Geist und Gesellschaft: Band 2 Geschichte und Gesellschaft [Reprint 2022 ed.] 9783112677308, 9783112677292


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German Pages 112 [184] Year 1927

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Table of contents :
Der Sohn Kurt Breysig gewidmet
Beziehungen zwischen Sprach-, Sach- und Geisteswelt der Gegenwart
Vom sozialen Sinn der Schule Gesellschaftsseelische Anmerkungen an die Zeit
Die pädagogische Forderung an unser Geschlecht
Eine Neuerscheinung zur Geschichte der Dekabristenbewegung
Historiker und Journalist
Maßstäbe zu einer Geschichte der Tanzkunst
Rede des Irokesen-Häuptlings Sagoyewatha
Yita Confucii Ein Beitrag zur Quellenkritik
Der barocke Konflikt Jean Pauls
Einige Gedanken zur Soziologie der Revolution
Staat nnd Gesellschaft
Die drei gruppwissenschaftlich wichtigen Verengungen der Seelwissenschaft
Inhaltsverzeichnis
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Geist und Gesellschaft: Band 2 Geschichte und Gesellschaft [Reprint 2022 ed.]
 9783112677308, 9783112677292

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G E I S T UND

GESELLSCHAFT

ZWEITER BAND

GESCHICHTE UND GESELLSCHAFT

GEIST UND GESELLSCHAFT K U R T BREYSIG

ZU SEINEM SECHZIGSTEN GEBURTSTAGE

II. BAND

GESCHICHTE UND GESELLSCHAFT

WALTER DE G R U Y T E R

& CO.

BERLIN

GESCHICHTE U N D GESELLSCHAFT *

W A L T E R D E G R U Y T E R & CO. • B E R L I N

E r s c h i e n e n 1927 b e i M. & H . Marcus, B r e s l a u

D r u c k v o n M a r e t z k e & M ä r t i n , T r e b n i t z i.

Schi.

Der Sohn Kurt Breysig gewidmet von

Carl Werckshagen Hinausgewichen einer nur ins Unheldische. Unverständig und unverzeihlich achtlos getäuscht um die vertrauten Bezirke heimatlicher Erde, nicht ansehend des Herdes großen Segen und der häuslichen Gemeinschaft. Zu hohes Gefühl der Brust verkannte alles. Zu vermessener Stolz, zu keiner Bändigung sich schickend, stieß ins Fremde hinaus den Sprößling edlen Blutes doch, mehr des Ehrenhaften suchend, und von glänzenderer Würde gelockt, wo Schlimmeres, mindere Art und überall das Gemeine zu finden war und selten zu vermeiden. Wo ist der, der mich annimmt, daß ich anlege die Schläfe an seine Brust dem Mühelosen, Hochgewachsenen, der mich männlich umfängt, und so in seinen Atem geht mein ratloses Hauchen ein, im Sicheren bin ich bei ihm, aufgenommen von seiner herzlichen Neigung, Festaohrift Breyalg II

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H a n d ist von festerer H a n d gehalten, alles Bange weicht mir vom Geist, er erquickt mich, und ich sinke in segnenden

Schlummer!

W o ist der, dem ich die Riemen gürte und d a s vollblütige Pferd f ü h r e zur Tränke, der mich unterweist in nötigen Übungen, anleitet zu schicklicher Sitte, im Brauch der Edlen mich belehrt und G r o ß g e s o n n e n t n ! W o sind die Jugendlichen, die Freunde, würdige Dienste verrichtend und mich gern leidend in ihrer Mitte, die auffingen ein gütiges Wort, mir zugefallen vor ihnen ohne Verdienst! Leer überall von unbefangenem Adel ist die Weite. Versammelt sind alle schon Männer großen G e m ü t s und reckenhaften W u c h s e s am hohen Tisch ihresgleichen. Selten verlautet ein gelassenes W o r t . Mäßig sind sie im Trunk des Weins und beim Speisen. Keinen der Knappen dulden sie zur Hilfe. Alles vollbringen sie selbst untereinander. Auch der Sänger erhebt sich aus ihrer Mitte und der Wächter im Turm und der die Gebete spricht. Welche Vereinung der Heerkönige der Vorzeit in der R u n d e ihrer nahrhaften Tafel, bisweilen den Glanz ihrer Taten im Sinn haltend, von Unsterblichkeit bewegt und nichts der Speise berührend. —

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Enthoben das Ganze dem Späherauge des Neides und großer Erregung. Unserm Auge ewig entrückt die heilkräftigen Gestalten, und großes Versehen begeht und Unrecht, das er sehr büßen muß, wenn einer mit lässiger Gebärde das Erbteil vergeudet, feilen Dirnen ein Tischgenoß und einigen frechen Gesellen, unvorsichtig den Ertrag preisgebend mancher mühsam geborgnen Ernte von schwieriger Erde. Krümme dich, Rücken, macht euch breiter doch, eitrige Schwären, und immerdar unkenntlich die Stirne, die eines edlen Vaters Gestalt nicht verunehren soll um solches Sohnes Entartung willen. Bruder Hochmut, du bist mir von der Seite gegangen, Schwester Hoffart, hast mich im Stich gelassen über Nacht, im Unrat laßt ihr mich kriechen und aus Trebern des Viehs Nahrung saugen! Vaterhaus! Vaterhaus! Der dich verließ, schreit nach dir! Vaterhaus! Dein schlechtester Winkel wird noch zu £ u t sein für den, der dich so verächtlich verraten hat um eines ungeprüften Gaukelspiels willen. Aber an der Hürde doch, die dich umzäunt, laß ihn hocken, —

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1*

bei Hunden und jammernden Bettlern ein Bettler und herrenloser Hund! Den Mund wird er auftun in solchem Verlangen und füllen mit dem schlechten Staub der Straße zum Hof hin, und ganz vollgetan wird er sein von Sättigung. Vaterhaus! Dein großes Erbarmen, deine Milde ohnegleichen, noch einmal gnädig gewandt zu mir!

Beziehungen zwischen Sprach-, Sach- und Geisteswelt der Gegenwart von Fritz

Klatt

I. Wissen, Denken, Sprechen In der geistigen Welt ist das Denken nach zwei Seiten begrenzt und eingeengt. In der Tiefenlage durchdenken wir eigentlich weniger, als wir wirklich wissen. Wir scheuen uns, unser Wissen gedanklich zu bewegen und zu bewältigen. Obenhin aber sprechen wir mehr als wir durchdacht, als wir gedanklich durchdrungen und verarbeitet haben, und somit meist mehr als wir vor unserem Wissen und Gewissen verantworten können. Unsere Gedankenwelt ist nicht tief, nicht unmittelbar genug angeschlossen an die Tiefenkräfte unseres ursprünglichen Wissens. Andererseits verführt unsere vollendete Sprache gerade den, der sie am besten beherrscht, auch am leichtesten zu unbedachtem, zu undurchdachtem Wort. Geistige Not ist da, wenn — wie es gegenwärtig geschehen ist — das Denken des Einzelnen und das allgemeine Denken eines Standes, eines Volkes die Verbindung mit den Tiefenkräften des Wissens verloren hat, wenn andererseits das Wort nicht mehr durchblutet ist von einem tief greifenden und ruhig strömenden Denken. Diese doppelte Abschnürung unseres Denkens vom ursprünglichen Wissen und lebendigen Wort bezeichnet den wesentlichen Schaden, den tiefsten Gefahrpunkt unseres geistigen Lebens. Die brennendste Sehnsucht der Zeit ist darum, diese Doppelverbindung neu zu knüpfen. Die Wissenschaft sucht ja heute bereits Anschluß an das ursprüngliche -

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Wissen, so wie die gegenwärtige Kunst Anschluß an d a s ursprüngliche Können sucht. Es wird allmählich glaubhaft, daß eine Wissenschaft von auch sehr fein geschliffenen Begriffen in sich selbst zwar sehr folgerichtig und doch im ganzen grundfalsch sein kann. Wissenschaft ohne Wissenstiefe, Brunnenanlage, ohne mehr ins G r u n d w a s s e r zu reichen. Man hat ferner erfahren, daß eine Wissenschaft, wenn ihre G e d a n k e n f ü h r u n g nicht bis zur lebendigen sprachlichen Gestaltung durchgestoßen ist, wirkungslos bleibt und nicht zum Bildungsgut des Volkes wird. D a r a u s ergeben sich die zwei geistigen Forderungen f ü r die neue Wissenschaftsbehandlung. Einmal: P r ü f u n g der G r u n d l a g e n und neue Grenzsetzung. D a n n : D u r c h denkung bis zur klaren •— d a s besagt keineswegs immer mühelos oder allgemein verständlichen — Form in einfachen deutschen Worten. W a s wir wissen, kann wohl unmittelbar Gebärde, auch Tat, aber nicht ebenso unmittelbar Wort werden. Vor die W o r t w e r d u n g des Wissens schiebt sich notwendig die Durchdenkung, die Denktätigkeit, also unablässige geistige Arbeit. Weil unsere Denktätigkeit nicht tief g e n u g wurzelt und nicht weit g e n u g herauf reicht, sind ja unsere Worte heute so wesenlos geworden und bleiben so wirkungslos. D a r u m können heute W o r t e leichthin als bloße Worte, als Klänge ohne Bedeutung, wirken und gelten. Denn trotz ihrer Entwertung bleiben natürlich W o r t e auch heute die schnellsten und wirksamsten Möglichkeiten geistiger Bewirkung. Aber es droht mehr als je Gefahr, daß jeder U n b e f u g t e oder Böswillige sich ihrer als der bequemsten Schlagwaffe beliebig bedienen kann, ohne daß man ihn doch entwaffnen könnte, da man diese W a f f e ja nicht ernst nimmt. Wenige bemerken überhaupt nur die Unbefugtheit oder Böswilligkeit in den Worten all der falschen P r o p h e t e n , Dauerredner, Schnellschreiber, Vielwisser und Schnelldenker, weil m a n verlernt hat, aus Klang und R h y t h m u s der gesprochenen —

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— oder g a r der geschriebenen — Worte sicher zu erkennen, wie stark diese W o r t e selbsttätig d u r c h d a c h t und wirklich a u s der selbständigen Wissenstiefe des Sprechers stammen. U n d was noch viel schlimmer ist: Worte von seltenem Klang und eigenstem Rhythmus verhallen in dem allgemeinen Tosen, weil ihre Durchdachtheit und Durchschlagskraft aus der Tiefe des Wissens ebenfalls unbemerkt bleiben. So verhallen überzeugungsschwere Worte, o h n e sich G e h ö r zu verschaffen, Bitten von flehendstem Klang finden keine Erhörung, Gebote und Befehle auch von unabweislicher Richtigkeit erzwingen doch keinen G e h o r sam und also auch keine Gefolgschaft. O b all diese redenden, bittenden, weisenden Worte bloß obenhin bedacht sind oder auch durchgedacht bis in die Tiefe des ursprünglichen Wissens, es bleibt sich ganz gleich. Niemand hört hin. Eine beispiellose Entwertung des Wortes hat eingesetzt. Im allgemeinen Volksempfinden ist d a s W o r t schon zu einem fast zweifelhaften Mittel herabgesunken. Man argwöhnt, wenn einer gut redet, daß er gut lügt. Man ist allzuoft beschwätzt worden. So wird das W o r t selbst als in jedem Fall unglaubwürdiges Mittel empf u n d e n . Schon läßt sich heut niemand mehr etwas „ausr e d e n " , auch wenn er weiß, daß er im Irrtum ist. Ebensowenig läßt er sich „zureden", auch wenn er des Zuspruchs sehr bedürftig ist. D a s W o r t ist entwurzelt, haftet nur noch in den oberen Denkschichten, nicht mehr in den tieferen und hat d a r u m nicht mehr die V e r b i n d u n g mit dem ursprünglichen Wissen. Die N e u v e r b i n d u n g von Wort zu Wissen, die eine neu gerichtete Denkarbeit heute schon sucht, ist die vielteilige Aufgabe der Zukunft, zu d e r alle Zeitgenossen nach dem Maß ihrer geistigen Kräfte verpflichtet sind. Von dieser Aufgabe der Tiefenverbindung soll hier zunächst gesprochen werden. D a s tief greifende Merkmal menschlichen Wesens ist sein Bewußtsein, sein Wissend-Sein. Auch alles, was heute —

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etwa noch in der seelenkundlichen Fachsprache Unbewußtes oder Unterbewußtsein genannt wird, als wäre es von dem Bewußtsein getrennt, gehört doch auch noch zu dem wissenden Untergrund menschlichen Wesens. Freilich, was einem schon früh bewußt wird, bleibt dem anderen lange, vielleicht gar lebenslänglich dunkel. Er kommt nicht heran. Was ist Wissen? Das unmittelbar umfassende Anschauen dessen, was geschieht, und zugleich das durchdringende Erkennen und Anerkennen der Ursachen davon. Weil die Bewegung und Wandlung des Lebens durch all seine Gestalten hindurch von dem Wissenden nicht nur in ihren Zusammenhängen schweigend geschaut, sondern zugleich auch in ihren Gründen wertend erfaßt wird, bekommt das daraus erwachsende Denken von vornherein die Richtung aus der schweigenden Schau heraus zur bewegenden Tat. Denken ist da Hebearbeit, Förderarbeit, Entwicklung aus der eigenen Tiefe. Das widerspricht der heute gültigen Vorstellung von der Erwerbung des Wissens als der Aneignung von eigentlich fremdem Wissensgut, mit dem man sich gewissermaßen nur bereichert, sofern man selbst nicht viel hat oder doch eben nicht zu eigenem Wissen vorgestoßen ist. Die uralten Raubgelüste sind hier in der Lust nach dem geistigen Eigentum verborgen, aber eben durch diese Übertragung unsinnig geworden. Denn Geistiges ist eben nicht mehr Eigentum, kann deswegen auch nicht geraubt, nicht fortgenommen werden. Man kann sich auch nicht damit bereichern oder davon ausgeschlossen werden, sondern es liegt offen zu Tage oder bleibt geheim, genau so viel, wie die einzelnen Menschen, Stände und Völker es bemerken und es aus sich herauf befördern. Diese versteckte Raubvorstellung bei der Aneignung, von Wissen verunklärt und verfälscht heute noch das Streben nach Wissen, das in großen Schichten des Pror letariats sich gegenwärtig elementar Durchbruch verschafft. Man glaubt das Wissen, die Ergebnisse wissenschaftlicher —

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Forschung, die so lange von den Machthabern, Nutznießern und Handlangern des Kapitalismus dem arbeitenden Volke vorenthalten seien, könnten jetzt nun gestürmt werden, wie vor kurzem die Königsschlösser oder die Fabriktore oder die Sparkassen und Banken, um dann im Besitz dieses Wissens und der Macht, die dadurch — so glaubt man — erreicht wird, die politischen Verhältnisse grundlegend ändern zu können. Diesem grund^legenden oder vielmehr grundversperrenden Irrtum kommt der Irrtum von der Seite der besitzenden Klassen entgegen. Gegenüber der Vorstellung, daß man Wissen rauben, steht die Vorstellung, daß man Wissen besitzen könnte. Man glaubt diesen Wissenschatz verteidigen zu müssen vor dem Zugriff der Massen. Dieselbe dunkle Vorstellung, daß Wissen Besitz sei und also Macht verschaffe, führt also zum Angriff wie zur Verteidigung. Weil von den beiden feindlichen Seiten her auf getrenntem Wege der gleiche Irrtum begangen wird, hat man hier ein geistiges Fehlgebilde von kreisartiger Geschlossenheit vor sich, das in Zukunft besonders schwer zu zerstören sein wird. Und es wird ja tatsächlich etwas vorenthalten, aber das ist nicht der geistige Besitz des Wissens, sondern es sind die Mittel, um zu diesem Mittel in sich selbst zu kommen. Eins dieser Mittel ist richtiges, klares und bis zur letzten Schlußfolgerung durchdringendes Denken. Dieser Weg des Denkens kann einzelnen Menschen oder ganzen Ständen allerdings auf die verschiedenste Weise versperrt werden. Nur die handgreiflichste Weise ist die verschiedene Denkschulung in Volksschule und höherer Schule. Diese Sperrmaßnahme ist ja aber durch das Grundschulgesetz grundsätzlich aufgehoben. Aber eine weit schlimmere Sperrmaßnahme ist die Vorstellung, daß Denkarbeit Selbstzweck habe. Dadurch geschieht eine Ablenkung von dem wahren Ziel des Wissens auf die dahin führende Denktechnik. Davon wird noch ausführlich zu sprechen sein. Diese Irreführung paßt sich der irrtümlichen Auffassung von Technik überhaupt an. -

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Fragen wir aber zunächst noch, was haben nun die verschiedenen Altersstufen für eine Vorstellung von dem, was sie mit dem Wissen erreichen? Man sagt allgemein: Wer alt ist, hat Erfahrung. Er weiß viel. Unerfahrene Jugend weiß noch wenig, ist unwissend und unbewußt, wobei man die Unwissenheit zwar als einen Mangel, oft sogar als eine Schuld hinstellt, die Unbewußtheit aber heimlich als ein Glück ansieht, ja, manchmal sogar mit der „Unschuld" des betreffenden gleichsetzt. Dieser öffentlich-geheime Widerspruch offenbart die ganze Schwere des Problems. Man will wissen, aber fürchtet doch eigentlich die mit der Zeit zunehmende Bewußtheit, als steckte darin das Übel, das den Alternden starr werden läßt. Die Furcht ist unbegründet. Denn der Trieb zu wissen, solange er im Wachstum ist, kann nicht alt machen. Erst der zur Schau gestellte Besitz eines bewußten Wissens zeigt allerdings an, daß es mit der „Unschuld" der Jugend endgültig vorbei ist. Wie es kein gleiches Wissen für Alle oder für alle Stände des Volkes gibt, ebensowenig gibt es ein gleich bleibendes Wissen durch die Folge der Lebenszeiten. Darum ist Wissen nicht übertragbar, wie ein Stück Brot. Die ältere Generation kann eine jüngere nicht wissen „lehren", sondern sie kann höchstens diese Jugend bis zu einem gewissen Grade unter günstigen Bedingungen, aber doch eben nur selbständig, ihre Erfahrungen machen lassen. Hier sei an die uralte Bedeutung, die in dem Wort Erfahrenheit noch anklingt, erinnert. Erfahren kann ja nur sein, wer selbst die Fahrt mitgemacht hat, kundig kann nur sein, wer selbst auf der Wanderschaft, als „Kunde", sich Kenntnis verschaffte. Erfahrungen, Kenntnisse, Wissen fallen dem Menschen „unterwegs" „beiläufig" zu, wenn er nur sein Ziel fest im Auge behält. Da wächst dann das Wissen bei immer weiter greifenden Zielen, je nach der Wucht der eigenen Lebensbewegung. Auf diesem Wege kann der Einzelne, wie er Gefährten finden kann, so wohl auch zeitweise einen Führer finden. Alles was dieser nun etwa -

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übungsmäßig schulen kann, ist nicht das Wissen des Jüngeren, sondern nur seine körperliche und geistige Fähigkeit. Ob und wie weit dann der andere seine Fähigkeiten braucht, um damit in das Wissen zu dringen, das kann er ihm nur selbst überlassen. Es gibt keine Wissensschulung, sondern nur vorbereitende Sinnes- und Denkschulung. Nun könnte man hier mißmutig einwenden: Das ist ein Streit um Worte. Aber es ist mehr als ein Streit um Worte. Diese beiden durcheinander gebrachten Begriffe deuten auf die durcheinander gebrachten geistigen Gegensätze, jene Vermischung der Begriffe, die nun schon überall nicht mehr unterscheiden läßt, was Weg und was Ziel sei. Fast die gesamte heute noch gültige Pädagogik, mit Einschluß auch der meisten Reformbestrebungen, nimmt geistig Stellung für die Lehrbarkeit, Übertragbarkeit, Objektivität des Wissens, so als wäre es Stoff. Die Stundenpläne und Studienpläne der Schulen und Hochschulen teilen diesen Stoff ein. Und die Wortverkoppelung Wissens-Stoff besagt schon alles. Der verstofflichte Wissenschaftsbegriff ist ja bis in die letzte Dorfschule eingedrungen. Und bewirkt dort, daß kein Einzelner mehr die immer weiter geteilten und getrennten wissenschaftlichen Fächer der Schule mit dem, was er selbst täglich tut, schaut und erfährt, und also von sich weiß, zur Deckung zul bringen vermag. So ist das Schulwissen, die Schulweisheit arg in Verruf gekommen, weil sie die Schüler unlustig zur Tat, weltfremd im Denken und unselbständig in jeder Beziehung mache. Andererseits wird besonders in letzter Zeit, um diese verstopfende Wirkung des Schulwissens wieder aufzuheben, das Fachwissen unter dem Gesichtswinkel der unmittelbaren Verwendbarkeit gelehrt, so daß hier also wissenschaftliche Bildung zum großen Teil mit der Einsicht in die technischen Errungenschaften der Zeit zusammenfällt, die zu kennen, im Existenzkampf überlegen macht. So ist der in sich elementare Widerspruch „Angewandte Wissenschaften" heute ein ganz harmlos gebrauchter Begriff geworden, der das Blickfeld der Aller-

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meisten füllt und das eigentliche Wissensziel, das immer nur sein kann, Wissen um seiner selbst willen, völlig verdeckt. Also Anhäufung vielgeteilter Wissensstoffe, dazu neuerdings das Regulativ der sofortigen Nutzbarmachung einzelner fachwissenschaftlicher Ergebnisse, aus diesen beiden sehr verschiedenen Bestandteilen setzt sich unser Schulwissen auf Schulen und Hochschulen zusammen. Diese Teilung fällt größtenteils zusammen mit der sauber durchgeführten Teilung in Natur- und Geisteswissenschaften, die sich überall beziehungslos gegenüberstehen. Damit werden zwei nicht nur im Stoff, sondern auch in ihrer ganzen Art und im Tempo völlig verschiedene Vorstellungen von Wissen an die Lernenden herangebracht. Das Wissen aus dem geisteswissenschaftlichen Bereich wird auf Vorrat, gewissermaßen auf Lebenszeit, gesammelt. Man lernt es auswendig, wie der bezeichnende Ausdruck lautet, oder, wenn man es auch wirklich in sich aufnimmt, so doch, ohne einem inneren Gesetz der Auswahl dabei folgen zu können. So lernt man gleichzeitig mathematische Formeln, fremdsprachliche Vokabeln, aber auch die wichtigsten philosophischen Systeme, die heimatlichen Bauwerke, die geschichtlichen Ereignisse der letzten hundert Jahre, alles nimmt man in bunter Folge in sich auf, um es bei sich zu behalten und auf alle Fälle bereit zu haben. Das Wissen aus dem naturwissenschaftlichen Bereich wird dagegen heute mehr und mehr allein als theoretische Grundlegung für den großen Aufschwung der Technik gelehrt. Man läßt etwa den Schüler selbst wissenschaftlich nachprüfen, wie z. B. eine Radioanlage entsteht und welche Naturgesetze sich da nutzanwenden lassen. Gerade diese neue Bestrebung in der Schule, die aktuellsten Errungenschaften der Gegenwart wissenschaftlich klar zu machen, den jungen Menschen in solchem Fall das wissenschaftliche Rüstzeug selbst anwenden zu lassen, was ist dagegen einzuwenden? Haltung fehlt da, Haltung den technischen wie den -

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geistigen Wirklichkeiten unserer Zeit gegenüber. Die technischen Wirklichkeiten sind viel zu gewalttätig, als daß ihnen durch wissenschaftliche Begründung beizukommen wäre. Und die geistigen Wirklichkeiten sind so mühsam zu suchen und zu finden, daß jede Aufspeicherung des Stoffes die erforderliche Auswahl nur erschwert. Die meisten Menschen sind heute schon in der Kindheit technisch interessiert. Sie fragen nicht nach Gründen, sie wollen mittun. Diese müßten also in die Arbeitsstätten, nicht um dort Arbeit zu leisten, vielmehr um dort lernend mit dabei zu sein. Das ist dann nicht Wissensschule, sondern Arbeitsschule. Die Anderen, die wenigen Anderen, aber können sich unmöglich an der Nutzbarmachung einer Wissenschaft in diesem oder jenem einzelnen Fall begeistern. Noch weniger können sie mit der Aufspeicherung der Wissensschätze für alle vorkommenden Fälle zufrieden sein. Sie wollen die Gesetze selbst finden lernen, um damit ihre eigene Wissenstiefe zu erschließen, und das ist viel mehr und viel Umfassenderes, als auf den Schulen geboten werden kann. Also gerade die Reformidee, angewandte Wissenschaft auf der Schule zu treiben, ist fragwürdig. Dieser Ausweg ist nicht radikal genug, weder für die Mehrzahl der praktisch Begabten, noch für die Minderzahl der theoretisch Begabten. Die zukünftige Wissenschaft muß den Mut aufbringen, einer praktisch begabten Mehrheit der Jugend nichts mehr vorzugaukeln und einer theoretisch begabten Minderheit der Jugend Führerdienste zu leisten. Diese Führung zum wissenschaftlichen Denken kann sich weder von der sofortigen Ausnützungsmöglichkeit ihrer Ergebnisse weiterhin leiten lassen, noch auch sich weiter der Sammeltätigkeit hingeben. Allerdings wird auch diese Wissenschaft sorgfältig Einzelforschung treiben, aber ohne viel Wesens davon zu machen, wie es sich für gute Denktechnik gehört. Sie wird auf das letzte Ziel des Wissens lossteuern, ohne ihre Jünger darüber im Unklaren zu lassen, daß jede 13

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geistige Erfahrung nur unerzwungen gemacht wird, daß jede geistige Entdeckung und Erfindung immer nur im Anschluß an die Förderung der Kräfte aus der eigenen Wissenstiefe gelingt. Sie muß den einzelnen Jünger dazu erziehen, daß er, was er erforscht, in Einklang und Deckung bringt mit dem, was er von sich aus ursprünglich weiß. Es wird also die Aufgabe dieser Erziehung zum Wissen sein, die Klarheit dessen, was jeder ohnehin schon weiß, nicht zu trüben, sondern durch die nachprüfende Arbeit eines vorsichtigen und wegsicheren Denkens begreifbar zu machen. Wissenschaftliches Ziel ist dann, zu beweisen, was man ursprünglich weiß. Und je unabweisbarer das Wissen in dem Schauenden wird, desto zwingender wird auch seine Beweisführung werden. Hier wird die ganz andere Vorstellung von zukünftiger Wissenschaft deutlich. Nicht wir schaffen das Wissen. Wir schaffen uns selbst zu dem Wissen heran, je nach dem Grad unserer geistigen Kraft und denkender Mühwaltung und die bleibt stets verschieden nach Alter, Art, Geschlecht, Stand und Volk. Es ist klar, daß eine lebendige Jugend nur durch diese Art Wissenschaft nicht erstarren und der Besitz- und Machtgier verfallen wird, die bislang die Wissenden so oft zu Freibeutern und Ausbeutern des Geistes machte. Alles, was junge Menschen ohnehin zu tun lieben, körperliche Betätigung und praktische Arbeit, alle Spiel-, Sport- und Kunstbetätigung wird, so betrachtet, Übung, bekommt Richtung, mitreißenden Schwung auf das geistige Ziel hin. Es braucht nur erst klar zu sein, daß diese Übung nicht nur Selbstzweck ist, sondern zugleich dazu dient, den Menschen heranzuschaffen zu einem Wissenden. N u r der Glaube tut not, daß all dies frühe Spiel und jede Art praktischer Arbeit den jungen Menschen ganz von selbst umwandelt. Gemäß seiner lebendigen Kraft legt er währenddessen alles, was er weiß, frei. Er kann es nun denkend zu Tage fördern und braucht nichts mehr im Dunkeln und f ü r sich zu behalten. — 14 —

Mit alledem ist freilich etwas sehr Einfaches und Großes vorausgesetzt, nämlich das Vertrauen des einen Menschen in den wissenden Untergrund in dem anderen Menschen. Aber wie sollte es ohne dies Vertrauen auf die unerschütterliche Grundlage des eignen Wissens im andern Menschen zum gemeinsamen Denken, zum Zusammendenken kommen? Die Gemeinverständlichkeit unserer Gedankengänge und unserer Sprache setzt eben dies Vertrauen voraus. Denken hat eine doppelläufige Bewegung. Einmal taucht es ins eigne Wissen unter und dann wieder führt es vom Wissen aufwärts zu sprachlichem Ausdruck. Diese geistige Doppelbewegung bleibt in ihrem nach unten dringenden Kraftstrahl unaufdeckbar und ein Geheimnis, an dem wir wohl deuten, das wir aber nie begreifen können. Nur den nach oben gerichteten Kraftstrahl können wir begreifen und beschreiben, um ihn damit sicherer in die Gewalt zu bekommen. Wenn wir sagen: Ein Gedanke taucht auf, so bezeichnen wir damit schon den Anfang der wortwärts gerichteten Kurve. Aber bevor der Gedanke auftaucht, taucht er hinab und holt sich Rat und Richtung. Rat in dem Wissen von dem, was wahr und unbedingt ist und Richtung in dem Wissen von ,,Gut und Böse", dem Gewissen. So geladen mit Wahrheitsgehalt und Wertmaß, taucht der Gedanke schon auf. Nur ist bei den alltäglichen Gedanken, infolge des sehr häufig wiederholten Gedankenganges, dies Untertauchen in das eigne Wissen und Gewissen meist sehr abgekürzt. Wir merken dies „in die Tiefe gehen" erst, wo Wort oder Gedanke zu stocken beginnt, wie man dann sagt, W o es anfängt zu stocken, da beginnt die Tiefenkurve. Man merkt eigentlich nichts weiter, als daß ein Bruchteil von Zeit vergeht, aber der dann auftauchende Gedanke hat plötzlich den ganzen Schwung der Gewißheit in sich. Je nach Art und Temperament der Menschen dauert dies „Nachdenken" kürzer oder länger, und je denkgewandter einer ist, desto schneller —

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geht es. Bei immer zunehmender Denkgewandtheit kommt aber jeder einmal bis dahin, wo das Denken sich zu überschlagen scheint. Bei wem so das „in die Tiefe Denken" aussetzt, der denkt und denkt immer flacher weiter, ohne sich im einzelnen Fall noch Rat und Richtung aus seinem Wissen zu holen. Und das wieder kann zweierlei Formen haben, entweder man denkt da, was ein änderer gedacht hat und wiederholt, mehr oder weniger genau, dessen Gedankengänge, aber nur in ihren oberen, ihren wortwärts gerichteten Kurven, ohne sie nachgedacht zu haben. Oder man wiederholt eigne Gedankengänge, die man selbst früher einmal in ihrer ursprünglichen Doppelläufigkeit gedacht hatte, nun in der verkürzten Form. So ergeben sich drei Arten, zu denken. Die häufigste ist das Wiederholen schon ebenso gedachter Gedankengänge in ihrer oberen wortwärts gerichteten Gedankenbahn, seltener ist die zweite Art, das Wiederholen der eignen Gedankengänge in ihrer oberen Gedankenbahn. Selten ist die dritte Art, das vollständige Denken in ausschwingender, doppelläufiger Kurve. Weil die beiden ersten Arten des Denkens so sehr viel häufiger sind, ist es erklärlich, daß sie im allgemeinen fast allein als Denken bezeichnet werden. Besonders, da hinzukommt, daß man nur damit im praktisch-geistigen Verkehr mit Menschen etwas anfangen kann. Alle Schlagkraft und Schneidigkeit der Gedanken, die man bei dem heutigen Tempo vor allem braucht, wird nur erworben durch die früh geübte Wiederholung der in dieser Zeit gebräuchlichsten Gedankengänge, die eben alle mühelos mitdenken können. Ferner: jede geistige Beharrlichkeit und Festigkeit kann nur erlangt und erprobt werden durch immer neue Wiederholung, Überprüfung, Verschärfung und Verfeinerung der eignen Gedankengänge. Es macht die Verbesserung der Denktechnik eines Volkes aus, wenn alle geistig selbständigen Glieder unablässig an der Denkwiederholung der schon gedachten Eigengedanken üben. Das Erste ist vorwiegend Sache der Jugend, das zweite -

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die des Alters. Aber beides vermehrt doch höchstens die Qedächtniskraft des Volkes, sichert aber noch lange nicht den Zugang zum ursprünglichen Wissen. Beides gehört eben zur Technik, zur Technik des Denkens. Und es ist wohl begreiflich, daß gerade das technische Zeitalter sich in einer Überschätzung der Denktechnik gefallen mußte. Wesen und Lust der Technik erschöpft sich j a überhaupt in den beiden Fragen nach der Brauchbarkeit und Vervollkommnung der Mittel. Und in diesem Fall um Brauchbarkeit und Vervollkommnung der Denkmittel. Aber die dritte Frage, die eigentliche Grundfrage, die Frage: warum, scheidet für Menschen der Technik aus. E r kann sich diese Frage nicht leisten. Denn seine Tatkraft könnte womöglich dadurch gelähmt werden, wenn nämlich die Antwort auf diese Frage, die so sehr gefürchtete Antwort, lauten könnte: Es gibt keinen Qrund und Sinn für das, was ich da tue und denke. Die so gefährliche Frage muß also in der Tat jeder meiden und an jeder Stelle meiden, wo er sich dem technischen Fortschritt in irgend einem mittätigen Sinn verpflichtet fühlt. Aber wo er sich dem geistigen Wesen des Menschen verpflichtet fühlt, da bleibt ihm nichts übrig, als in jedem Fall immer wieder von neuem die Frage: Warum — selbstdenkend für sich zu beantworten, selbst wenn ihm dadurch seine ganze Technik zuschanden geht. Und diese Frage Warum wird allein mit der dritten Art des Denkens möglich, die also die schon gedachten Gedankengänge nicht so ohne weiteres in ihrer wortwärts gerichteten Bahn wiederholt, sondern sie eintauchen läßt in die Tiefe des eignen Wissens und Gewissens. Welche Veränderung erleidet nun der wieder auftauchende Gedanke? Zunächst: von dieser Veränderung braucht nach außen hin gar nichts bemerkbar zu werden. Denn die Formen des Denkens sind begrenzt und eingeengt, wie die Wortformen der Sprache. Sie sind Allgemeingut und zwingen jeden Einzelnen immer wieder in den Kreislauf der gleichen Gedanken, der von verFestschrift Breyslg II

