mehrfach ausgezeichnet, etwa 2016 als Medienmanagerin des Jahres (Kress), 2017 als Medienfrau des Jahres (Horizont) und 2018 als Media-Persönlichkeit des Jahres (W&V). Die ZEIT bezeichnete Jäkel als „eine der mächtigsten Managerinnen in Deutschland.“
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LEBENSLÄUFE
Rebekka Reinhard
(*1972)
studierte in München, Venedig und Berlin und promovierte 2001 an der Freien Universität Berlin über amerikanische und französische Gegenwartsphilosophie (summa cum laude). Die freie Philosophin ist seit 2007 als Speakerin für Unternehmen unterschiedlichster Branchen zu den Themen Führung, Digitalisierung, Ethik und Women Power/Diversity tätig. Bis 2013 führte sie zudem acht Jahre lang im Ehrenamt wöchentliche philosophische Einzelgespräche mit stationären Patienten des Klinikums für Psychiatrie und Psychotherapie der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie mit stationären Patienten der Onkologie. Sie engagiert sich mit philosophischen Workshops für gemeinnützige Organisationen wie „Dein München gGmbH“, um Bildungsmotivation und -chancen benachteiligter Jugendlicher zu unterstützen. Von 2019 bis Ende 2022 war Reinhard stellvertretende Chefredakteurin der Philosophie-Zeitschrift Hohe Luft. Von 2020 bis Ende 2022 konzipierte und hostete sie den Sachbuch-Podcast Was sagen Sie dazu? der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, der sich in dieser Zeit mit Gästen wie Mai-Thi Nguyen-Kim, Dan Diner, Hubert Wolf und Harald Welzer als reichweitenstärkster deutscher Sachbuch-Podcast etablierte. Reinhard ist Autorin zahlreicher
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Sachbücher, u. a. Die Sinn-Diät (2009), Odysseus oder die Kunst des Irrens (2009), Kleine Philosophie der Macht (2015) und Wach denken. Für einen zeitgemäßen Vernunftgebrauch (2020). Zuletzt veröffentlichte sie Die Zentrale der Zuständigkeiten. 20 Überlebensstrategien für Frauen zwischen Wollen, Sollen und Müssen (2022).
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LITERATUR
PUBLIKATIONEN (PRINT UND ONLINE) DER PROTAGONISTINNEN UND PROTAGONISTEN Frevert, Ute. Die Politik der Demütigung. Schauplätze von Macht und Ohnmacht. Fischer, 2017. Frevert, Ute. Mächtige Gefühle. Von A wie Angst bis Z wie Zuneigung. Fischer, 2020. Frevert, Ute. Gefühle in der Geschichte. Vandenhoeck und Ruprecht, 2021. Gabriel, Markus. Warum es die Welt nicht gibt. Ullstein, 2013. Gabriel, Markus. Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten. Universale Werte für das 21. Jahrhundert. Suhrkamp, 2020. Gabriel, Markus. Der Sinn des Denkens. Ullstein, 2020. Jäkel, Julia. „Stoppt Elon Musk“, vom 7. November 2022 https://www.sueddeutsche.de/kultur/elon-musk-twitter1.5688349?reduced=true (Zugriff: November 2022) Jäkel, Julia und Tom Buhrow, „Wie saniert man ARD und ZDF?“, vom 5. Oktober 2022, https://www.zeit.de/2022/41/oeffentlich-rechtlicher-rundfunk-tombuhrow-julia-jaekel (Zugriff: November 2022) Kaeser, Joe. „Wenn ein Wert seinen Wert für die Gesellschaft verloren hat, hat er seine Bestimmung verfehlt“, Interview von Rebekka Reinhard und Thomas Vašek, in: Hohe Luft kompakt 1/ 2022, S. 38–45. Nassehi, Armin. Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft. C. H. Beck, 2019. Nassehi, Armin. Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft. C. H. Beck, 2021. Nassehi, Armin. Das große Nein. Eigendynamik und Tragik des gesellschaftlichen Protests. C. H. Beck, 2020. Precht, Richard David. Künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens. Goldmann, 2021.
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ANHANG
Precht, Richard David. Freiheit für alle. Das Ende der Arbeit wie wir sie kannten. Goldmann, 2022. Precht, Richard David und Harald Welzer. Die vierte Gewalt. Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist. Fischer, 2022.