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schiedenen Völkern und Zeiten jeweils nach einer von einander etwas abweichenden Richtung sprachlich ausgebaut wurde. Also kein Einzelner darf sich vermessen, zu glauben, was er denkt und ausspricht, sei noch nicht gedacht oder ausgesprochen worden. Das ganze Volk denkt und spricht wie in einem durch die Zeit wogenden Meere. Es ist das allverbindende, geistige Element. Ein jeder kann doch etwa Gedanken Goethes in Goethes eigenen Worten aussprechen. Und wenn wir auch meist nicht genau die Genealogie unserer Gedanken- und Wortbildung verfolgen können, so verbindet sie doch eben so sicher wie die Genealogie des Blutes alle mit allen, obgleich sie freilich nur im Fall geistiger Adelsgeschlechter nachweisbar und bewußt wird. Aber verändert sich nun der Gedanke, wenn er aus dem eignen wissenden Untergrund wieder auftaucht, überhaupt gar nicht? Nur in dem Schwung und in der Unbeirrbarkeit der wortwärts gerichteten Gedankenbahn ist die Veränderung zu spüren. Die gedankliche Zustimmung und Ablehnung ist nun eben mit der eigenen Gewißheit geladen. Und diese Geladenheit erst macht den Gedanken voll wirksam für den Denkenden selbst wie für seine Umwelt. In dem Denkenden selbst zeigt sich diese Wirksamkeit zunächst in einer eigentümlichen Erwärmung seines ganzen Wesens, auch seines körperlichen Wesens. Vollständiges, in seiner doppelten Schwingung verlaufendes Denken macht warm, ja, kann den Menschen bis zum Glühen bringen. Und es ist wohl begreiflich, daß Menschen sich in diesem leidenschaftlichen Denken verzehren. Während jenes abgekürzte, immer nur wortwärts wiederholte Denken kalt macht. Auch im wörtlichsten Sinne, etwa kalte Füße und Hände, aber auch spitze Nase, verkniffenen Mund und eiskalten Blick. Aber die wärmende Wirkung in dem Denkenden reicht auch über ihn hinaus weiter. D a s aus der eignen Gewißheit wieder auftauchende Denken macht licht. Zusammenhänge von vorher unbekannter Art —

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werden erhellt. Und das Fernste kann mit dem Nächstliegenden in klar sichtbare Verbindung treten und dadurch eben plötzlich begreiflich werden. Das in die Gründe des eignen Wissens hinabreichende Denken eines großen Politikers ist von solch aufhellender Art, während in der üblichen Politik, besonders in der Parteipolitik, fast allein die einseitig wortwärts gerichteten Gedanken kursieren, und immer neue Verdüsterungen am "politischen Horizont bewirken. Nur das vollständige Denken ermöglicht es, die gegenwärtigen wirtschaftlichen und geistigen Verhältnisse der Staaten und Völker in all ihren Verflechtungen über die ganze Erde klar zu sehen und zusammenzudenken. Nur politische Gedanken aus solcher erleuchteten Einsicht schaffen die große politische Tat. Das immer wiederholte, mechanisch verkürzte Denken macht die Gedanken überhell. Klärende Gedankengänge lichten sich immer mehr auf und werden blässer und blässer. Diese Überlichtungsgefahr der Aufklärung spüren wir heute auf allen Gebieten. So besteht etwa für tief gedachte philosophische Systeme gar nicht so sehr die Gefahr, daß sie unverstanden bleiben, sondern im Gegenteil die Gefahr, daß sie nur allzusehr verstanden werden, allzu licht und übersichtlich werden. Schließlich bleibt nur noch ein Schema, ein Schemen ihrer selbst übrig. Philosophiegeschichte führt heute sehr häufig dahin. Aber auch die Wiederholung eigner, schon früher gedachter Gedanken leidet oft an solcher Überlichtung. Jeder, der gezwungen ist, viel gedanklich zu arbeiten, wie etwa der Jurist, der Lehrer und andere, leiden an der Überlichtung ihrer eignen, einmal in früherer Zeit wirklich vollständig durchdachten Gedankenbilder. Es ist die geistige Alterskrankheit. Es ist eben Gesetz, daß Gedanken in der Wiederholung abblassen und erkalten. Wenn auch ihre Schärfe und Schlagkraft scheinbar zunimmt, ihre wahre Wärme- und Lichtwirkung nimmt ab. Nur wo das Denken immer wieder in das Bad der — 19

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eignen Gewißheit untertaucht, verjüngen sich auch die schon gedachten Gedanken. Dies Untertauchen ist ein kurzes Vergessen der Gedanken. Erst nach diesem Vergessen ist es ja möglich, einen Gedanken wieder zu erinnern. Vergessen und Wiedererinnern bezeichnet den abwärts und wieder aufwärts steigenden Ast dieses doppelläufigen Denkens. Wem sein Denken nicht immer wieder versiegt, wen es nicht in jedem Augenblick zu verlassen droht, der verfügt noch nicht in vollem Maße über die Verjüngungskraft der Erinnerung. Die Gedächtniskräfte werden einseitig überzüchtet, schon vom kindlichen Schulalter an. Man lernt nicht vergessen. Das Kind darf viel zu wenig vergessen; es muß jeden Gedankengang gleich behalten, jeden Gedanken gleich wiedergeben. So wird die Gedankenspannung von vornherein zu groß. D a s gedächtnismäßige Behalten jedes aufgenommenen Gedankens läßt es dann allmählich zu jener niemals mehr aussetzenden Denktätigkeit kommen, die heute viele Menschen schon nicht einmal mehr ruhig schlafen läßt. Einseitige Gedächtnisübung züchtet die einseitig wortwärts gerichtete Denktätigkeit, den Denksport, der heute vielerorts, wie der Körpersport, groteske Formen annimmt. Vor allem da, wo diese sportmäßig ausgeübte Denkarbeit berufsmäßig zum Geldverdienen betrieben wird. Nur ist es damit noch verhängnisvoller als mit dem Preisboxen, dem Sechstagerennen und anderem Berufssport, weil hier nicht nur junge Menschen auf die Bahn treten, sondern alle Altersstufen und gegenwärtig sogar auch die Frauen. All die Menschen, die so Sklaven ihrer eigenen Denktechnik werden, können nicht mehr genug vergessen. Das ist die wesentliche geistige Schädigung, die da eintritt. Auch jede Kleinigkeit wird wahllos im Gedächtnis behalten. So werden sie Pedanten ihrer eigenen Denkarbeit. Sie können das Denkschema, das immer nach rechts und nach links, nach A und B und C eingeteilt ist, überhaupt —

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nicht mehr los werden. Andererseits können sie es auch keinem anderen Menschen „vergessen", wenn er dies Schema durchbricht. Sie werden zu Kleinigkeitskrämern und Kritikern der Kleinigkeiten. Mit viel Geschrei über belanglose Rechenfehler machen sie den Zeitgenossen die großen Oedankenfolgen verächtlich, so daß die Taten, die daraus entstehen, von vornherein mit dem Stempel der Lächerlichkeit und Unvermöglichkeit versehen sind. Aber auch in noch viel größeren Zügen ist im Lauf der Geschichte Vergessen von Zeit zu Zeit nötig. Vergießen und Verlöschen alles bisher G e dachten beschließt jede große Periode im Leben des einzelnen Menschen und der Völker. So war es von jeher. Wenn es lange nicht dazu gekommen ist, können die Gedanken nicht mehr leben und sterben. Sie überaltern und verunzieren die Jugend, vergreisen und lähmen die Männer und machen die Frauen unschön und unfruchtbar. Fest gehaltene Gedanken, starr gewordene Begriffe, lassen dann die Politik, Gesetzgebung und Rechtsprechung eines Volkes immer weit- und lebensfremder werden, so daß eigentlich jeder merkt: es stimmt gar nicht mehr. Wissenschaft, Dichtung und Kunst laufen noch in den ausgefahrenen Gedankenbahnen oder setzen sich mit der alten Gedankenwelt in wüstem Ansturm auseinander, kommen aber weder so noch so davon los und verlieren immer mehr an Wirkung, weil kein Mensch mehr im Leben so etwas braucht. Und auch ins tägliche Leben, in Beruf und Jugenderziehung, dringt die Gedankenspaltung. W a s man eigentlich meint, läßt man durch ganz veraltete Gedankengänge ins W o r t laufen und wundert sich nicht einmal, wenn kein Tun zu Wort und Gedanken mehr recht passen will. Keine Reform von irgend einer einzelnen Seite kann hier mehr helfen. Nur das Vergessen der vergangenen Gedanken. Wenn es so weit ist, hilft sich das Volk in seiner Gesamtheit selbst und opfert eine ganze Generation dem großen Vergessen, macht alle die Einzelnen dieser Generation namenlos, löscht alle Gedanken und Taten —

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als Werke von Einzelnen aus und läßt nur im Gedächtnis zurück, was allen gemeinsam ist. In dieser Zwischengeneration fallen nun alle Gedankenbrocken, die nicht mehr begreiflich sind, zu Boden. Sie bleiben einfach solange geistig unbenützt, bis plötzlich kein Mensch mehr daran denkt. So besteht die Möglichkeit, daß Gedanken wieder gemeinverständlich werden. Dies ist die Aufgabe der Generation, die Krieg und Revolution ertrug und erlebte. Diese Zwischengeneration ist wie ein großes Sieb, vor die Zukunft des Volkes gehängt. Sie sorgte dafür und muß immer mehr dafür sorgen, daß alle Gedanken, die verdorrt und wesenlos geworden sind, noch einmal, zum letzten Mal durch sie hindurch fallen, um als Spreu zu verwehen. In diesem Sinn haben sie die Pflicht, die alten Gedanken zu prüfen und durch ihr weitgespanntes Leben durchzulassen. Nur wo so gründlich, und nicht nur von einem Einzelnen, sondern von einer ganzen Generation, vergessen wird, kann der Anschluß an das lebendige Wissen erreicht werden, kann das ursprüngliche Wissen in jedem einzelnen Menschen wieder freigelegt werden. Nur wenn alle gemeinsam vergessen und in sich zu Ende führen und in sich ersterben lassen, was nicht mehr gültig und geistig wertlos geworden ist, wird das einfache Wissen des Menschen wirksam und stark und kann nun auf neuen Gedankenbahnen aufwärts zum Wort steigen.

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II. Reden und Schweigen Das Wort ist eine Geburt aus dem Dunkel der schweigenden Tiefe. Diese Nacht des Schweigens setzt zu immer neuen Geburten an, so licht-gewaltig, daß ganze Völker sich daran Jahrhunderte lang entzünden, oder auch so heimlich und verborgen, daß nur zwei, die sich lieben, für kurze Zeit daran in Brand geraten. Die großen Sprachen der herrschenden Völker leuchten in der gegenwärtigen Zeit wie auch früher stets nur aus dem dunklen Schoß der schweigenden Erdgeschichte als der klingende Sieg des allgemeinsamen Geistes. Aber genau wie in den großen Zeiträumen bricht täglich und stündlich zwischen den Vertrauten inmitten qualvollen Schweigens, dunklen Gemurmels und toten Geredes immer wieder und wieder das lebendige Gespräch auf, als Geburt des Wortes aus der verworrenen Nacht in die deutliche Klarheit alles dessen, was für die Beteiligten, zum mindesten in dieser Zeit ihres Gesprächs, wirklich und unbedingt gemeinsam gültig ist. Also die Sprachkraft der Weltgeschichte wie des einzelmenschlichen Augenblickes leuchtet immer plötzlich aus dem Dunkel sprachloser, ausdrucksloser Zeiten. Und immer liegt im Schweigenkönnen das Geheimnis der lebendigen Sprachkraft verborgen, so wie im Vergessenkönnen die lebendige Denkkraft und in der Tiefe des Zweifels der lebendige Glaube verborgen liegt. Kinder lernen sprechen, so sagt man. Aber woher lernen sie es? Der plappernde Stimmklang ist zunächst kein Sprechen, ist spielend nachgeahmter Tonfall. Wird er übermäßig geübt und als etwas Eigenmächtiges bestaunt, so wächst er sich aus zu dem toten Gerede, um dessentwillen man die meisten Menschen später lieber stumm wünschte. — 23

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Die Kinder lernen hören. Sie nehmen das Wort auf. Sie hängen am Munde der Vorfahren. Sie verstummen ganz und gar in die Worte hinein, die sie hören. Und aus Schweigen erwächst ihr eigenes dem hinhörenden Sprechen. Wie wenige haben diesen schweigenden Durst nach dem Wort wirklich zu spüren bekommen. Erzwungen und viel zu früh lernten sie sprechen und reden von da an zu viel. Immerfort wollen sie alleine reden. Sie hören nicht hin, wenn eine andere Stimme laut wird. Sie lassen sich nicht den Weg ins Schweigen weisen. Und weil sie nicht hören können, darum lernen sie niemals aus der Tiefe sprechen. Sprechenkönnen ist ja nicht wie Riechenoder Sehenkönnen dem einzelnen Menschen von sich aus angeboren. Sprache wird erst gehört und dann gesprochen. Und dieser ständige Wechselstrom von schweigendem Hören zum lebendigen Sprechen, der mit dem ersten Hinhorchen des Kindes beginnt, darf nicht unterbrochen werden. Das ist von entscheidender Bedeutung für jeden einzelnen Menschen wie für die große Geschichte ganzer Völker. Wo dieser Wechselstrom der Sprache einmal unterbrochen ist, Worte nicht mehr einzudringen vermögen, sondern gleich abprallen, entsteht mit jenem schnell plätschernden Hin- und Herreden, nicht nur wie man vielleicht meinen könnte, etwas Unnötiges, etwas Belangloses. Damit bildet sich vielmehr allmählich eine feste Kruste um den Menschen, die sich auch von innen her, vom Sprechenden her nach einiger Zeit nicht mehr durchstoßen läßt. Der Mensch verhärtet sich dann dem Wort gegenüber. Das Wort des anderen erreicht ihn nicht mehr. Aber er selbst erreicht auch den anderen nicht mehr mit dem Wort. Also erst wer eindringlich Gesprochenes wirklich in sich einzulassen gelernt und immer wieder geübt hat, indem er schweigend verharrt — aus dem kann dann die eigene Sprache hervorbrechen. Aber die Redeabsicht muß während des Hörens so ganz abgestellt sein, als wollte man überhaupt niemals wieder etwas sagen. Hören ohne jede — 24 —

eigene Sprachabsicht ist also Vorbedingung, ohne die nicht zu jenem fruchtbaren Schweigen zu kommen ist. Hören ist das Schweigen vor der Sprachgewalt des anderen Menschen. Somit ist Hören das Wissen um den anderen, ein Wissen, das stumm macht, durch die laut werdende Kraft des Andern. Es gilt hier, sich zu vergegenwärtigen, daß H ö r e n im Fluß von Rede und Antwort, im Lauf jedes Gespräches, aber auch in der sprachlichen Geschichte eines ganzen Volkes, die T i e f e n s c h i c h t d e s S c h w e i g e n s darstellt, aus welcher der Sprachwille allein die Kraft zur Weiterführung des Wortes entnehmen kann. Wo es deutlich wird, daß niemand mehr zuhört, kann man nicht weiter sprechen. Oder wer da weiterspricht, gerät leicht in das Dickicht sprachlicher Sondermeinung, in die eigentliche Sünde des Wortes, in die Lüge. Mit seinen Worten, die nicht mehr aufgenommen werden, sondern gleich wieder auf ihn zurückspringen, übersteigert er dauernd seine einfachste sprachliche Arbeit. Und bestenfalls wird ein so allein gelassener Sprecher einen großartigen Wirbeltanz mit seinen eigenen Gedanken aufführen, der immer wilder in seiner schmerzvollen Bewegtheit, schließlich in sich selbst zusammenbricht, weil er sich immer mehr loslöst von der ruhespendenden Tiefenschicht des zuhörenden Schweigens der anderen. Die andern verstehen ihn immer weniger und treiben ihn mit ihrem wachsenden Unverstand immer mehr zu eigenwilligen Behauptungen, zu gewagtem Wortspiel, ja zuletzt womöglich zu völlig verantwortungsloser Lüge. Jedes Wort lügt dann. Hier ist die Stelle, wo die Sprachkraft des einzelnen Menschen starr werden und sterben kann. So wie es im täglichen Leben jedem einzelnen Menschen gehen kann, daß er sich mit seinen Worten ablöst von dem zuhörenden Verständnis der andern und sich dann in seinen eigenen Worten verstrickt, genau so geht es in dem großen sprachlichen Fluß der Völkergeschichte. Auch da können sich sprachmächtige Einzelmenschen oder -

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ganze Volksteile ablösen und den Zusammenhang verlieren mit dem Verständnis der großen schweigenden Schicht des hörenden Volkes. Das ist die Stelle, wo die Sprache eines ganzen Volkes zur „Toten Sprache" werden kann. Eine tote Sprache ist wohl weiter zu s p r e c h e n , im Lauf der Zeiten aber nicht weiter zu h ö r e n . Das ist das Entscheidende. Sprachtod tritt ein, wenn das Volk nicht mehr hören will. Die stumme Schicht, auf deren zuhörende Willfährigkeit in dem sprachlichen Fluß der Geistesgeschichte so sehr viel ankommt, kündigt dann den Gehorsam auf. Dann ist kein Schweigen mehr im Volk. Jeder redet für sich. Alles redet. Die noch hören können, werden immer seltener. Allein auf den wenigen Menschen, die noch schweigend verstehen können, ruht dann noch die Hoffnung des Volkes. In Wahrheit auf denen, die noch hören können, oder die wieder lernen zu hören, beruht recht eigentlich die geistige Gewalt des Wortes, und damit die sprachliche Zukunft des Volkes. Denn sie allein können die viel zu vielen aufgeregten, hin und her bewegten Menschen durch den Gehorsam am Wort, den sie vorbildlich üben, wieder zur Ruhe bringen, daß Schweigen herrscht und gewichtiges Wort überhaupt wieder laut und wirksam werden kann. Der unterbrochene Wechselstrom von Hören und Sprechen im täglichen Leben des Einzelnen wie im großen Leben des Volkes muß dann erst wieder durch eine neue Schicht von Menschen, die zu schweigen und zu hören gelernt haben, mit dem Mutterboden verbunden werden, aus dem allein die neue sprachliche Kraft weiterströmen kann. Mit Schweigen ist hier also zunächst immer gemeint das Schweigen vor der Sprachgewalt des anderen Menschen. Nun gehört aber zum vollständigen Schweigen noch mehr, nämlich ein Verstummen in die Gewalt der Dinge selbst, die zwischen den Menschen zur Sprache kommen sollen. Dies Schweigen vor den Sachgewalten gehört ebenfalls noch zu der ruhespendenden Tiefenschicht, aus der verjüngte Sprache immer wieder entspringt. Hier —

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gilt es, die Sprache der Dinge selbst zu hören. Auch hier muß jede Redeabsicht verstummen, wenn die dingliche Welt selbst zu sprechen beginnt. Ein Mensch, der vom Strand des Meeres aus die Wellen überschreien will, ist lächerlich genau so wie einer, der in einem modernen Maschinenhaus mit Redeabsicht auftritt. Die freien wie auch die in Dienst genommenen Naturkräfte, also die natürliche Welt und die Welt der menschlichen Arbeit hat ihre eigene Sprache, die wir nur in schweigendem Anschauen oder in schweigendem Tun verstehen können. Wer bloß redet, ohne sich mehr Zeit zu lassen, die natürliche Welt in ihrer Wirkung zu verstehen, dessen Sprache wird immer weniger Anschaulichkeit besitzen. Die Natur versagt sich ihm mehr und mehr. Er kann nicht mehr aus der Tiefe ihrer Bildkraft reden. Und spricht er nun doch immer weiter, so gerät er immer mehr in die dünne Luft der rein logischen Verbindlichkeit. Auch dies führt zu der sprachlichen Absonderung, zu der eigentlichen Sünde des Worts, zu der Lüge. Die Worte mögen in sich selbst völlig klar in ihrer Verbindung sein, sie reden aber über die Dinge hinweg, haben keine Verbindung zu der dinglichen Welt. Rein logische Beweisführung verliert oft den Anschluß an die Anschauungskraft des einzelnen Wortes und der Wortverbindungen. Es kommt da zu der glänzenden Lüge begrifflicher Systematik, die zwar in sich völlig richtig zusammengebaut sein kann, die aber den Menschen, der nun nach solchen Systemen sein Leben und Tun einrichten will, aufs schlimmste irreführt. Eine so von jeder Natur verlassene Sprache wird dann immer mehr eine Sammlung leerer Worte, die, weil sie sprachlich nicht mehr hinabreichen in die Bildkraft der Naturgewalten, auch in Wirklichkeit nicht mehr mit der natürlichen Gewalt der Erde zu verbinden vermag. Der Wechselstrom von Sprechen und schweigendem Anschauen der Naturgewalten, die die menschliche Welt -

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bedingen, ist da unterbrochen. Und auch hier kommt alles darauf an, daß eine neue Schicht im Volke, die gelernt hat zu schauen und zu lauschen auf die leise Sprache der Dinge, dies schweigende Anschauen vorbildlich übt. Nur in einem solchen Schweigen einer ganzen Volksschicht vor der Gewalt der Dinge vermag sich dann die Sprache wieder zu sättigen. So daß dann die Worte der Sprache wieder in ihrer bildlichen und urbildlichen Bedeutung aus diesem Schweigen auftauchen und verstanden werden können. Und schließlich als letztes gilt es zu schweigen vor der tatenreichen Welt der Arbeit. Wer immer redet, ohne mehr schweigend tätig sein zu können, dessen Sprache verliert immer mehr an Schwere und Wirkungskraft. Man kann ihm nicht glauben, was er spricht. Auch dies also führt zur Lüge. Wer von der stummen Welt der Taten abgeschnitten ist, lügt aus Angst vor den Tätigen, täuscht sie mit Worten über seine eigene Tatenscheu hinweg. So gibt es drei Arten der Lüge. Lüge aus mangelndem Wissen um den Andern, die sich erschöpft in der Lust an der e i g e n e n Gedankenbildung und Erfindung. Lüge aus mangelnder Schaukraft, die sich in kalter Begrifflichkeit mit dem Wort selbst befriedigt. Und schließlich Lüge aus mangelnder Tatkraft, die entweder eigene Untätigkeit verdecken oder eine Tätigkeit vortäuschen will. Die so von der Beweiskraft des eigenen Tuns abgeschnittene Sprechweise wird immer unwirklicher und unwirksamer. Ja, eine solche Sprache, die unserer Welt der Arbeit gar nicht mehr entspricht, kann allmählich ganz gespensterhaft wirken mit ihren abgestandenen Idealen und Moralbegriffen. Auch hier ist der Wechselstrom zwischen Sprechen und schweigendem Tun unterbrochen, und nur eine neue Schicht im Volk, die treu und sachlich zu arbeiten gelernt hat und also in die Sachlichkeit der Arbeit hinein verstummen kann, vermag alsdann der Sprache —

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aus diesem Abgrund schweigenden Tuns ihre große und unmittelbare Wirkungskraft wiederzugeben. So daß dann das Wort einer solchen mit Tatkraft erfüllten Sprache für alle, die es hören, unwiderleglicher Beweis und unweigerlicher Befehl wird. Dreifach also muß die Sprache verstummen: Nur wer es vermocht hat, auf die andern Menschen schweigend zu hören, auf die großen Gewalten, die das Leben bedingen, schweigend zu schauen und schließlich schweigend zu tun, was gerade notwendig ist, dessen Wort wird dann aus der ganzen schweigenden Tiefenkraft des Volkes aufbrechen und von dorther eindringliche Liebeskraft, Bildkraft und Tatkraft mitbringen. In der Sprache der Worte ist ja alles getrennt und einzeln, was ursprünglich ganz und ungeteilt im Schweigen ruhte. Wohl w e i ß man in seiner Gesamtheit, was man innerlich gehört hat, angeschaut hat und tun will, aber sagen kann man das nie in seiner Gesamtheit. Bei der Umsetzung von Schweigen zu Sprechen gibt es also notwendig immer einen Verlust. Dieser Wechselstrom von Hören zu Sprechen, von Schauen zu Sprechen, von Tun zu Sprechen arbeitet gewissermaßen nicht reibungslos. Nie kann man also g a n z sagen, was man eigentlich weiß. Ein gewisser Verrat an der Wahrheit des Gewußten in seiner Gesamtheit ist somit unerläßlich für jeden, der sich zum Sprechen entschließt. Aber viel zu früh und viel zu gründlich lernen die Menschen sich mit diesem Verrat an ihrem eigentlichen Wesen abfinden, so daß sie dann nicht wieder zurückfinden zum Schweigen. Sie gewöhnen sich daran, überhaupt nur noch herumzureden um das, was sie ursprünglich aus ihrem ganzen Wesen heraus wissen. Ja schließlich gewöhnen sie sich daran, einander auszureden, was sie wissen. Aber in den Kindern wird das schweigende Wissen in seiner Vollständigkeit immer wieder neu geboren. Eltern und Erzieher bekommen in jedem Kinde immer wieder diesen Block des schweigenden Wissens vorgesetzt. In den — 29

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meisten Fällen werden sie freilich davon so beunruhigt, daß sie möglichst schnell daran gehen, diese Ganzheit des Wissens zu spalten, das heißt zu zerreden, während doch die Aufgabe wäre, das, was jedes Kind von innen heraus weiß, zu entfalten. Die Zerstörung dieses kindlichen Qesamtwissens durch die Erwachsenen geht immer in zweierlei Richtungen vor sich. W o es sich um gefährliche innermenschliche Erkenntnis handelt, also um all das, was nachher im Leben der Erwachsenen durch die moralische Gesetzgebung geregelt wird, da erschrickt man vor der Hemmungslosigkeit des kindlichen Wissens um die Zusammenhänge. Man sucht die Frage aus der Tiefe des Wissens ins Ungefährliche abzulenken. Man rechtfertigt das vor sich selbst, indem man sagt, ein Kind darf doch so etwas noch gar nicht wissen. Man sagt ihm, dazu bist du noch viel zu klein und redet ablenkend von anderem. Das Kind, das sich ja aus der Fülle seines jungen Lebens leicht zufrieden gibt mit allem, was ihm geboten wird, läßt sich auch nur allzu leicht ablenken durch den von seiner Frage abgewandten Wortschwall. Und wenn das immer wieder geschieht, vergißt es immer tiefer, was es eigentlich weiß und worüber es sich durch seine Fragen doch nur dann und wann Bestätigung und Gewißheit holen will. Wie es mit dem Leben in der Welt ist, bei Pflanzen, Tier und Mensch, wie es mit Wetter und Wind ist und mit dem Laufe der Gestirne, mit Licht, Wasser, Luft und Erde, mit Geburt und Tod — dies ganze Wissen um die organischen Zusammenhänge des Lebens hat jeder Mensch als Träger eben dieses Lebens in sich, wie er es um sich hat. Und auch mit dem Abbau und Umbau dieser natürlichen Welt weiß jeder von Anfang an schon Bescheid. Er weiß, daß man zerlegen, messen und zählen muß, daß man zerreißen, schneiden und zerstören kann. Er weiß, daß diese Tätigkeit, welche die organischen Zusammenhänge willkürlich abbaut, umgestaltet und verwandelt, recht eigentlich die Welt der menschlichen Taten ist. Dieses dop-

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pelte Wissen, also die Einsicht in die organischen Zusammenhänge des natürlichen Lebens, jenes tatenlose Schauen der Außenwelt, und zugleich die tatenfrohe Absicht, mit diesem Wissen etwas anzufangen, indem man es als. Material zunächst zerlegt und ordnet, danach aber menschlich gestaltet, beides liegt von Kind auf in jedem Menschen drin. Und beides lassen die erwachsenen Erzieher nicht zu, weder das Wissen um die Natur der Dinge in seiner ungebrochenen Ganzheit, noch das Wissen um den notwendigen Abbau und Umbau dieser natürlichen Welt in seiner ganzen Unerbittlichkeit. Der organische Wissensdrang der Kinder, das ursprüngliche Wissen um die organischen Zusammenhänge des Lebens ist ihnen zu hemmungslos-ungeteilt. Daß ein Kind harmlos-sorglos die Ewigkeit alles Lebens von der Wurzel aus begreifen kann, läßt man nicht zu, weil man selbst schon nicht mehr sorglos genug ist, um an dieses ewige Leben zu glauben. Andererseits den mechanischen Wissensdrang des Kindes, das ursprüngliche Wissen um Zerstörung, Abbau, Umordnung und Gestaltung nach menschlichen Maßen, läßt man auch nicht zu, weil er sich gar so grausam und unerbittlich äußert. Man läßt das Kind also weder das Leben in seiner Ganzheit schauen, ebensowenig aber läßt man zu, daß das Kind etwas entzwei machen kann, um es sich einzuverleiben, zu verarbeiten und umzugestalten. Der Erwachsene fürchtet sich vor dem Ewigkeitsglauben des Kindes und sucht ihn abzulenken durch den Schwall erklärender Worte. Andererseits fürchtet er den Zerstörungstrieb des Kindes, sucht ihn aufzuhalten und abzulenken durch ermahnende Worte. So verbietet man einem Kinde möglicherweise ein Uhrwerk zu zerlegen, obgleich es doch nur dadurch lernen kann, wie Menschenwerk zusammengesetzt ist. Und zu gleicher Zeit vielleicht ist man völlig ratlos bei einer Äußerung des Kindes, die aufs Ganze des Lebens zielt und zerpflückt ihm dies sein ursprüngliches Wissen davon durch ganz flachsinnige und widersinnige Erklärungen. —

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Also gerade umgekehrt wie es sein müßte: Man lehrt die Kinder Ehrfurcht vor den vielteilig zusammengesetzten Dingen des täglichen Gebrauchs, während man ihnen die einheitlichen Grundwahrheiten des Lebens zerteilt und zerpflückt. Beides durch Worte, durch mahnende oder durch erklärende Worte. Was man zur Zerstörung freigeben könnte, erhält man, und was man erhalten müßte, zerstört m a n : Eine völlig falsche Ehrfurcht vor der mechanischen Welt der Gegenstände und gleichzeitig eine glaubenslose und ehrfurchtslose Zudringlichkeit in die Welt des organischen und geistigen Lebens ist das im wahrsten Sinn des Wortes „verkehrte" Ergebnis solcher Erziehung. Beides beginnt und endet in wortreicher Geschwätzigkeit. Der so erzogene Mensch ergeht sich dann zeitlebens in völlig überflüssigen Lobpreisungen über die Errungenschaften der Technik. Er betet sie an, diese mechanische Welt der Technik. Wo er doch nur einfach lernen sollte, all das wortlos herzustellen, um es zu benutzen, soweit es brauchbar ist, und zu zerstören, soweit es sich als unbrauchbar erweist. Andererseits die lebendige Anschauung der organischen Welt wird ihm durch den Wortschwall der hundertfältigen Meinungen und Erklärungen überschwemmt und verdeckt. Und hier gerade müßte er einfach auf sein Wissen vertrauen lernen, um dann wortlos verehren zu können, was ihm langsam und immer tiefer offenbar wird. Das Doppelziel einer zukünftigen Erziehung wird es sein müssen, den Kindern einerseits ihr Wissen von den mechanischen Möglichkeiten frühzeitig zu bestätigen und es zu schweigsamem Tun weiterzuführen, andererseits ihnen ihr Wissen von den organischen Zusammenhängen nicht zu zerstören, sondern es zu schweigender Überschau weiterzuführen. Erst durch eine so doppelt zielsichere Erziehung wird jene Schicht von Menschen, die schweigsam arbeiten und still zuschauen können, wieder langsam vermehrt werden. Und erst aus dieser Schicht, die schweigen kann, — 32 —

werden die Menschen erwachsen, die dem eindringlichen Wort gehorsam sein können und die damit dann das Recht erhalten, selbst zu Sprechern machtvoller Worte zu werden. In jedem Fall gilt es, den Kampf gegen kleinsinnige Geschwätzigkeit aufzunehmen. Viel zu schnell lassen sich die Menschen, die durch den Zwang der Arbeitswelt gebunden sind, zu vorschnellen Worten hinreißen. Aber auch die anderen, die für die Wahrung der Geheimnisse in der Weltschau verantwortlich wären, lassen sich durch die Sensation dessen, was sie wissen, zu vorschnellen Worten hinreißen. Allein ein einheitlich zielgerichteter und großzügig geleiteter Volkswille vermag heute dieses verworrene Verhältnis von Sachwelt und Geisteswelt zur Sprachwelt neu zu ordnen. Und nur dann, wenn gleichzeitig die Pflicht des neuen Gehorsams aufs Wort in jenem dreifachen Schweigen stark wird.

Festschrift Broyslg II

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Vom sozialen Sinn der Schule Gesellschaftsseelische Anmerkungen an die Zeit von Ernst

Hering

W e r vor den Tatsachen einer neuen Welt steht u n d dem schwankenden Auf u n d Nieder aufmerksam folgt, der spürt auch den Strom, der zwischen den wechselnden Losungen der Zeit d a s Werden vorwärtsdrängen möchte. Wie das Auf und Ab der Flamme auf dem Altar in ihrer Bewegung und in ihrem Schwingen d a s Brennen und Glühen begreiflich macht, so sehen wir in dem Leuchten, das um einzelne W o r t e sich sammelt, die G r u n d s t i m m u n g und die G r u n d r i c h t u n g einer Zeit, die in dem Schlagwort irrender Ratlosigkeit des Suchens neuen und wahrhaftigen Ausdruck innerer Wirklichkeit geben möchte. Zwischen Wollen und Wirken steht d a s Gesetz des Werdens, und immer noch sind W o r t e die Leuchtfackeln gewesen, die mit einer Mischung von Mystik und Sehnsucht aufleuchten als Losungs- und Zielworte, die Menschen zu sammeln und zu begeistern. Wie der Begriff Entwicklung jahrzehntelang die Romantik des Fortschrittes gefangen hielt, so wirkt in unseren Tagen das W o r t Gemeinschaft schlechthin dogmatisch, und alle schöpferische Kraft wird als Sehnsucht mit diesem W o r t verknüpft. Es ist niemals nach Gemeinschaft zu rufen, wo nur Einzelne und keine Gemeinschaften sind. Aber es ist der Sinn unseres jetzigen Lebens, mitzuwirken, daß eine Gemeinschaft wird zwischen den Menschen. — 34

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Wie konnte es auch anders sein, daß die Schule, da sie Ausdrucksform des jeweiligen Zeitgeistes und Qefäß des Zukunftswillens einer Generation ist und mit den Geisteswissenschaften alle Schicksale des Werdens teilt, in dem Wort „Gemeinschaftsschule" die Sehnsucht einer Zeit umschreibt, die in ihrer Grundtendenz und in ihrer Grundstruktur individualisierend und keineswegs auf Gemeinschaftsverantwortung angelegt erscheint! Worte umschreiben stets nur eine Wirklichkeit, aber sie reichen niemals an sie heran, wenngleich poetisch angelegte Denker aller Zeiten glaubten, sie hätten eine Sache erklärt und neu gebaut, wenn sie ein neues Bild für sie gefunden hatten. Es ist ein Zeugnis für die schwache Begrifflichkeit gegenwärtiger Losungen, wenn sie den Ursinn aller „Schule", die als Funktion der Gesellschaft stets auf Gemeinschaft angelegt ist, erschütterte und das Paradoxon „Gemeinschaftsschule" prägte. Dem Rückschauenden gewährt es einen eigenen Reiz, zu ermitteln, was in dem großen Gange des Lebendigen von gestern zu heute, von heute zu morgen, von einem Menschtum zum anderen Menschtum als Funktion in der Schule je und je gegolten hat, solange Individuen beim Hinabsteigen in die eigene Tiefe und in die Ewigkeit ihres Da-Seins sich mühen, die allgemeinen aufbauenden Werte mystischer Art als Gemeinsamkeit zu erschauen oder doch zu ahnen. Jene Werte, die über der einmaligen organischen Form Mensch stehen gleichsam wie ein durch alle Menschen hindurchziehendes Gesetz des Lebendigen! Schule ist und war wohl immer eine Veranstaltung der Gemeinschaft und als solche ein Hilfsorgan der Gesellschaft, das die Bildung und Entwicklung von Gemeinschaft ermöglichen soll, Wechselbeziehungen zwischen Individuen sollen geistig organisiert werden, und eine Umgestaltung und eine Anpassung und eine Angleichung der Elemente, die Gemeinschaft werden wollen oder sollen, geschieht. So ist Schule stets da, wo es Mitteilung gilt und Weitergabe technischer Fertigkeiten oder geistiger Gemeinsamkeit. Die Eltern, — 36 —

deren gesellschaftliche Leistung nicht nur in der Hervorbringung neuer Individuen, sondern auch in der körperlichen Ernährung und geistigen und moralischen Erziehung der Kinder bestand, bewahren dabei ihre innere Fruchtbarkeit, ihre lebenzeugenden Gemeinschaftskräfte. Die Schule wurde, indem sie die Erziehung, die ursprünglich der Familie oblag, übernahm, Hilfsorgan der Oesellschaft und damit als ständige Veranstaltung die Stätte des Unterrichts und der Erziehung. Darum gilt uns die Schule als diejenige Einheit, in der zweierlei geschieht, Unterricht und Erziehung, wobei der Unterricht den Inhalt, die Erziehung den Prozeß des Lehrens und Lernens zum Gegenstande hat. Schule als Organisationsform ist leer ohne inneres Gemeinschaftsleben, und aller werbenden Kraft der Schule gilt der Lehrer als Mittler, der für eine Gemeinschaft zu gewinnen sucht. Eine n a t u r h a f t konstituierte Gesellschaft kennt die Gemeinschaft nicht, weil sie nur i s o l i e r t e Individuen a d d i e r t . In jeder Schule aber ist der Lehrer der Funktionär einer geistigen Sphäre und wirkt als solcher auf den anderen vom Einzelnen zum Einzelnen. Erzieher und Erzogene wetteifern um Eines: um den Personal wert des Erzogenen. Man ist i n e i n e m W e r t z u s a m m e n , in ihm begeistert, in ihm schaffend, in ihm genießend und gewährt sich Vertrauen, Förderung und Hilfeleistung. Mit dem Erreichten werden der Erzogene und der Erziehende beglückt, wenn sie beide den Reiz des Agon genießen, d e r . z u s a m m e n angespannten K r ä f t e . Man vergemeinschaftet sich um einen Wert, und es gewährt alle Reize des Gebens und Nehmens, des Werdens und Wachsens, indem der Erzieher den Strom des Werdens in dem zu Erziehenden begreift und ehrt. Der Erziehende, dei Lehrer will einen Wert der Gemeinschaft weitergeben, der zuvor in ihm selbst Gestalt und Kraft gewonnen hatte. Denn der Mensch als isoliertes Individuum wäre nichts, sein wahrhaftes Sein ist erst durch die Vergemeinschaftung da. — 36 —

Menschliche Gemeinschaft erzieht und bildet das Individuum, und nur in ihr ist es wirklich da. Es ist nicht zu übersehen, daß Schule als Mittlerin zwischen Wissenschaft und Volksgemeinschaft die Stätte ist, in der lebendiges Wissen, das ist Bildung, umgesetzt werden soll. Gemeinschaft als Wertung ordnet die Einzigkeit des Individuums nach den Maßen, die sie in den über den Einzelnen hinweggreifenden Normen findet. Es wird Zeit, zu begreifen, daß es keine Individuen, daß es nur Zusammengehörigkeiten, nur Gemeinschaften gibt. Das Glück der Natur, unverantwortlich zu sein, kann für den Menschen, der sich als der Gemeinschaft verbunden empfindet, nicht gelten, und die Schule empfängt ihren sozialen Sinn als die Stätte gesteigerter Verwirklichung gemeinsamer Geistigkeit, wirkt schöpferisch auf die Glieder der Gemeinschaft, weil Gemeinsamkeit des Handelns die Kraft zum Handeln erhöht. Wo aber geistige Gemeinschaft nicht gepflegt wird, nicht besteht, verfällt diese minderen Kräften, denn es ist Gesetz der Gemeinschaft, daß jene Kräfte, mit denen der Mensch sich vergemeinschaftet, fruchtbar werden. Daher ist die Schule gleichsam Sicherung der Gesellschaft, die geistige Gemeinschaft, die wir als Kulturgemeinschaft bezeichnen, sicher zu stellen und weiter wachsen zu lassen. Der Wille zur neuen Form der Schule, wie er im Kampfe seinen innersten Sinn offenbarte, bewies da gerade den Ursinn der Schule, daß die Kräfte, die zunächst gegen die geltende Schule aufgerufen wurden, in dem Kampfe, den sie führten, eine immer weitergehende ideelle Vertiefung des Begriffs Schule vollziehen und seiner Verlebendigung dienen. Die unter dem Losungsworte der freien Individualität ein Versprechen gaben an die Zukunft und Erlösung und Befreiung versprachen, erwiesen zu oft die Bequemlichkeit eines h a l t - und g r u n d - und b o d e n l o s e n S u b j e k t i v i s m u s , entweder schamhaft verkappt oder offen genug schamlos ausgebreitet. Ihre Wirkungsweise ist so wenig sinnvoll und lebensnah, wie das Pathos eines abstrakten Universalismus in der Erziehung. Indivi-

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dualität in einer bloßen Tatsächlichkeit steht doch zunächst wie alles n u r Tatsächliche jenseits von Wert und Unwert. Alles Tatsächliche ist individuell auch in seiner Individualität: alles ist gleich wertvoll — es könnte auch heißen: gleich wertlos. Erst durch die Beziehungen auf objektive überindividuelle Werte tun sich Wertunterschiede auf und durch die Bezogenheit auf die Werte einer „höheren E b e n e " kann das Individuelle wertvoll werden. In diesen Beziehungen lebt die Individualität als die Wertgestaltung eines konkreten Lebens. Sie gewinnt jene Wertigkeit im Sinne Kierkegaards, wonach d e r Mensch zum allgemeinen Menschen wird nicht d a d u r c h , daß er seine Konkretion ablegt, sondern dadurch, daß er sie anlegt und mit dem Allgemeinen durchdringt. D a h e r erhält die Erziehung die ebenso verantwortungsvolle wie hohe Aufgabe, in den Objekten der Erziehung die Gesamtheit der individuellen Anlagen zur Entfaltung zu bringen und zu entsprechendem Wirken im Leben der Gemeinschaft. Die subjektive Individualität e m p f ä n g t ihren Wert durch die Leistung in einer Gemeinschaft. D a s Individuum ist nicht nur um seiner bloßen subjektiven und individuellen Wirklichkeit willen d a , es e m p f ä n g t durch die Bezogenheit zu objektiven überindividuellen Werten seinen Rechtsanspruch auf Entfaltung seiner geistigen Kräfte im Dienste der Gemeinschaft. Die Tatsache eines Lebensprozesses ist an sich noch keine Wertgeltung, aber durch die Bezogenheit auf überindividuelle Werte, auf die Werte einer Gemeinschaft, gewinnt die Entfaltung einer Individualität s o z i a l e Wertgeltung im a u f b a u e n d e n Sinne. Eine Schulreform, die d a s Erbe einer schwachen Begrifflichkeit in sich trug, konnte allein in irreführender Weise den G r u n d s a t z vom Kinde ^us als A u f g a b e einer öffentlichen Erziehung proklamieren. t)abei kann doch der G r u n d s a t z vom Kinde a u s stets n u r ein methodisches Prinzip des Erziehungsverfahrens sein, niemals aber eine A u f g a b e der Erziehung. Diese wird immer n u r e m p f a n g e n von dem Kulturwillen einer Gesellschaft. — 38 —

Wer den Sinn der Schule aus dem Gesamtbilde der Lebensäußerungen zu deuten versucht, der tritt fürwahr den Weg an durch den Irrgarten der Zeit und erfährt an den Irrungen und Wirrungen, an den wechselnden und buntschillernden Bildwirkungen eines Wortes die mannigfachen Ausstrahlungen und Bewegungen des Lebens. Wer im Realkatalog einer Bibliothek über den Begriff Gemeinschaft im pädagogischen Sinne nachzulesen sich mühte und Orientierung Finden möchte, der würde enttäuscht. Es entbehrt nicht eines gewissen Reizes, in dem Auf und Nieder der Schulreform des ersten Viertels unseres Jahrhunderts die verschiedenen Deutungen des Wortes Gemeinschaft zu verfolgen. Da ist mit Matthias Meyer die Schule bis heute asozial, ja antisozial gewesen. Sie hat nicht die Menschen vereinigt, sondern Menschen getrennt; wo Gemeinschaft aufsprossen wollte, da ist sie mit grober Faust dazwischengefahren, und die Schule als Stätte der Vergemeinschaftung war nur die ,,Penne" oder der „Stall". Schlünz unterstellt der heutigen Staatsschule, daß sie nicht im Besitze der Jugend sei. Aus dem Kreis der Hamburger Schulreformer meint Jode: „Wer aber sagt, daß sich doch heute schon jeder Lehrer ernsthaft bemühe, mit seiner Klasse eine Lebensgemeinschaft zu bilden, der vergißt, daß Lebensgemeinschaft etwas anderes ist als was mit einem Glockenzeichen beginnt und einem Glockenzeichen endet, und selbst wer darüber hinausgeht und, wie er sagt, seine freie Zeit hergibt für seine Schule, ist nach dem Pauluswort noch ein Knecht der Gerechtigkeit, der wohl erreichen kann, daß seine Schüler eine Zeitlang mit Liebe an ihm hängen, der sie aber in der große^ Stunde ihres Lebens im Stich lassen wird." Johannes Gläser findet gar, daß alle Zwangsgemeinschaft nicht Erziehung ist — F r e i h e i t sei die Bedingung dafür. Da ist die Schule die Stätte der Massenerziehung, die das Schema besitzt, den Drill, den Zwang, und also das Gegenteil von Erziehung darstellt. Da löst Massenerziehung jede Gemeinschaft und verwandelt die natür-

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liehe Ordnung und Gliederung in einen zusammenhanglosen Haufen. Sie verwandelt die Kinder in Schülermaterial, das nach vorgeschriebenen Regeln gleichmacherisch geformt wird, statt daß man sie von innen heraus wachsen und s i c h bilden läßt. Da erscheint die Schule gemeinschaftsfeindlich, wenn Jöde sagt: „Der Kampf der Menschen gegeneinander, den schon die Schule mit ihren Rangordnungen, Zensuren und ihrem ganzen auf Konkurrenz gestellten Unterricht betreibt in dem falschen Bewußtsein, das Leben vorzubereiten, hat so sicher zur gänzlichen Verkümmerung und Auflösung des ursprünglich im Menschen liegenden Brudersinnes geführt, daß eine völlige Unfähigkeit zum Kampf miteinander um höhere Güter als Geld und Wohlleben dabei herausgekommen ist." Und es war doch Sehnsucht nach Gemeinschaft, wenn Jöde schrieb: „Wenn ich das Wort Gemeinschaft gebrauche, so denke ich dabei nicht in erster Linie, ob ich es natürlich als selbstverständlich einbeschließe, an das Wort Arbeitsgemeinschaft mit ihren glücklich verteilten Arbeitskräften, bei der isoliert doch immer wieder auf die Einzelleistung, nämlich die Leistung für den späteren Lebenskampf das liebende Auge gerichtet ist, denn Arbeit darf niemals Ziel sein, sondern stärker und tiefer an die Lebensgemeinschaft, die sich nicht in der Arbeit eines anderen erschöpft, die Einssein, Brudersein im Geiste bedeutet. Das erste Kennzeichen einer solchen Gemeinschaft in der Schule ist eben, daß sie sich nicht in der Arbeit erschöpft." Und es ist Sehnsucht nach Gemeinschaft, die Jöde im Bezug auf das Wort Pauli von der Liebe im Korintherbriefe erklären läßt: „Zu ihr streben wir, wenn wir vom neuen Gemeinschaftsleben in der Schule reden: nicht mehr die Kinder unterrichten, auch nicht nur mit ihnen arbeiten, sondern leben mit ihnen in unbedingter Kameradschaft, das ist unser Wille. Wer vermeint, dabei käme aber der Unterricht, die Arbeit, zu kurz, der lasse sich sagen, daß er keine Ahnung davon hat, was Liebe vermag, daß auch er in seinem Autoritätsglauben ein Opfer der Zeit ist, die — 40

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dem Menschen in allem nie gezeigt hat, was Liebe vermag, sondern immer nur was Macht vermag." Zeidtler beginnt seine reformatorische Schrift vom erziehenden Eros mit den Worten, daß einen Menschen erziehen heißt einen Menschen lieben. W a s aber diese Liebe sei, das wird nur von außen her umschrieben und verflochten, indem der Eros, in dem Gemeinschaft verankert wird, mit der Sexualität verknüpft und die Untersuchungen Freuds und Blühers herhalten müssen, verständigende Brücke zwischen den Generationen zu werden. Aus dem Hamburger Kreise kam auch jene Stimme, daß eine Gemeinschaftsschule eine Schule ist, in der eine möglichst enge Gemeinschaft zwischen den Lehrern, den Schülern und den Eltern angestrebt wird. In einer solchen Gemeinschaft soll sich der Einzelne von der Gemeinschaft getragen fühlen, sein Wert wird in ihr anerkannt, ein Unwert erscheint ausgeschlossen. Er wird als Mensch geschaut, den kein Sturz, keine Missetat aus seinem Kreise zu reißen vermag. Unaufhörlich trägt er zu dem inneren Leben bei, wie er unaufhörlich auch von den anderen beschenkt wird. In jeder Handlung, in jedem Wort, in der Art sich zu kleiden, in der Art zu gehen, zu sprechen, mit anderen Menschen zu verkehren, tritt sein Wesen heraus, tritt sein Unwesentliches zurück. Daher sind es bestimmte Erlebnisse, gemeinsame Handlungen, die fest in dem Bewußtseins-Inhalt der Gemeinschaft stehen und ihn bestimmen. Daher wachsen auch bestimmte eigene Richtungen aus dem Kreise hervor, denen die Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit von innen heraus folgt. So soll der Sinn der Schule wieder werden das gemeinsame Erleben, das Sich-selbst-erleben und -gestalten der G e meinschaft. Daher besteht nach Schlünz der Sinn der Schulgemeinde darin, daß junge Menschen ihr Leben ernst nehmen und nun dies ganze Leben der Jugend zu gestalten beginnen. Gemeinschaftssehnsucht spricht aus jener Forderung von Schlünz: „Inneres Ziel wie zugleich innere lebendige Arbeit der Einheitsschule bleibt der selbstverständliche religiöse Akt des Dienstes in Liebe aneinander — 41 —

wie die innere Verpflichtung der wachsenden Gemeinschaft, zu dienen aus eigener Verantwortung. Zum Ausdruck gelangen sie in der Arbeit des Einzelnen wie in der Oesamtarbeit des Bildungskreises wie der Schulgemeinde". So steigerte Schlünz die Aufgabe der Schule zu der alleinigen Aufgabe „die Bewußtheit eigenen Denkens, eigenen Wissens, eigenen Handelns, eigenen Wertes tiefer, stärker, reiner zu machen". Feindseligkeit einer in ihrem Wachstum mißverstandenen Jugend wendet sich gegen die bisherige Schule als Stätte der Gemeinschaft in Zeidtlers Ausspruch: „Es ist eine ungeheure Anmaßung der Erwachsenen, die Schule als eine Präparationsanstalt für das anzusehen, was sie unter dem Leben verstehen und sie ihren Altersinteressen dienstbar zu machen, dieselbe Anmaßung, die in der Jugend nichts als die Vorstufe des Alters sieht, das Alter aber als den eigentlichen Gipfel des Lebens! Wie aber die Jugend als Ganzes nicht dem Alter Untertan sein darf, so auch nicht die Schule, sie ist für niemand sonst da als für den jungen Menschen selber." Daher ist die Schule auch nicht ein Mittel, „sondern ein Selbstzweck, nicht eine leidige Durchgangsstation, sondern eine Erfüllung". Die so redeten und sich so empörten, waren Irrende und Entwurzelte einer mechanisierten Zeit, denen die Seelenkräfte durch Gesetze und Verordnungen in der letzten Gleich- und Einförmigkeit des Schulbetriebes unterdrückt oder gar abgetötet worden waren. Aber aus ihrer Empörung gegen den kranken Unverstand der Zeit sprach der Vielklang der Hoffnung, rang sich empor der Glaube an die Zukunft. Wie aber in der Zeit des Niederganges im 18. Jahrhundert die Natur als das Allheilmittel gegen eine absterbende Gesellschaft galt, da Rousseau in der Wissenschaft und Kunst die Ursache aller Übel sah und in den Worten des Schwärmers und in romantischer Verklärung ein neues „untheologisches Reich Gottes" in der Natur versprach, da vollzog sich eine Umwertung des Fühlens und ursprüngliche Edelwerte, irrtümliche und un— 42

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mittelbare innerliche Wahrheiten des seelischen Geschehens, fanden durch die Hinkehr zur Natur einen Weg zu einer neuen Fühl- und Sehweise gegenüber der Natur, zu einem neuen Mensch tum. So auch tat sich in dem Kreuzzug für das Kind im anhebenden 20. Jahrhundert, in dem Entdecken und Finden der kindlichen Seele, eine neue Art des Fühlens und Sehens schöpferisch auf. Denen alle äußerliche Stilisierung der Seele ein Greuel war, die den Menschen in seinem natürlichen Ich als das Heiltum sahen, sprächen wohl nach Art Rousseaus: Jedes Kind ist gut, wie es als natürliches Wesen geboren wird, aber es entartet unter den Händen des Schulmeisters. Das Kind in seinem freien Wachstum ward der Wegweiser, aber er trug als Naturalismus auch die Anarchie aller Triebe und die Askese des Willens, zu erziehen. Freie Geistigkeit, zeugungskräftige Schaffensfreude, unbedingtes und selbstherrliches Wachsenlassen zielte auf eine a b s o l u t e Individualität, bei der es nur auf die an der Idee ihres eigenen Seins gemessene Norm des Individuums ankommt, nicht aber auf die Stellung des Individuums i n n e r h a l b d e r G e m e i n s c h a f t d e r Z e i t . Als Ideal des Individualismus wurde ein v e g e t a t i v e s G l ü c k gesetzt, das im höchsten Maße fragwürdig und ungewiß erscheint, da es im geistigen Sinne doch nur eine Täuschung ist und den Glückszustand des einzelnen Menschen nicht einmal im epikureischen Sinne verbürgt. Das Kind habe das Recht, sich in seiner Persönlichkeit auszuleben! Natur oder Persönlichkeit oder Individualität wurde in der Deutung gleichgesetzt, das Kind müsse seine Freiheit im Handeln haben, sich von seinen natürlichen Trieben leiten lassen; sei es doch mit dem Rechte geboren, s o zu sein, zu denken, zu fühlen und zu wollen, wie es denkt, fühlt und will. Sein Recht, das Subjektive, sei die allgemeingültige Norm. Da das Kind sein Recht in sich selbst trage, dürfe es in seiner Persönlichkeit, in seiner persönlichen Eigenart, ausleben wie es s e i n e r eigenen Wertschätzung der Dinge und Menschen entspreche. Das Kind — 43 —

in seinem organischen Wachstum sein lassen sollte mit Berthold Otto der Weg zum neuen Menschen sein. Ein gern vom Naturalismus der Erziehung von Berthold Otto, von Ourlitt, Rudolf Paulsen und anderen gebrauchtes Bild ist das Gleichnis des Baumes. Danach ist die Kindesnatur vergleichbar dem Wachstum eines Baumes, der ohne den Eingriff des Gärtners sich auswächst. Kein Erwachsener darf daher in das Seelenleben des Kindes beeinflussend eingreifen. Der Begriff „Entwicklung des Kindes" wurde zur bloßen funktionierenden Natur. Es wurde vergessen, daß alle Entwicklung sich vollzieht unter mancherlei Beeinflussungen, Störungen und Kreuzungen, ja daß eine Entwicklungsreihe die andere vernichten kann. Es ward übersehen, daß der Vergleich mit der Pflanze und ihrem Wachstum nur ein Gleichnis ist und nicht gepreßt werden darf, wie auch Kurt Breysig der unbedingten Geltung dieses Gleichnisses frühzeitig entgegenhielt, daß man edle auf wilde Rosen, ja selbst Birnen auf Dornenbüsche pfropfen kann und daß es nicht einmal gegen die Wahrscheinlichkeit des Wachstums eines Bäumleins spricht, wenn es schon als schwaches Reis gebrochen wurde 1 ). Ein leidenschaftlich bis zur Karikatur sich steigernder Individualismus in der Schulreform bezeichnete in dürrer Verkennung oder Verständnislosigkeit jede Regelung durch Ordnung und Vorschrift als Mechanisierung des Geistes und engherzige Pedanterie. Der Naturalismus der Schulreform um Berthold Otto, um den Hamburger Reformerkreis wie auch in den romantischen Versprechungen der Gemeinschaftsschule Wilhelm Paulsens sprach von natürlicher Entwicklung mit seltenem Optimismus. J e d e s Individuum soll in seiner z u f ä l l i g e n Eigenform Sinn und Bedeutung haben und darf durch keinen Eingriff der Erziehung irgendwie gestört oder gar abgebogen werden. Jede Formung sei eine M i ß h a n d l u n g d e r K i n d e s s e e l e . Die zufällige einzelne begrenzte Form Kurt Breysig, Geschichte der Menschheit, Bd. I, S. 54. — 44 —

Mensch, das Bündel Triebe, Wünsche, Einfälle und Fähigkeiten, darf sich selbst Endzweck sein und sich ausleben. Behaupten, daß der Wert des Lebens allein in der Entwicklung des Lebens beruht und für die Entwicklung jede Auswahl nach Wertgesichtspunkten ablehnen, heißt doch das Einzigkeitsrecht jeder Individualität bejahen, bedeutet, die Eintagsfliege seligsprechen und — vom Standpunkte der Sozietas wertend — alle Möglichkeiten einer Individualität d i e a u f b a u e n d e n u n d d i e z e r s t ö r e n d e n , daseinsselig gelten lassen. Gewiß ist das menschliche Dasein von der einen Seite her ein einmaliger Prozeß, der abläuft wie der Sand in der Sanduhr, aber die Fülle der Menschentypen bedeutet noch nicht die Gleichberechtigung aller Formen, wenn auch vieles sich verstehen läßt, was in der Welt sozialer Wertung keine Daseinsgeltung hat. Der naturalistische Mensch sieht seine selbstherrliche Absolutheit in einem bloßen Sichleben und Sichströmenlassen. Gemeinschaft aber ist eine ewige Aufgabe, die sich lebend zu erfüllen sucht und sich immer wieder neu stellt und über sich selbst hinausdrängt. Das Natürliche als solches bringt nie das Geistige hervor, darum ist Erziehung auch ein Grundphänomen des geistigen Lebens, wie das Wachstum im natürlichen körperlichen Wachstum sichtbar wird, nur auf anderer Ebene. Naturalismus übersieht, daß der „freie Mensch" sich als willkürlich und wild wucherndes Wesen verliert ohne die feste Ebene der Gemeinschaft, die in der Übereinkunft "und Überlieferung ihrer Macht Form, Regel und Maße der Betätigung und Formung dem Einzelnen auferlegt, und es wird Zeit, zu begreifen, wie die Gemeinschaft nur Leben empfängt, Leben spendet, durch die Wohltat von Zucht und Ordnung in allen Gebieten des geistigen, ja auch des handelnden Lebens. Wer wie Pflanze und Tier d a - s e i n und leben will, dem mag alles Schaffen und Bauen als störende Unrast erscheinen, als ob das schöpferische Emporführen neuer Formen des Lebens dem tiefsten Sinn des Lebens widerspräche. Dieses aber ist die Idee der Jugendbewe-

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gung, daß Jugend kein Eigenwert sei, der beziehungslos zu späteren Stadien des Lebens sein darf. Der Einzelne, der Werdende sucht Einordnung in größere Zusammenhänge des Lebens. Aus dem Kreise der Jugendbewegung wuchs im Kampfe um verantwortungsvolle Bindung die Erkenntnis, daß Erziehung nicht auf der Ebene der Logik liegt, sondern tiefer im Kreise des Blutes, das Leib und Geist zu einer Einheit glüht. Die Jugend glaubte an den neuen verantwortlichen Menschen der Gemeinschaft, da sie 1913 die berühmte Meißnerformel prägte, daß sie aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, vor eigener Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten will. Vertieftes Verantwortungsgefühl des Einzelnen erschien ihr Vorbedeutung lebendiger Gemeinschaft, die aufbauendem Leben dienen will. Eine neue Form Mensch erwächst, die aus starken schwellenden Kräften der Begeisterung, aus tiefem geistigen Schaffen oder verantwortlich handelndem Leben geboren wird in leidenschaftlicher Bewegung Leibes und der Seele. Sie sieht den Menschen in seinem eigenen Dasein, wie er gesonnen ist, in einer mit ihm gewordenen Ordnung hoch und stark und immer unter einem inneren Befehle handelnd. U n w ü r d i g e r s c h e i n t i h r d a s r i c h t u n g s l o s e , von keinem hohen G e d a n k e n a n g e f e u e r t e D a s e i n . Sie spürt in ihrem Leben jene Werdensreihe, die wir Schicksal nennen, fühlt in Ehrfurcht, daß vor dem Menschen ein hohes Gesetz steht, dem Erfüllung durch jeden Einzelnen vorbehalten sein m u ß , wenn er Gemeinschaft begreift, die durch sein Leben verwirklicht wird. So erwächst mit ihr eine neue Schule im Feuer einer neuen Lebensgesinnung. Da sie die von Mensch zu Mensch strahlenden Kräfte begriff, die einer Gemeinschaft allein Fruchtbarkeit geben können, ersehnt sie den Menschen eigener Mitte, eigener Form, schaubar in seiner Geschlossenheit, Rhythmik und Struktur, die gezügelt, beherrscht und zur Leistung erzogen wirkt. So begreift sie auch wieder den Sinn der Schule in der Einübung und Sicherung dauernder Handlungsweisen. Es gilt die — 46

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zum Oesetz erhobene, unter Zwang gestellte Übereinkunft als das Erbe an Tat-, Denk- und Kunstformen — das doch von dem Qeist einer Gemeinschaft gebaut wurde — zu erhalten, zu nähren und weiterzugeben als „Werk", das der Willkür und Freiheit des Einzelnen Schranken und Bindung auferlegt! Wie immer der Mensch als Blut-geistgebilde seine lebenformenden Kräfte empfängt, indem er ihre Polyphonie bejaht, ermöglicht ihm schöpferische Naivität jene geheimnisvolle Teilnahme an geistigen Kräften, aus denen alle Gestaltung wie eine Objektivation eines ewigen Gehaltes hervorzugehen scheint. Er spürt sein Leben als der Werdende im Sinne von Goethes „geprägter Form, die lebend sich entwickelt". Wie ein Ganzes nur durch Glieder ist, aber das Einzelne bindend und zur Ganzheit einend, so konnte Sokrates im Phaidros sagen: „Ja, so ich von einem vernehme, er sehe überall das Eine und das Viele, stets beides zugleich, wer immer er sei, Freund, ich laufe ihm nach, diesem Manne bin ich auf der Spur, als sei er ein G o t t . . . " Unsere Seele trägt, was in aller Seele lebt und ist doch unser Eigenes, unser Ich. Aber durch die Kraft der H i n g a b e empfängt sie die formende Kraft der Gemeinschaft — „Seitdem ich ganz mich gab, hab ich mich ganz" (Stefan George, Tafel 59). Der in Hingabe Vorwärtsschreitende zur Gipfelung seines Eigenen weiß sich dennoch 1 in Ehrfurcht verbunden mit der Gemeinschaft des Vergangenen und des Künftigen. Er trägt jene Ehrfurcht, daß der gestirnte Himmel so voller Wunder sei wie der keimende Grashalm, der im kleinsten Ausschnitt eines Unendlichen dennoch lebt und dazugehört. Er spürt jene Ehrfurcht: Bäume klettern aus der Tiefe der Erde, aus dem nährenden Schoß, Bäume müssen sterben, a b e r d e r W a l d l e b t ; Blumen sprießen hervor, blühen und tragen Frucht und neue wachsen auf, eine jede Pflanze scheint Leben für sich zu sein mit eigenem Gesetz und eigener Geschichte — und doch ist sie nur der Augenblick eines G e s a m t l e b e n s , d a s d u r c h s i e h i n -

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d u r c h g e h t . Der Mensch, ein Glied einer Kette, eine flüchtige Erfüllung überindividueller Lebensform! Er wird n i c h t f ü r s i c h a l l e i n g e b o r e n , sondern als Glied der Kette. Darum muß er sterben, wie der Einzelton eines Liedes verklingen muß, damit das Lied als ganze Form sichtbar wird. Er spürt sich als den unendlichen Geist, der doch mit tausend Fäden einer unendlichen Gemeinschaft verbunden ist. Der Geist der Gemeinschaft aber gibt ihm das Bewußtsein der Tiefe und der Fülle der Welt und seines Ichs, daß jeder Schritt ihm ewig neu Jugendliches und Unerhörtes geben kann von dem goldenen Überfluß der Welt. Er spürt den Geist im Einklang einer Gemeinschaft, wie er doch wirkt im Strome seines Blutes, wie er strömt in den Säften der wachsenden und der werdenden Dinge, wie er fließt und steigt und sinkt in Allem und Allem. Er spürt den Dienst am Werk als das Zeichen der Vollendung und Befreiung der Seele in erdfroher Spannkraft. Als Diener des Geistes schafft er als Bildner das nie ruhende Werk des Menschen am Menschen. Menschenblüten können ihm nie tot sein, wenn seine Hand daran formt, sein Geist darin erglüht und sein Herz am Bilden und am Menschtum des Werdenden sich sonnt.