WEITERFÜHRENDE LITERATUR ZU DEN THEMEN DER EINZELNEN GESPRÄCHE
Aust, Stefan und Adrian Geiges. Xi Jinping – Der mächtigste Mann der Welt. Ein neuer Blick auf China. Piper, 2021. d’Ancona, Matthew. Post Truth. The New War on Truth and How to Fight Back. Ebury Press, 2017. Arendt, Hannah. Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus. Piper, 1991. Assmann, Jan. „Wir müssen darauf gefasst sein, in einer Zukunft zu leben, in der alles anders ist als bisher“, in: Hohe Luft 4/2022, S. 52–57. Ball, Matthew. The Metaverse And How it Will Revolutionize Everything. Liveright Publishing Corporation, 2022. Baecker, Dirk et al. Kontroverse über China. Sino-Philosophie. Merve, 2008. Baecker, Dirk. „Sinndimensionen einer Situation“, in Ders. et al.: Kontroverse über China. Sino-Philosophie. Merve, 2008. Boghossian, Paul. Angst vor der Wahrheit. Ein Plädoyer gegen Relativismus und Konstruktivismus. Suhrkamp, 2013. Calvino, Italo. Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend. Hanser, 1991. Döring, Sabine (Hrsg.). Philosophie der Gefühle. Suhrkamp, 2009. Eagleton, Terry. Ideologie. Eine Einführung. Metzler, 2000. Frankfurt, Harry G. Bullshit. Suhrkamp, 2006. Gernet, Jacques. Die chinesische Welt. Suhrkamp, 1988. Habermas, Jürgen. Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik. Suhrkamp, 2022. Herzog, Lisa. Das System zurückerobern. Moralische Verantwortung, Arbeitsteilung und die Rolle von Organisationen in der Gesellschaft. wbg Academic, 2021. Homann, Karl und Christoph Lütge. Einführung in die Wirtschaftsethik. Lit Verlag, 2004 Kant, Immanuel. „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ in: Was ist Aufklärung: Beiträge aus der Berlinischen Monatsschrift, wbg, 1973.
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L I T E R AT U R
Lanier, Jaron. Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst. Hoffmann und Campe, 2018. Laqueur, Walter. Putinismus. Wohin treibt Russland? Propyläen, 2022. Lepore, Jill. Diese Wahrheiten. Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika. C. H. Beck, 2019. Loh, Janina. „Die Rolle des Menschen im KI-Umfeld“, vom 29.01 2019, https://www.firm.fm/infodienste/news/newsbeitrag/die-rolle-des-menschen-imki-umfeld.html (Zugriff Juni 2020). Lovelock, James. Novozän. Das kommende Zeitalter der Hyperintelligenz. C. H. Beck, 2020. Lütjen, Torben. Amerika im kalten Bürgerkrieg. Wie ein Land seine Mitte verliert. wbg Theiss, 2020 Menasse, Eva. „Alles geht in Trümmer“, Neue Züricher Zeitung Online https://www.nzz.ch/feuilleton/eva-menasse-sieht-die-oeffentlichkeit-vor-demzerfall-ld.1484079 (Zugriff Juni 2020). Meyer, Thomas. Mediokratie. Die Kolonialisierung der Politik durch die Medien. Suhrkamp, 2015. Neckel, Sighard. Flucht nach vorn. Die Erfolgskultur der Marktgesellschaft. Campus, 2008. Nisbett, Richard E. The Geography of Thought. How Asians and Westeners Think Differently and Why. Nicholas Brealey Publishing, 2009. Nosthoff, Anna-Verena und Felix Maschewski. Die Gesellschaft der Wearables. Digitale Verführung und soziale Kontrolle. Nicolai, 2019 Pentland, Alex. Social Physics. How Social Networks Can Make Us Smarter. Penguin, 2015. Plessner, Helmuth. Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus. Suhrkamp, 2001. Pörksen, Bernhard. Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung. Hanser, 2018. Priddat, Birger P. „Die Zukunft des Befristeten“, in: Hohe Luft kompakt 01/2020: Metanoia – Führen in Zeiten des Wandels, S. 26–31. Reckwitz, Andreas. Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Suhrkamp, 2017. Reinhard, Rebekka. Odysseus oder die Kunst des Irrens. Philosophische Anstiftung zur Neugier. Ludwig, 2010. Reinhard, Rebekka. Wach denken. Für einen zeitgemäßen Vernunftgebrauch. Edition Körber, 2020. Reinhard, Rebekka und Thomas Vašek. „Alle mal Klappe halten? Wie die Öffentlichkeit sich selbst zerstört – und was wir dagegen tun können“, in: Hohe Luft 5/2019, S. 15–19. Reinhard, Rebekka und Thomas Vašek. „Zu dumm für die Zukunft? Welche Intelligenzen wir morgen brauchen“, in: Hohe Luft 3/2020, S. 14–19. Siemons, Mark. „Gegen die Gegenwärtigkeit: Was ist digitaler ‚Präsentismus’?“, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Nr. 26, 30.06.2019, S. 34.