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Die pädagogische Forderung an unser Geschlecht Ein Vortrag von

Friedrich

Kammerer

I. Am Scheidewege Pädagogisch handeln heißt: die Menschen individuell behandeln. Während eine recht geleitete Politik auf das Wohl der Gemeinschaft zielt und demgemäß die Verhältnisse zu beeinflussen sucht, hat eine gesetzmäßig angewandte Pädagogik immer an erster Stelle die Entwicklung des Einzelnen im Auge. Sie sucht den Menschen in seiner Einzelheit, in seiner Einmaligkeit zu erfassen, indem sie ihm so umfassend wie möglich Gelegenheiten schafft herauszubringen, was in ihm ist. Somit ist nicht die Politik, sondern die Pädagogik die primäre Angelegenheit eines Volkes. Denn das Maß etwaiger politischer Ansprüche, die an eine Volksgemeinschaft zu stellen wären, hängt ab von der individuellen Entwicklungsstufe derer, die ihr angehören. Man hat darum ganz recht, wenn man sagt: jedes Volk hat die Regierung, die es verdient. Bleibt die Regierungsgewalt in der Hand minderwertiger Personen, so ist gewiß, daß die Pädagogik, jedenfalls daß a u c h die Pädagogik versagt hat. Stehen dagegen im pädagogischen Leben Menschen, die nicht nur viel wissen, sondern die etwas können, die es verstehen, die Kräfte der unter ihren Augen Aufwachsenden nicht nur zu Featichrift Breyalg I I

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wecken, sondern auch in die Bahn aufbauender Leistung zu lenken, so wird sich die Politik wohl oder übel, früher oder später nach der Mentalität derer richten müssen, die aus Werkstatt, Schule, Hochschule ins Leben entlassen werden. Eine Pädagogik aber läuft irre, die sich in ihrer Praxis begrenzen läßt von der jeweiligen Konstellation der politischen Lage und der politischen Interessen. In Wirklichkeit ist es fast immer so, daß die Gruppe, die regiert, Macht zu gewinnen sucht auf die Handhabung der Pädagogik, um dadurch ihre Herrschaft bis auf weite Perspektiven hinaus zu sichern. Dies ist der Sinn der Staatsschule. Sie erklärt von sich selbst, sie wolle die Zöglinge zu „tüchtigen Staatsbürgern" erziehen, d. h. natürlich zu tüchtigen Bürgern des jeweils bestehenden. Staates und zu Stützern der jeweils bestehenden Staatsform. Es ist bekannt, daß von allen selbständigen und schöpferischen pädagogischen Persönlichkeiten immer wieder versucht worden ist, gegen diese Bevormundung des Schulwesens durch den Staat anzugehen und Erziehungsstätten freierer Art außerhalb des staatlichen Aufsichtsbereichs zu gründen. Der Gedanke der Loslösung des gesamten Bildungswesens von der staatlichen Aufsicht wird von namhaften Pädagogen nicht nur gehegt, sondern mit Entschiedenheit vertreten und verbreitet (z. B. von Rudolf Steiner). Alles, was erneuernd, vertiefend, befreiend, belebend und bewegend ins Leben unserer Jugend eingegriffen hat, ist immer mit außerhalb der Staatsschule gemachten Gründungen verknüpft. Erst wenn der Staat von außen gestoßen wurde, hat er hie und da eine Klappe aufgemacht und seinem sehr zur Verhärtung neigenden Leib eine Dosis „Schulreform" zugeführt. Er hat ja hin und wieder auch Versuchsklassen zugelassen, aber doch immer widerstrebend, immer mit Vorbehalten und unter gründlicher Rückendeckung, und niemals unter Verzicht auf sein ausschlaggebendes Machtmittel, die staatliche Prüfung mit den davon abhängigen Berechtigungen. — 50

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Solange die Menschen, insbesondere die Deutschen, so sind, wie sie sind, hat natürlich auch die Staatsschule das Recht, so zu sein, wie sie ist. Der Staat braucht eine Schule, die ihm die Beamten und Bürger liefert und die dafür sorgt, daß ein gewisses Durchschnittsmaß von Bildung einerseits erreicht, anderseits nicht überschritten wird. Hier soll nun nicht Frei-Schule gegen Staatsschule ausgespielt werden, um so weniger, als die meisten von den sogenannten „Freien Schulen" nur in sekundären Erscheinungen, nicht aber im innersten Kern von der Staatsschule unterschieden sind. Vielmehr soll hier eine für alle irgendwie und -wo pädagogisch Tätigen bindende und grundlegende Frage aufgeworfen und beleuchtet werden, deren entschlossene Beantwortung wirklich nur an ganz vereinzelten Stellen gewagt worden ist. Die entscheidende Frage lautet nicht: wie sollen wir erziehen? sondern sie lautet: wozu sollen wir erziehen? Welches ist die Norm, welches das Ziel all unserer pädagogischen Bemühungen? Das Wie der Erziehung ergibt sich erst aus der Beantwortung des Wozu. Wenn man die Äußerungen der Pädagogen in Schrift und Rede mit ihrem praktischen Tun vergleicht, so gerät man in die peinliche Verlegenheit zu sehen: beides will nicht zusammen stimmen. Man begegnet manchem, der, sofern er überhaupt an seinen Zielsatz glaubt, dennoch den unüberbrückbaren Riß nicht sieht oder nicht sehen will, der zwischen der theoretischen Formulierung und der praktischen Verwirklichung klafft. Es sind daher vielleicht die Ernstesten und am tiefsten Blickenden unter den modernen Pädagogen, die sich vor einer Zielsetzung scheuen. Sie sehen in jeder Formulierung schon Erstarrung, Dogmatisierung, Stempelung. Sie fühlen, daß in ihnen selbst sich die Dinge noch wandeln können, daß sich im Lauf ihrer Arbeit die Dinge noch klären wollen; daß einem ein Ding gar zu gern entwischt, im Augenblick, wo man es mit Namen benennt. Ihr Instinkt zwingt sie daher immer wieder zur Zurückhaltung. Man hat den Eindruck, daß — 51 —

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sie nicht Farbe bekennen wollen oder können. Sie beschränken sich daher, wenn sie überhaupt Antworten geben, auf Einzelheiten: Verbindung mit der Natur; gleichmäßige Bewertung der geistigen und der praktischen Seite des Lebens; kameradschaftliches Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler; Erziehung zur Selbstverantwortung, Selbstdisziplin, Gemeinsinn, Anspruchslosigkeit, Herbheit, Ehrfurcht; oder man will die Zöglinge „ihr Schicksal erleben l a s s e n " ; oder man will ihnen unbegrenzte Ausdrucksmöglichkeiten verschaffen und sie möglichst vor dem Hexenkessel der Verdrängung bewahren. Einer dieser Pädagogen erklärt sich für inkompetent, die Frage nach dem Erziehungsziel zu beantworten, weil sie die Beantwortung der Frage nach dem Ziel des Lebens zur Voraussetzung habe, „diese aber bliebe dem Menschen für immer versagt". Andere machen die Beantwortung davon abhängig, daß es der Erziehung gelinge, zuvor die verschüttete religiöse Grundlage unseres Lebens wieder aufzudecken, — was vielleicht auch diejenigen meinen, die etwas unsicher von Anerkennung eines absoluten Prinzips und höchsten Gutes oder vom „Dienst am G e i s t " sprechen. Es ist gut, daß einer wenigstens in seiner Problemstellung bis zu der Frage vorstößt: W i e s o l l d e r n e u e M e n s c h a u s s e h e n , zu dem wir zu erziehen haben? Aber ganz gewiß läßt uns Bondys Antwort unbefriedigt, denn der Typus, den er zeichnet, stellt ein viel zu begrenztes, viel zu stark von ästhetischer Liebhaberei beeinflußtes Bild des neuen Menschen dar, als daß es uns voran helfen könnte. Aber daß überhaupt die Frage gestellt wird, ist doch von Bedeutung. Es gibt da heute kein Drumherum und kein Dranvorbei mehr. Beim Überprüfen der vielen Leit- und Glaubenssätze, denen man jetzt in der pädagogischen Welt begegnet, wollen wir innehalten vor dem Worte Pindars, einem der tiefsinnigsten Worte, die je gesprochen worden sind: W e r d e , d e r du b i s t ! — 52

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Um die Weltuntergründe sichtbar zu machen, auf denen eine wirklich nach vorn weisende Pädagogik ruhen muß, möge man sich dieses Wort einmal in seiner ganzen Tiefendimension aufrollen. „Werde, der du bist!" — das setzt voraus: Ich bin nicht, der Ich bin. Entweder ich bin es noch nicht, oder ich bin es nicht mehr. Beides trifft zu bei den Menschen unseres Zeitalters. Schon auf der Kindheitsstufe. Schon wenn der Mensch als Kind ins Leben tritt, ist er infolge vorgeburtlicher Einflüsse nicht mehr, der er sein sollte. Und infolge der Unsicherheit der erziehlichen Maßnahmen ist er auch als Erwachsener nicht, ja noch weit weniger denn als Kind, der er sein sollte. Und als Sterbender ist er weiter als je von dem entfernt, der er sein sollte. Kein Mensch — bis auf die wenigen begnadeten Ausnahmen — ist so, wie er von der Schöpfung beabsichtigt ist, kein Mensch ist, mythisch gesprochen, das Ebenbild Gottes. Die heilige Unruhe, die das Blut aller Wachen, nach Bindung und nach letzten Werten Suchenden durchfährt, beweist immer wieder, wie tief der Mensch sich dessen bewußt ist, daß er selber irgendwo die Schöpfungsgesetze durchbrochen hat; diese Unruhe treibt und reizt den Menschen immer erneut, wiederherzustellen, was verloren scheint, zurückzukehren zu dem, der er vom Ursprung aus ist. Und scheinbar verläuft dies Mühen immer ergebnislos; so oft ergebnislos, daß schließlich auch der edle Mensch, „der strebend sich bemüht", zu dem Schluß kommen kann: weder den Quell noch das Ziel noch den Sinn unseres Lebens werden wir je ergründen; und zu sein, „der Ich bin", wird niemals einem Sterblichen beschieden sein, solange er diesen Erdball bewohnt. Das ist ein Standpunkt, zu dem man tatsächlich kommen kann, und es sind nicht die schlechtesten unter unseren deutschen Mitbürtigen, die in diesem letzten Verzicht ihr Schicksal sehen und nun versuchen, im Bekenntnis zu diesem Schicksal wenigstens noch eine heroische Geste zu bewahren. Bei wenigen nur ist es mehr als — 63 —

Geste, ist es ein echtes und heiliges Gebot ihres Blutes, sich durch die Verneinung hindurchzubehaupten und das Leben mit einem entschlossenen „Trotzdem" auf sich zu nehmen. Eine Pädagogik, die sich auf diesem Bekenntnis aufbaut, ist ganz gewiß eine mühsame, schwer lastende, um nicht zu sagen hoffnungslose Sache. W e r sich in jeder einsamen Stunde eingestehen muß: es ist im Grunde doch alles sinnlos; wer alles nur immer wieder in den Kreislauf geschichtlicher Wiederholung unentrinnbar einmünden sieht — der mag zu mancherlei Beruf tauglich sein, ganz gewiß aber nicht zum Heraufführen eines neuen Geschlechts. So wie die ganze europäische Menschheit heute in zwei Lager gespalten ist, in die eine Gruppe, die alles daran setzt, um den Menschen und die Welt alten Stiles mit allen Werkzeugen der alten Kultur zu erhalten, zu stärken, zu reformieren, ja selbst um der Erhaltung willen mit Hilfe neuer Werkzeuge zu modernisieren; und die andere, die in dem ganz anderen Rhythmus eines neuen Weltalters schwingt, eines neuen Bewußtseinszustandes, und alles daran setzt, um dem neuen Typus Mensch zum Durchbruch zu verhelfen — so muß es auch in der pädagogischen Welt diese zwei Gruppen geben, eine festhaltende und eine vorwärtstreibende. Damit ist kein Werturteil verbunden, es ist vielmehr eine Frage des Blutes, ob man hierhin oder dorthin neigt, und beide Kräfte sind einem Volke in gleicher Weise nötig wie einem Fuhrwerk Bremse und Peitsche nötig sind. Nur muß man wissen, wann die Zeit für die Bremse und wann die Zeit für die Peitsche da ist; und man muß sich nicht an die Bremse binden lassen, wenn man die Stunde für gekommen hält, Tempo zu fahren. Man muß sich nicht ewig den Blick rückwärts zwingen lassen, wenn man davon überzeugt ist, daß das Heil in uns und das Ziel vor uns liegt. Man darf sich nicht durch ständige Verflechtung mit der Vergangenheit an die Kette legen lassen, wenn man doch weiß, daß der „Geist der Zeit" — 54 —

uns eine Zukunft zu gestalten heißt, die über alles das hinausführt, was uns jemals eine Geschichtsbetrachtung hat lehren können. Geist der Zeit — das heißt, um an Breysigs Lehre von der Kraft anzuknüpfen: die Gesamtheit der Schwingungen und Strahlungen, die von den wenigen Wissenden eines Menschenalters ausgehen, von ihnen, die das Maß und die Richtung ihres Handelns unmittelbar aus den oberen Reichen empfangen und ihre höchste Sendung erfüllen, indem sie ihre Kraft entbinden, sei es in Werk, sei es in Tat, sei es in Wandel und leibhafter Gestalt. Doch nicht um der bloßen Kraftentladung willen sind sie da, sondern um dem Denken und Wollen Tausender und Abertausender die Richtung zu weisen, um ihrem Jahrhundert den Kurs zu halten; so daß also jedem Gedanken, jedem Wort, jeder Tat, die von ihnen geschieht, ein Richtungspfeil innewohnt. Das Dasein dieser Kraftzentren ist weit über Zeiten und Räume hin zu spüren, ihre Strahlungen erfüllen weithin die Atmosphäre; „die Dinge liegen in der Luft." Solchem Walten der schöpferischen Kräfte gegenüber zerschrumpft der gar so enge Maßstab historischer Denkweise: das ist noch niemals in der, Weltgeschichte erlebt worden und wird folglich auch künftig nicht erlebt werden. Die Entwicklung von Technik und Wirtschaft ist ja nur das Sichtbarwerden geistiger Gesetze auf materieller E b e n e : Dinge, die nie möglich waren, werden möglich sein; Grenzen und Begrenzungen werden fallen, das Bewußtsein wird umfassender und ein Grad individueller Freiheit wird erreicht werden, der bisher nicht erreichbar war; Freiheit im Sinne Lagardes: nicht um das tun zu dürfen, was man will, sondern um das zu werden, was man soll. O b eine Anzahl Menschen des tätigen Lebens es heute wagen wollen, einen neuen Typus Mensch als Ziel wirklich ins Auge zu fassen, das ist die entscheidende Frage. O b sich gläubige Männer und wissende Frauen genug finden, die alle rückwärtig verwurzelten und historisch gebundenen, am alten Typus haftenden Gewalten —

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zum entscheidenden Kampf herausfordern, darauf kommt es heute an. Diese Frage muß darum immer neu in unser Volk hineingeworfen werden, weil viele von denen, die diesen Ruf ihres Blutes einmal vernommen haben, in Gefahr stehen, unter dem Getöse der verneinenden Geister begraben zu werden. Sie aber müssen wach bleiben. Sie werden wach bleiben, wenn sie wissen, daß sie nicht vereinzelt sind; wenn sie wissen, daß die unsichtbare Kirche des neuen Geschlechts auch sie mit umschließt, — jenes Geschlechts, das nicht mehr in den ewig begrenzenden Gedankengängen großgezogen werden darf wie: Hüter zu sein der Traditionen, Rächer vermeintlicher Unbill, Erbe alter Anschauungen und Glaubenssätze, Erbe alten Besitzstandes (woran natürlich der Erbfluch haftet, der Krankheit oder „Sünde" heißt). Zwar gibt es auch in Zukunft eine Heiligkeit des Erbes und eine Heiligkeit der Sitte, da nämlich, wo die zeugenden Geschlechter Vermächtnisse in ihrem Schoß wahrhaft tragen und zu hüten wissen — aber es kann keine Versklavung mehr möglich sein, weder an Erbe noch an Sitte, sondern die Forderung an den Erwachsenden wird lauten: ob Erbe da ist oder nicht, beweise dir selbst, wer du bist; bewähre dich und deine Kräfte frei von jeder Bindung an eine Erbschaft, sei sie materiell, sei sie geistig; wird dir aber eine solche zuteil, „erwirb sie, um sie zu besitzen".

II. Abkehr vom Historismus Das deutsche öffentliche Schulwesen steht vorwiegend auf der Seite des alten Typus. Es ist bezeichnend, daß im Meinungsaustausch über die Richtlinien für die neuen preußischen Lehrpläne (in denen der Historismus wahrhaft Orgien feiert) als Hauptgegner ein Historiker auftritt, der gegenüber den Versuchen, das Maß der Einzelkenntnisse herabzusetzen, bündig erklärt: „Geschichtliches Wissen ist und bleibt vornehmstes Ziel des Unterrichts. Wer es besitzt, ist gerüstet für alle Erfordernisse des Lebens." Ganz unumstößlich steht der Satz da, unwider— 56 —

ruflich. Wie viele Tausende werden ihn lesen, wie viele Tausende werden ihn in sich einnehmen und werden an ihn glauben! — glauben einmal, weil natürlich auch „etwas daran ist", sodann aber, weil der Name Dietrich Schäfer schwer wiegt. Man könnte diesen Satz als Parole ausgeben: wer ihn unterschreibt, mit derselben Unbedingtheit wie er gesagt ist, bekennt sich damit zum alten Typus Mensch. Es ist jene ganz einwandfreie, ja ganz unangreifbare Menschenart, die unserem Volke ein Beträchtliches an aufopfernder Arbeit geleistet hat; die es an keiner Mannestugend hat fehlen lassen und die unsere Männer und Frauen für den Kampf ums Dasein geschult, geschliffen und gehärtet hat. Die Jugend wurde mit solidem Wissen ausgestattet und zu einer tüchtigen Gesinnung erzogen, deren Art mit Begriffen wie Pflichttreue, Gründlichkeit, Ordnungsliebe, Vaterlandsliebe, Gottesfurcht am häufigsten und zutreffendsten gekennzeichnet worden ist. An den großen Vorbildern der Geschichte sollte sich der sittliche Wille der jungen Generation bilden. Diese Menschenart hat da, wo sich Gemeinschaften bildeten, eine Methode pädagogischer Beeinflussung ausgebildet, die von äußerster Wirksamkeit war: der Ehrenkodex, der für sie maßgebend war, der ganze Bestand von bindenden Wertungen und Grenzsetzungen wurde nicht etwa zur Erörterung gestellt, geschweige denn erarbeitet, nein, er wurde schlechthin vorausgesetzt. Nichts führt so sicher als dies Verfahren zu dem, was man wollte: zur Bildung eines bestimmt begrenzten Typus, einer menschlichen Norm. Es ist die Menschenart, die an alles glaubt, was innerhalb ihrer Grenzen liegt, und die innerhalb dieser Grenzen sehr stark ist. An das, was über diese Grenzen hinausführt, glaubt sie ein f ü r allemal nicht. Dieser Typus ist das Ergebnis einer jahrhundertelangen Entwicklung. Seine Abwandlungen sind ohne Zahl. Der Krieg kam und zertrümmerte den ganzen Bestand überlieferter Weltanschauungen und Bildungsideale. Man konnte nicht anders als den abgrundtiefen Riß zwischen — 57 —

Wissen und Leben gewahren. In der Vergangenheit hatten wir uns sicher gefühlt, wir hatten durchschaut, wie alles gekommen war, und hatten solche Betrachtung bis an die Schwelle der Gegenwart verfolgt. Der letzte kleine Schritt wollte uns nicht gelingen. Und er wird uns nie gelingen: die Kluft bleibt, Wissen und Leben kommen nicht zusammen. Eucken macht darauf aufmerksam, daß der Fortschritt des historischen Wissens die Verbindung der Geschichte mit unserem Leben in hohem Maße erschwert. Man war skeptisch geworden. Man glaubte nicht mehr an die überlieferten Maße und Normen. Und wenn auch große Teile unseres Volkes heute wieder zu ihnen zurückgekehrt zu sein scheinen, auch unter ihnen sind viele gezwungen worden, die große Frage an das Leben von Anbeginn an neu zu stellen. Da die Frage noch immer offen ist, so sucht man den Halt vorläufig da, wo wenigstens die Form noch sichtbar ist, beim alten Typus, und wartet dort solange, bis Neues sich bewährt hat. Wer aber bringt das Neue? Der starke Mann? Die Masse? Die Geistigen? Die Kirche? Die S c h u l e ? Jeder weiß, mit dem Eintritt des Kindes in die Schule beginnt der Bruch. Kein Mensch wächst von da an mehr auf zu dem, der er ist. Das Wachstum des Gehirns hört mit acht, zehn, zwölf Jahren auf und man gewahrt dann zu seinem Schrecken, daß die Erwachsenen in der Form (nicht im Inhalt) ihres Denkens — man denke etwa ans politische Leben, ans studentische oder ans militärische Leben und an die Art, wie dort Meinungsverschiedenheiten ausgetragen werden — auf dem Niveau eines acht-, zehn-, zwölfjährigen Kindes stehen geblieben sind. Sie sind in ihrer Entwicklung buchstäblich stecken geblieben, weil niemand da war, der sie aus dem Stillstand herauszuführen vermochte. (Der Volksmund sagt von solchen ganz richtig: sie benehmen sich wie die Kinder.) Wer hat heute die Augen, einem kleinen hilflosen Kinde, oder einem trotzigen Jugendlichen, oder einem resignierten —

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Erwachsenen, der jahrelang im falschen Beruf steht, anzusehen, wer er eigentlich ist? Wir sehen es nicht, weil wir entartet oder unentwickelt sind. Und wenn es jemand sieht — wer bringt dann den Menschen dahin, daß er den Weg zu sich selber findet, daß er weckt, was in ihm schlummert, anwendet, was er kann, umsetzt, was er hat, mit einem Worte, daß er lernt, zu leben? Ganz gewiß tut es die Schule nicht, am allerwenigsten die Staatsschule. In unserm pädagogischen Leben wird heute dergleichen nicht riskiert, denn es ist ja die Infamie eines jeden Experimentes, daß es schief gehen kann. Der Staat hat aber ein unausrottbares Interesse daran, daß alles glatt geht. Das ist der Vorzug einiger der modernen Erziehungsstätten, daß da wirklich etwas riskiert wird, was auch mit Mißerfolg enden kann (die Mißgünstigen pflegen dann nur die Mißerfolge zu sehen und danach alles abzulehnen). In manchen Schulen wird wirklich riskiert zu leben; es wird riskiert, gewisse Krisen des körperlich seelischen Lebens, die schicksalhaft in die friedliche Arbeit jedes sonnigen Tages einbrechen können, als Gemeinschaft durchzuleiden, gemeinsam zu bestehen oder gemeinsam zu tragen (statt ihnen auszuweichen oder sie kriminell zu behandeln, wie es die Staatsschule tut). Das sind aber wenige Stellen, wo so etwas möglich ist. — Solange die Staatsschule starr bleibt und, gezwungen durch ihr noch immer ganz ungelockertes Versetzungs- und Prüfungssystem, zugleich mit ihrer sehr verdienstlichen Wissensvermittlung eine Unzahl von seelischen Hemmungen erzeugt (statt sie zu beseitigen, wie es z. B. an den Hilfsschulen versucht wird), solange ist sie nicht die Stätte, von der eine wirkliche auf höhere Ebene führende Bewußtseins- und Wesensbildung ausgehen kann. Wenn es eine Erneuerung gibt, so kann sie nicht auf rationalem Wege von oben her durch Reformen, Richtlinien, Verfügungen kommen, sondern nur von unten her, aus der Lehrerschaft. Die idealste pädagogische Forderung nützt nichts, wenn der Lehrer nicht guten Willens — 69 —

ist. Daß, oberhalb allen fachlichen Wissens und methodischen Könnens, der Blick des Lehrers sich schärft für das, was Scheinwissen ist, und das, was wirklich geistigseelischer Besitz ist; daß der Lehrer Einsicht und Gefühl bekommt für die unterbewußten Mächte, die in jedem Schüler, in jeder Klasse, in jedem Lehrkörper, in jedem Schulleiter, in jeder Schulbehörde wirken, und sie mit einstellt in seine Rechnung, das ist von Bedeutung für das Gewicht seines pädagogischen Einflusses. Entscheidend aber für die Richtung und das Ziel seines Wirkens überhaupt ist, in welcher Richtung sein Denken läuft, und bis zu welchem Grade er, falls es bisher vergangenheitbetont war, umdenken kann und will. Wie aber geschieht dieses Umdenken? Es läßt sich nicht künstlich und vorsätzlich machen. Man kann sich nur bereithalten dafür, man kann sich einen „neuen Menschen" vorstellen, man kann ihn wünschen, man kann ihn sogar wollen, wenn das mit jener Inbrunst und Ergebenheit geschieht, die dem Wollen eines Beters eigen ist. Man kann zu allen jenen Ziel- und Grenzsetzungen bewährter und erfahrener Pädagogen ja sagen. Aber ein Etwas im untersten Seelengrunde ruft sein Nein dagegen. Daß jener Typus, zu dem man erzogen hat, gut war zu seiner Zeit — ja. Daß er aber darum, weil er gut war, auch jetzt gut und folglich notwendig und richtunggebend sein müsse — nein! Es ist ganz gewiß so: die Tatsachen des Lebens folgen aus den geistigen Zielen, die wir ihm setzen. Mögen sie auch utopisch scheinen, ,,jedes große historische Geschehen begann als Utopie und endete als Realität". (Coudenhove.) Das einzige Bindeglied zwischen beiden ist der gläubige Gedanke und die Zahl derer, die ihn hegen. Mit der gleichen Entschiedenheit, wie sich der Erfinder eines Automobils behauptet hat gegen die Übermacht derer, die ihm unermüdlich Ruin, Unglück, Tod prophezeiten, wird sich der, welcher an einen neuen Menschentypus glaubt, behaupten müssen gegen das Mißtrauen und die Mißgunst der Majorität all derer, die an nichts -

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fester glauben als an die Gültigkeit der von ihnen gesetzten Grenzen und an die Güte des einmal bewährten Typus, und folglich an die Unfruchtbarkeit aller darüber hinauswollenden menschlichen Bemühungen. Wird die Frage des Glaubens aus der kirchlichen Sphäre in die menschliche hinübergelenkt, so kommt man zu dem seltsamen Ergebnis, daß der meist in irgend einer Form kirchliche Mensch alten Stiles ungläubig, der vorwiegend unkirchliche Mensch neuen Stiles gläubig ist. Der alte Typus glaubt an Geschichte und Tradition, glaubt an Autorität, glaubt an die Macht, an Zwang und Gebot, glaubt an den faustballenden, zähneknirschenden Willen, aber er glaubt nicht an ein reineres Menschentum. Der neue Typus glaubt nicht an die Macht äußerer Gewalten, zufälliger Bedingungen; er glaubt nicht an Autoritäten, auch nicht an bürgerliche Moral (wiewohl er höchstes Ethos hat); aber er glaubt an den Menschen; er ahnt die Möglichkeiten, die in ihm selber ruhen; da es ihm unbegreiflich und unerträglich ist, diese Kräfte immer wieder, bei sich und bei anderen, heute wie ehedem, verkümmern zu sehen, so läßt ihn der Gedanke nicht los, daß sie zum Leben gebracht werden müssen. Also glaubt er an größere Möglichkeiten des Menschen, er glaubt an den Menschen in seiner ganzen Hoheit. Er glaubt an eine neue Liebe und an einen neuen Adel. Er fragt nicht mehr: wann bist du geboren und von wem stammst du a b ? sondern: wie neu, wie unverbraucht bist du? Er fragt nicht nach besser oder schlechter, sondern: was weist ins Künftige und was ins Vergangene? W a s verlangt nach Verantwortung und was nach Schonung? W a s fordert Leben und was neigt zum Tode? (Rathenau.) Für ihn haben die Zustände seelischer Hochspannung, Rausch und Ruhm, keinen Reiz. Für ihn ist die oberste Haltung jene, die auch die unmittelbarste und gottnahste ist: die G e l a s s e n h e i t — ein Wort von ganz mittelalterlicher Atmosphäre, dessen Sinn sich uns aber heute, im Zeitalter der Atemlosigkeit und des Krampfes, neu erschließt. Hie und da weiß man schon -

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davon: „Der Punkt der Gelassenheit ist der höchste einer Entwicklung, der die ganze Geschichte der Menschen gedient h a t . . . Die Gelassenheit ist das unaussprechliche Verschweben aller Gegensätze, der Punkt, aus dem man hervorbricht, in das Leben hinein, und der Punkt, auf den man zurückkehrt, vom Leben fort. Gelassenheit schließt Straffheit ein, Männlichkeit, das ist der Zustand, in dem man zugleich Abstand hat und in das Herz der Dinge springen kann." (Flake.) Der neue Typus philosophiert nicht, wie es die großen Spezialisten und ihre Jünger getan haben. Die Philosophie verschwindet im Leben, sie wird zur Lebenskunst und Lebensökonomie. So müßte denen, die dem kommenden Geschlecht zu dienen sich entschlossen haben, zugemutet werden, eine Anzahl alter, verhärteter Begriffe neu zu begreifen, verbrauchter Münzen neu zu prägen, verblaßter Werte neu zu werten und in die Wirklichkeit umzusetzen; ja es muß ihnen zugemutet werden, nicht nur Denkkonsequenzen, sondern auch praktische Lebenskonsequenzen zu ziehen. Es ist nötig, daß wir das Goethewort „Wir alle leben vom Vergangenen und gehen am Vergangenen zugrunde" in seiner ganzen erschütternden Tragik nicht nur in uns aufnehmen, sondern auch aus ihm die reale Forderung herauszuhören bereit sind; jenes Wort, das heute mit einem positiven Vorzeichen bei einem der führenden Industriellen der westlichen Welt wiederkehrt und gewiß eines der kühnsten Worte ist, die in unsere von Vergangenheitsglauben belastete und von Zukunftsaberglauben verwirrte Welt hineingeworfen ist: „Du sollst die Zukunft nicht fürchten und die Vergangenheit nicht anbeten." Man spürt, daß ein solches Wort schon im Namen eines neuen Geschlechts gesprochen worden ist. Es ist ausgeschlossen, daß wir werden, die wir sind, solange unser ganzes Bildungswesen in der bisherigen Weise retrospektiv eingestellt bleibt, als ob alle Möglichkeiten deutschen Denkens, Forschens, Handelns in den Schöpfungen der Vergangenheit ihre letzte vorbildliche —

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Gestaltung gefunden hätten, so als ob das, was man — nicht ohne Selbstgefälligkeit — „deutsche Tragik" zu nennen pflegt, ein Endgültiges, ein Unentrinnbares wäre, mit dem man sich heute einfach zu identifizieren hätte. Das, was ein Volk leistet, hängt nie von seiner historischen Bildung ab, sondern von seiner Vitalität, seiner Wachheit, seiner Fähigkeit, sich den Situationen der Gegenwart gewachsen zu zeigen und auf die Forderung jedes Tages spontan zu reagieren. Wir heben mit dem ewig auf die Historie rückgewandten Blick unser Volk und unsere Rasse niemals auf ein höheres Lebensniveau. Wir rühren mit all diesen noch so klug erdachten, noch so reformerischen Methoden nicht an den Kern der Sache, nicht an die pädagogische Grundfrage, die zugleich die Lebensfrage des Volkes ist: gibt es eine M ö g l i c h k e i t d e r V e r e d l u n g d e r G a t t u n g M e n s c h auf deutschem Boden in gleicher Weise, wie es eine solche Möglichkeit in der Gattung Pflanze und in der Gattung Tier gibt. Es leben nicht nur Einzelne, sondern es gibt eine Anzahl geistiger Bewegungen und philosophischer Schulen, die diese Frage rundweg bejahen, ja darüber hinaus auch praktische Wege weisen. Diese (meist in mündlicher Überlieferung gewiesenen) Wege führen noch weiter als die verdienstlichen Bemühungen der wissenschaftlichen Rassenhygiene, einer Bewegung, die die Erzeugung einer Nachkommenschaft minderwertiger Individuen durch Aufklärung und Gesetzgebung verhindern will, aber noch nicht so weit sich vorgewagt hat, positiv eine wissenschaftliche Eugenik zu geben. Die pädagogische Forderung also an unser Geschlecht, soweit es mit Nietzsche davon überzeugt ist, „daß die alte Kultur ihre Größe und Güte hinter sich hat und daß sie nie wieder frisch werden kann, daß aber die Menschen mit Bewußtsein beschließen können, sich zu einer neuen Kultur fortzuentwickeln", lautet: d i e V o r aussetzungen schaffen für das Wachsturn e i n e s n e u e n G e s c h l e c h t s . Die Ursachen der Ab-

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irrungen unseres Geschlechts liegen im letzten Grunde nicht in den wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen, sondern in unserer leiblichen Beschaffenheit, insbesondere in dem Zustand unseres Blutes. Neuer Wein läßt sich nicht in alte Schläuche bringen, ohne zu verderben; neue Gedanken lassen sich nicht verwirklichen, wenn die Mehrzahl der Menschen, auch der führenden und lehrenden, die Zeichen einer niedergegangenen Kultur in ihrem Blut und auf ihrer Stirn tragen; eine neue religiöse Grundlegung unseres gesamten Lebens, mit einem erweiterten Geistesleben und einem vertieften Ethos läßt sich nicht gewinnen, ohne den Leib neu aufzubauen. Erst unter der Voraussetzung einer leiblichen, einer leibhaftigen Erneuerung, einer Blutveredlung erhält die schon bis zum Überdruß wiederholte Forderung von der „Freiheit des Wachstums" ihre wirkliche ethische Berechtigung. Solange das Blut belastet und verdunkelt ist und die Seele unentwickelt in dieser Leibesbehausung verharren muß, solange muß die Proklamierung dieser Freiheit ein Verhängnis bleiben. Um unseres Blutes willen müssen heute noch alle Versuche einer freiheitlichen Schul-, Staats- und Lebensgestaltung scheitern; nicht weil, wie die pessimistisch-konservative, sich immer wieder an der Historie orientierende Weltanschauung glauben machen will, die menschliche Natur ein für allemal böse, träge, lüstern, trieb verfallen ist und folglich der Begrenzung, des Zwanges und der Knute bedarf, sondern weil die eigentliche Natur des Menschen, die höhere nämlich, die entwicklungsfähige, die grenzenlose infolge unseres verderbten Blutzustandes noch gänzlich unerschlossen ist. Auf die Erschließung dieser in unserem Körper verborgenen höheren Natur, die mit viel feineren Sinnes- und Geistesorganen ausgestattet ist als die niedere, sollten all unsere Gedanken gerichtet sein, das will sagen: auf das Studium der Gesetze der Artveredelung des menschlichen Geschlechts. Man sollte in der pädagogischen Welt in erster Linie doch einsehen, daß alle Bildungsbestrebungen eitel sind, so lange man nicht dies als — 64 —

die nächste und wichtigste Aufgabe erkannt hat. D a s höchste Bild eines vollkommenen Menschentums, das der D e u t s c h e vielleicht tiefer noch als andere Nationen in sich trägt, verwirklicht sich nicht, kann es nicht, wenni man einem ohne Kenntnis und Erkenntnis gezeugten G e schlecht die gut geratenen Vorfahren immer erneut vor die Augen stellt, ohne sie die Gesetze lehren zu können, auf denen eine solche höhere Qualität beruht. Vermöchte man dies, oder bemühte man sich wenigstens, in dieser Richtung zu forschen, so könnte wirklich die Geschichtswissenschaft eine ganz hohe Bedeutung bekommen. Aber, abgesehen von der F o r s c h u n g auf den begrenzten Gebieten der Vererbungslehre, der Rassenhygiene, tut dies die W i s senschaft nicht, scheint es sich nicht zuzutrauen. Sie nimmt den jeweiligen Menschen oder die jeweilige Masse, welche die „Geschichte m a c h e n " , als gegebene Formen, als wirkende Gewalten und verfolgt nur immer, wie sich unter deren Spiel und Gegenspiel die Zustände und Verhältnisse, die Völker und Staaten und Reiche angeblich „entwickeln", in Wirklichkeit nur verändern. W i r erziehen dadurch nicht zu einer höheren Lebensform noch Lebensgesinnung. W i r erreichen im günstigsten Falle die Kopie einer alten Gesinnung zu einer Zeit, wo die Voraussetzungen zu d i e s e j G e s i n n u n g nicht mehr bestehen. Man kann natürlich auch Geschichte treiben, warum nicht? Aber so weit sie sich in der Pädagogik auswirkt, sollte man immer des W o r t e s gedenken, das Nietzsche den Zarathustra sagen läßt: „ A n meinen K i n d e r n w i l l i c h e s g u t machen, daß i c h m e i n e r V ä t e r K i n d b i n . " Darin liegt das Entscheidende: nicht auf das vorsätzliche Festwurzeln in der Vergangenheit, sondern auf das planmäßige Loslösen des neuen Geschlechts von den Fesseln der Vergangenheit kommt es an. Zur Fessel werden uns immer nur solche Mächte, deren Wesen wir nicht erkennen und die wir darum nicht beherrschen. W i r wissen heute ungemein viel und lernen immer mehr zu in bezug auf die Außenwelt, a b e r in bezug auf uns selbst, auf die Einheit unseres Festschrift Breysig II

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leiblich-seelisch-geistigen Wesens fangen wir kaum an, das Elementarste zu wissen. Wer weiß heute sich sinnvoll und gesetzmäßig zu ernähren ? Wer weiß heute, abgesehen vom mechanischen Atmen, seine Atemwerkzeuge wirklich zu gebrauchen, sich ihrer als Entwicklungsmittel zu bedienen? Und wer schließlich weiß, selbst unter den ethisch am höchsten stehenden Menschen, von seinen Zeugungsorganen den souveränen Gebrauch zu machen, der schöpferische Kräfte freimacht und die Vitalität steigert, im zeugenden sowohl wie im gezeugten Geschlecht? Man stelle sich vor, daß ein Jugendlicher, der seinem Sturm und Drang zu erliegen droht, sich einfallen ließe, einen Dichter zu fragen, oder einen Philosophen, oder einen Lehrer, Pfarrer, Arzt, — von welchem unter ihnen wird er wohl den Eindruck haben: der hat wirklich Wissen, Weisheit, Güte und hat das Recht zu raten? Der Dichter wird wissen, daß es nicht sein „Ressort" ist, und so die andern, und so auch die meisten Ärzte (wenn sie ehrlich sind), und so natürlich auch die Eltern. — Wer spürt noch die zahllosen Verkrampfungen in seinem Körper? Nicht nur nimmt man in einem gewissen Alter all die Versteifungen, Verschlackungen, Verkalkungen als etwas Gegebenes oder Verhängtes hin und findet sich damit ab, sondern auch die Jugend neigt dazu, sich körperlich' zu verhärten und sich gegenüber gewissen Signalen, die sie von ihrem Körper erhalten, unempfindlich zu machen. Wer hat heute noch — abgesehen vom akuten Krankheitsfall — ein wirkliches Körpergefühl, eine unverkümmerte Reaktionsfähigkeit seiner Organe, seiner Nerven, seiner Haut? Wer hat es der Heckenrose angesehen, daß die Möglichkeiten einer Edelrose, wer dem Holzapfel, daß die Möglichkeit eines Edelapfels in ihm schlummerten? Wer hat der kümmerlichen Distel, eben gut genug, um Eseln zur Nahrung zu dienen, angesehen, daß die Möglichkeiten jener wunderbar nervenbelebenden Edelfrucht, der Artischocke, in ihr ruhten? Ganz gewiß nicht der in Historie vergrabene Mensch, auch nicht der „geschichtlich gebil-

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dete" Mensch, sondern der Mensch von Instinkt, auf den allein es auch im politischen und wirtschaftlichen Leben ankommt. Historiker sein (im weiteren Sinne) und Menschenkenner sein sind zwei Dinge, die sich ausschließen. Die Pädagogik braucht aber Werkleute, die selbst Menschenkenner sind und die wissen, daß auch das Schicksal des kommenden Geschlechts davon abhängt, daß es Menschenkenntnis habe, eine Qualität, welche entspringt und mündet in der Selbstkenntnis. Das heißt aber nicht, daß man nur die „guten" Eigenschaften von den „bösen", die nützlichen von den unnützlichen, die schönen von den unschönen zu scheiden weiß und die Charakterologie wieder zu einer theoretischen Wissenschaft macht, sondern es heißt, daß man den Zusammenhalt aller Eigenschaften in der Tiefe erkennt, das angeblich „Böse" als Störung, Hemmung, Verkrampfung durchschaut und in jedem einzelnen Fall das pädagogisch Richtige (d. h. das Lösende, Befreiende, Aufbauende) zu tun weiß. Die Menschenkenntnis bedarf daher des Korrektivs, der Liebe. Worunter nicht das zerschmelzende, auch nicht das im Almosengeben und Wohltätigkeitsunternehmungen sich überspannende Mitleid zu verstehen ist, sondern jene stille und herbe Haltung, in welcher Verstehen ist und Vergessen, Verzicht auf jeden Dank, Anerkennung der Freiheit des andern und die tiefe Gläubigkeit, die nie abläßt vom positiven Gedanken und auch im Schutt noch Perlen findet. So wenig ohne diese Eigenschaften, Kenntnis und Liebe, jemals aus dem wilden Apfel ein Edelapfel geworden wäre, so wenig wird ohne sie jemals aus dem wilden, d. h. unentwickelten Menschen unserer Rasse ein edler, entwickelter. Es ist doch seltsam, daß man sogar unter Schweinen eine Edelrasse gezüchtet hat. Noch aber sträuben wir uns dagegen, diese Gesetze der Eugenik auf die Gattung Mensch anzuwenden. Es gibt sehr intellektuelle, ja sogar „geistige" Menschen, die alles für Unfug erklären, was sich in bezug auf den Menschen Eugenik nennt, wohl weil sie glauben, daß es für den Menschen, wenn überhaupt — 67 —

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noch etwas zu ändern ist, nur einen „geistigen" Weg geben kann (den es in Wirklichkeit vielleicht a u c h gibt). In diesen Kreisen erklärt man Gedankengänge wie die vorstehenden für einen unerträglichen Rationalismus, und sich für Verwirklichung solcher Oedanken einzusetzen, würde man für Torheit oder Vermessenheit halten. Diese Einstellung geistig führender Kreise unseres Volkes beruht tatsächlich auf ihrer historischen Gebundenheit und auf dem Versagen ihres Willens, aus dieser Gebundenheit herauszutreten. Sie wollen nicht zugeben, daß unser Bewußtseinszustand seit wenigen Jahrzehnten ein wirklich grundsätzlich verschiedener ist von dem der letzten Jahrhunderte.

III.

Die schöpferische Evolution

Wir stehen heute noch im Zeichen des Vaterrechts, das auch von der Kirche sanktioniert ist (Apostel Paulus). Unser öffentliches Leben hat ein m a s k u l i n e s Vorz e i c h e n , in die gegenwärtige Weltkrise sind wir hineingeraten zu einer Zeit, wo die Führung ganz in den Händen des Mannes lag (daher die Frauenbewegungen). Das tragisch-heroische Ethos ist ein Bestandteil des männlichen Bewußtseins. Die Geschichte scheint zu beweisen, daß dem Mann die Führung gebührt. In allen Völkern sind gewisse Gruppen sehr darauf bedacht, immer auf die Grundverschiedenheit der beiden Geschlechter hinzuweisen und alle Tendenzen abzuwehren, die den Ton auf die Gleichartigkeit und Gleichwertigkeit der Geschlechter legen. Unter der Oberfläche spielt sich heute ein gewaltiger Kampf zwischen den Geschlechtern ab. Vielleicht ist es nur ein Kampf um die Macht, vielleicht ist es aber auch ein Kampf um das kommende Geschlecht, ein Kampf darum, wer auf das kommende Geschlecht mehr Einfluß haben soll. Man hat ihn verschieden zu formulieren gesucht, als Kampf des Logos gegen Eros, des Intellektes gegen die Intuition. Solche Antithesen sind zwar immer einseitig, sie werfen nur Schlaglichter auf gewisse Stellen des Gesamtverlaufs; -

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aber manche Zusammenhänge lassen sich damit beleuchten und klären. Für unsern Zusammenhang ließe sich so sagen: während der Mann sich als historisches Wesen zu begreifen sucht, so begreift sich die Frau nur als biologisches Wesen. Der Mann ist nie so primär Vater wie die Frau primär Mutter ist: er ist immer noch anderswo verhaftet, entweder in der Geschichte selbst, oder in einem Werk, einer Tat, welche Geschichte macht. Shaw läßt Adam zu dem tatfrohen Kain, der sich seiner Mutter gegenüber mit seinen Kämpfen brüstet, sagen: „Sie ist Schöpferin, du bist Zerstörer." Ganz gewiß stehen wir im Zeichen einer Zeit, die vom historischen Denken weg und zum biologischen Denken hin will. Während der Geschichtsschreiber — abgesehen von den wenigen, auf letzte Gesetzmäßigkeiten bohrenden und die Wurzelverbindung mit der Naturwissenschaft aufspürenden Forschern, deren einer Kurt Breysig ist — doch nur ein Auf und Nieder der Dynastien, der Staatsformen, ¡der Kulturen sieht, sei es als Auswirkung eines unerforschlichen Schicksals, sei es als Ausdruck eines unserer Erkenntnis nicht zugänglichen göttlichen Willens; während er also ständige Bewegung darstellt, ohne doch einen Bewegungsplan angeben, ein Bewegungsspiel aufzeigen zu können, schaut der Biologe das ganze Weltgeschehen vom Standpunkt der Evolution an und ordnet den Ausschnitt, den man als „Geschichte" zusammenfaßt, dem großen Entwicklungsgang als Episode ein. Und da gewahrt er dann in dem grandiosen Aufbau der Naturreiche, vom Elementarreich hinauf zum Mineralreich, hinauf zum organischen Leben im Pflanzenreich, durch unendliche Stufen hinauf zum Tierreich bis zu dessen Gipfelung im Menschen, von wo aus eine neue Entwicklungsphase einsetzt von den dunkelblütigen Rassen zu den helleren bis zur hellstblütigen, der weißen, in diesem großen Gefüge gewahrt er eine ganz bestimmte Tendenz und Entwicklungsrichtung, nämlich die vom Groben zum Feinen, vom Primitiven zum Differenzierten, vom Verschlossenen zum Erschlos— 69

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senen, vom Unbewußten zum Bewußten; die Tendenz vom Festen zum Beweglichen, vom Begrenzten zum Unbegrenzten, vom Erdgebundenen zum Kosmischen, vom Materiellen zum Geistigen. Er deutet es sich als den Willen des schöpferischen Geistes, der für die Offenbarung seiner selbst sich immer feinerer Formen und Gefäße und immer höherer und differenzierterer Organe bedient, bis im Menschen der höchsten Stufe das Organ des Selbstbewußtseins, der Selbsterkenntnis, und der Gotterkenntnis gebildet ist. Hat diese Tendenz bisher bestanden, so wird sie auch weiter bestehen, nur daß diese Evolution sich jetzt nicht mehr wie durch zahllose Jahrtausende hindurch im Stoff und seinen Formungen unbewußt vollzieht, sondern daß das Lebewesen, in dem das Bewußtsein nunmehr seine höchste Wachheit oder doch Erweckungsmöglichkeit erreicht hat, diesen Evolutionsplan selbst in die Hand zu nehmen hat. Aus dem Evolutionstrieb ist ein E v o l u t i o n s w i l l e geworden. Der erwachte Mensch unserer Weltepoche ist nicht mehr Geschöpf nur, sondern er ist berufen, Mitschöpfer zu sein. Von ihm, dem mit dem Schöpfungsplane und den Schöpfungsmächten Wiederverbundenen („Religiösen") hängt ab, was wird. Ein neues Geschlecht, eine neue Rasse entsteht heute nicht mehr wie einstmals eine neue Pflanzengattung entstand, aus dem dunklen Schoß des Unbewußten, sondern sie muß von der höchstentwickelten Rasse g e w o l l t werden. Wer es vermag, sich diesem großen Plan dienend einzufügen, wird finden, daß nunmehr sein Dasein Ziel und Richtung erhalten hat, daß erst jetzt eine Perspektive sich öffnet, die ihn bewahrt vor dem schrecklichen Gespenst des ewigen Rücklaufs, des immer wieder Mündenmüssens im schon Gewesenen, des immerwährenden Wiederholenmüssens historischer Kreisläufe, aus denen herauszutreten, von denen sich zu befreien das inbrünstige Verlangen des Sterblichen ist und bleiben wird. Auf das Privatwohl des einzelnen Menschen und des einzelnen Volkes ist man dann nicht mehr bedacht; so wie sich vordem viele Einzelne opferten — 70

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für das Wohl ihres Vaterlandes, so werden heute Einzelne sowohl wie Vaterländer Opfer bringen müssen für diese Evolution des menschlichen Geschlechts. Darauf, daß der Einzelne persönlich in den vollen Genuß des neuen Menschheits- und Weltzustandes gelangt, kommt es durchaus nicht an, so wenig wie ein recht gesinnter Soldat nur unter der Bedingung sich zur Teilnahme am Krieg bereit erklären würde, daß ihm erstens gesunde Rückkehr und zweitens siegreicher Ausgang gewährleistet wird. Ob der Sieg errungen wird, hängt eben von dem Können und der Opferwilligkeit derer ab, die in den Krieg ziehen. Ob und wie weit sich der Evolutionsplan des menschlichen Geschlechts verwirklicht, hängt von der Kraft und Unbeirrbarkeit derer ab, die ihr Leben und Schaffen in seinen Dienst stellen. — Welche Aufgabe hat innerhalb dieses großen Evolutionsplanes die Kunst, insbesondere die Dichtung? Niemand hat das so tief gewußt und so endgültig gesagt wie, schon vor fast einem halben Jahrhundert, Friedrich1 Nietzsche (1886): „So viel noch überschüssige dichterische Kraft unter den jetzigen Menschen vorhanden ist, welche bei der Gestaltung des Lebens nicht verbraucht wird, so viel sollte ohne jeden Abzug einem Ziele sich weihen; nicht etwa der Abmalung des Gegenwärtigen, der Wiederbeseelung und Verdichtung der Vergangenheit, sondern dem W e g w e i s e n f ü r d i e Z u k u n f t : — und dies nicht in dem Verstände, als ob der Dichter gleich einem phantastischen Nationalökonomen günstigere Volks- und Gesellschaftszustände und deren Ermöglichung im Bilde vorwegnehmen sollte. Vielmehr wird er, wie früher die Künstler an den Götterbildern fortdichteten, so an dem schönen Menschenbilde fortdichten und jene Fälle auswittern, wo mitten in unserer modernen Welt und Wirklichkeit, wo ohne jede künstliche Abkehr und Entziehung von derselben, die schöne große Seele noch möglich ist, dort, wo sie sich auch — 71 —

jetzt noch in harmonische, ebenmäßige Zustände einzuverleiben vermag, durch sie Sichtbarkeit, Dauer und Vorbildlichkeit bekommt und also, durch Erregung von Nachahmung und Neid die Zukunft schaffen hilft. Dichtungen solcher Dichter würden sich dadurch auszeichnen, daß sie gegen die Lust und Glut der Leidenschaften abgeschlossen und verwahrt erscheinen. Der unverbesserliche Fehlgriff, das Zertrümmern des ganzen menschlichen Saitenspiels, Hohnlachen und Zähneknirschen und alles Tragische und Komische im alten gewohnten Sinne würde in der Nähe dieser neuen Kunst als lästige archaisierende Vergröberung des Menschenbildes empfunden werden. Kraft, Güte, Milde, Reinheit und ungewolltes eingeborenes Maß in den Personen und deren Handlungen, ein geebneter Boden, welcher den Füßen Ruhe und Lust gibt, ein leuchtender Himmel, auf Gesichtern und Vorgängen sich abspiegelnd, das Wissen und Kunst zur neuen Einheit zusammengeflossen, der Geist ohne Anmaßung und Eifersucht mit seiner Schwester, der Seele, zusammenwohnend und aus dem Gegensätzlichen die Grazie des Ernstes, nicht die Ungeduld des Zwiespalts herauslockend: dies alles wäre das Umschließende, Allgemeine, Goldgrundhafte, auf dem jetzt die ersten zarten Unterschiede der verkörperten Ideale das eigentliche Gemälde menschlichen — das der i m m e r w a c h s e n d e n H o h e i t — machen würde. Von Goethe führt mancher Weg in diese Dichtung der Zukunft, aber es bedarf guter Pfadfinder und vor allem einer viel größeren Macht als die jetzigen Dichter." Von diesem großen Rufer führen die Wege zu den Schöpfungen der bedeutendsten neueren Dichter, die mit gleichem Feuer wie ihr Ahne den Stab brechen über die flache, sei es untergangsgläubige, sei es fortschrittslüsterne Gegenwart und mit allen Mitteln einer steilen, majestätischen oder glühenden, magischen oder bohrenden, schürfenden, fragenden Sprache von Zukunft und Sendung des deutschen Menschen, vom Reich des Geistes in Herr-

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schaft und Dienst, vom organischen Menschentum, vom neuen Mythos, von Aion, dem ewigen Menschen künden. Wer aber hilft, daß das Verkündete leibhaft werde? Wer gibt Antwort auf die Frage aller Fragen: was soll i c h tun? Wer geleitet mich aus dem heiligen Rhythmus der rollenden Strophen hinaus in die klirrende Wirklichkeit und läßt mich, „ohne jede künstliche Abwehr und Entziehung von derselben" den Rhythmus meines Lebens finden? Wenn auch die geistig Schöpferischen unserer Tage das, was sie verkünden, durchaus in keinen Zusammenhang gebracht zu sehen wünschen mit irgend einem (weil materialistisch verstandenen) Evolutionsprinzip, so steht doch ein jeder von ihnen, der die Stoßkraft hat, das von ihm Geschaute und Gewollte zu verwirklichen, das heißt in die Gestalt eines höheren Menschentypus hinein zu verleiblichen, dadurch mitten inne in der großen Aufwärtslinie der schöpferischen Evolution. Je mehr Menschen er bewegt, das zu wollen, was er will, um so mehr beweist er damit seine evolutionäre Kraft. Und dies wird, nach Nietzsches prophetischem Worte, der Maßstab auch für künftiges Künstlertum sein: dient das Werk der Evolution oder dient es ihr nicht? Gilt dieser Maßstab, dann fallen die Schranken des Hasses, der Verachtung unter denen, die verschiedene Wege gehen und doch ein Letztes gemeinsam wollen; man wird die größere Ehrfurcht stets dem Verbindenden darbringen. Man wird den Sarkasmus, die rationalistische Dialektik, die Ironisierung der Heldenverehrung und manche andere mehr journalistische als künstlerische Züge im Schaffen eines Mannes wie Bernard S h a w hinnehmen und dennoch das Verehrungswürdige dieser Gestalt nicht übersehen. Sein Name ist gerade in diesem Zusammenhang zu nennen, weil er unter den heute lebenden Dichtern wohl der einzige ist, der bewußtermaßen den Gedanken der schöpferischen Evolution verficht, und zwar indem er, in seinem „Methusalem" bis an des Gedankens Grenze, ja bis ins Paradoxe gehend, die Spanne des Einzellebens um ein Mehrfaches erweitert -

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und innerhalb dieses für unsere Entwicklung notwendigen größeren Lebensraumes Entwicklungsmöglichkeiten der Einzelseele von bisher unerhörten Ausmaßen ansetzt. Jenes Reich des Geistes, in dem es sich um Ausübung einer bewußten Herrschaft handelt, ist durchaus m ä n n l i c h orientiert, die Welt Shaws, in der es sich um Auswirkung des Evolutionsgesetzes, um Gewinnung der Freiheit, um Ausübung der Liebe handelt, ist w e i b l i c h orientiert. Da, wo die Kräfte auf Bluterneuerung und Bildung einer höheren Rasse konzentriert werden sollen, muß natürlich als erstes die F r a u in ihre Rechte als Blutträgerin, als Mutter, als Priesterin, als Hüterin der heiligen Feuer wieder eingesetzt werden. Der Teil der männlichen Welt, der weiß, daß er nicht „Zerstörer" zu sein hat, wird zunächst nicht anders können, als sich auf die Seite der Frau zu stellen, um sie in ihrem Schöpfungswerk als Mutter zu stützen. Diejenigen, welche alle in dieser Richtung vorgehenden Bewegungen als feministisch abtun und ihnen gegenüber die Notwendigkeit männlicher, sogar mannmännlicher Führung betonen und überbetonen, mögen ein Grundgesetz gerade der geschichtlichen Entwicklung nicht übersehen: daß nämlich ein Volk sich niemals über die geistige Ebene der Frau hinaus erheben kann. Es ist ein untrügliches Zeichen des Verfalls, wenn die Frau nicht nur aus ihrer Stellung als ebenbürtige Gefährtin des Mannes, sondern vor allem aus ihrer Stellung als keusch verehrte Hüterin heiligster Vermächtnisse herausgeschleudert ist, um entweder ein Schattendasein zu führen als Hausfrau, Dienstmagd, oder aber ganz und gar ins Maskuline abzuirren und es dem Manne in allen intellektuellen Bezirken gleichzutun. Daß hier eine Gegenbewegung einsetzt, ist einfach ein Gebot der Zeit, eine Bewegung, die allein von der Frau getragen, vom Manne nur gestützt werden kann, eine Bewegung, deren oberstes Ziel ist, die Frau instand zu setzen, ihren Mutterberuf mit einem neuen Wissen, mit neuer Liebe und mit tieferem Verantwortungsgefühl auszuüben wie bisher. — 74

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Es ist seltsam, daß von allen Geschichtsschreibern die am liebsten totgeschwiegen worden sind, welche die ganze Inbrunst ihrer Liebe auf die Erforschung jener fernen, ganz verdeckten Kulturstufe geworfen haben, wo die Frau die Führung in der Hand hatte (das sogenannte Zeitalter der Gynäkokratie). Aus keinem geschichtlichen Lesebuche erfährt man etwas von dem wundersam ergreifenden Bilde, das Bachofen von jenem Zeitalter entwirft, welches seiner Überzeugung nach der Kulturperiode des Vaterrechts voraufging: „Abwesenheit innerer Zwietracht, Abneigung gegen Unfrieden wird allen mutterrechtlichen Staaten besonders nachgerühmt. Ein Zug milder Humanität durchdringt die Gesittung dieser Welt. Sie ist die Poesie der Geschichte — durch die Erhabenheit, heroische Größe, selbst durch die Schönheit, zu der sie das Weib erhebt, durch die Beförderung der Tapferkeit und ritterlichen Gesinnung unter den Männern, durch die Bedeutung, die sie der weiblichen Liebe leiht, durch die Zucht und Keuschheit, die sie von dem Jüngling fordert. Die Erhebung des Weibes über den Mann erregt dadurch besonders unser Staunen, daß sie dem physischen Kraftverhältnis der Geschlechter widerspricht. Also müssen tiefere Gewalten ihren Einfluß geltend gemacht haben: zu allen Zeiten hat das Weib durch die Richtung seines Geistes auf das Übernatürliche, Göttliche, der Gesetzmäßigkeit sich Entziehende, Wunderbare den größten Einfluß auf das menschliche Geschlecht, die Bildung und Gesittung der Völker ausgeübt. Älter als die männliche ist die weibliche Prophetie, „steifer im Glauben" ist die weibliche Seele. Ganz unter dem Stoff und den Erscheinungen des Naturlebens stehend, fühlt diese Zeit des Muttertums lebendiger als spätere Geschlechter die Unität alles Lebens, die Harmonie des Alls, der sie noch nicht entwachsen ist. In allem den Gesetzen des physischen Seins gehorsam, wendet sie ihren Blick vorzugsweise der Erde zu. Ganz materiell widmet sie ihre Sorge und Kraft der Verschönerung des mate— 76 —

riellen Daseins und erreicht in der Pflege des vom Weibe zunächst begünstigten Ackerbaues eine von späteren Geschlechtern oft bewunderte Vollendung." Die lapidare Forderung Goethes: „Man erziehe die Mädchen zu Müttern und die Knaben zu Dienern" erhält heute ihren neuen ahistorischen, übernationalen, ja metabiologischen Sinn; die Mädchen zu Müttern eines erweckteren Geschlechts, die Knaben zu Dienern nicht nur des Volkes im Sinne nationaler Begrenzung, sondern auch der Rasse und somit des Evolutionsgedankens, der sich in jedem Volke je nach den blutlichen Voraussetzungen verschieden auszuwirken hat. Es geht um den Typus, der nicht mehr vom Vergangenen lebt und nicht von einer Zukunft träumt, sondern der ganz gegenwärtig ist, „geprägte Form, die lebend sich entwickelt"; kein Stangenholz innerhalb festgezogener Grenzen, sondern in vollem Saft der Baum, ganz Baum, ausgreifend soweit und so hoch seine Organe nur zu greifen vermögen, und Früchte abwerfend, so weit er sie zu werfen vermag.

IV. Umstellung der Praxis So wenig es für die meisten geistigen Menschen heute in Frage kommen wird, sich einer „Lehre" zu verschreiben, sich in Orden und Logen abzusondern oder in irgend einer Form Sektierer zu werden, so wenig zeitgemäß wäre es, wollte man gewisse Gedankengänge, die auf alte Heilslehren zurückgehen und sich nun im Gewand moderner Heilspraktiken darbieten, nur darum von sich weisen, weil sie mit der wissenschaftlichen Denkweise unvereinbar scheinen oder weil einem der Übermittler und die Form der Übermittlung nicht zusagt. Es gilt aus dem fast undurchdringlichen Wust von Unklarheiten, Geschmacklosigkeiten, sprachlichen Monstrositäten das Eigentliche herauszuschälen, es gleichsam ins Deutsche zu übersetzen, es auf seinen Wert hin theoretisch zu prüfen, praktisch zu erproben und das Brauchbare und die geistige Entwicklung — 76 —

F ö r d e r n d e dem Erziehungs- und Bildungswesen einzubauen. Die Lehren selbst erscheinen unter den verschiedensten und fremdartigsten N a m e n , werden von manchen Afterrednern dreist ausgebeutet, von vielen Dilettanten bis zur Unkenntlichkeit entstellt, von wenigen wirklichen Meistern von Mund zu Mund gelehrt und vorgelebt. Es läuft in allen Bewegungen dieser Art auf d a s gleiche hinaus, nämlich: die Grenzen d e s Intellekts zu überwinden und die höheren im Menschen schlummernden Erkenntniskräfte freizumachen. Auf der einen Seite wird versucht, das zu erreichen d u r c h rein geistige Exerzitien (Konzentration und Meditation), auf der anderen Seite durch körperlich-geistige Übungen, die auf der Lehre vom bewußten Atem a u f g e b a u t sind. Die praktische E r p r o b u n g der Atemlehre f ü h r t zu einer vollkommenen Umstellung der Ernährung, die wiederum g r o ß e Umwälzungen auf dem Gebiete des G a r t e n b a u e s , der Landwirtschaft und der Volkswirtschaft nach sich zieht. Dieses alles z u s a m m e n g e n o m m e n , verbunden mit einer gymnastischen Körperschulung, die einerseits Konzentration, andererseits Lockerung sowohl wie S t r a f f u n g , Befreiung von Stauungen sowohl wie Belebung des Nerven- und Drüsensystems zum Ziel hat, verbunden ferner mit einer systematischen Tonbildung, führt zu der obersten Lebenswissenschaft: der Eugenik, der Lehre von der Artveredlung des menschlichen Geschlechts (von wissenschaftlicher Seite heute zum Teil noch heftig bestritten). Auf welches der genannten Mittel das Gewicht gelegt sein mag, in jedem Falle stehen diese Bewegungen im Dienste der „schöpferischen Evolution" und fordern als solche, daß m a n sich im pädagogischen Leben mit ihnen auseinandersetzt. Sie wenden sich in erster Linie nicht an irgend eine Gemeinschaft, sondern an den Einzelnen. So begreiflich, so wichtig alle Bewegungen von der Gemeinschaft a u s und zugunsten der Gemeinschaft sind, die E r f a h r u n g lehrt, d a ß sie n u r erfolgreich sein können, wenn diesen kollektiven Bestrebungen ein starkes ethisches -

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Wollen von Seiten des Individuums entgegenkommt. Von der Stufe, die die Einzelnen erreicht haben, von ihrem Reifegrad und der Art ihrer Bildsamkeit hängt das Niveau jeglicher Gemeinschaft im geistigen, gesellschaftlichen und staatlichen Leben ab, und zwar hängt deren Tragfähigkeit — wie bei einer Kette — vom s c h w ä c h s t e n Gliede ab. Wenn sichs um die Bewährungsprobe einer Gemeinschaft handelt, so nützt dem schwachen Gliede die Stärke seiner Nachbarglieder nichts; das schwache Glied selbst muß stark werden, sonst reißt die Kette unfehlbar. Der Sinn des Lebens und somit das Ziel der Erziehung ist der schöpferische Mensch, der im Stand des „Mitschöpfertums" stehende. Man hat sich gewöhnt, mit „schöpferisch" die kleine Minderheit der ganz Großen zu bezeichnen, der Welten schaffenden und Welten zerstörenden Führer und Gestalter, aus deren Kraft Tausende und Abertausende von „Unschöpferischen" ihre Nahrung ziehen. Während der Mensch die Kräfte des einfachen Wachstums und der Fortpflanzung mit den niederen Reichen gemein hat, ist die schöpferische Kraft ihm allein eigen. Es ist jene Kraft, die, im Stofflichen wie im Geistigen „nicht nur Werke produziert, sondern prinzipiell Neues schafft" (Kurt Hildebrandt). Ist dem so, so kann der Empfang dieser Gabe nicht nur das Vorrecht einer so verschwindenden Minorität sein. Steinhausen weist mit Recht darauf hin, daß es viele Menschen gibt, die schöpferisch angelegt sind, denen aber die Gelegenheit gefehlt hat, ihre Kraft auszuwirken. Man muß das Schöpferische abgestuft ausdehnen bis auf die Kleinen, die auf irgend einem Gebiet aus sich etwas leisten oder schaffen, ja weiter bis auf die, welche man im Gegensatz zu den aller Individualität entkleideten Massen- und Herdenmenschen „selbständige Persönlichkeiten" nennt. Alle Volks- und Menschheitsentwicklung ist abhängig vom Dasein solcher Hierarchien, die gebildet werden aus unbestechlichen, ihrer Sache gewissen, unabhängigen und aus den Quellen des Lebens schöpfenden Charakteren. Die Volksgemein— 78 —

Schäften und ihre Beauftragten können keine höhere Aufgabe haben als allen, die sich im Besitz von Kraft wissen, Raum für deren Auswirkung zu schaffen, damit das Wort „Freie Bahn dem Tüchtigen" endlich aufhört, eine schöne Phrase zu sein. Die Einzelnen sind nicht der Gemeinschaft oder des Staates wegen da, sondern um ihr Geburtsrecht auszuüben, welches heißt: „sich lebend zu entwickeln", woraus folgt, daß sie durch das Gebot ihres bloßen Daseins den Hilfsgrößen Staat und Kirche erst zu einer der jeweiligen Zeit gemäßen Struktur zu verhelfen haben. Welche Mittel ein Lehrer, ein Erzieher, in seiner Praxis anwenden will oder soll, hängt allein von dem Maß und der Intensität dessen ab, was er in sich erfahren hat. Glaubt er auf dem Wege höherer Erkenntnis in das Wesen des menschlichen Wachstums eingedrungen zu sein, so wird er auf den erkannten Gesetzen das Erziehungs- und Schulwesen aufbauen (Freie Waldorfschule, Stuttgart). Hat er die lösende und erschließende, ja umstürzende Gewalt des strömenden Atems in sich erfahren, so wird er nicht ruhen, bis er diese Kraft, sei es unmittelbar, sei es mittelbar pädagogisch fruchtbar gemacht hat. Die zunächst wahrnehmbare Wirkung ist, daß sich die Atmosphäre der Kinderstube, der Schulklasse, der Arbeitsstätte „entspannt", die Krampf- und Reizzustände sich lösen, die etwa entstehenden Krisen durch die Gelassenheit und Geistesgegenwärtigkeit überwunden werden und nun auf neu erobertem Boden freudiges Schaffen, Straffheit, Konzentration einsetzt. Wer sich durch die Vermittlung des Atems mit den im Weltall schwingenden Kräften in Verbindung zu setzen weiß, sie auf dem rechtmäßigen Wege (das heißt in Demut) an sich zu ziehen weiß, der erfährt ein allmähliches, fast unmerkliches, aber bis auf den Grund gehendes Sichverwandeln seines Gedankenlebens. Wenn wir aber mit einem verwandelten, das heißt von ererbten Belastungen befreiten, von Trübungen gereinigten Gedankenleben an die großen Fragen von Zeugung und — 79



Empfängnis, Geburt und Tod, Entwicklung und Beharrung herantreten, — ob dann nicht vielleicht die Möglichkeit der Erforschung und Beherrschung der Lebens- und Evolutionsgesetze in größere Nähe gerückt ist? — ob man dann nicht mit tieferer Gläubigkeit, mit stärkerem Verwirklichungswillen als bisher die Forderung an die Spitze jeden pädagogischen Tuns setzen darf: Werde,

der

du

bist!

auf daß eine Rasse von Menschen erwachse, die mit einem tieferen Atem und mit einem stärkeren Auftrieb, mit einer größeren Kraft des Glaubens und Unbeirrbarkeit des ethischen Willens, mit zuverlässigerem Instinkt und feineren Organen ausgestattet ist als unser Geschlecht; Menschen, die hart sind und doch weich, bewußt und doch spontan, selbstvertrauend und doch voll Demut, furchtlos und doch gütig, in der Bewegung ständigen Wandels und doch in sich ruhend, bereit zu helfen und doch jederzeit gewärtig, die Kräfte nach innen zu ziehen hinter die Mauern ihrer uneinnehmbaren geistigen Feste; Menschen, deren Haltung die souveräne Gelassenheit ist, die Haltung derer, welche das Leben meistern. Aber, um das noch einmal zu sagen: ob an dem Kulminationspunkt, den die Menschheitsentwicklung heute erreicht hat, wir innehalten, um im alten Typus des deutschen Menschen zu erstarren, das hieße: zugrunde zu gehen; oder ob wir vorwärtsdringen, durch Gestrüpp und Morast hindurch, um dem neuen Typus Mensch zum Durchbruch zu verhelfen — der nun nicht mehr Idealist heißt, sondern im neuen Sinne „Realist", Verwirklicher dessen, was er denkt, Verkörperer dessen, was er will — das hängt nicht nur davon ab, welc'hes Bild vom Menschentum wir in uns haben, sondern welches Menschentum wir mit der ganzen Intensität unserer Vorstellungkraft und der ganzen Gegenwärtigkeit unseres Willens w o l l e n .