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ANHANG
Snow, C. P. Die zwei Kulturen. Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. Klett, 1967. Solnit, Rebecca. Wenn Männer mir die Welt erklären. Hoffmann und Campe, 2015. Taylor, Charles. Erklärung und Interpretation in den Wissenschaften vom Menschen. Suhrkamp, 1975. Vašek, Thomas. „Die Kraft von Metanoia: Warum wir in der Wirtschaft eine radikale Veränderung des Denkens brauchen“, in: Hohe Luft kompakt 01/2020, S. 4–5. Weick, Karl E. und Kathleen M. Sutcliffe. Das Unerwartete managen. Wie Unternehmen aus Extremsituationen lernen. Klett-Cotta, 2001. Wiener, Norbert. The Human Use of Human Beings. Cybernetics and Society. Houghton Mifflin, 1954. Williams, Bernard. Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Suhrkamp, 2003. Wissenschaftliche Buchgesellschaft (Hrsg.). Corona Stories. Pandemische Entwürfe. wbg Theiss, 2020. Wolf, Ursula. Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben. Rowohlt, 1999. Zhao Tingyang. Alles unter dem Himmel. Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung. Suhrkamp, 2020. Zuboff, Shoshana. Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. Campus, 2018.
Im vorliegenden Buch bringt sie prominente Geistes- und Sozialwissenschaftler:innen in den Dialog mit
Geisteswissenschaftler:innen sitzen im Elfenbeinturm und denken über Probleme nach, die im »wirklichen Leben« irrelevant sind? Wirtschaftsbosse müssen schnelle Entscheidungen treffen, ohne lange zu fackeln? Oder können beide Seiten im Dialog voneinander lernen? In diesem Band diskutieren hochkarätige Wissenschaftler:innen und Praktiker:innen aus der Wirtschaft, wie wir die aktuellen gesellschaftspolitischen und ökonomischen Herausforderungen gemeinsam meistern können. Es diskutieren Markus Gabriel und Alexander Doll, Richard David Precht und Joe Kaeser, Armin Nassehi und Steffen Kampeter sowie Ute Frevert und Julia Jäkel.
Entscheider:innen aus der Wirtschaft.
Umschlagabbildungen von oben links nach unten rechts: Markus Gabriel: © picture alliance / Geisler-Fotopress | Christoph Hardt; Alexander Doll: © privat; Richard David Precht: © picture alliance / ZB | Thomas Schulze; Joe Kaeser: © picture alliance / SZ Photo | Friedrich Bungert; Armin Nassehi: © picture alliance / SvenSimon | Malte Ossowski/ SVEN SIMON; Steffen Kampeter: © BDA | Michael Hübner; Ute Frevert: © picture alliance / Ulrich Baumgarten | Ulrich Baumgarten; Julia Jäkel: © privat Umschlaggestaltung: Andreas Heilmann, Hamburg
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ISBN 978-3-8062-4581-3
€ 20,00 [D] € 20,60 [A]
Geld und Geist
Speakerin und Sachbuchautorin. Die ehemalige stellvertretende Chefredakteurin der Philosophie-Zeitschrift ›Hohe Luft‹ konzipierte und hostete den wbg Sachbuch-Podcast »Was sagen Sie dazu?« bis Ende 2022.
Alexander Doll
Richard David Precht
Joe Kaeser
Nur der Dialog bringt uns weiter
Rebekka Reinhard (Hrsg.)
Foto: Sung-Hee-Seewald
Rebekka Reinhard ist Philosophin,
Markus Gabriel
Rebekka Reinhard (Hrsg.)
Geld und Geist
Armin Nassehi
Steffen Kampeter
Ute Frevert
Julia Jäkel
Klimawandel, Corona-Pandemie, Angriffskrieg auf die Ukraine … kaum haben wir uns an eine »neue Normalität« gewöhnt, wird diese durch unvorhergesehene Entwicklungen schon wieder infrage gestellt. Lösungen für die vielfältigen, miteinander verflochtenen Probleme unserer Zeit lassen sich nur im offenen Dialog finden, der unterschiedliche Sicht- und Herangehensweisen miteinander in Bezug setzt. In diesem Buch diskutieren Geisteswissenschafler:innen und Praktiker:innen aus der Wirtschaft über Freiheit und globalen Wettbewerb, Digitalisierung, die Relevanz von Geisteswissenschaften, die Rolle von Kultur und Bildung sowie darüber, welche Werte Wirtschaft und Gesellschaft heute brauchen.
Gespräche
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15.02.23 12:41