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Nachwort Den verschiedenen, oft sehr scharfsinnigen Versuchen von wissenschaftlicher Seite, die Strömungen der Gegenwart nach ihrem Entstehen und ihren selbst innerhalb kurzer Zeitspannen wahrnehmbaren Wandlungen (also historisch) zu erklären, oder aber ihrer Buntheit und ihrem Kräfteverhältnis nach (also analytisch oder dynamisch) darzustellen — steht das Bestreben von subjektiver Seite gegenüber, den eigenen Kreis als abgesondert von den Zeitströmungen oder als erhoben über sie, als eigen- und einzigartig, ja als maß- und richtunggebend zu betrachten, wobei der Feind gewöhnlich hochgeachtet, der Freund aber, sofern er schwächere oder auch nur andere Substanz hat, gering geachtet wird. An Stelle dieses engen Blickfeldes sollte heute ein weiteres treten. Man sollte den Blick so richten, daß man oberhalb der Verschiedenheiten einzelner Gruppen die großen Fronten sieht, zu denen sich heute die geistigen Kräfte zusammenschließen. Wir stehen in der Hochspannung eines erregenden und entscheidenden Kulturkampfes. K a t h o l i s c h und p r o t e s t a n t i s c h sind heute viel schärfere Gegensätze als etwa bolschewistisch und faschistisch, deshalb, weil die Spannung hier auf einer Parallelität der geistigen Struktur, dort auf einer polaren Gegensätzlichkeit beruht. Wenn die Begriffe katholisch und protestantisch hier gebraucht werden, so geschieht das in einem ganz erweiterten Sinne: die katholische Gesinnung will primär Bindung und setzt sie durch, selbst auf Kosten der freiheitlichen Entwicklung von Tausenden Einzelner; die protestantische Gesinnung setzt primär das Recht des Einzelnen auf Freiheit des Gewissens und Freiheit der Entwicklung, selbst auf die Gefahr hin, daß für ihn sämtliche überlieferten Bindungen zusammenbrechen. Die erstarrten Extreme Festschrift Breysig II



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beider Weltanschauungen würden heißen: Dogmatismus und Autoritätsgläubigkeit auf der einen, schrankenloser Individualismus und Anarchie auf der andern Seite. (Der sich vom katholischen Menschen heute am deutlichsten abhebende religiöse Gegentyp ist der Quäker.) Jeder geistige Mensch muß sich heute einmal entschließen, Farbe zu bekennen. Natürlich ist die katholische Macht, von außen gesehen, die stärkere. Denn Bindung bedeutet immer Form, Orenze, Organisation, Einheit. Natürlich muß auf protestantischer Seite Zersplitterung sein, denn Freiheit bedeutet Aufhebung der Uni-Form, Vielheit, Beweglichkeit, Unbegrenztheit. Kein Wunder auch, wenn manche Gruppen, die eigentlich auf die protestantische Seite gegehörten, dennoch aus Furcht vor dem Chaos nach der katholischen Welt hinüberschielen und deren Formen, heimlich oder unheimlich, nachzuahmen suchen. Der Katholik weiß sofort seine Verbündeten zu finden, der Protestant nicht; denn für ihn ist ja nicht nur nicht die Kirche Träger des eigentlichen Protestantismus, sondern er findet Angehörige dieser Kirche in Bünden und Gemeinschaften vereinigt, die ihrer Struktur nach durchaus katholisch sind. Dieses aber ist heute die Lebensfrage des Protestantismus: wo sind die Menschen, die ihn wirklich tragen, bis in die letzten Konsequenzen hinein? Jeder, der sich in die Front des geistigen Protestantismus eingereiht weiß, muß fragen: wer sind meine Verbündeten? W e r ist sich darüber klar, daß neben den Gruppen moderner protestantischer Theologen große Bewegungen wie Theosophie, Anthroposophie, Masdasnan, Christliche Wissenschaft, der Kreis um Johannes Müller, der Kreis um den Grafen Keyserling, selbst Couéismus, Psychoanalyse, Psychotherapie (auch dann, wenn evangelische Gemeindehäuser ihnen ihre Pforten verschließen) in ihrer Grundeinstellung auf protestantischer Seite stehen? Warum bekämpft man nur immer die Methoden und Gepflogenheiten der Nebengruppen und verliert die gemeinsame Linie aus den Augen! D e r Protestantismus, der, wie es ihm zukommt, den Gedanken der -

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schöpferischen Evolution in sich aufgenommen hat, wird der katholischen Welt niemals einen so imposanten und bewundernswerten Bau entgegenzusetzen haben, wie es die römische Kirche ist. Wohl aber wird er ihr einmal einen Menschentypus entgegenzusetzen haben, der keiner Organisation und keiner „Tempel, von Menschenhand gebaut" mehr bedarf. Und von diesem Typus hängt unsere Zukunft ab.

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Eine Neuerscheinung zur Geschichte der Dekabristenbewegung von Mark Wischnitzer

Professor M. N. Pokrowski, mit dem ich kürzlich in Moskau eine U n t e r r e d u n g hatte, ist einer der markantesten Vertreter der heutigen russischen Geschichtswissenschaft. Er nimmt im kulturellen Leben der Sowjetunion als stellvertretender Volkskommissar f ü r Bildungswesen und als Leiter der russischen Archive eine f ü h r e n d e Stellung ein. In unserer Unterhaltung wurden die Themen gestreift, die in den Revolutionsjahren Gegenstand historischer Forschung waren. Professor Pokrowski f ü h r t e aus, daß die älteren Perioden der russischen Geschichte fast gar nicht gepflegt worden seien. Die Akademie der Wissenschaften in Leningrad habe keine Möglichkeit gehabt, das im Laufe des letzten Jahrzehnts angehäufte Material herauszugeben, und mache erst in jüngster Zeit den Anf a n g damit. Auch sonst seien die Bedingungen f ü r größere wissenschaftliche Arbeiten nicht günstig gewesen, dagegen habe die E r f o r s c h u n g der revolutionären Bewegungen in Rußland — mit dem Pugatschew-Aufstand beginnend — nicht unerhebliche Fortschritte gemacht, wenn auch zugegeben werden müsse, daß hier fast ausschließlich Quellenausgaben und knappe, zumeist populäre D a r stellungen überwiegen, während eingehendere wissenschaftliche Untersuchungen noch auf sich warten lassen. — 84

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D a s hundertjährige Jubiläum der Dekabristenerhebung, das am 14. Dezember 1925 gefeiert wurde, g a b Anlaß zu dem Erscheinen einer ganzen Anzahl von Aktenpublikationen und Darstellungen meist biographischen Charakters, die f ü r d a s Studium der ersten revolutionären Bewegung in Rußland im 19. Jahrhundert wertvoll sind. Es fehlt auch nicht an zusammenfassenden Bearbeitungen einzelner wichtiger Momente und Episoden aus dieser Bewegung, unter denen das Buch von Prof. A. E. Presnjakow „Der 14. Dezember 1825" (Moskau 1926), besondere Beachtung verdient. Der Verfasser dieser Schrift gilt schon seit Jahrzehnten als hervorragender Geschichtsforscher. Seine älteren Arbeiten hatten verfassungsgeschichtliche Probleme des russischen Mittelalters zum G e g e n s t a n d . In jüngster Zeit wandte sich Presnjakow der neueren Geschichte zu. 1924 erschien seine Arbeit über Alexander I., und n u n m e h r haben wir vor u n s eine Studie über die E r h e b u n g am 14. Dezember und die Vorbereitung derselben. W ä h r e n d gewöhnlich politische Bewegungen und Parteien nach dem ersten wichtigen Manifest, mit dem sie an die Öffentlichkeit treten, bezeichnet werden, haben die radikalen Kreise, die in Rußland im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts, in Geheimverbänden organisiert, eine Reform des Staatslebens anstrebten, ihren Namen von einem zufälligen Ereignis — dem Schlußakt der Bewegung — erhalten. Diese Bewegung ist allgemein unter dem N a m e n Dekabristenbewegung bekannt geworden, weil am 14. Dezember 1825 eine G r u p p e meist jugendlicher Garcfeoffiziere, die nicht einmal alle den Geheimgesellschaften nahegestanden haben, sich gegen die Autokratie e r h o b . Es muß zugegeben werden, d a ß diese Bezeichnung, bequem, aber geschichtswissenschaftlich nicht stichhaltig ist. Presnjakow läßt sie n u r im weitesten Sinne des W o r t e s gelten. Die Dekabristenbewegung ist, um mit den Worten des Verfassers zu sprechen, „eine überaus komplizierte Erscheinung. Es kreuzten sich darin verschiedene sozial-politische — 85 —

Tendenzen, die verschiedene soziale Interessen spiegelten, Interessen, die nicht genügend differenziert waren, um eine Basis für besondere Parteigruppierungen zu bieten mit scharf umrissenen eindeutigen sozialen Programmen. In diesem eigenartigen Synkretismus der Dekabristenideologie, in der für diese bezeichnenden Fülle von verschiedenen weit voneinander abweichenden Schattierungen und Gegensätzen ist die Ursache dafür zu suchen, daß bei allem Freiheitsbestreben, das die Träger der Bewegung beseelte, diese nicht so weit erstarkte, um eine einheitliche Parteiorganisation zu bilden, die politisch aktionsfähig gewesen wäre, aber auch die Ursache der ungemein starken und nachhaltigen Popularität, der sich die Dekabristen in den nachfolgenden Generationen und den verschiedensten Gesellschaftsschichten erfreuten: beim Adel, der der autokratischen Gewalt oppositionell gegenüberstand, bei der liberalen Bourgeoisie und bei der revolutionären Intelligenz". Die drei ersten Kapitel der Schrift sind der Analyse der Voraussetzungen für die Entstehung der Bewegung und einer allgemeinen Schilderung der einzelnen Richtungen und Phasen derselben bis zum Tode Alexanders I. gewidmet. Die Thronkrise, die darauf erfolgt war, und von unserem Verfasser in einem besonderen Kapitel behandelt wird, führt zu den dramatischen Begebenheiten am 14. Dezember hinüber, die das eigentliche Thema des Buches bilden. Es wird ein ungemein anschauliches Bild von den krampfhaften Anstrengungen des Direktoriums der nördlichen Geheimgesellschaft entworfen (es gab noch eine südliche Gesellschaft in Tultschin), deren Seele der Dichter Rylejew war. Diese Anstrengungen zielten darauf hin, die Verwirrung, die das Interregnum mit sich gebracht hatte, auszunutzen, und am 14. Dezember, an dem Tage, an dem Nikolaus die Truppen zu vereidigen beabsichtigte, loszuschlagen. Mit besonderer Prägnanz werden die Ereignisse am 14. Dezember selbst geschildert. Die Darstellung Presn—

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jakows berichtigt so manche falschen Vorstellungen, die über den Gang der Erhebung geherrscht haben. So wurde allgemein behauptet, daß der zum Diktator der aufständischen Truppen erwählte Oberst Trubezkoj aus Feigheit sich im letzten Momente von der Aktion zurückgezogen habe. Von Presnjakow erfahren wir aber, daß Trubezkoj den Oberbefehl überhaupt nicht übernommen hatte, weil er beim Betreten des Senatsplatzes noch rechtzeitig die Lage übersehen konnte, um festzustellen, daß mit einer größeren Beteiligung der Petersburger Garnison nicht zu rechnen war. Die Erhebung war militärisch von Haus aus zu einem Mißerfolg verurteilt, was in der Studie Gabajews, „Die Garde in den Dezembertagen 1825", die als Anhang zu Presnjakows Schrift gebracht wird, sehr überzeugend nachgewiesen wird. In der überaus wertvollen Arbeit Gabajews werden nach einigen einleitenden Kapiteln über den Zustand und die Organisation des Gardekorps im Jahre 1825 die Chancen der Aufständischen und der der Regierung treugebliebenen Truppen in streng objektiver Weise abgewogen, die Kampfhandlung geschildert und die beiderseitigen Verluste angeführt. Gabajew zählt die Führer und Teilnehmer der gegnerischen Parteien auf und stellt fest, daß unter den höheren Offizieren und Generalen, die Nikolaus bei der Unterdrückung des Aufstandes mitgeholfen haben, sich eine ganze Anzahl ehemaliger Mitglieder der Geheimgesellschaften befand. Ein Beweis mehr dafür, wie irreführend es ist, alle Personen, die zu den Geheimgesellschaften in irgendeiner Beziehung gestanden haben, zu Dekabristen zu stempeln. Beide Autoren haben ein reichhaltiges Archivmaterial, das sie allerdings nicht immer zitieren, verwertet. Ihre Arbeiten bilden einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der revolutionären Bewegungen in Rußland.

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Historiker und Journalist von Werner Richter

In ihrer begrifflichen Grundstellung gesehen, sind Geschichtsschreibung und Journalismus einander ganz fremd, unbenachbart, auf völlig verschiedener Ebene angesiedelt. Der Journalismus hat, — und zwar um so mehr, je richtiger er verstanden wird — die Mission, nichts als das Spiegelbild des Tages zu liefern, — so treu als nur immer möglich, aber ebenso rasch auch verfliegend: alle Liebe zu seinem Werk muß der Journalist in die wenigen Stunden bis zum Erscheinen der nächsten Nummer zusammenpressen; und daß es am nächsten Tag schon reif für den Lumpensammler ist, darf ihm nichts anhaben. Der Historiker hingegen zielt vor allem auf Endgültigkeit. W a s also vornehmstes Objekt des Journalisten ist, das Einmalige, Momentane im Bild des Tages, — nach seiner Ausschaltung gerade strebt der Geschichtsschreiber. Die Erscheinungswelt aus den zeitbedingten Perspektiven herauszulösen, sein Arbeitsresultat dem Unabänderlichen, Absoluten möglichst anzunähern, das ist seine Aufgabe. Die täglich wechselnden Relationen unmittelbarster Gegenwart immer wieder neu darzulegen, — das ist die des Journalisten. Kann man sich stärkere Gegensätze denken? Dennoch sei erlaubt, hier anzudeuten, wie zwischen ihnen doch die Übergänge, die in der Theorie kaum konstruierbar scheinen, in der Praxis sanft und nahezu unmerklich werden. -

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Denn in Wirklichkeit ist es ja so, daß d e r J o u r n a list u n a u f h ö r l i c h v e r s u c h e n muß, die Ergebnisse der Historie vorwegzunehmen. Schon der anonyme Redakteur, der den Nachrichtenteil einer Zeitungsnummer aufbaut, wird, vom Mangel an Raum grausam bedrängt, immer wieder in Augenblicksspanne entscheiden müssen, welches der ihn umlagernden Telegramme das wesentlichste, das heißt: das die Situation am tiefsten ändernde, also: das zukunftträchtigste ist. Das gleiche gilt, nur mit noch weit stärkerer Verantwortung beladen, von den Absendern dieser Telegramme, den Beobachtern in der Fremde, von den Korrespondenten, ganz besonders aber von dem Verfasser des „Leitartikels", der die Willensrichtung des ganzen Organs bestimmt und so den Lauf der Geschichte vielleicht direkt und real beeinflußt. Der historische Instinkt also, der ja schließlich auch im Geschichtsforscher die primärste Regung ist, — je stärker er im Journalisten entwickelt ist, zu einem um so besseren Journalisten wird er ihn machen. Der Journalist hohen Ranges jedenfalls muß Historiker mindestens insofern sein, als er die von der Geschichtsforschung erarbeiteten Vergleichsmaßstäbe stets zur Hand haben muß. Denn kein Archiv ist denkbar, das dem Tempo der journalistischen Arbeit so angepaßt, in jedem Augenblick derart bereit wäre, wie es der Journalist von seinem Hirn verlangen muß. Die Geschichtsforschung wiederum wird auf dem Material, das ihr die Journalistik liefert, aufbauen müssen, — in Zukunft sicherlich weit mehr als bisher. Sie wird es indessen so lange nicht voll ausnutzen können, als sie sich nicht mit der Arbeitsmethode und den Berufserfordernissen des Journalisten gänzlich vertraut gemacht hat. Die Zeitung ist in ihrer heutigen Entwickelung, namentlich nach dem Fall der Zensur in den wichtigsten europäischen Staaten, ein in seinem Wert erst in Jahrzehnten wirklich abschätzbares Dokument der öffentlichen Meinung, ein Reflexspiegel, der alle Weiten und Tiefen der Volksstim— 89

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mungen zugänglich macht, — ein Urkundenmaterial, so unmittelbar auswertbar, wie es für keines der vergangenen Jahrzehnte vorliegt. Allerdings — es spiegeln sich darin nicht nur wirkliche Stimmungen und Meinungen; es mengen sich darunter auch die Tendenzen und Vorurteile, die die jeweiligen Besitzer und Beherrscher der Rotationsmaschinen, also Parteien, Industrien, Cliquen, Regierungen, zu erzeugen oder wenigstens doch vorzutäuschen strebten. Je mehr jedoch der künftige Historiker Sinn für die Arbeit des Journalisten haben wird, je reger der journalistische Instinkt auch in ihm entwickelt ist, um so eher wird es ihm gelingen, in dem gefährlichen, aber um so aufschlußreicheren Forschungsmaterial der modernen Tagespresse Schein und Sein zu trennen. Insbesondere aber wird er aus der Tonart des Journalisten, aus dem, was er stark unterstreicht, aus dem, was er dämpft, die Einzelheiten, die Phasen, die Kräfteverteilung, die Leidenschaftsgrade und die Hintergrundsmotive des politischen Kampfes zu erfühlen vermögen. Der Journalist beschreibt die Welt, wie sie sich ihm im Augenblicke darstellt. Der Historiker stellt sie — mindestens im theoretischen Postulat — dar, wie sie ist. Dieser genießt den Vorteil der ungestörten Perspektive, jener den Reiz der Frischfarbigkeit des ungefiltert strömenden, immer neu aufzufangenden Daseins. Und wenn seine unausgesprochene Hoffnung dabei die ist, daß eine künftige Historie — allerdings nur eine nach großen Grundsätzen suchende, nicht in diplomatisch-militärischen Nebensächlichkeiten wühlende Historie — seine Aussonderungsarbeit billigen, seine Wertmaßstäbe übernehmen, sein Werk also rechtfertigen wird, — so mag hierin die tiefste, innerste Berührungsstelle der zwei anscheinend so schroff getrennten Welten liegen.

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Maßstäbe zu einer Geschichte der Tanzkunst von Fritz

Böhme

Wir besitzen nicht viele geschichtliche Werke über Tanz. Man kann sie fast an den Fingern herzählen, auch wenn man Jahrhunderte zurückgeht. Und diese Werke tragen alle mit wenigen Ausnahmen die gleichen, ich möchte sagen, naiven Züge: ihre Verfasser haben in den literarischen Resten über ein unmittelbar unzugängliches Reich menschlichen Schaffens herumgewühlt, haben diese und jene Nachrichten herausgegriffen, in die zeitliche Ordnung eines Nacheinander gebracht, ja, wenn sie gebildet waren, sogar zu dem sogenannten Zeitgeist oder zu Errungenschaften der jeweiligen Epoche in Beziehung gesetzt und dann das Ganze Geschichte genannt. Eine solche Art Geschichte zu schreiben, ist noch nicht einmal wert, Material zu Geschichte zu heißen, denn ihr fehlt, wonach alle Material-Erschließung der historischen Disziplin streben muß: das Suchen danach, das Überlieferte so, wie es überliefert wurde, erst einmal kritiklos aufzählend, nachprüfbar zugänglich zu machen. Wir besitzen keine Materialsammlungen der literarischen Überlieferungen für dieses Gebiet, keine Zusammenstellungen etwa der Stellen antiker Schriftsteller, die vom Tanz jener Zeiten berichten; aber auch keine Neudrucke, Ausgaben, Übersetzungen (weniges ausgenommen) der Schriften über Tanz etwa aus der Zeit des Balletts oder Sammlungen von Ballett-Texten. — 91 —

Hier muß jeder von neuem anfangen, will er sich nicht — und wer täte bei ernster Forschung solches gern — auf die Darstellung jener „Geschichten des Tanzes" verlassen, die n u r zu sehr den Stempel von zufällig zusammengesuchten Bemerkungen und von feuilletonistischer Unterhaltungsschilderei aufweisen und deren Verfasser glaubten, schon im oberflächlichen Aneinanderreihen etwelcher Tatsachen den Gegenstand erschöpft zu haben. Ich will gar nicht von der Notwendigkeit der Herstellung von Entwicklungszusammenhängen reden, — wäre man doch wenigstens bei der Erarbeitung von Tatsachen ehrfurchtsvoll v o r g e g a n g e n ! Aber zu früh stellte sich hier eine Sucht nach Auswahl ein, die natürlich ohne die Kenntnis des Vielen unkritische Willkür sein muß, da d a s Typische, das Wiederkehrende, die Kette der Entwicklung und Forma b w a n d l u n g nur aus dem Wissen um die Fülle erschlossen werden k a n n ; ganz zu schweigen von der Unmöglichkeit, aus dieser oberflächlichen Inaugenscheinnahme schon allgemeine, d u r c h g e h e n d e Linien, vergleichende Querschnitte, Auftauchen neuer Probleme, Kreuzungspunkte und Abhängigkeiten von Abläufen aufzeigen zu können. Wir haben Monographien über Tänzer und Tänzerfamilien, aber sie schwätzen und erzählen Anekdoten und Klatsch und wissen nicht, was not tut, zu erschließen. W i r haben allgemeine Geschichtswerke über Tanz, aber entweder glauben die Verfasser den Stoff durch geistreiche Nebenerörterungen schmackhaft machen zu müssen, oder sie geben ganz dürftige, lückenhafte Übersichten und finden nicht einmal den Sinn der Wendepunkte des geschichtlichen Ablaufs. Am nächsten echter Geschichtsbetrachtung kommen noch jene Werke neuerer Zeit, die sich mit Fragen der W a n d l u n g tänzerischer F o r m u n g s prinzipien beschäftigen, wie A n d r e j Levinsons „Meister des Balletts" und H a n s B r a n d e n b u r g s Werk „Der m o d e r n e T a n z " , oder die tänzerische W a n d l u n g e n im Z u s a m m e n h a n g mit dem Entwickeln kulturellen Lebens zu erschließen versuchen, wie „Der T a n z " von Oskar Bie und „ D e r Tanz -

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in der Antike" von Fritz Weege. Aber auch diese Schriften sind nicht m e h r als A n f ä n g e historischer Betrachtung. Man steht, genau g e n o m m e n , noch nicht einmal im Vorstadium einer geschichtlichen E r f o r s c h u n g der Tanzkunst. Man kennt das Material, d a s einer überschauenden Betrachtung unterworfen werden soll, noch nicht, geschweige denn, daß man schon zu einer systematischen Erö f f n u n g dieses Gebiets vorgedrungen wäre. Es hat sich noch niemand d e r mühevollen Kleinarbeit des Materialsammelns unterzogen. D a s muß einem, der bei irgendeiner Gelegenheit einmal Klärung f ü r eigene Tanzerkenntnis aus Quellen der Vergangenheit gewonnen hat, so absonderlich vorkommen, daß er diese Tatsache nicht ununtersucht hinnehmen kann. Es muß G r ü n d e d a f ü r geben, daß hier ein großes und doch wohl nicht uninteressantes Forschungsgebiet wissenschaftlich brachliegt. D a s Naheliegende ist, die G r ü n d e in dem Wesen dieser Kunst zu suchen. Die Schöpfungen der Tanzkunst sind einerseits räumlich-körperlicher Art, anderseits aber als Aufeinanderfolge von Bewegungen haben sie zeitlichen Charakter. Die in der Zeit verlaufende Bewegung leuchtet einen Augenblick auf und ist im nächsten Augenblick schon verschwunden. Diese Kunst ist flüchtig und hinterläßt keine Spuren; nichts bleibt als das im Beschauer nachklingende, langsam verblassende Erinnerungsbild, an dem G e f ü h l s - oder G e d a n k e n m o m e n t e haften und mit ihm vergehen. In dieser Flüchtigkeit steht die Tanzkunst nicht allein da. Sie teilt sie mit den anderen zeitlich verlaufenden Künsten, der Musik und der Sprechkunst. Diese beiden sind aber f ü r historische Schau insofern günstiger, weil sie allgemein oder doch fast allgemein zugängliche graphische Hilfsmittel geschaffen haben, durch die Klangz u s a m m e n h ä n g e oder Sprechschöpfungen in Zeichen überliefert und reproduzierbar wurden. Allerdings hat auch der Tanz eine solche graphische Überlieferung (Choreographie), aber sie ist weder so wie die Schrift Allgemein— 93 —

gut, noch in ähnlicher Art wie die Musiknote kunstgerecht entwickelt worden, wenigstens kommt die neueste Ausgestaltung der Choreographie (durch Rudolf von Laban) für die Geschichte noch nicht in Betracht. Was wir etwa für die alte Musik, die noch nicht in Zeichen oder nur in uns undeutbaren Zeichen vorliegt, sagen müssen, nämlich, daß sie nicht mehr rekonstruierbar ist, das trifft in ererweitertem Maße auf den Tanz fast der ganzen Vergangenheit zu. Das wäre also das stärkste Hemmnis für die Erschließung von Material der Geschichte der Tanzkunst: unmittelbar Anschauliches (wie es alle statischen Künste: Malerei, Architektur, Plastik, besitzen) konnte nach dem Wesen dieser Kunst nicht mehr vorhanden sein und eine Rekonstruktion war für viele Zeiten völlig unmöglich, für andere mit großen Schwierigkeiten verbunden. Man war also fast nur auf literarische, bildliche oder plastische Überlieferung angewiesen. Aber auch hier war charakteristisches Material sehr spärlich, und der Zugang dazu nicht immer leicht. Denn was da überliefert war als Beschreibung, als Tanzbild, als Statue oder Relief von Tanzenden, war die Wiedergabe eines Eindrucks, der aus dem eigentlichen, lebendigen Element des Tänzerischen hinübergetreten war in ein von anderen Formgesetzen erfülltes Kunstgebiet. Es war Interpretation, Schilderung, Abbild, aber keineswegs immer für die Rekonstruktion der lebendigen Tanzform der Vergangenheit verwendbar. Aus diesen Gründen ist es erklärlich, daß man nicht leicht den Weg zu einer historischen Darstellung und Aufhellung dieser Kunst fand. Dazu kam aber noch ein zweites: Bewegung ist grundsätzlich anderer Art als das Wort. Das Wort heftet einen Vorgang fest und entkleidet ihn damit seines Wesentlichen, des kontinuierlichen Verlaufs. Die Bildung des wissenschaftlich forschenden Menschen aber ging und geht zum größten Teil heute noch auf Darstellung der Welt und Ausdruck der Erkenntnis durch das Wort aus. Sie hat also statischen, fixierenden Charakter. Auch der wissen— 94 —

schaftliche Mensch bekommt dadurch etwas von diesem Charakter. Das Gebiet der Bewegung liegt ihm fern. Er kennt diese sich fortwährend wandelnden, vergleitenden, verschwebenden Phänomene nicht. Sie sind ihm nicht recht zugänglich. Bewegung kann nicht auf dem Umweg über Wort oder Bild oder Plastik verstanden werden, sie will erfahren, ausgeübt sein. Vielleicht wurde sogar dieser oder jener gereizt, sich mit Geschichte des Tanzes zu beschäftigen, aber er lebte in der Welt des Worts und fand von ihr aus keinen Zugang zu der Welt der Bewegung, der Auflösung alles Statischen und Geballten. Der Weg zum Erfassen und damit auch zur richtigen Beschreibung und kritischen Beurteilung der Werte der Tanzkunst ist theoretisch oder in abstracto nicht zu beschreiten. Die Erkenntnis der Bewegung ging immer und geht auch heute noch nur über die Erfahrung der lebendigen Grundvorgänge dieses Gebiets, ist also nur durch ein praktisches Studium zu erwerben. Aber welcher Gelehrte kam je auf diese Idee: Geschichte der Tanzkunst sich mit Hilfe eigenen Bewegens zu erobern! Wenn man sich nach allem diesem nun die Frage vorlegt: Hat es denn überhaupt einen Wert, sich mit der Geschichte des Tanzes zu beschäftigen, da die Schwierigkeiten, zu Material und Verständnis zu gelangen, so groß sind? — dann wird man nicht leichtfertig mit einem Ja antworten dürfen. Geschichtliche Forschung hat gewiß als erste Grundlage Wissenwollen, edle Neugier. Aber sie muß schließlich über dieses Wissenwollen hinaus, um als wertvoll gelten zu können, Beziehungen zu erschließen imstande sein, die die Erkenntnis vom Sein und Wesen und Werden des Menschen zu erweitern und zu vertiefen geeignet sind. Wissenwollen, nur um der Erkenntnis willen, ist zu wenig, um einen ganzen Zweig einer Wissenschaft begründen zu wollen, zumal wenn der Zugang zu dem Wissen schon so schwer ist wie im vorliegenden Fall. Es würde auch nur zu Materialanhäufung führen, nicht zu geschichtlicher Klärung. Ich glaube auch nicht fehl— 95 —

zugehen, wenn ich sage: nicht das Interesse an der Vergangenheit allein ist das Treibende im Historiker, sondern d a s Interesse überhaupt am Menschen. Auch er sucht eine Klärung des heute Seienden aus den Beziehungen zum Gestrigen und Vorgestrigen, sucht schließlich an der Geschichte ein ganz Persönliches: Innewerden von Weltgefühl, Schöpfen eigener Lebendigkeit, Erhöhung und Vervielfältigung, der Beziehungsempfindung zum Leben. Und hier handelt es sich um die Geschichte einer Kunst. Sie wird in erster Linie für die geschrieben werden müssen, die sich als Schaffende dieser Kunst gewidmet haben. Eine solche Geschichte muß das Vergangene so lebendig machen, daß es dem Jünger dieser Kunst der in die zeitliche Ferne gehende Hintergruind des eigenen Lebensgefühls wird und sein gegenwärtiges Lebensgefühl sinnvoll mit dem Lebensgefühl der vergangenen Zeiten verknüpft. Er muß aus einer solchen Geschichte erfahren, daß er selbst als Typus ewig ist und daß er diesem Typus in einer zeitlichen Verwirklichung neue eigene Form zu geben hat. Er muß sich selbst in dieser Geschichte in seinem Wesen und in seinem Trieb nach Form und Ausdruck finden. Und verknüpft mit dem gesamten Leben überhaupt. Geschichte der Tanzkunst müßte also die Aufrollung des Menschheitswerdevorgangs sein, geschaut in dem Wandel der Formen dieser einen Kunst. Erst wenn sie so gefaßt wird, ist sie wertvoll genug, um geschrieben zu werden; denn dann hat sie innere Notwendigkeit und Lebensverbindung. Die Frage ist nun, ob sie das erreichen kann und wie sie zu den Bausteinen dieses großen Gebäudes kommt. Wenn, wie gesagt wurde, von dem zu verarbeitenden Material nichts mehr unmittelbar anschaulich vorhanden ist, — welche Mittel und Wege gibt es trotz dieses Mangels mittelbar zu Material zu kommen? Diese Frage bedeutet zuerst: wie kommt man an das heran, was aus der Vergangenheit noch Hinweise auf Tanzkunst oder Tanz schlechthin in sich oder an sich — 96 —

enthält? Hier gilt es gleich einer allgemein üblichen falschen Auffassung zu begegnen. Der mit den künstlerischen Voraussetzungen f ü r Tanz nicht Vertraute wird, veranlaßt durch d a s gemeinsame Vorkommen von Musik und Tanz in Gegenwart und Vergangenheit, voraussichtlich glauben, daß u n s die Musik einer Zeit auch zugleich Aufschluß über den Tanz dieser Zeit geben kann. Diese Mutmaßung erweist sich bei näherem Zusehen als ein Irrtum. Klangreich und Bewegungsreich sind zwei ganz verschiedene Kunstgebiete. Ihre Verbindung ist möglich wegen der Gemeinsamkeit des zeitlichen Verlaufs beider. Aber ebenso wie die Zeiteinteilung nicht das Wesentliche, sondern nur eins der Charakteristika einer Musik ist, so ist sie auch f ü r Tanz nur ein Nebenbei, und zwar ist dieses Nebenbei f ü r den Tanz bei weitem weniger von Belang als f ü r die Musik. Tanz vollzieht sich in erster Linie als körperliche Bewegung im Raum. Aus dem Raum leiten sich seine Formungsgesetze her und nur insofern Raum für den Menschen immer als Zeit-Raum gegeben ist, spielt das Zeitliche im Tanz eine Rolle. Man kann aus der Musik zu einem Tanz wohl Intervall-Angaben (schnell—langsam), auch Intensitäten (betont—unbetont) und Schrittformen herauslesen: das ganze Reich der eigentlichen Körperbewegung, die Bestimmungen f ü r Schwerpunktverlegungen, die Angabe über impulsive, schwungvolle oder gespannte Bewegungsart, die Charakterisierung räumlicher Spannungen und Neigungen — all das, was die Hauptsache bei der tänzerischen Formung bedeutet, ist aus einer Tanzmusik nicht zu erkennen. Wir sind durch die nicht eben bewegungsmäßig vielseitige und schnell mit Stereotypen sich befriedigende Artung des Tanzes im Abendland zu leicht geneigt, in der Angabe der Schrittintervalle schon d a s Tänzerische an sich zu vermuten. In Wirklichkeit erhält der Tanzschritt erst Sinn und Wert durch die körperlich-räumlichen Ausdrucksformen, die als das Wesentliche über ihm aufgebaut sind. Wie aber wollte man etwa aus der javanischen Musik FeaUchrlft Breyslg II

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eines öamelan-Örchesters oder aus den Trommelgeräuschen afrikanischer Neger, diesen stundenlang sich gleichbleibenden oder wenig voneinander abweichenden Tonintervallen, die ganze Fülle der kleinen und kleinsten Bewegungen der Einzelnen und der Gruppen ablesen können, die zu dieser, vielleicht sogar noch in einem tieferen Sinne als in unseren Tonwerken zeitlich auf Bewegung eingestellten Musik getanzt werden oder wurden. Wer einmal einen javanischen Tänzer hat tanzen sehen, wird wissen, daß (bei aller Gleichzeitigkeit der Produktion) Musik keine Quelle zur Rekonstruktion von Tänzen oder höchstens nur von ganz geringfügigen, uncharakteristischen Teilen des gesamten Bewegungsbildes sein kann. Wir müssen nach anderen, volleren und reineren Quellen suchen. Der Weg, zu einer richtigen Einsicht in die Formen der Tanzkunst der Vergangenheit zu gelangen, geht über drei Voraussetzungen. Man muß sie erfüllt haben, bevor man auch nur einen Schritt in das Land der Vergangenheit tun kann. An erster Stelle steht hier die Forderung, daß man innegeworden ist und erkannt hat, worum es sich handelt. Tanzgeschichte erforschen, heißt nicht allerlei literarische Überbleibsel oder Plastiken und Bilder der Vergangenheit sammeln und betrachten, sondern heißt in erster Linie: erfaßt haben, was Bewegung und Tanz ist. Zum Studium der Tanzgeschichte ist unerläßlich die praktische Erfahrung der Probleme, um die es sich handelt. Nur wenn man sich in sie eingelebt hat, wird man Vergangenes aufsuchen dürfen. Man muß also auf Gegenwärtigem aufbauen. Man muß den Tanz und die Bewegung der Gegenwart kennen. Dieses Studium ist aber theoretisch, d. h. aus dem bloßen Anschauen und darüber Nachdenken nicht möglich. Man muß an den Vorgängen selbst teilnehmen. Man muß die Erziehung zum Bewegungsmenschen, was mehr ist als nur Augenmensch, an sich selbst vollzogen haben. Als ideale Forderung kann hier aufgestellt werden, -

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daß der Historiker des Tanzes selbst Tänzer ist. Wenn das aber wohl selten möglich sein wird, so muß er mindestens eine praktische Einführung in die Grundlagen dieser Kunst durchgemacht haben, muß die Bewegungslehren nicht nur von außen, vom Sehen kennen, sondern Bewegung, und zwar tänzerisch-künstlerische Bewegung selbst erfahren haben. Es ist ein Unding, reinen Tanz von Pantomime, Gesellschaftstanz von Tanzkunst, artistischen Tanz von künstlerischem Schaffen zu unterscheiden, wenn man in der Materie nicht selbst tätig gestanden hat. Die moderne Bewegungslehre hat eine differenzierte Harmonieund Kompositionslehre ausgebaut, hat feinste Formungsscheidungen entwickelt: all das muß dem Historiker aus der Sache selbst bekannt werden. Wie könnte er sonst die Abweichung der modernen Tanzauffassung vom Ballett erkennen? Oder wie könnte er sehen, was heutiges tänzerisches Suchen mit Formungswegen verbindet, die vor dem Ballett lebendig waren? Nur aus dem Verständnis und der aktiven Erfahrung der Probleme kann er hier überhaupt Verbindungen erschließen, Unterschiede und Gegnerschaften erfassen. Zu diesem Praktischen kommt als zweite Voraussetzung, daß er sich eine theoretische Position zur Kunst überhaupt errungen hat, um zu einer speziellen Betrachtung der Phänomene der Tanzkunst vordringen zu können. Er muß wissen, an welcher Stelle innerhalb der Struktur der Kunstwelt die Tanzkunst steht. Denn eine von den übrigen Künsten losgelöste Kunstbetrachtung verführt in Terminologie und Auffassung zu Irrtümern. Aus der Beziehung zu den andern Künsten, zu ihrem Material und Gesetzen wird er z. B. den Raumbegriff für Tanzkunst von Plastik, Musik etc. abgrenzend erschließen können. Das alles wird aber nur erlangt, wenn zu der praktischen Erfahrung ein problemhaftes Interesse an der Kunst, insbesondere der Tanzkunst tritt. Und als dritte Voraussetzung ist es notwendig, daß er eine historische Einstellung besitzt. Es geht nicht an, — 99

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daß er, praktisch und theoretisch vorgebildet, nun ohne geschichtswissenschaftliche Erkenntnisse und Richtung an die Arbeit geht. Es ist Geschichte, was er treiben will, und da muß er wissen, was sie zu leisten hat. Er mufif wissen, was Geschichte ist und was Geschehen; er muß wissen, Einzeltatsachen von Gesamtverläufen, Anekdoten von Erschließungen zu scheiden. Er muß wissen, ob es sich um Rekonstruktion des Vergangenen oder um Erkenntnis des Gestaltungswandels des Lebendigen handelt. Erst nachdem er all diese Dinge erfüllt hat, nachdem er sich zu selbständiger Urteilsfähigkeit über die Materie, die er bearbeiten will, durchgerungen hat, wird er an die Erschließung des Gebiets herangehen können. Es wird in der ersten Etappe des Tuns eine Erschließung der Materialien sein zum Zweck einer Bloßlegung des Tatsächlichen. Der erste Schritt in das Land des Vergangenen wird Kenntniserringung der literarischen Überlieferung der Schriften sein von Männern, die sich theoretisch mit der Bewegung insbesondere mit Tanz beschäftigt haben. Auch hier wird der junge Forscher gut tun, von Gegenwärtigem auszugehen. Er wird die Stellung kennen lernen müssen, auf der heute die Auffassung vom künstlerischen Tanz steht; denn nur von hier aus wird er die Vergangenheit in dem lebendigen Gehalt der Form schauen lernen. Er wird wissen, worum heute gerungen, was heute als Erkenntnis gewertet, als Ziel angesehen wird. In die ganze Buntheit des heutigen starken Lebens dieses Kunstzweiges wird er eintauchen, wird seine Begeisterung für und seine Abneigung gegen Künstler und Kunstauffassungen mit hineinnehmen in das Studium der Vergangenheit, sein persönliches Erleben des Heute wird ihn dazu drängen, nicht zu ruhen, auch in dem Gestrigen Beziehungen zum Gegenwärtigen zu suchen (diesen Weg versuchte ich in meiner 1926 bei Dünnhaupt in Dessau erschienen Schrift „Tanzkunst" zu beschreiten). Er wird die sich kreuzenden Fäden der Tanzauffassungen und Richtungen erkennen: er wird Dalcroze von Laban nicht allein aus den Büchern, -

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der „Methode" des Genfers und der „Welt des Tänzers" Labans und seiner „Choreographie" unterscheiden, sondern auch die verschiedenen Tanzwelten, Musiktanz, reiner Tanz, pantomimischer Tanz, werden sich ihm an den Schöpfungen dieser und ihrer Jünger auftun. Er wird eindringen in die Bewegungslehren und Gymnastiksysteme der verschiedenen Schulen von Loheland ebenso wie von Bode, von Mazdaznan wie von Duncan. Er wird den Tanz der Zeit studieren, wo er sich auf dem Podium und der Bühne als künstlerisch gewolltes Werk zeigt. Und nach alle diesem wird er zu den Schriften und Schöpfern der Vergangenheit gelangen, die genau so wie in der heutigen Zeit gekämpft, gerungen haben um Klärung der letzten Fragen dieser Kunst. Er wird sich und die heutige Zeit wiederfinden nicht als geformtes Werk, wohl aber als erkanntes Problem, als auftauchende Frage. Immer wieder, wird er erkennen, hat man sich mit der Musik auseinandergesetzt, hat man gestrebt nach Festhalten der Gebilde tänzerischen Geschehens, nach Verschmelzung von Formung und blutvoller Lebendigkeit. Und wie jenen denkenden Praktikern der Tanzkunst dies alles einziger Gegenstand ihres Ringens, zentrales Erlebnis gewesen ist, so wird auch er eintauchen in diese Ekstasen und Träume und Verstiegenheiten und wird sie richtig schauen und werten, weil in ihm das selbst Errungene und in der Bewegung Erfahrene nachhallt, nachklingt. Weil er das Denken über diese so eigenwillige und geheimnisvolle Kunst im eigenen praktischen Entwicklungsweg in sich geweckt hat. Der Schritt von dieser Welt der Gedanken zu der der schriftlichen und graphischen Überlieferungen von Tänzen, Balletten, Tanzspielen etc. ist nicht schwer, aber erfordert große Geduld. Insbesondere die Einarbeitung in die früheren Weisen, Tanz aufzunotieren (Choreographie), wird nicht leicht sein, da hier noch wenig vorgearbeitet ist. Es ist aber unerläßlich, da es der einzige Weg ist, um sich eine Vorstellung davon machen zu können, wie man früher getanzt hat. — 101 —

Ein sehr wichtiges Teilstudium wird sich auf die Erforschung der zeremoniellen und typischen Formen bei kultischen Festen und Feiern der Orden, geheimen Gesellschaften, Logen etc. erstrecken müssen. Dieses Gebiet ist schon bearbeitet, aber noch nicht gerade von diesem erschließenden Gesichtspunkt aus, der überhaupt erst vergleichende Überschau zuläßt. Ich habe die Vorstellung, daß gerade in diesen Formgebungen, Symbolsetzungen das Band der nichtabreißenden Tradition von urältesten Zeiten her gefunden wird und daß uns aus diesem Studium insbesondere eine weit über Tanz und Bewegung hinausgehende Klärung kommen wird. In einem inneren Zusammenhang mit diesen Forschungen steht das Studium von ethnographischen Werken, von Reisebeschreibungen, von Memoiren: es handelt sich hier allerdings meist um gelegentliche Erwähnungen, aber für ganze Strecken und Bezirke des Tanzes sind diese Schriften die einzigen Fund*stätten. Allerdings sind diese Überlieferungen nicht nur lückenhaft, sondern bergen die Gefahr verkehrter Vorstellungen. Sie sind oft nicht aliein recht unanschaulich, sondern sind ganz äußerliche Beschreibungen. Die meisten Reisenden hatten so wenig tänzerisches Verständnis, daß sie Hauptsächliches gar nicht aufnehmen konnten. Immer wieder liest man z. B. in den Berichten von einem großen Durcheinander, von wilden Bewegungen etc., ohne auch nur eine Andeutung der Bewegungsart oder charakteristischer Ablaufsformen zu finden. Im allgemeinen aber wird man mit der nötigen Kritik auch aus diesen Schilderungen in groben Umrissen Typisches herausschälen können. Hatten die bisherigen Fundorte die Eigenschaft, mit Absicht etwas vom Tanz mitzuteilen, so wird als zweite Stufe all das anzusehen sein, was unabsichtlich oder doch, ohne die Tendenz Kenntnis über Tanz zu geben, Aufschlüsse über diese Kunst enthält oder doch enthalten kann. Hier sind an erster Stelle Bilder und Plastiken zu nennen, in denen entweder Tanzsituationen oder bewe—

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güngsmäßige Stellungen gegeben werden. Die Erschließung von Bewegungsauffassungen aus diesem abbildmäßigen Reflex ist nicht so einfach und unmittelbar, wie es den Anschein haben mag. Man kann nicht einen antiken Fries zeigen und nun folgern: so haben die Griechen getanzt. Die Kunstgesetze der flächigen Malerei und der schwerpunktbetonenden Plastik sind so verschieden von dem räumlichen, jederzeit den außerhalb des Körpers liegenden Kulminationspunkt der Bewegung suchenden Tanz, daß man mit einer Oleichsetzung von Bild und Plastik und Phase einer Tanzform sehr vorsichtig sein muß. Es ist nicht möglich, aus dem Bilde ohne weiteres die Art der Bewegungsformung abzulesen. Man wird sich an dieser Stelle die Unterschiede der Künste klarmachen müssen, um zu einem richtigen Urteil kommen zu können. Ähnlich wird es da sein, wo in einer Dichtung ein Tanz geschildert wird. Sehr aufschlußreich aber wird die Ornamentik sein für die Bewegungsvorstellungen einer Zeit. Ornamentik im weitesten Sinn ist ein direkter Niederschlag linearräumlicher Bewegungsvorstellungen. So sind z. B. die Schriftzeichen nicht sowohl eine Abspiegelung lautlicher Vorgänge als vielmehr gebärdlicher Abläufe. Dieses ganze Gebiet ist insbesondere vom Gesichtspunkt der Bewegung aus völlig neu zu erforschen und zu erschließen. Es umfaßt nicht nur die künstlerische Ornamentik, sondern vor allem Schriftzeichen, Zahlzeichen, Zeichensymbolik — ein Gebiet, auf dem noch wenig gearbeitet ist. Von hier aus werden sich dann wieder Zusammenhänge mit Riten und Zeremonien ergeben, sozusagen, mit den lebendigen Ornamenten der kultischen Einungen und Geheimgesellschaften. Es liegt nahe anzunehmen, daß Scheddknoten, Quippus, Teppichknoten u. a. innere Zusammenhänge haben. Hier ist noch alles neu zu erforschen aus indischen, gnostischen, persischen, arabischen Schriften, aus den Überlieferungen der überaus wichtigen Derwischorden, aber auch der Ritter- und Mönchsorden. -

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So würde langsam eine sehr große Fülle von Material zusammenkommen. Dieses Material zu ordnen, wäre die Aufgabe, die nun zu erledigen ist. Die einfachste Ordnung ist die der chronologischen Abfolge. Sie wird als ein Längsschnitt notwendigerweise einmal gemacht werden müssen, um zeitliche Zusammenhänge, das Wandern von Tanzmotiven, die Weitergabe von Auffassungen etc. festzustellen. Ebenso wird eine Aufteilung nach Orten, Landschaften, Ländern vorgenommen werden müssen, um die ganze Summe der Formen auch nach dieser Richtung hin geordnet übersehen zu können. Danach aber wird man zum vergleichenden Betrachten fortschreiten. Man wird Tanzarten, Gattungen, Oesamtformen, kurz das Typische suchen, um schließlich die Wandlungen der Stilprinzipien, Ursprünge, Abhängigkeiten, durchgehende Strömungen, Schöpfungsherde aufweisen zu können. Dies alles oder auch ein Teil der Erledigung dieser Aufgaben führt aber den Forschenden immer tiefer in das Kunstgebiet ein und öffnet ihm die Augen für die Mannigfaltigkeit, die Grenzen und die Auswirkung. Er wird spüren, daß der künstlerische Tanz nur ein kleiner Ausschnitt aus dem unendlich großen Gebiet der unfixierbaren Bewegung ist, dem das andere große Gebiet der unbeweglichen, fixierten Erscheinung gegenübersteht. Und von hier aus wird ihm auch1 die Struktur dieser Lebensäußerung deutlich werden. Es handelt sich dann für ihn nicht mehr um Geschichte um der Erkenntnis des Geschehens willen, sondern der zeitlosen Betrachtung der Phänomene dieser Kunst wegen, also um Tanzwissenschaft. Hier sind es an erster Stelle die Unterscheidungslehren, die es gilt, aufbauend auf den historischen Materialien, festzustellen: es wird das zum Teil ein begriffebildender Prozeß sein .müssen, zum anderen aber, nicht minder wichtigen Teil ein biologisches Erkennen. Wie in aller Kunst, die Ausdruckskunst ist, stehen sich auch beim Tanz zwei große Arten polar gegenüber: — 104 —

die eine, die sich von der natürlichen Formung der Gebärde, vom nachahmenden Gestalten möglichst weit entfernt hat, alle Kraft emporschnellen läßt, um eine neugestaltete, wirklichkeitsferne Welt räumlicher Bewegung des Menschenkörpers, also r e i n e n T a n z zu schaffen, und eine zweite, die, erfüllt von dem Bewußtsein, daß die freie Formung nur aus dem elementaren Material Einbuße an Blutwärme und Lebensnähe verursache, Formungen bevorzugt, die sich von der Wirklichkeit nicht in dem Maße entfernen, daß man sie als eine grundsätzliche Neugestaltung der Gebärdenform ansehen kann, d. h. die menschliche Alltagsgebärde arabeskenhaft stilisierende rhythmische P a n t o m i m e . Als eine dritte Art würde zu diesen beiden treten: die Mischung dieser Grenzformen im z e r e m o n i ö s e n Tanz, dessen eine Seite deutlich aus dem Alltag gewonnene Abbreviaturen zeigt, dessen andere Seite aber in der willkürlichen und anderen als alltäglichen Zwecken, profanen und kultischen, untergeordneten Zusammenfassung ein Gebilde schafft, das dem rein Tänzerischen ähnlich ist. Nach der Erkenntnis dieser Arten der Tanzgestaltung, deren Gewinn zumeist der Terminologie und der Begriffsbildung zugute kommen wird, taucht dann aber die Frage der Geburt des Tanzes aus den menschlichen Lebensmächten auf und erheischt bündige Antwort. Und hier drängt die Erfahrung der Bewegung auf zwei, im Wesen tief voneinander geschiedene und dennoch nur im Miteinander lebendige Gewalten: E k s t a s e und M a g i e : Das Ekstatische, Daimonische, Ichauflösende, Sichverlierende der Bewegung, das Zentrifugale, von aller Fixierungssehnsucht am fernsten Stehende — und das Magische, Ordnende, Klärende, Ich als Spiegel kosmischer Beziehungen Betonende, zur bewußten Formung, Führung, zur material- und wesensgerechten Gestaltung Drängende und deshalb der Fixierung, der Ballung sich nähernde Zentripetale. Oder was das gleiche ist: Empfängnis der Urempfindung in unindividualisierter Gestaltlosigkeit und -

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Schöpfung des Ausdrucksvorganges in individualisierter Gestaltung. Man kann diese Betrachtung als biologisch ansprechen, weil sie einen Lebensvorgang, nämlich die Werdung des Bewegungskunstwerks, zum Objekt hat. Insofern diese Werdung der Sphäre natürlicher Ereignisse angehört, ist sie auf Grund der Erkenntnisse vom Leben überhaupt zu erforschen. Insofern sie aber zugleich auch der Sphäre ichmäßigen Schöpfertums, also der Kunst, angehört, muß sie unter diesem Gesichtspunkt erfaßt werden. An dieser Stelle stoßen diese beiden (in Wirklichkeit immer ungetrennten) Reiche theoretisch aneinander. Von dieser Position aus ist aber auch ein Zugang zu eröffnen zu dem für die eigentliche Schöpfersphäre unwesentlichen Verständnis des Zuschauers. Nur insofern die Magie der Gebärde erwachsen ist auf dem Grunde daimonischer Erfahrung, nur insofern der willkürlich begonnene und beendete künstlerische Vorgang erfüllt ist von dem in sich kreisenden, kontinuierlichen, natürlich-organischen Urrhythmus —, ist es dem Beschauer möglich, in dem Ausdrucksvorgang das ursprüngliche Empfindungserlebnis zu empfangen. Der Zuschauer von Bewegung analysiert niemals Bewegung; die Wahrnehmung des Bewegungsbildes, also des Sinnes und der Bedeutung der Gebärden, geschieht immer als Aufnahme von komplexen Bewegungsfolgen. Nur dann wird ein künstlerisch geformtes Bewegungsbild verständlich aufgenommen, wenn die Bewegungsfolge einen (entweder in reiner Raum-Bewegungsformung gestalteten oder pantomimisch assioziativ verständlich geformten) inneren logischen Zusammenhang aufweist. So wird auch von hier aus ein Wert dieser Kunstgebilde im Rahmen menschlicher Mitteilung (adäquat der durch Schrift, Malerei, Plastik, Musik) erwiesen. Wenn man sich nun die Frage vorlegt, welche Bedeutung das Versenken in diese ausschließlich von Bewegung und Bewegungsgesetzen diktierte Welt für den Menschen hat, so wird man darauf hinweisen müssen, daß sie nichts anderes zum Ziel hat, als den Bewegungsmenschen -

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wiederum unserer Kultur als aktiven Faktor einzuverleiben. Die historische und betrachtende Beschäftigung mit Bewegung und Tanz zeigt nicht nur, daß es sich hier um eine zu allen Zeiten wirksame Kraft handelt, daß aber unsere Zeit allzusehr dieser Welt entglitten ist, sondern auch, daß die Wiedererwerbung dieses Reiches als Gegengewicht gegen die ballende Welt des Worts nur heilsam sein kann. Wir werden allenthalben zur Festlegung, Fixierung, zum Bild, zum Festhalten des Geistigen als wortgewordenen Gedankens, bildgewordener Anschauung gedrängt. Dieser einseitigen Zentrierung stellt sich nun neben der Musik (dem akustischen unmittelbaren Ausdruck des Welterlebens) der Tanz als visueller unmittelbarer Ausdruck des Welterlebens zur Seite. Bewirkt der Zug zur Fixierung mehr und mehr den unaktiven Menschen, so muß das Hinneigen zur Bewegung, den aktiven, den impulsiven Menschen bewirken. Von hier aus löst sich das Geschehen auf in den Kampf jener beiden Kräfte: den Kampf des einzigen schöpferischen vorwärtsdrängenden ImpulsMenschen und des unschöpferischen, sich begnügenden, unaktiven Massenmenschen der Tradition und Nachfolge. Nicht daß die Beschäftigung mit Bewegung als Wissenschaft nun zum Ziel hätte, jenen Menschen, der sich fortwährend selbst überspringt, zu züchten, jenen Menschen, der fortwährend seinen Schwerpunkt außer sich verlegt, dessen Leben zwischen Außersichsein und tiefster Verinnerlichung (denn das ist bewußt erlebte menschliche Schöpferleidenschaft) abläuft —, jene vis inertiae ist ebenso Naturtrieb wie die Hybris des Schöpferischen —, aber in der verstehenden Schau des Einzigen, Großen würde dem andern die Achtung gegeben werden: das Innehalten der eigenen Grenzen, das Abtun jener brutalen Starrheit gegen das Impulsive und die Entfaltung eigener Impulskräfte, soweit sie in dem Rahmen des Nachschwingens und Mitgeschleudertwerdens möglich sind. So würde denn die Erschließung dieses Reichs ein Anfang sein zu einer gelebten Relationserkenntnis, und die ganze starke Sehn-

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sucht nach Bewegung, Körperkultur und Tanz, die unsere Zeit durchzieht, ein Ausdruck dafür, daß sich eine neue Auffassung vom Kampf oder besser vom gemeinsamen Wirken der Qrundmächte des Lebens, der Stromkräfte des Werdens anbahnt. Eine Lockerung der Starrheit des Geföges zumindest des abendländischen Menschen scheint bevorzustehen, nachdem man die langen Zeiten hindurch geglaubt hat, immer nur durch Zerbrechen und Zerstören Strukturveränderungen hervorbringen zu können.

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Rede des Irokesen-Häuptlings Sagoyewatha Aus

dem

Englischen von

Richard Freund

Der unter dem Namen R e d J a c k e t berühmt gewordene Häuptling der Seneca, der größte unter den Meistern indianischer Eloquenz, hielt die folgende Rede auf einem Kongreß seines Stammes mit christlichen Missionaren, in Buffalo, 1826. Sie ist die Antwort auf ein Angebot der Geistlichen, bei den Seneca Missionen zu errichten. Theodor W a i t z hat Teile der Rede mitgeteilt; hier folgt der vollständige Text, nach der ausführlichsten Quelle: Thatcher, Indian Biography, New York

1836

'

Der

Obersetzer

Freund und Bruder! Es war der Wille des Qroßen Geistes, daß wir uns heute hier versammeln sollten. Er ordnet alle Dinge, er hat uns einen schönen Tag für unsere Beratung gegeben. Er hat seinen Mantel von der Sonne genommen und ihr befohlen, hell zu strahlen. Unsere Augen sind klar, unsere Ohren sind offen, wir haben die Worte, die du sprachst, deutlich gehört. Für all das danken wir dem Großen Geist, und ihm allein. Bruder! Du hast dieses Ratsfeuer angezündet. Du hast uns gerufen, und wir haben deinen Worten gelauscht. Du willst, daß wir offen sagen, was wir denken. Wir freuen uns darüber, denn so werden wir aufrecht vor dir stehen und frei zu dir reden. Alle haben deine Stimme — 109

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gehört, und alle sprechen zu dir wie ein Mann. Unsere Herzen sind einig. Bruder! Du sagst, du brauchst Antwort auf deine Frage, bevor du diesen Ort verläßt. Du sollst sie haben, denn du bist weit von deiner Heimat, und wir möchten dich nicht aufhalten. Aber zuvor laß uns ein wenig zurückblicken und dir erzählen, was uns unsere Väter berichtet haben, und was wir von den Weißen hörten. Bruder! Höre, was wir zu sagen haben. Es war eine Zeit, wo unseren Ahnen diese ganze Insel gehörte. Ihre Wohnsitze reichten vom Aufgang bis zum Niedergang der Sonne. Der Qroße Geist hatte sie für die Indianer gemacht. Er schuf den Büffel und den Hirsch, uns zu speisen, Bären und Biber, uns zu kleiden. Er breitete sie aus über das ganze Land und lehrte uns, sie zu jagen. Er befahl der Erde, Korn zu tragen. Er tat das alles für seine roten Kinder, weil er sie liebte. Wenn wir Streit hatten über unsere Jagdgründe, so einigten wir uns ohne großes Blutvergießen. Aber ein schlimmer Tag kam über uns. Deine Väter durchkreuzten die Wässer und landeten an dieser Insel. Ihre Zahl war sehr klein. Sie fanden Freunde und keine Feinde. Sie sagten uns, sie hätten ihre Heimat verlassen aus Furcht vor bösen Menschen, um hier ihrer Religion zu dienen. Sie baten uns um ein wenig Land. Wir hatten Mitleid mit ihnen und gaben ihnen Wohnsitze, und sie lebten unter uns. Wir gaben ihnen Korn und Fleisch. Sie gaben uns Qift als Dank. Die Weißen hatten nun unser Land entdeckt, die Nachricht gelangte in ihre Heimat, und mehr kamen zu uns. Doch wir fürchteten sie nicht. Wir hielten sie für Freunde. Sie nannten uns Brüder. Wir glaubten ihnen und gaben ihnen mehr Land. Inzwischen war ihre Zahl sehr gewachsen, sie wollten noch mehr Land, — sie wollten unsere Heimat. Unsere Augen öffneten sich, und unser Herz ward schwer. Kriege kamen. Indianer wurden aufgehetzt gegen Indianer zu kämpfen. Viele der Unsrigen — HO -

wurden vernichtet. Die starken Getränke kamen über uns, die waren wild und mächtig und erschlugen Tausende. Bruder! Unsere Heimat war einst groß, und die deinige war klein. Jetzt ist dein Volk groß geworden, und wir haben kaum noch ein Stückchen Erde, unseren Mantel auszubreiten. Ihr habt uns unser ganzes Land genommen, aber ihr seid noch nicht zufrieden. Ihr wollt uns eure Religion aufzwingen. Bruder! Höre uns weiter an. Du sagst, du bist ausgesandt, uns zu lehren, wie wir dem Großen Geist dienen sollen, um ihm zu gefallen. Wenn wir nicht die Religion der Weißen annehmen, dann werden wir unglücklich sein nach dem Tode. Du sagst uns, du hast recht und wir haben unrecht. Wie sollen wir erkennen, daß dies wahr ist? Wir hören, daß deine Religion in einem Buche aufgeschrieben ist. Wenn sie für uns so gut da ist wie für euch, — warum hat uns der Große Geist das Buch nicht auch gegeben? Wir wissen nur, was du uns davon sagst. Wie sollen wir das glauben, da wir von den Weißen so oft betrogen worden sind? Bruder! Du sagst uns, es gibt nur einen Weg, dem Großen Geist zu dienen und zu ihm zu beten. Wenn es nur eine Religion gibt, warum gibt es unter den Weißen so viele Meinungen darüber? Warum nicht nur eine, da sie doch alle das Buch lesen können? Bruder! Wir verstehen diese Dinge nicht. Du sagst uns, daß deine Religion deinen Vätern gegeben wurde, und sich erhielt von Vater zu Sohn. Wir haben auch eine Religion, die unseren Vätern gegeben wurde, und sie haben sie uns, ihren Kindern überliefert. Wir gehorchen ihr. Sie lehrt uns dankbar zu sein für alle Wohltaten, die wir empfangen, einander zu lieben und einig zu sein. Wir streiten nie über Religion. Bruder! Der Große Geist hat uns alle geschaffen, aber er hat einen großen Unterschied gemacht zwischen seinen weißen und seinen roten Kindern. Er gab uns — lll —

eine andere Farbe und andere Sitten. Da er aber zwischen uns in allen Dingen einen so großen Unterschied gemacht hat, wie sollten wir nicht glauben, daß er uns auch eine andere Religion bestimmt hat, wie wir sie verstehen können! Der Große Qeist tut Recht. Er weiß, was das Beste ist für seine Kinder. Wir sind zufrieden. Bruder! Wir wollen eure Religion nicht bekämpfen oder von euch nehmen. Wir wollen nur die unsrige behalten. Bruder! Du sagst, du bist nicht gekommen, Land oder Geld von uns zu nehmen, sondern um unsere Herzen zu erleuchten. Ich war in euren Gottesdiensten und sah, wie man Geld nahm von den Versammelten. Ich weiß nicht, wofür dieses Geld bestimmt war, doch ich vermute, es war für euren Priester. Wenn wir deine Wünsche erfüllen, so wirst du vielleicht auch von uns Geld verlangen. Bruder! Wir hören, daß du unter den weißen Männern dieses Ortes gepredigt hast. Diese Leute sind unsere Nachbarn. Wir kennen sie. Wir wollen eine Weile warten und sehen, welche Wirkung deine Predigt auf sie haben wird. Wenn wir finden, daß sie ihnen wohl tut, daß sie sie aufrichtig macht und weniger bereit, Indianer zu betrügen, so werden wir noch einmal überlegen, was du uns gesagt hast. Bruder! Du hast jetzt unsere Antwort auf deine Rede gehört. Dies ist alles, was wir im Augenblick zu sagen haben. Wir werden jetzt abreisen. Wir werden zu dir kommen und dir die Hand reichen; wir hoffen, daß dich der Große Geist auf deiner Reise beschützen und dich sicher zu deinen Freunden zurückführen wird. — (Nach dieser Rede standen die Indianer auf, und einige Häuptlinge wollten dem Missionar die Hand geben. Der aber nahm ihre Hand nicht, und die Indianer zogen sich still zurück.)



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Yita Confucii Ein Beitrag zur Quellenkritik von Yao Shih Ao

Seitdem Aurel Stein und andere Altertumsforscher durch ihre Ausgrabungen in Chinesisch-Turkestan ungeheures historisches Material zu Tage förderten, hat die chinesische Altertumswissenschaft wesentliche Fortschritte gemacht. Zunächst mußten allerdings noch die alten Klassiker dazu dienen, die neu gefundenen Denkmäler zu deuten und zu kritisieren. Doch schnell gelangte man dazu, jene an dem neuen Material zu korrigieren. Und schließlich war es möglich, manche Lücken in der vorhandenen Überlieferung zu ergänzen und offen gebliebene Fragen zu beantworten. An diesen Ergebnissen sind chinesische, französische und japanische Forscher beteiligt, unter ihnen an führender Stelle die chinesischen Gelehrten Lo Chen Yü (Mitglied der französischen Akademie) und W a n g Kuo Wei und neben ihnen die Franzosen Eduard Chavannes und Paul Pelliot. Ihrer Forschungsarbeit ist es zu verdanken, daß f ü r die chinesische Altertumswissenschaft eine neue Epoche begonnen hat. Die G r ü n d u n g des Instituts f ü r Altertumswissenschaft durch die chinesische Reichsuniversität und die Herausgabe einer Zeitschrift f ü r Altertumswissenschaft verbürgte nun neben neuen wissenschaftlichen Fortschritten Festschrift Breysig U

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die Verbreitung dieser Forschungsergebnisse. Mit dem Studium des neuen Quellenmaterials entstand die Kritik an den alten Büchern und der alten Geschichtsüberlieferung, an die sich 2000 Jahre lang kein Zweifel gewagt hatte. Der Traditionsglaube der gebildeten Kreise wurde erschüttert. Selbst die 6 Bücher des Kong futse, die vordem als Werk von klassischem Wert heilig gehalten worden waren, entgingen nicht der Kritik. Wenn wir heute Kong futse's Lebenslauf kritisch erforschen und ohne Vorurteil erkennen wollen, was Kong futse f ü r die chinesische Kultur bedeutet, müssen wir daher das neue Quellenmaterial benutzen und uns entschließen, manche alte verehrte Schrift beiseite zu legen, an deren Wert in 2000 Jahren wohl dann und wann ein Zweifel aufkam, von der man sich jedoch ihres guten Stils wegen noch nie zu trennen vermocht hatte. Kong futse's großer Einfluß auf die chinesische Kultur liegt zum großen Teil in seiner Abkunft begründet. Er entstammte einer altadligen Familie. So war es ihm in einer Zeit, in der die aristokratische Staats- und Gesellschaftsform beherrschend war, möglich, Zutritt zu den königlichen Archiven zu erhalten und deren Geistesschätze seinen Schülern zu vermitteln. Er hat auch eine Zeitlang seine Lehren und politischen Erfahrungen in die Praxis überführt. Mit Hilfe seiner Schüler reformierte er seinen Heimatsstaat, beseitigte die Adelsherrschaft und gab dem Fürsten die Macht. Wesentlicher jedoch ist das Allgemeine, daß zu einer Zeit, wo man noch nicht wußte, was Wissenschaft und Studium bedeutet, Kong futse den Weg zur gelehrten Bildung eröffnet hat. Er machte seine Schüler mit den alten Schriften bekannt, die ihm als Adligen allein zugänglich gewesen waren. Durch ihn ist die Bildung, vorher ein Privileg des Adels, der Allgemeinheit erreichbar geworden. Die Anregung, Verbreitung und Pflege alles Geistigen, die hiervon ausging, hat die alte chinesische Kultur zur Blüte gebracht. Kong futse wird daher von seinem Volk als sein kulturschaffender Genius verehrt. — 114 —

Zu Chinas ältesten Schriftdenkmalen gehören jene 6 Bücher, die nach allgemeinem Glauben Kong futse zum Teil selbst verfaßt, zum Teil abgeschrieben haben soll: das Schi king, das Schu king, d a s I king, das Li king, das Yüo king, das Tschun tsiu king. Drei dieser Bücher, das I king, das Schi king und das Schu king sind nun älter als Kong futse, sie sind vor etwa 3000 Jahren entstanden. Man meinte deshalb, Kong futse habe diese Bücher aus älteren Quellen zusammengestellt und aus Eigenem ergänzt. Es läßt sich aber im Lun yü keine Stelle auffinden, an der Kong futse selbst oder seine Jünger ausdrücklich angeben, Kong futse habe diese 6 Bücher geschrieben. Dieser negative Beweis wird noch verstärkt, wenn man erwägt, daß zu Kong futse's Zeit, als man noch auf Bambustafeln die Schriftzeichen einritzte, das Schreiben eines Buches ein sehr mühevolles Werk war, es also sehr verwunderlich sein muß, wenn im Lun yü niemals etwas von dieser schwierigen Arbeit erwähnt wird. Nach unseren neuen Forschungsergebnissen und Erkenntnissen können wir daher die Überlieferung über diese Bücher nicht ohne weiteres übernehmen, sondern müssen die Entstehung dieser 6 Werke noch einmal kritisch' prüfen. A. Schi king, das Buch der Lieder, eine Sammlung von etwa 300 Volksliedern, gehört seiner Entstehung nach etwa in die frühe Tschoudynastie (ungefähr 1220—700 v. Chr.). 5 dieser Lieder, die sogenannten Schang-Lieder, sind aber viel älter und stammen aus der Schangdynastie (v. 1783—1122 v. Chr.). Ihr Inhalt gehört dieser Zeit an, wenn der Text auch erst um 700 v. Chr. aufgezeichnet worden ist. K- hat wahrscheinlich diese Lieder gesammelt und zusammengestellt. Im Lun yü spricht er 18 mal über das Schi king. Aber die ihm zugrunde liegende Originalsammlung hat nicht mehr als 300 Lieder umfaßt; die alte Meinung, die 300 Lieder des Schi king seien aus mehr als 3000 Liedern ausgewählt worden, läßt sich nicht beweisen. — 115 —

B. Schu king, auch Schang Schu genannt, das Buch der königlichen Urkunden, enthält 29 Kapitel und stellt im Grunde eine königliche Urkundensammlung dar. Man glaubte früher allgemein, die ersten 5 Kapitel seien in der vorliegenden Gestalt mehr als 5000 Jahre alte Originale. Aber aus ihrem Stil vermag man zu beweisen, daß sie vor etwa 3000 Jahren geschrieben und dann umgearbeitet worden sind. Die übrigen 24 Kapitel sind, wie wir zugeben müssen, allerdings Original. Man wird annehmen können, daß K- diese Urkunden aus einem königlichen Archiv abgeschrieben hat, um sie zum eigenen Studium und als Lehrstoff zu benutzen. Daß diese 29 Kapitel Urkunden eine Auswahl aus einer mehr als 1000 Urkunden umfassenden Sammlung seien, wie man früher annahm, läßt sich wohl kaum glaubhaft machen. C. I king (das Buch der Wahrsagerei und Metaphysik). Nach der traditionellen Lehre liegt diesem Buch ein sehr alter Text zugrunde, zu dem Kong futse einen Kommentar geschrieben habe. Diese Meinung läßt sich kaum aufrecht erhalten, denn der größte Teil des Buches gehört der frühen Tschoudynastie an (etwa um 1100 v.Chr.). Der Kommentar ist nach Kong futse's Tod von seinen Schülern und Nachfolgern geschrieben worden. D. Li Ki, das Buch der Sitten und Gebräuche, ist, wie die Kritik feststellen kann, in der Zwischenzeit zwischen Kong futse's Tod und der Tschan-Kuo-Epoche (der Zeit der kämpfenden Reiche), am Ende der Dschoudynastie (um 400—240 v. Chr.) aufgezeichnet worden, kann also mit Kong futse in keinen Zusammenhang gebracht werden. E. Yüo king, das Buch der Musik, ist, wie allgemein bekannt, verloren gegangen. F. Tschun tsiu ki (Frühling und Herbst, eine Chronik des Staates Lu). Das Buch beginnt mit dem ersten Regierungsjahr des Fürsten Lu, Yien, 722 v. Chr., und endet mit dem 12. Jahr des Fürsten Lu, Ai, 481 v. Chr., umfaßt also einen Zeitraum von 240 Jahren. Ihm liegt —

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eine alte Geschichte des Staates Lu zugrunde, die K o n g futse zusammen mit anderen U r k u n d e n benutzt hat. Für die Geschichte seiner Zeit hat er wohl selbst Stoff gesammelt. O b w o h l K o n g futse ein M a n n hervorragenden G e i s t e s und W i s s e n s war, so blieb d o c h auch für ihn bei der mühsamen Schreibmethode die Aufzeichnung eines B u c h e s eine große Leistung. S o wird man in der A n n a h m e nicht fehlgreifen, K o n g futse habe nur diese eine Chronik selbst geschrieben und teilweise nach alten U r k u n d e n bearbeitet. Die Schreibmethode, das beschwerliche Einkratzen auf B a m b u s , hat auch den Stil der C h r o n i k beeinflußt; aus ihr sind die kurzen einfachen Sätze zu erklären. Sie handelt hauptsächlich von Naturereignissen, von schweren Hagelwettern, E r d b e b e n , S o n n - und M o n d finsternissen. Man ist wohl geneigt, hinter diesen Angaben D i n g e von tiefer Bedeutung zu vermuten. Doch mit U n recht, die Chronik handelt von nichts G e d a n k l i c h e m , sondern sie bucht einfache T a t s a c h e n der E r f a h r u n g , die in ihrer Primitivität klar den Charakter der damaligen chinesischen Kultur veranschaulichen. D e r Stil, seine knappe Art ist bezeichnend und bürgt für die Echtheit eines vor 2 0 0 0 Jahren geschriebenen B u c h e s . W e n n also K o n g futse als B e g r ü n d e r der chinesischen Kultur verehrt wird, so gründet sich dies auf die von ihm vor 2 0 0 0 Jahren geschriebene Chronik, auf die U r k u n d e n s a m m l u n g des S c h u king und die Volksliedersammlung Schi king. Die kritische B e t r a c h t u n g dieser 6 klassischen B ü c h e r des chinesischen Altertums läßt erkennen, daß sie für das Studium von K o n g futse's Leben nicht die B e d e u t u n g haben können, wie früher allgemein a n g e n o m m e n wurde. Statt ihrer müssen nach dem Stand der heutigen F o r s c h u n g als wesentlichste Quellen für K o n g futse's Leben zwei andere W e r k e g e n a n n t w e r d e n : Lun yü und Schi ki. I. Lun yü, das B u c h der G e s p r ä c h e , haben nach K o n g futse's T o d e seine nächsten S c h ü l e r aus den Aufzeichnungen der G e s p r ä c h e und Unterhaltungen zwischen -

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Kong futse und seinen Schülern zusammengestellt. Seine 20 Kapitel, 12 700 chinesische Zeichen oder Worte umfassend, enthalten Fragen und Antworten, die untereinander in keinem Z u s a m m e n h a n g stehen. Außer dem letzten Kapitel sind alle sehr knapp gefaßt, was wiederum sehr bezeichnend ist f ü r d a s Alter des Buches. Es ist ungefähr 50 Jahre nach Kong f u t s e ' s Tode, also um 400 v. Chr., zusammengestellt worden. Sein Text rührt ausschließlich von Kong futse selbst und seinen ihm am nächsten stehenden Schülern her, n u r sehr wenige Stellen sind von späteren Vertretern seiner Lehre hinzugefügt worden Gedruckt w u r d e das Lun yü erst später in der Tang-Zeit (933 n. Chr.). Bis dahin ist sein Text 1000 Jahre hindurch in verschiedenen Abschriften überliefert worden, ohne den Originaltext zu verändern. Diese Originaltreue läßt einmal sich dadurch beweisen, daß auch in Japan ein Text sich erhalten hat, der mit A u s n a h m e einiger weniger unwichtiger Worte, die er mehr enthält, mit dem chinesischen Text übereinstimmt, und daß zweitens die vorhandenen Kommentare dieses Buches — mindestens 1000 an Zahl — alle keine Textabweichungen aufweisen. Dieses seltene Übereinstimmen aller Texte bezeugt, daß das Lun yü, wie es heute vorliegt, ein authentischer gleichzeitiger Bericht über Kong futse's Leben und Lehre ist und d a r u m als Zeugnis f ü r K.'s Leben eine ü b e r a u s wichtige und verläßliche Quelle darstellt. Das Lu'n yü ist das Evangelium des chinesischen Volkes. II. Schi ki, das Oeschichtswerk des Si Ma Tsiän (geb. 145 v. Chr., gest. um 88 v. Chr.) stellt eine der 25 Reichsannalen dar, die China besitzt, und zwar die älteste. Sie ist in den Jahren von 104 bis etwa 88 v. Chr., also 310 Jahre nach K-'s Tode geschrieben worden. Si *) Nach den Untersuchungen des chinesischen Gelehrten Tsie schi (von 1740—1816) z. B. unter anderen die Stelle: „Eines T a g e s stand K. in einer Halle. Er fragt seinen Sohn, der vorbeigeht: Hast Du das Buch der Lieder studiert? Der Sohn antwortet: noch nicht. Darauf K-: Dann hast D u nicht mitzusprechen." —

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ma tsiän und sein Vater, beide Hofhistoriker der H a n Dynastie, haben zu ihrem Werk alte Geheimschriften, U r k u n d e n und Dokumente benutzen dürfen, die der Allgemeinheit nicht zugänglich waren. 2 Kapitel dieses Geschichtswerkes sind allein K- gewidmet, ein Kapitel beschäftigt sich mit K-'s Leben, ein zweites mit dem Leben seiner Schüler. Für diese Darstellung hat Si ma tsiän zwei Bücher benutzt: Lun yü und Ti Tse wen (Fragen der Schüler). Das letztere ist verloren gegangen. Außerdem ist die Darstellung Si ma tsiän's deshalb b e s o n d e r s wertvoll, weil er auf seiner Studienreise in K-'s Heimat dort mit K-'s Nachkommen in Beziehung trat. Seine Schild e r u n g ist sehr ausführlich und gibt vor allen Dingen sichere Daten an. Aus diesen G r ü n d e n geht hervor, d a ß diese 2 Kapitel von Schi ki ein sehr wesentliches Zeugnis f ü r K-'s Leben darstellen. Neben den genannten Werken erheben noch andere diesen Anspruch, ohne ihn wirklich begründen zu können. Hierzu gehört das untergeschobene Kia yü, das wir heute besitzen, das von W a n g sü (195—256 n. Chr. in der Wei-Zeit) gefälscht wurde. Dieses Buch wird von den meisten chinesischen nicht historisch geschulten Gelehrten und den europäischen Sinologen f ü r echt gehalten, obgleich es bekannt ist, daß das Original in der Han-Zeit verloren ging. Neben diesem sind noch zwei Werke zu nennen, Ta H ü o — die große Lehre, und T s c h u n g - Y u n g — das klassische Buch der goldenen Mittelstraße, beide aber als Werke theoretischen Inhalts mehr zur Einf ü h r u n g in die Gedanken des Konfuzianismus geeignet, als zur Orientierung über K-'s Leben. Vergleicht man die beiden genannten wesentlichen Quellen in bezug auf ihren Wert miteinander, so m u ß die letztbesprochene Biographie des Si ma tsiän entschieden den Vorzug erhalten. Denn sie stellt die erste und älteste Biographie dar und gibt außerdem f ü r viele Stellen des Lun yü, das seines knappen Stiles wegen nur schwer verständlich ist, Erklärungen. — 119

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Als Historiker hat Si ma tsiän Kong futse überdies seinem wirklichen Leben entsprechend geschildert und streng wissenschaftlich das, was Legende um den Heiligen gewoben hat, vom Tatsächlichen und Wertvollen zu scheiden gewußt. Hierfür lassen sich 2 Beispiele anführen. a) Im Kapitel über K-'s Leben sagt der Verfasser, K- wäre ein uneheliches Kind gewesen. Er beweist dies folgendermaßen: K-'s Vater und Mutter lebten in illegaler Ehe. Gleich nach seiner Geburt starb der Vater. Die Mutter verheimlichte dem Sohn dessen Abstammung; auch wußte er nicht, wo sein Vater begraben sei. Erst beim Tode der Mutter erfuhr er durch eine Bekannte den Ort, da er die Verstorbene nach altem chinesischen Brauch an gleicher Stelle bestatten mußte. Von den Nachfolgern des Kong futse, von Anhängern und Verbreitern seiner Lehre (fast alle chinesischen Gelehrten gehören hierzu) wird diese Tatsache bestritten als kompromittierend für den Heiligen. Versuche entstanden, die Stelle zu umschreiben. Si ma tsiän wurde angefeindet. Aber die modernen Historiker halten sich an den Text. b) Eine Stelle im Lun yü berichtet: K- hörte bei seinem Aufenthalt im Lande Tsi eine alte Musik (Schaoh). Es heißt nun, er hätte daraufhin drei Monate lang nicht mehr gewußt, wie Fleisch schmeckt. Diese unklare Bemerkung wird im Schi ki dahin erläutert: K- habe die alte Musik nicht nur gehört, sondern sie eingehend studiert. Er sei so darin aufgegangen, daß er für nichts anderes mehr Sinn gehabt hätte. Wenn wir beide Bemerkungen miteinander vergleichen, wird uns klar, wieviel verständlicher die letzte Schreibweise ist Seit durch Mission und Handel die Beziehungen zwischen Asien und Europa immer inniger geworden sind, kam K-'s Lehre nach Europa und hat bei den Gelehrten Interesse erweckt. Jesuiten haben schon seit langem das *) Prof. Rieh. Wilhelm hat in seinem Buch Stelle nach dem Schi ki übersetzt (ersch. 1925). -

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Kung-tse

diese

Buch Lun yü ins Lateinische übersetzt. Übersetzungen in andere europäische Sprachen schlössen sich an. Auch deutsche Sinologen (zu den bekanntesten zählen G e o r g v. d. Qabelentz und heute Prof. Dr. Richard Wilhelm) haben Übersetzungen und eine Reihe von Werken über K-'s Leben und Lehre geliefert. Die biographischen Darstellungen haben jedoch ihren Stoff oft a u s Büchern wie Kia yü und Li ki entlehnt, obgleich sie, wie wir a u s f ü h r t e n , zu diesem Zweck ungeeignet sind. Selbst die moderne chinesische F o r s c h u n g ist erst in jüngerer Zeit zu der Erkenntnis gelangt, daß diese Werke nicht maßgebend sein können. W e n n auch diese beiden Bücher Lun yü u n d die zwei Kapitel des Schi ki, d a sie durch zwei Jahrtausende überliefert wurden, manche Abweichungen vom Original und m a n c h e Zusätze späterer Zeit enthalten, so wäre es doch erwünscht, sie beim Studium von K-'s Leben hauptsächlich heranzuziehen.

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Der barocke Konflikt Jean Pauls von Wolf

Zucker

Diese Arbeit ist notwendig ein Versuch geblieben, ein Essay. Es soll versucht werden, in Jean Paul, dem als Dichter wie als Denker gleich Gewaltigen, die starken und lebendigen Beziehungen aufzuzeigen, die ihn mit einer Möglichkeit seelischen Stellungnehmens verbinden, die ganz außerhalb der damaligen Zeit liegt. Eine Möglichkeit seelischen Stellungnehmens zu der großen Welt in all ihrer Mannigfaltigkeit — als solche müssen wir die großen Kulturstile, die den Schlagworten Barock, Romantik Inhalt geben, fassen, wenn anders überhaupt unter den Begriffen mehr verstanden werden soll als Zeitangaben für unanschauliches Denken. Die Aufgabe ist nicht, mit Fleiß und Gleichgültigkeit die Werke Jean Pauls Zeile für Zeile zu vergleichen mit den Werken der Vorderen und Vorvorderen und Übereinstimmungen zu registrieren. Vielmehr wollen wir, eingefangen durch die Eindringlichkeit und Innigkeit, die aus jeder Zeile uns anspricht, versuchen, uns Rechenschaft zu geben von der Eigenartigkeit der denkerischen und ästhetischen Probleme Jean Pauls. Wir sehen Jean Paul doch wie von einem Dämon getrieben an seinem Gartentisch Exzerpt an Exzerpt reihen, Blatt auf Blatt bedecken mit Studien, Fragen, Entwürfen; wie ist dieser Mensch denn überhaupt möglich, der da wie eine Maschine sich T a g für T a g hinsetzt und schreibt und schreibt? Wenn wir aber zu dem Grundkonflikt dieses —

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Kämpfers durchdringen, ahnen wir seine Beziehung zu Fragestellungen einer ganzen Zeit, und aus der Ähnlichkeit ergeben sich Erkenntnisse für beide einander ähnelnden Konflikte, für den ganzen spezifischen Konflikt des barocken Geistes und den Jean Pauls. Aber es liegt nichts an nur wortmäßigen Festlegungen. Uns interessiert das Phänomen Jean Paul, nicht eigentlich eine Stilanalyse der Barock-Kultur oder der romantischen Zeit. Finden wir in der ganzen Struktur des Geisteslebens Züge, in denen wir denselben Geist wie in den Abformungen barocken Geistes spüren, so wird uns diese Entdeckung nicht deshalb freuen, weil wir für Jean Paul ein Schlagwort gefunden hätten, sondern weil wir bestätigt finden, was wir hoffend ahnen, daß es ewig mögliche Stellungnahmen durch die Zeiten hindurch gibt, daß die im Geist Verwandten sich, durch Jahrhunderte getrennt, nahebleiben.

I. Den ganzen U m f a n g der Erscheinung Jean Paul werden wir versuchen dadurch abzumessen, daß wir sie in Beziehung setzen zu den großen Problemen und ihren Repräsentanten ihrer Zeit. Aber das Ergebnis dieses Versuches wird negativ ausfallen. Tatsächlich steht Jean Paul in seiner Zeit allein, — einziger Erbe eines alten Geistesguts, findet er hier und da Verwandtes, vor allem in der Romantik, bleibt aber im Grunde unverstanden allein. Erst die großen Überwinder der Romantik Hegel und Görres verstehen ihn wieder und stellen ihn an den Platz, der ihm nicht nur nach der Abwertung, sondern auch nach seiner spezifischen Geisteshaltung zukommt 1 ). Die eigentliche Klassik, repräsentiert durch das Weimar Goethes, stand Jean Paul ganz fremd gegenüber. Schon sein erstes Auftreten in Weimar im Juni 1796 zeigte das. Goethe erkennt zwar, daß ihm in Jean Paul eine nicht ge1

) Dabei versteht ihn Hegel mehr, als daß er ihn liebt, s. unten.

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wohnliche Persönlichkeit entgegentritt, er nennt ihn „einen guten und vorzüglichen Menschen, dem eine frühere Ausbildung wäre zu wünschen g e w e s e n . " Aber er kann sich nicht recht klar über ihn werden — „ein so kompliziertes W e s e n . . . , . . . . ein wunderliches W e s e n " 2 ) . Doch hält er es damals noch f ü r wahrscheinlich, daß jean Paul „einst zu den Unsrigen gezählt werden k ö n n t e " x ) . W e n n aber Goethen schon bei einem ersten kurzen Eindruck Jean Paul nicht recht verständlich werden konnte, und das hieß schließlich bei G o e t h e : ihm nicht recht gefallen konnte, so verschärfte sich das Mißverhältnis im Lauf der Zeit immer mehr. Schon neun Tage nach jenem Brief an Heinrich Meyer schreibt Goethe an Schiller: „ich zweifle, ob Richter im praktischen Sinne sich jemals u n s nähern wird, ob er gleich im Theoretischen viele Anm u t u n g zu uns zu haben s c h e i n t . " 3 ) Am 10. August 1796 sendet Goethe dann Schiller schon einen scharfen Beitrag f ü r den Xenienalmanach mit der Bemerkung: „Eigentlich hat eine arrogante Äußerung des Herrn Richter, in einem Brief an Knebel, mich in diese Disposition g e s e t z t . " 4 ) In den nächsten Jahren finden sich bei Goethe verschiedene recht kühle Bemerkungen über Jean Paul. „ D a s Werfen von einer Wissenschaft in die andere mache ihm Gehirnkrämpfe. W e n n er über das Irdische in den Himmel gehoben — komme auf einmal ein Spaß." 5 ) Erst 1814 findet plötzlich Goethe B e w u n d e r u n g f ü r die Levana u n d ebenso eine ganz erstaunliche Bewunderung im Westöstlichen D i v a n 6 ) f ü r Jean Pauls Fülle und B e g a b u n g . Aber dieses vielleicht durch die Beschäftigung mit dem bunteren Orient geweckte Verständnis für Jean Pauls Wesen hat nicht vorgehalten. Im Jahre 1831 machte l ) an Heinrich Meyer, 20. VI. 96. 2) an Schiller, 22. VI. 06. 3) an Schiller, 29. VI. 96. 4 ) an Schiller 10. VIII. 96. Die Erklärung gibt Nerrlich, Jean Paul und seine Zeitgenossen, p. 187 f. 5 ) zit. bei Nerrlich, J. P. u. s. Ztgn., p. 188. 6 ) Cotta B. 3 p. 183 f. — 124 —

Goethe eine Bemerkung zu Eckermann über Jean Pauls „Wahrheiten aus meinem Leben", die um so schärfer ist, als sie tatsächlich Jean Pauls Art traf, ohne ihr allerdings gerecht zu werden. „Als ob die Wahrheit aus solchem Leben etwas anderes sein könnte, als daß der Autor ein Philister gewesen." Man fühlt förmlich, wie Goethe sein ganzes Ungemach über Jean Pauls Ungebändigtheit, über dessen die Produktivität überwuchernde Vitalität 1 ), zusammenfaßt in dieses beschimpfende Wort, um ihn damit endgültig abzutun. Aber wenn der ungleich sachliebendere Goethe schon niemals Verständnis und Stellung zu Jean Raul gewinnen konnte, — wie konnte da der „felsigte" Schiller mehr Liebe zu Jean Paul fassen? Schiller fand ihn von Anfang an unverständlich und „vom Mond g e f a l l e n " 2 ) . Jean Paul gab ihm in der gegenseitigen Abneigung nichts nach. Als Jüngling stellt er ihn zwar einmal über Goethe, aber später hat er nur Kritik für ihn. Seine Werke findet er kalt wie G l e t s c h e r 3 ) , den Wallenstein sogar „barbarisches Z e u g " 4 ) . Seine Persönlichkeit zeichnet er mit denselben Worten wie den Gaspard des „ T i t a n " 5 ) . Er findet ihn wie die ganze Klassik so erstarrt, so inkrustiert, so frostig, daß er schaudert 6 ). Mit seinen Urteilen über Goethe ist Jean Paul viel vorsichtiger. Der „Wilhelm Meister" hat ihm unzweifelhaft größten Eindruck gemacht. Immer wieder betonen die Interpreten Jean Pauls die Parallelen in seinem Werk mit dem „Wilhelm Meister" 7 ). Aber auch grade an Wilhelm Meister übt Jean Paul später mehr und mehr Kritik. Die Wanderjahre verurteilt er gleich nach !) ) 4) J. P.'s

Gundolf, Goethe p.22. 2) a n Goethe 28.VI. 96. Helmina von Chézy, Denkwürdigkeiten I, 142 ff. Karoline an Aug. W. Schlegel 22. VI. 1801, zit. bei Berend, Persönlichkeit p. 47, vgl. auch Freye, Flegeljahre p. 190. Freye, Flegeljahre p. 180, Anm. 4. Weniger wahrscheinlich ist, daß der Lismore der „Biographischen Belustigungen" nach Schiller gearbeitet ist, wie Müller, jean Paul-Studien p. 140, vermutet. 7 ) Schneider, G) Nerrlich, Zeitgen. 186. J. P.'s Altersdichtung p, 29; Müller J. P. Studien p, 142. 3



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ihrem Erscheinen recht scharf Ludwig Reilstab gegenüber1). Jean Pauls Titan sollte ein Gegenstück gegen Goethes im Meister verwirklichte Theorie werden, daß der epische Held notwendig farblos sein müsse 2 ) . Schließlich wirft Jean Paul Goethe vor, seine neuen Gedichte seien schlaff, nur sein Stoff sei bedeutend 3 ). Aber diese nicht zur Veröffentlichung bestimmte Äußerung war sicher nicht seine endgültige Meinung über Goethe. Am besten wird Jean Paul seine Stellung zu ihm wohl in den Worten ausgedrückt haben, die Kunz in seinen Erinnerungen uns übermittelt: „ D a s ist das einzige, was ich vor dem großen Manne voraus habe, daß ich seine Schriften richtiger und würdiger aufzufassen verstehe als er die meinigen." W a r es s o ? Wenn Jean Paul die Klassik Goethes und Schillers wirklich richtig aufzufassen wußte, — wie konnte er dann so zu ihr im Gegensatz stehen? Doch — er verstand die Klassik und war doch nicht ihr Anhänger. Er bekämpft sie nicht mit den Mitteln der Romantik: Gesetzloses Auflösen der Form, Schwanken substanzloser Charaktere waren ihm nichts Positives, dem Klassizismus entgegen zu Werfendes. Nicht weil Jean Paul ein Proteus gewesen wäre, war ihm die Eingesichtigkeit und Eindeutigkeit der Klassik entgegen. Aber hier ging eine Vitalität ans Werk, ein fülleüberquellendes Schaffen, das sich nie bei der Objektivität beruhigen konnte, — auch nicht bei der Subjektivität, gewiß nicht, ein Temperament, das alle Sphären gegeneinander ausspielen mußte, das mit der Welt solange spielte, bis sie in kleinste Stücke auseinanderfiel. Klassik? D a s hieße objektive Betrachtung und Durchformung dieser Welt, hieße glückbringende Vereinigung von Ideal und Wirklichkeit, Organ und Vernunft, Individuum und Gemeinschaft, — hieße Hineinwachsen in eine Welt der harmonischen Zwecke. Unmöglich für Jean P a u l ! Vereinigung? Nein, ein volles Gegeneinander des Unzuzit. bei Berend, J. P.'s Pers. p. 198. ) Berend, J. P.'s Ästhetik p, 202 f. 3 ) Berend, Ästhetik p. 143. 2



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sämmengehörigen! Versöhnung hieße den Spannungen dieser Welt ihre Intensität nehmen, hieße Potentialdifferenzen unschöpferisch ausgleichen, in deren Feuer Diamanten hätten geglüht werden können. Eindeutigkeit ist H u m o r l o s i g k e i t A t o m i s i e r u n g der Welt ohne Beziehungsmöglichkeit der Teilchen. Nicht: Jedes an seinem Ort, sondern: jedes auch am andern Ort. Die Klassik bedarf nicht des Vergleichs — was sollte der geniale Vergleicher mit ihr? Ewig gültige Maße, der Mensch als Grenze und Ziel 2 ) — d a s waren Jean Paul fremde Begriffe, für den es nur ewiges Gegeneinandermessen, ein dauerndes Über-menschliche-Grenzen-Hinauswachsen gab. Auch die Eingenommenheit gegen Fichte 3 ) ist versteckte Feindschaft gegen die Klassik: auch der allgemeine Mensch als ethisches Postulat ist zu sehr „Resultat". Der ganze Widerstreit der barocken Seele gegen die Renaissance wird wieder wach in dem Konflikt Jean Paul—Goethe. Oft könnte Jean Paul Goethe vorbehaltslos recht geben und ohne Widerspruch, bei Goethes Theorie von den mittleren Charakteren des Epos etwa, und er tut es ebensowenig, wie der alternde Goethe trotz seiner innigen Vorliebe für Idyllen 4 ) Jean Pauls gedenkt. Beide wittern ineinander das Gegensätzliche, ewig Widerstrebende. Das erschütterndste Dokument Jean Paulschen Unvermögens, den klassischen Menschen hinzunehmen, ist das Liebesverhältnis zu Charlotte von Kalb 5 ). Die herrliche Gradlinigkeit dieser Titanide, die ethische Autonomie dieser Linda 6 ) zerbrach und verzweifelte an der Vielfältigkeit, an der funkensprü1

) Über die Humorfeindschaft Goethes vgl. an Zelter 30. X. 1808; siehe Berend, Ästh. p. 229. 2 ) vgl. Strich, Klassik und Romantik p. 13. 3 ) vgl Berend, J. P.'s Pers. p. 37, 39, 65, 110 und Clavis Fichtiana, und Nerrlich, Zeitgen. p. 296/7; Müller, Jean P a u l 8 p. 147. i ) vgl. Strich, Klassik und Romantik, p. 17. 5 ) Wie n a h e Charlotte trotz persönlicher Kälte G o e t h e weltanschaulich stand, betont auch Nerrlich, Jean Paul p. 270. 6 ) über die Identität von Charlotte u. Linda vgl. Nerrlich, Zeitgen. p. 133 ff. — 127 —

henden Gegensatz-Gespanntheit dieses Simultanmenschen. Wie furchtbar und eigentlich Jean Pauls unwürdig ist sein Brief an Gleim nach dem Bruch mit der unglücklichen Karoline von Feuchtersieben, in dem er den „genialischen W e i b e r n " a b s c h w ö r t 1 ) . Eindeutige Gefestigtheit war Jean Paul fremd. Subjekt und Prädikat werden in seinen Sätzen, unendlich zerspalten; Menschen, die sich nicht zerspalten ließen, macht er unglücklich. Nicht Linda und Albano sind unvereinbare Gegensätze, sondern Linda und Roquairol2).

II. Die Romantik folgte dem Schauspiel mit Anteilnahme, aber auch einer gewissen Freude. Ihr Bruch mit der Klassik war allerdings noch nicht vollzogen, — noch bedeutet romantische Konzentrierung auf das Ich nur Steigerung des klassischen Prinzips. Wilhelm Meister ist ungeheuer bewundert. Schellings Philosophie des Organismus haftet noch mit vielen Fäden an Herder, Novalis' magischer Idealismus leitet sich unmittelbar her aus der Anschauung, daß der Mensch das Maß aller Dinge sei. Fichte selber glaubt j a noch Kants Interpret zu sein. Erst als in Weimar der seit Erscheinen des Wilhelm Meister latent vorhandene Konflikt zwischen Herder und Goethe offenbarer wird, als Schiller und Goethe Herder Kälte und Lieblosigkeit vorzuwerfen beginnen, löst sich die Romantik langsam von dem klassischen Ideal. Zuerst aber glaubt die Romantik, in Jean Paul nur den jungen Verwandten zu erkennen. Die tiefe Gegensätzlichkeit war ihr noch nicht klar. Die ersten Urteile der Schlegel sind nicht unfreundlich 3 ), Novalis und Jean Raul besuchen 1)

zit. bei Nerrlich, Zeitgen. p. 163.

2)

Müller, Jean-Paul-Studien p. 68, wehrt mit pfäffischen

menten

entrüstet

Nerrlichs

Identifizierung

von

Jean

Paul

und

ArguRo-

quairol (Nerrlich, Jean Paul p. 2 7 0 ) zurück. M. E. ist Literaturwissenschaft

keine Moralkritik.



Im

übrigen

ist

Roquairol

romantischer

Charakter sowohl in Jean Pauls weiterem als in unserm engeren Sinn. 3)

Athenäum I, 1, p. 144. —

m —

sich gegenseitig 1 ), mit T i e c k 2 ) ist er bald befreundet. Nicht unverständlich! Teilt er doch alle Lieben der Romantik: Shakespeare und Sterne, Lichtenberg und Hamann. Fängt er doch an, den Stil nach den Adjektiva hin aufzulösen, ohne allerdings die Substantiva zu vernachlässigen und ohne den Adjektivkult der Romantik mitzumachen. Er schafft eine Theorie des Witzes, auf die die Romantiker warten, sein eigener Witz sieht oft der romantischen Ironie verzweifelt ähnlich. Auch ihn bewegen die Probleme des I c h 3 ) . Immer wieder ist man versucht, Jean Paul in den Problemkreis der Romantik einzuordnen 4 ). Aber damit beginge man einen Fehler, der das ganze weitere Eindringen in Jean Paul verbaute. Wesentlichstes über ihn werden wir gerade beim Versuch erkennen, ihn gegen die Romantik ebenso wie gegen die Romantiker zu differenzieren. Sicherlich, Jean Pauls Leben fällt zeitlich zusammen mit Aufblühen, Entfaltung und Abwelken des romantischen Geistes; er stand in dauernder Beziehung zu den Streitfragen seiner Zeit — aber mußte er darum zum Parteigänger der Romantik werden? Die nicht zufällige, aber nicht so tiefgehende Verfeindung mit den einzelnen Romantikern, Spott und Ironie über die Schlegel und Novalis hätten das nicht gehindert — tiefere Gründe lagen für Jean Pauls Nichtbeteiligung vor. W e l c h e ? D a s zu beantworten, ist das Hauptthema vorliegender Arbeit; eine Aufgabe, die um so schwerer ist, als sich Jean Paul selber seiner Differenzierung gegen die Romantik, auch wenn er sie lobt und anerkennt! —, gar nicht so bewußt ist. So beglückend war es, Verwandte zu finden, so bestrickend lauteten viele Formulierungen der Romantik auch dem unromantischen O h r Jean Pauls, daß er sich nicht 2 ) Nerrlich, Zeitgen. p. 246. Nerrlich, Zeitgen. 250. Schneider, Jean Pauls Altersd. p. 5 ff. Schneider etwa tut das p. 35/37; Nerrlich betont auch die nahen Beziehungen zur Romantik trotz offenbarer Feindschaft gegen ihre Vertreter. Zeitgen. p. 231 ff. 3)

Festschrift Breysig II

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